Carsten Winter · Andreas Hepp · Friedrich Krotz (Hrsg.) Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft
Medien – ...
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Carsten Winter · Andreas Hepp · Friedrich Krotz (Hrsg.) Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft
Medien – Kultur – Kommunikation Herausgegeben von Andreas Hepp Friedrich Krotz und Waldemar Vogelgesang
Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde’ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation durchdrungen. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ auseinander setzen wollen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen, das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Carsten Winter · Andreas Hepp Friedrich Krotz (Hrsg.)
Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft Grundlegende Diskussionen, Forschungsfelder und Theorieentwicklungen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Barbara Emig-Roller Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15114-4
Inhalt Friedrich Krotz, Andreas Hepp & Carsten Winter Einleitung: Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft
9
Teil 1: Grundlegende Diskussionen Friedrich Krotz Handlungstheorien und Symbolischer Interaktionismus als Grundlage kommunikationswissenschaftlicher Forschung
29
Stephan Müller-Doohm Von der Kulturindustrieanalyse zur Idee partizipativer Öffentlichkeit. Reflexionsstufen kritischer Medientheorie
49
Kurt Imhof Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne
65
Johanna Dorer & Elisabeth Klaus Feministische Theorie in der Kommunikationswissenschaft
91
Andreas Hepp Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft
113
Rudolf Stöber Innovation und Evolution: Wie erklärt sich medialer und kommunikativer Wandel?
139
Andreas Ziemann Kommunikationstheorie als Gesellschaftstheorie und mediale Konstellationen
157
Alexander Görke Perspektiven einer Systemtheorie öffentlicher Kommunikation
173
6
Inhalt
Anne-Katrin Arnold & Beate Schneider Interdisziplinärer Theorietransfer in der Kommunikationswissenschaft am Beispiel des sozialen Kapitals 193 Stefanie Averbeck Über die Spezifika „nationaler Theoriediskurse“: Kommunikationswissenschaft in Frankreich
211
Matthias Karmasin Kommunikations-Kommunikationswissenschaft: Wissenschaftstheoretische Anmerkungen zur Theoriediskussion in den Kommunikationswissenschaften
229
Teil 2: Forschungsfelder und Theorieentwicklungen Christoph Neuberger Neue Medien als Herausforderung für die Journalismustheorie: Paradigmenwechsel in der Vermittlung öffentlicher Kommunikation
251
Margreth Lünenborg Journalismus in der Mediengesellschaft: Ein Plädoyer für eine integrative Journalistik
269
Oliver Zöllner Zugehörigkeit und Teilhabe von Migranten in der Mediengesellschaft: Neue Fernsehkanäle und die alte Aufgabe der Integration 291 Stephan Alexander Weichert Krisen als Medienereignisse: Zur Ritualisierung mediatisierter Kommunikation im Fernsehen
311
Patrick Donges Medien als Strukturen und Akteure: Kommunikationswissenschaftliche Theoriediskussion zwischen System- und Handlungstheorie 329 Franzisca Weder Produktion und Reproduktion von Öffentlichkeit: Über die Möglichkeiten, die Strukturationstheorie von Anthony Giddens für die Kommunikationswissenschaft nutzbar zu machen
345
Inhalt
7
Johannes Raabe Kommunikation und soziale Praxis: Chancen einer praxistheoretischen Perspektive für Kommunikationstheorie und -forschung 363 Udo Göttlich Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung: Handlungs- und praxistheoretische Aspekte als Herausforderung der Rezeptionsforschung
383
Maren Hartmann Domestizierung 2.0: Grenzen und Chancen eines Medienaneignungskonzeptes
401
Carsten Winter Medienentwicklung als Bezugspunkt für die Erforschung von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel
417
Über die Autorinnen und Autoren
447
Index
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Einleitung: Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft Friedrich Krotz, Andreas Hepp & Carsten Winter
1 Medien, Kommunikation und Theorien im Wandel Der vorliegende Band ist in der Folge zweier zusammenhängender Workshops der Fachgruppe Soziologie der Medienkommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) entstanden. Die Fachgruppe wollte sich – so der Titel der Workshops – mit den „Theorien der Kommunikationswissenschaft: Bestandsaufnahme und Diskussion“ auseinander setzen. Der Call for Papers ging von einem Verständnis der Kommunikationswissenschaft als „‚Querschnittswissenschaft’ der ‚Informations-’ und/ oder ‚Mediengesellschaft’“ aus, die ihre Theorien zum Teil in Kooperation und Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen entwickelt hat. Notwendig sei eine solche Bestandsaufnahme und Diskussion wegen des gesellschaftlichen, des medialen und des theoretischen Wandels der letzten Jahre, so hieß es im Text. Inhaltlich sollten einerseits der Stand der so genannten Basistheorien der Kommunikationswissenschaft, etwa Handlungs- oder Kulturtheorien, andererseits die genuin kommunikationswissenschaftlichen Ansätze aus den einzelnen Theoriefeldern, etwa der Medienpolitik, des Journalismus oder der Medienrezeptionsforschung diskutiert werden. Die Grundannahmen des Calls, der erhebliche Resonanz fand und zu den zwei aufeinander aufbauenden Workshops führte, sind – gerade auch heute angesichts der inzwischen begonnenen Selbstverständnisdiskussion der Kommunikations- und Medienwissenschaft – nicht weiter begründungspflichtig. Die Beiträge des Bandes nehmen dementsprechend die doppelte Zielsetzung der Bestandsaufnahme und der Diskussion der kommunikationswissenschaftlichen Theorien im Hinblick auf die Veränderung ihrer Gegenstandsbereiche und die an sie gerichteten Erwartungen in unterschiedlichem Ausmaß auf, setzen aber alle bei Fragen des Wandels an.
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Die Vielzahl der Beiträge musste jedoch gegliedert werden. Wir als Organisatoren der Tagung und als Herausgeber des Bandes haben deswegen die Beiträge in zwei Teile zusammengefasst. Der erste Teil versammelt die Texte, die man einer „Grundlegenden Theoriediskussion“ zurechnen kann, der zweite Teil beschäftigt sich dann eher mit den Theoriediskussionen in den einzelnen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern. Diese Abgrenzung muss freilich problematisiert werden; sie ist jedenfalls nicht kanonisch gemeint, sondern pragmatisch, wie wir gleich erläutern werden. Bevor wir die einzelnen Beiträge kurz charakterisieren, wollen wir also diese Unterteilung skizzenhaft begründen, in dem wir auf konzeptionelle und wissenschaftstheoretische Probleme der Fragestellungen eingehen, die mit diesen Workshops angepeilt war. So muss der von uns hier in diesem Band verwendete Begriff der „grundlegenden Theorie“ auch deswegen reflektiert werden, weil sich die Diskussionen in den beiden Workshops nicht auf die einzelnen Beiträge beschränkte, sondern darüber hinaus die im Call verwendeten Begrifflichkeiten hinterfragte. Auch ist in diesem Zusammenhang überhaupt der Frage nachzugehen, wie man Theorien katalogisieren kann. Damit soll die Theoriediskussion in der Kommunikations- und Medienwissenschaft nicht bewertet werden, es soll aber zu ihrer Strukturierung beigetragen werden.
2 Begriffs- und Ordnungsprobleme im Zusammenhang mit Theorie Im ursprünglichen Call for Papers haben wir den Begriff der „Basistheorien“ der Kommunikations- und Medienwissenschaft verwendet – er sorgte bei den Workshops dann für erhebliche Diskussionen. Der im Fach verbreitete Begriff „Basistheorie“ (z. B. Bonfadelli/Rathgeb 1997) erhebt den Anspruch, dass die als solche klassifizierten Theorien „die Grundlagen [des] Fachs, seine wissenschaftlichen Fundamente“ (Burkart 1997: 51) ausmachen. Als solche „Basistheorien“ werden z. B. Symbolischer Interaktionismus, (radikaler) Konstruktivismus, Handlungstheorie, Semiotik, materialistische Theorie und Systemtheorie genannt. Die hier im Weiteren verwendete Bezeichnung „grundlegende Theorie“ meint etwas anderes. Wir verstehen „grundlegende Theorie“ als weniger ausgrenzend und offener: Als grundlegend gelten dementsprechend solche Theorien, die auf verschiedene Phänomenbereiche angewandt werden bzw. diese verbindend einen konzeptuellen Zugang zu Gegenständen der Kommunikations- und Medienwissenschaft begründet haben. Ein solcher Begriff von grundlegender Theorie vermeidet – so zumindest unsere Hoffnung – die mit
Einleitung
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dem Ausdruck „Basistheorie“ zumindest implizit verbundene Wertung, bestimmte Theorien seien fundamentaler als andere. Außerdem bezeichnet „grundlegende Theorien“ ein erheblich weiter reichendes Set von Theorien als im Konzept der Basistheorien mitgedacht ist. Neben den genannten begreifen wir beispielsweise auch Kultur- oder Gendertheorien als grundlegend für die Kommunikations- und Medienwissenschaft. Im Zusammenhang damit verstehen wir Theorien als aus aufeinander bezogenen Begriffen bestehende und durch übergreifende Konzepte gekennzeichnete Aussagensysteme und darüber ausgedrückte Sinnzusammenhänge. Theorien in einem solchen Verständnis stellen nicht einfach nur dar, was ist, sondern auch, wie etwas funktioniert, woraus es besteht, wie es zustande kommt, was es für wen bedeutet usw. (vgl. Krotz 2005: 27): Theorien beschreiben etwas als Struktur und Prozess in seinen Kontexten und seiner Bedeutung. Dabei beruhen Theorien auf einem Diskussionsprozess in der jeweiligen Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in dem diese kontrolliert werden und geklärt wird, welche Theorien als akzeptabel gelten, in dem aber auch Weiterentwicklungen und Neukonzeptionalisierungen bis hin zu Paradigmenwechseln statt finden (vgl. Kuhn 1978). Wir betonen dies aus zwei Gründen. Einmal hat sich die Kommunikationsund Medienwissenschaft lange an der Vorstellung oder Idee eines Fachkernes orientiert, beispielsweise am Lasswellschen Verständnis von Kommunikation, das anregte zu erforschen, wer was zu wem über welchen Kanal und mit welcher Wirkung sagt – und gleichzeitig Kommunikations- und Medienwissenschaft konzeptionell darauf reduzierte. In den letzten Jahren verloren diese Gliederungsaspekte, die schon immer als zu schlicht kritisiert worden waren, auch durch den Wandel der Medien und durch neue Theorien im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung der Medien und der auf sie bezogenen Wissenschaften an Bedeutung. An ihre Stelle rückte im Prozess der Ausweitung des Fachs eine breitere Vielfalt von Theorien, die mehr „Pluralität“ und „Arbeitsteilung“ und ein damit kompatibles Wissenschaftsverständnis erkennen ließen, wie die Fachgeschichte der Kommunikations- und Medienwissenschaft im deutschsprachigen Raum belegt (vgl. Krotz 2007, Hepp 2004: 27-99). In diesem Sinne kann man mit Roger Silverstone festhalten: „Obwohl es durchaus attraktiv wäre und auf den ersten Blick oft überzeugend klingt, ist die Theorie der Medien nicht zu haben. Sie zu suchen wäre ein furchtbarer Fehler, und zwar in politischer, intellektueller und moralischer Hinsicht.“ (Silverstone 2007: 17f.)
Die Beiträge des nun vorgelegten Bandes zeigen dementsprechend, dass und wie die Arbeit an Theorien arbeitsteiliger und dabei offener geworden ist: Es zählt weniger die Abgrenzung als vielmehr die Spezifikation einzelner Perspektiven und die in der Folge oft Teildisziplinen und Disziplinen übergreifende In-
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tegration und Vernetzung. Damit wird der Vorteil von Theorienvielfalt deutlich: Theorien ermöglichen verschiedene Perspektiven auf ihre Gegenstände, die sie verschieden konzeptualisieren. Unterschiedliche Kommunikations- und Medientheorien schließen sich daher nicht notwendig aus, sie ermöglichen vielmehr erst verschiedene Perspektiven und entsprechend einen theoriegeleiteten Diskurs. Damit wird zweitens „Theorie“ in der heutigen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Diskussion umfassender gebraucht, als es über lange Zeit der Fall war, indem der primäre Fokus vorwiegend auf den so genannten „Theorien mittlerer Reichweite“ („middle range theories“) im Sinne von Robert K. Merton (1988/1973) lag. Der Fokus von Theorien mittlerer Reichweite ist auf klar begrenzte Geltungsbereiche und empirische Überprüfbarkeit gerichtet. Merton hatte diesen Theorietypus insbesondere in Abgrenzung zu Talcott Parsons (1976/1949) und dessen Arbeiten an allgemeinen Theorien entwickelt. Theorien mittlerer Reichweite bilden allerdings nur einen recht überschaubaren Anteil am Gesamt der Theorieentwicklungen. Die an diese Überlegungen anknüpfende Frage ist nun, wie sich Theorien einer derartigen Vielfalt dennoch kategorisieren lassen. Als Antwort darauf lassen sich zwei Möglichkeiten angeben, die sich für eine empirische Wissenschaft anbieten: Möglich ist einmal eine Unterscheidung nach ihrem empirischen Bezug, zum anderen nach ihrer inhaltlichen Zielsetzung. Diese beiden Wege sollen kurz anhand vorliegender Unterscheidungen skizziert werden. Tabelle:
Typen empirisch basierter Theorien
Typ 1: Mathematisch fassbare Theorien Theorien geben mathematisch ausgedrückte, für den Gegenstandsbereich funktionale Zusammenhänge wieder Quantitativ begründete Verfahren
Typ 2: Materiale Theorien Theorien sind Aussagenzusammenhänge, die begrenzte Sachverhalte typisierend beschreiben und sie als Struktur und Prozess darstellen Qualitativ begründete Verfahren
Typ 3: Metatheorien Metatheorien, die tendenziell universelle Welterklärungen enthalten
Erklärungs- und Strukturierungszusammenhänge mit punktueller Empirie
Quelle: Erweitert nach Krotz 2005: 70
Im Hinblick auf ihren empirischen Bezug, also im Hinblick auf den Rückbezug von Aussagenzusammenhängen zu empirischen Phänomenen, die paradoxerweise selbst erst in der Perspektive eines bestimmten theoretischen Standpunkts
Einleitung
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zu einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich werden, lassen sich drei Arten von Theorien unterscheiden. Dies sind erstens mathematisch fassbare Theorien, zweitens materiale Theorien und drittens Metatheorien (siehe oben stehende Tabelle). Während der erste Typus von empirisch basierter Theorie Setzungen darstellt, die als gültig begriffen werden, bis sie über Hypothesenbildung mit quantitativ begründeten Verfahren (bspw. standardisierten Umfragen, Inhaltsanalysen etc.) widerlegt sind (Falsifikationsprinzip), basieren Theorien des Typus 2 auf methodisch breiter angelegten und zumeist qualitativen Prozessen (bspw. qualitativen Interviews und deren kategorienbildende Auswertung) der empirischen Auseinandersetzung mit Gegenstandsbereichen. Theorien des Typus 3 sind als Metatheorien übergreifende Theoriegebilde, die in einzelnen Teilen auf konkreter Empirie beruhen, aber in ihrer Gesamtheit nicht empirisch überprüfbar sind, sondern vielmehr ein theoretisches Bezugs- und Einordnungsmuster für konkrete Forschungen bieten. Beispiele hierfür wären die Individualisierungs-, Globalisierungs- oder auch Mediatisierungstheorie. Die Beziehung dieses Typus von Theorie zu den beiden anderen ist darin zu sehen, dass Theorien des Typus 1 und 2 „Bausteine“ von Theorien des Typus 3 darstellen (können). Abbildung:
Dimensionen und Typen von Medien- und Kommunikationstheorie medienzentriert
1
2 materialistisch
kulturalistisch 3
4
gesellschaftszentriert
Quelle: McQuail 2005: 13
Die Unterscheidung dieser drei Arten von Theorien ermöglicht es uns nochmals aus einem anderen Blickwinkel die Frage zu stellen, was grundlegende Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft sind. Letztlich – so legt zumin-
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dest die aktuelle Theoriediskussion nahe – verweisen grundlegende Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft insbesondere auf Theorien des Typus 3, also Metatheorien. Hiermit ist nicht gemeint, dass jede grundlegende Theorie gleichzeitig eine Metatheorie wäre. Jedoch stehen grundlegende Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu übergreifenden Theoriegebilden in Bezug. Exemplarisch greifbar macht dies eine materialistische Kommunikations- und Medientheorie, die letztlich auf eine bestimmte Metatheorie von Kultur und Gesellschaft bzw. deren Wandel verweist, ebenso aber auch Handlungs-, System- oder Kulturtheorie. Deshalb nehmen in den verschiedenen Beiträgen vor allem des ersten Teils des vorliegenden Bandes metatheoretische Fragen einen vergleichsweise breiten Raum ein. Eine zweite mögliche Kategorisierung von kommunikationswissenschaftlichen Theorien kann man in Orientierung an einen Systematisierungsvorschlag von Denis McQuail vornehmen, mit dem er Kommunikations- und Medientheorien auf der Basis der Gegensatzpaare kulturalistisch vs. materialistisch bzw. medienzentriert vs. gesellschaftszentriert unterscheidet (siehe die oben stehende Abbildung). Diese Matrix ermöglicht die idealtypische Bestimmung von vier grundlegenden Arten von Kommunikations- und Medientheorien (vgl. McQuail 2005: 13f.): 1.
Medien-kulturalistische Theorien: Diese Theorien fokussieren primär Medieninhalte und deren Medienformen sowie die subjektive Aneignung und Rezeption von Medieninhalten unter dem Einfluss von direkten persönlichen Umweltbezügen und Relevanzsetzungen.
2.
Medien-materialistische Theorien: Diese Theorien betonen die organisatorischen, finanziellen und technologischen Aspekte der Medien.
3.
Sozial-kulturalistische Theorien: In diesen Theorien werden der Einfluss sozialer Faktoren auf Medienproduktion und -rezeption sowie die Funktion von Medien im sozialen Leben betont.
4.
Sozial-materialistische Theorien: Medien und deren Inhalte werden in diesen Theorien primär als Ausdruck bestimmter politisch-ökonomischer bzw. gesellschaftlich-materieller Kräfte und Bedingungen angesehen.
McQuails Matrix verdeutlicht einmal mehr die Verschiedenartigkeit und Vielfalt möglicher Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft, aber auch deren gemeinsame Orientierungen. Die im ersten Teil des vorliegenden Bandes behandelten grundlegenden Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft sind innerhalb des Schemas von McQuail insbesondere im dritten und vierten Sektor der Matrix anzusiedeln. Die kulturalistisch-gesell-
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schaftszentrierte Zugangsweise ist im deutschsprachigen Raum dabei vor allem deren handlungstheoretische Begründung, der zum Beispiel der gesellschaftsmaterialistische Zugang der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule gegenüber steht. Begreift man beide Perspektiven gewissermaßen als Eckpunkte der gegenwärtigen deutschsprachigen Diskussion um grundlegende Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft, so lassen sich ausgehend von diesen (vielleicht) auch die verschiedenen weiteren Beiträge einordnen, angefangen von einem normativen Verständnis von Öffentlichkeit über Kulturtheorie und feministische Theorie bis hin zur Systemtheorie. Auch der zweite Teil des Bandes verfolgt das Ziel, die Breite und Offenheit der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Theoriediskussionen, ihre Folgen für die künftige Entwicklung des Faches sowie für neue Forschungsfelder exemplarisch zugänglich zu machen. Während im ersten Teil aber die Erhaltung und Stabilität theoretischer Überlegungen angesichts des Wandels im Vordergrund steht, bildet für den zweiten Teil dann der Wandel von Medien und Kommunikation selbst den Gegenstand der Reflexion. Damit rücken auch Entwicklungen innerhalb der wichtigen Gegenstandsbereiche der Kommunikationsund Medienwissenschaft in den Vordergrund. Im Bezug auf die Entwicklung der Sozial- und Gesellschaftstheorie sind die Beiträge zwischen einerseits dem „Pragmatic Turn“ (Sandbothe 2000) und andererseits dem „Complexity Turn“ (Urry 2003: 17-38) angesiedelt. Die meisten Artikel versuchen vor diesem Hintergrund Ordnung in überschaubare und veränderte oder veränderbare Gegenstandsbereiche von Medien und Kommunikation zu bringen: In den Beiträgen werden Wandlungsprozesse in ihrer Heterogenität zum Thema gemacht, bevor in der Folge neue Vorschläge zur Strukturierung der jeweiligen Gegenstände entwickelt werden. Dabei ist wichtig im Blick zu haben, dass „Forschungsfelder“ und „Theorienentwicklungen“ in einem engen Zusammenhang stehen. Forschungsfelder sind nicht einfach in der Alltagswelt gegebene Phänomenbereiche, die wissenschaftlich zu untersuchen sind – sie entstehen vielmehr als Forschungsfelder erst durch eine spezifische konzeptuelle Ordnung und sind entsprechend mit den Theorieentwicklungen untrennbar verbunden. In diesem Sinn bezeichnet Forschungsfeld immer auch den durch einen unterscheidbaren (neuen) theoretischen Zugang jeweils erst konstituierten „Gegenstand“ wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Dieses Verständnis von Forschungsfeldern streicht heraus, wie sehr die Entwicklung von Theorien, empirischer Forschung und der Wandel von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft immer wechselseitig aufeinander verweisen.
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3 Die Beiträge des ersten Teils im Überblick Der Beitrag von Friedrich Krotz Handlungstheorien und Symbolischer Interaktionismus als Grundlage kommunikationswissenschaftlicher Forschung steht am Anfang, weil er die basale Erfahrung von Kommunikation als Handlung als Bezugspunkt für die Theoriebildung in der Tradition von erprobten und breit angewandten Theorien entwickelt, die sich in der Kommunikations- und Medienwissenschaft durchgesetzt haben: Handlungstheorien werden aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Sicht dargestellt. Krotz zeigt, was diese leisten können, wenn sie mit dem Symbolischen Interaktionismus gerade im Hinblick auf den aktuellen Wandlungsprozess der Mediatisierung in Verbindung gedacht werden. Stephan Müller-Doohm rekonstruiert in seinem Beitrag Von der Kulturindustrieanalyse zur Idee partizipativer Öffentlichkeit. Reflexionsstufen kritischer Medientheorie die bei der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung formulierte Annahme, dass die „Probleme der Bildung und Vermittlung ideologischen Bewusstseins sowie die Funktion einer medienvermittelten Massenkultur […] mit den Mitteln der Gesellschaftstheorie zu lösen“ sind. Das ausgehend von dieser Überlegung von Max Horkheimer entwickelte Forschungsprogramm rückt in den Fokus, welchen Stellenwert Medien als „Kulturindustrie“ im machtgeprägten Gesamt der Gesellschaft haben. Jürgen Habermas Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit lässt sich in diesem Sinne als „Aktualisierung der Kulturindustrieanalyse“ interpretieren, die an die Stelle des historischen Materialismus als dem maßgeblichen normativen Rahmen die Demokratietheorie setzt. Weiter rekonstruiert Müller-Doohm die Reflexionsstufe kritischer Medientheorie über Habermas’ Dualisierung von System und Lebenswelt und stellt diese unterschiedlichen, in der Tradition der Aufklärung stehenden kritischen Medientheorien einander gegenüber. In Kurt Imhofs Beitrag Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne ist die Aufklärung und ihr Postulat, dass demokratische Selbstbestimmung eine Öffentlichkeit voraussetzt, der Ausgangspunkt der Argumentation. Imhof zeigt, dass eine Theorie der Öffentlichkeit die Norm- und Wertedimensionen der Aufklärung zum Wandel der Öffentlichkeit in Beziehung setzen können muss, wenn sie zentrale Funktionen von Öffentlichkeit im Wandel verständlich machen will. Sein Beitrag leistet das im Zusammenhang mit einer neuen Konzeptualisierung von Öffentlichkeit als einem komplexen „Netzwerk von Kommunikationsflüssen [...], die in verschiedenen Arenen zusammenfließen“. Dabei ist ihm wichtig
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zu zeigen, dass diese nicht in den Massenmedien aufgehen, sondern derzeit einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit konstituieren, der mit Bezug auf die Norm- und Wertedimensionen der Aufklärung und die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung diskutiert werden kann. Eine jüngere normative Orientierung von Medien- und Kommunikationstheorie, deren Gegenstand nicht die „Bildung und Vermittlung eines ideologischen Bewusstseins“ ist, wie bei Horkheimer und Adorno, oder die „Öffentlichkeit als Bedingung der demokratischen Selbstbestimmung“ in der Tradition der Aufklärung, stellen in ihrem Beitrag Feministische Theorie in der Kommunikationswissenschaft Johanna Dorer und Elisabeth Klaus vor. Sie zeigen wie feministische Theorie entwickelt wurde und wie mit ihr „Konzepte und Modelle zur Analyse hierarchischer Geschlechterverhältnisse und -zuschreibungen“ und „politische Strategien zur Beseitigung gesellschaftlicher Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts“ entwickelt wurden, bevor am Beispiel der Journalismusforschung konkret demonstriert wird, wie sich feministische Theorien auf Fragestellungen und Forschungsdesign ausgewirkt haben. In der von Andreas Hepp vorgestellten Konzeptualisierung von Kulturtheorie als grundlegende Theorie der Kommunikations- und Medienwissenschaft wird die Relevanz einer kulturtheoretischen Zugangsweise für eine Auseinandersetzung mit Prozessen der Medienkommunikation deutlich gemacht. Nachdem im Beitrag Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft die kulturelle Dimension medienvermittelter Bedeutungsproduktion fokussiert wird, werden neuere Konzepte der Konnektivitäts- und Netzwerktheorie und des Analyseansatzes des „Kreislaufs der Medienkultur“ als analytischer Gesamtansatz der Beschreibung von Medienkulturen vorgestellt. Medienkultur wird auf der Basis jüngerer Kulturtheorie über die Artikulationsebenen von Produktion, Repräsentation, Aneignung, Identifikation und Regulation als ein hybrides, zunehmend durch Globalisierung geprägtes Gesamt greifbar, in dem sich verschiedene Konflikte und Auseinandersetzungen konkretisieren. Nicht als Kampf um die Produktion, Repräsentation oder Aneignung von Kultur und Bedeutung im Kontext medialer Kommunikation oder in der materialistischen Perspektive Horkheimers’ und Adornos’ bzw. der normativen Perspektive der Öffentlichkeitstheorie gerät Wandel in Rudolf Stöbers Beitrag Innovation und Evolution: Wie erklärt sich medialer und kommunikativer Wandel? in den Blick. Er theoretisiert die in den anderen Beiträgen kaum berücksichtigten Zufälle bzw. wie diese den Wandel von Kommunikation und Medien „evolutionär“ bedingen. Sein Bezugspunkt sind nicht z. B. Machtverhältnisse, sondern die Möglichkeiten medialer Systeme, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Rudolf Stöber geht ausführlicher auf Einwände gegen evolutionäre Erklärungen des Wandels von Medien und Kommunikation ein
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und erläutert die Chancen, die sie bieten, am Beispiel historischer Entwicklungen. Einen weiteren Zugang zur funktionalen Logik der Konzeptualisierung von Kommunikation und Medien entwickelt Andreas Ziemann in seinem Beitrag Kommunikationstheorie als Gesellschaftstheorie und mediale Konstellationen. Ausgehend von den zwei grundlegenden Problemstellungen, erstens wie Kommunikation möglich ist und zweitens wie es möglich wird, spezifische Kommunikationen erwartbar zu reproduzieren, wird Luhmanns explizit gesellschaftstheoretisch orientierte Kommunikationstheorie entfaltet. Gezeigt wird, wie in einem solchen Theoriezugang die „Medien“ Sprache, technische Massenmedien und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien die „soziokulturelle Entwicklung“ und die „gesellschaftliche Komplexitätssteigerung“ bedingen und dabei auch für die „kommunikative Erwartungsstabilisierung, Koordinierungssteigerung und Verständigungsoptimierung“ in der Gesellschaft maßgeblich sind. Deutlich wird so, welche grundlegende Theorieperspektive die Systemtheorie für die Kommunikations- und Medienwissenschaft eröffnet. Im Beitrag Perspektiven einer Systemtheorie öffentlicher Kommunikation entfaltet Alexander Görke diese grundlegende Perspektive weiter. Görke diskutiert Luhmanns „Realität der Massenmedien“ kritisch vor dem Hintergrund von dessen ursprünglich an Folgen für das politische System und öffentlicher Meinung und Öffentlichkeit interessierten Arbeiten, in denen den „Massenmedien“ noch kein Funktionsstatus in der Gesellschaft zuerkannt worden ist. Ausgehend von dieser Kritik entwickelt er eine eigene Konzeptualisierung von Öffentlichkeit als Funktionssystem, dass den durch funktionale Differenzierungsprozesse zunehmenden Synchronisationsbedarf von Gesellschaft erfüllt und ihren Leistungssystemen durch deren Beobachtungen der Gesellschaft überraschende Möglichkeiten der Kommunikation eröffnet bzw. zugemutet werden. In dieser Theorieperspektive stellen Journalismus, Unterhaltung, PR und Werbung spezifische Leistungssysteme des Funktionssystems Öffentlichkeit dar. Nach diesen Rekonstruktionen ausgewählter grundlegender Theorieperspektiven folgen drei Beiträge, die nicht einzelne Theorieperspektiven entfalten, sondern die vielmehr spezifische Theorieperspektiven kontextualisieren. Es wird Thema, wie abstrakte Theorien empirische Forschung orientieren können und welche Probleme sich ergeben, wenn deren Annahmen empirisch überprüft werden (Arnold/Schneider). Weiter werden die Bedeutung spezifischer nationaler Kontexte für die konzeptuelle Auffassungen von Gegenständen und die Entfaltung von Problemen und Fragen zum Thema (Averbeck), sowie zuletzt wissenschaftstheoretische Herausforderungen an die Entwicklung von Kommunikations- und Medientheorien.
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In ihrem Beitrag Interdisziplinärer Theorietransfer in der Kommunikationswissenschaft am Beispiel des sozialen Kapitals diskutieren Anne-Katrin Arnold und Beate Schneider, wie eine empirische Bestimmung der Bedeutung medial vermittelter Kommunikation für den Aufbau und Erhalt sozialen Kapitals möglich wird. Ausgehend von der Konzeptualisierung sozialen Kapitals durch Pierre Bourdieu und dessen kommunikationsorientierter Differenzierung und Spezifikation durch James Coleman, Robert Putnam und Ronald Burt entwickeln beide ein Modell für die Operationalisierung der Erforschung der Bedeutung der Massenmedien und von Internetkommunikation für den Aufbau sozialen Kapitals. Arnold und Schneider zeigen, wie ein Transfer von Theorie in ein Modell für empirische Forschung und die Diskussion der Prämissen des Modells und der Forschungsergebnisse möglich werden, wenn eine konzeptuelle Perspektive nicht nur entwickelt oder kritisiert, sondern auch operationalisiert wird. Stefanie Averbeck rekonstruiert in ihrem Beitrag Über Spezifika „nationaler Theoriediskurse“: Kommunikationswissenschaft in Frankreich wieder andere Bedingungen von und für Theorie. Sie veranschaulicht wie sich die französische Kommunikations- und Medienwissenschaft von der deutschen aufgrund verschiedener Tradition unterscheidet und wie sehr diese den Fachkontext – in Frankreich die Geisteswissenschaften und in Deutschland die Sozialwissenschaften – und seine maßgeblichen Theorien und ihre Diskussion geprägt haben. Ausgehend sowohl von der Konzeptualisierung von Kommunikation wie der Qualität und Quantität von Metareflexionen in den Fächern wird die Bedeutung institutioneller Rahmen der Kommunikationswissenschaft für die Entwicklung ihrer Theoriebildung auch konkret am Beispiel der Herkunft zentraler Personen rekonstruiert. Averbeck zeigt, wie jeweils Kooperationen und die Entwicklung von Forschungsperspektiven die Entwicklung der Theorie prägt, die trotz großer Ähnlichkeiten in der Orientierung etwa an Lazersfeld und den USA ganz anders als in Deutschland verlief. Der Beitrag Kommunikations-Kommunikationswissenschaft: Wissenschaftstheoretische Anmerkungen zur Theoriediskussion in den Kommunikationswissenschaften von Matthias Karmasin erläutert die Notwendigkeit der theoretischen Selbstreflexion als einer zentralen und notwendigen Aufgabe der Wissenschaft. Ausgehend von der Geschichte von Publizistik- und Medienwissenschaft und dem Oszillieren zwischen verschiedenen Auffassungen vom methodologischen Status, vom Objektbereich, vom Methodenset und auch vom Modell von Interdisziplinarität, erläutert er, wie und warum die theoretische Selbstreflexion heute den gesamten Kontext berücksichtigen muss, in dem sich Erkenntnis und Wissenschaft abspielen, und in dem, wie Karmasin argumentiert, Pluralität heute der Imperativ ist. Wissenschaft ist ein Spiegel der Gesellschaft, in der sich die Pluralität divergenter Erklärungsmodelle im Alltag wie in der Wissenschaft
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in gleichem Maß bewährt hat. Das macht es wünschenswert, dass Raum für die Reflexion verschiedener konzeptueller Leistungen vorhanden ist, der offen und unabgeschlossen ist. Karmasin bereitet mit seiner Öffnung der Bedingungen von und für Kommunikations- und Medientheorie so den Raum für die Beiträge des zweiten Teils, in dem neue Forschungsfelder und Theorieentwicklungen vorgestellt werden.
4 Die Beiträge des zweiten Teils im Überblick Christoph Neuberger thematisiert in seinem Beitrag Neue Medien als Herausforderung für die Journalismustheorie eben diese neuen Medien als Anlass für einen Paradigmenwechsel in der Vermittlung öffentlicher Kommunikation. Sein Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Theorien, Modelle und Begriffe der Wissenschaften durch den status quo der Entwicklung der Medien geprägt sind, das heißt dass in der Kommunikations- und Medienwissenschaft Theorien „den bislang dominierenden Massenmedien konzeptuell verhaftet“ sind, da diese ja notwendig in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickelt wurden. In diesem Zusammenhang diskutiert er, wie Journalismusforschung im Kontext der digitalen Netzwerkmedien möglicherweise neu und anders zu betreiben ist und wie Theorien künftig zu verändern und entwickeln sind. Christoph Neuberger rekonstruiert ausgehend von neuen und dem bekannten Journalismus funktional äquivalenten Leistungen und neuen Rollen in der öffentlichen Kommunikation einen „Paradigmenwechsel in der Vermittlung öffentlicher Kommunikation“. Er belegt diesen ausführlich durch neue Vermittlungsakteure, -strukturen und -leistungen von und für öffentliche Kommunikation und macht Vorschläge für die Öffnung der Journalismusforschung zur Öffentlichkeits- und Rezipientenforschung, zur Medientheorie und zur Geschichte der Vermittlung öffentlicher Kommunikation, um sowohl zu spezifischeren Definitionen wie abstrakteren Konzepten von Journalismus zu gelangen. Einen weiteren Vorschlag für eine solche „neue“ Konzeptualisierung des Journalismus bietet Margreth Lünenborg in ihrem Artikel Journalismus in der Mediengesellschaft – Plädoyer für eine integrative Journalistik. Sie entwickelt aus ähnlichen Gründen wie denen, die für Neuberger einen Paradigmenwechsel der Journalismusforschung notwendig erscheinen lassen, Kultur als das neue Paradigma, „mittels dessen sich Journalismus in seiner aktuellen Bedeutung für die Gesellschaft verstehen lässt.“ Anknüpfend an das Kulturverständnis der Cultural Studies, wo anders als in der von ihr rekonstruierten kulturwissenschaftlichen Tradition der deutschen Journalismusforschung nicht nur außergewöhnli-
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che, sondern vielmehr vor allem gewöhnliche alltägliche Praktiken in ihrem Zusammenhang mit umfassenden Lebensweisen als komplexer Prozesszusammenhang als Kultur gelten, skizziert sie ein Verständnis von Journalismus als Kulturleistung, die die Teilhabe an der Mediengesellschaft im Prozess der Produktion und der Rezeption von journalistischen Angeboten ermöglicht. Als normativer Rahmen fungiert ein Konzept des „Cultural Citizenship“, mit dem sich die medial geprägten Formen der „Teilhabe an Gesellschaft“ identifizieren, unterscheiden und auch zu weitergehenden Sinnstrukturen in Beziehung setzen lassen. Gerade bei der dabei vollzogenen explizit handlungstheoretischen Fundierung der Konzeptualisierung von Genre wird die Bedeutung medialer Kommunikation als Vermittlung zu einem Thema. Die Grenzen und Möglichkeiten medialer Vermittlung sind auch das Thema von Oliver Zöllners Artikel Zugehörigkeit und Teilhabe von Migranten in der Mediengesellschaft: Neue Fernsehkanäle und die alte Aufgabe der Integration. Zöllner setzt nicht beim Medium an oder bei dessen Machern, sondern bei den gesellschaftlichen Verhältnissen, die global zunehmend mehr Migranten quasi produzieren. Zöllner problematisiert die damit verbundenen Probleme in den üblicherweise unterschiedenen Prozessen und Ebenen von medialer Kommunikation in Gesellschaft, die oft als solche der bloßen Teilhabe unterschätzt werden, obwohl inzwischen alle maßgeblichen Integrationskonzepte die Notwendigkeit auch der aktiven Gestaltung auf den unterschiedlichen Ebenen der Medienkommunikation empirisch plausibel fordern. Seine Konzeptualisierung liefert Perspektiven, die künftig in dem umfassenderen Rahmen des Konzepts der „Cultural Citizenship“ berücksichtigt werden sollte, das bereits im Beitrag von Margreth Lünenborg als Theoretisierungsansatz aufgegriffen wurde. Die Möglichkeiten des Fernsehens, Menschen gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit zu erlauben, macht der Beitrag Krisen als Medienereignisse: Zur Ritualisierung mediatisierter Kommunikation im Fernsehen von Stephan Alexander Weichert noch einmal verständlicher. Das Fernsehen, so zeigt Weichert mit Verweis auf die entsprechende Literatur, ist heute der Bezugspunkt für Orientierungshandeln in Krisen geworden. Dessen „Schlüsselfunktionen“ sieht er darin, dass das Fernsehen in seinen Medienritualen „auf den Erhalt von Gesellschaft abhebt“ oder zumindest letztere im Medienritual als solche inszeniert. Medienkommunikation ist entsprechend eng mit geteilten Ritualen in Verbindung zu bringen, deren Bedeutung sich vor allem in den Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Unsicherheit zeigt. Sie verdeutlichen, wie sehr die Fernsehpraxis Krisen und Orientierungssuche „strukturell erwartet“ und deshalb auch spezifische Rituale für den Umgang mit ihnen entwickelt hat, sodass es heute durchaus berechtigt ist, Gesellschaften als Fernsehgesellschaften zu attribuieren.
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Patrick Donges entwickelt Medien- und Kommunikationstheorie in seinem Beitrag Medien als Strukturen und Akteure: Kommunikationswissenschaftliche Theoriediskussion zwischen System- und Handlungstheorie ausgehend von Ulrich Saxers bekannter Mediendefinition. Diese konzeptualisiert Medien als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen“. Über eine Reformulierung dieser Konzeption gelangt Donges zu einer stärkeren Berücksichtigung der Akteure, bei der er sich an Uwe Schimanks Modell der Akteur-Struktur-Dynamiken orientiert, bevor er Medien als System, als Institutionen und als Akteure diskutiert. Eine explizite Berücksichtigung von Akteuren erscheint möglich, wenn das Konzept des Kommunikationssystems wieder durch das von Systemen als Handlungszusammenhängen ersetzt wird. Das erlaubt es, die konkreten Differenzierungs- und Entdifferenzierungspolitiken von Akteuren zu berücksichtigen, was es in der Folge dann erlaubt, Analysen auf der Mesoebene, Mikro- und Makroebene miteinander zu verbinden. Diese konkreten Differenzierungs- und Entdifferenzierungsdynamiken und deren Bedeutung für Strukturen im Hinblick auf Öffentlichkeiten sind der Gegenstand des Beitrags Produktion und Reproduktion von Öffentlichkeit. Über die Möglichkeiten die Strukturationstheorie von Anthony Giddens für die Kommunikationswissenschaft nutzbar zu machen von Franzisca Weder. Sie diskutiert, wie Akteure heute in der Mediengesellschaft unter den Bedingungen immer komplexerer Verflechtungen von globaler Vernetzung von Kommunikation überhaupt noch Öffentlichkeit herstellen sollen und können. Mit Anthony Giddens Strukturationstheorie zeigt sie dann, wie Öffentlichkeit komplementär einerseits als „constrains“ und andererseits als „Möglichkeitsbedingung“, das heißt als Handlungsrahmen und Handlungsbedingung differenziert und spezifiziert werden kann. Handlungen werden so als Veränderungen im Rahmen von bestehenden hin zu vorgestellten Strukturen diskutierbar. Johannes Raabe diskutiert in seinem Beitrag Kommunikation und soziale Praxis: Chancen einer praxistheoretischen Perspektive für Kommunikationstheorie und -forschung Grundzüge und Möglichkeiten der Theorien sozialer Praxis sozusagen zwischen Theorien, die entweder von Individuen oder von gesellschaftlichen Strukturen ausgehen – und entwickelte genau von dieser Ausgangssituation aus ihre Stärken für die empirische Analyse von Kommunikation in seinen verschiedensten Formen als Prozess. Erläutert werden das Verständnis von Praxis und sozialen Praktiken, die Betonung und Bedeutung der Materialität von Praktiken, ihre jeweilige Kulturbedingtheit und -bedeutung von Praxis als Zusammenhang von Handeln und Wissen und von Praxis als Spannungsfeld von Routine und Kreativität. Vor diesem Hintergrund wird auf die allgemeine Reflexivität von Praxistheorie bzw. praxistheoretisch orientierter Forschung einge-
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gangen, bevor er Kommunikation als soziale Praxis reflektiert und dabei bekannte theoretische Modellierungen von Kommunikation wie insbesondere zu triviale Konzepte von Kommunikation als Vermittlung problematisiert und zeigt, wie praxistheoretische Konzepte über den Gegenstandsbereich der klassischen Nutzungskonzepte hinausreichen können. Udo Göttlich setzt in seinem Beitrag Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung: Handlungs- und praxistheoretische Aspekte als Herausforderung der Rezeptionsforschung bei der Klärung der theoretischen Voraussetzungen von Medienrezeption und Medienutzung als aktiven Aneignungsprozessen an. Es wird eine „Entwicklung zur handlungstheoretischen Wende in der Rezeptionsforschung“ rekonstruiert, die Göttlich mit der Umorientierung der Forschung von der Frage „What do the media do to people“ zu der Frage „What do the people do with the media“ anspricht. In den Fokus rückt dabei die Klärung der Kreativität des Handelns, die zuerst von den Cultural Studies hervorgehoben wurde und später stärker im Hinblick auf Routinen und Widerstände gegen diese kontextualisiert und dabei versachlicht wurde. Eine solche Diskussion dient als Basis, um Kreativität stärker in den Zusammenhang mit Rezeptionsmodalitäten und -voraussetzungen zu bringen. Vor diesem konzeptuell entfalteten Verständnis von situierter Kreativität wird das Potenzial jedes Umgangs mit Medien als „Freisetzung für neue Handlungen“ sichtbar, und mit ihm eine konzeptuelle Möglichkeit, bestehende Engführungen der Konzeptualisierung von Medienaneignung zu überwinden. Eine wieder andere Perspektive auf Medienaneignung entwickelt Maren Hartmann in ihrem Beitrag Domestizierung 2.0: Grenzen und Chancen eines Medienaneignungskonzeptes. Im Vordergrund ihrer Perspektive steht nicht eine bestimmte Praktik oder ihr kreatives Potenzial, sondern der Prozess, in dem Medientechnologien bzw. deren Inhalte domestiziert – das heißt in der Alltagswelt „gebändigt“ – werden. Innerhalb des Artikels wird dabei das ursprünglich auf die häusliche Aneignung von Medien wie Fernsehen oder Radio entwickelte Konzept erweitert zu einem Ansatz der Analyse digitaler und zunehmend auch mobiler Medien. Domestizierung findet in einem solchen Verständnis nicht einfach „zu Hause“ statt, sondern in verschiedenen lokalen Kontexten der Medienaneignung. Entsprechend wird der Domestizierungsansatz in einer allgemeinen Theorie der Medienaneignung mit Fokus auf digitale Medien integriert. In seinem abschließenden Beitrag Medienentwicklung als Bezugspunkt für die Erforschung von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel zeigt Carsten Winter, wie der „Wandel der Medien“ als Entwicklung der Medien im Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer Produktion, Allokation, Rezeption und Nutzung empirisch systematisch konzeptualisiert werden kann. Mit der Konzeptualisierung wird der Wandel von öffentlicher Kommunikation
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und Gesellschaft als ein komplexer und oft widersprüchlicher Zusammenhang verschiedener aktiv auf Medien gerichteter Handlungen bewusst in Abgrenzung zu bestehenden Konzepten von Wandel verstehbar gemacht, in denen diese verschiedenen Weisen des Umgangs mit den Medien weder in ihrer Verschiedenartigkeit noch in ihrer komplexen medialen Verbundenheit verständlich werden. Beide Teile der hiermit vorgelegten Theorien der Kommunikations- und Medienwissenschaft sollen mit ihrer Fokussierung auf verschiedene Forschungsfelder und die mit diesen verbundenen Theorieentwicklungen – so zumindest unsere Hoffnung – gemeinsam mit den Beiträgen des ersten Teils „Grundlegende Theorien“ die Vielfalt der aktuellen Theoriediskussionen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft greifbarer machen. Es wäre zu wünschen, dass die vorgestellten Beiträge zu wechselseitiger Ergänzung, Kritik und Reflexion einladen. Der vorliegende Band wäre nicht ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen möglich gewesen, denen wir danken möchten. Dies sind zuerst die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der beiden 2004 an der Universität Erfurt und 2005 an der Universität Bremen von der DGPuK-Fachgruppe Soziologie der Medienkommunikation durchgeführten Tagungen, die ihre Überlegungen nach den zum Teil für DGPuK-Tagungen ungewohnt lebendigen und gelegentlich kontroversen Diskussionen weiter entwickelt und aufgeschrieben haben, sowie den (wenigen) Autoren, die noch hinzugekommen sind. Danken möchten wir als Herausgeber weiter dem Verlag für Sozialwissenschaften und dort vor allem Barbara Emig-Roller für eine intensive Betreuung des Publikationsprojekts und die Möglichkeit, dieses in die Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ aufzunehmen. Danken möchte wir für ihre Hilfe bei der Realisierung der beiden Tagungen wie des Bandes außerdem Marco Höhn für die umfassende Unterstützung der Tagungsorganisation, Matthias Berg für die Erstellung verschiedener Grafiken sowie Mareike Mika und vor allem Sandra Weber für den Satz und das sorgfältige Korrekturlesen der Beiträge.
Literatur Bonfadelli, H./Rathgeb, J. (Hrsg.) (1997): Publizistikwissenschaftliche Basistheorien und ihre Praxistauglichkeit. Zürich. Burkart, R. (1997): Publizistikwissenschaftliche Basistheorien: Eine Annäherung aus drei Perspektiven. In: Bonfadelli, H./Rathgeb, J. (Hrsg.): Publizistikwissenschaftliche Basistheorien und ihre Praxistauglichkeit. Zürich: S. 51-66.
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Teil 1: Grundlegende Diskussionen
Handlungstheorien und Symbolischer Interaktionismus als Grundlage kommunikationswissenschaftlicher Forschung Friedrich Krotz
1 Einführung und Zielsetzung Der Mensch erfährt Kommunikation zu allererst als Handeln in Bezug auf andere Menschen und damit als situative oder übergreifende Beziehung zu ihnen. Damit ist in jeder Kommunikationssituation immer auch die eigene Präsenz und Identität gefragt, und jede Verständigung wird als eigene Leistung und Anerkennung erlebt. Wenn jemand also von Kommunikation zwischen Kulturen oder sozialen Gruppen, Systemen oder anderen Aggregaten oder Abstrakta spricht, so ist damit immer gemeint, dass Menschen miteinander kommunizieren – jetzt aber in Bezug auf spezifische Gruppenidentitäten und -werte, vor einer spezifischen Kultur und ihrer besonderen Ausprägung oder im Hinblick auf organisierte Zielsetzungen bzw. in Orientierung an institutionellen Mustern. Auf der Ebene des Erfahrens und Erlebens des einzelnen Menschen ändert sich dabei aber nichts – das ist eine der konstitutiven Grundannahmen einer handlungstheoretisch begründeten Kommunikationswissenschaft. Das heißt natürlich nicht, dass Kommunikation deshalb etwas nur Individuelles ist oder gar jenseits kultureller und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen stattfindet. Insofern es dabei um Zeichen und um Bedeutung von Zeichen geht, funktioniert Kommunikation gerade erst dadurch, dass die verwendeten Zeichen, etwa Worte, bekannt und die damit verbundenen Bedeutungen sozial geteilt sind, wenn der Sinn des Gesagten auch nicht allein dadurch bestimmt ist. Kommunikation als individuelles Handeln ist kulturell und gesellschaftlich strukturiert und institutionalisiert, vielleicht sogar sehr viel mehr, als wir uns das gemeinhin vorstellen, wenn wir von vereinfachenden Kommunikationsmodellen wie „Informationstransport“ ausgehen.
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Kommunizieren ist also zu allererst ein auf andere Menschen bezogenes und damit soziales Handeln. Dementsprechend sind Handlungstheorien in der Kommunikationswissenschaft von fundamentaler Bedeutung, weil Handeln deshalb für die kulturellen und sozialen Wirklichkeiten und deren Entstehungs- und Entwicklungsprozesse konstitutiv ist. Von diesen Grundannahmen aus verfolgt der vorliegende Text drei Ziele. Er gibt einmal einen Überblick über sozialwissenschaftliche Handlungstheorien in der Perspektive der Kommunikationswissenschaft. Das zeigt zweitens, dass die Kommunikationswissenschaft das, was Handlungstheorien leisten könnten, nicht ausschöpft, sondern voreilig beschränkt. Das werden wir am Beispiel des Symbolischen Interaktionismus deutlich machen. Drittens werden wir der Frage nachgehen, welches Potenzial in den Handlungstheorien angelegt ist, wenn man die derzeitige rapide Entwicklung des Gegenstandsbereichs der Kommunikationswissenschaft, also den medialen und kommunikativen Wandel durch Digitalisierung und Computer und die damit einhergehende Mediatisierung konzeptionell fassen will. Dementsprechend werden im folgenden zweiten Absatz des vorliegenden Textes1 zunächst Handlungstheorien von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien abgegrenzt. Im dritten Abschnitt werden alle Handlungstheorien dann in zwei Typen unterteilt. Dabei dient als Unterscheidungskriterium, ob die jeweilige Handlungstheorie davon ausgeht, dass Handeln letztlich nur in Bezug auf Konzepte wie Sinn und Bedeutung verstanden werden kann – wir sprechen dann meistens von (sozialem) Handeln – oder nicht. Im vierten Abschnitt werden derartige Theorien sozialen Handelns genauer umrissen. Der fünfte Abschnitt skizziert dann beispielhaft, was das besondere des Symbolischen Interaktionismus für die Kommunikationswissenschaft sein kann. Schließlich wird im sechsten Abschnitt in Bezug auf die derzeitigen medialen Wandlungsprozesse und den in dieser Hinsicht integrierenden Metaprozess der Mediatisierung herausgearbeitet, warum Handlungstheorien gerade heute von zentraler Bedeutung für die Kommunikations- und Medienwissenschaft sind.
2 Handlungstheorien Sozialwissenschaftliche Theorien lassen sich ganz allgemein als aufeinander bezogene Aussagenzusammenhänge begreifen. Als Handlungstheorien werden derartige Theorien dann bezeichnet, wenn sie von kulturell und gesellschaftlich geprägtem, individuellem Handeln als einer Grundkategorie der Sozialwissenschaft ausgehen, wobei diese Grundkategorie sich empirisch nicht weiter rechtfertigen muss, sondern gesetzt ist. Erleben, Denken und insbesondere Kom-
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munizieren gelten dann als besondere Formen eines so verstandenen allgemeinen (sozialen) Handelns. Diese Handlungsorientierung bedeutet aber natürlich nicht, dass man Handeln und dessen Konsequenzen nicht empirisch untersuchen kann oder soll. Vielmehr rechtfertigt sich jede Sozialwissenschaft über empirische Untersuchungen. Jedoch beruht jede Theorie immer auch implizit oder explizit auf grundlegenden, gesetzten Annahmen, die nicht verleugnet werden können, sondern reflektiert werden müssen (Krotz 2005). Sozialwissenschaftliche Theorien, die keine Handlungstheorien sind, lassen sich etwa in Gesellschaftstheorien und Systemtheorien unterscheiden. Gesellschaftstheorien gehen von einer Eigenständigkeit übergeordneter sozialer Phänomene wie eben der Gesellschaft oder etwas Vergleichbarem aus. Systemtheorien stellen ein abstraktes funktionales Prinzip, nämlich das Konzept des Systems, in den Mittelpunkt und versuchen, soziales Geschehen von daher zu beschreiben und zu analysieren. Natürlich gibt es auch im Rahmen von Gesellschafts- und Systemtheorien Aussagen darüber, warum und wie Menschen handeln und kommunizieren; sie leiten diese aber aus den jeweils unterstellten Basisannahmen ab. Dadurch verlieren sie die fundamentale Bedeutung des Individuums für Kommunikation aus dem Auge.
3 Arten von Handlungstheorien und ihre kommunikationswissenschaftliche Relevanz Das Feld der Handlungstheorien ist nur schwer einheitlich beschreibbar. Nach Lüdtke kann man z. B. wahrnehmungs- und motivationspsychologische, lerntheoretische, interaktionistische, entscheidungs- und rollentheoretische Handlungstheorien voneinander unterscheiden (Lüdtke 1978: 269). Felsch und Küpper (1998) dagegen unterteilen Handlungstheorien danach, ob sie rational oder normativ sind: Zu den ersteren lässt sich zum Beispiel das Konzept des ‚homo oeconomicus‘ rechnen, das auf Austauschtheorien und Nutzenoptimierung und damit auf Theorien beruht, die Handeln auf das Wählen zwischen Alternativen reduzieren. Ein Beispiel für normative Handlungstheorien liegt mit der Vorstellung eines ‚homo sociologicus‘ und damit beispielsweise mit dem Werk des Strukturfunktionalisten Talcott Parsons vor, der Gesellschaft primär als durch normenbezogenes Handeln konstituiert versteht. Neben diesen Einteilungen gibt es weitere. Hier sollen Handlungstheorien auf der Basis einer zentralen Grundannahme in zwei Grundtypen unterschieden werden: Wird Handeln bzw. Kommunizieren
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so definiert, dass es durch Beobachtung von einem unabhängigen Beobachter in seinem Wesen beschrieben werden kann, oder wird davon ausgegangen, dass jedes Handeln immer auch durch innere Prozesse der handelnden Menschen konstituiert wird, von denen nicht abgesehen werden kann?2 Zum ersten Typus gehören sowohl verhaltensbezogene Handlungstheorien als auch solche, die Handeln als Wählen verstehen. Verhaltenstheoretische Handlungstheorien begreifen den Menschen bekanntlich als eine Art schwarzen Kasten, der auf der Basis von äußeren Reizen reagiert. Handlungstheorien, die Handeln auf das Wählen zwischen vorgegebenen Alternativen reduzieren, beschäftigen sich ebenfalls nicht weiter mit inneren Prozessen der Menschen und Bedeutungskonstruktionen, sondern verwenden beispielsweise das Konstrukt des Motivs bzw. des Bedürfnisses, um Entscheidungen am Individuum festzumachen. Denis McQuail (1994) unterscheidet nun vier paradigmatische Arten eines Verständnisses von Kommunikation, über die sich Kommunikationswissenschaft strukturiert. Die beiden folgenden fallen unter den eben umrissenen ersten Typus von Handlungstheorien: •
Das Verständnis kommunikativen Handelns als Zuwendung von Aufmerksamkeit, eine Vorstellung, wie sie die Werbeforschung gerne benutzt, weil Werbung ja Aufmerksamkeit erregen soll. Im Aufmerksamkeitsparadigma wird kommunikatives Handeln zu reaktivem Verhalten in Bezug auf Reize, das sich von anderem reaktiven Verhalten nicht wesentlich unterscheidet.
•
Das Verständnis von Kommunikation als Informationstransport, der mittels Medien zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Medium stattfindet. Darauf beziehen sich beispielsweise Theorien, die Handeln auf Wählen zwischen vorgegebenen Alternativen reduzieren (z. B. Jäckel 1996). Insbesondere der in der Kommunikationswissenschaft prominente Uses-andGratifications-Ansatz (Rubin 1994) ist eng mit diesem Kommunikationsverständnis verbunden: Hier werden für den Kommunikationsprozess externe, in konkreten Situationen bereits vorab vorhandene Motive überwiegend psychologischer Art mit Auswahlentscheidungen in Bezug gesetzt.
In beiden von McQuail unterschiedenen Ansätzen sind weder die antizipierenden Aktivitäten des Kommunikators bei der Herstellung eines Kommunikats noch der Verstehensprozess des Zuhörers ein Teil des Kommunikationsprozesses. Hieran orientierte Medienforschung setzt deshalb nach der Erklärung der Nutzungsentscheidung erst wieder mit der Überprüfung von Veränderungen ein, die als „Wirkung“ interpretiert werden, so zum Beispiel im Uses-and-Gratifications-Ansatz (Rubin 1994).
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Demgegenüber geht der zweite, oben eingeführte Typus von Handlungstheorien davon aus, dass Handeln, Erleben, Denken und Kommunizieren der Menschen nur zustande kommen, weil Menschen mit auf inneren Prozessen basierenden Konzepten wie Sinn und Bedeutung operieren. Eine wesentliche und immer wieder zitierte Version dieses Verständnisses von (sozialem) Handeln findet sich in den Arbeiten von Max Weber, einem der „Klassiker“ der Soziologie und auch der Kommunikationswissenschaft. Für ihn war Soziologie die Wissenschaft, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei, ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales Handeln‘ aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinen von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1978: 9).
Hier wird Handeln als Grundkategorie der Sozialwissenschaft entworfen, die auf Sinn und Bedeutung beruht und vom Handelnden konstituiert wird. Ein eindrückliches Beispiel für ein derartiges Verständnis von sozialem Handeln ist die Teilnahme an einem Fußballspiel. Daran wird deutlich, dass Handeln in einem sozialen Kontext und in Bezug auf andere stattfindet und dass jedes beteiligte Individuum sowohl Freund wie Gegner empathisch begleiten muss um antizipieren zu können, was wie weiter geschieht, das heißt wie der andere handeln wird. Will man derartiges soziales Handeln in seinem Zustandekommen wissenschaftlich begreifen, so kann man sich also nicht darauf beschränken, es zu beobachten. Die Arbeiten des Begründers des Symbolischen Interaktionismus, George Herbert Mead (1969, 1973), sowie von Jürgen Habermas (1987) knüpfen an einem derartigen Handlungsbegriff an, ebenso wie die beiden übrigen, von McQuail (1994) beschriebenen Paradigmen der Kommunikationswissenschaft: •
Im so genannten rezeptionsbezogenen Paradigma wird Kommunizieren primär durch das Verstehen definiert, ohne das von Kommunikation nicht die Rede sein kann. Verstehen heißt dabei, anschaulich gesprochen, dass der Rezipient Inhalte von Kommunikation mit seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken zusammen bringt.
•
Im so genannten rituellen Paradigma ist Kommunikation die Herstellung von Gemeinschaft, der man sich zuordnet, indem man sich an Kommunikation beteiligt – dabei steht im Vordergrund, dass die Menschen durch ihr kommunikatives Handeln zum Teil der Gemeinschaft werden, auf die sie sich in diesem Handeln beziehen, wobei es weniger wichtig ist, worüber sie
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Friedrich Krotz sich im Einzelnen zu verständigen versuchen (vgl. auch Krotz 2001a, 2001b).
Im Rahmen dieser Paradigmen wird grundsätzlich ein Menschenbild unterstellt, das sich von dem der beiden ersten Paradigmen unterscheidet: Der Mensch ist Bewohner einer kommunikativ konstituierten symbolischen Welt, die über Sprache und andere Symbolsysteme sozial und kulturell vermittelt hergestellt wird. Im Gegensatz zum verhaltenskonditionierten Pawlowschen Hund, dessen Speichelproduktion durch ein Klingeln unmittelbar und automatisch angeregt wird, handeln Menschen im Normalfall nicht automatisch oder rein reaktiv im Hinblick auf beobachtbares Geschehen, auf Reize oder genormte Zeichen, sondern auf Grund der Bedeutungen, die ein Objekt, ein Geschehen, ein Reiz oder allgemein, ein Zeichen für sie hat: Nicht das Zeichen löst etwas aus, sondern seine Interpretation ist Basis für Erleben und Handeln. Diese komplexe Möglichkeit und die Wirklichkeit des Hantierens mit Zeichen und Symbolen auf der Basis von kommunikativ konstituierten Bedeutungen und insbesondere durch die Sprache trennen den Menschen als Spezies auf charakteristische Weise vom Tier. Denn der Mensch ist Mensch nur dadurch, dass er über komplexe, symbolisch vermittelte Interaktion und über elaborierte Sprache verfügt. Der Mensch ist dementsprechend im Kommunizieren und Rezipieren immer aktiv, weil es ein unverstandenes Kommunizieren nicht gibt. Wenn im Folgenden von Handeln die Rede ist, so ist damit soziales Handeln in diesem zweiten Sinn gemeint, weil dies erst Handlungstheorien zu etwas Besonderem macht. Diese Art Handlungstheorien hat bereits in den 1970er Jahren in die deutsche Kommunikationswissenschaft Einzug gehalten. Dies geschah insbesondere durch die Aufsätze von Will Teichert (1972/1973), der ein symbolisch interaktionistisches Kommunikationsverständnis skizziert hat, sowie durch den sogenannten Nutzenansatz von Karsten Renckstorf (1973), der versucht, ein symbolisch-interaktionistisches Verständnis von Kommunikation mit objektivierenden quantitativen Untersuchungsmethoden zu verbinden. Es soll angemerkt werden, dass Kommunikation im Rahmen einer sinn- und bedeutungsbezogenen Handlungstheorie also nicht auf den Transport von Informationen reduziert werden kann. Wenn man beispielsweise den Fall ansieht, dass zwei Menschen über Gesten kommunizieren, so wird sofort erkennbar, dass da überhaupt nichts transportiert wird. Vielmehr produziert der eine Beteiligte Zeichen, und Kommunikation kommt zustande, wenn der andere Beteiligte ihnen Bedeutung zuweist und damit davon ausgeht, dass der Produzent sie in subjektiv sinnvoller Weise herstellt. Das als Transport zu begreifen, ist eine Abstraktion von dem, was tatsächlich geschieht, die manchmal, aber sicher nicht immer sinnvoll ist.
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4 Sinn- und bedeutungsbasierte handlungstheoretischer Ansätze Den im Folgenden genauer dargestellten handlungstheoretischen Ansätzen liegt also die Annahme zu Grunde, dass Handeln Sinn und Bedeutung zukommt. Sie unterstellen damit, dass bei jeder sozialen bzw. kommunikativen Handlung stets auch innere Prozesse stattfinden: Kommunikate müssen vor ihrem Vollzug in Hinblick auf die anderen Beteiligten antizipierend entworfen werden, und sie müssen von diesen anderen interpretierend verstanden werden. Daraus folgt, dass die soziale Wirklichkeit der Menschen eine symbolisch konstruierte Wirklichkeit ist, die durch das sinnvolle (kommunikative) Handeln der Menschen zu Stande kommt und von einem Außenbeobachter nicht „objektiv“, also ohne Beteiligung der Handelnden, beschrieben werden kann. Drei unterschiedliche sowie ein (gröblich zusammenfassender) residualer Typus solcher handlungstheoretischer Ansätze sollen kurz skizziert werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich diese Ansätze nicht immer scharf unterscheiden: •
Vor allem ist zunächst der durch die Schriften George Herbert Meads (1969, 1973) begründete Symbolische Interaktionismus (vgl. auch Lindesmith/ Strauss 1983) zu nennen. In Anlehnung an Herbert Blumer kann man diese Theorie auf drei handlungstheoretisch formulierte Grundaussagen zurückführen: Menschen handeln Dingen und Menschen gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen, die diese für sie haben; diese Bedeutungen sind in den Interaktionen der Menschen untereinander für die Einzelnen entstanden; sie werden schließlich von den Menschen gehandhabt und dabei auch abgeändert (Blumer 1973; vgl. auch Charon 1979). Umgekehrt – und darin liegt eine der Besonderheiten dieses Ansatzes – zeigt Mead aber auch, wie der Mensch durch die soziale Gemeinschaft, in der er entsteht, aufwächst und lebt, die Fähigkeit zur Kommunikation erwirbt und dadurch zu dem Menschen seiner Zeit und Kultur wird, der er ist und die er mitgestaltet. Das heißt, dass Mead herausarbeitet, dass und auf Grund welcher Mechanismen Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Identität und innere Struktur, Kompetenz und Erfahrung der Menschen durch kommunikatives, aufeinander bezogenes Handeln entsteht. Wie komplex die damit verbundenen Prozesse (und der dadurch vergesellschaftete und individuelle Mensch) sind, zeigen dann etwa die empirischen Studien von Erving Goffman (1980, 1997), der sich diesem Ansatz zurech-
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Friedrich Krotz nen lässt. Auch das in der Kommunikationswissenschaft bedeutsame Konzept der parasozialen Interaktion und der parasozialen Beziehungen, das auf zwei Arbeiten von Horton/Wohl (1956) sowie Horton/Strauss (1957) gründet, ist in diesem Rahmen entstanden (und von anderen theoretischen Ansätzen adaptiert worden).
•
Von ihrer klassischen sozialwissenschaftlichen Fundierung her sind sodann phänomenologisch und hermeneutisch begründete Handlungstheorien zu nennen. Phänomenologische Ansätze werden beispielsweise von Harold Garfinkel (1973), Alfred Schütz (1971), Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) vertreten. Sie gehen davon aus, dass die Menschen ihren Alltag als kreative Methodologen in Bezug auf eine Art sozialer Grammatik konstruieren. Diese Grammatik ist dann notwendiger Weise auf die Kontexte bezogen, in denen gehandelt wird, und muss über sie rekonstruiert werden. Typische kommunikationswissenschaftliche Studien über dieses Paradigma liegen mit den Arbeiten von Keppler (1994) und Ayass (1997) vor. Hermeneutische Ansätze dagegen versuchen, Sinn rekonstruktiv zu erschließen. Wie man das macht, haben etwa Overmann (1983) und Reichertz (1997) konzeptionell entwickelt und theoretisch begründet. Mit den Studien von Charlton und Neumann (1990) oder Hitzler/Hohner (1997) liegen dazu interessante Forschungsarbeiten vor.
•
Als weiterer handlungstheoretischer Ansatz dieses Typus müssen die Cultural Studies (Hepp/Winter 2006) Erwähnung finden, deren Handlungstheorie allerdings nicht explizit ausformuliert ist. Sie sollten aber wegen ihres semiotischen Grundverständnisses der sozialen und kulturellen Welt zu den Handlungstheorien, die für die Kommunikationswissenschaft relevant sind, gerechnet werden. Zudem zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie auch auf Theorien ganz anderer Art Bezug nehmen: auf einen modifizierten Marxismus, der am Hegemoniebegriff von Gramsci ansetzt, auf eine an Lacan angelehnte Psychoanalyse sowie auf die Arbeiten Foucaults und des (Post-)Strukturalismus (vgl. z. B. Hall 1980; Storey 1998; Krotz 1992). Hinter der darin angelegten Verweigerung einer monolithisch aufgebauten Theorie verbirgt sich die Annahme, dass alles Soziale und Kulturelle konkret und kontextbezogen ist, was sich besonders in der Rezeptionsvorstellung des „Texts are made by the readers“ ausdrückt. Kommunikationswissenschaftliche Arbeiten in dieser Tradition hat die Trierer Forschungsgruppe (Vogelgesang 1996; Hepp 1998) vorgelegt. Notwendig wäre es, den Begriff des relevanten Kontextes genauer zu untersuchen.
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Natürlich gibt es eine Reihe weiterer zu diesem Typus zu rechnende Handlungstheorien, die hier aber nur pauschal genannt werden können: Der Ethnograf hat es zu tun mit einer „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muss. […] Ethnografie betreiben, gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln’) [….]“ (Geertz 1991:15); dies kann nur durch den Bezug auf kommunikatives Handeln geschehen. Weiter ist die Psychoanalyse zu erwähnen, die in späteren Versionen von Freud und erst recht in ihrer auf Sozialwissenschaft gerichteten Konzeption von Lorenzer (1972) als Handlungstheorie begriffen werden muss. Kommunikationswissenschaftlich relevante Studien liegen in diesem Paradigma etwa mit den Arbeiten von Zeul (1994) und Holly/Püschel (1993) vor.
5 Das Kommunikationsmodell des Symbolischen Interaktionismus Im diesem Absatz werden wir nun den Symbolischen Interaktionismus als basales Theoriemodell einer handlungstheoretisch entwickelten Kommunikationswissenschaft skizzieren (vgl. auch Burkart 1995). Dies hat einerseits Beispielcharakter, insofern wir zeigen, wie sich auf der Basis eines solchen Handlungsverständnisses Kommunikationstheorie entwickeln lässt. Zugleich wollen wir aber auch herausarbeiten, dass der Symbolische Interaktionismus die einzige Theorie ist, die zwei fundamentale konzeptionelle Lücken der Kommunikationswissenschaft schließen kann. Sie hat erstens ein komplexes Kommunikationsmodell, das aufzeigen kann, wie genau Kommunikation als innerer und äußerer Prozess funktioniert, ohne von wesentlichen Eigenschaften abstrahieren zu müssen, wie es die obigen, nach McQuail vorgestellten Modelle von Kommunikation tun. Der Symbolische Interaktionismus besteht zweitens aus einer Theorie, die der sonst oft nur postulierten Bedeutung von Kommunikation gerecht wird. Sie kann nämlich begründen, wie aus den Notwendigkeiten, die im komplexen Kommunikationsprozess liegen, der Mensch in seiner historisch-kulturellen und damit existenziellen Besonderheit entsteht. Wir beginnen damit, einige an das skizzierte Handlungskonzept angelehnte Konzepte des Symbolischen Interaktionismus zu benennen (vgl. auch Charon 1979; Krotz 2001b):
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Zunächst hängt jedes Handeln und Erleben ab vom (symbolischen) Standpunkt des Individuums und damit von der Perspektive, von der aus gehandelt und erlebt wird. Perspektive ist dabei eine spezifische Strukturierung der Wahrnehmung, in der nicht alles gleichberechtigt ist, sondern die einen Ausschnitt definiert und diesen ordnet.
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Ein damit zusammenhängender Rahmenbegriff ist ‚Situation’, in der Menschen in Bezug zueinander handeln (Markowitz 1979). ‚Situation‘ meint also die je aktuelle Interaktionsgrundlage und ist damit einerseits ein prozessuales Konzept, das von allen Beteiligten fortwährend ausgehandelt wird, andererseits aber der stets notwendige, Perspektiven setzende Rahmen, mittels dessen abgegrenzt wird, was wie dazu gehört und was nicht.
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Schließlich ist der Begriff der Rolle zu nennen, in der die Menschen notwendiger Weise in einer Situation auftreten und der auf die Metapher vom sozialen Geschehen als Theater verweist (Goffman 1997). Ebenso wie Perspektive auf der Basis von Standpunkt und interpretierter Situation selektiert und strukturiert, ist auch der Mensch nie als Ganzer in einer Situation präsent, sondern in einer auf die Situation und die anderen Beteiligten bezogenen Rolle. Diese Rolle ist natürlich nicht nur gespielt, sondern muss als situativ bezogener Ausdruck von Persönlichkeit und Identität verstanden werden.
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In der Vielfalt der Rollen und den im Allgemeinen dazu gehörenden komplementären Rollen der anderen entwickeln sich Menschen, weil sie darüber handlungs- und erlebnisfähig werden. In diesem Zusammenhang kann man dann auch das Konzept „Identität als personale Idee und Zusammenfassung“ entwickeln (Krappmann 1975; Krotz 2003).
Umgekehrt dienen diese Basisbegriffe nicht nur dazu, Handeln und Kommunizieren in seinen konkreten Formen methodisch kontrolliert zu rekonstruieren. Vielmehr zeichnet sich der Ansatz von Mead gerade dadurch aus, dass er die sozialen und kommunikativen Kompetenzen der Menschen als durch die Notwendigkeit der Kommunikation entstanden begreift, und aus den Bedingungen von Kommunikation die Art der menschlichen Handlungsfähigkeit sowie Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Menschen als deren Besonderheit herzuleiten versucht (Burkitt 1991): Danach bedeutet „Verstehen“ ein Sich-Einstellen auf den Anderen, und das erfolgt, indem sich der Zuhörer auf der Basis seiner typisierten eigenen Lebenserfahrungen imaginär in den Kommunikator hinein versetzt und so in der Lage ist, einen Entwurf des Gemeinten zu konstruieren, den er dann mit seiner Antwort immer auch testet. Genauer müssen sich alle Beteiligten an einem Gespräch zumindest phasenweise auf ihr Gegenüber
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einlassen, und die sich daraus ergebenden Aufgaben erledigen: Wer dem anderen etwas sagt, muss sich nicht nur überlegen, was, sondern auch, wie er das tut, damit er verstanden wird. Er muss also voraussehen, was der andere erwartet und verstehen kann, und wie er seine Absichten in dem dadurch vorgegebenen Erwartungsmuster am besten umsetzt. Umgekehrt muss der Zuhörer einen ähnlichen Aufwand betreiben, um zu verstehen, was mit dem jeweiligen Kommunikat gemeint ist und wie er damit umgehen bzw. was er antworten will, um seine eigenen kommunikativen Ziele zu erreichen. Kommunikation verlangt mithin, dass sich jeder Beteiligte auf den anderen, auf dessen Intentionen, Symbolwelten, Inszenierungen und Ausdrucksweisen einlässt – nur dann kann man von Kommunikation sprechen. Diesen Prozess des Sich-Einlassens kann man nun in symbolisch-interaktionistischer Sprache beschreiben: Was der andere meint, kann ich nur erschließen, wenn ich mich imaginär in seine Rolle versetze und in dieser Rolle und der damit verbundenen Perspektive reproduziere, was wohl gemeint war. Genauer ausgedrückt, kann ich immer nur unterstellen, was ich selbst wohl mit einer Geste oder Aussage gemeint hätte, wenn ich unter den gegebenen situativen Bedingungen in der Rolle des Anderen dessen Geste ausgeübt bzw. dessen Aussage gemacht hätte. Auf Grund der gesellschaftlichen und kulturellen Normiertheit von Handeln bzw. auf Handeln gründenden Erfahrungen ist dies ein im allgemeinen hilfreicher Zugang. Die Vertrautheit mit kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen auf der Basis der eigenen Lebenserfahrungen ist damit eine wesentliche Grundlage jeder Verständigung. Man kann dementsprechend auch sagen: Ich verstehe einen gesprochenen Satz oder allgemeiner, ein Kommunikat, nicht, weil es als Schallwelle in mein Ohr transportiert wird, sondern weil ich es als absichtsvoll produzierte Zeichenfolge eines Menschen akzeptiere, mich darauf einlasse, indem ich es probeweise als mein eigenes übernehme, es mir dadurch einsichtig mache und es dann von meiner Rolle aus in meiner Perspektive interpretiere und beurteile (vgl. Krotz 2001b). Kommunikation ist dementsprechend ein komplexer Prozess, der einerseits äußerlich und beobachtbar stattfindet und der andererseits aber zugleich durch intensive innere Aktivitäten aller Beteiligten gekennzeichnet ist. Dies soll in dem folgenden zusammenfassenden Schaubild ausgedrückt werden.
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Abbildung 1: Kommunikation als Gespräch WAS WILL ICH SAGEN?
WIE MEINT A DAS?
WAS ERWARTET B?
WIE FINDE ICH DAS?
WAS WILL ICH TUN?
WAS WILL ICH TUN?
A
B
In der obigen Abbildung ist mit den rahmenden Pfeilen um jeden der Beteiligten der innere Dialog symbolisiert, der auf den eigenen Zielen wie auch der Basis der tentativen, rekonstruktiv gerichteten Perspektivübernahme des jeweils anderen gründet. Auch auf den Prozess der Rezeption von Fernsehen lässt sich dieses Modell beziehen, wenn man beabsichtigt, die relevanten Perspektiven eines Fernsehnutzers explizit zu benennen. Dies geschieht im folgenden Schaubild (vgl. Krotz 2001a mit weiteren Angaben). Es ist offensichtlich, dass dieses Modell genauer untersucht und weiter entwickelt werden muss; auf Argumente für seine Gültigkeit kann hier nur verwiesen werden. Abschließend wollen wir erstens deutlich machen, dass damit ein Konzept von Kommunikation entwickelt ist, das einerseits die vier von McQuail benannten Definitionen von Kommunikation umfasst – sie können dabei durch Abstraktion gewonnen werden, wie man sich leicht überlegt. Zum Zweiten soll auf die zentrale Bedeutung der imaginativen Übernahme der Rolle und Perspektive des Anderen hingewiesen werden, in der soziales und individuelles Erleben und darüber auch Entwicklung angelegt sind. Denn bei meiner imaginativen Übernahme der Rolle des anderen, der sein kommunikatives Handeln ja ebenfalls auf mich abstimmt, geschieht noch etwas, bisher nur Angedeutetes: Ich erlebe mich selbst in der Perspektive des Anderen. Zusammen mit dem inneren Diskurs zwischen der eigenen und der übernommenen Rolle ergibt sich so, dass der Mensch, wohl auch über eine sprachliche Distan-
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zierung, ein Bewusstsein von der Situation und ein Selbstbewusstsein von sich entwickelt. Abbildung 2: Rezeption als Kaskade von Verstehensweisen in unterschiedlichen Perspektiven Text Leseanweisung: interner Kontext
Aktuelle, eigene Perspektive
Weitere eigene Perspektiven
Präsente übernommene andere Perspektiven: gedanklich/mitgeteilt Danach: übernommene andere Perspektiven anderer Personen gedanklich/mitgeteilt Rezeptionssituation Danach: weitere eigene Perspektiven „wirken lassen“, bedenken, integrieren ALLTAG als Prozess
Kommunikation wird damit auch als Vergesellschaftungsmodus gezeigt, der den Einzelnen wie das Ganze konstituiert: Den Einzelnen, insofern die Übernahme der Perspektive des Anderen durch das Individuum dazu führt, dass dieses sich durch die Augen des Anderen sieht und so ein Bewusstsein von sich selbst erlangt, das zur Menschwerdung notwendig ist. Und das Ganze kommt, weil die traditionelle und gewohnte Struktur von Sprache und Zeichen und damit verbundener Bedeutung, also auch ihre Normiertheit, darüber zu Stande, dass Menschen die Praxis der Zeichenverwendung und der darauf fußenden Bedeutungskonstitution durch wechselseitige Perspektivverschränkung übernehmen – was natürlich eine kreative Umgangsweise keineswegs ausschließt (Joas 1989).
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6 Symbolischer Interaktionismus als Theoriebasis einer handlungstheoretischen Definition von Mediatisierung Generell kann man sagen, dass sich die Kommunikationswissenschaft, die sich bisher mit auf Massenkommunikation anwendbaren Modellen begnügt hat, darauf nicht mehr beschränken kann, wenn sie die mediatisierten Kommunikationsformen im Zeitalter des Internets zu ihrem Gegenstandsbereich rechnen will. Sie bestehen heute aus Formen individueller Kommunikation bzw. individualisierter Massenkommunikation sowie aus dem Umgang mit interaktiven Medien. Denn in einer systematischen Sicht im Anschluss an die hier vorgestellte Handlungstheorie lässt sich nämlich heute sagen, dass das Gespräch als Urform von Kommunikation verstanden werden muss, das sich über die Medien und deren Potenziale in drei unterschiedliche Typen ausdifferenziert hat: •
Kommunikation mit inszenierten medialen Inhalten, also Medienrezeption von Websites, Fernsehen oder Büchern, und komplementär, deren Produktion
•
Kommunikation mit Menschen mittels Medien – etwa per SMS, Brief oder Telefon, und
•
Kommunikation mit „intelligenten“ Computerprogrammen bzw. innerhalb von kommunikativen Rahmen, wie sie durch intelligente Software gegeben sind – also ‚Gespräche’ mit Softwarerobotern oder intelligenten Anrufbeantwortern, wie man sie im Netz oder in Muds findet, oder manche kommunikative Aktivitäten etwa innerhalb von Computerspielen.
Ergänzend muss man die Verflechtung solcher Kommunikate berücksichtigen: Internet-PCs und Mobiltelefone sind Endgeräte, die alle möglichen Typen von Kommunikation ermöglichen – horizontal im Sinne von gleichzeitig oder vertikal, wenn eine Kommunikationsform auf einer anderen aufbaut. Bei dieser Ausdifferenzierung bleibt erhalten, dass Kommunikation einerseits äußerlich und beobachtbar stattfindet, andererseits zugleich aber auch durch intensive innere Aktivitäten aller Beteiligten gekennzeichnet ist. Deshalb müssen mediatisierte Kommunikationsformen in ihren allgemeinen und besonderen Eigenschaften vom Gespräch als Urform konzeptionell abgeleitet und empirisch in ihrer Besonderheit untersuchet werden. Die Entwicklung heute lässt sich nun dadurch charakterisieren, dass im Rahmen dieser Typen immer neue mediale Angebote als kommunikationskon-
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stitutive Erwartungsbündel entstehen bzw. die vorhandenen sich ausdifferenzieren und verändern. Die computervermittelte Kommunikation verändert die klassischen Massenmedien, insofern beispielsweise Zeitung nicht mehr nur ein „Päckchen Papier“, sondern zugleich auch ein SMS-Dienst und ein Internetangebot ist, zu dem auch weitere Fernsehmagazine und Handydienste gehören mögen. Insofern beeinflussen die neuen, an die Digitalisierung geknüpften Potenziale die Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer an einzelne Medien und ihre Angebote und die darüber möglichen Kommunikationsformen und verändern sie so. Aber auch die interpersonale Kommunikation differenziert sich durch die neuen Medien aus, wie Email und Chat, Handy und SMS und weitere Dienste zeigen. Zudem entstehen neue interpersonale Kommunikationsgewohnheiten in spezialisierten sozialen Settings. Auch der Umgang mit interaktiven Medien muss erst erlernt werden, wie beispielsweise die immer wieder aufflackernde Debatte um Computerspiele zeigt. Jede dieser Ausdifferenzierungen impliziert immer spezialisiertere Medien und auf deren Gebrauch bezogene Nutzungs- und Rezeptionsformen im Alltag der Menschen. Deshalb kann man diese Entwicklung als Mediatisierung kommunikativen Handelns begreifen. Dabei verstehen wir unter ‚Mediatisierung’ einen universellen historischen Prozess, der dazu dienen soll, die Vielzahl einzelner empirischer Phänomene auf dem Gebiet der Entwicklung der Medien und der Kommunikation zu ordnen und in Bezug zueinander zu setzen. Mediatisierung wird hier dementsprechend als Metaprozess sozialen Wandels verstanden. Damit ist gemeint, dass es sich um eine aus vielen Quellen gespeiste Entwicklung handelt, an der sich der soziale Wandel der Gesellschaft insgesamt konzipieren, beschreiben und verstehen lässt und die in ihrer Komplexität nicht auf einzelne Teilprozesse reduziert werden kann. Begriffliche Konstrukte wie Globalisierung oder Aufklärung mit ihren Konsequenzen bezeichnen ebenso keine einzelnen Phänomene, die wir empirisch überprüfen können, sondern sind konzeptionelle Metaprozesse, deren Existenz wir annehmen, um die vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Teilprozesse zu ordnen und zu begreifen. Menschliche Geschichte kann in diesem Sinn als Entwicklung gesehen werden, in deren Verlauf immer mehr Kommunikationsmedien entwickelt wurden und auf unterschiedliche Weise Verwendung fanden und finden, wobei alte Medien durch das Hinzukommen neuer sich anders im Alltag der Menschen positionieren und an andere kommunikative Erwartungsbündel geknüpft werden – beispielsweise, wenn Radio zum ‚Nebenbeimedium‘ wird. In der Konsequenz entwickelten und entwickeln sich immer mehr verschiedene mediale Kommunikationsformen sowie Kommunikationserwartungen im Alltag, und Kommunikation findet immer häufiger, länger und in immer mehr Lebensbereichen und auf
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immer mehr Themen in Bezug auf Medien statt. (Auch) dadurch verändern sich Alltag, Gesellschaft und Kultur, ebenso wie dieser Wandel für Ökonomie und Arbeit, für die Art der persönlichen Erfahrungen, für Identität, Weltsicht und soziale Beziehungen der Menschen von Bedeutung ist. Die Kommunikationswissenschaft kann nun, so die hier vertretene These, diese Entwicklung nur handlungstheoretisch untersuchen, wenn sie sie differenziert erfassen will. Denn was sich ändert, sind zunächst einmal die Kommunikationsformen der Menschen, und alles, was sich dann noch ändert, etwa Wirtschaft und Politik, Demokratie und Kultur, die Binnenkommunikation von Gruppen wie der transkulturelle Dialog zwischen Kulturen, der Alltag der Menschen und ihre Beziehungen ebenso wie ihre Identität und ihre kulturell-historische Gestalt – all dieses kann nur untersucht und theoretisch verstanden werden, wenn man am kommunikativen Handeln und dessen Wandel ansetzt. Ergänzend soll hier festgehalten werden, dass wir uns als Kommunikationswissenschaftler und Kommunikationswissenschaftlerinnen nicht mehr mit Kommunikation an sich beschäftigen, sondern dass dieser Begriff in eine Reihe von Typen und Subtypen zerfällt, deren Besonderheiten wir kennen lernen sollten. Insbesondere ist eine ausdifferenzierte Klassifikation von Medien und von Kommunikationsformen notwendig. Man könnte daran auch mediengeschichtlich zeigen, wie sich Alltag und (soziales) Handeln mediatisieren und ummediatisieren und wie sich Kommunikationsformen und Kommunikationserwartungen ausdifferenzieren und fortentwickeln – und dies durchaus nicht nur in eine Richtung. Wenn man also die Veränderungen nicht pauschal als Weg in die je nach Interesse Medien-, Wissens- oder Informationsgesellschaft genannte Form zukünftigen Zusammenlebens beschreiben will, dann muss man am konkreten Handeln und Kommunizieren der Menschen ansetzen. Die Kommunikationswissenschaft hat damit eine spezifische, durch Medien und Kommunikation bestimmte Perspektive auf ihren Gegenstandsbereich, der zugleich von andern Wissenschaften wie Psychologie oder Soziologie in anderen Perspektiven untersucht und theoretisch gefasst wird. In diesem Rahmen ist es notwendig, deren Erkenntnisse zu Rate zu ziehen, etwa die Entdeckung des Unbewussten in der Psychoanalyse oder die im Marxismus angelegte, immer wieder zu stellende Frage nach den Interessen, die hinter spezifischen Handlungen stehen. Aber die Basis muss eine eigenständige Theorie kommunikativen Handelns sein. In diese Richtung hin wäre weiter zu arbeiten.
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Anmerkungen 1 2
In einigen Teilen überschneidet sich der vorliegende Text mit Krotz 2005. Diese Unterscheidung hängt eng mit der wissenschaftsgeschichtlich wichtigen und methodisch fundamentalen Unterscheidung zwischen Verhalten und Handeln zusammen.
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Von der Kulturindustrieanalyse zur Idee partizipativer Öffentlichkeit. Reflexionsstufen kritischer Medientheorien Stefan Müller-Doohm
1 Horkheimers Thesen zur Massenkultur1 Das innovative Forschungsprogramm, das der junge Max Horkheimer als neuer Direktor des Instituts für Sozialforschung 1931 vorgelegt hatte, verriet eine deutliche Umakzentuierung der bisherigen Arbeitsschwerpunkte des schon 1924 gegründeten Instituts. Während es in den ersten Jahren seit seiner Etablierung an der Frankfurter Universität schwerpunktmäßig um die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Krise der kapitalistischen Ökonomie, die Funktionsweise der Planwirtschaft u. a. gegangen war, trat nunmehr ein anderer Forschungsaspekt in den Vordergrund. Horkheimers primäres Interesse galt nämlich der Frage, wie die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft sich durch ihre krisenhaften Entwicklungen hindurch reproduziert. Wie ist es zu erklären, dass sich die Mitglieder dieser Gesellschaft in ein ökonomisches und soziales Ordnungssystem integrieren, das trotz scheinbarer Rationalität durch Antagonismen strukturiert ist, die in irrationalen Erscheinungen wie der Herrschaft von Menschen über Menschen, extremen Klassengegensätzen, dem objektiven Leiden der Mehrheit und ihrer realen Ohnmacht zum Ausdruck kommen. Aus diesem Grund wollte er in Form einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Philosophen, Soziologen und Psychologen die psychischen Faktoren der Bewusstseinsbildung sowie die kulturellen Anpassungsmechanismen etwa durch die autoritäre Erziehung in der Familie im einzelnen erforschen. Darüber hinaus hielt er es für höchst aufschlussreich, dabei dem Einfluss der Medien auf die Meinungs- und Willensbildung nachzugehen. Diese konkreten Zielsetzungen im Rahmen einer Kombination von Ideologie-, Autoritäts- und Medienforschung sollten wiederum methodologisch in der Perspektive einer Verknüpfung von Gesellschaftstheorie und empirischer Sozialforschung realisiert werden (Horkheimer 1988: 20 ff.).
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Dabei hat sich in den ersten Jahren, in denen Horkheimer dieses Programm unter den alsbald enorm erschwerten Bedingungen der Emigration des Instituts in die USA umzusetzen versucht hat, eine Akzentuierung ergeben. Die Fragestellungen, die den Zusammenhang von Familie und Autoritätsbildung betrafen, waren der Gegenstand zweier empirischer Projekte: Zum einen die unter der Leitung von Erich Fromm durchgeführte Studie über das politische Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten kurz vor der ‚Machtergreifung’, in der nicht zuletzt auch den Einstellungen gegenüber der Autorität nachgegangen wurde. Ein wesentlicher Befund dieser damals nicht veröffentlichten Studie war der latente Autoritarismus der Arbeiter und Angestellten. Klar wurde, dass die objektiv unterdrückte Klasse ihre gesellschaftliche Lage kaum subjektiv durchschaut und deshalb nicht erwartet werden kann, dass sich das Proletariat gegen seine Unterdrücker wehren, vielmehr sich ihnen unterwerfen würde. Diese tendenzielle Anpassungsbereitschaft veranlasste Horkheimer und seine Mitarbeiter dazu, in einem zweiten umfangreichen empirischen Projekt die in der Struktur der bürgerlichen Familie angelegten Mechanismen der Unterwerfung und des Gehorsams zu untersuchen. Einerseits sollte die Autorität als sozial integrativer Faktor, als „sozialer Kitt“, andererseits die Familie als diejenige gesellschaftliche Institution untersucht werden, in der die spezifischen, nämlich sadomasochistischen Charakterstrukturen der Menschen als Voraussetzung für die autoritären Dispositionen gebildet werden. Dieses ambitionierte Projekt konnte erst 1936 unter dem Titel Studien über Autorität und Familie publiziert werden. Demgegenüber versuchte man, die Probleme der Bildung und Vermittlung ideologischen Bewusstseins sowie die Funktion einer medienvermittelten Massenkultur zunächst mit den Mitteln der Gesellschaftstheorie zu lösen und dies in einer durchaus längerfristigen Perspektive. Für diesen Forschungskomplex im Schnittpunkt von Ideologie, Kultur und Medien nahm Adorno eine besondere Kompetenz in Anspruch, hatte er sich doch im Kreise der Mitarbeiter des Instituts, vor allem innerhalb der von Horkheimer herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung mit einer umfangreichen Studie „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“ profiliert (Adorno 1997d: 729 ff.). Außer diesem Beitrag über die gesellschaftliche Bedingtheit der Produktion, Reproduktion und Rezeption von Musik, mit der er sich seine Position neben Leo Löwenthal, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Fritz Pollock erworben hatte, stand er später Horkheimer bei dessen Auseinandersetzung mit dem (wissenssoziologischen) Ideologiebegriff von Karl Mannheim zur Seite. Während Adorno hier nachdrücklich die Gleichsetzung von Weltanschauung und Ideologie kritisiert, geht er in seiner musiksoziologischen Studie von der These aus, dass in der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft alle Musik gesellschaftlich notwendiger Schein ist und die Zeichen der Entfremdung trägt,
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weil sie als Ware fungiert. Nur diejenige Musik kann als authentisch gelten, die sich den Marktbedingungen widersetzt und zugleich die gesellschaftlich existierenden Widersprüche als Dissonanz zum Ausdruck bringt. So hängt die gesellschaftliche Lage der Musik davon ab, ob sie den Anspruch zu realisieren versucht, authentisches Kunstwerk zu sein, oder ob sie als Konsumartikel zu Unterhaltungszwecken produziert wird. Sie muss dann als Kunstgewerbe gelten, wozu Adorno die Volksmusik, die Operette, den Schlager, die Tanzmusik und auch den Jazz zählt (vgl. ebd.: 756 ff.). Diese Musikgattungen müssen sich dem durchschnittlichen Geschmack einer großen Zahl jeweiliger Rezipientengruppen anpassen, orientieren sich also am Kriterium der Absetzbarkeit auf dem diversifizierten Kulturmarkt. Auch wenn Adorno am Gesamtspektrum kommerzialisierter Musik aufgrund ihrer Trivialität kein gutes Haar lässt, besteht er darauf, das Populäre aus der Perspektive der Musiksoziologie ernst zu nehmen und zum Gegenstand von kultursoziologischen Analysen zu machen. Denn für ihn drückt sich im Schein der leichten Musik ein soziales Wahrheitsmoment aus. Mit anderen Worten: im trivialen Schlager beispielsweise von „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ drückt sich etwas über die falsche Verfassung der Gesellschaft und ihren den Subjekten aufgenötigten Versagungen aus.2 Ideologische Dimensionen dieser Art können durch immanente Analyse aufgedeckt werden. Diesen inhaltsanalytisch orientierten Aspekt ergänzt Adorno durch wirkungsanalytische Überlegungen. Er fragt jedoch nicht nach subjektiven Effekten, sondern nach der objektiven sozialen Funktion der Rezeption populärer Musik. Sie besteht ihm zufolge darin, den Musikkonsumenten zu zerstreuen, um ihn so über seine eigene gesellschaftliche Lage zu täuschen. Bereits hier geht er von der später präzisierten These aus, dass der Eskapismus der Populärkultur der Akzeptanz des Status quo zugute kommt. Die Kommerzialisierung der Produktion von Musik und ihre konsumistische Rezeption ist für Adorno Symptom eines generellen Wandelns der Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist nicht länger selbstverständlicher Teil eines bildungsbürgerlichen Lebenszusammenhangs, sondern hat sich als eigene Sphäre höherer oder niederer Kultur verselbständigt. So zielt der Anspruch, den Adorno mit dieser soziologischen Musikanalyse als Ideologiekritik verbindet, darauf ab, in exemplarischer Weise die Funktion der kulturellen Sphäre für die gesellschaftliche Reproduktion zu bestimmen. Insofern entspricht diese Analyse des Verhältnisses von Musik und Gesellschaft ganz jener Programmatik Horkheimers, in deren Mittelpunkt die Frage nach den Mechanismen der Sozialintegration steht. Adornos Beitrag zur Musiksoziologie, die er als Ideologiekritik der innermusikalischen Gehalte durchführte, war für ihn das Entrébillet für seine Mitarbeit in dem von Paul Lazarsfeld3 geleiteten Radio Research Project. Dazu
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kommt es formell im Februar 1938, als Adorno offizielles Mitglied des International Institute of Social Research affiliated with Columbia University wird. Die Hälfte seiner Arbeitszeit widmet er der Forschungskooperation mit dem von Lazarsfeld gegründeten Office of Radio Reserarch und dessen groß angelegten Projekt mit dem Titel „The Essential Value of Radio to all Types of Listeners“. Mit dieser Zusammenarbeit zwischen den durchaus gegensätzlichen Köpfen, dem empirischen Sozialforscher und Kommunikationssoziologen Lazarsfeld und dem Musikphilosophen und Gesellschaftstheoretiker Adorno, beginnt dessen Karriere als höchst eigenwilliger Medienforscher, die über die 12 Jahre der amerikanischen Emigration hinweg zu dem führen sollte, was heute unter dem Titel einer kritischen Theorie der Massenmedien firmiert.
2 Musik im Radio: Adornos musiksoziologische Analysen Noch bevor Adorno beginnt, offiziell seinen Arbeitsplatz im Princeton Office of Radio Research einzunehmen, hat er im schriftlichen Austausch mit Lazarsfeld seine eigenen konzeptionellen Vorstellungen darüber zu Papier gebracht, welche Konsequenzen die Übertragung von Musik durch das damalige Leitmedium Rundfunk hat. In seinem Exposé vom Januar 1938 geht er von sechs Thesen aus. Zum einen ist er davon überzeugt, dass sich im Radio die Klangfarbe der Musik verändert. Im Gegensatz zum natürlichen Timbre der Musik entsteht ein künstlicher Ton, wodurch sie zu einer Art Museumsstück wird. Zum anderen führt Adorno zufolge das ständige Hintergrundgeräusch, das damals bei Rundfunkübertragungen unvermeidlich war, zum Phänomen des „Hörstreifens“. So wird die Musik zum bloßen Geräusch und verliert ihre Tiefendimension. Darüber hinaus fragt er, was es bedeutet, dass der Rundfunk die Musik als öffentliche Dienstleistung ins Haus liefert. Die Folge ist, dass die Musik die Eigenschaft von etwas Beiläufigem erhält: sie wird zur begleitenden, nebenher laufenden Unterhaltung. Schließlich fragt er, was es bedeutet, dass die Hörer die Inhalte des Rundfunkprogramms nicht selbst bestimmen können. Das Abstellen des Radios, so Adornos Vermutung, wird zum letzten narzisstischen Lustgewinn des ohnmächtigen Rezipienten. Und die generelle Orientierung des Programms an dem, was als populär gilt, führt dazu, dass Musik als Massenkultur einen affirmativen Charakter erhält. Sie ist etwas, was man ohne innere Teilnahme konsumiert (Brief von Adorno an Lazarsfeld vom 24. 1. 1938, HorkheimerArchiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M.).4 Lazarsfeld hat damals den Großteil dieser Anregungen aufzugreifen versucht und zugleich von Adorno verlangt, diese Hypothesen zu operationa-
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lisieren, um sie für empirische Wirkungsanalysen leichter und ernster Musik fruchtbar zu machen. Gegen diese Engführung sträubt sich Adorno, der es schlicht ablehnt, empirische Daten über Präferenzen von Hörern für bestimmte musikalische Gattungen zu liefern. Er wendet ein, „dass Kultur eben jener Zustand sei, der eine Mentalität ausschließt, die ihn messen möchte“ (Adorno 1997f: 712). Aus diesem Grunde plädiert er unter methodischen Gesichtspunkten für die Alternative, die Hörerpost, die bei den Redaktionen der Rundfunkanstalten eingeht, textanalytisch im Hinblick auf Präferenzen zu untersuchen. Außerdem fordert er, einzelne exemplarische Inhaltsanalysen von musikalischen Hits durchzuführen. In der Tat will Adorno zunächst zwei Dinge geklärt wissen: Zum einen, welche musikalischen Qualitäten die Inhalte des Hörfunks haben sowie zum anderen, unter welchen Bedingungen und unter welchen Absichten Musiksendungen produziert werden. Vier Forschungsinteressen stellte Adorno in den Vordergrund. Erstens will er herausfinden, wie sich der soziale Prozess der Vermittlung bzw. Präformation von Hörerbedürfnissen vollzieht und welche Rolle dabei die Medien als kulturelle Institution selbst spielen. Zweitens geht es ihm darum, die Transformation des musikalischen Materials im Prozess der Verbreitung durch den Rundfunk zu analysieren. Eine dritte Forschungsdimension gilt dem Problem, wie enthusiastische Urteile von Hörergruppen über Kompositionen, Dirigenten, Musiker und musikalische Aufführungen zustande kommen. Er hat hier die Fetischisierung der massenmedial in Szene gesetzten Musik als Bestandteil eines kommerzialisierten Rundfunksystems und parallel damit den Infantilismus eines regressiv reagierenden Musikpublikums vor Augen, dessen Fähigkeit, musikalische Qualität zu hören, verkümmert ist. Er schlussfolgert: Im Maße, wie der Musik der Resonanzboden eines mündigen und urteilsfähigen Publikums fehlt, reduziert sie sich notgedrungen auf zerstreuende Unterhaltung. In Einzelfallanalysen will er viertens analysieren, in welchen spezifischen sozialen Situationen die durch den Rundfunk verbreitete Musik überhaupt gehört wird. Der Gehalt einer Beethoven-Symphonie sei ein anderer, so Adorno, wenn der Zuhörer mit irgendwelchen Nebenbeschäftigungen befasst ist, z. B. ausruht oder isst als im Falle einer Aufführung im Konzertsaal. Er geht so weit, hypothetisch von einer „Genußfeindschaft im Genuß“ zu sprechen, also infrage zu stellen, dass die zu Unterhaltungszwecken konsumierte Musik tatsächlich noch etwas mit emphatischen Erfahrungen sinnlichen Glücks zu tun hat (Adorno 1997c: 19). Auch wenn sich bei Adorno im Forschungsprozess sowie nach den höchst kontroversen Diskussionen mit Lazarsfeld und seinen Mitarbeitern des Radio Research Project immer mehr die Auffassung durchsetzt, dass der Rundfunk keineswegs die ihm eigenen Potenziale einer universalen Kommunikation und
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damit einer fast grenzenlosen Vermittlung von Bildungsinhalten zu entfalten vermag, wie beispielsweise in den optimistischen Medientheorien von Walter Benjamin und Bertolt Brecht prognostiziert,5 gab er keineswegs die Hoffnung auf eine experimentell orientierte, qualitativ anspruchsvolle Sendeproduktion auf. So entwickelte er 1940 ein Konzept, wie anspruchsvolle Musik dem interessierten Radiohörer nahe gebracht werden kann. Unter dem Titel „What a Music Appreciation hour should be“ entwirft er für eine New Yorker Radiostation zwölf Sendeeinheiten. Diesen Hörmodellen beispielsweise zum Thema Melodie, musikalische Einheit, Sonatenform usw. liegt eine spezifische Idee des richtigen Hörens zugrunde: „In unmittelbarer, spontaner Auffassung der Musik das betreffende Stück als einen Sinnzusammenhang zu erfassen, als eine Sinneinheit, in der alle Momente eine Funktion im Ganzen haben“ (Adorno Archiv Ts 50500.). Genau diese Rezeptionsweise setzt Adorno als „strukturelles Hören“ vom kulinarischen Musikkonsum ab. Außer diesem medienpraktischen Konzept hat Adorno seine Forschungserfahrung während der Mitarbeit im Radio Research Project in drei Aufsätzen reflektiert: „The Radio Symphony“, „A Social Critique of Radio Music“, „On Popular Music“ (vgl. Müller-Doohm 2003: 387 f.). Er war sich darüber im klaren, dass diese Reflexionen über Inhaltsmuster und Wirkungsmechanismen des Radios nur den Status von Vorüberlegungen für eine umfassendere Medientheorie haben konnten. Unter dieser generellen sozialtheoretischen Fragestellung, welche Rolle die Massenkultur als integrativ wirksamer ‚Kitt’ spielt, konnte es für Adorno keinen anderen Weg geben als den, die Medientheorie in der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie zu entwickeln.
3 Der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis Das Projekt, Medienkritik als Element einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu entfalten, nimmt erstmals in der kontinuierlichen Zusammenarbeit von Adorno mit Max Horkheimer konkrete Gestalt an, zu der es zu Beginn der vierziger Jahre kommt. Ein Ergebnis ihrer sozialtheoretischen Studien, die sie erstmals 1944, dann 1947 als gemeinsames Buch mit dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ vorlegen, besteht nicht zuletzt darin, sich Rechenschaft über die gesellschaftliche Funktion des zunehmend expandierenden Systems der Massenkultur und ihrer Medien zu geben. Diese theoretischen Anstrengungen sind in einem Abschnitt jener philosophischen Kritik über die Vereinseitigung der Vernunft als bloßes Mittel der Naturbeherrschung und Selbsterhaltung zusammen gefasst: „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ (Horkheimer/Adorno 1997:
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141ff.).6 Während mit der zentralen Kategorie der Kulturindustrie die Tatsache zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Sphäre der Kultur ihre Eigenständigkeit verloren hat, vielmehr als Massenware produktionsförmig erzeugt und an Zielgruppen von Konsumenten marktförmig verteilt wird, enthält die Formulierung „Aufklärung als Massenbetrug“ die Hauptaussage über die funktionale Seite einer gezielten Vermittlung kultureller Inhalte: im Gewande der Aufklärung bzw. Information werden die Massen getäuscht, indem die Realitätsdeutungen beispielsweise der Zeitungen, des Films, des Rundfunks, des Fernsehens etc. in ihrem Gesamteffekt nichts anderes als affirmatives Bewusstsein erzeugen. „Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie [...] lautet: Du sollst Dich fügen, ohne Angabe, worein; fügen in das, was ohnehin ist [...], Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewußtsein“ (Adorno 1997a: 343).
Unter inhaltsanalytischen Aspekten weisen Adorno und Horkheimer auf die Sprachklischees, auf die Trivialisierung der Stoffe sowie auf die technische Standardisierung der Produktionsschemata hin. Darüber hinaus gilt ihr Augenmerk dem Phänomen der Personalisierung und Emotionalisierung kulturindustrieller Darstellungsmuster. Unter wirkungsanalytischen Aspekten zeigen sie, dass die Kulturindustrie mit ihren Warenangeboten nicht nur auf eine vorgefundene Nachfrage von Konsumenten reagiert, sondern die Nachfrage ist bis in die Bedürfnisdispositionen der Rezipienten hinein von dem kulturindustriellen Apparat selbst erzeugt: „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschließt“ (Horkheimer/Adorno 1997: 142). Die Rezipienten lassen sich von den kulturindustriellen Warenangeboten verführen, weil ihr inszenierter Unterhaltungscharakter, der das spontane Bedürfnis nach Glück und Heiterkeit vereinnahmt, eine scheinbare Flucht aus dem Alltag suggeriert, wobei jedoch das vorgespiegelte Paradies nur den selben Alltag wieder anbietet. Die affirmative Funktion der Kulturindustrie bezeichnet als zentrales Merkmal die Differenz zum authentischen Kunstwerk. Der Wahrheitsgehalt der autonomen Kunst, der in ihrer Kraft zur Negativität zum Ausdruck kommt, ist der kritische Maßstab von Adornos Kritik an der Kulturindustrie. Während das Kunstwerk durch seine ästhetische Autonomie an der utopischen Möglichkeit eines anderen Lebens festhält, ist den kulturindustriellen Massenprodukten aufgrund ihres Warencharakters und ihrer Stereotypie nicht einmal der Rest eines widerständigen Moments eigen. Dass die Subjekte auf den Schwindel der Kulturindustrie nicht ganz und gar hereinfallen, nicht Opfer der kulturindustriellen Inszenierungsstrategien werden, erklärt Adorno mit dem Theorem des „doppelten Bewusstseins“: Zwar wird der schöne Schein genossen, den die Kulturindustrie erzeugt, aber die realen Inter-
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essen der Rezipienten sind stark genug, um der totalen Erfassung zu widerstehen; sie durchschauen den Betrug und wollen ihn doch, sie „bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt“ (Adorno 1997a: 342). So ist der Gesamteffekt der Kulturindustrie anti-aufklärerisch: „Sie verhindert die Bildung [...] selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wäre die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft“ (ebd.: 345).
4 Jürgen Habermas: Von der Kulturindustrieanalyse zur Öffentlichkeitsforschung Die von Jürgen Habermas etwa drei Jahrzehnte später vorgelegte Untersuchung über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“7 ist zwar aus Forschungszusammenhängen des inzwischen nach Frankfurt remigrierten Instituts für Sozialforschung hervorgegangen8 und ihre Zielrichtung kann nicht zuletzt auch als Aktualisierung der Kulturindustrieanalyse verstanden werden. Immerhin verweist Habermas selbst auf den „Einfluss von Adornos Theorie der Massenkultur“, (Habermas 1990: 29) der er den kritischen Sinn einer Analyse der Bedingungen von politischer Apathie zuschreibt (Habermas 1992: 456). Aber das normative Fundament, das er für seine Kritik an der Transformation von Öffentlichkeit geltend macht, ist eindeutig demokratietheoretisch bestimmt. Ihn interessiert nicht in ideologiekritischer Perspektive die Funktion von Kultur als sozialer Kitt der antagonistischen gesellschaftlichen Totalität, sondern in demokratietheoretischer Perspektive die manifeste Gefahr einer Vermachtung der politischen Sphäre, als deren Zentralinstitution er die Öffentlichkeit begreift. Er will zeigen, dass sich in der geschichtlich immer nur partiell realisierten Idee einer politisch fungierenden Öffentlichkeit etwas verbirgt, das er dann in seinem späteren Hauptwerk als „kommunikative Rationalität“ theoretisch präzise bestimmt hat (Habermas 1981: 13 ff.). An die Stelle der Kategorie Kulturindustrie tritt der im Format kleinere Begriff der Massenmedien bzw. der Medienmacht. Medien und Öffentlichkeit, so Habermas, bedingen einander. Dabei werden die Medien als Institutionen der Meinungs- und Willensbildung definiert und Öffentlichkeit gilt als „Inbegriff derjenigen Kommunikationsbedingungen, unter denen eine diskursive Meinungs- und Willensbildung eines Publikums von Staatsbürgern zustande kommen kann“ (Habermas 1990: 38). Bei seiner Norm und Wirklichkeit miteinander konfrontierenden Analyse kommt Habermas nun zu dem Ergebnis, dass diese Medien der Massenkommunikation keineswegs neutrale Vermittlungsinstanzen von Öffentlichkeit sind. Vielmehr stellen sie Machtfaktoren innerhalb einer Öffentlichkeit dar. Sie wer-
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den sowohl für die Legitimationszwecke staatlicher Politik in Anspruch als auch von unterschiedlichen ökonomischen Interessenpositionen und Machtgruppierungen in Beschlag genommen. Die kritische Pointe einer Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit besteht darin, auf die wachsende Gefahr einer Vermachtung der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Eine vermachtete Öffentlichkeit ist ein Widerspruch in sich. Öffentlichkeit verkehrt sich in das Gegenteil dessen, was sie ursprünglich war bzw. sein sollte.9 Der historische Entwicklungsprozess einer politisch fungierenden Öffentlichkeit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts verdankt sich dem wachsenden Einfluss des Lesepublikums, des Vereinswesens, den politischen Dynamiken in der Folge revolutionärer Umbrüche in den europäischen Ländern, der Parlamentarisierung der Staatsgewalt, schließlich der Presse-, Rede-, Versammlungsund Meinungsfreiheit.10 Nachdem sich die bürgerliche Öffentlichkeit „im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft“ etabliert hat, „aber so, daß sie selbst Teil des privaten Bereichs bleibt“, findet ein Wandlungsprozess statt, der Habermas zufolge dazu führt, dass die gesellschaftlichen Grundlagen der bürgerlichliberalen Öffentlichkeit zerstört werden. Er konstatiert die „Dialektik einer mit fortschreitender Verstaatlichung der Gesellschaft sich gleichzeitig durchsetzenden Vergesellschaftung des Staates“ (ebd.: 23, 226). Hier reformuliert er (mit einer wesentlichen Bedeutungsverschiebung) die Manipulationsthese der Kulturindustrieanalyse. Unter dem doppelten Druck staatlicher und ökonomischer Interessen kann gar nichts anderes als eine manipulierte Öffentlichkeit entstehen, in der sich „eine akklamationsbereite Stimmung“, „ein Meinungsklima“ einspielt (ebd.: 321). Der Einflussnahme auf Öffentlichkeit von außen korrespondiert die Entstehung einer neuen „Kategorie von Einfluß, nämlich eine Medienmacht“ (ebd.: 28), die Öffentlichkeit für eigene Zwecke in Szene setzt. In den korporatistisch von Verbänden und Parteien arrangierten Kreislauf eines verselbständigten Machtausgleichs wird die Öffentlichkeit nur noch „für Zwecke der Akklamation einbezogen“ (ebd.: 268 f.). Dieser Tendenz lässt sich nicht dadurch gesellschaftskritisch begegnen, dass man in der Theorie die Öffentlichkeit als das Ganze des sozialen Lebenszusammenhangs umdefiniert11 und von den Funktionen des Staates und der Ökonomie abkoppelt. An die Stelle des holistischen Gesellschaftskonzepts, wonach die Menschheit als Gesamtsubjekt ihrer selbst mächtig werden soll (Adorno), tritt das Konzept einer als Grenzwert erreichbaren Balance und Austauschbeziehung zwischen den beiden systemisch organisierten Bereichen staatlicher und ökonomischer Macht und der kommunikativen Macht, die ihren Rückhalt in der rationalisierten Lebenswelt findet. Innerhalb der Lebenswelt bilden sich die Strukturen von Öffentlichkeit heraus; sie ist zwar auf die Vermittlungsleistungen der publizistischen Medien angewiesen, aber fundamentaler noch bedingt durch die
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„Einrichtung einer öffentlichen Argumentationspraxis“ (ebd.: 40). Diese hat zur Voraussetzung, dass die Regeln diskursiver Verständigungsprozesse nicht nur rechtlich garantiert sind, sondern diese Rechtsgarantien selbst als das vernünftige Ergebnis argumentativer Einigung ausgewiesen werden können. „Diese idealisierenden Voraussetzungen verlangen die vollständige Inklusion aller möglicher Betroffenen, die Gleichberechtigung der Parteien, Zwanglosigkeit der Interaktion, Offenheit für Themen und Beiträge, Revidierbarkeit der Ergebnisse usw.“ (ebd.: 41)
Neben den institutionellen und normativen Arrangements als Rahmenbedingung für partizipative Öffentlichkeit verweist Habermas darauf, dass sich resonanzfähige und autonome Öffentlichkeiten im Plural entfalten können müssen, die Freiräume für spontane politische Interventionen schaffen sowie das Engagement zivilgesellschaftlicher Assoziationen befördern, das sich von der Peripherie zum politischen Zentrum durchsetzen kann. Denn die Peripherie hat „gegenüber dem Zentrum der Politik den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung von Problemlagen“ (Habermas 1992: 460). Im Mittelpunkt der rechts- und demokratietheoretischen Studien von Habermas steht die Begründung dafür, dass das normativ anspruchsvolle institutionelle Arrangement der Demokratie nur zum Tragen kommen kann, wenn die stets deliberativ sich vollziehenden Prozesse politischer Entscheidungsbildung (etwa auf parlamentarischer Ebene) durch jene „Zufuhren“ gleichsam in Schach gehalten werden, die „aus den informellen Kommunikationszusammenhängen der Öffentlichkeit, des Assoziationswesens und der Privatsphäre“ kommen (ebd.: 427). Somit gilt: ohne prozessierende Öffentlichkeit keine lebendige Demokratie, mag sie verfassungsrechtlich und formell auch garantiert sein. Und ohne eine in Form von Diskursen stattfindende und aus ihnen hervorgehende Partizipation keine politisch fungierende Öffentlichkeit, mag sie als Gefüge in Form von Verbänden, Parteien, Bürgerforen und Kommunikationsmedien auch gegeben sein. „Der performative Sinn öffentlicher Diskurse hält, diesseits der manifesten Gehalte, die Funktion einer unverzerrten politischen Öffentlichkeit als solche gegenwärtig“ (ebd.: 447).12 Der Ort, an dem sich kommunikatives Handeln in der Form einer Bereitschaft zur politischen Partizipation konstituiert, ist die Lebenswelt.13 In gesellschaftstheoretischer Abgrenzung zu den systemischen Bereichen der Gesellschaft, in denen der Staat mit dem Medium Macht und die Wirtschaft mit dem Medium Geld operiert, ist die von Hause aus kommunikativ strukturierte Lebenswelt die Sphäre, in der persönliche Widerspruchserfahrungen artikuliert werden und sich Dispositionen, Einstellungen zu Haltungen und Handlungsweisen von Gruppen verdichten können. Voraussetzung dafür ist zum einen die unbedingte Autonomie der Lebenswelt, ihre Freiheit gegenüber administrativer Kontrolle und geldvermittelter Einflussnahme und zum anderen die prinzipiell
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diskursive Klärung strittiger Deutungen und Auffassungen. Diskursivität ist wiederum Sinn und Zweck der kommunikativ sich herstellenden Öffentlichkeit als „Netzwerk“ für die Vermittlung zwischen privater und staatlicher Sphäre. Öffentlichkeit, die selbst keine Institution oder Organisation ist, muss so strukturiert sein, dass sie mit ihrer aus der Lebenswelt kommenden Problematisierungsfunktion zugleich eine Signal- und Kontrollfunktion annehmen kann (vgl. ebd.: 435). Öffentlichkeit generiert sich selbst, indem in ihr Meinungen generiert werden. „Was derart gebündelte Meinungen zur öffentlichen Meinung macht, ist die Art ihres Zustandekommens und die breite Zustimmung, von der sie ‚getragen’ werden“ (ebd.: 438). Das „diskursive Niveau“ ist die entscheidende Größe für die Beurteilung der Qualität von Öffentlichkeit. Nicht wer etwas sagt bzw. sich vor einem Publikum in Szene setzt oder etwa von den Medien in Szene gesetzt wird, ist ausschlaggebend, sondern das Wie und das Was der argumentativen Praxis. Daraus resultiert die Resonanz, auf die Personen in der Öffentlichkeit stoßen. „Das Publikum der Bürger muß durch verständliche und allgemein interessierende Beiträge zu Themen, die es als relevant empfindet, überzeugt werden“ (ebd.: 440). Vor diesem Hintergrund richtet sich die kritische Perspektive von Habermas auf jene Akteure, die Öffentlichkeit vereinnahmen oder für Zwecke bloßer Selbstdarstellung missbrauchen. Hier liegt nun der Ansatzpunkt einer Medienkritik, die Habermas zwar als Forschungsdesiderat postuliert, für deren Durchführung und inhaltliche Ausrichtung sich aber lediglich einige allgemein gehaltene Hinweise aus seiner Öffentlichkeitstheorie destillieren lassen. Dabei ist zunächst einmal zu konstatieren, dass er Medienkritik nicht mit den Mitteln einer generell ansetzenden Kultur- oder Sozialkritik entwickelt. Vielmehr stellt er sie in den engeren Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Öffentlichkeitsforschung. An zentraler Stelle ist hier das Problem der Medienmacht zu nennen, weil sie im direkten Widerspruch zum Öffentlichkeitsprinzip steht. Für die Medienforschung ergibt sich die organisationskritische Aufgabe, die Infrastruktur von Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet u. a. zu analysieren, um Aussagen über die interne Offenheit und Durchlässigkeit der Medien zu machen, auf deren Verbreitung die Interpretationen und Auffassungen angewiesen sind, die miteinander im Wettstreit stehen. Als einen Aspekt dieser Problemdimension ist zu untersuchen, ob gegenüber dem Expertenwissen das von sozialen Bewegungen und Intellektuellen hervorgebrachte „Gegenwissen“ öffentlich zur Darstellung gebracht werden kann.14 Das Augenmerk kritischer Medienforschung muss jenen „Ausschlußmechanismen“ gelten, die eine uneingeschränkte Inklusion und Gleichheit der Teilnehmer in der Öffentlichkeit verhindern. Besteht faktisch die Chance, einer „technokratischen Entmündigung der Öffentlichkeit“ zu widerstehen? (ebd.: 451) Nur dann ist die Möglichkeit
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gegeben, dass sich alle Betroffenen mit ihren Sichtweisen zu Wort melden können, die die Konsequenzen von Entscheidungen des politischen Systems zu tragen haben. Als einen wichtigen Indikator für Medienmacht nennt Habermas den Umfang publizistischer Präsentation von Akten des bürgerlichen Ungehorsams bzw. der gewaltfreien symbolischen Regelverletzung, mit denen sich oppositionelle Bewegungen selbst öffentlich zur Diskussion stellen und nach politischer Wirksamkeit streben (vgl. ebd.: 462). Schließlich kann Medienmacht auch in den Mustern publizistischer Berichterstattung zum Ausdruck kommen, etwa dadurch, dass eine „Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation“ beispielsweise durch „Personalisierung von Sachfragen, Vermischung von Information und Unterhaltung“ gefördert wird (ebd.: 456). Über den normativen Kontext, in welchem eine auf Öffentlichkeitsforschung zentrierte Medienkritik steht, gibt Habermas sehr deutlich Auskunft: „Die Massenmedien sollen sich als Mandatar eines aufgeklärten Publikums verstehen, dessen Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit sie zugleich voraussetzen, beanspruchen und bestärken“ (ebd.: 457). Auch wenn von einem derart demokratietheoretisch fundierten Normativismus in der älteren kritischen Medientheorie kaum die Rede sein kann, so teilt sie mit dem Paradigma kommunikativer Rationalität die Intention, nachdrücklich an dem Konzept der Aufklärung festzuhalten: In dem einen Fall geht es darum, Aufklärung durch rückhaltlose Kritik der Gründe des historischen Scheiterns der abendländischen Vernunft zu retten, im anderen Fall wird die Möglichkeitsbedingung von Vernunft bewusst gemacht, indem ihre Geltung in den alltagspraktischen Verständigungsverhältnissen rekonstruiert wird. So wie sich historisch keine vernünftige Alternative zum Projekt der Aufklärung abzeichnet, gab und gibt es keinen Grund, die Kulturindustrie als Agentur der ‚verwalteten Welt’ oder die Medienmacht als Gefahrenpotential für demokratische Öffentlichkeit gering zu erachten. Als Gegengewicht zu den Wirklichkeitskonstruktionen des omnipräsenten, sich globalisierenden Mediensystems ist auf einer politischen Kultur zu insistieren, zu der nicht zuletzt auch ein Publikum zu rechnen ist, dem Adorno durchaus zutraut, es könne zum richtigen Wollen gebracht werden: „durch sich selbst und gegen sich selbst“, (Adorno 1997e: 344) während Habermas einem Publikum als zivilgesellschaftlichen Akteuren vertraut, die „unter Bedingungen einer wahrgenommenen Krisensituation eine überraschend aktive und folgenreiche Rolle übernehmen können“ (Habermas 1992: 460).
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Der Autor dankt der Stiftung Dr. Robert und Linda Thyll-Dürr für die Förderung durch den Aufenthalt in der Casa Zia Lina, in deren inspirierender Atmosphäre der vorliegende Aufsatz geschrieben wurde. Schon 1929 hat Adorno musiksoziologische Analysen populärer Schlager durchgeführt. Der „bewahrende Kitsch“ der Schlager bereichert Adorno zufolge den Alltag der „Ladenmädchen“. Allerdings nur scheinbar, denn die Bereicherung entpuppt sich als imaginär, weil die Schlager hörenden Ladenmädchen um die Erfüllung des Versprechens in jener Realität betrogen werden, in der „das volle Individuum selber nicht mehr am Leben ist“ (Adorno 1997b: 781). Paul Lazarsfeld, zwei Jahre älter als Adorno, hatte schon seit den späten zwanziger Jahren in seiner Heimatstadt, Wien, als junger Sozialforscher gearbeitet. Einen Namen machte er sich mit der 1930 zusammen mit Marie Jahoda und Hans Zeisel durchgeführten Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Nach einer Studienreise in die USA entschloss er sich, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Mit Horkheimers Institute of Social Research stand er aufgrund seiner Mitarbeit an der „Studie über Autorität und Familie“ in Verbindung. Als Band 3 der „Nachgelassenen Schriften“ sind inzwischen Adornos Texte, die er im Zusammenhang des Radio Research Project geschrieben und 1940 zu Publikationszwecken zusammengestellt hat, unter dem Titel „Current of Music. Elements of a Radio Theory“ unter der Herausgeberschaft von Robert Hullot-Kentor publiziert. M. Kausch macht darauf aufmerksam, dass es auffällige Gemeinsamkeiten zwischen der Radiotheorie von Brecht und Benjamin gibt. Dieser wollte den Rundfunk aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat verwandeln, jener kritisierte die Vorstellung einer prinzipiellen Trennung zwischen den Ausführenden in dem Medium und seinem Publikum. Benjamin wollte die Rezipienten in die Lage versetzen, das kommunikative Potential des neuen Mediums aktiv zu nutzen. Dabei geht es „nicht um den ‚wirklichen Austausch‘, sondern um den ‚fiktiven Austausch‘ im Kopf des erkennenden Rezipienten“. Kausch 1988: 175; vgl. Benjamin 1980: 129. Im Folgenden wird nach der in den Gesammelten Schriften von Adorno erschienenen Ausgabe zitiert: Horkheimer/Adorno, Die Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, GS 3: 141 ff. Die Studie ist zuerst 1962 erschienen. Die Neuauflage von 1990 ist die 18. Auflage und enthält ein neues Vorwort, in dem sich der Autor Rechenschaft über den aktuellen Stellenwert seiner Ergebnisse nach fast dreißig Jahren gibt. J. Habermas war seit Februar 1956 als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung Assistent von T.W. Adorno. Für die empirische Studie „Student und Politik“ hat er eine theoretische Vorbemerkung mit dem Titel „Über den Begriff der politischen Beteiligung“ geschrieben. Um der fortschreitenden Entpolitisierung der Massen entgegen zu wirken, müsse das partizipative Element der Demokratie gestärkt werden. Vgl. Habermas/Friedeburg/Oehler/Weltz 1961: 11 ff. Habermas hat selbst seine verfallstheoretische Perspektive drei Jahrzehnte später kritisiert, die in der Entwicklung vom „kulturräsonierenden zu kulturkonsumierenden“ sowie in dem „normativen Gefälle“ zwischen „einer idealistisch überhöhten Vergan-
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Stefan Müller-Doohm genheit und der kulturkritisch verzerrten Gegenwart“ zum Ausdruck kommt. Vgl. Habermas 1990: 21, 30. Die bürgerliche Öffentlichkeit besteht im Kern aus einem Publikum von Privatleuten, die sich untereinander über ihre eigenen Belange austauschen, um so ihre Interessen als Eigentümer gegenüber den Instanzen staatlicher Gewalt zum Ausdruck zu bringen. Bei diesem Selbstverständigungsprozess geht es nicht nur um spezielle Fragen der Literatur und Kunst, sondern auch und vor allem um solche öffentlichen Belange, die sich auf die privatrechtlich organisierte Sphäre der Warenproduktion und -distribution beziehen. Zwar resultiert der Bürgerstatus aus Besitz und Bildung, aber das sind Zulassungskriterien, die jeder erlangen können soll. Unter dieser Bedingung darf dann innerhalb der Öffentlichkeit alleine die Überzeugungskraft vernünftiger Argumente Geltung haben. So lässt sich der Idee nach Herrschaft „in jenen leichtfüssigen Zwang (auf)lösen, der nunmehr in der zwingenden Einsicht einer öffentlichen Meinung sich durchsetzt“. Habermas 1990: 159. Aus diesem Grund handelt es sich um eine verkürzte Leseweise, wenn gesagt wird, Öffentlichkeit fungiere bei Habermas als „eine Instanz, die die Brücke und Entzweiungen der Moderne in einer höheren Einheit aufzuheben in der Lage ist“ (Kanter/Tiez 2004: 83). Hingegen trifft zu, dass die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates „das Problem der Institutionen nicht nur in faktischer, sondern auch in normativer Hinsicht“ thematisiert. Weil die „institutionellen Normen und Praktiken vor allem in geltungstheoretischer Hinsicht diskutiert (werden)“, kann keine Rede davon sein, dass die Theorie eine „normative Schlagseite“ hat. Ebd.: 85. Öffentlichkeit ist zwar das Medium, in dem sich die Meinungen und der Willen einer politisch handelnden Bürgergesellschaft bilden. Aber die Verwirklichung dieser Idee einer deliberativen Politik hängt elementar von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren ab. Deshalb begreift die Diskurstheorie der Demokratie die „Grundrechte und Prinzipien des Rechtsstaates als konsequente Antwort auf die Frage, wie die anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen des demokratischen Verfahrens institutionalisiert werden können“. Habermas 1996: 287. Lebenswelten sind im Gegensatz zu den zweckrational organisierten systemischen Bereichen kommunikativ strukturiert und reproduzieren sich durch das Medium verständigungsorientierten Handelns. Die Lebenswelt stellt für Verständigungsprozesse „sowohl den Kontext [...] wie auch Ressourcen bereit. Die Lebenswelt bildet einen Horizont und bietet zugleich einen Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten, dem die Kommunikationsteilnehmer bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte Deutungsmuster entnehmen. Auch die Solidaritäten der über Werte integrierten Gruppen und die Kompetenzen vergesellschafteter Individuen gehören – wie die kulturell eingewöhnten Hintergrundannahmen – zu den Komponenten der Lebenswelt“. Habermas 1985: 348 f. Es ist ein Desiderat einer Soziologie des Intellektuellen, die Funktion des gegenwärtigen Intellektuellen und der von ihm geäußerten Form der appelativen Kritik für eine demokratische Öffentlichkeit zu untersuchen. Für eine erste Annäherung vgl. MüllerDoohm 2005: 269 ff.
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Literatur Adorno, T. W. (1997a): Résumé über Kulturindustrie. In: Tiedemann, R. (Hrsg:): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.1. Frankfurt a. M.: 337-345. Adorno, T. W. (1997b): Schlageranalysen. In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 18. Frankfurt a. M.: 778-789. Adorno, T. W. (1997c): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 14. Frankfurt a. M.: 14-50. Adorno, T. W. (1997d): Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 18. Frankfurt a. M.: 729-777. Adorno, T. W. (1997e): Kann das Publikum wollen? In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 20.1. Frankfurt a. M.: 342-347. Adorno, T. W. (1997f): Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. In: Tiedemann, R. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2. Frankfurt a. M.: 202-440. Adorno, T. W. (1998): Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Adorno, T.W.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt a. M.: 141-192. Adorno, T. W. (2006): Current of Music. Elements of a Radio Theory (Herausgegeben von Hullot-Kentor, R.). Frankfurt a. M. Benjamin, W. (1980): Reflexionen zum Rundfunk. In: Tiedemann, R./Schweppenhäuser, H.: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt a. M.:1506-1507. Brecht, B. (1967): Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 18. Frankfurt a. M.: 117-134. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 und 2. Frankfurt a. M. Habermas, J. (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. Habermas, J. (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a. M. Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. Habermas, J. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. Habermas, J./Friedeburg, L. v./Oehler, C./Weltz, F. (1961): Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Neuwied u. a. Horkheimer, M. (1988): Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung. In: Schmidt, A. (Hrsg.): Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M.: 20-35. Horkheimer, M./Adorno, T. W. (1997): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt a. M. Kanter, C./Tiez, U. (2004): Dialektik, Dialog und das Institutionenverständnis der Kritischen Theorie. In: Berliner Debatte Initial 5. Nr. 6. 73-88.
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Stefan Müller-Doohm
Kausch, M. (1988): Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien. Frankfurt a. M. Müller-Doohm, S. (2003): Adorno – Eine Biographie. Frankfurt a. M. Müller-Doohm, S. (2005): Theodor W. Adorno and Jürgen Habermas – Two Ways of Being a Public Intellectual. Sociological Observations Concerning the Transformation of a Social Figure of Modernity. In: European Journal of Social Theory 8. Nr. 3. 269-280.
Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Moderne Kurt Imhof
1 Einleitung Wenn man die Moderne auf der Basis des Öffentlichkeitsverständnisses der Aufklärung beim Wort nimmt, dann ist impliziert, dass sich die moderne Gesellschaft demokratisch selbst bestimmen kann. Um dies zu können, braucht es für die Bürgerinnen und Bürger zwingend einen politischen Begriff von ‚ihrer‘ Gesellschaft mitsamt den entsprechenden Bürgerrechten und ihrem territorialen Geltungsbereich. Diesem Geltungsbereich dient ein legitimes und rechtsstaatlich domestiziertes Handlungssystem Politik, das in der Lage sein muss, über allgemein verbindliche Entscheidungen Ordnungsprobleme zu bearbeiten. Beides, der politische Begriff von ‚ihrer‘ Gesellschaft wie die Legitimität des Handlungssystems Politik setzt Öffentlichkeit voraus. Der Wert ‚demokratische Selbstbestimmung‘ impliziert, dass das Handlungssystem Politik nicht in seinen exekutiven und parlamentarischen Kernen gefangen bleibt, sondern dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger im Sinne Kants als Autoren der Gesetze und Institutionen betrachten können, denen sie sich selbst unterwerfen. In dieser Öffentlichkeit, und nur in dieser, ist das, was wir in politischem Sinne Gesellschaft nennen, beobacht- und gestaltbar. Diese Verschränkung von politischer Öffentlichkeit, politisch-rechtlichem Geltungsbereich und Gemeinsamkeitsglauben ist in den deliberativen, den politisch-rechtlichen und den sozialintegrativen Normen verankert, die die Moderne dem aufgeklärten Öffentlichkeitsverständnis verdankt (Imhof 2006a [1996]: 157-206). Die Wirkmächtigkeit der Aufklärung zeigt sich darin, dass diese Normen den modernen Rechtsstaat prägen und in den Menschen- und Bürgerrechten nach wie vor den höchsten Geltungsanspruch innehaben. Allerdings ließen sich diese Basisnormen bisher nur im demokratischen Nationalstaat einigermaßen realisieren. In diesem Ordnungsrahmen vollzog sich die Verbindung der Idee der Nation, das
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heißt eines identitätsstiftenden „Gemeinsamkeitsglaubens“ (Max Weber), mit dem auf einer Rechtsordnung basierenden Territorialstaat. Dieser Prozess konnte sich ausschließlich durch die Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit vollziehen. Diese Dreifaltigkeit demokratischer Selbstbestimmung bildet die Grundlage einer Theorie der Öffentlichkeit ebenso wie einer Theorie der Moderne. In welch unvollkommener Form auch immer, aber sowohl in den ethnischsprachnationalen wie den eher demotisch orientierten Nationalbewegungen, musste die Forderung nach demokratischer Selbstbestimmung auf die deliberative, die politisch-rechtliche und die sozialintegrative Dimension des Aufklärungsverständnisses von Öffentlichkeit abgestützt werden.1 Die Aufklärungsbewegung schuf somit die entscheidenden Unterscheidungen im Möglichkeitshorizont der Moderne: In den gescheiterten wie in den erfolgreichen Revolutionen musste der deliberative Anspruch an die öffentliche Kommunikation mit der politisch-rechtlichen Emanzipation der Untertanen zu Bürgern eines territorial definierten Rechtsstaats mit der sozialintegrativen Dimension eines Volkes als Souverän verbunden werden. Entsprechend bilden die Basisnormen der Moderne den wirkungsgeschichtlich und damit auch sozialtheoretisch relevanten ‚Bauplan‘ der modernen Gesellschaft, sie müssen analytisch berücksichtigt und nicht erst von außen an diese herangetragen werden.2 Und deshalb erheben sich durch die ganze Moderne hindurch die demokratietheoretisch zentralen Fragen, inwieweit die Öffentlichkeit die Selbstbestimmung unter der Bedingung einer ausdifferenzierten Gesellschaft sichert, inwieweit die Vernunft in den unvollkommenen Strukturen und Prozessen öffentlicher Deliberation gegen die „Kulturindustrie“, gegen Partikulärinteressen bzw. gegen die „Ideologie der Herrschenden“ zur Geltung kommen kann, inwieweit die politisch Gleichen tatsächlich gleichberechtigt partizipieren können und inwieweit die demokratische Selbstbestimmung des Souveräns nicht den Preis einer „Tyrannei der Mehrheit“ auf Kosten marginalisierter Minderheiten und unterdrückter Bürger- und Menschenrechte entrichtet. Erst wenn diese Kritik verstummt, ist die Moderne gescheitert und es mag sich die Rede von der Postmoderne rechtfertigen. Diese im modernen Öffentlichkeitsverständnis enthaltene normative Kraft macht es notwendig, die Frage nach einer adäquaten Theorie der Öffentlichkeit unter Berücksichtigung der Norm- und Wertdimensionen der Aufklärung aufzunehmen. Dabei geht es um die Voraussetzungen, die mit Bezug auf das politische System auf der Input-, der Troughput- und der Outputebene erfüllt sein müssen, damit der im modernen Öffentlichkeitsverständnis eingeschlossene Rationalitäts-, Legitimitäts- und Integrationsanspruch zu seinem Recht kommt. In dieser Absicht betont insbesondere Jürgen Habermas mit dem Begriff der „deliberativen Demokratie“ und der „deliberativen Politik“ die Relevanz aller
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drei Dimensionen von Öffentlichkeit. Die deliberative, die politisch-rechtliche und die sozialintegrative Dimension können auf der Inputebene nur dann zu ihrem Recht kommen, wenn die Öffentlichkeit alle Gesellschaftsmitglieder inkludiert. Entsprechend gilt, dass „die bürgerliche Öffentlichkeit [...] mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs steht und fällt. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“. (Habermas 1990 [1962]: 156.)
Daher zählt die Möglichkeit, als Bürger am öffentlichen Diskurs teilzunehmen zu den Grundrechten. Zu ihrer Realisierung gehören auch ausreichendes ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, damit die chancengleiche Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte gewährleistet ist. Hinsichtlich des Throughput geht es um die Interdependenzen zwischen Zivilgesellschaft, Medien und Politik, präziser: Um die Durchlässigkeit von Kommunikationsflüssen von zivilgesellschaftlichen Assoziationen über die medienvermittelte Kommunikation in den deliberativen Kern des politischen Systems, das Parlament, das die Exekutive und die Verwaltung mit Handlungsanleitungen und -restriktionen versorgt. Auf der Output-Seite muss es darum gehen, dass die Problemlösung des politischen Systems den Intentionen der öffentlichen und der parlamentarischen Deliberation entspricht, das heißt die Entscheidungsträger und die Problemlösung sind möglichst eng an die öffentliche Meinung zu binden, wobei öffentliche Meinung hier verstanden wird als das Ergebnis freier Deliberation, an der sich potentiell alle Staatsbürger beteiligen können. Diese Perspektive legt entsprechend Wert auf ‚zivilgesellschaftliche Akteure‘, die über mediale Resonanz in der Lage sind, die Problemlösungsroutinen des politischen Systems zu unterbrechen (vgl. Peters 1993: 340ff.; Habermas 1992: 460-464). Der Verweis auf die Problemlösungsroutinen des politischen Systems rekurriert auf dessen Legitimität, die auf Wahlen, allenfalls direktdemokratischen Abstimmungen und Verfahren beruht und dem politischen Personal im Rahmen der Verfassung Entscheidungsfindungsprozesse im Transparenzmodus routinisierter öffentlicher Resonanz zuordnet (Öffentlichkeitsprinzip des demokratischen Rechtsstaats). Diese „Öffentlichkeit im Ruhezustand“ (Habermas 1992: 458), vor allem in den stabilen Phasen etablierter Gesellschaftsmodelle, steht in Kontrast zu den Krisenphasen, in welchen der Druck der öffentlichen Kommunikation in einer ‚aktivierten Öffentlichkeit der Kommunikationsverdichtung‘ die Problemlösungsroutinen des politischen Systems unterbricht und neue, unter intensiver öffentlicher Aufmerksamkeit stehende Problemlösungsprozesse auslöst. Damit erhalten wir ein dynamisches Modell der Öffentlichkeit, einer „Öffentlichkeit als Prozess“ (vgl. Habermas 1992; Neidhardt 2005; Dahrendorf
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1969), das stabile Phasen sozialen Wandels mit Krisenphasen in Beziehung setzt und dabei den Ursprung und die Karriere von Kommunikationsereignissen3 und ihren Einfluss auf das politische System als Lernprozesse analysiert.4 In dieser prozessorientierten Analyse demokratischer Entscheidungsfindung wird die Rechtsentwicklung an die moralischen und kognitiven Überzeugungen rückgekoppelt und die kritische Aufmerksamkeit auf die Qualität der öffentlichen Kommunikation in der modernen Gesellschaft gerichtet.5 Vor dem Hintergrund dieses Prozessmodells öffentlicher Kommunikation mit der zentralen Unterscheidung einer Öffentlichkeit im Ruhezustand bzw. einer aktivierten Öffentlichkeit der Kommunikationsverdichtung lassen sich nun im ersten Schritt die normativen Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung als Funktionen der Öffentlichkeit in der Praxis dieser demokratischen Selbstbestimmung beschreiben (1. Funktionen der Öffentlichkeit). Dann gilt es im zweiten Schritt, ein heuristisch möglichst ertragreiches Modell der real existierenden öffentlichen Kommunikation in Gestalt ihrer Arenen, Kommunikationsflüsse und Akteure zu erstellen (2. Arenen, Kommunikationsflüsse und Akteure). Dieses Modell dient umso besser zum Verständnis der aktuellen Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung, wenn es die jüngsten Veränderungsdynamiken medienvermittelter Kommunikation berücksichtigt. Deshalb werden im dritten Schritt die wichtigsten Medialisierungseffekte beschrieben, die die Selektions- und Interpretationslogiken öffentlicher Kommunikation beeinflussen (3. „Neuer“ Strukturwandel der Öffentlichkeit und Medialisierungseffekte). Diese Theorie der Öffentlichkeit setzt, wie erwähnt, die Prozessperspektive öffentlicher Kommunikation in zwei wesentlichen Dimensionen voraus, die hier nicht ausgeführt werden: Zum einen wird die Interdependenz von öffentlicher Kommunikation und politischem Handlungssystem entlang des policy-cycles von Input, Throughput und Output berücksichtigt. Zum anderen wird die Unterscheidung einer aktivierten und einer routinisierten Öffentlichkeit eingezogen. Die aktivierte Öffentlichkeit charakterisiert nicht ausschließlich, aber insbesondere die Krisen- und Umbruchphasen der Moderne. Diese lassen sich hier grob dadurch skizzieren, dass nicht-etablierte Akteure über Resonanz in der öffentlichen Kommunikation „Entweder-oder-Konflikte“ kreieren, die sich in ihrer Dynamik scharf von den „Mehr-oder-Weniger-Konflikten“ unterscheiden, die Gesellschaften immer zu bewältigen haben. Die routinisierte Öffentlichkeit demokratischer Selbstbestimmung lässt sich hingegen für die Beschreibung der Praxis demokratischer Selbstbestimmung im Rahmen etablierter und legitimer Gesellschaftsmodelle verwenden. Hier werden „Mehr-oder-Weniger-Konflikte“ verfahrensreguliert, erwartbar und auf Zeit gelöst. Von zentralem sozialwissenschaftlichem Interesse ist selbstverständlich die Analyse der Übergänge zwi-
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schen den beiden Modi. Ein solches Modell muss jedoch detaillierter, als hier dargelegt werden kann, die Theorie der Öffentlichkeit mit einer Theorie sozialen Wandels zu einer Theorie der Moderne dynamisieren und historisch-soziologisch als Abfolge von Gesellschaftsmodellen plausibilisieren (vgl. Imhof 2007).
2 Funktionen der Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit erfüllt für die moderne Gesellschaft Grundfunktionen ihrer Reproduktion. Diese Funktionen sind an die drei normativen Dimensionen des Aufklärungsverständnisses von Öffentlichkeit geknüpft und sind notwendige Voraussetzungen demokratischer Selbstbestimmung. Es wurde einleitend darauf hingewiesen, dass die demokratische Praxis die Verschränkung eines identitätsstiftenden politischen Begriffs der ‚eigenen‘ Gesellschaft auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger mit dem territorialen Geltungsbereich des Handlungssystems Politik und dem ‚Raum‘ der politischen Öffentlichkeit bedingt (vgl. Imhof 2002: 37-56). Nur unter dieser Voraussetzung kann sich eine Auswahl und Bewertung von Problemen für allgemeinverbindliche Problembearbeitungsprozesse unter der Bedingung notwendiger Loyalitäts- und Partizipationsdispositionen auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger vollziehen. Dieser Prozess vollzog sich durch die Genese einer politischen Öffentlichkeit. Dies lässt sich erstens durch die Einsicht in die deliberative Funktion der Öffentlichkeit klar machen. Die öffentliche Kommunikation stellt den Entdeckungs- und Validierungszusammenhang von Problematisierungen dar und sorgt, abgestützt auf die elementaren Bürgerrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, für eine begründbare Rationalitätserwartung gegenüber Problemauswahl- und -bearbeitungsprozessen. Zweitens haben wir es mit der politisch-rechtlichen Funktion der Öffentlichkeit zu tun. Sie sichert, ebenfalls abgestützt auf die elementaren Bürgerrechte unter Einschluss des Stimm- und Wahlrechts, die Legitimation politischer Macht, politischer Problembearbeitungsprozesse und eines politisch-rechtlichen Geltungsbereichs. Drittens haben wir es mit der Funktion der Integration zu tun: Indem die Öffentlichkeit das einzige Zugangsportal der Gesellschaft für ihre Mitglieder darstellt, verdankt sich ihr die Selbstwahrnehmungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger als ‚Rechtsgenossen‘ eines Gemeinwesens bedingter Souveränität und Problemlösungsfähigkeit. Die reale Praxis dieser Funktionen lässt sich beschreiben und ist nicht auf Idealisierungen angewiesen:
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Kurt Imhof Deliberative Funktion von Öffentlichkeit: Im Netzwerk von Arenen und Kommunikationsflüssen der öffentlichen Kommunikation kandidieren permanent Problematisierungen des guten und gerechten Lebens um Aufmerksamkeit. Öffentlichkeit bildet auf diese Weise den Entdeckungs- und Validierungszusammenhang der modernen Gesellschaft. Im Masse seiner deliberativen Qualitäten erlaubt es das seismographische Instrument Öffentlichkeit, Probleme gesellschaftsweit wahrzunehmen und dem politischen System zur Bearbeitung aufzugeben. Problematisierungen des Bestehenden, die im Medium öffentlicher Kommunikation viel Aufmerksamkeit akkumulieren, bilden unmittelbar einen Input für das politische System, das dann seine Prozessroutinen unterbrechen muss, um sich dem problematisierten Zusammenhang verfahrensreguliert zuzuwenden. Auf diese Weise wird Aufmerksamkeit – also Definitionsmacht – in politische Macht verwandelt (Habermas 1992: 460–464; Peters 1993: 344-353). Es sind dies die Momente, in denen sich die Öffentlichkeit durch konflikt-induzierte Kommunikationsverdichtung hinsichtlich eines Problemzusammenhangs soweit aktiviert, dass die Inputschwelle in das politische System unmittelbar überwunden wird. Dadurch wird das entsprechende Kommunikationsereignis im Throughput-Prozess des parlamentarischen Verfahrens erweitert, das heißt die Deliberation im Parlament unterliegt der besonderen Aufmerksamkeit im Medium der öffentlichen Kommunikation. Kommunikationsereignisse dieses Typs sind dadurch gekennzeichnet, dass der Zusammenhang zwischen der öffentlichen Kommunikation und der parlamentarischen Deliberation besonders eng ist. Dies bezieht sich auch auf die kritische Validierung des rechtsförmigen Outputs des politischen Systems, der allgemeinverbindlichen Problemlösung in der Sprache des Rechts. In der vergleichenden Beobachtung von solchen Entdeckungs-, Validierungs-, Willens- und Rechtssetzungsprozessen im Modus aktivierter Öffentlichkeit wird evident, dass diese eine paradigmatische Qualität für allgemeinverbindliche Problemlösungen haben, bei denen die öffentliche Kommunikation im Modus einer niederschwelligen, ritualisierten Beobachtung des politischen Verfahrens verharrt. Die Deliberation im Parlament wie deren öffentliche Berichterstattung rekurriert dann auf die Meinungslandschaften, die sich in inhaltlich anschließbaren Entscheidungsbildungen aktivierter öffentlicher Kommunikation konstituiert haben. Im Rahmen der Verfahren im Modus ritualisierter öffentlicher Beobachtung genügt es, dass das politische System über Parteien und Verbände, zivilgesellschaftliche und staatliche Organisationen sowie über Wahlen und Abstimmungen mit den verschiedenen Arenen funktional, stratifikatorisch und segmentär
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gegliederter moderner Gesellschaften rückgekoppelt und rechtsstaatlich verankert ist. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass das politische System als Output auf legitime Weise allgemeinverbindliche Entscheidungen fällen kann. Im aktivierten wie im ritualisierten Modus öffentlicher Kommunikation gilt, dass sich Definitionsmacht in den Prozessroutinen des politischen Systems in politische Macht verwandelt und diese wird dann in der Sprache des Rechts steuerungswirksam. In der öffentlichen Problematisierung bestehender Zustände, Handlungen, Akteure und Institutionen, im erfolgreichen, das heißt resonanzreichen Hinweis auf Widersprüche zwischen Sein und Sollen, im permanenten Wettbewerb der Betroffenheiten und in der Kontrolle politischer Herrschaft wird, unter Einschluss aller Formen symbolischer Politik, der wesentliche Teil der Politik, derjenige, der sichtbaren – also öffentlichen – Politik hergestellt (Sarcinelli 1987; Sarcinelli 1998: 273-296). Jedoch: Auch die Formen der Arkanpolitik orientieren sich an den Inhalten öffentlicher Politik: Das Geheime meidet exakt die normativen Maßstäbe der öffentlichen Kommunikationsflüsse. •
Politisch-rechtliche Funktion von Öffentlichkeit: Die Öffentlichkeit wird in Bezug auf die demokratische Selbstbestimmung durch eine Arena dominiert: die politische Öffentlichkeit. In ihr können potenziell alle Kommunikationsereignisse aller anderen Arenen Resonanz finden. Die Osmotik der politischen Öffentlichkeit bestimmt in stratifikatorischer, segmentärer und funktionaler Hinsicht die Durchlässigkeit von Kommunikationsflüssen aus den entsprechenden Arenen. Im Masse dieser Durchlässigkeit kommt den Wahlen, den Institutionen des demokratischen Rechtsstaates, den verfahrensregulierten Entscheidungsprozessen und allenfalls den Abstimmungen Legitimität zu. Diese basiert auf den Bürgerrechten, die der Emanzipation der Untertanen zum Souverän entstammen und diese erfordern das Öffentlichkeitsprinzip. Weil sich das politische System auf einen territorialen Geltungsbereich und einen dadurch definierten Souverän bezieht, hat die politische Öffentlichkeit in ihrer politisch-rechtlichen Funktion einen segmentären Charakter und wir finden sie im Plural: Die föderale Struktur vieler Nationalstaaten zeigt, wie sich die ‚föderalen‘ Binnenarenen politischer Öffentlichkeit wechselseitig beobachten und wie sich dadurch eine nationale Arena politischer, aktivierter Öffentlichkeit konstituiert (Kriesi 1992: 576-585). In historischer Perspektive ist ersichtlich, wie sich diese nationale politische Arena über die Ausdifferenzierung von Ressorts ursprünglich föderaler Leitmedien im Zuge nationaler politischer Konflikte entfaltet. Diese historische Einsicht in die konfliktinduzierte Genese nationaler politischer Öffentlichkeiten zeigt auch den Entwicklungspfad, auf dem sich eine transnationale Öffentlichkeit, getragen durch transnationale,
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Kurt Imhof konfliktuelle Kommunikationsereignisse einerseits und mit Bezug auf transnationale politische Akteure andererseits, ausbilden kann (Peters/Weßler 2006; Kantner 2006). Die segmentär-föderalen politischen Öffentlichkeiten der Nationalstaaten entwickeln dann eine osmotische Interdependenz bei grenzüberschreitenden Problembezügen, die von definitionsmächtigen nationalen Akteuren aber vor allem auch transnationalen etablierten und nicht-etablierten politischen Akteuren bewirtschaftet werden. Politische Öffentlichkeiten und legitime politische Geltungsbereiche entstehen entsprechend von ‚oben‘ wie von ‚unten‘: Zentren politischer Macht werden durch Eliten (oder revolutionäre Gegeneliten) konstituiert, die Legitimität der mit diesen politischen Zentren beanspruchten politischen Geltungsbereiche entsteht durch grenzüberschreitende konfliktuelle Kommunikationsereignisse, die eine politische Öffentlichkeit schaffen. Solange neue politische Machtzentren mitsamt ihren Geltungsbereichen einer entsprechenden politischen Öffentlichkeit entbehren, besteht ein Demokratie- und ein Legitimitätsdefizit. Die Debatten um die europäische Öffentlichkeit verweisen darauf.
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Integrationsfunktion der Öffentlichkeit: Nur in der politischen Öffentlichkeit ist das, was wir nicht anders als immer auch in politischem Sinne ‚Gesellschaft‘ nennen können, beobacht- und gestaltbar. Die Osmotik föderaler, nationaler oder transnationaler politischer Öffentlichkeiten ist entscheidend für die nachhaltige Erweiterung (oder Verengung) von Identitätskonstitutionen in Gestalt des Gemeinsamkeitsglaubens der Bürgerinnen und Bürger. Dieser ‚mehrstufige‘ Gemeinsamkeitsglaube6 ist zwingend für Partizipations- und Loyalitätsdispositionen (Offe/Preuss 1991: 143-171), die gegenüber den Zumutungen von Mehrheits- /Minderheitenentscheiden sowie Umverteilungen die demokratienotwendige Akzeptanzbereitschaft verschaffen (Neidhardt/Koopmans/Pfetsch 2000: 263-293). Solange neu geschaffene transnationale politische Machtzentren einer politischen Öffentlichkeit entbehren, besteht neben dem Demokratie- und Legitimitätsdefizit auch ein Loyalitäts- und Partizipationsdefizit. Die Debatten insbesondere um eine europäische Sozialpolitik im Rahmen der Verfassungsabstimmungen sowie um die globalen Macht- und Verhandlungszentren mit Zügen einer neuen ‚geheimen Kabinettspolitik‘ (G8, WTO, IMF, WEF) verweisen darauf (Tobler/Alder 2005: 245-264).
Auf der Basis dieser Funktionen kandidieren innerhalb der aus Akteuren, Kommunikationsflüssen und Arenen bestehenden Öffentlichkeit permanent Problematisierungen um Aufmerksamkeit. Wie immer auch die entsprechenden Kommunikationsereignisse strukturell gefiltert und durch unterschiedliche Definiti-
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onsmacht beeinflusst sein mögen, solange an der demokratischen Selbstbestimmung prinzipiell festgehalten wird, solange also die Vermutung auf Vernunft und Legitimität deliberativer Entdeckungs-, Validierungs-, Willens- und Rechtsetzungsprozesse berechtigt ist, solange die Problematisierungen des Bestehenden in einem legitimen politischem System bearbeitet werden können und solange diese Prozesse auf ausreichende Partizipations- und Loyalitätsdispositionen stoßen, solange hält die Moderne am normativen Horizont ihres Entstehungskontextes fest. In diesem Kontext wurde mit der Forderung nach einer Vernunft und Tugend schaffenden Öffentlichkeit die anciennes régimes zerstört und es wurde eine Pfadabhängigkeit geschaffen, die die Öffentlichkeit als konstitutiven Bestandteil des Rechtsstaates durch alle Strukturwandelsprozesse hindurch prägt.
3 Arenen, Kommunikationsflüsse und Akteure Öffentlichkeit lässt sich als Netzwerk von Kommunikationsflüssen beschreiben, die in verschiedenen Arenen zusammenfließen (Habermas 1992: 399-467; Peters 1993: 322-365; Imhof 1993: 11-60; Imhof 2007). Diese Arenen öffentlicher Kommunikation bestimmen maßgeblich die Möglichkeitsspielräume von individuellen wie kollektiven Akteuren (Organisationen) und dieses Netzwerk von Kommunikationsflüssen und Arenen wird wiederum maßgeblich generiert durch die etablierten Kommunikationszentren, den Organisationen der zentralen Handlungssysteme Politik, Ökonomie und Medien zum einen, sowie nichtetablierter, ‚zivilgesellschaftlicher‘ Akteure zum anderen. Damit ist die Öffentlichkeit auf Akteur- und Organisationskommunikation zurückgeführt, und gleichzeitig wird diese Akteur- und Organisationskommunikation um ihr Aggregat, die öffentliche Kommunikation, ergänzt.7 Diesen elementaren Prozessen öffentlicher Kommunikation gilt zuerst die Aufmerksamkeit. Die öffentliche Kommunikation fließt in Gestalt von nicht abreißenden Wellen von Kommunikationsereignissen in den Arenen des öffentlichen Aufmerksamkeitswettbewerbs. Hier findet das gesellschaftsweite, das segmentär-stratifikatorische bzw. milieuspezifische sowie das für Lebensstilgruppen oder für funktional differenzierte Expertenkulturen der Teilsysteme relevante Agendasetting und -building unter beständiger Beobachtung einer faktisch unterschiedlich begrenzten, prinzipiell jedoch nicht zu begrenzenden Anzahl von Akteuren statt. Diese Akteure orientieren ihre private oder öffentliche Anschlusskommunikation an diesen Kommunikationsereignissen gemäß ihren Interpretationsressourcen, ihren Interessen und ihrer Definitionsmacht, sie wer-
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den bei ihrer öffentlichen Anschlusskommunikation an diese Kommunikationsereignisse wieder beobachtet, sie wissen um diese Beobachtung und sie richten ihre Äußerungen daran aus. Wenn man also diese in Arenen gegliederte Öffentlichkeit anhand ihrer Kommunikationsflüsse selbst beobachtet, dann lassen sich die Regularitäten, Diskontinuitäten und Differenzsemantiken der permanenten Aufmerksamkeitsfokussierung und des permanenten Aufmerksamkeitszerfalls erfassen (Imhof 2003: 153-182). Die in verschiedene Arenen gegliederte öffentliche Kommunikation der stratifikatorisch, segmentär und funktional differenzierten Gesellschaft geht nicht in den Massenmedien auf. Die Kommunikationsereignisse in den Netzwerken und Arenen konstituieren sich und finden Anschlusskommunikation auf den Ebenen der Interaktionskommunikation, der Versammlungskommunikation wie der massenmedialen Kommunikation. Auf diesen drei Ebenen variieren die Publikums- und Kommunikatorrollen, die Strukturierung, die Professionalisierung und die Nachhaltigkeit öffentlicher Kommunikation (Gerhards 1994: 77-105; Neidhardt 1994: 7-41). Neben der Interaktionskommunikation und der Versammlungskommunikation sind die Medien ‚nur‘ spezialisierte Organisationen eines eigenlogischen Teilsystems. Sie stellen jedoch öffentliche Kommunikation auf Dauer und machen sie gesellschaftsweit beobachtbar. Insbesondere ermöglichen die gedruckten und elektronischen Leitmedien gesellschaftsweite Resonanz, indem sie Kommunikationsereignisse aus den Kommunikationsflüssen und Arenen aufnehmen, kanalisieren oder auslösen. Die die Agenda der öffentlichen Kommunikation bestimmenden Leitmedien unterscheiden sich in ihrer Offenheit gegenüber regionalen, nationalen oder transnationalen Kommunikationsflüssen und Arenen. Im Masse der Ausdifferenzierung nationaler, später transnationaler Öffentlichkeiten entstehen nationale und nationaltransnationale Leitmedien wechselseitiger Beobachtung. Die medienvermittelte öffentliche Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ausgesprochen selbstreferentiell und redundant ist, das heißt sie bezieht sich selbst auf öffentliche Kommunikation und zwar unter Berücksichtigung von Betroffenheiten, definitionsmächtigen Akteuren, politischen Relevanzen und weiteren Nachrichtenwerten (Imhof/Kamber 2001: 425-453). Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser drei Ebenen öffentlicher Kommunikation die Genese der modernen Öffentlichkeit, dann entsteht diese durch die Aufklärungsbewegung und wird durch sie mit den beschriebenen deliberativen, politisch-rechtlichen und sozialintegrativen Ansprüchen verbunden. In ihrer ‚Urform‘ nimmt die Öffentlichkeit zunächst die Gestalt von Versammlungen an, während den Periodika der Aufklärungsgesellschaften die Aufgabe zufällt, die Kommunikationsflüsse in und zwischen diesen Versammlungsöffentlichkeiten aufrechtzuerhalten. Neben der Begründung der politischen Institutionen des
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Rechtsstaats und der Entstehung neuer, mit politischen Akteuren verbundener politischer Organe ist für die moderne Öffentlichkeit auch die Ausdifferenzierung der Marktwirtschaft konstitutiv. Mit dieser antifeudalistischen Entkoppelung der Ökonomie von der Politik an der Schwelle zur Moderne ist die Bedingung für die spätere Ausdifferenzierung des Mediensystems vom politischen System gegeben. Neben den politischen Organisationen etablieren sich sukzessive auch kommerziell orientierte Unternehmen und die Medienorganisationen als Akteure, die sich im Strukturwandel der Öffentlichkeit je auf unterschiedliche Publikumsrollen beziehen und öffentliche Kommunikation maßgeblich herstellen: •
Bei den politischen Organisationen (Regierung, Parlament, parlamentarische Fraktionen Behörden, Parteien und Verbände) handelt es sich um Bestandteile des politischen Systems, das über die Parteien und Verbände gegenüber der Zivilgesellschaft offen ist. Der Kommunikationsadressat der politischen Organisationen ist, neben der eigenen Klientel, das Staatsbürgerpublikum in seiner politischen Rolle als Souverän. Zu diesem Zweck haben diese Organisationen spezialisierte Kommunikatorrollen ausdifferenziert und sie interagieren mit PR- und Marketing-Organisationen, die sich auf Politik spezialisiert haben.8
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Die Unternehmen sind Bestandteile des Wirtschaftssystems. Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Reputation kann kein Unternehmen auf öffentliche Kommunikation verzichten. Der Kommunikationsadressat ist neben den Mitarbeitern, den Kapitaleignern und Analysten in der Regel das nach Kaufkraft-, Bildungs- und Lebensstilgruppen gegliederte Publikum in seiner Konsumentenrolle. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass die Unternehmen insbesondere im Rahmen von ‚Krisenkommunikation‘ zur Wiederherstellung ihrer Reputation neben weiteren ‚Stakeholdern‘ auch das Staatsbürgerpublikum ansprechen. Auch für diese Zwecke wurden spezialisierte Kommunikatorrollen bzw. Teilorganisationen ausdifferenziert (Personalabteilungen, Marketing-, PR-Agenturen und Corporate-Communications-Abteilungen) (vgl. Eisenegger 2005).
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Die öffentlich-rechtlichen und privaten Medienorganisationen schließlich entwickeln sich zu einem Mediensystem. Im Zuge dieser Differenzierung der Medien von ihren ursprünglichen politischen und religiösen Bindungen transformierte sich ihr Kommunikationsadressat sukzessiv vom Staatsbürgerpublikum und der Klientel ‚ihrer‘ einstigen Parteien und Verbände hin zu einem Publikum, das ebenfalls nach Kaufkraft, Bildung und Zugehörigkeit zu Lebensstilgruppen gegliedert, in seiner Medienkonsumentenrolle angesprochen wird. Die Medienorganisationen haben sich auf die öffentli-
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Die am Staatsbürgerpublikum orientierten politischen Organisationen und die am Konsumenten interessierten Unternehmen sowie die auf die Medienkonsumenten fixierten Medien befinden sich in einem spannungsreichen Abhängigkeitsverhältnis. Sie sind ökonomisch sowie bezüglich der Herstellung von legitimen Entscheidungen, Bekanntheit und Reputation aufeinander angewiesen. Öffentlichkeit wird maßgeblich im historisch variablen Interdependenzverhältnis der auf Publizität angewiesenen Organisationen aus den Teilsystemen Politik, Medien und Wirtschaft generiert. Von diesen etablierten Organisationen gilt es nicht-etablierte Akteure in Form von sozialen Bewegungen und Protestparteien zu unterscheiden: •
Diese zivilgesellschaftlichen Akteure sind an den Verfahren der Machtallokation innerhalb der Arena des politischen Systems in der Regel nicht beteiligt, sie sind gegenüber den etablierten Akteuren stratifikatorisch und/ oder segmentär differenziert, sie sind in der Regel weder an das Wirtschaftssystem noch an das Mediensystem gekoppelt und verfügen über keine gewachsene Reputation. Aufmerksamkeit können sie nur über Aktionsformen realisieren, die ihre Themen medienwirksam in die politische Kommunikation einbringen (Imhof/Eisenegger 1999: 195-218; SchmittBeck/Pfetsch 1994: 106-138; Kepplinger 1992). Die Aufmerksamkeitschancen solcher nicht-etablierter politischer Akteure sind über die Zeit ungleich verteilt. Sie sind insbesondere in Perioden der Aktivierung der öffentlichen Kommunikation von zentraler Bedeutung (Imhof 1996 b: 165-186; SchmittBeck 1990: 642-662; Rucht 1994: 337-358; Neidhardt/Rucht 1993; Kriesi 1991: 91-103).
Neben den genannten Akteuren sind auch die Wissenschaft, die Religion und die Kunst Bestandteile der kommunikativen Infrastruktur der modernen Gesellschaft. Im Unterschied zu allen anderen Handlungssystemen und der öffentlichen Kommunikation beschränkt sich ihre professionelle Binnen- und Außenkommunikation auf je eine Grundeinstellung zur Welt. Die Expertenkulturen der Wissenschaft konzentrieren sich auf den kognitiven Bezug zu einer Welt realer Sachverhalte. Die Expertenkulturen der religiösen Sphäre beschränken sich nach der Säkularisierung auf moralische und normative Bezugnahmen zur sozialen Welt legitimer Normen und Werte und die Produzenten und Rezipienten der Kunst sind auf die Auseinandersetzung über die Authentizität, Originalität und Schönheit von Expressionen subjektiver Innerlichkeit fokussiert.
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Sie rekurrieren damit implizit oder explizit auf reflexive Weise auf die innere Welt subjektiver Gefühle, Assoziationen und Eindrücke. •
Der je spezifische Weltbezug auf die objektive, die soziale und die subjektive Welt in den Arenen der Sphären Wissenschaft, Religion und Kunst ermöglicht den zivilgesellschaftlichen Akteuren mit den kognitiven, normativen und expressiven Aspekten ihrer Postulate gegenüber der politischen Öffentlichkeit vorauseilende und nachhaltigere Resonanz. Außerdem werden die durch die Aufklärung implementierten elementaren Freiheitsansprüche der Wissenschaft, der Religion und der Kunst in diesen drei Handlungssystemen auf Dauer gestellt und institutionell stabilisiert. Indem sich Wissenschaft, Religion und Kunst auf je eine Einstellung zur Welt spezialisieren, während in der Arena der politischen Öffentlichkeit stets alle Weltbezüge Geltung beanspruchen, stehen sie in und zur modernen Gesellschaft in einem Spannungsverhältnis, das die Fragilität, Innovativität und Reflexivität der Moderne mitbedingt (Imhof 2003: 43-53; Imhof 2004: 145-164).
Indem Wissenschaft, Religion und Kunst je den Geltungsanspruch der Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit an allgemeinverbindliche Problemlösungsprozesse herantragen, verschaffen sie der modernen Gesellschaft ein institutionell abgesichertes Reflexionswissen, auf das die öffentliche Deliberation zurückgreifen kann bzw. auf das die öffentliche Deliberation dann und wann gestoßen wird. Das im Strukturwandel der Öffentlichkeit historisch variable Interdependenzverhältnis der auf Publizität angewiesenen Organisationen vorab aus den Teilsystemen Politik, Medien und Wirtschaft, die unterschiedlichen Aufmerksamkeitschancen ‚zivilgesellschaftlicher‘ Akteure (Krisen- und Umbruchperioden sozialen Wandels) und die Spannungspotentiale durch die vereinseitigten Weltbezugnahmen der Sphären Wissenschaft, Religion und Kunst bedingen einen dreifachen analytischen Zugriff auf die Öffentlichkeit: Öffentliche Kommunikation ist erstens in den elementaren Norm- und Werthorizont der Moderne eingebettet, sie wird zweitens von strukturellen Prozessen der Ausdifferenzierung von – und den Interdependenzdynamiken zwischen – Handlungssystemen und ihren Organisationen als auch drittens durch die Dynamik von Kommunikationsereignissen bestimmt. Diese Kommunikationsereignisse werden von nicht-etablierten und etablierten Akteuren (unter Einschluss der Medienorganisationen) ausgelöst oder bearbeitet, sie können aber in ihrer Karriere von keinem Akteur vollständig kontrolliert werden.
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4 Medialisierung und ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit Weil die Öffentlichkeit die gesamte Gesellschaft durchwirkt, ist sie auch durch alle ihre strukturwirksamen Differenzierungsprozesse betroffen. Die moderne Gesellschaft ist funktional, stratifikatorisch und segmentär differenziert. Wenn man vor diesem Hintergrund den Strukturwandel der Öffentlichkeit betrachtet, dann gilt es in erster Linie diejenigen Differenzierungen zu benennen, die die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung betreffen. Der Fokus hier liegt auf dem jüngsten oder „neuen“ Strukturwandel der Öffentlichkeit, der darin zum Ausdruck kommt, dass der von Jürgen Habermas 1962 mit Bezug auf die Öffentlichkeit diagnostizierte (Habermas 1990 [1962]: 275-342) Vermachtungszusammenhang von Staat, Parteien und organisierten Privatinteressen aufgesprengt wird (Refeudalisierungsthese). Auf der Linie dieser Diagnose ließen sich Ende der 1950er Jahre und in den frühen 60er Jahren die „zivilgesellschaftlichen Akteure“ mit ihrer Problematisierung der stratifikatorischen und segmentären Differenzierung der 1960er und 70er Jahre nicht erwarten. Unübersehbar wurzelt Habermas damalige Sozialtheorie im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung und spiegelt Formen bloß noch „repräsentativer Öffentlichkeit“ im sozialpolitisch befriedeten und antikommunistisch integrierten sozialmarktwirtschaftlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in den 1950er und frühen 60er Jahren. Die Dynamik des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit bricht sich erst danach Bahn (Münch 1995; Kamber/Schranz 2002: 347-363). Dieser lässt sich als Auflösung des Vermachtungszusammenhangs von Staat, Parteien und organisierten Privatinteressen im neuen neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell beschreiben. Im Kern handelt es sich bei diesem Vorgang, dessen deutliche Akzeleration in den 1980er Jahren zu beobachten ist, um die Deregulation der keynesianisch orientierten, neokorporativen Integration von Politik und Wirtschaft hin zu einem ökonomistisch argumentierenden Antietatismus im Steuer- und Standortwettbewerb und in diesem Kontext um die Deregulation der Medien von ihren politischen und sozialen Bindungen. Dieser Prozess hat die Erosion der traditionalen Parteimilieus (Sarcinelli/Wissel 1998: 408-427; Schenk 1998: 387-407) in der programmatischen Annäherung der Volksparteien im Zeichen des globalen Dualismus9 des Kalten Krieges zur Voraussetzung und führt zur Entbettung der Medienorganisationen, das heißt zur sozialen und ökonomische Ablösung der Medien von ihren herkömmlichen, sozialräumlich und -moralisch gebundenen Trägern (Parteien, Verbände, Kirchen), zur Abkoppe-
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lung des Verlagswesens von den sozialmoralisch verankerten Netzwerken einer städtisch-bürgerlichen Elite, zur Umstellung familien- und sozialräumlich gebundener Kapitalversorgung privatrechtlicher Medienunternehmen auf beliebiges Investitionskapital mitsamt den damit verbundenen Konzentrationsprozessen (Jarren 1994: 23-34; Jarren 2001: 10-19; Münch 1995; Donges/Imhof 2001: 101-133; Siegert 2003: 20-30.). Systemtheoretisch lässt sich dieser Vorgang wie folgt beschreiben: •
als Ausdifferenzierung eines eigenlogischen Mediensystems und als Orientierung der Medien an der Marktlogik;10
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als Ablösung des Staatsbürgerpublikums durch ein Publikum von Medienkonsumenten, um das auf der Basis von funktional, stratifikatorisch und segmentär differenzierenden Zielgruppenkonzeptionen geworben wird;
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als Entflechtung der medial erschlossenen Räume von den politischen Geltungsräumen;
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als Durchdringung der öffentlichen Kommunikation durch neue Selektions-, Interpretations- und Inszenierungslogiken.11
Dieser, neben der Erosion der neokorporativen Interdependenzen von Politik und Wirtschaft, wichtigste Deregulationsvorgang im neoliberalen Wirtschaftsund Gesellschaftsmodell produzierte neue Medienorganisationen. Diese werden zu Dienstleistungsunternehmen mit beliebiger Kapitalversorgung und hohen Renditeerwartungen (Picard 2001: 65-69). Dadurch unterliegen sie einem raschen technischen Wandel, der sie durch die Nutzung der Konvergenzpotentiale der Massen- und Individualkommunikation in den ‚Cyberspace‘ hineinführt, und sie werden ideologisch offener und flexibler (Kepplinger 1992). Sie generieren ihr eigenes Publikum und orientieren ihre Selektions-, Interpretations- und Inszenierungslogiken über trial und error, angewandte Publikumsforschung und an dessen Aufmerksamkeitsbedürfnissen. Sie generieren ihre eigenen Produkte und Inhalte auf der Basis von Zielgruppenkonzeptionen (Hasebrink 1997: 262-280; Siegert 1998: 48-58); sie kreieren eine eigene Zeit, indem sie sich am wettbewerbsbedingten Aktualitätstempus orientieren (Sarcinelli 1994: 35-50; Saxer 1998: 21-63); und sie vernetzen Metropolen und erschließen kommunikativ neue Regionen. Im Zuge dieser sozialen und ökonomischen Autonomisierung unterliegen die Medienorganisationen einem raschen Wachstums- und Konzentrationsprozess (Knoche 1997: 123-158; Müller-Doohm 1998: 471-486). Die sozialräumliche Gliederung dieser Informationsökonomie folgt einem Transnationalisierungspfad (Gerhards/Rössel 1999: 325-344; Meier/Trappel 2005), der städtische Zentren unter sich und mit ihren Regionen neu verknüpft, das heißt neue Sozialräume generiert und die territorial gebundenen
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politischen Institutionen einem Wettbewerb um Steuervorteile und Infrastrukturbedingungen aussetzt (Schwengel 1997: 663-678; Heinrich/Lobigs 2006; Siegert/Meier/Trappel 2005: 469-494). Bereits diese stark auf die Interdependenzen von Politik, Medien und Wirtschaft beruhende Beschreibung des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit, zeigt noch ohne Rekurs auf die Rezeptionsebene, dass die funktionale Ausdifferenzierung des Mediensystems auch stratifikatorische und segmentäre Differenzierungseffekte zeitigt. Die aufgrund der Funktionen öffentlicher Kommunikation gesellschaftspolitisch wichtigsten Effekte dieses neuen Strukturwandels im deregulierten Dreieck Politik, Medien und Ökonomie ergeben sich über die Veränderungen der öffentlichen Kommunikation. Auf dieser Basis lässt sich nun abschließend ein Begriff der Medialisierung erarbeiten, der Anschluss an die sozialtheoretische Zeitdiagnostik findet (vgl. ausführlich Imhof 2006b: 191-215): •
Medialisierungseffekte in der Dimension funktionaler Differenzierung: Die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Mediensystems verändert die kommunikative Infrastruktur grundlegend, führt zu neuen ‚entbetteten‘ Medienorganisationen (Giddens 1992), neuen und gleichartigen Selektions-, Interpretations- und Inszenierungslogiken, einem Siegeszug der Visualität und des Narrativen, einer ausgeprägten Exekutivorientierung und einer massiven Zunahme der Skandalisierungskommunikation. Dieser Prozess führt zu neuen Interdependenzen zwischen den zentralen Teilsystemen und deren Organisationen und hat organisationsinterne Ausdifferenzierungen und Rollenanpassungen zur Folge, weil die Parteien, parlamentarischen Fraktionen und Verbände mit ihren direkten Vermittlungsorganen auch ihre eigenen Publikumssegmente verlieren, während Regierung und Behörden mit einer Medienarena konfrontiert werden, die sich den Agenden der politischen Willensbildung und Entscheidung höchst selektiv annimmt, diese Agenden im Rahmen von Kampagnenjournalismus medienplebiszitär beeinflusst und die, die auf Koordinations- und Verfahrensprozesse geeichte Politik, unter ‚Reaktionsstress‘ gegenüber dem medialen Aktualitätstempus setzt. Gleichzeitig verliert der hergebrachte Verlautbarungsjournalismus gegenüber der Ökonomie an Bedeutung, bzw. die Wirtschaftsberichterstattung gleicht sich den Selektions- und Interpretationslogiken der politischen Berichterstattung an. Insgesamt bedeutet dies eine Neukonstitution des primären Mediums der Steuerung und Integration moderner Gesellschaften: der öffentlichen Kommunikation.
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Medialisierungseffekte in der Dimension stratifikatorischer Differenzierung: Hierzu zählen die Folgen der nationalen und internationalen
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Konzentrationsprozesse im Medienwesen (Trappel/Meier/Schrape/Wölk 2002; Siegert 2003: 228-244), die weltweite Hierarchisierung der Leitmedien insbesondere bei Schlüsselkommunikationsereignissen, die Adaptionen des Politischen an plebiszitäre Medienmacht, die Ablösung klassischer Sozialisationsagenturen durch lebensstilgruppen- und szenespezifische Medien (Giddens 1991; Schulze 1993; Winter/Thomas/Hepp 2003; McQuail 2000: 72) und die Akzentuierung der Ungleichheitsrelationen durch die Differenzierung des Medienangebots und der Mediennutzung gemäß unterschiedlichem ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital (Knowledge Gap bzw. Digital Divide, Kultivierungsanalyse, Media Malaise) (Bonfadelli 1994; Bonfadelli 2002: 65-84; Viswanath/Finnegan 1996: 187-227; Wirth 1997; Norris 2001; Marr 2004: 76-94). Dieser Prozess wird durch eine migrationsbedingte Unterschichtung aus Immigrantenpopulationen ohne oder mit reduzierten politischen Rechten und Kommunikationsfähigkeiten bei deutlich intensivierter Versorgung durch ‚Herkunftsmedien‘ verstärkt. Zusätzlich sind an den Rändern der Zentrumsgesellschaften insbesondere in den Jugendkulturen der Banlieus neue, eigenständige und abgeschottete Kommunikationsarenen und sekundäre Desintegrationsprozesse beobachtbar, die zu einer nachhaltigen Reduktion der Chancengleichheit führen. Dies bedeutet unterschiedliche Zugangschancen zur politischen Öffentlichkeit und damit verbundene Wissens- und Partizipationsklüfte. •
Medialisierungseffekte in der Dimension segmentärer Differenzierung: Beobachtbar ist die äußere und innere Tangierung des nationalstaatlichen Ordnungsprinzips in Gestalt einer Entschränkung von politischem Geltungsbereich und medial erschlossenen Räumen. Dies gilt zunächst auf nationalstaatlicher Ebene, schafft ‚entöffentlichte‘ politische Institutionen in ökonomisch ertragsschwachen lokalen Räumen und kreiert – gemäß Absatzkriterien – medial neu erschlossene Räume ohne Bezug zu (föderalen und nationalen) politischen Geltungsbereichen. Auf europäischer Ebene verhält es sich umgekehrt: Die politischen Institutionen der Europäischen Union sind in der medienvermittelten Kommunikation nur das Kaleidoskop nationalstaatlicher Bezüge. Auf internationaler Ebene etablieren sich besonders im Kontext der ökonomischen Globalisierung neue politische Institutionen ohne politische Öffentlichkeit (neue geheime Kabinettspolitik). Die demokratienotwendige Verschränkung von politischem Geltungsbereich und Öffentlichkeit findet nicht statt, die Öffentlichkeit wächst der Globalisierung von Ökonomie und Politik nicht nach. Diese Entkoppelung von Politik und Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb des nationalstaatlichen Ordnungsrahmens widerspricht der notwendigen Bedingung für die Konstitution und Reproduktion eines (immer mehrschichtigen) Gemein-
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Kurt Imhof samkeitsglaubens, der für die Akzeptanz von Mehrheits- und Minderheitenentscheiden und Umverteilungen Voraussetzung ist. Außerdem haben wir es mit einer migrationsbedingten Segmentierung der Öffentlichkeit entlang ethnisch-religiöser Zugehörigkeiten und Herkunftsbezügen zu tun (Heitmeyer/Müller/Schröder 1997; Hoffmann-Nowotny 2001; MeierBraun/Kilgus 2002).
Solche Einsichten in den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit bedürfen der nachhaltigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse im Licht der Basisnormen der Moderne und der daraus entstammenden Funktionen demokratischer Selbstbestimmung. Dies bedeutet, die genannten Medialisierungseffekte in der funktionalen, stratifikatorischen und segmentären Dimension hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die deliberative, die politisch-rechtliche und die sozialintegrative Funktion öffentlicher Kommunikation zu untersuchen. Evident ist, dass die Medialisierungseffekte in der funktionalen Dimension, die Volatilität von Politik und Ökonomie auf Kosten der deliberativen Qualität ebenso erhöht haben, wie die wechselseitigen Instrumentalisierungsformen von Politik, Wirtschaft und Medien. Deutlich zugenommen haben auch Charisma-Phänomene, die Resonanz der Exekutive und die Resonanz nicht-etablierter Akteure in Gestalt von Bewegungs- und Protestparteien. In stratifikatorischer Hinsicht verweist letzteres in Gestalt rechtskonservativer Protestakteure oder Legas wie etwa in Italien, Österreich, Frankreich, Holland, der Schweiz oder Belgien auf eine erhöhte Osmotik der politischen Öffentlichkeit gegenüber politischen Akteuren, die tiefere Bildungsschichten ansprechen und mobilisieren können. Gleichzeitig hat die stratifikatorische Differenzierung hinsichtlich der Mediennutzung und des Medienzugangs zugenommen und Unterschichtungsphänomene mitsamt stratifizierter Mediennutzung sind beobachtbar. In segmentärer Hinsicht schwindet die Kompatibilität von politischen Geltungsräumen und medial erschlossenen Räumen und die Segmentierung politisch ohnehin ausgeschlossener Immigrantenpopulationen wird durch Herkunftsmedien deutlich verstärkt. Damit haben die westlichen Zentrumsgesellschaften deliberative, politisch-rechtliche und sozialintegrative Probleme sozialer Ordnung. Während die generelle, allzu oft bloß kulturpessimistische Klage über den Schwund der deliberativen Qualität medienvermittelter Kommunikation selbst öffentliche Resonanz findet und – allerdings noch differenzierungsfähige – Debatten auslöst, sind insbesondere die Medialisierungseffekte in stratifikatorischer und segmentärer Hinsicht deutlich unterbelichtet. Dies gilt allerdings auch für die sozialwissenschaftliche Forschung. Solange aber die Sozialwissenschaften solche Lücken füllen, verstehen sie sich als Aufklärungswissenschaft und kommen ihrer kognitiven Funktion nach. Eine solche Erkenntnisproduktion trägt zum
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reflexiven Wissen der modernen Gesellschaft bei und befördert – unter welch beschränkten Resonanzchancen in der politischen Kommunikation auch immer – Debatten, die dazu beitragen, die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung zu erhalten.
Anmerkungen 1
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Deliberative Dimension: Entdeckungs- und Validierungszusammenhang von Problematisierungen, die einer allgemeinverbindlichen Bearbeitung bedürfen, rationale Willens- und legitime Entscheidungsfindungsprozesse. Politisch-rechtliche Dimension: Legitimation politischer Macht, verfahrensregulierte politische Entscheidungsfindung und (historisch variable) territoriale Geltungsbereiche. Sozialintegrative Dimension: Konstitution des Souveräns und Sicherung der demokratienotwendigen Loyalitätsdispositionen. Vgl. Imhof (2007): Kap. 1. Die normative Basis der modernen Gesellschaft, die Menschen- und Bürgerrechte, sind empririsch erfassbare „faites sociaux“, die die Grundlage der modernen Gesellschaft bilden und eine lange Pfadabhängigkeit generierten, die nur in den totalitären Perioden der Moderne unterbrochen wurden. Mit dieser theoretischen und empirischen Berücksichtigung der Normen und Werte, die der Gesellschaft bereits vor ihrer Analyse eingeschrieben sind, wird der falsche Pfad einer um normfreie Begriffe ringenden sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalytik (insbesondere im Strukturfunktionalismus und in der neuen Systemtheorie) vermieden. Wenn Normen und Werte elementare Bestandteile des Sozialen sind, dann verbietet sich eine Analytik, die entweder über Begriffe wie Gleichgewichtsstreben oder Grenzerhaltung, das Normative extrahiert, oder eine Strategie, die das Normative sekundär von außen an soziale Phänomene heranträgt. Dagegen ist eine Gesellschaftsanlaytik zu setzen, die die der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit bereits schon inhärenten Normen und Werte in ihren Geltungsansprüchen berücksichtigt. Kommunikationsereignisse sind die Sinneinheiten, auf die wir uns beziehen, wenn wir auf die öffentliche Kommunikation rekurrieren. Sie fokussieren die Aufmerksamkeit und bilden im Aggregat die Aufmerksamkeitsstrukturen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Kommunikationsereignisse lassen sich durch ihren Aktualitätsbezug auszeichnen. Vgl. Imhof 1993: 11-60; Eisenegger 2003: 167-196. Zu diesem Konzept diskontinuierlichen sozialen Wandels vgl. Imhof 2006a, 2007; Arendt 1974 [1958]; Imhof 1990: 55-90. Zu einer frühen Unterscheidung von „aktiver“ und „passiver“ Öffentlichkeit vgl. Dahrendorf 1969. Auf dieser Basis sind Reflexionen über die Rückkoppelung des politischen Systems an ‚zivilgesellschaftliche‘ Meinungsbildungsprozesse und über die Bedingungen und Formen einer deliberationsorientierten Regulierung des Mediensystems notwendig. Vgl. hierzu: Imhof/Jarren/Blum 1999; Jarren/Donges 2000; Donges 2002: 336-346; Weiss/Bleicher 2005. Bezogen auf ein föderales politisches Gemeinwesen und die entsprechende Öffentlichkeit, bzw. auf den Nationalstaat und die entsprechende Öffentlichkeit, bzw. auf ein transnationales politisches System und die entsprechende transnationale Öffentlichkeit. Überblicksliteratur: Szyszka 1999; Arlt 1998; Röttger 2003: 26-52.
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Vgl. Imhof/Blum/Bonfadelli/Jarren 2004; Imhof 2005: 203-221; Donsbach/Jarren/Kepplinger/Pfetsch 1993; Jarren/Hasebrink 1994; Jarren/Schatz/Weßler 1996; Imhof/Schulz, 1996; Jarren/Sarcinelli/Saxer 1998; Sarcinelli 1998; Imhof/Jarren/Blum 1999; Jarren/Imhof/Blum 2000; Soeffner/Tänzler 2002. 9 Zur Bedeutung des Ost-West-Dualismus im sozialmarktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodell vgl. Imhof/Kleger/Romano 1996; Imhof/Kleger/Romano 1999. 10 In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur lässt sich besonders im Rahmen systemtheoretischer Theoriekonzeptionen [Marcinkowski 1993; Marcinkowski 2000: 49-73; Luhmann 1990: 170-182; Luhmann 1996] theoriekonsistent eine Tendenz erkennen, neben dem Ausdifferenzierungsprozess des Mediensystems aus dem politischen System den korrelativen Entdifferenzierungsprozess, welcher die Medien der ökonomischen Marktlogik unterwirft, zu übersehen. In diesem Sinne ist auch der Begriff des Mediensystems als „intermediäres System“ bei Gerhards/Neidhardt einseitig durch die Vorstellung der Entkoppelung der Medien vom politischen System geprägt. Vgl. Gerhards/Neidhardt 1990: 90-101. 11 In empirischen Analysen von Prozessen demokratischer Entscheidungsfindung ist ersichtlich, dass die Medienorganisationen im neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit den politischen Kampagnenjournalismus im Aufmerksamkeitswettbewerb soweit entwickelt haben, dass Medienorganisationen selbst in der Lage sind einen plebiszitären Druck auf das politische System auszuüben. Dies wird erleichtert durch das Faktum, dass etablierte politische Akteure das plebiszitäre Potential der Medien nutzen, um das Parlament von außen zu beeinflussen. Vgl. zur diachronen Analyse politischer Entscheidungsfindungsprozesse im aktivierten wie passiven Modus: Kamber/Imhof 2004: 10-18. 8
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Feministische Theorie in der Kommunikationswissenschaft Johanne Dorer & Elisabeth Klaus
1 Einleitung Wohl wenige Theorien haben innerhalb kurzer Zeit in sämtlichen Disziplinen eine derartige Verbreitung gefunden wie die feministische Theorie. Daher ist Benhabibs (1993: 9) Diagnose, sie zu den bedeutendsten und avanciertesten Denkströmungen der heutigen intellektuellen und universitären Kultur der westlichen Demokratien zu zählen, unwidersprochen zuzustimmen. Dass wir heute auf eine vielfältige, stark ausdifferenzierte feministische Medienforschung bzw. kommunikationswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung1 blicken können, hat mit dieser enormen Bedeutung der feministischen Denkströmung zu tun. Es hat aber auch mit dem, die feministische Theorieentwicklung stets begleitenden, starken selbstreflexiven Moment zu tun, das die verschiedenen Disziplinen vor neue Herausforderungen stellte. Gerade der im Folgenden näher ausgeführte Paradigmenwechsel, der eine de-/konstruktivistische Wende in der feministischen Theoriebildung einleitete, führte auch zu einer bis heute anhaltenden wissenschaftstheoretischen Diskussion, zu einer Kritik und Reformulierung theoretischer Ansätze sowie zu verschiedenen Versuchen der Systematisierung der feministischen Medienforschung. Angesichts der Breite des zu behandelnden Themas und dem hier nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raum haben wir uns entschlossen, unseren Schwerpunkt vor allem auf jene neuesten Strömungen der feministischen Theorieentwicklung zu legen, die seit der de-/konstruktivistischen Wende heute diskutiert werden.2 Damit sollen die vorgestellten, aktuellen Konzepte feministischer Theoriebildung, bereits in Ansätzen in der Kommunikationswissenschaft aufgegriffen, zukünftige Wege für die feministische Medienforschung aufzeigen.3
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In einem zweiten Teil, in dem wir auf die Anwendung der feministischen Theorie in der Kommunikationswissenschaft eingehen, möchten wir am Beispiel der JournalistInnenforschung nachzeichnen, wie sich die de-/konstruktivistische Wende auf die Fragestellungen, das Forschungsdesign und die Ergebnisse in der feministischen Medienforschung ausgewirkt hat.
2 Feministische Theorie Feministische Medienforschung bedient sich unterschiedlicher feministischer Theoriezugänge. Es handelt sich dabei also nicht um ein einheitliches, in sich abgeschlossenes Theorieprojekt, sondern um eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Denkmöglichkeiten, um einen vielstimmigen, aber auch kontroversen Diskurs, der sich im Laufe der Erforschung zunehmend weiterentwickelt, verändert und ausdifferenziert hat.4 Typisch für die feministische Theorie ist dabei ihre Bereitschaft, unorthodoxe Denkwege einzuschlagen, sowie eine kritische und kreative Aneignung und Verknüpfung verschiedener Theorie- und Erkenntnistraditionen vorzunehmen. Feministische Theorie ist nach Nagl-Docekal (1999: 8f) und Ernst (1999: 32) nicht über einen gemeinsamen Gegenstandsbereich „Frau“ oder „Geschlecht“ zu bestimmen, sondern basiert auf einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse, das die Produktion von Wissen zur Aufdeckung und Transformation von epistemischen und sozialen Geschlechterhierarchien umfasst. Feministische Theorie ist also keine Theorie des Geschlechts, sondern lässt sich nur über eine bestimmte Erkenntnisperspektive definieren, die Asymmetrien der gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktion in den Blick nimmt. Feministische Theorie und Forschung hat sich dabei immer einer doppelten Herausforderung zu stellen: Einerseits geht es um die Entwicklung theoretischer Konzepte und Modelle zur Analyse hierarchischer Geschlechterverhältnisse und -zuschreibungen, andererseits um die Entwicklung politischer Strategien zur Beseitigung gesellschaftlicher Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts. Nach Ernst (1999: 32) führen die vielfältigen Verknüpfungen von Geschlechterhierarchien mit anderen sozialen Hierarchien (wie etwa „Rasse“, Klasse, Ethnizität, Alter etc.) dazu, dass epistemische, politische und moralische Prozesse für die Einzelnen jeweils unterschiedlich gestaltet sind und damit Prozesse der Emanzipation immer sowohl individuell als auch kollektiv zu analysieren sind. Obgleich die feministische Theorie ein heterogenes, von Widersprüchen, Dissonanzen und Divergenzen gekennzeichnetes Denkgebäude darstellt, ist die Bezeichnung im Singular sinnvoll. Denn die additive Vervielfältigung feministi-
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scher Theorien birgt nach Hark (2001b: 11) immer die Gefahr einer Hierarchisierung entlang hegemonialer Machtrelationen in sich (z. B. westliche feministische Theorieansätze als zentrale, nicht-westliche als periphere). Allein durch die Verwendung des Plurals könne die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze keineswegs hinreichend bezeichnet werden. Den unterschiedlichen feministischen Theoriezugängen ist aber Folgendes gemeinsam (Angerer/Dorer 1994a: 12, Hark 2001b: 9ff): •
Feministische Theorie versteht sich nicht nur als Geschlechterkritik, sondern auch als Gesellschafts- und Wissenschaftskritik.
•
Auch die eigene Theoriebildung erfolgt als kritische Reflexion des gewählten Standpunkts, so dass es zu Reformulierungen feministischer Basiskategorien und Theorieansätze kommt.
•
Interdisziplinarität in den theoretischen Zugängen und empirischen Methoden ist unabdingbare Voraussetzung feministischer Erkenntnis.
•
Die Geschlechter-Ideologie betrifft und hierarchisiert alle gesellschaftlichen Bereiche und ist mit anderen Kategorien wie Klasse, „Rasse“, Ethnizität und Begehren/sexuelle Orientierung verschränkt.
•
Feministische Theorie ist nicht auf eine erkenntnistheoretische Ebene beschränkt, sondern inkludiert immer auch die Überwindung gesellschaftlicher Geschlechterhierarchien, also die Umsetzung in die politische Praxis.
2.1
Entwicklung
Spätestens seit den 1980er Jahren rücken in der feministischen Theoriebildung neue erkenntnistheoretische Fragestellungen in den Vordergrund. Gingen feministische Wissenschaftlerinnen zuvor davon aus, dass Erkenntnissubjekt und Erkenntnisprozess voneinander abhängig sind und Erkenntnis auf theoretisierter Erfahrung beruht – was bis dahin als Prämisse der Standpunkttheorie galt – so bringen Poststrukturalismus und Postmoderne einen Denkansatz ein, der das Subjekt als Effekt gesellschaftlicher Diskurse konzipiert. Demnach sind weder Erkenntnis noch Wahrheit länger als Grundlagen wissenschaftlichen Wissens anzusehen, sondern ausschließlich Machtkonstellationen, die wissenschaftliches Wissen erst hervorbringen. Neben einer Neukonzeption des Subjekts, waren es aber auch die Kritik der Schwarzen Frauen, der Frauen im Trikont und der lesbischen Frauen sowie postkoloniale Theorie und Queer Theory, die ein Kollektivsubjekt Frauen, ein gemeinsames Wir, in Frage stellten. Kritisch hinterfragt
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wird damit die standpunkttheoretische Basis feministischer Forschung, nämlich dass Frauen auf Grund gesellschaftlicher Entwicklung und historischer Erfahrung einen anderen Standort des Denkens und der Erkenntnis einbringen würden als Männer und die so postulierte Rationalität und Objektivität lediglich eine aus männlicher Erfahrung gewonnene Subjektivität wäre. (Angerer/Dorer 1994a: 13ff) Mit der epistemologischen Debatte, bei der Standpunkttheorien einerseits, Postmoderne und poststrukturalistische Theorien andererseits gegenübergestellt wurden, ging gleichzeitig eine Neuorientierung der Women’s Studies in Richtung Gender Studies einher. Waren in der Frauenforschung vor allem der Ausschluss von Frauen, das Männliche als die gesellschaftliche Norm, Gleichheit versus Differenz die bestimmenden Themen, so verlagerte sich die feministische Debatte in der Genderforschung auf die Frage, wie Geschlecht individuell, strukturell und symbolisch in einer Gesellschaft hergestellt und aufrechterhalten wird.5 Diese Entwicklung findet in den drei Ansätzen Gleichheitsansatz, Differenzansatz, De-/Konstruktion ihre systematisierende Entsprechung. In der Folge führte diese erkenntnistheoretische Diskussion zu einer Neuorientierung in der feministischen Theoriebildung, wie wir sie im Folgenden überblicksartig darstellen möchten. Einerseits erfuhr die Standpunkttheorie eine Reformulierung und Neukonzeption, andererseits differenzierte sich die poststrukturalistische und konstruktivistische feministische Debatte aus.
2.2
Paradigmenwechsel: die de-/konstruktivistische Wende
Die vielfältigen neuen Denkansätze in der feministischen Theorie führten schließlich zu einem Paradigmenwechsel. Angelpunkt dabei ist eine de-/konstruktivistische Konzeption von Geschlecht. Das bedeutet, dass nun davon ausgegangen wird, dass der Geschlechterdualismus ein Ergebnis sozialer und historischer Prozesse darstellt und die Geschlechterdifferenz somit ein sozio-kulturelles Konstrukt und nicht ein Effekt eines natürlichen Unterschieds ist. Ebenso wie das soziale Geschlecht (Gender) wird auch das biologische Geschlecht (sex) als sozial konstruiert aufgefasst. Natur und Kultur, Sex und Gender werden in der sozialen Praxis erst hervorgebracht und sind nicht etwas vorab natürlich Gegebenes. Geschlechterdifferenzen werden in einem komplexen sozialen Prozess von Handlungen, Fremd- und Selbstpositionierungen, Bedeutungszuschreibungen und Legitimierungen erst konstituiert, erst dann erfolgt die Verankerung in der sozialen Realität als natürlich erscheinende Differenz. Diese anti-essentialistische Konzeption von Geschlecht hat die Trennung
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von biologischem und sozialem Geschlecht im sex/gender-Modell hinterfragt und aufgehoben (vgl. Goffman 1977; Haraway 1985; Laclau/Mouffe 1985; Lauretis 1987; West/Zimmermann 1987). Mit der de-/konstruktivistischen Wende rücken neue Fragestellungen in den Vordergrund: Zum einen geht es um Fragen, wie Geschlecht immer wieder neu hergestellt wird und welche Mechanismen, Bedeutungen und Effekte sich erkennen lassen. Andererseits geht es um die Infragestellung des Systems heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit insgesamt, das heißt um die Frage, wie Geschlecht, Identität, Sexualität und Psyche als eine die symbolische Ordnung generierende „heterosexuelle Matrix“ (Butler 1995; 2001) eine derart umfassende Wirkmächtigkeit entfalten können und damit zusammenhängend, wie diese Heteronormativität nun auch verändert werden kann. Der Paradigmenwechsel führte zu einer Reihe unterschiedlicher Strömungen in der feministischen Theoriebildung. Gemeinsam ist den de-/konstruktivistischen Ansätzen nach Pühl et al. (2004: 20-22): •
erstens die anti-essentialistische Auffassung von Geschlecht,
•
zweitens eine Radikalisierung der Subjektkritik und eine Neukonzeption von Subjekt und Subjektivität, sowie
•
drittens eine veränderte Auffassung zum Verhältnis von Subjekt und Politik.
Außer Zweifel steht von nun an, dass ein Verständnis von Geschlecht als Konstruktion Basis jeglicher feministischer Theoriebildung und Forschung ist. Gleichzeitig kann aber von einem einheitlichen konstruktivistischen Verständnis nicht gesprochen werden. Mit der Konstruktionsthese sind also recht unterschiedliche Positionen verbunden, die grob gesprochen in folgende drei Strömungen unterteilt werden können: Zu unterscheiden sind zum einen die sozialkonstruktivistischen und ethnomethodologischen Ansätze, zum zweiten die poststrukturalistischen Ansätze und zum dritten erkenntnistheoretische Positionen.6
Sozialkonstruktivistische und ethnomethodologische Ansätze Diese Ansätze gehen davon aus, dass die Herstellung von Geschlecht als situationsabhängiges, meist unbewusstes Alltagshandeln vonstatten geht. Geschlecht und Geschlechterunterscheidung sind damit Effekte sozialer Interaktionen, Effekte eines unablässigen „Doing Gender“. Der Prozess des „Doing Gender“
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verläuft dabei auf der Ebene der Darstellung und Handlung. Alltägliche Gewohnheiten und Routinen sowie selbstverständliche soziale Praktiken, die die Geschlechterdifferenz erst hervorbringt, sind dabei Gegenstand feministischer Analysen. Die mikrosoziologischen Ansätze des „Doing Gender“ untersuchen vor allem, wie Konstruktionsprozesse von Geschlecht in der alltäglichen Praxis funktionieren. Während sich ethnomethodologische Ansätze auf den empirischen Nachweis der Konstruktion von Geschlecht konzentrieren, setzen sozialkonstruktivistische Studien die Konstruiertheit von Geschlecht theoretisch voraus. Nachteil dieser mikrosoziologischen Analysen ist, dass damit strukturelle Asymmetrien und die Stabilität des Systems der Zweigeschlechtlichkeit meist nicht erklärt werden können, da sich die Forschung stärker auf den individuellen Interaktionsprozess konzentriert und weniger auf die Effekte des „Doing Gender“.7 Ausgangspunkt für eine mikrosoziologische Betrachtung von Geschlecht waren ursprünglich ethnologische Studien, Studien über Transsexualität sowie der symbolische Interaktionismus. Der Beginn dieser Forschungsrichtung ist eng mit den Arbeiten von Goffman (1977) und Garfinkel (1967) verbunden. Die aktuelle Debatte dieser Ansätze in der feministischen Theoriebildung kreist heute um die Frage, wie neben der Mikroanalyse wieder verstärkt strukturelle und institutionelle Reproduktionsmechanismen von Differenz in den Blick genommen werden könnten. (Wetterer 2004b). Nach Maihofer (2004: 34ff) liefert Goffman mit seiner Konzeption von „institutionellen Genderismen“ selbst eine gute Erklärung dafür, wie strukturelle und individuelle Mechanismen auf komplizierte Weise ineinander greifen. Durch eine Re-Lektüre dieser Konzeption wäre damit auch eine sinnvolle Verbindung zwischen sozialkonstruktivistischen und diskurstheoretischen/poststrukturalistischen Positionen möglich. Auch der Begriff der Dekonstruktion wird in der sozialkonstruktiven Debatte unterschiedlich verwendet. Er bezeichnet zum einen das politische Komplement des konstruktivistischen Nachdenkens, zum anderen die Re-Konstruktion des Herstellungsmodus der Differenz. (Gildemeister/Wetterer 1992: 246, 249f; Wetterer 2004b: 59) Häufiger jedoch wird in mikrosoziologischen Ansätzen der Begriff Dekonstruktion mit Konstruktivismus oder Kritik gleichgesetzt.
Poststrukturalistische Ansätze Die zweite Denkrichtung des Poststrukturalismus vereint verschiedene Theorien und Konzepte, denen die Kritik am Strukturalismus gemeinsam ist, das heißt (sprachliche und gesellschaftliche) Strukturen werden nicht mehr als fix Vorge-
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gebenes, als geschlossene, statische Totalität verstanden, sondern als dynamische Prozesse der Bedeutungskonstruktion interpretiert. Eine feministische Neuinterpretation und Weiterentwicklung erfolgt dabei im Rahmen poststrukturalistischer Ansätze v.a. von Jacques Derridas Sprachphilosophie und Dekonstruktivismus, der Diskursanalyse Michel Foucaults und der Neopsychoanalyse nach Jacques Lacan. Ausgangspunkt dieser Ansätze ist, dass Sprache nicht Realität ausdrückt, sondern Bedeutungen erst hervorbringt. Das System der Sprache ist damit der Ort und der Modus, an dem bzw. wie mittels Bedeutungszuweisungen und Bezeichnungspraxen in einem kontinuierlichen Prozess Realität konstituiert wird. Männlichkeit und Weiblichkeit sind demnach keine fixierbaren Identitäten, sondern durch Sprache konstituierte Bedeutungsfelder. Zum „linguistic turn“ liefert nun die Diskursanalyse den gesellschaftstheoretischen Rahmen, wie Subjektkonstitution und symbolische Ordnung ineinander greifen und Effekte der Normalisierung und Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit (re)produzieren, während die Neopsychoanalyse den Aspekt der Internalisierung der diskursiven Norm durch die Psyche fokussiert. Geschlecht wird nun als diskursive Konstruktion gefasst, das heißt als Effekt gesellschaftlicher Diskurse. Als entscheidende Kraft zur Konstituierung und Veränderung von Diskursen gilt dabei die Verbindung von Wissen und Macht.8 Im poststrukturalistischen Kontext erhält der Begriff Dekonstruktion auch eine andere Bedeutung als in der sozialkonstruktivistischen Debatte. Der Begriff geht auf Jacques Derrida zurück, der damit ein Verfahren in drei Schritten bezeichnet: Rekonstruktion, kritische Zerlegung und Neuformulierung (Neukonstruktion) von Begriffen, Symbolen, Metaphern, Texten oder Diskursen. Feministische Dekonstruktion meint nun ein kritisches Lektüreverfahren, bei dem es darum geht, natürlich erscheinende Dualismen, gesellschaftliche Artikulationen9 und Fixierungen kritisch zu hinterfragen, zu zerlegen, die Grenzen, das Undarstellbare und Unsagbare der diskursiven Formation sichtbar zu machen, um sodann die dekonstruierten Elemente neu zusammenzusetzen. Das dekonstruktivistische Verfahren inkludiert dabei die selbstkritische Reflexion des eigenen Standpunkts, ist doch auch bei diesem Verfahren von einer diskursiv produzierten Wissensposition auszugehen. Die kritische Weiterentwicklung und unterschiedliche Schwerpunktsetzung poststrukturalistischer Zugänge führte zu unterschiedlichen, zum Teil sich überschneidenden, neuen feministischen Theorieansätzen und Konzepten wie im folgenden ausgeführt werden soll: Am bekanntesten sind die Arbeiten von Judith Butler geworden, die in einer (hybriden) Verbindung der Foucault’schen Diskursanalyse mit sprachtheoretischen Ansätzen (Derrida, Austin u. a.) die Dekonstruktion des sex/gender-Systems sowie eine erst später von den Queer Studies aufgegriffene Kritik der Hete-
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ronormativität (Konzept der heterosexuellen Matrix) formulierte. Mit dem Konzept der Performativität entwickelte sie eine Erklärung für die Aufrechterhaltung und Verfestigung der Geschlechterordnung sowie für die Potenziale ihrer Veränderbarkeit. Performativität bedeutet dabei, dass durch konkretes Handeln (performative Akte) die alltägliche Wiederholung der hegemonialen Norm der Zweigeschlechtlichkeit erfolgt. In der ständigen Wiederholung und Reinszenierung der Norm wird (Geschlechter-)Identität erst hervorgebracht. Im zwangsweisen Zitieren (Wiederholen) der Norm liegt nach Butler aber auch das Veränderungspotential, da dabei – etwa durch eine neue Kontextualisierung – Bedeutungsverschiebungen oder Umdeutungen sprachlicher Äußerungen vorgenommen werden können. (Butler 1995; 1998) Eine Weiterentwicklung der Foucault’schen Diskursanalyse und seines Konzeptes der „Selbstdisziplinierung“ erfolgte unter Rekurs auf Lacans neopsychoanalytische Subjekttheorie. Butlers Theorie der Subjektformation zielt auf die Frage, wie die (Regulierungs-)Macht funktioniert, so dass es zu einer psychischen Einverleibung der Norm kommt (Butler 2001). Eine hegemonietheoretische Position wurde vor allem durch Chantal Mouffe (Laclau/Mouffe 1991[1985]) entwickelt. Unter Rekurs auf die Foucault’sche Diskursanalyse, neomarxistische und hegemonietheoretische Ansätze (insbes. nach Antonio Gramsci), versteht Mouffe die Dekonstruktion eines essentialistischen (und damit auch politisch-feministischen) Subjekts gerade als notwendige Bedingung für feministisches Handeln, da erst so die „Möglichkeitsbedingungen für die Austragung einer ‚agonistischen’ Konfrontation zwischen in Konflikt getretenen Gesichtspunkten“ hergestellt werden können. (Mouffe 2001: 17) Ihr Konzept des Antagonismus geht davon aus, dass Gleichheit im Sinne von Äquivalenz nur als Anerkennung der Vielfältigkeit und Differenz zu betrachten ist.10 Der Dualismus von öffentlicher und privater Sphäre wäre nach Mouffe somit nicht aufzuheben, sondern zu dekonstruieren und neu zu artikulieren. Queer-theoretische Positionen kritisieren, beginnend in den 1980er Jahren, den gesellschaftlichen Heterozentrismus und Heterosexualität als System der Heteronormativität und Zwangssexualität.11 Im Zentrum der Kritik steht die Dekonstruktion der hetero/homo-Binarität und die Erweiterung der GenderKategorie um die Kategorie Sexualität bzw. Begehren. Demnach wird davon ausgegangen, dass eine heterosexuelle Matrix in gesellschaftlichen Formationen, Institutionen und Individuen wirksam ist, welche Ein- und Ausschlüsse produziert und als normative, nicht hinterfragte gesellschaftliche Vorgabe fungiert. Fokus der Queer Studies ist die Uneindeutigkeit von Geschlecht und deren gesellschaftliche Effekte. In der wissenschaftlichen Diskussion wurde die Queer Theory mit der von Teresa de Lauretis herausgegebenen Zeitschrift „differen-
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ces“ 1991 eingeführt. Die Queer Theory verbindet die Foucault´sche Diskursanalyse und die von Laclau und Mouffe entwickelte Hegemonietheorie mit sprachphilosophischen Positionen und postmodernen Identitätstheorien; sie ist vor allem mit den Arbeiten von Judith Butler, Sabine Hark (1999) und Antke Engel (2002) verbunden. Eine Weiterentwicklung feministischer Theorie erfolgte ebenso durch die postkoloniale Theorie.12 Hier sind v.a. zwei Richtungen von Bedeutung: Zum einen wird durch die Kritik Schwarzer und Farbiger Frauen am westlichen Feminismus nicht nur die Differenz zwischen Frauen, sondern auch die Thematisierung von Rassismus und weißem Feminismus in die Theoriediskussion eingebracht. Zum anderen werden im Rahmen der Globalisierung aller Bereiche koloniale und postkoloniale Effekte im Kontext von Geschlecht thematisiert, insbesondere auf der Ebene der globalen Ökonomie, der Sexualität, Repräsentation und des politischen Aktivismus. Themen sind etwa die Konstruktion und Bedeutung von ‚Weißsein‘, eine Redefinition der „Dritten-Welt-Frau“, die Kritik an der dualen Konstruktion „Dritte-Welt-Frau“ als Opfer und „emanzipierte westliche Frau“, Migration und Asylpolitik, Repräsentation von Migrantinnen etc. Gayatri Spivak (1988) entwickelte das Konzept der Subalternität, mit dem sie aufzeigt, wie subalterne (unterprivilegierte) bzw. (post)koloniale Subjekte diskursiv (z. B. durch ihre koloniale Geschichte) produziert und zum Schweigen gebracht und wie diese durch die Datenerfassung der globalen Institutionen (des Welthandels, der Weltpolitik, etc.) in hegemoniales Wissen transformiert werden und ihnen dadurch bestimmte Positionierungen vorgegeben werden. Die postkolonialen Studien führten dazu, dass Überschneidungen und das Zusammenwirken unterschiedlicher Kategorien wie Geschlecht, „Rasse“, Ethnizität, Klasse, Sexualität u. a. stärker in den Blick genommen wurden. Mit dem Konzept der Intersektionalität wird die Überlagerung, Überschneidung und Kreuzung unterschiedlicher Kategorien analysiert, wobei von einer gegenseitigen Konstituierung und Durchdringung von Subjekt und Struktur im Sinne einer diskursiven Produktion ausgegangen wird.
Erkenntnistheoretische Ansätze Die feministische Wissenschaftstheorie und -kritik (v.a. als Naturwissenschaftsund Technikkritik) entwickelte unterschiedliche erkenntnistheoretische Ansätze. Gemeinsam ist den Ansätzen nach Singer (2005: 28f), dass sie von der These der Situiertheit des Wissens ausgehen. Der von Sandra Harding und Donna Haraway eingeführte Begriff des „situierten Wissens“ bedeutet, dass wissen-
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schaftliches Wissen sowohl situiert, als auch kontextabhängig ist, weil Wissenssubjekte historisch, sozial, ökonomisch und kulturell verortet sind. Wissenschaftliches Wissen ist demnach als Ausdruck von Machtverhältnissen zu sehen. Im Rahmen der erkenntnistheoretischen Ansätze werden heute drei unterschiedliche Positionen diskutiert: Die feministische Standpunkttheorie, der feministische Empirismus und feministische postmoderne Ansätze. (Singer 2005: 36f; 163ff). Während der feministische Empirismus davon ausgeht, dass die empirische Evidenz Grundlage der Erkenntnis ist, problematisieren und radikalisieren postmoderne Ansätze13 vor allem die Konsequenzen des Konzepts des situierten Wissens. Denn, wenn immer nur von einem bestimmten Standpunkt aus gesprochen werden kann, stellt sich auch die Frage, wie dann Konzepte von Vernunft, Universalität, Objektivität, Wahrheit etc. zu denken sind. Die Standpunkttheorie wurde maßgeblich durch die poststrukturalistischen Ansätze, queere und postkoloniale Kritik weiterentwickelt. Nicht mehr die gemeinsame Erfahrung von Frauen steht im Mittelpunkt, sondern eine engagierte Position, die von marginalisierten Standpunkten (als Blick von unten) eingenommen wird. Für die neuen/reformulierten Standpunkttheorien ist nach Sandra Harding Marginalität zentral, das heißt nicht subjektive Erfahrung, sondern objektive Verortung sind Ausgangspunkt der Analyse. Objektive Verortung meint dabei eine kritische Position, denn kulturelle und soziale Verstrickungen in gesellschaftliche Verhältnisse müssen immer wieder kritisch reflektiert werden. (Singer 2005: 163-217).
3 Anwendung in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft Die rasche Entwicklung der feministischen Theoriebildung erforderte – und erfordert noch immer – ein doppeltes intellektuelles Engagement, nicht nur die aktuellen Theorieentwicklungen in der kommunikationswissenschaftlichen Main/Malestream-Forschung, sondern auch jene in der feministischen Theoriediskussion zu rezipieren und adäquat umzusetzen. Umso erstaunlicher ist deshalb, wie vielfältig und umfangreich sich die feministische Medienforschung insbesondere ab den 90er Jahren entwickelt, und nach und nach auch neueste Theorieansätze der feministischen Forschung aufgegriffen hat.
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3.1
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Entwicklung der kommunikationswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung
Die Herausbildung einer kommunikationswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat mit einer deutlichen Verzögerung zu den anglo-amerikanischen Feminist Media Studies statt gefunden. Dort entwickelten sich zunächst im Rahmen der Screentheorie Ansätze der Film- und Fernsehkritik, die eine umfassende Kritik der Medienproduktion erlaubte. Die deutschsprachige Forschung wurde von politischen Frauenverbänden und Netzwerken der Medienfrauen angestoßen, die Informationen über das von den Medien vermittelte Frauenbild, die Situation von Journalistinnen oder die Medieninteressen von Frauen suchten. Das Internationale Jahr der Frau 1975 war Anlass für zwei Studien, die sich mit der Darstellung von Frauen und Frauenthemen im deutschen Fernsehen (Küchenhoff u. a. 1975) und in den österreichischen Massenmedien (Fabris/Kreuzhuber 1976) beschäftigten. Ab 1980 erschienen dann jedes Jahr mindestens drei Buchpublikationen. Seit dieser Zeit gibt es eine kontinuierliche Forschungs- und Publikationstätigkeit. Entsprechend des ursprünglichen Forschungsinteresses standen dabei Fragen des Gleichheitsansatzes im Vordergrund, die seit Ende der 80er Jahre durch Studien in der Differenzperspektive ergänzt und erweitert wurden. Die späte Entwicklung der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung hatte zur Folge, dass auch der Paradigmenwechsel der feministischen Theorie von den Standpunkttheorien zu Konstruktivismus, Poststrukturalismus und Postmoderne erst mit zeitlichem Abstand wahrgenommen wurde. Das von Angerer und Dorer (1994b) herausgegebene erste deutschsprachige Textbuch „Gender und Medien“ verwies allerdings bereits auf alle drei Richtungen der Gender Studies und enthielt auch Texte zur de-/konstruktivistischen Medientheorie (etwa Ang/ Hermes 1994; Frissen 1994). Studien, die explizit einen konstruktivistischen oder poststrukturalistischen Zugang wählten, lagen aber bis zu dem Zeitpunkt nicht vor. Mit der steigenden Wissensproduktion und der zunehmenden institutionellen Verankerung kann seit den 90er Jahren nun auch von einer feministischen Medienforschung als Teildisziplin der Kommunikationswissenschaft gesprochen werden. Zwei 1993 erschienene Bibliographien (Fröhlich/Holtz-Bacha 1993; Röser 1993), das erwähnte Textbuch (Angerer/Dorer 1994b) und die große Anzahl der Neuerscheinungen in den 90er Jahren (vgl. Klaus 2001;2005)
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belegen wie produktiv sich der neue Forschungszweig entwickelte. Die von Angerer und Dorer (1994a) vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Standpunkttheorien und Poststrukturalismus/Postmoderne hat Klaus (1998/2005) – mit etwas anderem Fokus – weitergehend ausgearbeitet, indem sie zwischen Gleichheits- und Differenzansatz sowie (De-)Konstruktivismus unterschied. Den Stand von Forschung und Bereichstheorien um die Jahrtausendwende dokumentieren zwei Sammelbände (Klaus/Röser/Wischermann 2001; Dorer/ Geiger 2002).
3.2
Standpunkttheorien: Gleichheits- und Differenzansatz
Unter dem Blickwinkel der Standpunkttheorien ging es zunächst darum, blinde Flecken der Kommunikationswissenschaft aufzuarbeiten. Dabei hielt die Frauen- und Geschlechterforschung vorläufig an der üblichen Dreiteilung des Forschungsprozesses fest und unterschied zwischen KommunikatorInnenforschung, Inhalts-/Medienforschung und Rezeptions-/Publikumsforschung. Dabei verstand sich diese Forschung immer zugleich als theoriegeleitet und praxisnah. Besonders deutlich ging es in den Anfängen der kommunikationswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung darum, Frauen aus der Medienpraxis und der Frauenbewegung Untersuchungen zur Verfügung zu stellen, die die Diskriminierung von Frauen in und durch die Medien belegten. Hier ist zu wenig Raum, um alle Anwendungsfelder und die dabei entwickelten oder modifizierten Mikro-, Meso- und Makrotheorien systematisch darzustellen. Aus diesem Grund soll im Folgenden die Anwendung feministischer Theorie beispielhaft am Bereich der KommunikatorInnenforschung gezeigt werden.
Ausschluss von Frauen aus dem Journalismus und Männer als Norm für die Formulierung journalistischer Routinen und Standards Neverla und Kanzleiter (1984) arbeiteten in ihrer bahnbrechenden JournalistInnenstudie zwei Mechanismen heraus, die den Journalismus als Männerberuf konstituieren und präsentieren: Es besteht eine vertikale und eine horizontale Segmentation der Geschlechter (vgl. für die Schweiz: Bosshart 1988; für verschiedene europäische Länder: Lünenborg 1997; für Österreich: Dorer 2002b). Vertikale Segmentation bezeichnet dabei die vorgefundene Pyramide, derzufolge der Frauenanteil in den höheren Rängen der Medienhierarchie ständig
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abnimmt. Je besser bezahlt, je prestigeträchtiger und karriereförderlicher eine journalistische Position ist, desto weniger Frauen befinden sich darin. Horizontale Segmentation bezieht sich demgegenüber auf die Geschlechterverteilung innerhalb der Medienbetriebe und Ressorts. Während Frauen anteilsmäßig in den Familien-, Gesellschafts- und Frauenressorts sehr gut vertreten waren, waren die prestigeträchtigeren klassischen Ressorts Sport, Politik und Wirtschaft Neverla und Kanzleiter zufolge „extreme Männerdomänen“. Tendenziell gilt diese Analyse trotz des insgesamt auf etwa ein Drittel gestiegenen Journalistinnenanteils immer noch. Die frühe Frauenmedienforschung hat den Nachweis erbracht, dass die Gleichberechtigungsnorm von den Medien keineswegs erfüllt wird. Studien im Gleichheitsansatz zeigten, dass Frauen in den Medien trivialisiert und in die symbolische Nichtexistenz gedrängt werden (Tuchman 1978;1980) und dass der Journalismus ein Männerberuf ist. Mit diesen Analysen, die das Denken über Medien bis heute stark beeinflussen, war aber zugleich ein Problem verbunden: Frauen wurden als Opfer der Gesellschaft präsentiert, als eigenständig handelnde Personen kamen sie darin kaum vor. Die frühe Frauenmedienforschung beteiligte sich damit unbewusst selber ein Stück weit an der Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Raum. Die Forderung, dass Journalistinnen wie ihre Kollegen Führungspositionen anstreben und in die Politik- und Wirtschaftsressorts drängen sollten, berücksichtigte nicht die Kosten der Macht unter patriarchalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Implizit wurde der Mann damit abermals als das Allgemeine, der Normalfall gesetzt. Tatsächlich stattfindende Veränderungsprozesse konnten ausgehend vom Gleichheitsansatz kaum empirisch gefasst werden. Die Konzepte der Annihilierung und Trivialisierung von Frauen durch die Medien wie auch der Segmentation des Berufsfeldes, so überzeugend sie für eine kritische Zustandsbeschreibung sind, ignorieren tendenziell Entwicklungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben, solange diese das Genderregime nicht grundsätzlich in Frage stellen. Solche Fragen und Probleme lenkten den Blick auf eine andere Forschungstradition, den Differenzansatz.
Gibt es einen weiblichen Journalismus? Obwohl beide Ansätze letztlich immer nebeneinander existiert haben, führte der Übergang vom Gleichheits- zum Differenzansatz in der deutschsprachigen feministischen Medienforschung zu einer Neuorientierung der Forschungsfragen und Ansätze. Im Differenzansatz werden Frauen nicht in erster Linie als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen, sondern rücken als in den Medien Han-
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delnde in den Blick. Der Wechsel von der Gleichheits- zur Differenzperspektive hat zahlreiche Studien hervorgebracht, die zeigen: Trotz der historisch nur langsam erfolgten Akzeptanz von Frauen im Journalismus und der vielfältigen Beschneidung ihrer Ausdrucksformen haben Journalistinnen im Mediensystem durchaus eigenständig agiert und ihre eigenen Ausdrucksformen gefunden, und tun das weiterhin (vgl. Klaus u. a. 1993; Wischermann 1998). So gesehen, greift die These vom Journalismus als Männerberuf zu kurz. „Gibt es einen weiblichen Journalismus?“, so hat Keil (1992) die Fragestellung der Differenzperspektive in der KommnikatorInnenforschung auf den Punkt gebracht. Im Rückgriff auf Diskussionen in anderen Fächern vermuteten Differenztheoretikerinnen etwa, dass Journalistinnen anders schrieben, andere Themen auswählten, ein anderes Selbstverständnis vom Beruf hätten, sich selbstkritischer und teamfähiger zeigten. Die Forschung hat deutliche Unterschiede in der Arbeitsweise von Journalisten und Journalistinnen nicht belegen können (vgl. Klaus 2005: 186-213). Jedoch gibt es feministische Journalistinnen, die neue Frauenbilder präsentieren (vgl. Lünenborg 1997) und Themen, die Journalisten und Journalistinnen jeweils anders bewerten, etwa wenn es um Emanzipation, Lebensweise oder Sexualität geht. Diese Befunde wurden weitergehend theoretisch untermauert, denn nur als im Mediensystem Benachteiligte stellen Journalistinnen eine homogene Gruppe dar. Als den Journalismus aktiv Gestaltende, als darin gar abweichend, alternativ Handelnde bilden sie keine identifizierbare Gruppe. „Weiblich“ zu agieren, das beinhaltet angesichts der jahrzehntelangen Diskriminierung von Frauen im Journalismus immer zugleich eine Zuschreibung und eine Zumutung, die Journalistinnen mit „anderen“ – und das heißt: zusätzlichen – Anforderungen konfrontiert als ihre Kollegen. Das Hauptergebnis der Differenzforschung liegt deshalb in der Feststellung, dass ein geschlechterdifferentes Herangehen an die Medien empirisch nicht belegt werden kann und theoretisch nicht tragfähig ist. Methodisch und inhaltlich erwies sich die Kategorie Geschlecht vielfältiger als die Differenzforschung angenommen hatte (Marci-Boehnke/Werner/ Wischermann 1996). Will die feministische Forschung ihren Gegenstand nicht essentialistisch verkürzen, so ergibt sich als Schlussfolgerung: „Gleichheit und Differenz sind daher keine unversöhnlichen Gegensätze, sondern sie bedingen einander. Ohne Gleichheit kann es keine Vielfalt anderer Lebensweisen und symbolischer Ordnungen geben, ohne diese Verschiedenheit wäre Gleichheit nur ein Abbild des Bestehenden [...].“ (Böttger 1990: 296).
Gender wäre dann nicht nur ein Individualmerkmal, sondern darüber hinaus eine Strukturkategorie, die ihre Wirkung auch jenseits des Wollens der einzelnen sich als Männer oder Frauen verstehenden Subjekte entfaltet. Solche selbstreflexive Arbeit an der zentralen Kategorie der kommunikationswissenschaftlichen
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Frauen- und Geschlechterforschung hat die Türen für den weiter oben (vgl. 1.2) beschriebenen Paradigmenwechsel geöffnet.
3.3
De-/Konstruktivismus
Gender war ab Mitte der 90er Jahre auch in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft als vieldimensionale, relationale Kategorie erkannt und der Prozess des „Doing Gender“ (Rakow 1986) trat in den Mittelpunkt entsprechender Forschungsbemühungen. Dieser heute dominanten Forschungsrichtung liegt eine Konstruktionshypothese zugrunde, derzufolge Medien das „symbolische System der Zweigeschlechtlichkeit“ reproduzieren und stützen. Gleichermaßen können Medien aber auch als Mittel gesehen werden, die zur Bearbeitung geschlechtlicher Identitäten dienen. Das Interesse daran, wie sich das Genderregime in die gesellschaftlichen Institutionen und kulturellen Routinen eingeschrieben hat, bildet deshalb einen Schwerpunkt de-/konstruktivistischer Forschungsbemühungen. Die Frage, wie eine vergeschlechtlichte Subjektivität im Medienhandeln der Menschen mit erschaffen und reproduziert wird, den anderen. Ang und Hermes (1994) haben vorgeschlagen, zwischen Geschlechterdefinitionen, Geschlechterpositionierungen und Geschlechteridentifikationen zu unterscheiden. Geschlechterdefinitionen bestimmen danach, was als weiblich oder männlich in Kultur und Gesellschaft gilt. Geschlechterpositionierungen weisen den Geschlechtergruppen, „Männer“ und „Frauen“, unterschiedliche Tätigkeiten, Rollen, Möglichkeiten, Ideale und Aufgaben zu. Geschlechteridentifikationen geben an, wie sich als Mann oder Frau verstehende Individuen auf vorgefundene und mögliche Geschlechterdefinitionen und Geschlechterpositionierungen beziehen, welche sie in einer spezifischen Situation zurückweisen und welche sie annehmen. Die Konstruktion von Geschlecht geschieht in dem dynamischen Miteinander dieser Elemente. Ang und Hermes’ Ausführungen haben sich in der Publikumsforschung als besonders produktiv erwiesen (vgl. etwa Bechdolf 1999; Röser 2000; Götz 2002). Ihr Modell lässt sich auch auf die Produktion von Medien anwenden (vgl. Klaus 2002). Die im Rahmen des Gleichheitsansatzes festgestellte horizontale und vertikale Segmentation von Männern und Frauen in den Medienbetrieben gehört zum Bereich der Geschlechterpositionierung, die danach fragt, an welche Plätze Männer und Frauen im Journalismus gestellt werden und wie ihre Leistungen bewertet werden. Wenn nach den Ursachen und den Begründungen für solche Positionierungen gesucht wird, dann werden Geschlechterdefinitionen
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relevant, denn dabei geht es um jene Fragen, die unter anderem der Differenzansatz aufgeworfen hat: Wie ist ein „männliches“ und „weibliches“ Medienverhalten jeweils definiert? Welche Anforderungen werden an Männlichkeit und Weiblichkeit im Journalismus gestellt? Frauen, die eine Tätigkeit in den Medien wählen, finden dort Bedingungen vor, die durch Geschlechterpositionierungen und Geschlechterdefinitionen mitbestimmt sind und müssen darauf reagieren. Das thematisiert das dritte Konzept in Ang und Hermes’ Ausführungen: die Geschlechteridentifikationen. In der konkreten Situation können Journalisten durchaus „weiblich“ und Journalistinnen durchaus „männlich“ handeln, und so versuchen, vorgegebene Positionierungen zu durchbrechen. Der De-/Konstruktivismus liefert damit weitergehende Erklärungen bezüglich des beruflichen Selbstverständnisses und der Arbeitsweise von Journalistinnen als andere Ansätze: Danach müssen die Medienfrauen sich nicht notwendig an die „männliche” Berufsrolle anpassen. In der täglichen Arbeit entwerfen Journalistinnen vielmehr vielfältige „Rollenskripte” (Klaus 1995) und nehmen vielfältige Positionen des „Weiblichen” ein (Angerer u. a. 1995). Das symbolische System der Zweigeschlechtlichkeit stellt den Rahmen für die Lebensäußerungen von Menschen bereit – aber nicht in einer starren, unveränderlichen Weise, sondern mit der Möglichkeit, Grenzverschiebungen vorzunehmen, Definitionen zu erweitern, Positionen auszubauen und neue zu erringen. Das langsame Vordringen von Journalistinnen in alle, einst den Männern vorbehaltenen Bereiche, kann so gedeutet und interpretiert werden. Der soziale Konstruktivismus fragt aber nicht nur nach der individuellen Herstellung von Geschlecht, dem „Doing Gender“, sondern auch nach den symbolischen und historischen Genderingprozessen und ihren jeweiligen Verschränkungen. Dabei wird beispielsweise klar, dass vermeintlich objektive Produktionsroutinen, wie sie etwa die Nachrichtenwerte darstellen, einem Gendering unterliegen, wie Prenner (1995) gezeigt hat. Sie fordert deshalb, die Liste der Nachrichtenfaktoren durch einen „Androzentrismusfaktor“ zu ergänzen. De-/Konstruktivistische Ansätze haben aber nicht nur in Bezug auf die bereits bestehenden Forschungsbereiche Medieninhalte, Produktion und Rezeption neue Perspektiven eröffnet, sondern weitergehend zu einer Verbreiterung der Forschungsagenda durch die Ermöglichung anderer Perspektiven geführt. Einer dieser neuen Forschungsbereiche beschäftigt sich mit dem Gendering neuer Technologien. In Bezug auf die Diskussion um „Neue Technologien“ haben die Gender Studies gezeigt, wie diese im Ineinandergreifen von individueller, symbolischer und kultureller Ansprache zur Produktion und Reproduktion des Genderregimes beiträgt. Die jeweils neuen Medien sind kulturell eng mit Geschlechterkonstruktionen verknüpft, die eine „männliche“ und eine
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„weibliche“ Aneignungsweise vorgeben (vgl. dazu Cockburn 1992; Frissen 1994; Dorer 1997; Wischermann 2004). Klaus, Pater und Schmidt (1997) verweisen darauf, wie sowohl in der Einführung des Radios wie auch des Internets Männer und Frauen jeweils unterschiedlich angesprochen wurden. Die von Dorer (2001) auf die Internetrezeption und -produktion angewendete Erinnerungsarbeit verdeutlicht, wie sich Menschen in der Art und Weise ihrer Aneignung und Auseinandersetzung mit Technologien als Frauen oder als Männer zu erkennen geben und ihre geschlechtlichen Identitäten bestätigen oder überarbeiten. Die vorliegenden Studien zeigen, dass die ideologische Verbindung von Technik und Männlichkeit in den Medien wie im Alltagshandeln der sozialen Subjekte Wirkungen entfaltet, die die These einer besonderen technischen Begabung von Männern und einer entsprechenden technischen Inkompetenz von Frauen stützt und damit zur Aufrechterhaltung des ungleichen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses beiträgt. Wie der Dualismus von Technik und Natur sind viele solcher Grenzsetzungen und ihre Bewertungen mit der Genderbinarität verknüpft und führen dadurch zu impliziten Auf- oder Abwertungen. Zentrale Kategorien zur Klassifikation der Massenmedien entspringen dem Dualismus von Hochkultur versus Trivialkultur sowie von Öffentlichkeit versus Privatheit und sind mit der Geschlechterhierarchie symbolisch verknüpft: Information und Unterhaltung, seriöser und seichter Journalismus, öffentliche und private Sender, rationales und emotionales Medienhandeln, Fakt und Fiktion (etwa Klaus/Lünenborg 2002; Klaus 1996). Solche Polarisierungen dienen der Konstruktion einer Wertehierarchie, die das Genderregime am Leben erhält. Die de-/konstruktivistischen Forschungsbemühungen ermöglichen, solche Grenzziehungen kritisch zu reflektieren – als Voraussetzung ihrer Neubestimmung und Verschiebung.
4 Fazit Ging es der kommunikationswissenschaftlichen Frauenforschung zunächst um das Auffinden von blinden Flecken und Leerstellen und ihre Beseitigung, so nimmt die de-/konstruktivistische Geschlechterforschung kulturelle Aspekte des „Doing Gender“ und des Gendering der Medieninstitutionen in den Blick. Standpunkttheorien, wie Gleichheits- und Differenzansatz, sind trotz der mit dem Dekonstruktivismus geleisteten theoretischen Weiterentwicklung jedoch nicht lediglich als historisch überholte Phasen der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung anzusehen. Das Gendering der Medien und Kommunikationsprozesse vollzieht sich im Kontext einer konkreten Gesellschaft mit
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realen Interessensunterschieden und Machtgefällen. Standpunkttheorien und de-/konstrukivistische Ansätze stellen so gesehen unterschiedliches strategisches Wissen bereit, um die Minderbewertung von Frauen in den Medien und im Journalismus besser zu beobachten, genauer zu verstehen und so letztlich auch zu ihrer Veränderung beizutragen. Die Geschichte der kommunikationswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung kann als Prozess der Entgrenzung verstanden werden, sowohl was die Vielfalt und Komplexität der Genderkategorie, als auch den „Ort“ der Geschlechterforschung und ihres Verhältnisses zur Medien- und Kommunikationswissenschaft angeht. Die feministische Medientheorie stellt in vielfacher Hinsicht für das gesamte Fach neues Wissen und neue Erkenntnismöglichkeiten bereit (vgl. Klaus/Röser/Wischermann 2005). Mit ihrer Hilfe sind genauere Einblicke in die Konstruktionsleistungen der Medien wie auch ihrer Wissenschaft möglich. Nicht zuletzt verdeutlicht die feministische Medientheorie die anhaltende Relevanz sozialer Kategorien für Mediensysteme und Kommunikationsprozesse: Gender, ethnische Zugehörigkeit, Schichtklassifikationen oder Alter, diese „Achsen der Differenz“ bestimmen entscheidend, wie die Medienwelt aussieht und welche Interpretationsschemata zur Analyse der Gesellschaft bereitstehen. Eine Medien- und Kommunikationswissenschaft, die sich einem solchen Gesellschaftsbezug verweigert, macht sich selber überflüssig.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
Die Begriffe werden hier synonym verwendet, vgl. dazu: Dorer/Klaus 2003: 550. Vgl. zu früheren Entwicklungen und Systematisierungen. Angerer/Dorer 1994a, Klaus 2005, für einen Überblick: Dorer/Klaus 2003, Forschungssynopse: Klaus (1998/2005). Zur Anwendung in der Kommunikationswissenschaft: vgl. Dorer 2002a. Vgl. dazu v.a.: Becker-Schmidt/Knapp 2000; Hark 2001a; Kroll 2002; Becker/Kortendiek 2004. Vgl. dazu auch meine tabellarische Übersicht in Angerer/Dorer 1994a: 11f. Vgl. zu diesen Einteilungen v.a. auch: Pühl et al. 2004: 20ff; Wetterer 2004a: 123ff; Maihofer 2004; Hark 2001a. Vgl. dazu die Kritik von Pühl et al. (2004: 16) und Maihofer (2004: 35f), sowie die Antwort darauf von Wetterer (2004b). Die Grundgedanken der poststrukturalistischen Strömungen haben Angerer/Dorer (1994a: 14-16) anderorts ausführlicher dargestellt und sollen hier nicht wiederholt werden.
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Artikulation wird von Laclau/Mouffe (1991: 155ff) in Anlehnung an Karl Marx als nicht notwendige, aber sich als natürlich gerierende Verbindung mehrerer Elemente verstanden. Vgl. dazu die Weiterentwicklung der Debatte „Gleichheit versus Differenz“ in Richtung „Gleichheiten und Differenzen“ in: Butler/Laclau 1998. Einführend dazu: Kraß 2003. Unter queer wird heute schwul, lesbisch, bisexuell sowie transgender (vgl. Polymorph 2002) verstanden. Vgl. einführend: Rodríguez 2004, sowie Räthzel 2004. Der Begriff inkludiert in dieser Verwendung neben postmodernen Identitätskonzeptionen auch semiotische, neopsychoanalytische und diskurstheoretische Ansätze, die aber im engeren Sinne nicht zur Postmoderne gezählt werden. V.a. in der US-feministischen Wissenschaft erfolgt meist eine Gleichsetzung von Poststrukturalismus und Postmoderne. Singer (2005:36ff) übernimmt mit ihre Einteilung nach S. Harding diese Ungenauigkeit.
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Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft Andreas Hepp
1 Einleitung* In der Einleitung des Bandes „Media and Cultural Theory“ schreiben James Curran und David Morley bezogen auf die internationale Forschungsdiskussion seit Mitte der 1990er Jahre, dass sich Kommunikations- und Medienwissenschaft1 einerseits und Cultural Studies andererseits in einer Weise gewandelt hätten, aufgrund derer es kaum mehr möglich wäre, beide noch getrennt voneinander zu betrachten. Dabei gehen Curran und Morley – das Thema des von ihnen herausgegebenen Sammelbands im Blick habend – sogar so weit festzustellen, „dass der Forschungsbereich dieses Buchs vielleicht als der der ‚Kommunikations- und Medienwissenschaft nach dem Zusammenstoß mit den Cultural Studies‘ definiert werden könnte“ (Curran/Morley 2006: 1). Exemplarisch machen sie dies fest an einer der großen Debatten der 1990er Jahre, nämlich der zwischen politischer Ökonomie im Bereich der Kommunikations- und Medienwissenschaft und Rezeptions- und Aneignungsforschung im Bereich der Cultural Studies. Hier haben die Diskussionen dazu geführt, dass wechselseitig Positionen aufgegriffen wurden und man so zu tieferen Einsichten von Prozessen der Medienkommunikation insgesamt gekommen ist. Als Ergebnis der Debatte kann man festhalten, dass sowohl Fragen der Medienaneignung als auch der Medienökonomie in ihrem Bezug zueinander fester Bestandteil der Forschung geworden sind. Kommunikations- und Medienwissenschaft und Cultural Studies erscheinen so zunehmend als „intellektuelle Zwillinge“ (Curran/Morley 2006: 2). Auf theoretischer Ebene konkretisiert sich dies darin, dass Medienund Kulturtheorie verstärkt gemeinsam gedacht werden. Solche Aussagen im Blick habend kann man möglicherweise argumentieren, dass die herausgestrichene Relevanz der Kulturtheorie für den internationalen – vor allem: britischen, amerikanischen und australischen – Kontext
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Andreas Hepp
der Kommunikations- und Medienwissenschaft zutreffend sei, wohl aber kaum für den deutschsprachigen. Der vorliegende Beitrag geht entgegen einer solchen Perspektive von der Überlegung aus, dass eine der heutigen Zeit angemessene Kommunikations- und Medienwissenschaft ohne eine umfassend in sie integrierte Kulturtheorie nicht vorstellbar ist. Als Grund hierfür kann man anführen, dass erst über eine auch kulturtheoretische Fundierung die Kommunikationsund Medienwissenschaft in der Lage ist, Medienkommunikation in ihren soziokulturellen Kontexten und ihrem Wandel angemessen zu fassen. Entsprechend ist die Kulturtheorie grundlegend auch für die Kommunikations- und Medienwissenschaft. Um diese Überlegungen greifbar zu machen, möchte ich in folgenden Argumentationsschritten vorgehen. Zuerst geht es mir darum, einige theoretische Anmerkungen zum Verhältnis von Kultur und Kommunikation zu machen. Hiervon ausgehend soll dann aus einer kulturtheoretischen Perspektive die Konnektivität von Medienkommunikation diskutiert werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, in einem allgemeinen Rahmen Medienkulturen als translokale Phänomene zu betrachten, um abschließend einige knappe Anmerkungen zur Kulturtheorie als Basis kommunikations- und medienwissenschaftlicher Forschung zu machen. Den Begriff der Kulturtheorie gebrauche ich in diesem Zusammenhang in einer sehr allgemeinen Form: Im Weiteren wird darunter kein mehr oder weniger geschlossener Theorienansatz gefasst, wie beispielsweise der der Systemtheorie, sondern vielmehr eine Perspektive der Theoretisierung, die vom Konzept der Kultur ausgeht. In diesem Sinne ist Kulturtheorie – durchaus in Anlehnung an das Selbstverständnis der Cultural Studies – transdisziplinär ausgerichtet. Dabei sind die Cultural Studies ein wichtiger heutiger Ansatz innerhalb der kulturtheoretischen Diskussion, gleichwohl kann Kulturtheorie nicht mit diesen gleichgesetzt werden.2 Nichtsdestotrotz blieben im Weiteren die Cultural Studies der zentrale Bezugspunkt der Argumentation, indem diese – wie James Curran und David Morley in dem eingangs zitierten Aufsatz herausgestrichen haben – diejenige kulturtheoretische Zugangsweise bilden, die die internationale Kommunikations- und Medienwissenschaft in den letzten Jahren am nachhaltigsten geprägt hat.
2 Kultur und Kommunikation Betrachtet man die kulturtheoretische Diskussion im Allgemeinen, so fällt auf, dass ‚Kultur‘ als Schlüsselkonzept auf sehr unterschiedliche Weise definiert
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wird. Der britische Kulturanalytiker Raymond Williams (1965: 57-88) hat in den 1960er Jahren drei Arten der Definition von Kultur unterschieden, denen seines Erachtens drei Arten der Kulturanalyse entsprechen. Dies ist die ideale Bestimmung von Kultur (Definition 1), nach der Kultur ein Prozess oder Zustand menschlicher Perfektion ist, das heißt ein „Fluchtpunkt“ von bestimmten absolut und universell gedachten Werten (Kultur als „Zivilisation“). Kulturanalyse ist dann das Herausarbeiten solcher überzeitlicher Werte. Davon ist die dokumentarische Bestimmung von Kultur zu unterscheiden (Definition 2), die Kultur als Korpus bestimmter geistiger und imaginativer Werke fasst, in denen sich menschliche Erfahrungen manifestieren („Kunst“). Kultur wird hier im Sinne von „Hochkultur“ verstanden, als „höchste“ Erzeugnisse des Menschen, die es zu bewahren gilt. Kulturanalyse ist entsprechend das bewertende Einschätzen einzelner Werke. Schließlich gibt es eine anthropologische Bestimmung von Kultur (Definition 3), wonach Kultur die Gesamtheit einer Lebensweise („whole way of life“) einer Gruppe von Menschen ist. Kultur wird hier in einem normativ offenen Konzept gefasst. Kulturanalyse ist dann das Herausarbeiten von Grundmustern und -formen solcher Lebensweisen, wobei Medien in der Gegenwart einen zunehmend großen Stellenwert für diese haben. Es war vor allem die dritte Definition von Kultur, die in den Cultural Studies und ausgehend von diesen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft aufgegriffen wurde. Der Grund ist darin zu sehen, dass dieser normativ offene Kulturbegriff einen hinreichenden Ansatzpunkt bot, sich auch populären Medienprodukten wie Soap Operas und Nachrichten-Shows als Teil heutiger Medienkulturen zuzuwenden. Bemerkenswert bleibt aber der weitere Argumentationszusammenhang, in dem Raymond Williams Unterscheidung dieser drei Kulturbegriffe steht: So hat Williams (1977: 47) darauf hingewiesen, dass „jede der drei Definitionen […] einen bedeutenden Gesichtspunkt“ enthält und dass „jede dieser drei Definitionen für sich genommen inadäquat ist“. Das Problem der idealen Bestimmung besteht für ihn darin, dass sie den Menschen von konkreten Gesellschaften abstrahiert, das Problem der dokumentarischen Bestimmung, dass sie Kultur von anderen Bereichen der Gesellschaft trennt, und das Problem der anthropologischen Bestimmung, dass sie Kultur als gesellschaftliche Widerspiegelung behandelt und normative Aspekte aus dem Blick zu verlieren droht, wie man hinzu fügen könnte. Worauf Williams mit solchen Argumenten hinweist – und dies ist ein Aspekt, den er in späteren Publikationen wie „Culture and Society“ (1971) weiter verfolgt – ist, dass Kultur selbst ein historisches Konzept darstellt. In einer paradox anmutenden Formulierung kann man sagen, dass die verschiedenen Definitionen von Kultur auf kulturellen Wandel verweisen (vgl. Bennett 2005: 65): Während in Europa der Ausdruck ‚Kultur‘ im 18. Jahrhundert noch syn-
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onym zu ‚Zivilisation‘ gebraucht wurde und den Prozess des sozialen Fortschritts bezeichnete (Definition 1), wurde ‚Kultur‘ im 19. Jahrhundert zunehmend dem Fortschrittsprozess der ‚Zivilisation‘ gegenüber gestellt und fasste ein Set höherer Werte, von denen aus der Zivilisationsprozess auch kulturkritisch bewertbar war (Definition 2). Mit einer zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung von Gesellschaften fasste das Konzept von Kultur als ‚Gesamtheit einer Lebensweise‘ (Definition 3) verschiedenste Kulturen bis hin zu Teilkulturen in spezifischen Kontexten (Unternehmenskulturen, Sportkulturen etc.).3 Die heute in wissenschaftlichen Kontexten allgemein verbreitete anthropologische Verwendung des Ausdrucks ‚Kultur‘ verweist also auf umfassende kulturelle Wandlungsprozesse, die dieser Begriff als Beschreibungskategorie reflektiert.4 Dass es dennoch notwendig ist, nach wie vor auch die anderen Definitionen von Kultur im Blick zu haben, macht deutlich, dass verschiedene Definitionen von Kultur in Prozessen der kulturellen Auseinandersetzung instrumentalisiert werden (vgl. Couldry 2000: 23f.): Gerade Konzepte, die darauf abheben, ‚rein analytisch‘ Kultur zu fassen, laufen möglicherweise Gefahr aus dem Blick zu verlieren, dass verschiedene Kulturbegriffe unterschiedliche Wertorientierungen favorisieren. Wie Max Weber es mit seinem Konzept der „Kulturbedeutung“ (Weber 1988: 175) pointiert hat, ist damit nicht gemeint, dass man wissenschaftlich nur betrachten sollte, was man selbst als ‚kulturell wertvoll‘ einschätzt. Es geht aber dennoch darum, Kultur als einen „Wertbegriff“ (ebd.) im Blick zu haben. Eine kulturtheoretisch fundierte Analyse reflektiert also stets mit, welche Bedeutung auch im Sinne von Wertigkeit welchen Kulturen in welchen Kontexten zugesprochen wird. Um es an einem Beispiel konkret zu machen: Sicherlich gibt es eine „Filmkultur“ (Henscheid 2001: 86) wie auch eine „Männerzeitschriftenkultur“ (Henscheid 2001: 99) als Teilaspekte von Medienkultur. Bei einer kulturtheoretisch fundierten Analyse derselben ist aber einzubeziehen, welche unterschiedlichen Wertigkeiten diesen jeweils zugesprochen wird. Charakteristisch für das Kulturkonzept der Cultural Studies ist vor diesem Hintergrund, dass sie Kultur nicht als einen wertneutralen Zusammenhang begreifen, sondern vielmehr als durch Prozesse des Konflikts und der Auseinandersetzung durchzogen und sich ständig im Fluss befindend (vgl. Fiske 1994: 7; Ang 1999: 318). Dabei verweist das Konzept von Kultur auf alltägliche Prozesse der Bedeutungsproduktion, oder wie es Stuart Hall ausgedrückt hat: „Culture […] was itself a practice – a signifying practice – and had its own determinate product: meaning“ (Hall 1980a: 30). In Anlehnung an jüngere Überlegungen von Stuart Hall (2002: 108) lässt sich allgemein Kultur als die Summe der verschiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen bezeich-
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nen, auf die symbolisches Handeln Bezug nimmt, um Dingen Bedeutung zu verleihen.5 Aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive erscheinen zwei Aspekte eines solchen Verständnisses von Kultur zentral. Erstens wird dessen enge Beziehung zu dem Begriff der Kommunikation deutlich: Begreift man Kommunikation in der Tradition der Semiotik nicht als ‚Übertragung‘ von Information, sondern als eine bestimmte Form des symbolischen Handelns und damit als „soziale Praxis der Produktion, der Zirkulation und des Austauschs von Sinn und Bedeutung“ (Ang 2003: 89), so verweist Kommunikation insofern auf Kultur, als entlang kultureller Unterscheidungen in diesem Prozess Bedeutung produziert wird. Gleichzeitig ist Kommunikation der Kultur aber nicht ‚nachgeschaltet‘. Vielmehr ist Kultur selbst wiederum kommunikativ vermittelt, indem diese durch Kommunikation aufrecht erhalten wie auch über einen Prozess der Sozialisation erworben wird – ein Prozess, der sich letztlich als ein lang anhaltender Vorgang der Kommunikation begreifen lässt. Jedoch erscheint es problematisch zu behaupten, Kommunikation ist Kultur, wie es der amerikanische Kommunikations- und Medienwissenschaftler James Carey (1989) gemacht hat. Mit dieser metaphorischen Wendung sucht er zu fassen, dass Kommunikation ein „Prozess der Konstitution, Aufrechterhaltung und Transformation von Realität“ (Carey 1989: 23) ist. Diese Realität begreift Carey (1989: 34f.) selbst als eine „rituelle Ordnung“, in der sich eine „gemeinsame Kultur“ ausbildet. Die Wendung Kommunikation ist Kultur verdeutlicht entsprechend den Gedanken, dass ohne Kommunikation keine Kultur als sinnvolle Realität besteht. Wie Ien Ang herausgestrichen hat, ist die Argumentation deshalb problematisch, weil „suggeriert wird, dass eine solche sinnhafte Ordnung von gemeinsamen Bedeutungen sicher herzustellen (und herstellbar) ist“ (Ang 2003: 90). Worauf Ang hiermit hinweisen möchte ist der Umstand, dass Kommunikation – zumindest in kulturtheoretischer Perspektive – kein transparenter Prozess der Herstellung identischer Bedeutungen ist. Was Stuart Hall (1980b) in seinem als klassisch geltenden Encoding/Decoding-Modell in Bezug auf das Fernsehen herausgestrichen hat – nämlich dass, wenn man Kommunikation semiotisch betrachtet, Bedeutungen auf der Seite des ‚Encodierens‘ (Produktion) nicht denen auf Seite des ‚Decodierens‘ (Rezeption) entsprechen (müssen) – gilt auch für Kommunikation im Allgemeinen: „Eine radikal semiotische Perspektive unterläuft letztlich die Thematik der (erfolgreichen) Kommunikation, indem sie ‚keine notwendige Übereinstimmung‘ zwischen den Bedeutungen von Sender und Empfänger voraussetzt“ (Ang 2003: 91). Mit der Bedeutungsartikulation im Prozess der Kommunikation ist also stets eine Ungewissheit oder Offenheit von Kommunikation bis hin zu deren Scheitern verbunden. Folglich stehen in einer
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solchen Perspektive Kultur und Kommunikation in einer engen Beziehung zueinander. Sie fügen sich jedoch nicht in eine sinnhafte Ordnung identischer Bedeutungen, wie es James Careys Konzept der Kultur als Kommunikation nahe legt. Dies verweist bereits auf den zweiten, aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive relevanten Aspekt des vorgestellten Kulturbegriffs, nämlich dessen Konfliktorientierung. Hier ist eine deutliche Differenz zwischen dem bisher umrissenen Verständnis von Kultur und Konzepten von Medienkultur in der deutschsprachigen Forschungslandschaft zu sehen, wo Kultur zumeist in Anlehnung an die funktionalistische Soziologie als das Werte vermittelnde und in diesem Sinne integrierende gesellschaftliche System verstanden wird.6 Auch wenn in beiden Fällen der Ausdruck ‚System‘ in der Definition von Kultur auftaucht – hier das kulturelle Klassifikationssystem, dort Kultur als ein spezifisches Sozialsystem –, verweist Bedeutungs- oder Klassifikationssystem bei der Definition von Kultur im Kontext der Cultural Studies auf einen vollkommen anderen Diskussionszusammenhang als Kultursystem im Rahmen der traditionellen, deutschsprachigen Medienkultur-Diskussion. Die Differenz ist darin zu sehen, dass kulturelle Klassifikationssysteme als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um die Definition von sozialer Wirklichkeit angesehen werden.7 Dies wurde innerhalb der Cultural Studies früh unter Rückgriff auf den sprachanalytischen Ansatz von Valentin N. Volosinov reflektiert, der darauf hingewiesen hat, dass Kommunikation mit der auch machtvollen und ideologischen Definition von sozialer Wirklichkeit verbunden ist (vgl. Volosinov 1975).8 Bei der Definition von Kultur durch Stuart Hall klingt genau dieser Gedanke mit dem Verweis auf die Diskurstheorie von Michel Foucault an, wenn Erstgenannter Kultur als Summe der unterschiedlichen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen definiert. Der von Foucault entlehnte Begriff der diskursiven Formation bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Gesamtheit von diskursiven Ereignissen, die sich auf dasselbe Objekt beziehen, über einen geteilten kommunikativen „Stil“ verfügen sowie eine spezifische Strategie (eine institutionelle, administrative oder politische Strömung oder entsprechendes Muster) unterstützen. Mit ‚Diskurs‘ werden im weiteren kulturtheoretischen Sinne regulierte Möglichkeiten des Sprechens/Kommunizierens über etwas bezeichnet, die ein bestimmtes Wissen und bestimmte Repräsentationen mit produzieren. Die konkrete diskursive Formation bestimmt also, was in einem spezifischen Kontext üblicherweise wozu kommuniziert werden kann – welche Formen von Gewalt man beispielsweise zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext in den Medien darstellen kann.
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Hall wirft an dieser Stelle eine zentrale Frage auf, nämlich ob ausgehend von einem solchen Verständnis denn alles Kultur sei (vgl. Hall 1997: 225f.; 2002: 112-114). Wie bereits herausgestrichen spricht man gegenwärtig ja nicht nur von Kultur im Sinne der Nationalkultur. Ebenso üblich sind in der Alltagsund Wissenschaftssprache Bezeichnungen wie politische Kultur, Wirtschaftsbzw. Unternehmenskultur, Sportkultur, Populärkultur, die Kultur einer bestimmten Familie usw. Hall weist hier darauf hin, dass es natürlich nicht stimmt, dass einfach alles Kultur ist. Man kann und sollte von der kulturellen Dimension sehr wohl beispielsweise eine ökonomische oder eine politische Dimension unterscheiden. Aber – und dies ist der entscheidende Punkt – versteht man unter Kultur die Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen, auf die symbolisches Handeln rekurriert, so hat jede soziale Praxis eine kulturelle Dimension, indem sie abhängig ist von und in Beziehung steht zur Konstitution von Bedeutung (vgl. Tomlinson 2000: 30).
3 Konnektivität von Medienkommunikation In der aktuellen kulturtheoretischen Diskussion um Medienkommunikation gewinnt das Konzept der Konnektivität an Bedeutung. Der Ausdruck Konnektivität fasst dabei das Herstellen von kommunikativen Beziehungen oder Verbindungen, die einen sehr unterschiedlichen Charakter haben können.9 Greift man die Argumente von James Lull auf, so muss jede gegenwärtige Auseinandersetzung mit Kultur „die weitreichendste Dimension von Kommunikation ernsthaft berücksichtigen – Konnektivität“ (Lull 2000: 11). Diese Relevanz von Konnektivität wird greifbar, wenn man eine von John B. Thompson (1995: 85) vorgenommene Unterscheidung von drei Typen von Kommunikation als Interaktion aufgreift (siehe die Tabelle auf der folgenden Seite). Mit dieser Systematik unterscheidet John B. Thompson drei Typen von Kommunikation, nämlich erstens Kommunikation als Face-to-Face-Interaktion, also das direkte Gespräch mit anderen Menschen, zweitens Kommunikation als mediatisierte Interaktion, das heißt die technisch vermittelte personale Kommunikation mit anderen Menschen beispielsweise mittels eines Telefons, und schließlich drittens Kommunikation als mediatisierte Quasi-Interaktion, womit der Bereich der Medienkommunikation bezeichnet wird, den klassischerweise das Konzept der Massenkommunikation oder der öffentlichen Kommunikation fasst. Insgesamt verdeutlicht die Systematik von John B. Thompson, dass bei der mediatisierten Interaktion und Quasi-Interaktion die im Vergleich zur Face-to-
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Face-Interaktion bestehende Einengung von symbolischen Mitteln damit einher geht, dass die Kontexte der beteiligten Interaktanten voneinander separiert werden und entsprechend eine erweiterte Verfügbarkeit von Kommunikation über Raum und Zeit hinweg besteht. Mit anderen Worten: Durch technische Medien wird es möglich, Kommunikation aus der Lokalität der Face-to-Face-Beziehung zu „entbetten“ (Giddens 1996: 33). Kommunikation eröffnet damit translokale Konnektivitäten, das heißt im alltagssprachlichen Wortgebrauch ‚Verbindungen‘ über das Lokale hinaus. Tabelle:
Raum/ZeitKonstitution
Bandbreite symbolischer Mittel Handlungsorientierung Kommunikationsmodus Konnektivität
Typen von Kommunikation als Interaktion Face-to-Face Interaktion
Mediatisierte Interaktion
Mediatisierte Quasi-Interaktion
Kontext der Kopräsenz; geteiltes räumliches/zeitliches Referenzsystem Vielheit von symbolischen Mitteln
Separation von Kontexten; erweiterte Verfügbarkeit von Raum/ Zeit Einengung von symbolischen Mitteln
Separation von Kontexten; erweiterte Verfügbarkeit von Raum/ Zeit Einengung von symbolischen Mitteln
Orientiert auf bestimmte Andere
Orientiert auf bestimmte Andere
Dialog
Dialog
Orientiert auf ein unbestimmtes Potenzial von Adressaten Monolog
lokal
translokal adressiert
translokal offen
Quelle: Erweitert nach Thompson 1995: 85
Bemerkenswert ist, welche Aspekte Thompson (1995: 82-87) im Detail herausarbeitet. Während die Face-to-Face-Interaktion in einem Kontext der KoPräsenz mit einem geteilten raum-zeitlichen Referenzsystem stattfindet und Kommunikation so etwas wie eine lokale Konnektivität schafft,10 besteht diesbezüglich bei der translokalen Konnektivität mediatisierter Interaktion eine Differenz: Durch den Gebrauch technischer Medien agieren die Beteiligten der mediatisierten Interaktion in Kontexten, die räumlich und/oder zeitlich unterschiedlich sind. Sie teilen also nicht ein gemeinsames Referenzsystem. Exemplarisch wird dies an Mobiltelefongesprächen deutlich, bei denen die Notwendigkeit auszumachen ist, durch eine „Verdopplung des Ortes“ (Moores 2006: 199) – also die Schaffung eines geteilten ‚Ortes des Gesprächs‘ – erst ein gemeinsames Referenzsystem der Interaktionspartner herzustellen. Insgesamt
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geht der Gewinn einer solchen translokalen Konnektivität von Kommunikation mit einem Verlust an symbolischen Mitteln einher, entlang derer die Kommunikation erfolgt bzw. erfolgen kann. Indem die translokale Konnektivität der mediatisierten Interaktion auf bestimmte Interaktionspartner bezogen bleibt, lässt sie sich als translokal adressierte Konnektivität bezeichnen. Abbildung 1: Gesellschaftstypen und deren kommunikative Konnektivität 1. Orale Gesellschaften
2. Hochkulturen
3. Moderne Gesellschaften
Quelle: Tenbruck 1972: 60
Bei der mediatisierten Quasi-Interaktion lässt sich ein weiterer Aspekt von Konnektivität ausmachen. Auch hier ist diese zuerst einmal translokal, indem mittels
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technischer Medien Kommunikation aus ihren lokalen Kontexten entbettet wird. Im Gegensatz zur mediatisierten Interaktion wie auch zur Face-to-Face-Interaktion ist die mediatisierte Quasi-Interaktion aber auf ein unbestimmtes Potenzial von Anderen gerichtet. Entsprechend muss die Konnektivität, die durch sie hergestellt wird, anders gefasst werden – nämlich als eine translokal offene Konnektivität, das heißt als ein Kommunikationsgefüge mit entsprechend unscharfen Rändern. Der damit verbundene Konnektivitätsgewinn – nämlich die Möglichkeit von kommunikativer Konnektivität zu nicht weiter spezifizierten Anderen – geht wiederum mit einem Verlust einher, nämlich dem Verlust einer dialogischen Kommunikationsbeziehung zugunsten einer monologischen. Eine solche begriffliche Differenzierung hat gegenüber der traditionellen, in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft verbreiteten Unterscheidung von personaler Kommunikation und öffentlicher Massenkommunikation nicht nur den Vorteil, dass sie sich auch problemlos auf ‚neue‘ digitale Medien übertragen lässt.11 Ihr großer Vorteil besteht aus kulturtheoretischer Perspektive darin, dass hiermit auch eine weitere kulturhistorische Kontextualisierung kommunikativer Konnektivität möglich wird. Dies macht exemplarisch ein Bezug auf die Überlegungen von Friedrich Tenbruck (1972) zu verschiedenen Gesellschaftstypen deutlich, bei denen eine enge Beziehung zu mediumstheoretischen Überlegungen ausgemacht werden kann (vgl. Meyrowitz 1995). Die Mediumstheorie fasst hierbei eine Zugangsperspektive, die den Einfluss von Medien auf kulturellen Wandel weniger an den durch sie kommunizierten Inhalten, denn an der Art und Weise festmacht, wie verschiedene Medien Kommunikation strukturieren. Ausgehend von der sich in der menschlichen Arbeitsteilung konkretisierenden sozialen Differenzierung lassen sich nach Friedrich Tenbruck drei Idealtypen von Gesellschaft unterscheiden, nämlich die orale Gesellschaft, die Hochkultur und die moderne Gesellschaft.12 Von Interesse erscheint dabei, welchen Stellenwert in seiner Argumentation einerseits Lokalität, andererseits eine durch technische Medien hergestellte translokale Konnektivität hat (siehe auch die oben stehende Abbildung, die die translokale kommunikative Konnektivität der Gesellschaftstypen visualisiert):13 So sind orale, nur altersmäßig differenzierte Gesellschaften getragen durch lokale Gruppen, deren Mitglieder in einer direkten Face-to-Face-Interaktion miteinander in Beziehung stehen. In der Mediumstheorie werden diese als „traditionale orale Gesellschaften“ (Meyrowitz 1995: 54) bezeichnet. Hochkulturen verweisen mit ihrer Arbeitsteilung und Differenzierung von Oberschicht bzw. Unterschicht auf einen translokalen Herrschaftsapparat, der einer ebensolchen Kommunikationsmöglichkeit bedarf. Mediatisierte Interaktion mittels von Schrift gestattet durch ein „überlokales Kommunikationsnetz“ (Tenbruck 1972: 59) den Aufbau und die Aufrechterhal-
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tung eines Herrschaftsapparats, der wie ein Netzwerk verschiedene Lokalitäten einbindet und – insbesondere über Religion – eine überlokale Identifikation lokaler Gruppen als Teil weitergehender Vergemeinschaftungen ermöglicht. Weniger scharf ist an dieser Stelle die Begrifflichkeit der Mediumstheorie, die ausschließlich aus Perspektive der Medien argumentierend von einer „transitorischen schriftlichen Phase“ (Meyrowitz 1995: 54) spricht. Moderne Gesellschaften mit ihrer weiteren sozialen Differenzierung wie auch ihrer „Aufhebung des für die Hochkultur wesentlichen Unterschieds von Oberschicht und lokalen Einheiten“ (Tenbruck 1972: 64) verweisen auf mediatisierte Quasi-Interaktionen, indem es insbesondere die Massenmedien sind, die als „Kommunikationsmittel […] Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von ihrem Ort zu immer neuen, oft typischerweise flüchtigen und passiven Gruppen zusammenfassen und dadurch ihren Kontakt mit der weitergehenden Gesellschaft herstellen“ (Tenbruck 1972: 66).
Die Mediumstheorie spricht an dieser Stelle von der „modernen Print-Kultur“ (Meyrowitz 1995: 55). Sicherlich ist eine solche Typologie nicht unproblematisch. Auf zwei Einschränkungen weist Tenbruck (1972: 55f.) selbst hin, nämlich erstens, dass diese Gesellschaftstypen nicht als Entwicklungsmodelle gefasst werden sollten, wie es fälschlicherweise in der Kommunikations- und Medienwissenschaft die Ansätze der Entwicklungskommunikation gemacht haben.14 Eine zweite Einschränkung besteht darin, dass es sich bei den Typen generell um Ein-Gesellschafts-Modelle handelt, Beziehungen zwischen Gesellschaften also nur am Rande einbezogen werden, was gerade im Hinblick auf Fragen der Globalisierung – nicht nur der Medienkommunikation – auf deutliche Grenzen der Argumentation verweist. Daneben besteht zumindest eine weitere, dritte Einschränkung, indem die Typologie einen weiteren Wandel von Kultur und Gesellschaft, wie er beispielsweise mit Konzepten der Netzwerkgesellschaft diskutiert wird, nicht reflektiert bzw. aufgrund ihres Alters reflektieren kann. Exakt dies klingt in der Mediumstheorie an, wo ein weiterer vierter Typus unterschieden wird, nämlich der der „globalen elektronischen Kultur“ (Meyrowitz 1995: 57).15 Trotz dieser nicht unwichtigen Einschränkungen führen uns die Überlegungen von Tenbruck jedoch vor Augen, in welchem Maße bestimmte Gesellschaften und Kulturen auf verschiedene Typen der Interaktion verweisen: Die Konnektivität von mediatisierter Quasi-Interaktion ist in Beziehung zu sehen mit der Artikulation spezifischer translokaler und stark mediatisierter Kulturen, die sich deshalb sinnvoll als Medienkulturen bezeichnen lassen. Die entscheidende Frage dabei ist allerdings, wie sich diese konkreter und über die Anwendung einer stark abstrahierenden Typologie wie die Tenbrucks hinaus untersuchen lassen.
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4 Translokalität von Medienkulturen Wie bereits angeklungen, sollen im Weiteren mit dem Ausdruck Medienkultur all solche Kulturen bezeichnet werden, deren primäre Bedeutungsressourcen mittels technischer Kommunikationsmedien vermittelt bzw. zur Verfügung gestellt werden. An dieser Definition von Medienkultur erscheinen zwei Aspekte erklärungsbedürftig. Erstens ist dies der Medienbegriff, der explizit auf technische Verbreitungsmittel abhebt, also beispielsweise nicht Sprache als Medium fasst, sondern Kommunikationsmedien, die folgende vier Dimensionen aufweisen (vgl. Beck 2006: 13): Sie verfügen (a) über ein technisch basiertes Zeichensystem, das die Kommunikation mit ihnen auch auf eine bestimmte Art und Weise (vor)strukturiert. Sie sind (b) durch spezifische soziokulturelle Institutionen gekennzeichnet. Kommunikationsmedien haben für sie (c) charakteristische Organisationen. Und schließlich erbringen sie (d) für bestimmte soziale Gruppen und Gesellschaften spezifische Leistungen. Greift man die Terminologie von Herbert Kubicek (1997: 220) auf, handelt es sich bei in diesem Sinne verstandenen Kommunikationsmedien um Medien „zweiter Ordnung“. Mit dem Begriff des Mediums „erster Ordnung“ bezeichnet er „technische Systeme mit bestimmten Funktionen und Potenzialen für die Verbreitung von Information“, also beispielsweise den Druck. Medien zweiter Ordnung hingegen sind „soziokulturelle Institutionen zur Produktion von Verständigung“, die Medien erster Ordnung weiter ausdifferenzieren. Dies ist in Bezug auf den Druck als Medium erster Ordnung beispielsweise bei der Zeitung, dem Buch, der Zeitschrift usw. als Medien zweiter Ordnung der Fall. Der zweite erklärungsbedürftige Aspekt dieser Definition von Medienkultur ist der der primären Bedeutungsressource. Sicherlich ist keine Kultur in dem Umfang mediatisiert, dass all deren Bedeutungsressourcen medienvermittelt wären. Als auch körperliches Wesen wird stets ein Teil der kulturellen Bedeutungsproduktion des Menschen ‚unmittelbar‘ oder doch zumindest ‚nicht medienvermittelt‘ bleiben. Die entscheidende Betonung liegt hier auf dem Wort ‚primär‘: Versteht man unter Mediatisierung in Anlehnung an die Überlegungen von Friedrich Krotz (2007b) den Prozess der zunehmenden zeitlichen, räumlichen und sozialen Durchdringung unserer Kulturen mit Medienkommunikation und damit verbunden eine zunehmende Strukturierung verschiedenster kultureller Bereiche durch ‚die Medien‘, so lässt sich historisch gesehen ein Punkt aus-
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machen, an dem Medien Kulturen in einer Weise prägen, in der diese auf Alltagsebene konstitutiv für das Aufrechterhalten der Kulturen werden. Exakt dies lässt sich für viele Kulturen moderner Gesellschaften argumentieren, die auf das Vorhandensein von Massenmedien und später digitalen Medien verweisen. Medien bzw. „Medien-Rituale“ werden hier als Zentrum von Gesellschaft inszeniert (vgl. Couldry 2003). Entsprechend können solche Kulturen als umfassend mediatisierte Kulturen oder kurz Medienkulturen bezeichnet werden. Der Begriff der Medienkultur fasst also nicht einfach die Kultur bestimmter Medieninhalte (beispielsweise im Sinne einer bestimmten Film- oder Radiokultur), sondern die Spezifik von sich wandelnden Kulturen insgesamt. Abbildung 2: Kreislauf der Medienkultur
Produktion
Regulation Repräsentation
Identifikation Aneignung
Quelle: Hepp 2004: 187
Im Sinne solcher Überlegungen sind alle Medienkulturen als translokale Phänomene anzusehen und verweisen auf den dritten von Tenbruck unterschiedenen Gesellschaftstypus. Was dies aber konkret heißt, wird an einer weiteren Spezifizierung des verwendeten Kulturbegriffs anhand des so genannten Kreislaufs der Medienkultur deutlich. Verbreitung haben Kreislaufvorstellungen von Kultur in den Cultural Studies insbesondere durch die Überlegungen von Richard Johnson (1986, 1999) gefunden, der den Kreislauf der Kultur als durch vier Instanzen vermittelt sah: erstens die Produktion einzelner Kulturprodukte, zweitens diese selbst als Texte, drittens deren Interpretation und viertens schließlich die Kultur als Lebensweise. In ganz ähnlichem Sinne haben auch Paul du Gay u. a. (1997: 3) Kultur im Rahmen eines Kreislaufs beschrieben. Als zentrale kulturelle Pro-
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zesse dieses Kreislaufs haben sie die Repräsentation, die Identität, die Produktion, den Konsum und die Regulation von Kultur begriffen. Systematisiert man solche Überlegungen weiter, so lässt sich der Kreislauf der Medienkultur wie in der oben stehenden Grafik visualisieren. Medienkultur wird in diesem Kreislauf im Kern als durch drei Artikulationsebenen vermittelt gedacht, nämlich erstens durch die Produktion von verschiedenen materiellen und immateriellen Kulturprodukten, zweitens durch die diskursiven Repräsentationen, die diese ausmachen, und drittens durch deren Aneignung. Die Produktion ist dabei die Artikulationsebene von Medienkultur, die die Strukturen, Praktiken und Prozesse der ‚Hervorbringung‘ von Medienprodukten beschreibt. Mit Repräsentation wird die Artikulationsebene der ‚Darstellung‘ von Medienkultur in Kulturprodukten gefasst. Der Ausdruck der Aneignung bezeichnet die Artikulationsebene von Medienkultur, die den Prozess des aktiven ‚Sich-Zu-Eigen-Machens‘ von Medienkultur als Lokalisierung im Alltag fasst. Wichtige Momente, die quer zu diesem Kernkreislauf ausgemacht werden können, sind die kulturelle Regulation, beispielsweise durch die Politik, und die Identifikation, das heißt die Artikulation bestimmter kultureller Identitäten. Ein Teil von Medienkulturen ist also die Produktion einzelner Medienprodukte oder Medientexte. Diese wiederum repräsentieren, eingebettet in Diskurse, bestimmte Zusammenhänge, die von den Rezipierenden aktiv ‚zu eigen‘ gemacht und dabei auch kulturell transformiert werden. Kulturelle Identitäten werden in diesem Prozess ebenso konstituiert, wie er durch Bedingungen verschiedener Mediensysteme reguliert wird. Insgesamt konstituiert sich Medienkultur so als Verdichtung kommunikativer Prozesse. Entsprechend lässt sich das Schema des Kreislaufs der Medienkultur als Systematisierung der Ebenen begreifen, die für eine konkrete Analyse von Medienkultur wichtig sind. Zentral für das Verständnis dieses Kreislaufs der Medienkultur ist, dass Fragen der Macht nicht nur auf eine Artikulationsebene reduziert, sondern auf alle bezogen werden. Diese Formulierung verweist auf einen an Michel Foucault orientierten Machtbegriff, wie er bereits in dem allgemeinen Begriff von Kultur als Summe von Klassifikationssystemen und diskursiven Formationen anklang. Der Ausdruck der Macht fasst die Mittel, mit denen bestimmte Subjekte oder soziale Formationen im Rahmen ihrer Interessen und Ziele andere dominieren. Macht ist auch diskursiv vermittelt und geht mit der Produktion eines spezifischen Wissens bzw. bestimmter Wirklichkeitsdefinitionen/Repräsentationen einher. In diesem Sinne kann Macht produktiv sein. Deutlich hat Foucault unterstrichen, dass „Machtverhältnisse […] in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Netzes“ (Foucault 1996: 43) wurzeln. Konkret heißt das, dass über Fragen der Regulation hinausgehend sich Macht auf den verschiedenen Artikulationse-
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benen des Kreislaufs der Medienkultur äußert: So sind mediale Repräsentationen in spezifischen Diskursen strukturiert, die nicht nur konventionell vermitteln, was unter bestimmten sozialen und kulturellen Umständen gesagt werden kann, sondern auch, wer wann und wo kommuniziert. Hiermit besteht auf der Repräsentationsebene eine enge Beziehung zwischen Macht und Wissen. Vermittelt über Diskurse bestimmen Machtverhältnisse, welches Wissen zur Repräsentation gelangt und welches nicht. Machtverhältnisse sind in Bezug auf Aneignung und Identifikation schließlich zu berücksichtigen, weil beide Artikulationsebenen auf das Lokale und damit die Alltagswelt verweisen, deren Wirklichkeit wiederum durch fortlaufende, ebenfalls durch Macht strukturierte Alltagsdiskurse aufrechterhalten wird. Wir können damit also festhalten, dass wir mit Medienkulturen die Summe der verschiedenen medienvermittelten Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen bezeichnen, auf die kommunikativ Bezug genommen wird, um Dingen Bedeutung zu geben. Entsprechend werden Medienkulturen über Verdichtungen von Kommunikationsprozessen beschreibbar. Indem Medienkulturen auf ortsübergreifenden Kommunikationsprozessen fußen, sind sie der Definition nach translokal orientiert, gehen also über das Lokale hinaus. Mit fortschreitender Globalisierung der Medienkommunikation – das heißt mit fortschreitender, weltweiter Zunahme solcher translokaler kommunikativer Konnektivitäten – decken sich dabei Medienkulturen nicht mehr zwangsläufig mit bestimmten geografischen oder sozialen Territorien.16 So sind es die elektronischen Medien (Film, Radio, Fernsehen und Internet) gewesen, durch die Bedeutungsproduktion insbesondere von Territorialität entkoppelt wurde. Mit ihnen ist es möglich, einzelne Medienprodukte als Ressourcen oder Materialien der Generierung von Bedeutung an einer Lokalität zu produzieren, wobei diese Inhalte über komplexe Distributionsprozesse an gänzlich anderen Lokalitäten repräsentiert und angeeignet werden können. Medienkulturen fügen sich gerade nicht (zwangsläufig) zu der territorialen Vorstellung von Kulturen, wie man sie mit dem Begriff der nationalen Medienkultur verbindet. Entsprechend hilfreich erscheint es, ein translokales Konzept von Kultur klar von einem territorialen Konzept von Kultur zu unterscheiden. Eine Systematisierung von Jan Nederveen Pieterse (1998) aufgreifend ist dies anhand folgender Punkte möglich: 1.
Innenorientierung vs. Außenorientierung: Während man bei einem territorialen Kulturbegriff eine starke Orientierung auf das „Innere“, den „Kern“ der jeweiligen Kultur ausmachen kann, ist die Orientierung bei einem translokalen Kulturbegriff stärker auf die „äußere Beziehung“ zu anderen, translokalen Kulturen ausgeprägt. Jan Nederveen Pieterse
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Andreas Hepp (Nederveen Pieterse 1995: 61) hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies auch unterschiedliche Verständnisse von Lokalität betrifft: Territoriale Kulturbegriffe sind durch ein nach innen orientiertes Verständnis von Lokalität geprägt (die Lokalität als Ursprung, Heimat und Zukunft), translokale Kulturbegriffe vielmehr durch ein außenorientiertes Verständnis der Lokalität (der Ort, an dem man sich gerade befindet, der Ort der Grenze – das „Motel“ in „Transit“ im Sinne von Orvar Löfgren (2001). Mit einem translokalen Begriff von Kultur wird die Rückbindung der Vorstellung von Medienkultur an innen-orientierte, zwangsläufig territorial gebundene Gemeinschaften aufgegeben zugunsten eines Konzeptes, zumindest der Möglichkeit nach, deterritorialer Gemeinschaften. Ein translokaler Kulturbegriff geht damit nach wie vor von einer lokalen Rückbezüglichkeit von Medienkulturen in dem Sinne aus, dass es ohne geografischen Ort keine Kultur geben kann – Menschen leben als physische Wesen an einer bestimmten Lokalität. Die translokale Begrifflichkeit von Medienkultur verweist aber darauf, dass sich die verschiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen nicht in die Grenzen eines Territoriums, wie das eines Nationalstaates, fügen müssen.
2.
Endogenität vs. Exogenität: Beim territorialen Kulturbegriff werden Kulturen in dem Sinne als endogen – innen entstehend – gedacht, als dass ihre kulturellen Kontakte durch eine gewisse „Abgeschlossenheit“ beschränkt sind und aus sich selbst heraus reproduziert werden. Man denke hier an das Bild von ländlichen Kulturen, die auf sich gestellt gewesen sind und keinen Kontakt mit ihrer Umgebung hatten. Translokale Kulturen hingegen werden in dem Sinne als exogen – von außen verursacht – gedacht, dass ihre Konstitution und ihr Fortbestehen durch vielfältige Kontakte beeinflusst ist. Nach einem translokalen Kulturbegriff erscheinen Medienkulturen damit nicht klar abgrenzbar wie bei einem territorialen Kulturbegriff; sie beziehen Elemente, die historisch gesehen anderen kulturellen Kontexten „entstammen“, in den Prozess ihrer Artikulation mit ein. Hierdurch operiert ein translokaler Kulturbegriff mit einer Vorstellung von Medienkultur, die von einer Unmöglichkeit der eindeutigen Abgrenzung ausgeht. Medienkulturen gehen fließend ineinander über und bedingen sich wechselseitig. Es erscheint damit notwendig, sie als spezifische Verdichtungen mit Unschärfebereichen untereinander zu fassen.
3.
Organität vs. Hybridität: Territoriale Kulturen werden immer wieder als etwas Organisches beschrieben. Sie entwickeln sich in der Interaktion ihrer auf einem bestimmten Territorium lebenden Mitglieder und bestehen als etwas scheinbar Lebendiges, Ganzes. Nun sind organologische Metaphern
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generell nichts Unproblematisches, suggerieren sie doch, dass es sich bei Kultur um etwas handele, das unabhängig von Menschen und ihren Handlungen bzw. Praktiken besteht. Problematisch erscheint daneben aber auch etwas anderes: Kultur wird als etwas begriffen, dessen Elemente sich zu einer Gesamtheit fügen, in der Fremdes den Status eines Fremdkörpers im Organismus hat. Im Gegensatz zu solchen Vorstellungen einer homogenen Organität wird bei einem translokalen Kulturbegriff die Hybridität von Kulturen betont. Dabei ist Hybridität sicherlich einer der in der aktuellen Kulturtheorie am umfassendsten diskutierten Begriffe.17 Im Kern meint Hybridisierung – wie auch der teilweise alternativ gebrauchte Begriff des Synkretisierung (vgl. Bromley 2000) – so viel wie den aktiven Prozess der Vermischung von Ressourcen unterschiedlicher kultureller Kontexte, deren Verbindung, Fusion und Melange im Rahmen der translokalen Kultur. Menschen sind in gegenwärtigen Medienkulturen zunehmend mit Hybridisierungsprozessen konfrontiert, die häufig als persönliche Herausforderung erfahren werden. 4.
Authentizität vs. Übersetzung: Gewöhnlich schreibt man territorialen Kulturen etwas Authentisches zu. Es sind die Kulturen, die Ethnologen erforscht haben, deren kulturelle Spezifik sie beschreiben. Gerade indem ihre Elemente sich zu einem größeren Ganzen fügen, entsteht der Eindruck, mit dessen Beschreibung den authentischen Kern der betreffenden Kultur in einem bestimmten Territorium erfasst zu haben. Anders ist es beim translokalen Kulturbegriff, der von der Vorstellung ausgeht, dass Kulturen mit einer Vielzahl von anderen Kulturen in Kontakt stehen und Ressourcen unterschiedlicher kultureller Kontexte in ihrer Hybridität aufnehmen. Hier ist die Perspektive weniger die der Authentizität einzelner kultureller Ressourcen, die einen kulturellen Kontext ausmachen. Es geht vielmehr um die spezifische Gesamtlage verschiedener kultureller Ressourcen in einem Verdichtungskontext und damit um die Übersetzungsprozesse, durch die diese kulturell nutzbar gemacht werden. Die Zuschreibung von Authentizität zu bestimmten kulturellen Ressourcen erscheint damit als ein Definitionsprozess, der als solcher die Frage aufwirft, durch welche Diskurse und Formationen diese Zuschreibungen erfolgen (vgl. Robins 1991: 32 f.). Das Spezifische einer translokalen Medienkultur ist entsprechend die „Einzigartigkeit“ ihrer kulturellen Übersetzung.
5.
Identität vs. Identifikation: Identität ist im Rahmen von Konzepten territorialer Kultur etwas anderes als in Konzepten translokaler Kultur. Durch die gedachte Organität und Homogenität wird die Identität territorialer Kultur als eine relativ klar umreißbare, stabile Identität konstruiert. Anders
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Andreas Hepp sieht es beim Konzept der translokalen Kultur mit ihren vielfältigen hybriden kulturellen Ressourcen aus. Stuart Hall hat darauf aufmerksam gemacht, dass Identitäten, wie sie im Sinne eines translokalen Kulturbegriffs aufgefasst werden, in hohem Maße in Abhängigkeit von und in Abgrenzung zu dem Bild des „Fremden“ konstruiert werden (vgl. Hall 1994: 45). Entsprechend ist kulturelle Identität von einer ständigen diskursiven Neupositionierung abhängig, die in Abgrenzung zu anderen Identitäten geschieht und damit stets kontextuell und vorläufig ist. Statt von einer kulturellen Identität als spezifischer Eigenschaft von Menschen in einem bestimmten Territorium zu sprechen, wird im Rahmen eines translokalen Kulturbegriffs Identität als ein fortlaufender Prozess der Identifikation gedacht, für den die kommunikative, kontextuell-situative Abgrenzung gegenüber verschiedenen kulturellen Identifikationsangeboten eine grundlegende Voraussetzung ist. Dies heißt nicht, dass hier keine jeweils durch Sozialisation vermittelten, kulturellen Muster und Positionierungen von Identität angenommen werden. Auch im Rahmen eines translokalen Kulturbegriffs werden Prozesse der „kulturellen Einschreibung“ ins Subjekt theoretisiert. Jedoch wird in einem wesentlich stärkeren Maße von einem momentanen Identifikationsprozess ihrer Artikulation ausgegangen.
Begreifen wir Medienkulturen als translokale Phänomene, so verweist dies also nicht nur auf die Spezifik der kommunikativen Konnektivität von Medienkommunikation. Darüber hinausgehend ist damit auch ein Begriff von Kultur verbunden, der versucht, der Vielschichtigkeit medienvermittelter Prozesse der Bedeutungsproduktion in Zeiten fortschreitender Globalisierung gerecht zu werden.
5 Kulturtheorie als grundlegende Theorie der Kommunikationsund Medienwissenschaft Ausgangspunkt dieses Artikels war die Argumentation, dass Kulturtheorie und hier insbesondere die in der Tradition der Cultural Studies eine relevante Basis für Kommunikations- und Medienwissenschaft ist. Um dies zu verdeutlichen, wurde ein Begriff von Medienkultur entwickelt, der diese nicht einfach als Integrationsinstanz von Gesellschaft begreift, sondern als ein durch Auseinandersetzungsprozesse geprägtes Bezugssystem von alltäglicher Bedeutungsproduktion. Dabei entbettet Medienkommunikation die menschliche Bedeutungsproduktion aus lokalen Kontexten, das heißt eröffnet kommunikativ kulturelle Kontexte
Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft
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über den der lokalen Ko-Präsenz hinaus. Medienvermittelte kommunikative Konnektivität und die Translokalität von Medienkulturen sind also in einer engen Beziehung zueinander zu sehen. Dies macht letztlich auch einen Kulturbegriff notwendig, der von einem territorialen Verständnis von Medienkultur – wie es mit dem Begriff der nationalen Medienkultur verbunden wird – Abstand nimmt zugunsten eines offenen, translokalen Kulturbegriffs. Es ist dieser offene Kulturbegriff, der für eine kulturtheoretisch begründete Auseinandersetzung mit Medien und Kommunikation zielführend erscheint, indem Nationalkulturen – die lange Zeit das klassische Feld der Massenkommunikationsforschung gewesen sind – letztlich nur als territorialisierter Sonderfall von translokalen Medienkulturen zu begreifen sind. Wie man zusammenfassend festhalten kann, ist das Charakteristische der wissenschaftlichen Perspektive der Kommunikations- und Medienwissenschaft in einem solchen breiten Verständnis von Medienkultur darin zu sehen, dass diese Wissenschaftsdisziplin sich detailliert mit der Frage auseinander setzt, welche Prozesse der Medienkommunikation auf welche Weise Medienkulturen artikulieren. Pointiert formuliert: Die Kommunikations- und Medienwissenschaft setzt sich mit dem kommunikativen Wie der Artikulation von Medienkulturen auseinander. Was bietet nun ein solcher theoretischer Ansatzpunkt für die Kommunikations- und Medienwissenschaft? Wirft man diese Frage auf, so lassen sich ausgehend von den bisher skizzierten Überlegungen insbesondere zwei Punkte herausstreichen. Theoretisierende Ausrichtung: Grundlegend sollten meine Argumente deutlich gemacht haben, inwiefern eine kulturtheoretische Basis wichtig für die Kommunikations- und Medienwissenschaft ist. Nur wenn man auch Kultur theoretisch fundiert im Blick hat, lässt sich Medienkommunikation als Prozess der Bedeutungsproduktion angemessen fassen. Oder anders formuliert, für ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Vorgehen erscheint ein theoretisch fundiertes Verständnis des Verhältnisses von Kultur, Kommunikation und Medien notwendig. Indem Medienkulturen aber selbst durch einen nachhaltigen Wandel geprägt sind und verschiedene Kulturbegriffe unterschiedliche Aspekte dieses Wandels reflektieren, geht es bei einer Auseinandersetzung mit diesem Dreiecksverhältnis stets auch um Theorieentwicklung. Gerade wenn man in kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive das ‚Wie‘ der Artikulation von sich wandelnden Medienkulturen fassen möchte, erscheint es kaum möglich, bei einer mehr oder weniger abstrakten allgemeingültigen Kulturtheorie stehen zu bleiben. Analytische Offenheit: Wichtig für ein kulturtheoretisch orientiertes Vorgehen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft erscheint gleichzeitig dessen analytische Offenheit. Wie die bisherigen Darlegungen insgesamt
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Andreas Hepp
gezeigt haben, ist damit nicht eine einfache Deskription gemeint. So hat der skizzierte Begriffsapparat nicht nur den Anspruch, verschiedene Medienkulturen in deren Wandel zu fassen, sondern will dies auch im Rahmen einer machtkritischen Perspektive tun. Die Analyse einzelner medienkultureller Phänomene sollte allerdings bei allem notwendigen Theoretisieren diesen analytisch offen gegenüber bleiben, um jeweils konkret deren Spezifik fassen zu können. Zielführend erscheinen ausgehend von einer grundlegenden kulturtheoretischen Ausrichtung kontextuell sensible empirische Analysen unterschiedlicher Medienkulturen, die deren Produktions-, Repräsentations- und Aneignungspraktiken wie auch Identifikationen, Regulationen und Machtzusammenhänge fokussieren. Diese Analysen können dann der Ausgangspunkt für die geforderte fortlaufende Theorieentwicklung sein. Diese beiden Punkte machen nochmals greifbar, dass Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft eine Basis für konkrete empirische Studien sein möchte. Es geht nicht darum, abstrakt über Medien, Kultur und Kommunikation zu reflektieren. Ziel ist vielmehr eine theoretisch geschulte wie auch auf Theorieentwicklung ausgerichtete kritische empirische Auseinandersetzung mit Medienkulturen und deren gegenwärtigem bzw. historischen Wandel.
Anmerkungen *
1
2
3
Für konstruktive kritische Hinweise zu einer früheren Version des vorliegenden Beitrags danke ich den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Medien, Kommunikation und Information am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen, insbesondere Caroline Düvel, Maren Hartmann, Marco Höhn, Veronika Krönert und Daniel Tepe. Im Weiteren verwende ich den Ausdruck der Kommunikations- und Medienwissenschaft synonym zum englischen ‚media studies‘, in denen sowohl die Tradition der Kommunikationswissenschaft (als Publizistik und Massenkommunikationsforschung) als auch der Medienwissenschaft (als eher textwissenschaftlich orientierte Tradition der Medienforschung) aufgingen. Dies verweist darauf, dass die im deutschen Sprachraum nach wie vor bestehende Unterscheidung von Medienwissenschaft und Kommunikationswissenschaft im internationalen Rahmen eher schwer zu vermitteln ist (vgl. Krotz 2007a). Weitere kulturtheoretische Ansätze innerhalb der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft sind beispielsweise der des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Schmidt 2000) oder des historisierenden Funktionalismus (vgl. Faulstich 1998). In dem Buch „Alle 756 Kulturen“ von Eckhard Henscheid (2001) werden in diesem Sinne gänzlich unterschiedliche Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚Kultur‘ ausgemacht.
Kulturtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft 4
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Entsprechend historisierend diskutieren auch Kroeber und Kluckhohn (1952) in ihrer als klassischen geltenden Darstellung die verschiedenen Verwendungsweisen von ‚Kultur‘. 5 Ganz in diesem Sinne fasst auch John Tomlinson Kultur: „Culture can be understood as the order of life in which human beings construct meaning through practices of symbolic representation […] [that is] by communicating with each other“ (Tomlinson 1999: 18). 6 Vgl. überblickend Saxer 1998. Faulstich fasst in einem solchen Begriffsrahmen Medienkultur wie folgt: „Die Steuerungs- und Orientierungsfunktion früherer Wertebindungen werden derzeit von den dominanten elektronischen und digitalen Medien übernommen. […] Kultur als System der Wertebindung als zentralem symbolisch generalisierten Medium löst sich auf und wird durch technische Medienkultur ersetzt.“ (Faulstich 1998: 47) Eine spezifische Variante eines solchen funktionalistischen (Medien)Kulturbegriffs ist der von Siegfried J. Schmidt, der Kultur als „Programm im Sinne einer begrenzten Menge von spezifischen Regeln oder ‚principles‘ [fasst], die eine große Zahl von Einzelfällen zu erzeugen erlaubt“ (Schmidt 1994: 242). Auch wenn diese Programmmetapher zunächst von der Systemmetapher abweicht, trifft sich die Argumentation von Schmidt doch mit der von Faulstich und Saxer in dem Punkt, dass auch von ihm Kultur als das integrierende Gesamtprogramm der kommunikativen Thematisierung des Wirklichkeitsmodells der (nationalen) Gesellschaft begriffen wird. 7 Aus diesem Grund spricht Stuart Hall auch Fragen der kulturellen Regulation eine solche Bedeutung zu. Kultur ist seiner Meinung nach die Instanz, über die Wandlungsprozesse vermittelt sind. Entsprechend erscheint es ihm nahe liegend, dass die Regulation von Kultur stets eine wichtige Frage der Machthabenden (und der gegen sie Opponierenden) gewesen ist (vgl. Hall 1997: 231-233). 8 Auch Volosinov hat ein Fragen des Konflikts ausschließendes Denken bereits an der Sprachtheorie von de Saussure (1967) mit dessen Begriff des Sprachsystems kritisiert. So hält er Saussure entgegen, dass die Sprache als beständiges System normativ identischer Formen nur eine wissenschaftliche Abstraktion ist, die „lediglich bei der Verfolgung bestimmter praktischer und theoretischer Ziele produktiv sein kann“ (Volosinov 1975: 162). Die „konkrete Wirklichkeit“ fasst diese Theorie aber nur sehr „ausschnitthaft“. Sinnvoller erscheint es, das Verhältnis von Zeichen und individuellem Bewusstsein diskurstheoretisch zu fassen und die Zeichenbedeutung im Prozess der Interaktion zu lokalisieren. 9 Im Gegensatz zum alltagssprachlichen Ausdruck ‚Beziehung‘ oder ‚Verbindung‘, bei dem stets auch Aspekte der kulturellen Nähe mitschwingen (‚das Persönliche‘, ‚das Verbundensein‘), versucht der wissenschaftliche Ausdruck der Konnektivität zu fassen, dass die über das Lokale hinausgehende kommunikative Beziehung nicht mit einer weitergehenden Verbundenheit einher gehen muss. 10 Entsprechend ist es auch möglich, in der Face-to-Face-Kommunikation gemeinsame deiktische Ausdrücke (‚hier‘, ‚jetzt‘, ‚dies‘ etc.) zu verwenden. 11 Ein Problem der traditionellen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Unterscheidung von personaler Kommunikation und Massenkommunikation besteht in Bezug auf digitale Medien darin, dass sich das Internet nicht als Massenmedium charakterisieren lässt, da es nicht als ein Medium auf ein verstreutes Publikum gerichtet ist, gleichzeitig aber als Distributionsnetzwerk Kommunikationsformen integriert, die sich sowohl der personalen als auch der Massenkommunikation zurechnen lassen. Genau bei solchen Kommunikationsformen setzt die Unterscheidung der genannten drei Typen von Kommunikation an und ermöglicht es, die Kom-
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Andreas Hepp
munikation entlang verschiedenster ‚neuer‘ und ‚alter‘ Medien in einem einheitlichen Begriffsraster zu betrachten. In Anlehnung an die Überlegungen von Walter Ong (1987) verwende ich im Weiteren die Bezeichnung ‚orale Gesellschaft‘ anstatt des von Tenbruck gebrauchten Ausdrucks der ‚primitiven Gesellschaft‘. Der Grund hierfür ist, dass ‚orale Gesellschaft‘ weitgehend neutral auf das Grundcharakteristikum der Organisation dieser Gesellschaft abhebt. Im Gegensatz dazu impliziert die Begrifflichkeit von Tenbruck nicht nur eine Wertung, sondern darüber hinausgehend – trotz andersweitiger Bekundungen (s.u.) – Entwicklungsvorstellungen. Tenbruck selbst benutzt allerdings nicht den Ausdruck ‚translokal‘ sondern spricht von ‚überlokal‘ (vgl. beispielsweise. Tenbruck 1972: 58), meint damit aber wie auch in der hier vorliegenden Verwendungsweise eine (kommunikative) Vernetzung von Lokalitäten und nicht ein Ablösen von diesen. Vgl. kritisch hierzu Kunczik 1985; Rullmann 1996; Hepp 2006: 35-49. Als in diesem Sinne weiterführende Überlegungen kann die Theorie der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells (2001) begriffen werden; siehe zu solchen Überlegungen auch die Beiträge in Hepp et al. 2006. Vgl. zu diesem Aspekt im Detail die Diskussionen von García Canclini 1995, Tomlinson 1999 und Hepp 2004. Vgl. hierzu exemplarisch Bronfen et al. 1997, García Canclini 2001, Hannerz 1991, Nghi/Ha 2005, Wagner 2001, Werbner 1997.
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Innovation und Evolution: Wie erklärt sich medialer und kommunikativer Wandel? Rudolf Stöber
1 Vorbemerkung Innovation wird seit einigen Jahren in Politik und Wissenschaft derart häufig als Notwendigkeit bezeichnet, dass der Begriff schon beinahe zerredet ist. Evolution gilt als ein zufallsbestimmter Prozess. Während die Innovationstheorie in den Sozial- und Geisteswissenschaften durchaus Anklang findet (Rogers 1994), ist die Evolutionstheorie – trotz der derzeit modischen biologischen „Leitwissenschaften“ – umstritten. Allerdings ist sie im sozialwissenschaftlichen Kontext wiederholt bemüht worden, um sozialen, medialen oder kommunikativen Wandel zu deuten: u. a. von Baecker (2005), Bentele (1987), Luhmann (1998), Mead (1968), Merten (1977) und Ogburn (1957/1969). Hier sollen einige Aspekte herausgearbeitet werden, mit denen sich die Nützlichkeit der Theorien für die Kommunikationswissenschaft aufzeigen lässt: Die Kombination von Evolutions- und Innovationstheorie liefert einen überschaubaren Satz von einfachen Regeln, mit denen sich komplexe Muster der Kommunikations- und Medienentwicklung erläutern lassen. Insbesondere die Evolutionstheorie ist geeignet, handlungstheoretische Ansätze zu ergänzen. Denn Handlungstheorien tendieren implizit zur Überbetonung der Rationalität des Handelns. Das aber wird der sozialen Realität selten gerecht, denn es lässt sich jede denkbare Variante beobachten: a) Rationales Handeln kann sowohl im intendierten Sinne als auch kontraproduktiv wirken. b) Nichtrationales (das heißt einerseits irrational-vernunftwidriges und andererseits emotionales) Handeln zeitigt unvorhergesehene und unvorhersehbare Effekte. c) Zudem besteht das Handlungssystem nicht nur aus Individuen, sondern es wird von Faktoren der physikalischen, biologischen und sozialen (i.e. technischen, ökonomischen, kulturellen, politischen) Welt geprägt, die eine erstens dynamische, zweitens
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Rudolf Stöber
nichtdeterministische und drittens gleichwohl regelgeleitete Umwelt prägen. (vgl. Giddens 1997: 51-65). Dieser Beitrag setzt sich zunächst mit Einwänden auseinander. Sodann werden einige Beispiele dafür gegeben, wie sich evolutionstheoretische Analogien in Kombination mit der Innovationstheorie für die Kommunikationswissenschaft nutzbar machen lassen.
2 Erkenntnistheoretische Überlegungen zur Evolution der Kultur Dass die Evolutionstheorie ein eher randständiges Dasein fristet, hat mit drei vertretbaren, teils normativen, teils erkenntnistheoretischen Vorbehalten zu tun: •
Im politisch-kulturellen Zusammenhang wird die Evolutionstheorie als Sozialdarwinismus oder zumindest Soziobiologismus abgelehnt.
•
Ob die Gattung Mensch dem Evolutionsdruck noch ausgesetzt ist, wird immer wieder bezweifelt.
•
Hinzu kommt ein erkenntnistheoretischer Einwand: Wer die biologisch erprobte und – abgesehen von Kreationisten und Anhängern des „intelligent design“ – unumstrittenen Evolutionsmechanismen auf den Bereich der Kultur übertrage, begehe eine Kategorienfehler; Analogien seien fehl am Platz und führten in die Irre.
Sozialdarwinismus, kulturelle Emanzipation vom Druck der Umwelt und Kategorienfehler: Alle drei Einwände sind vertretbar, jedoch nicht zu Ende gedacht. Der Vorwurf, wer in kulturellen Zusammenhängen von Evolutionstheorie spreche, sei ein Anhänger des Sozialdarwinismus und legitimiere brutale Machtoder auch kalte Sozialpolitik, wird oft ausgesprochen. Im Kern beruht er auf dem gleichen Denkfehler, dem Sozialdarwinisten von Houston Chamberlain bis Adolf Hitler erlegen sind. Herbert Spencer hatte den Ausdruck in Lamarckischem Sinne geprägt (Spencer 1864: 444). Seine Adepten radikalisierten das Konzept; sie verstanden unter „survival“ den individuellen oder „völkischen“ Überlebenskampf, übersetzten „fittest“ mit „Stärksten“ und leiteten daraus ihre verhängnisvollen Schlüsse ab. Das Überleben der Arten resultiert jedoch nicht primär aus kämpferischen Auseinandersetzungen, sondern aus indirektem Wettbewerb um Ressourcen. Man denke nur an den Verdrängungswettbewerb unter Pflanzen. In der biologischen Evolution ist die Gleichsetzung von „fittest“ mit „Stärksten“ irreführend. Semantisch ist die Übersetzung falsch, da „fit“ nicht stark, sondern passend
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bedeutet. Man müsste wortwörtlich „fittest“ also mit „Angepasstesten“ übersetzen. Erst bei korrekter Übersetzung kommt die Beziehung zwischen Individuum bzw. Art und Umwelt ins Blickfeld. Somit hängt das Überleben nicht nur vom Individuum ab, sondern v.a. von der Interaktion zwischen Art und Umwelt. Zugleich ist die Übersetzung mit „angepasstest“ nur bei statischen Umwelten – also in Ausnahmefällen – korrekt. Wer die evolutionsbiologische Literatur von Darwin (2004 [1872]) bis Gould (1998), Mayr (2001) und Morris (2005) liest, stellt fest, dass sie nicht nur die Angepasstesten im Blick hat, sondern die anpassungsfähigsten Arten. Denn das Grundproblem der Existenz des Lebens ist die permanente Änderung der Umwelt: Der Wandel ist die Regel, autopoietische Selbsterhaltung die Ausnahme. Dabei ist Evolution ein Rückkopplungsprozess, denn sie ist selbst der Wandel, dem die Biosphäre im Weiteren ausgesetzt wird.1 Aus dem zweiten Einwand spricht ungebrochener Fortschrittsglaube. George Herbert Mead schrieb in seinem Hauptwerk: „Es gibt keine biologische Umwelt im Sinne Darwins mehr, die uns Probleme böte. Natürlich können wir die geologischen Kräfte […] nicht kontrollieren. […] Doch erreichte die menschliche Gesellschaft ein Ziel, das keine andere Gattung erreicht hat: Sie kann innerhalb gewisser Grenzen tatsächlich ihre anorganische Umwelt bestimmen“ (Mead 1934/1968: 297-299).
Je nachdem, wie eng die Grenzen gezogen werden, wird man die menschliche Gesellschaft enger oder weniger eng den evolutionären Regeln unterworfen sehen. Aber sie bleibt noch immer den evolutionären Regeln unterworfen (vgl. Lahn 2005). Doch hier geht es nicht um Rückwirkungen der Kultur auf die biologische Evolution der menschlichen Spezies, sondern darum aufzuzeigen, dass in der kulturellen Sphäre Prozesse ablaufen, die denen der Evolution ähneln: Der Mensch schafft sich kulturelle Umwelten, an die sich die Gesellschaft anpassen muss, wenn sie fortexistieren will – sei es die Globalisierung, das Steuersystem oder der Wissenschaftsapparat. Die Nationalökonomien müssen Antworten auf die Globalisierung finden, der Steuerbürger sich mit dem Steuerrecht herumschlagen und das Wissenschaftssystem produziert genauso viele Angepasste wie jede andere Karrieremöglichkeit. Es ließen sich viele Beispiele nennen, die zwei Dinge gemeinsam haben: Das intentionale und nicht-intentionale Verhalten jedes Einzelnen ergibt in der Summe eine Umwelt, der jeder ausgesetzt ist, und die im Ergebnis keineswegs rationalen oder deterministischen Mustern folgt. Vielmehr gehorcht sie im Weiteren einer Mischung aus Zufall und Notwendigkeit, unabhängig von den ursprünglich intendierten Absichten. Um dem dritten Einwand zu begegnen, muss etwas weiter ausgeholt werden. Unstrittig ist die Übernahme von Analogien ebenso probat wie gefährlich;
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Rudolf Stöber
Analogien sind sprachliche Bilder und diese tendieren dazu, sich zu verselbstständigen; das führt dann zu falschen (Analogie-)Schlüssen. Giddens macht es sich allerdings zu leicht, wenn er aus offensichtlich falschen Analogieschlüssen verallgemeinert, die Evolutionstheorie sei insgesamt zu verwerfen (Giddens 1997: 321-333). Daher sollen im Folgenden nicht nur Argumente für die eigene Position, sondern zugleich auch gegen soziobiologische Übertreibungen gesammelt werden. Die vermittelnde Antwort vorweg: Evolutionstheorie bietet notwendige, aber keineswegs hinreichende Erklärungen zum Verständnis des kommunikativen und medialen Wandels. Abbildung 1: Von einfacher Materie zu Geist („Mind“)
Übergangsformen Geist animalische Intelligenz
Leben Viren Materie
Letztlich berührt der Vorwurf, mit der Anwendung der Evolutionstheorie auf kulturelle Phänomene einen Kategorienfehler zu begehen, ein altes philosophisches Problem: den Dualismus von Geist („mind“) und Materie. Während bspw. seit Albert Einstein die Äquivalenz von Energie und Materie in einer mathematischen Formel auszudrücken ist – E = M*C2 (Einstein 1905/2004: 991) – ,2 wird die Beziehung zwischen Materie und Geist gerade erst in Anfängen verstanden. Zur einfachen Veranschaulichung und Betonung der Unterschiede sollen beide zunächst hierarchisch angeordnet werden. Aber schon die Zwischenstufe des Lebens mildert den Gegensatz. Auch Materie, Leben und Geist sind keine trennscharfen Phänomene. Z. B. zeigen Viren den Übergang zwischen unbelebter und belebter Materie; in der Fauna sind Kreaturen abgestufter und teilweise erstaunlicher Intelligenz vertreten, von denen einige sogar Ansätze zu
Innovation und Evolution
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„Selbst“-Bewusstsein zeigen. Doch wohl nur die menschliche Existenz zeichnet sich durch eine „theory of mind“ aus. Was lebt, basiert auf Materie; Geist und Intelligenz wiederum beruhen auf Leben. Nach den Regeln klassischer Deduktion müssten, wenn Geist („mind“) als Teilmenge des Lebens, das Leben als Teilmenge der materiellen Umwelt zu betrachten sind, die Regeln des Ganzen auch für seine Teile gelten. Doch wird damit nur die Notwendigkeit physikalischer Gesetze nachgewiesen; jede Behauptung, sie reichten zur Erklärung der Welt aus, verträte eine extrem reduktionistische Position. Denn Leben und Geist sind emergente Phänomene. Tabelle 1:
Grundlage, Regeln, Theorien
Grundlage/ Umwelten Intelligenz Kulturelle Umwelt Leben/bewohnbare Umwelt Materie/Universum
Regeln und Gesetzmäßigkeiten soziale Regeln/ kultureller Wettbewerb biochemische Reaktionen/ Ressourcenwettbewerb atomare u. molekulare Prozesse/Universalgesetze
Theorien und Interpretationen Mikro/Makro: div. soz. Theorien Evolutionstheorie? Mikro: Genetik Makro: Evolutionstheorie Mikro: Quanten-Physik Makro: klassische Physik
Leben kann dabei als Emergenz erster Ordnung, Geist als Emergenz zweiter Ordnung gelten. Emergenz bedeutet in herkömmlicher Interpretation zusätzliche Komplexität, die sich aus Vorhergehendem entwickelt, etwas qualitativ Neues darstellt und kontingent entsteht: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, weil mit der Emergenz neue, zusätzliche Regeln eingeführt werden. In der physikalischen Welt gelten die deterministischen Gesetze der klassischen Physik und daneben die nicht-determinierten, stochastischen Regeln der Quantenphysik. In der Biosphäre gelten darüber hinaus einerseits die Gesetzmäßigkeiten biochemischer Reaktionen, andererseits die kontingenten Regeln der Evolution. Kontingenz heißt dabei nicht reine Zufälligkeit, sondern sie folgt einer zufälligen, aber notwendigen Auswahl aus einer Reihe von Optionen. Mit Geist und Intelligenz treten Regeln, die das intentionale Handeln der Beteiligten steuern, hinzu: Interessen, Abneigungen und Vorlieben. Epiphänomene oder Umwelten entstehen: Materiebausteine verbinden sich zu Elementen und komplexeren Verbindungen. Aus zunächst einfachen und dann komplexeren Lebensformen entwickelt sich die Biosphäre. Der menschliche Geist wiederum bringt Kulturprodukte hervor. Materie, Leben und Geist schaffen sich ihre Umwelten zwangsläufig – vorausgesetzt, sie haben genügend Zeit.
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So bestimmen die Gesetze der physikalischen Welt – notwendig aber nicht hinreichend – unser kulturelles, soziales und politisches Leben. Ein Beispiel ist die Unbestimmtheit der Quantenphysik: Die Kontingenz unserer sozialen Welt muss im innersten Kern auf den quantenphysikalischen Nicht-Determinismus zurückgeführt werden – allerdings ist der Beweis wohl kaum zu erbringen. Ein weiteres Beispiel bietet der 2. Hauptsatz der Thermodynamik: „Die Entropie kann in einem geschlossenen System nur zunehmen.“ Daraus leitet sich der Energiebedarf unserer modernen Welt ab; allerdings soll weder behauptet werden, jede Politik sei Krieg um Öl, noch soll jedes sozio-kulturelle und politischökonomische Phänomen allein mit den Gesetzen der Physik erklärt werden. Sie lassen sich aber auch im kulturellen Zusammenhang nicht ignorieren. Abbildung 2: Evolution erzeugt Emergenzen und Epiphänome Epiphänomene
Emergenz
2. Ordnung
Geist
Kulturprodukte & soz.-kult. Umwelten
1. Ordnung
Leben
Lebensformen & Lebenswelten
Materie
Elemente & „Welten Kontingenz
In vergleichbarer Weise bietet die Evolutionstheorie einen notwendigen, doch nicht hinreichenden Erklärungsansatz für die Entwicklung der sozio-kulturellen Umwelt: Die Menschheit ist ein Produkt der Evolution und die Produkte des Menschen folgen zumindest mittelbar aus der biologischen Evolution. Die kognitiven Fähigkeiten, die uns zur „theory of mind“ befähigen, so der Neurophysiologe Wolf Singer, ermöglichen die menschliche Kultur, diese wiederum wirkt auch auf die phänotypische Organisation des Gehirns zurück (Singer 2003; vgl. Wilson 2001: 370f.). Die analoge Übertragung der Regeln der biologischen auf die der kulturellen Evolution stellt also keinen plumpen Kategorienfehler dar, sondern ist, innerhalb gewisser Grenzen, nicht nur zulässig, sondern sogar zwingend. Allerdings zeigt der Rekurs auf die physikalischen Gesetze, dass der
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sozio-biologische Reduktionismus, wie ihn Edward O. Wilson vertritt, zu weit geht. Anstatt kulturelles Verhalten auf einen genetisch determinierten Prozess zurückzuführen, müsste man bei konsequenter Beachtung logischer Regeln alles, also auch Kultur, auf Physik reduzieren. Die aber stellt sich eben nicht nur im Determinismus der Gesetze der klassischen Physik dar, sondern auch im Nicht-Determinismus der Quantenphysik. Doch noch einmal, nicht die Auswirkungen der Kultur auf die biologische Evolution stehen auf dem Prüfstand, sondern die Übertragung evolutionstheoretischer Analogien auf kulturelle Prozesse. Die Kernthese dieses Beitrags lautet daher: Die Grundprinzipien der biologischen Evolution wirken auch auf der Ebene der kulturellen Evolution, weil die stete Auseinandersetzung der Teile mit dem Ganzen allem Lebendigen ständig alle denkbaren Varianten der Interaktion aufzwingt – von Vorteilsnahme bis zu kooperativem Verhalten. Die Evolutionstheorie liefert eine Blaupause für stete Veränderungen in einem hochkomplexen System.
3 Konvergenz, Institutionalisierung und Ko-Evolution von Kommunikation und Medien Einige Muster der Rückkopplungsprozesse sollen im Folgenden betrachtet werden: Eine wichtige und dennoch wohl nie mit letzter Sicherheit nicht zu beantwortende Frage betrifft das Problem der Genese Kommunikation. Offensichtlich ist auch hier von einem Kontinuum der Phänomene auszugehen, das weit vor die menschliche Kommunikation zurückreicht (vgl. Merten 1977: 92-118). Über die Entstehung menschlicher Kommunikation sind mangels Quellenüberlieferung nur mehr oder minder einleuchtende Vermutungen möglich. Eine davon gewinnt im Lichte neuerer Untersuchungen zum Verhalten der nächsten Verwandten des Menschen, der Schimpansen, neue Relevanz. So wie vor sieben Jahrzehnten George H. Mead die Entstehung der menschlichen Kommunikation skizzierte, könnte es gewesen sein (vgl. Bubnoff 2005). Meads Vorschlag lief auf Folgendes hinaus: Tiere – unterschiedlicher Entwicklungsstufen – sind einem Reiz-Reaktionsschema ausgeliefert. Die Reaktionen, z. B. Gesten oder Laute, sind ihrerseits Reize – z. B. das Glucken der Henne für ihr Küken. Während jedoch bei Tieren die Kommunikation über das Reiz-Reaktionsschema nur unwesentlich hinausreicht, entwickelten die Frühmenschen die Reize und Reaktionen (Gesten, Laute) zu abstrakten (signifikanten) Symbolen weiter. Daraus formte sich die zu abstraktem Denken befähigende menschliche Kommunikati-
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on, mittels derer wir uns verständigen, planen und zwischen Handlungsalternativen auswählen können (vgl. Mead 1934/1968). Oder mit den Worten von Habermas: „Diese Symbolsysteme können wir als emergente Eigenschaften verstehen, die sich mit jenem evolutionären Schub zur ‚Vergesellschaftung der Kognition’ herausgebildet haben“ (Habermas 2005: 180). Ob abstraktes Denken dabei tatsächlich die abstrakte Sprache voraussetzt oder nicht, soll nicht weiter erörtert werden. Mangels geeigneter Überlieferung muss auch die Entstehung der Sprache selbst im Dunkeln bleiben. Dabei ist unter Linguisten heute wieder umstrittener als noch vor drei Jahrzehnten, ob Noam Chomskys Universalgrammatik (Chomsky 1973: 82f.) existiert. Aber selbst wenn keine „Verdrahtung“ im Gehirn bei allen Menschen eine universale Grammatik der Sprache bedingt, so darf doch als gesichert gelten, dass menschliche Kommunikation in jeder neuen Umwelt recht schnell nicht nur semantische Bedeutungen von Sprach-Symbolen an- und übernimmt, sondern auch syntaktische und grammatikalische Symbole entwickelt, die eine Sprache erst abstrakt und vollwertig werden lassen. So mangelt es den Pidgin-Sprachen zwar an der elaborierten Grammatik, der zusammengewürfelte Wortschatz ist allerdings gleichwohl verwendbar. Der Schritt zu den Kreol-Sprachen der nächsten Generation versieht die ungelenke Neusprache mit einer eigenständigen und vollwertigen Grammatik. Für die Entwicklung der menschlichen Kommunikation wird man daher wohl annehmen dürfen, dass sie sich aus einem System konkreter Zeichen zu einem Zeichensystem konkreter und abstrakter Zeichen sowie – analog zu Karl Bühler (1934) – verortender Feldzeichen entwickelte. Dies ist unabhängig voneinander und ohne direkte Quellen zu hinterlassen abertausende Mal im Laufe der menschlichen Geschichte geschehen. Damit zeigt schon die erste Stufe der Entwicklung menschlicher Kommunikation eine interessante Parallele zur biologischen Evolution: Sprachentwicklung ist ein konvergentes Phänomen. Konvergenz ist ein zentrales Schema der Evolution und bedeutet im evolutionsbiologischen Zusammenhang Folgendes: Die äußeren Zwänge der Umwelt wirken auf alle Organismen ähnlich und initiieren damit eine analog gelagerte Problemlösung. Die Wege dorthin können unterschiedlich verlaufen, am Ende stehen häufig Organe, die auf recht ähnliche Weise funktionieren. Ein einsichtiges Beispiel (im doppelten Wortsinne) ist die „Erfindung“ des Kamera-Auges durch Wirbeltiere (Fische, Amphibien, Säugetiere) einerseits und Wirbellose (Kalmare etc.) andererseits. Das Kamera-Auge entstand unabhängig voneinander mehrfach und funktioniert in allen Fällen überraschend ähnlich. Selbst die Facetten-Augen der Insekten sind mit den Kamera-Augen insofern konvergent, als dass auch sie das Orientierungsproblem mit einem Sinnesorgan für optische
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Reize beantwortet haben. Konvergenz lässt sich in unzähligen Varianten im Tierreich beobachten (vgl. Morris 2005). Jenseits der eben genannten Konvergenz der Sprache weist die Evolution menschlicher Kommunikation eine Vielzahl weiterer konvergenter Phänomene auf. So ist der Transformationsprozess der Kommunikationssysteme im Anschluss an die osteuropäischen Revolutionen von 1989/1990 erstaunlich konvergent verlaufen (vgl. Thomaß 2001). Ob und in welche Richtung die privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland konvergieren, ist zwar umstritten; nicht umstritten ist jedoch, dass sich sowohl der öffentlichrechtliche wie auch der private Rundfunk ähnlich den Vorbildern im Ausland – BBC einerseits, private Hörfunk und Fernsehsender andererseits – entwickelt haben. Die Durchformatierung des privaten „Dudel“-Funks seit den 1950er Jahren – zunächst in Amerika, dann in Europa – verlief überall nach ähnlichem Muster und folgte immer der gleichen Rationalität: zielgruppenorientierte Musik-Berieselung als werbefreundliches Umfeld. Die Rundfunksysteme in den westlichen Industriestaaten nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten sich viel konvergenter als das der Blick auf den angeblichen deutschen Sonderweg lange glauben machte (vgl. Lersch/Schanze 2004). So hat die Rundfunkgeschichte international betrachtet drei idealtypische Systeme hervorgebracht, die für sich betrachtet jeweils als hochgradig konvergent anzusehen sind. Tabelle 2:
Konvergente Rundfunksysteme
Finanzierungsart
Struktur-, Programm-, Personalentscheidungen Pluralität öffentliche Aufgabe
staatlicher Rundfunk zumeist Steuern, aber auch Gebühren extern, von Partei und Staat oktroyiert
öffentlich-rechtlicher Rundfunk zumeist Gebühren, aber auch Steuern und Werbung intern, Gesetzgeber formuliert Rahmen
privater Rundfunk Werbung oder Bezahlsysteme
keine Pluralität Sprachrohr von Partei, Staat, Regierung
Binnenpluralität Grundversorgung, Minderheitenschutz
Außenpluralität Gesetzestreue (u.U. Grundversorgung)
intern, Gesetzgeber regelt Lizenzierung
Quelle: Stöber 2003b: 91
Ähnliches lässt sich zur Entwicklung der Presse sagen. Überall entwickelte sich aus der Buchdruckerkunst zunächst ein nicht-serielles Pressewesen. Die Flugblätter und Flugschriften der Jahrhunderte nach Gutenberg zeitigten jedoch immer wieder auch quasi-serielle Schriftenfolgen. Zunächst in den Staaten Europas, später auch außerhalb, wurden zeitungs- und zeitschriftenähnliche
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Vorläufer gegründet. Die frühen Zeitungen waren überall weitgehend frei von einer redaktionellen Linie. Viele Staaten tolerierten jedoch zunächst keinen Zeitungswettbewerb, sondern privilegierten nur wenige Blätter oder monopolisierten gar ein Staatszeitungssystem. Parteipresse war in allen Ländern Durchgangsstadium; Boulevardpresse entstand allerorts spät. Auch die Zeitschriftenentwicklung verlief hochgradig konvergent: wissenschaftliche Zeitschriften schon im 17. Jahrhundert, moralische Wochenschriften im 18., Familienblätter im 19., die große Vielfalt der Publikumspresse im 20. Jahrhundert. Natürlich gibt es die Ausnahme von der Regel; politische Zeitschriften entstanden zu unterschiedlichen Zeiten: In Deutschland schon im 17. Jahrhundert, in England zu Ende des gleichen Jahrhunderts, in Frankreich nennenswert erst während der Französischen Revolution. Und wieder lässt sich das Regulierungssystem zu wenigen idealtypischen Formen gruppieren: Tabelle 3:
Konvergente Pressesysteme Autoritäre Regimente Vorzensur extern, Nachzensur extern
Liberale/ demokratische Staaten Zensurverbot, juristische Nachkontrolle
Privileg (auch zum Schutz vor Konkurrenz), z.T. Konzessionierung und Kaution, z.T. Zentralzeitungen Unbekannt; bei technischen Berufen z.T. Zunftkontrolle
Kartellrecht, Wettbewerbskontrolle
Verbreitungskontrolle
Postdebit
keine
Besteuerung
demeritorisch
meritorisch
Inhaltliche Kontrolle Unternehmenskontrolle
Berufskontrolle
Freier Berufszugang; Vielzahl von Ausbildungswegen
Totalitäre Systeme Vorzensur intern, Nachzensur extern, Nachrichtenkontrolle z.T. Konzessionierung, Zentralorgane
Kontrolle von Ausbildung und Zugang, Zwangsmitgliedschaft in Berufsverbänden Auflagekontrolle, Papierkontingentierung, staatlicher Vertriebszwang unwichtig
Quelle: Stöber 2003a: 136
Der Aufbau der Postsysteme seit der frühen Neuzeit und der Telegrafeninfrastruktur im 19. Jahrhundert verlief konvergent. Angesichts des überwältigenden Erfolgs des Internet ist beinahe in Vergessenheit geraten, dass in etlichen Län-
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dern nationale Datennetze seit den späten 1970er Jahren aufgebaut worden waren: Viewdata (Großbritannien), BTX (Deutschland), Minitel (Frankreich) oder Telidon (Kanada). Als das Internet mit Hypertext und Browser so bedienungsfreundlich wurde, dass sich sein Erfolg nicht mehr aufhalten ließ, verdrängte es die nationalen Netze zugunsten eines internationalen Netzes der Netze. Nun mag man einwenden, dass die beschriebenen Konvergenzen sich in einem wesentlichen Punkt von der biologischen Konvergenz unterscheiden: Denn die biologische Konvergenz führt völlig unabhängig voneinander zu ähnlichen Lösungen; bei den beschriebenen Konvergenzen der Kommunikationssysteme war das unzweifelhaft anders, da Anleihen aus anderen Systemlösungen übernommen oder an diese weitergegeben wurden. Gleichwohl gab es auch konvergente Kommunikationsentwicklungen, die unabhängig voneinander entstanden. Für die Sprache muss es angenommen werden (s.o.). Für die Schrift wird man mehrere unabhängige Erfindungen konstatieren dürfen. Zumindest im chinesisch-ostasiatischen und im mittelamerikanischen Raum entwickelten sie sich unabhängig; zwischen Ägypten und dem Zweistromland müssen allerdings Handels- und Kulturbeziehungen angenommen werden, die Anregungen zur doppelten Erfindung der Schrift gaben. Auch die Vorformen des Druckens, das Stempeln, ist mehrfach entstanden. Das Drucken ist selbstständig in Europa und in China entstanden. Den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand allerdings Gutenberg – die Chinesen konnten ihn nicht erfinden, da ihr Schriftsystem nicht auf Lettern (das heißt einem Alphabet) beruhte. Doch schon Ende des 15. Jahrhunderts wurde in Korea der Druck mit beweglichen Lettern noch einmal erfunden. Unabhängige und dennoch konvergente Lösungen gab es, solange die Erde noch nicht von einem vernetzten Kommunikations- und Verkehrssystem überzogen war und die Hochkulturen der fünf Erdteile isoliert voneinander existierten. Seit dem Zeitalter der Entdeckungen wurden wirklich unabhängige Lösungen immer unwahrscheinlicher. Der Drang zu konvergenten Problemlösungen jedoch verstärkte sich. Mit der Konvergenz liegt ein erster Set an Regeln vor, bei dem die Bio-Evolution die Blaupause für interdependente Phänomene der Evolution von Kommunikation und Medien liefert. Ein weiterer Set hilft uns, die Entstehung neuer sozialer Institutionen und darunter insbesondere den Spezialfall der Neuentstehung von Medien zu begreifen: Neue Medien entstehen durch Institutionalisierung. Um den Prozess besser zu verstehen, soll die Innovationstheorie Josef Alois Schumpeters (1997) mit der Evolutionstheorie kombiniert werden. Da die biologische Evolution im Unterschied zu kulturellen Entwicklungen keine Intentionen kennt, behebt ihre Ergänzung um Schumpeters Innovationstheorie zugleich deren zentrales Manko.
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Die Innovationsforschung unterscheidet drei Stufen: die Invention, in der ein neues kulturelles Werkzeug entdeckt oder erfunden wird; die Innovation, in der die Gesellschaft die Neuerung annimmt oder verwirft; die Diffusion, in der die Neuerung allgemein gebräuchlich wird. Im ersten Schritt, der Invention, wurde ein älteres Instrument sozialer Kommunikation verbessert. Die Erfindungen vom Buchdruck bis zum Computer waren von der Beobachtung kultureller, ökonomischer, technischer oder politischer Defizite und Mangelerscheinungen angestoßen worden: •
Die Presse wurde von Gutenberg als Schönschreibinstrument erfunden;
•
die elektrische Telegrafie verbesserte die optische;
•
das Telefon war von Alexander Graham Bell als Ergänzung der elektrischen Telegrafie gedacht;
•
die drahtlose Telegrafie sollte die leitungsgebundene, elektrische Telegrafie von einer festen physikalischen Infrastruktur unabhängig machen;
•
der Film entstand in Kontinuität der optischen Vergnügungsmedien des 19. Jahrhunderts;
•
Eduard Liesegang (1891), der den Begriff „Fernsehen“ komplementär zum „Fernsprechen“ prägte, verstand darunter ein Bild-Telefon;
•
der Computer war zunächst ein Rechenknecht.
Wie allgemein bekannt ist, blieb es dabei jedoch nicht: Im zweiten entscheidenden Schritt, in Schumpeters Phase der Neuerung („Innovation“), entdeckte die Gesellschaft, dass in den Erfindungen auch neue Optionen steckten. Erst jetzt entstanden grundständig neue Kommunikationsmöglichkeiten und somit erblickten wirklich „neue Medien“ das Licht der Welt: •
Aus dem Buchdruck Gutenbergs wurde die periodische Presse;
•
die elektrische Telegrafie ermöglichte Nachrichtenagenturen;
•
die drahtlose Telegrafie wurde zum Programmmedium Rundfunk, dass nicht mehr One-to-One vermittelte, sondern sich an ein disperses Publikum richtete;
•
der Film etablierte sich von Vaudeville und Varieté und entwickelte einerseits den erzählenden Spielfilm, andererseits die dokumentarischen Gattungen der Wochenschau und des Dokumentarfilms;
•
als das Vorbild von Hörfunk und Film vorlag, lautete die Gleichung nicht mehr Telefon + Bild = Fernsehen, sondern Hörfunk + Film = Fernsehen;
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aus dem Rechenknecht der frühen Jahre ist dank vielfältiger Verbesserung ein multimediales Instrument geworden, bei dem Viele mit Vielen kommunizieren können.
Die beiden Stufen Invention und Innovation entsprechen der zweistufigen Funktionsverbesserung von Adaption und Exaptation, wie neuere evolutionstheoretische Arbeiten betonen: Adaption meint dabei umweltgesteuerte evolutionäre Anpassungen (oder Funktionsverbesserungen) bestimmter Eigenschaften, z. B. Federn zum Zwecke der Wärmeisolierung bei den Vorläufern der Vögel. Mit Exaptation ist eine neue, aus der älteren Funktion hervorgehende Ableitung revolutionär neuer Fähigkeiten gemeint, z. B. die weitere Verbesserung der Federn bei der Entwicklung von Flugeigenschaften, als die neue Klasse der Vögel entstand. Tabelle 4:
Druck elektrische Telegrafie Telefonie Film Radio Fernsehen Computer/ Multimedia
Adaption und Exaptation, Invention und Innovation Adaption der 1. Funktion (Invention): Verbesserung alter Medien Verbesserung des Schreibens Verbesserung der optischen Telegrafie für staatliche und militärische Zwecke Verbesserung der Telegrafie Neue Optionen für Vaudeville und Varieté Verbesserungen drahtgebundener Telegrafie Verbesserung des Telefons (Bildtelefon) Erleichterung des Rechnens
Exaptation der 2. Funktion (Innovation): Emergenz neuer Medien Entwicklung serieller Presse Nachrichtenagenturen
Privates und geschäftliches Individualmedium Programmmedium mit Spielfilmen und Wochenschau Rundfunk als Programmmedium Rundfunk kombiniert mit bewegten Bildern Vielzweckinstrument
Quelle: Stöber 2004: 503
Die Evolutionstheorie erweitert hier gegenüber der Innovationstheorie insoweit die Perspektive, als nicht nur in den Blick kommt, dass sich während der Institutionalisierung die Haltung der Öffentlichkeit zu den neuen Medien wandelte – darauf haben schon Rogers (1995) und Winston (1998) hingewiesen. Der zweite Wandel ist die fundamentale Veränderung der Medien selbst: Neue Medien werden nicht (technisch) erfunden; ihr revolutionär-neuer (emergenter) Charak-
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ter wird erst durch die Exaptation deutlich, bei der sich der Charakter der technischen Erfindung wandelt. Der zweischrittige Funktionswandel – in der oben stehenden Tabelle zusammengefasst – betont dabei den kommunikationswissenschaftlichen Kern: Die Kommunikationswissenschaft täte gut daran, Medien und Kommunikation in Beziehung zum gesellschaftlichen Wandel zu setzen und deren gesellschaftliche Funktionen herauszuarbeiten. Andernfalls bleibt sie Medienwissenschaft. In der Tabelle fehlt Schumpeters dritte Phase; sie ist gleichermaßen wichtig und unwichtig. Wichtig ist die Diffusionsphase insofern, als die Ausbreitung der neuen Kommunikationsmöglichkeiten die erfolgreiche Institutionalisierung bekräftigt. Unwichtig ist die Diffusionsphase jedoch, insoweit das Entscheidende, die Institutionalisierung des neuen Mediums, schon zuvor durch Innovation und Exaptation geschehen ist. Mit Konvergenz und Institutionalisierung ist die Nützlichkeit der Evolutions-Analogie noch keineswegs erschöpft: •
Die biologische Evolution und die der Medien und Kommunikation sind zeitabhängige, offene und ungleichmäßig verlaufende Prozesse. Wie alle historischen Prozesse sind sie nicht vorhersagbar, erscheinen aber ex post folgerichtig.
•
Die biologische Evolution wie die der Medien und Kommunikation ist durch endogene (innere) und exogene (äußere) Faktoren beeinflusst.
•
Die Evolution des Lebens und die Medienentwicklung stellen sich als Ausdifferenzierungsprozesse dar. Im einen Fall hat die Evolution eine große Bio-Diversität mit vielen spezialisierten Lebensformen, im anderen eine ausdifferenzierte und ebenfalls hochspezialisierte Medienvielfalt hervorgebracht.
•
Ob bei der Evolution des Lebens und der Medien von Fortschritt gesprochen werden kann, hängt von der Perspektive ab.
•
Ko-Evolution gilt hier wie da.
Während die erste Aussage für sich selbst spricht, bedürfen die weiteren detaillierterer Erklärungen: Endogene Faktoren spielen für die ökologische Nische einer biologischen Population die zentrale Rolle. Der stete Wechsel zwischen dem Auffüllen neuer Nischen, Populationswachstum, Überpopulation und Ressourcenverknappung trieb die Evolution voran. Daneben spielten exogene Faktoren, massive externe Störungen des ökologischen Gleichgewichts, eine wichtige Rolle in der Evolution des Lebens – seien es Meteoriteneinschläge oder Eingriffe des Menschen in das Habitat. Auch das hat Parallelen in der kulturellen Evolution: Ein exogener Faktor wäre z. B. die Zerstörung des politisch-
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gesellschaftlichen Systems. In Deutschland ereignete sich dies im 20. Jahrhundert immerhin zweimal: 1945 und 1989/1990. Endogene Faktoren (z. B. Konjunkturen, kulturelle Entwicklungen etc.) bewirkten Erhalt oder Zerstörung medialer „Populationen“, also „relevanter Märkte“. Die Bewertung der Veränderungen ist ähnlich heikel wie die Erklärung der Ursachen des Wandels. Ob Evolution als Fortschritt gewertet wird, ist die Frage der Perspektive. Morris hat die konvergente Evolution als Fortschritt gedeutet (Morris 2005). Gould (1998) und andere haben hingegen darauf hingewiesen, dass man die Evolution auch ganz anders sehen könne. Zwar sind Menschen intelligenter und komplexer als Bakterien, aber andererseits waren die frühesten Lebensformen so erfolgreich, dass sich Öko-Nischen nur noch für komplexere, spezialisiertere Formen öffneten. Diese sind jedoch gegenüber Umweltveränderungen viel empfindlicher als die nicht auszurottenden archaischen Lebensformen. In Analogie dazu hält vielleicht mancher Leser die Filme von Chaplin, Chabrol oder Tarantino für „fortschrittlicher“ als die Verse eines Homer, Shakespeare oder Goethe. Ich teile diese Auffassung nicht. Und in zweiter Analogie könnte man in den primären Medien Sprache und Mimik die grundsätzlich nicht ausrottbaren Medien sehen. Ohne die grundlegenden Mittel menschlicher Kommunikation funktioniert kein weiteres Medium. Sprache ist erfolgreicher, variabler, vielfältiger als jedes technische Medium. Sie wird auch dort Verwendung finden, wo niemand technischer Medien bedarf noch sie benutzt. Sie würde noch funktionieren, wenn die Grundlagen unserer technischen Zivilisation zerstört wären.
4 Schlussbemerkung Mit dem Beitrag sollte keineswegs einer unreflektierten Übernahme der Evolutionstheorie durch die Kommunikationswissenschaft das Wort geredet werden, da die Grenzen zu offensichtlich sind: Es fehlt der Kommunikationswissenschaft beispielsweise an einem harten Kriterium zur Abgrenzung der medialen Genres und Gattungen, das analog zum bio-evolutionären Kriterium der Reproduktion zu nutzen wäre (vgl. Mayr 2001: 161-174). Auch die Unterteilung der Medien oder ihrer Inhalte analog zur Einteilung der Lebewesen in Königreich, Stamm, Ordnung, Klasse, Familie, Gattung und Spezies scheint wenig Erfolg versprechend. Sie ist allerdings für Genres durchaus schon versucht worden (vgl. Altmann 1998). Auch das sogenannte Rieplsche Gesetz müsste ausführlicher erörtert werden (vgl. Riepl 1913).
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Allerdings hat die Evolution des Lebens eine ganze Reihe von Regeln und Mustern „erfunden“, die sich auch bei der Evolution von Kommunikation und Medien beobachten lassen. Warum sollten diese Regeln nicht von Fall zu Fall auf ihre Anwendbarkeit geprüft werden? Interessant wäre es beispielsweise, die Regel der Ko-Evolution – z. B. zwischen Blütenpflanzen und bestäubenden Insekten – auf die mediale Ko-Evolution zu übertragen, vielleicht auf Wechselwirkungen zwischen Internet und Fernsehen oder zwischen Fernsehen und Presse. Eine Frage könnte dabei lauten: Wie verändert das Internet Erscheinung und gesellschaftliche Funktionen der älteren Medien? Mit dieser funktional-sozialen Zuspitzung wäre zugleich auch das sogenannte „Rieplsche Gesetz“ wieder auf die wesentliche kommunikationswissenschaftliche Fragestellung bezogen, denn Kommunikationswissenschaft ist eine Gesellschaftswissenschaft. Die funktionale Akzentsetzung wäre sinnvoller, als zu behaupten, neuere Medien hätten ältere Medien noch nie verdrängt. Denn die Gültigkeit des sogenannten Gesetzes hängt zum einen von der Definition des Medienbegriffs ab. Zum anderen und viel wichtiger für die Kommunikationswissenschaft ist Riepls funktioneller Nachsatz: „ […] Dass sie [die Medien] genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen“ (vgl. Riepl 1913: 4f.). Es mag Zufall sein, dass ein neues Medium entsteht, aber wenn es geschehen ist, müssen die älteren Medien notwendiger Weise auf die neuen Herausforderungen reagieren. Dabei verändern sie nolens volens ihren sozialen Charakter. Und das ist kommunikationswissenschaftlich interessant. Summa summarum: Es gibt etliche Möglichkeiten, die Evolutions- und die Innovationstheorie auf Fragestellungen der Kommunikationswissenschaft anzuwenden. Werden beide Theorien pragmatisch-unideologisch eingesetzt, sind Muster leichter zu erkennen, Vergleiche eher zu ziehen und Prozesse besser zu verstehen, ohne allzu einfachen kausal determinierten Mustern zu folgen. Handeln wird nicht auf die rationale Komponente reduziert; neben Geplantes tritt Zufälliges. Die Anwendung der Theorien setzt allerdings die historische Perspektive voraus. Ohne längere diachrone Betrachtungen lässt sich mit beiden Theorien nämlich wenig anfangen. Dass es immer nützlich ist, in den Rückspiegel zu schauen, zeigt sich in einer Karikatur aus den „Fliegenden Blättern“, mit der ein Karikaturist schon 1879 bewies, welch immensen Einfluss die Evolution auf die Kultur haben kann:
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Abbildung 3: Evolution der Kunst3
Anmerkungen 1
2 3
Daher ist das Evolutionskonzept, wie es in der Systemtheorie Luhmannscher Prägung verwendet wird, zumindest schief; affirmative Autopoiesis beschreibt nicht die im ständigen Fluss befindliche Wirklichkeit. Das Missverständnis beruht u. a. darauf, dass in der Systemtheorie ein überholtes Evolutionsverständnis Verwendung findet, vgl.: „Darwin legt Wert darauf, festzuhalten, dass die Variationen, die der Gegenstand von Selektionen sind, kein Zufall sind, sondern auf die bisherigen Lebensbedingungen auf Phänomene zurückzuführen sind, sowenig wir über diese auch wissen mögen“ (Baecker 2005: 237). Das ist nicht Darwin, erst recht nicht moderne Evolutionstheorie – das ist Lamarck. Ursprünglich hat Einstein die Formel ausgedrückt als M = L/V2 (M= Masse, L= Energie, V= Lichtgeschwindigkeit). Fliegende Blätter 71 (1771) (6.7.1879), 1. Beibl.: 1. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek Bamberg.
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Kommunikationstheorie als Gesellschaftstheorie und mediale Konstellationen Andreas Ziemann
1 Einleitung Handeln Menschen, kommunizieren Systeme, vernetz(werk)en sich Akteure? Die Konkurrenz ist groß auf dem Markt sozialwissenschaftlichen Vokabulars und entsprechender Theoriebildung. Bei der Vielfalt und potenziellen Uneinigkeit grundbegrifflicher Festlegungen steigt das Risiko der unmöglichen Übersetzungsarbeit und damit die Notwendigkeit, das disziplinäre Selbstverständnis zu diskutieren. Noch immer bereitet beispielsweise der Kommunikationswissenschaft der Kommunikationsbegriff einiges Kopfzerbrechen – wenn sie ihn denn explizit thematisiert und reflektiert (prominent hierbei: Merten 1977). Neuerdings haben der Medien- und der Kulturbegriff eine beachtliche Karriere genommen und scheinen den Kommunikationsbegriff bisweilen zu substituieren. Man könnte das alles als Indiz lesen, wie hoch unwahrscheinlich letztlich die Ausdifferenzierung und Spezialisierung etlicher Sozialwissenschaften in der Orientierung an einem zentralen Grundbegriff war. Statt nun vorschnell Kommunikation als einschlägigen Grundbegriff zu verabschieden, bietet sich eine genaue Aufschlüsselung der Verwendung und eine Kontextierung der Problembezüge an, auf die hin er als kategoriale Größe zum Einsatz kommt. Ich will dies am Einzelfall der Systemtheorie Luhmanns darstellen, die ja in der Kommunikationswissenschaft breit rezipiert und fortgesetzt wird1, und dabei ihre Entwicklung und Veränderung rekonstruieren wie auch die dort eigentümliche Verschränkung von Kommunikationstheorie und Gesellschaftstheorie herausarbeiten.2 Kurz gesagt, geht es mir: erstens um Sensibilisierung für jene basalen Problemstellungen, die ursprünglich die soziologische Theoriebildung motiviert haben, auf die auch Luhmann reagiert und die dann ihren Niederschlag und Modifikationen in der Kommunikationswissenschaft erfahren haben; zweitens um Systematisierung seiner Theoriearchitektur, ins-
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besondere um die doppelte Verortung der Kommunikationstheorie im Rahmen einer Sozialtheorie als Konstitutionstheorie einerseits und einer Gesellschaftstheorie als Struktur- und Differenzierungstheorie andererseits; drittens um Stimulierung weiterer Theoriearbeit unter sich verändernden Gesellschaftsstrukturen. Vor allem mit Bezug auf „Weltgesellschaft“ und „Medialisierung“ sollen gegen Ende offene Perspektiven und ungelöste Fragestellungen aufgezeigt und ein diesbezüglich systemtheoretisch inspiriertes Forschungsprogramm zur kommunikationswissenschaftlichen Diskussion gestellt werden.
2 Die Problemstellungen einer gesellschaftstheoretisch orientierten Kommunikationstheorie Seit ihren wissenschaftlichen Anfängen – vor allem zum Zweck ihrer disziplinären Rechtfertigung – hat sich die Soziologie als einem zentralen Projekt neben anderen dem Grundproblem verschrieben: Wie ist Gesellschaft möglich?3 Diese genuin Kantische Fragestellung wird von Niklas Luhmann bereits in den 1960er Jahren in sein allgemeines systemtheoretisches Forschungsprogramm eingebaut: „Die eigentliche Crux der Systemtheorie ist nicht das Problem des sozialen Wandels und auch nicht das Problem des sozialen Konflikts, sondern das Problem der Gesellschaft.“ (Luhmann 1969: 264) Zu Beginn der 1980er Jahre transformiert und präzisiert er die Frage als: Wie ist soziale Ordnung möglich? Und es zeigt sich, dass diese Wendung in besonderer Weise kommunikationstheoretisch motiviert ist. Genau besehen, zielt die gesellschaftstheoretische Ordnungsfrage auf folgende zwei kommunikationstheoretische Problemstellungen ab: (1) Wie ist Kommunikation möglich? (2) Wie lassen sich spezifische Kommunikationen erwartbar reproduzieren? Die erste Frage bezieht sich auf das Unwahrscheinlichkeitstheorem von Kommunikation und ist konstitutionsanalytischer Natur. Die zweite Frage bezieht sich auf das Theorem gesellschaftlicher Differenzierung und ist strukturtheoretischer Natur. Man könnte auch weiter spezifizieren: Die erste Frage ist eine sozialtheoretische Angelegenheit, die zweite eine gesellschaftstheoretische. Obgleich die soziologische Systemtheorie in der Kommunikationswissenschaft eine geradezu paradigmatische Position innehat, wird sie dort weniger als Gesellschaftstheorie mit ihrer hohen Anwendungsbreite rezipiert, sondern größtenteils entweder auf den Gegenstandsbereich Massenmedien, PR und Journalismus bezogen oder als konstruktivistische Methodologie eingesetzt (vgl. Merten et al. 1994; Scholl 2002). Das Grundlagenproblem der Ermöglichungsbedingung von Kommunikation ist nach Luhmann in der sozialwissenschaftlichen Theorievergangenheit kaum
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je mit dieser Schärfe gestellt, geschweige denn hinreichend bearbeitet worden. „Üblicherweise begnügt man sich damit, das Vorkommen von Kommunikation durch ihre Funktion zu erklären und die Funktion in der Entlastung und Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen“ (Luhmann 1997: 191). Die kommunikationswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der basalen Fragestellung: Wie ist Kommunikation möglich? (vgl. Krallmann/Ziemann 2001), bietet meines Erachtens zwei Vorteile. Erstens trägt sie zur Klärung der Begrifflichkeiten und Erkenntnisgegenstände und zur epistemologischen Schärfung des Forschungsfeldes bei. Zweitens lässt sich das Erkenntnisinteresse gezielt variieren, um dann weiter zu fragen: Wie ist Verstehen in sozialen Situationen unter Anwesenheit möglich? Wie ist öffentliche Meinung möglich? Oder: Wie ist Kommunikation in der „Mediengesellschaft“ möglich, und wie haben sich dabei Regeln und Strukturen der Verständigung, Wissensgenerierung, Informationsvermittlung, sozialen Integration etc. verändert? Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen auch als Plädoyer für eine Ausweitung kommunikationstheoretischer Fragestellungen zu lesen.
3 Wie ist Kommunikation möglich? – die systemtheoretische Perspektive Nachdem Luhmann die Erblasten des informationstheoretischen (Transmissions-)Modells beiseite schafft und in aller Deutlichkeit feststellt, dass Kommunikation weder eine Informationsübertragung zwischen zwei Lebewesen ist, noch vordergründig auf Intentionalität beruht, noch Gegenstände oder Sachverhalte der Welt repräsentiert, legt er seine eigene Theorievorstellung aus. Demnach ist Kommunikation ein selbstsubstitutiver, zirkulärer, emergenter Prozess, der unter der Beteiligung von mindestens zwei psychischen Systemen (Alter und Ego) die drei Selektionen von Information, Mitteilung und Verstehen synthetisiert. Zum unhintergehbaren Prinzip von Sozialität wird erstens, dass jede Kommunikation nur durch eine weitere (Zeitdimension) andere (Sachdimension) Kommunikation unter veränderten Ego/Alter-Konstellationen (Sozialdimension) fortgesetzt werden kann, und dies das basale Moment ihrer rekursiven Konstitution im Besonderen wie auch der Reproduktion gesellschaftlicher Zusammenhänge im Allgemeinen ist. Zweitens gewinnt der Kommunikationsbegriff seinen besonderen Stellenwert innerhalb einer allgemeinen Sozialtheorie (und als solche ist die Theorie sozialer Systeme erst einmal zu lesen – und keineswegs vorschnell als Gesellschaftstheorie), indem er von Vornherein das genuin (dynamisch) Soziale
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berücksichtigt, das dem klassischen Handlungsbegriff à la Max Weber fehlt. Dort muss das Attribut des Sozialen nachträglich ergänzt werden, das dem einzelnen (genuin a-sozialen) Handlungsereignis in seiner Abhängigkeit von einem Akteur und dem subjektiv gemeinten Sinn abgeht (vgl. Tyrell 1998: 115-125). Weiterhin markiert Luhmanns Kommunikationsbegriff eine Lösung für das Problem der sozialen Sinnkonstitution. Denn wie – so wäre kritisch an eine Weberianische Handlungstheorie zu fragen – soll eine untrennbar mit ihrem Erzeuger verbundene Einzelhandlung sozialen Sinn hervorbringen? Und wenn es ihr in der Ausrichtung auf einen Anderen gelänge, wie ließe sich der soziale Sinn dann als eigenständige Dimension unabhängig vom Bewusstsein des Einzelnen erkennen und beschreiben? In Luhmanns eigenen Worten ist Kommunikation die genuine und einzige soziale Operation, weil sie (a) „zwar eine Mehrheit von mitwirkenden Bewußtseinssystemen voraussetzt, aber (eben deshalb) als Einheit keinem Einzelbewußtsein zugerechnet werden kann“ (Luhmann 1997: 81); weil (b) ausgeschlossen ist, „daß die Bewußtseinssysteme den jeweils aktuellen Innenzustand des oder der anderen kennen können“ (Luhmann 1997: 81); weil (c) „in keiner Weise und in keinem Sinne ein ‚gemeinsames‘ (kollektives) Bewußtsein hergestellt werden kann, also auch Konsens im Vollsinne einer vollständigen Übereinstimmung unerreichbar ist und Kommunikation statt dessen funktioniert“ (Luhmann 1997: 82); und weil es (d) für „die Autopoiesis der Gesellschaft und ihre Strukturbildung […] eine wesentliche Voraussetzung [ist], daß Kommunikation nicht schon von selbst ihre eigene Akzeptanz enthält, sondern daß darüber erst noch durch weitere, unabhängige Kommunikation entschieden werden muß“ (Luhmann 1997: 83). Diese Begriffsklärung wird mit der sozialtheoretischen Ursituation der Begegnung zwischen Alter und Ego konfrontiert.4 Entgegen dem alltagsweltlichen Normalfunktionieren von Kommunikation und entgegen den selbstverständlichen Gelingensunterstellungen von wechselseitigem Verstehen entwirft Luhmann seine Kommunikationstheorie als Problemtheorie. Dieser liegt als Erkenntnisziel die Ermöglichungsfrage zu Grunde: Wie kommt Kommunikation bei unwahrscheinlichen und sich wechselseitig steigernden Ausgangsbedingungen trotzdem zu Stande? Warum soll ich jemandem Aufmerksamkeit und Vertrauen schenken und mich auch noch auf sein Mitteilungshandeln einlassen, wo er mir doch schaden könnte und ich gleichzeitig viele andere Dinge tun könnte? Wieso sollte ich eine Meinung oder Absicht entäußern, wenn gerade das Verstehen mein Gegenüber bestärkt, mit Misstrauen und Ablehnung zu reagieren? Luhmanns Kommunikationstheorie ist, so gesehen, auch eine große Abhandlung über das soziale Vertrauensproblem und die spielerische Leichtigkeit (respektive das Risiko) des Nein-Sagens.5 Bekanntermaßen erklärt Luhmann in seiner
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allgemeinen Theorie sozialer Systeme dann die Verwahrscheinlichung von Kommunikation und den Aufbau sozialer Systeme (mit ihrer je eigenen Geschichte) an Hand konditionierender Verstehens-, Verbreitungs- und Erfolgsmedien. Sprache löst das Problem der Bezeichenbarkeit von Abwesendem und des vieldeutigen Verstehens von körpergebundenen Ausdrucksweisen. Presse, Funk, Fernsehen und Internet lösen das Problem des Erreichens von abwesenden Adressaten und von Informationsdefiziten. Geld, Macht, Liebe, Wahrheit und andere kommunikative Steuerungs- und Erfolgsmedien lösen schließlich das Problem der motivierten Annahme einer Kommunikation. Sie sind der funktionale Ersatz für Rhetorik und rhetorische Gattungen, die kommunikativ und persönlich schon längst nicht mehr überzeugen, geschweige denn verpflichten können. Bei näherer Betrachtung erhält die sozialtheoretische Auseinandersetzung mit Kommunikation dahingehend eine erste gesellschaftstheoretische Färbung, dass sie mit einer Medientheorie gekoppelt wird. Luhmann liest den ganzen Prozess soziokultureller Entwicklung und gesellschaftsstruktureller Komplexitätssteigerung letztlich als Umformungs- und Erfolgsgeschichte für kommunikative Erwartungsstabilisierung, Koordinierungssteigerung und Verständigungsoptimierung. Sprache, technische Massenmedien und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erhöhen nicht nur die (in evolutionärer Hinsicht prinzipiell unwahrscheinliche) Konstitution und Fortsetzung von Kommunikation überhaupt. Sondern sie etablieren zunehmend einen Strukturzusammenhang und garantieren damit gesellschaftsgeschichtliche Systemzustände, an die künftige Operationen gebunden sind, durch die Sinnbezüge und Anschlussmöglichkeiten limitiert werden und mittels derer eine hinreichende Ordnungslogik von Situationen und Funktionssystemen jederzeit und überall erwartbar wird und erfolgreich realisiert werden kann.6 Es ist hier an Gehlen zu erinnern, der für Luhmann eine implizite, aber gleichwohl wichtige Referenzadresse ist. Dessen Institutionentheorie gibt die Idee vor, dass das Selbstverständliche das Verselbstständigte ist und die Gewohnheit ihren eigenen Antrieb liefert (vgl. Gehlen 2004: 37f.). „Gewohnheitsbildung ist deshalb […] das Stichwort, mit dem sich Luhmann glaubt, die folgenreiche Transformation kontingenter Strukturierungen in ‚notwendige‘ Ordnungen plausibilisieren zu können“ (Göbel 2004: 190). Ja, es ist eine zentrale Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, „als Motiversatz im Sinne ihres erwartbaren und gewohnheitsmäßigen Gebrauchs zu fungieren, ‚ohne jeweils im einzelnen abklären und aushandeln zu müssen, wie weit die Zustimmung wirklich geht […]‘“ (Göbel 2004: 189). Man kann dann Gesellschaft sehr grundsätzlich als strukturierende Hintergrundserfüllung begreifen, als großartiges Strukturprogramm, welches durch Gewohnheitsbildung und symbolische Institutionalisierung Handlungen erwartbar macht und
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notwendige Ordnung herstellt bzw. stabilisiert. Ganz in diesem Sinne deklariert Luhmann (1975b: 83) Gesellschaft als jenes umfassende System, „das in jeder Kommunikation und darüber hinaus in jedem sinnhaften Erleben und Handeln vorausgesetzt werden muß.“ Einerseits entwickelt Luhmann ein ungeheures Problembewusstsein für die soziale Ursituation; andererseits schlägt er dann aber nicht den Weg einer evolutionstheoretischen oder fundierungstheoretischen Erklärung des Makrologischen durch Mikroprozesse und einfache Vergemeinschaftungsformen ein. Ein solcher Begründungszusammenhang findet sich beispielsweise in den Sozialtheorien von Mead oder Schütz.7 Luhmann geht umgekehrt vor, indem er nicht die Gesellschaftstheorie aus der Sozialtheorie entlässt, sondern social systems aus society ableitet. Das heißt, die Strukturen einer jeweiligen historischen Gesellschaftsform – paradigmatisch die strukturellen Errungenschaften der modernen Weltgesellschaft – und ineins damit die faktische Rationalität von Kommunikationsformen und Semantiken bestimmen und ordnen soziale Kontakte, soziale Situationen und gesellschaftliche Systemintegration. Systembildung ist der Mechanismus schlechthin für Stabilisierung (vgl. Luhmann 1975d: 200).
4 Wie ist Systemintegration und formspezifische Strukturreproduktion möglich? Das zweite, von Luhmann kommunikationstheoretisch aufgearbeitete Problem bezieht sich auf die operative Schließung der Gesellschaftssysteme und auf das gesellschaftliche Ordnungsproblem der Systemintegration. Es geht – vor dem Hintergrund moderner Kontingenz, ungekannter Komplexitätssteigerung und gesellschaftlicher Gleichzeitigkeitsverhältnisse – nicht mehr um die Ermöglichungsbedingung von Kommunikation, sondern um die gleichzeitige Öffnung und Einschränkung sozialer Systemoperationen, die eine gezielte Strukturreproduktion von Funktionssystemen und eine formspezifische Selbsterkennbarkeit von Kommunikation leisten. Der systemtheoretische Strukturbegriff ist zwar schon eine Reaktion auf das gesellschaftliche Ordnungs- und kommunikative Integrationsproblem, bezeichnet aber erst und lediglich formal die (erwartbare) Einschränkung der im System zugelassenen Relationen. Die Frage ist: Wie kommt eine Kommunikation zur nächsten? Denn es dürfte wohl unzweifelhaft sein, „daß keine Gesellschaft existieren könnte, die den Kommunikationserfolg dem Zufall überließe“ (Luhmann 1975c: 176). Das gesellschaftliche Ordnungsproblem resultiert aus einer Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem (vgl. Nassehi 2004: 103); es „entsteht nur dort, wo sich die
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Koordination des Unterschiedlichen nicht von selbst ergibt“ (Nassehi 2004: 104). Bei aller prinzipiellen Formhomogenität8 des Sozialen durch die Elementaroperation der Kommunikation ist die Formspezifik und damit Formdifferenz bestimmter Kommunikationen festzustellen. Ohne diese könnte es weder zur Selbstschließung noch zur Funktionsautonomie oder zur gesellschaftlichen Systemintegration der vielen Funktionssysteme kommen.9 Es ist also höchst entscheidend, den Hauptaspekt des Erfolgs und der Steuerung von Kommunikation in protenzionaler bzw. prospektiver Hinsicht zu sehen. Nur so lässt sich die Frage nach sozialer Ordnung schlüssig beantworten. Ein immer nur aktuell rückbezüglich operierender Kommunikationszusammenhang wäre viel zu beliebig, als dass Erwartungen erfüllt und Stabilität erzielt werden könnten. Faktisch ist an Gesellschaft nichts willkürlich. „Nichts an Autopoiesis ist ‚frei‘, wenn man auf ihren faktischen Vollzug im Rahmen (!) von Funktionssystemen achtet“ (Göbel 2004: 190). Parsons hatte hierbei noch mit kulturtheoretischen Mitteln normativ argumentiert. Oder Simmel hatte für das Problem sozialer Ordnung und die Strukturen einer harmonischen Gesellschaft bekanntlich auf drei soziologische Apriori verwiesen. Demgegenüber präsentiert Luhmann hierfür und als inhaltliche Auffüllung des Strukturbegriffs eine medientheoretische Erklärung! Die soziologische Ausgangsfrage nach der Möglichkeit und Entstehung sozialer Ordnung wie auch jene der Selbsterkennbarkeit von Kommunikationen verwandelt sich so zu einer medientheoretischen Analyse der Ordnungsstrukturen der modernen Weltgesellschaft. Anders gesagt, der medientheoretische Einschub ergänzt die Differenzierungstheorie der Gesellschaft. In diesem Sinne will Luhmann die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Wahrheit, Liebe etc.) als „ein funktionales Äquivalent zur üblichen normativen Absicherung des Zusammenhalts der Gesellschaft“ (Luhmann 1997: 316) verstanden wissen, also als Äquivalent gegenüber Naturrecht, Sozialkontrakt und konsensfähiger Moral. Dies markiert eine völlig andere medientheoretische Ausrichtung als noch die frühe, die das Problem beantworten wollte, wie der Annahmeerfolg einer Kommunikationsofferte wahrscheinlicher gemacht und die Divergenzen zwischen Ego und Alter ego überwunden werden können. Nunmehr geht es um Strukturbedingungen, um Orientierungsmarken (vgl. Göbel 2000: 243) der Selbsterkennbarkeit und Selbstzuordnung von Kommunikationen als (funktions-)systemspezifischen Kommunikationen. Jede Kommunikation trifft nicht nur ex post, sondern auch für die Zukunft eine „Zuordnungs- und damit eine Grenzentscheidung“ (Luhmann 1984: 266). Hier läuft ihre Doppelfunktion des Kondensierens und Konfirmierens mit (vgl. Luhmann 1997: 94): Kommunikationsprozesse schaffen einen historischen Zustand des Systems, der künftige
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Kommunikationen bindet. Und Kommunikationsprozesse (re-)produzieren Strukturen, Skripts und Schemata, die ein Wiedererkennen und Wiederholen des Identischen unter neuen Anlässen und in neuen Situationen ermöglichen. Konstitutive Bedingungen für eine solche vollständige Selbstbestimmung der Gesellschaftssysteme – und damit ergänzt und plausibilisiert Luhmann die Erklärung operativer Geschlossenheit – sind (neben einem kommunikativen Steuerungs- und Erfolgsmedium): Kodierung und Programmierung. (a) Ein Kode ist ein binärer Schematismus von Werten, durch den sich ein Funktionssystem ausdifferenziert, mit dem es seinen spezifischen Problembezug regelt und an dem es die eigenen Operationen orientiert. Allgemein liegt die Funktion von Werten darin, in sozialen Situationen unhinterfragten Rückhalt zu geben und eine sichere, annehmbare Orientierung für Anschlusskommunikationen zu gewährleisten (vgl. Luhmann 1997: 341-343). Typischerweise sind Werte hochabstrakt und eindeutig positiv besetzt, wie exemplarisch die Traditionswerte von Freiheit, Gleichheit, Frieden, Gesundheit, Ehrlichkeit. Sie werden in der Praxis weder als Information expliziert noch thesenförmig begründet, sondern gelten vielmehr als Unterstellung. Sie begleiten Kommunikationen per implicationem. Wer würde bestreiten, dass Freiheit der Unterdrückung, Frieden dem Krieg, Gesundheit der Krankheit usw. vorzuziehen seien? Die Entwicklung der Moderne bringt sodann spezifische Wertesemantiken als Form hervor, also die Einheit der distinkten Unterscheidung zweier Seiten: „Medien-Codes sind Präferenz-Codes. Ihre Duplikationsregel beruht auf der Wert/ Unwert-Dichotomisierung von Präferenzen. Sie konfrontiert Vorkommnisse, Fakten, Informationen mit der Möglichkeit, Wert oder Unwert zu sein, zum Beispiel wahr oder unwahr, stark oder schwach, recht oder unrecht, schön oder häßlich“ (Luhmann 1975c: 175).
Diese Spezialkodes resultieren aus dem funktionalen Differenzierungsprozess und verabsolutieren nun den Beobachtungsbereich eines jeden Funktionssystems. Dadurch kann nicht nur systemintern überhaupt Information erzeugt und verarbeitet, sondern auch eine bestimmte Kommunikationsform erwartet werden, die eben bestimmte Unterscheidungen einführt, verwendet oder latent mitlaufen lässt. (b) Programme wiederum stellen die Kriterien zur Verfügung, die festlegen, wie der Binärkode richtig verwendet wird und ob die jeweilige kommunikative Operation eines Funktionssystems dem positiven Anschlusswert oder negativen Reflexionswert zuzuordnen ist. Die Differenz zwischen Kodierung und Programmierung ermöglicht es jedem Funktionssystem, zugleich geschlossen und offen, selbstreferenziell und fremdreferenziell zu operieren (vgl. Luhmann 1997: 750f.). Während die Werte einer Kodierung invariant und stabil sind und dadurch die operative Geschlossenheit des Systems kontinuierlich ermöglichen,
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sind demgegenüber die Programmierungen variabel und je nach Umweltanforderung modifizierbar. So kann die Komplexität und Veränderung der Umwelt aus systeminterner Perspektive adäquat beobachtet bzw. erfolgreich auf sie reagiert werden. Parteiprogramme werden für anvisierte Wahlerfolge umgeschrieben, Preise steigen und sinken, oder Gerichtsurteile werden beispielsweise revidiert und Gesetze erweitert. Die funktionssystemspezifische Differenzierung von Kodes, Programmen und Semantiken ist weder beliebig noch einmalig. Die evolutionär gebildeten Kodes definieren vielmehr soziale Situationen und gesellschaftliche Strukturen; sie legen die Zuordnung der Kommunikationsform wie auch der Erwartungen fest: „Die allgemeine Funktion generalisierter Kommunikationsmedien, reduzierte Komplexität übertragbar zu machen und für Anschlußselektivität auch in hochkontingenten Situationen zu sorgen, gehört zu den Grundvoraussetzungen des Aufbaus komplexer Gesellschaftssysteme. […] Nur unter diesen beiden Voraussetzungen hoher Kontingenz der Selektionen und ausreichender Nichtbeliebigkeit in den Relationen zwischen ihnen können komplexe Systeme entstehen, die strukturell offen lassen und doch synchronisieren können, wie man sich im einzelnen verhält“ (Luhmann 1975b: 174).
Kodierte und programmierte Systemspezialisierung und Kommunikationsmedien liefern also einerseits relativ klare und einfache (Beobachtungs-)Regeln und Erwartungsmuster der Informationsproduktion wie Informationsverarbeitung, und sie bauen andererseits sehr hohe systeminterne Komplexität auf.
5 Weltgesellschaft Mit dieser funktionssystemspezifischen Formtypik kommt jetzt auch ein zentrales weltgesellschaftliches Kernargument ins Spiel: die weltweit einheitliche und verbindliche Reproduktion funktionssystemspezifischer Kommunikationsformen und Strukturen mit Hilfe von Kodierung und Programmierung eines Kommunikationsmediums! Je stärker sich diese Formbindungen gesellschaftsweit durchsetzen und etablieren, um so einleuchtender bis zwingender wird die Begriffsidee der Weltgesellschaft. Weltgesellschaftliche Integration meint also weniger das Transzendieren von politischen Grenzen und Territorien oder eine Dominanz der Weltwirtschaft oder die Zunahme weltweit möglicher Interaktionskontakte. Nein, sie meint vielmehr die globale Durchdringung von funktionssystemspezifischen Rationalitätslogiken. Das Besondere der Weltgesellschaft (wie auch der Modernität der Gesellschaft überhaupt) „liegt nicht in ihren Merkmalen, sondern in ihren Formen, das heißt: in den Unterscheidungen, die
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sie verwendet, um ihre kommunikativen Operationen zu dirigieren“ (Luhmann 1997: 165).10 So realisiert die moderne Weltgesellschaft einerseits die Gleichzeitigkeit aller sozialen Operationen und Ereignisse und andererseits deren Gleichförmigkeit. Auf der Basis jener speziellen kommunikativen Formlogiken entsteht dann eine Struktur weltweit verblüffend ähnlicher „Sets“ an Institutionen und Organisationen sowie eine prinzipiell für alle gleich geltende Inklusionslogik und -möglichkeit (vgl. Stichweh 2000: 58f.). Am Beispiel der Wissenschaft ist nicht entscheidend, dass ich mit österreichischen, amerikanischen und brasilianischen Kollegen in einen Theoriediskurs eintreten kann, sondern wie Wissenschaft weltweit betrieben wird. Dies geschieht exklusiv in der Form von wahrheitsfähigen Aussagen und Fachpublikationen (begleitet von organisierten Peer-reviews) nach der, zumeist latent mitlaufenden, Kode-Logik von wahr/unwahr und der entsprechenden Programmierung durch Theorien und Methoden. Neben dieser speziell strukturierten Kommunikationsform lassen sich mindestens fünf weitere Globalisierungsstrukturen für die Wissenschaft angeben (vgl. Stichweh 2000: 103-125 und 130-142): (1) (Sub-/Trans-)Disziplinäre Differenzierung der Wissenschaften – unterstützt bis forciert durch die weltweite Institutionalisierung der europäischen Universitätsidee –, (2) personalisierte Muster transnationaler Kollaboration bzw. KoAutorschaft (mit dadurch erhöhten Reputationsvorteilen), (3) transorganisationale Nutzung von technischen bzw. elektronischen Kommunikationsmedien, (4) Entstehung globaler wissenschaftlicher Untersuchungsobjekte und Fragestellungen sowie (5) weltweite Netzstrukturen von „scientific communities“ und „Zitationszirkeln“. Zusammengefasst: Das Neuartige ist erstens die nicht mehr projektive, sondern reale Einheit des Welthorizonts für alle Regionen (vgl. Luhmann 1975b: 55); zweitens die historische Singularität der Weltgesellschaft in der Gegenwart11; und drittens die weltweite Kommunikationsordnung auf der Basis funktional differenzierter Formhomogenität.
6 Ausblick Wenn man mit den Mitteln und Möglichkeiten der Luhmannschen Theoriearchitektur Kommunikations- und Gesellschaftstheorie aufeinander bezieht, dann lassen sich gebotene Analysen zur Weltgesellschaft und ihrer (massen-)medialen Binnenstruktur scharfsichtig vorantreiben – vor allem zur: (a) Reproduktion formhomogener Kommunikationen im Verhältnis von Regionalisierung/Globalisierung; (b) zur gesellschaftlichen Ordnung unter Strukturbedingungen media-
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ler Errungenschaften und durch das System der Massenmedien; und (c) zur „Medialisierung“ der Gesellschaft. Mit Bezug auf die dritte Frage geht es aus gesellschaftstheoretischer Perspektive weniger um Erweiterungsformen sozialen bzw. kommunikativen Handelns durch Medientechnik, sondern vielmehr um die Beobachtung und Beschreibung der „Infizierung“ autonomer Vergesellschaftungsbereiche durch die Logik der Massenmedien. Eine diesbezügliche Kernaussage ist, dass letztlich alle Gesellschaftssysteme unter massenmedialen Reaktionszwang geraten und sich schließlich der Logik der Massenmedien fügen. In diesem Sinne scheint die spätmoderne Gesellschaft nachhaltig von der Technologie, der Eigenlogik und den Formaten der Massenmedien geprägt und abhängig. Entscheidend ist, dass sich andere Gesellschaftssysteme längst nicht nur auf die Faktizität massenmedialer Berichterstattung und Sendeformate eingestellt haben, sondern vielmehr auf deren besondere Selektivität (vgl. Luhmann 1981: 320). Im Resultat verändern sich Vergesellschaftungsbereiche einerseits intern durch die Massenmedien; andererseits verändern sie sich für die Massenmedien. Weltgesellschaft systemtheoretisch zu beobachten, kann dann in besonderer Weise heißen, sie als „Mediengesellschaft“ zu beschreiben (siehe aktuell Imhof et al. 2004). Drei Indikatoren seien dafür genannt: Erstens machen Verbreitungsmedien weltweite Ereignisse und Informationen weltweit bekannt und bewahren diese in den massenmedialen Archiven. Zweitens gewährleisten die Massenmedien sowohl die wechselseitige Beobachtung verschiedener Systemtypen als auch die Wissensvermittlung der spezialisierten Kommunikationsformen in je unterschiedlichen Funktionsbereichen. Und drittens sorgen die funktionssystemspezifischen Steuerungsmedien zunehmend und unübersehbar für weltweit formidentische Koordinationen und Kommunikationsordnungen. Vor dem Hintergrund der Weltgesellschaft konstatiert auch Luhmann (1981: 319): „Die Weltgesellschaft braucht und besitzt in den Massenmedien ein Instrument der Sofort-Integration, der Herstellung gemeinsamer Aktualität.“ Sie ist zu komplex und funktional heterogen, als dass dies durch andere Mechanismen geleistet werden könnte. In der Sachdimension fungieren die Massenmedien als Diskursverwalter und Übersetzungsinstanzen verschiedener Systemrationalitäten und Handlungslogiken. Es gibt schlechterdings „keine Sachverhalte, die ihrem Wesen nach für die Behandlung in den Massenmedien ungeeignet wären“ (Luhmann 1996: 50). Der Offenheit für prinzipiell alles korreliert allerdings eine hoch spezialisierte Beobachtungslogik und Berichterstattung. Auf diese Weise stimulieren die Massenmedien nicht nur weitere Kommunikationen gerade außerhalb ihrer Systemgrenzen und nicht nur teilsystemische Reflexionen im Spiegel ihrer selbst, sondern sie sind geradezu eine Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Ordnung. Denn die Stabilität bzw.
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Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft beruht maßgeblich auf der Erzeugung von Ereignissen und Themen, die in weiteren Kommunikationen vorausgesetzt werden können. In der Zeitdimension leisten die Massenmedien die Synchronisation weltgesellschaftlicher Ereignisse. Und im Rahmen weiterer Analysen zur „Mediengesellschaft“ wird man verstärkt die Eigenzeitlogiken der Funktionssysteme im Verhältnis zum System der Massenmedien zu untersuchen haben. Es dürfte die neuartige Leistung der Massenmedien sein, strukturelle Kopplungen und Systemintegration unter jeweils verschiedenen Zeitbedingungen herzustellen. Bezeichnend für die Zeitlogik der Massenmedien scheint zudem, dass ihre kommunikativen Ereignisse nicht automatisch – wie im Normalfall – sofort vergehen, sondern der Zeit entgehen, sich ent-ereignen, also relativ zeitbeständig fixiert werden (vgl. Stanitzek 1996: 23-25). Digitale Speicherung ist ein aktueller Höhepunkt der medientechnologischen Evolution, die dieses Ent-Ereignen möglich macht und geradezu forciert. Obgleich es keineswegs zwingend ist, die offenen Fragen zur Kommunikationslogik der modernen (Welt-)Gesellschaft und zu ihren besonderen (massen-)medialen Strukturen systemtheoretisch anzugehen, sollten sie zumindest auf vergleichbar adäquatem Komplexitätsniveau behandelt werden: „Der wissenschaftliche Fortschritt besteht im wesentlichen darin, daß Theorien durch andere Theorien überholt und ersetzt werden. Diese neuen Theorien müssen imstande sein, alle jene Probleme, die die alten Theorien gelöst haben, wenigstens ebensogut zu lösen“ (Popper 1994: 28).
Bei allen kommunikationswissenschaftlichen Theoriediskussionen, -fortschritten und neuen Erkenntnissen sollte eines jedoch konstant und selbstverständlich bleiben: der Kommunikationsbegriff als Grundbegriff.
Anmerkungen 1
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Siehe beispielsweise die systemtheoretischen Arbeiten zu PR von Ronneberger/Rühl, zum Journalismus von Blöbaum/Görke/Kohring/Scholl, zur Publizistik von Marcinkowski, zur Audio-/Television von Spangenberg, zur Werbung und (Medien-)Kultur von Schmidt. Der gesellschaftstheoretische Problembezug Luhmanns wird allzu gerne ausgeblendet und seine Kommunikationstheorie dann verfremdet und missinterpretiert, wenn beispielsweise als ihr Bezugsproblem nur das Verstehensproblem deklariert und sie mit hermeneutischen (Sozial-)Theorien gegengelesen und verbunden wird, oder wenn die Beobachtertheorie extrahiert und für postmoderne Theoriespiele eingesetzt wird. Siehe programmatisch zur Verschränkung von Gesellschafts- und Kommunikationstheorie sowie zum Theoriestil kombinatorischer Relationierung der Systemtheorie im Generellen: Luhmann (1975 c) .
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Prominent wird diese Frage von Georg Simmel im Rahmen der erkenntnistheoretischen Grundlegung seiner Formensoziologie behandelt. Siehe weiterführend: Ziemann (2000). 4 Die Einheit der sozialen Grundsituation in der Differenz von Alter und Ego unter der Bedingung (wechselseitig) doppelter Kontingenz wird scharfsichtig von Lutz Ellrich (1992) auf ihre phänomenologische Argumentation hin untersucht, vor allem auf die Konstellation hin von Wahrnehmung, Vor-Sprachlichem, Sprache. 5 Diese Formulierung verdanke ich Andreas Göbel – wie Diskussionen mit ihm diesen Text auch an anderen Stellen bereichert haben. 6 Schon früh ist bei Luhmann (1969: 266) zu lesen: Gesellschaft ist „dasjenige Sozialsystem, das mit seinen Grenzen unbestimmte, nichtmanipulierbare Komplexität ausgrenzt und damit die Möglichkeiten vorstrukturiert[!], die in der Gesellschaft ergriffen und realisiert werden können.“ 7 Eine detaillierte Rekonstruktion verschiedener Sozialtheorien vor dem Hintergrund ihrer eigentümlichen Problembezüge leistet Reckwitz (2004). Er diskutiert vor allem die Figuren und (Verschiebungen der) Erklärungsansprüche des homo oeconomicus, homo sociologicus und homo symbolicus/significans. 8 Vgl. Göbel (2000: 124): „Wenn der Heterogenität funktionssystemspezifischer Operationen kein integratives Konzept der Gesamtgesellschaft mehr korrespondiert, dann bleibt als einzig Gemeinsames aller von Funktionssystem zu Funktionssystem verschiedenen Ereignisse der Hinweis auf ihre Formhomogenität. Ihr Gemeinsames haben sie daran, daß sie alle Kommunikationen sind. In systemtheoretischer Wendung ließe sich auch sagen: obwohl sie alle als funktionssystemspezifische Ereignisse auf je verschiedene (nämlich: gesellschaftsinterne) Umwelten verweisen, haben sie eine gemeinsame äußere Umwelt, nämlich Nicht-Kommunikation. Ihre Einheit ist eine Einheit der Form, ihr Gemeinsames ein gemeinsam Unterscheidendes, nämlich die Differenz von sozialen und psychischen Systemen.“ 9 Siehe beispielhaft für das politische System: „Das politische System teilt zwar die Gesellschaft ein in politisches System und Umwelt (so wie die Gesellschaft die Welt einteilt in Kommunikation und Nichtkommunikation). Aber Gesellschaft ist dann beides: das politische System selbst und seine innergesellschaftliche Umwelt. Es wird drinnen und draußen kommuniziert. Das führt dann auf die Frage […]: wie denn die Spezifik der Politik sich von anderer gesellschaftlicher Kommunikation unterscheidet“ (Luhmann 2000: 16f.). 10 Und für diese weltweit homogene Reproduktion spezifischer Kommunikationsformen spielen Organisationen eine überaus wichtige Rolle: „In der heutigen Gesellschaft beruht Interregionalität auf der Operation oder Kooperation von Organisationen, vor allem der Wirtschaft, der Massenmedien, der Politik, der Wissenschaft, des Verkehrs.“ Letztlich bilden sich in der Peripherie aller Funktionssysteme „entsprechend operierende Organisationen, die versuchen, von den vorgefundenen Differenzen zu profitieren.“ (Luhmann 1997: 165f.) Siehe zum besonderen Stellenwert der Organisationstheorie bei Luhmann: Drepper (2003). 11 „Weltgesellschaft kommt nur noch einmal vor. Es gibt keine anderen Gesellschaften oder Weltgesellschaften neben ihr. Es existiert außerhalb dieses einen Systems der Weltgesellschaft keine Kommunikation“ (Stichweh 2000: 241). Und weiter: „Solange es mehrere oder sogar viele Gesellschaftssysteme auf der Welt gibt, kann in struktureller Hinsicht von Weltgesellschaft keine Rede sein. Andererseits konstituieren alle diese Gesellschaften für sich eine vollständige Welt. Sie schließen alles, was außer ihnen in der Welt noch vorkommt, in ihre Weltinterpretation ein, also auch andere Gesellschaftssysteme, sofern sie von diesen wissen. […] Die Einzigartigkeit der Weltgesellschaft der Moderne besteht dann darin, daß strukturelle Realität und
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phänomenologischer Weltentwurf zur Deckung kommen, daß diejenige Gesellschaft, die in ihrem Weltentwurf alles nur irgendwie Vorkommende als Nah- und Fernrelevanzen auf sich bezieht, auch tatsächlich die einzige Gesellschaft ist, die auf der Erde noch existiert“ (Stichweh 2000: 248f.).
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Perspektiven einer Systemtheorie öffentlicher Kommunikation Alexander Görke
1 Einleitung Luhmanns System der Massenmedien (vgl. Luhmann 1996) hat inner- wie außerhalb der Kommunikationswissenschaft große Resonanz hervorgerufen (vgl. überblicksartig Weischenberg 2000). Gerade von kommunikationswissenschaftlicher Seite wurden zentrale Leitideen des Luhmannschen Entwurfs indes auch dezidiert kritisiert. Die Kritik richtete sich hierbei einerseits gegen die konkrete Anwendung systemtheoretischer Denkzüge auf den Gegenstandsbereich und argumentiert so gesehen mit Luhmann gegen Luhmann. Andererseits wurde auch kritisiert, dass die Modellierung eines Systems Massenmedien weitgehend systemische wie nicht-systemische Theoriebestände der Kommunikationswissenschaft ignoriert und dadurch gelegentlich Gefahr läuft, das Rad neu – und mitunter quadratisch – zu erfinden. Bei alledem darf nämlich nicht aus dem Blick geraten, dass das System der Massenmedien zwar einen markanten Wendepunkt in Luhmanns eigener Beschäftigung mit der Thematik darstellt – so wurde den Massenmedien hier erstmals Funktionssystemstatus zugeschrieben –, dass diese Beobachtung aber nicht auf die Kommunikationswissenschaft übertragen werden kann, die das Denken in Systemen schon sehr früh auf Teilbereiche medial vermittelter Kommunikation wie Journalismus und Public Relations (vgl. etwa Rühl 1979, 1980; Ronneberger/Rühl 1992) angewendet hat. Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen wird, was damit (nicht) gemeint sein kann, Systemtheorie als Basistheorie öffentlicher bzw. medial vermittelter Kommunikation aufzufassen, kommt es mithin entscheidend darauf an, diese beiden keineswegs immer deckungsgleichen und widerspruchsfreien Theorielinien im Auge zu behalten. Eine Möglichkeit, dies zu tun, kann darin gesehen werden, die beiden Theorielinien mit Hilfe einer meta-theoretischen Unterscheidung von Einheits- und Differenzperspektiven zu beobachten (II).
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Alexander Görke
Nachdem Vor- und Nachteile beider Perspektiven auf den Forschungsgegenstand öffentliche Kommunikation diskutiert wurden, sollen am Beispiel der Luhmannschen Einheitsperspektive Kriterien für die Modellierung öffentlicher Kommunikation herausgearbeitet werden, hinter die insbesondere eine kommunikationswissenschaftliche Systemtheorie nicht zurückfallen sollte (III). Für die Analyse und Kritik eignet sich dieser Theorieentwurf deshalb in besonderer Weise, weil viele der dort getroffenen Setzungen in der späteren Theorieentwicklung zu Voraussetzungen konkurrierender Einheits- und Differenzperspektiven geworden sind (vgl. Kohring 2004). Im Anschluss daran soll ein Theorieentwurf vorgestellt werden, der Öffentlichkeit als Funktionssystem beschreibt, in dem sich unterschiedliche Leistungssysteme ausdifferenziert haben bzw. prozesshaft noch weiter ausdifferenzieren. Zentrales Anliegen ist es hierbei, Journalismus, Werbung, PR und Unterhaltung zum einen als Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation zu beschreiben und zum anderen voneinander abzugrenzen. Hierzu müssen das Bezugsproblem von Öffentlichkeit benannt und theoriekonsistente Kriterien zur Unterscheidung verschiedener Formen öffentlicher Kommunikation bezeichnet werden (IV).
2 Einheits- und Differenzperspektiven Die anhaltende Faszination, die vom System der Massenmedien ausgeht, erklärt sich gewiss nicht auf Grund der Originalität oder gar Sorgfalt, die Luhmann darauf verwendet hat. Dafür weist der Theorieentwurf insgesamt doch zu viele Inkonsistenzen und Brüche auf, die vergleichsweise früh auch schon kritisch diskutiert wurden (vgl. Görke/Kohring 1996). Eine nach wie vor aktuelle Herausforderung stellt der Ansatz vielmehr vor allem deshalb dar – und dies unterscheidet ihn markant von sämtlichen kommunikationswissenschaftlichen Vorgängerstudien –, weil er medienvermittelte Kommunikation (Massenmedien) als Einheit der Differenz von Journalismus, Public Relations/Werbung und Unterhaltung beobachtet. Dieser Beobachtungsmodus wird im Folgenden als Einheitsperspektive bezeichnet. Theorieentwürfe, die sich dagegen auf die Analyse je ausgewählter System-Umwelt-Verhältnisse konzentrieren und folglich Journalismus (vgl. Blöbaum 1994), Public Relations (Ronneberger/Rühl 1992; Dernbach 2002) und Werbung (Zurstiege 2002) als je eigene Funktionssysteme mit einem je eigenen Code und je eigenem generalisierten Kommunikationsmedium ausweisen, werden an dieser Stelle als Differenzperspektiven beschrieben. Die Wahl der Perspektive hängt stark vom Forschungsproblem ab, das es zu analysieren gilt. Längst nicht jede (potentiell) einheitsperspektivische Model-
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lierung öffentlicher Kommunikation weist in diesem Sinne auch neben dem Journalismus weitere Leistungssysteme aus (vgl. etwa Hug 1997; Kohring 1997). Viele journalismustheoretische Fragestellungen lassen sich dementsprechend auch unter einer Differenzperspektive behandeln, ohne dass dadurch die so erzielten Beobachtungsaussagen an Erklärungskraft einbüßen. Anders verhält es sich m. E. bei Forschungsproblemen, die dezidiert die Interrelationen des Journalismus zu (verschiedenen) Systemen in seiner Umwelt fokussieren. Hierbei mag eine differenzierte Betrachtung der für systemisches Denken konstitutiven System-Umwelt-Differenz vorteilhaft sein.
Abbildung 1: Differenzperspektive und Einheitsperspektive
Differenzperspektive
Einheitsperspektive
Welchen Beobachterstandpunkt man auch immer wählt, Systembildung unterteilt die Welt in Systemeigenes und Umwelt, in der durchaus weitere Funktionssysteme angesiedelt sein können. Die Wahl einer Differenzperspektive bedeutet demnach, dass Journalismus, Public Relations und Werbung über ein je eigenes generalisiertes Kommunikationsmedium verfügen, eine je distinkte Funktion für die Gesellschaft erfüllen und für einander Umwelt sind. Auch in einer Einheitsperspektive stehen verschiedene Leistungssysteme (z. B. Journalismus, PR) zueinander in einer System-Umwelt-Beziehung, die sich jedoch innerhalb der Grenzen des Funktionssystems verortet. Sie konstituieren füreinander gleichsam eine Art Nahumwelt, die sich von der Systemumwelt und dort ausdifferenzierten Funktionssystemen (z. B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft) unterscheidet (vgl. Abbildung 1). Unterschiede zwischen verschiedenen Teilsystemen werden solchermaßen zu Binnendifferenzen, die dem Kode des Funktionssystems nachgeordnet sind. Da auch die verschiedenen Leistungssysteme eines Funktionssys-
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tems weitere Ausdifferenzierungen (etwa in Organisations- und Interaktionssysteme) aufweisen können, lässt sich daraus ableiten, dass sich einheitsperspektivische Systemrelationen vergleichsweise komplexer gestalten als differenzperspektivische. Damit ist die Herausforderung verbunden, nicht nur die Außengrenzen des Funktionssystems zu beschreiben, sondern die Bedingungen der Möglichkeit zu reflektieren, wie sich systemische Binnengrenzen ausdifferenzieren, erhalten und verändern. Chancen und Risiken dieses Theorieunterfangens lassen sich sehr schön am Beispiel des Luhmannschen Theorieentwurfs verdeutlichen.
3 Die Realität der Massenmedien in der Kritik Die „Realität der Massenmedien“ hat bekanntlich eine Vorgeschichte (vgl. ausführlich Görke 2003). Bevor sich Luhmann nämlich mit der Operationsweise des Mediensystems beschäftigt, interessiert er sich primär für dessen gesellschaftliche Folgen – und auch hier wiederum sehr selektiv für die Folgen für das politische System. In diesem Verständnis fungiert öffentliche Meinung in Luhmanns (1970) frühester Publikation zu einem Medienthema als Selektionshilfe für das politische System. Mit Hilfe der öffentlichen Meinung beobachtet das Politiksystem, wie andere Beobachter Politik fremdbeobachten (vgl. Luhmann 1992: 77ff.). Massenmedien bzw. Journalismus als Produzenten der öffentlichen Meinung geraten hierbei erkennbar nur sehr marginal in den Theorieblick. Benannt werden lediglich Aufmerksamkeitsregeln, mit deren Hilfe die Themenstrukturierung der öffentlichen Meinung erfolgt. Sehr grundsätzlich stellt sich Luhmann in dieser Zeit die Frage: „Haben Funk und Presse eine eigene Primärfunktion; handelt es sich um einen Annex des politischen Systems, um einen Indoktrinations- und Konsensbildungsapparat; oder handelt es sich um kommerziell betriebene Unternehmen?“ (Luhmann 1991: 319)
Letztlich sind es die Erfordernisse weltgesellschaftlicher Kommunikation und nicht die Beobachtung mit der selbstreferentiellen Operationsweise der Massenmedien, die ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass Ansätze für eine eigenständige Primärfunktion der Massenmedien zu konstatieren seien: „Niemand wird die weltöffentliche Meinung als politische Gewalt überschätzen. Als Forum der Selbstdarstellung und der Kalkulation von Konsequenzen hat sie unbestreitbare Bedeutung.“ (Luhmann 1991: 319)
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Die Funktion, die Luhmann den Massenmedien zuschreibt, ist deshalb auch primär auf identitäts(fiktionen)stiftende, realitätsvermittelnde Verbreitungsmedien (vgl. hierzu kritisch bereits Marcinkowski 1993: 25) zugeschnitten: „Ihre gesellschaftliche Primärfunktion liegt in der Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität oder, genauer gesagt, in der Erzeugung einer solchen Unterstellung, die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird.“ (Luhmann 1991: 320).
Mit der „Realität der Massenmedien“ ist insofern eine Zäsur verbunden, als den Massenmedien hier erstmals Funktionssystemstatus zuerkannt wird. Luhmann (1996) schlägt vor, von einem System der Massenmedien zu sprechen, in dem Nachricht/Bericht (Journalismus), PR/Werbung und Unterhaltung als Programmbereiche firmieren. Sowohl Journalismus wie auch Werbung und Unterhaltung haben die Funktion, die Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems zu dirigieren (vgl. Luhmann 1996: 173), indem sie solche Ereignisse an ihr Publikum vermitteln, die sich mit Hilfe des Kodes Information/Nicht-Information auswählen lassen (vgl. Luhmann 1996: 32 ff.). Ergänzend wird davon ausgegangen, dass für die Ausdifferenzierung des Systems der Massenmedien die ausschlaggebende Errungenschaft in der Erfindung von Verbreitungstechnologien (Druck, Hörfunk, Fernsehen, Internet) gelegen habe. Mit dem Begriff der Massenmedien könnten, argumentiert Luhmann (1996: 10) folglich, „alle Einrichtungen der Gesellschaft erfasst werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen.“ Luhmann hält somit nicht das Was der Kommunikation, sondern die Art und Weise ihrer Verbreitung für das entscheidende Differenzkriterium: „Entscheidend ist auf alle Fälle: dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann“ (Luhmann 1996: 11). Öffentliche Meinung erscheint demgegenüber als „politiksysteminterne Umwelt politischer Organisationen und Interaktionen“ (Luhmann 1996: 185) und wird damit gleichsam dem Zuständigkeitsbereich der Massenmedien – aber eben auch dem anderer Funktionsbereiche (z. B. Wirtschaft, Recht) – entzogen. Der Aufwand, der hierbei betrieben wird, um das System der Massenmedien zu konturieren, ist, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Görke/ Kohring 1996: 18f.; 1997), immens und dafür bemerkenswert wenig ertragreich. Luhmanns theoretische Beobachtungen und Setzungen haben indes schnell Eingang in die kommunikationswissenschaftliche Debatte gefunden, sei es in Form von geringfügigen Adaptionen des Kerngerüstes unter Berücksichtigung der eigenen Fachtraditionen (z. B. in der Journalistik), sei es in Form von konkurrierenden Theorieentwürfen, in denen versucht wurde, theorieimmanente Defizite und Schwachstellen in Luhmanns Überlegungen zu vermeiden (vgl. Kohring 2004): Zu den relevanten Kritikpunkten zählen im einzelnen:
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Kodeproblematik: Schon die Verwendung des Kodes Information/NichtInformation ist theoriebautechnisch alles andere als unproblematisch, da Information gleichzeitig eine der drei Teilselektionen bezeichnet, die zusammengenommen den Kommunikationsbegriff überhaupt definieren. Das heißt: Überall dort, wo in der Gesellschaft kommuniziert wird, werden auch Informationsselektionen getroffen – die folgenreichsten in jenen Gesellschaftsbereichen, die als Funktionssysteme beschrieben werden. Dort ist es allerdings der jeweilige Kode, der die Informationszuschreibung dirigiert: „Codierte Ereignisse wirken im Kommunikationsprozess als Information, nichtcodierte als Störung (Rauschen, noise).“ (Luhmann 1988: 197) Die Aussage, nur die Massenmedien könnten – qua Beobachtung zweiter Ordnung – Informationen als Informationen kommunizieren (vgl. Luhmann 1996: 49; Esposito 1997: 66), vernachlässigt, so die Kritik, die unhintergehbare Systemreferenz jeder Informationsselektion.
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Interaktionsverbot: Auch das von Luhmann verhängte ‚Interaktionsverbot‘ als Grenzkriterium für ein soziales System zu verwenden, steht im Widerspruch zur Theorie sozialer Systeme. Es lässt sich nämlich einwenden, dass im Politiksystem, im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem etc. ‚Interaktionen‘ (einfache soziale Systeme) durchaus nicht ungewöhnlich sind. Sollten Massenmedien das einzige Funktionssystem der Gesellschaft darstellen, das ‚Interaktionen‘ ausschließt? Gerade wenn man dem Umstand Rechnung tragen will, dass die evolutionäre Ausdifferenzierung von einfachen Systemen hin zu immer komplexeren Systemen verläuft (vgl. etwa Merten 1994), spricht dies wohl eher gegen die Ausnahmestellung des Systems Massenmedien.1
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Technik als Sinnsurrogat: Die Abgrenzung des Systems der Massenmedien erfolgt bei Luhmann letztlich durch einen Rückgriff auf technische Verbreitungsmedien (Druck, Hörfunk, Fernsehen, Internet). Kommunikationen, die durch technische Verbreitungsmedien vermittelt werden, fallen demnach in das System, diejenigen, für die das nicht gilt (die aber gleichwohl funktionsäquivalent sein können), fallen raus. Das Problem, das man damit haben kann, ist nicht, dass nicht auch in der Kommunikationswissenschaft auf ähnliche Weise Massenkommunikation von interpersonaler Kommunikation abgegrenzt wird. Kritisiert wurde vielmehr mit Luhmann gegen Luhmann, dass die Bestimmung der Grenze eines Funktionssystems allein durch die Identifikation entsprechender Sinnstrukturen (Themen, generalisierte Kommunikationsmedien) möglich ist. Und (nur) in diesem Sinne gilt: Technik als Grenzkriterium macht keinen Sinn.2
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Systemstatus: Wenn Luhmann von Journalismus, PR/Werbung und Unterhaltung spricht, bezeichnet er diese als Programmbereiche der Massenmedien. Dieser Terminus knüpft an die Unterscheidung von Kode und Programm an und betont hierbei insbesondere die Möglichkeit des Systems, offen für Umweltirritationen zu sein. Die genannten Bereiche massenmedialer Kommunikation gelten damit als vergleichsweise wenig gesetzt und wenig durch Eigenwerte geprägt. Hierbei sollte m. E. stärker betont werden, dass der selektive Zugriff auf unterschiedliche Programmbereiche prozesshaft Konsequenzen zeitigt, die über die Ausbildung und Verfestigung von Routinen allmählich zur Ausdifferenzierung von spezifischen Programmstrukturen und schließlich zu differenten Kommunikationssystemen führen.3
Hier setzen Theorieentwürfe an, die mit Luhmann gegen Luhmann nicht die Massenmedien, sondern Öffentlichkeit als Funktionssystem der Gesellschaft beschreiben (vgl. Kohring 1997, Hug 1997; Görke 1999).
4 Öffentlichkeit als Funktionssystem Ausgangspunkt einer systemtheoretischen Analyse von Öffentlichkeit ist die Frage nach den (internen wie externen) Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Kommunikation. Darin wird deutlich, dass sich Struktur, Aufbau und Operationsweise eines gesellschaftlichen Teilsystems nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Umwelt betrachten lassen. In diesem Sinne ist moderne Öffentlichkeit unhintergehbar durch die Strukturen der modernen funktional differenzierten Gesellschaft geprägt. „Funktionale Differenzierung“, so Willke (1993: 55), „zersplittert die Gesellschaft in eine Vielzahl spezialisierter, partiell autonomer Teile, deren Eigendynamik und zentrifugale Tendenz das Problem der Einheit und Integration von Gesellschaft stellen.“ Dies gereicht der Gesellschaft jedoch nicht, wie man vermuten könnte, zum Nachteil, sondern begründet im Gegenteil ihre besondere Leistungsfähigkeit und Effizienz. Der funktional differenzierten Gesellschaft gelingt es so, ihre Kapazität, je neue und je unterschiedliche Kommunikation entstehen zu lassen und diese auch verarbeiten zu können, entscheidend zu vergrößern. „Durch Systemdifferenzierung wird“, wie Nassehi (1993: 257) treffend formuliert, „die Unmöglichkeit, dass Unterschiedliches gleichzeitig geschieht, quasi dadurch unterlaufen, dass die Gleichzeitigkeit verschiedener Systeme die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem ermöglicht“. Gesellschaft ist demnach hochgradig komplex ver-
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fasst: nicht nur in der Sach- und Sozialdimension, sondern vor allem in der Zeitdimension. Bedenkt man zudem, dass sich zumindest in systemtheoretischer Hinsicht Gesellschaft immer nur kommunikativ ereignet und für jede Organisation bzw. Institution, die das Gemeinwesen symbolisiert, Entsprechendes gilt, wird deutlich, dass wir es mit einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ (Nassehi 2003: 188) zu tun haben. Mit der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem ist zugleich jenes zentrale Strukturmerkmal der Moderne benannt, das die Zunahme gesellschaftlicher Komplexität für die Gesellschaft selbst zum Problem werden lässt: Funktionale Differenzierung steigert einerseits Interdependenzen und damit die Vernetzung des Gesamtsystems, da jedes Funktionssystem voraussetzen muss, dass andere Funktionen anderswo erfüllt werden. Diese Integration ist jedoch fragil, da sie mit dem Risiko des Redundanzverzichts belastet ist (vgl. Luhmann 1990: 341). Das heißt, die funktional differenzierte Gesellschaft wird in einem Zug leistungsfähiger und störanfälliger. Auf genau dieses Problem reagiert die moderne Gesellschaft auf die einzig ihr mögliche Weise: durch die Ausdifferenzierung eines weiteren Funktionssystems. Das damit skizzierte Bezugsproblem besteht in der Ermöglichung der Beobachtung von Grenzen. Öffentlichkeit als Funktionssystem entsteht demnach als Reaktion auf den durch funktionale Differenzierung aufgeworfenen Synchronisationsbedarf. Öffentlichkeit erfüllt eine Synchronisationsfunktion, indem sie Irritationsroutinen anderer Funktionssysteme momenthaft unterbricht, deren Grenzziehung fremdbeobachtet und diese wiederum mit der Kontingenz der eigenen Grenzziehung konfrontiert (vgl. Görke 1999: 287ff.).4 Den von Öffentlichkeit beobachteten Funktionssystemen werden auf diese Weise überraschende und außerplanmäßige Möglichkeiten der systeminternen Anschlusskommunikation eröffnet und zugemutet, die die auf diese Weise beobachteten Systeme nicht selbst realisieren könnten. Öffentliche Kommunikation gewinnt ihre Identität mithin durch ein generalisiertes Sinn- und Kommunikationsmedium. Ein Kennzeichnen dieser Konzeptualisierung von Öffentlichkeit als Funktionssystem kann folglich darin gesehen werden, dass sie sowohl für Individualkommunikation (etwa im Verständnis von Merten 1999: 103ff.) als auch für ‚Massenkommunikation’ gilt. Ob öffentliche Kommunikationsofferten verfangen oder nicht, ob sie Anschlusskommunikation initiieren oder nicht, hängt entscheidend von der Identifizierbarkeit öffentlicher Kommunikation und nicht primär von der Art ihrer Mitteilung oder Verbreitung ab.
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5 Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation Funktionssysteme müssen, um ihre Funktion erfüllen zu können, weitere systeminterne Strukturierungen vornehmen. Ganz grundlegend müssen Funktionssysteme in der Lage sein, Inklusionsprozesse erfolgreich organisieren zu können. Dies geschieht zuvorderst durch die Ausdifferenzierung von organisierten Leistungsrollen (Leistungssystemen) und Publikumsrollen, die passgenau auf das jeweilige generalisierte Kommunikationsmedium zugeschnitten sind (vgl. hierzu ausführlicher Görke 2006). Abbildung 2: Weltgesellschaft und Öffentlichkeit
Weltgesellschaft
Öffentlichkeit
Unterhaltung Public Relations Organisationen
Journalismus
Organisationen Personen Personen
Organisationen Personen
Werbung Organisationen Personen
Durch die Ausdifferenzierung der Leistungssysteme wird öffentliche Kommunikation zunächst auf Dauer gestellt und somit die Wahrscheinlichkeit entscheidend erhöht, dass die Komplexitätsgewinne, die sich durch öffentliches (z. B. journalistisches) Beobachten erzielen lassen, auch weiterhin Anschlusskommunikation motivieren können. Wäre dem nicht so, könnte die Funktion von Öffentlichkeit nur sporadisch bedient werden und alle Chancen und Risiken, die sich aus der mit öffentlicher Kommunikation verbundenen Operation der Öffnung (vgl. Baecker 1996) für andere Funktionsbereiche der Gesellschaft (Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft) systematisch ergeben, blieben dem Zufall überlassen. Anders gesagt: Ein rudimentäres Öffentlichkeitssystem, das aus-
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schließlich durch dyadische und Gruppenkommunikationen konstituiert wird (vgl. Merten 1999: 118ff.), ist mit einer funktional differenzierten Gesellschaft zwingend überfordert, die längerfristige Handlungsketten der Planung und Organisation erforderlich macht und die von Öffentlichkeit mit einer gewissen Verlässlichkeit synchronisierende Irritationsimpulse erwarten können muss. Im Folgenden soll skizziert werden, wie sich Journalismus, Unterhaltung, PR und Werbung als Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation beschreiben lassen (vgl. Abbildung 2).5 Damit wird im Unterschied zu Luhmann (1996) für eine noch differenziertere Perspektive geworben, indem nämlich ergänzend auch zwischen PR und Werbung unterschieden wird (vgl. auch Weber 2005). Anzumerken ist auch, dass sich – bei sonst großer Ähnlichkeit in der Argumentation – die einzelnen Beschreibungen des Funktionssystems Öffentlichkeit darin unterscheiden, ob sie neben dem Journalismus auch noch andere Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation beschreiben. Kohring und Hug (1997) gehen beispielsweise nicht soweit, auch PR und Unterhaltung als eigenständige Leistungssysteme zu beschreiben.6 Werbung wird im Unterschied zum Journalismus als „besonders egozentrische Form der Selbstbeobachtung“ (Kohring/Hug 1997: 29) gekennzeichnet und eher dem Wirtschaftssystem zugerechnet (vgl. auch Luhmann 1996: 92; Tropp 1997; Schmidt/Spieß 1996).7 Eine hieraus durchaus ableitbare Vereinnahmung des Öffentlichkeitsbegriffs für letztendlich journalistische Kommunikation ist jüngst von Malik (vgl. 2004: 40) kritisiert worden. Dies setzt indes voraus, dass es zu zeigen gelingt, wie sich die einzelnen Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation im selben generalisierten Kommunikationsmedium voneinander unterscheiden lassen, wie sie – anders formuliert – den Spielraum nutzen, den die Programmierung der Kodewerte öffentlicher Kommunikation eröffnet. Unsere Ausgangsfrage ist also eine recht einfache: Was verbindet und was trennt die Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation? Öffentliche Kommunikation gewinnt ihre Identität durch das generalisierte Kommunikationsmedium der Aktualität (vgl. Abbildung 3). Alle Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation operieren in diesem Medium, das durch den einheitlichen Kode (± Aktualität) entfaltet wird. Darin liegt gewissermaßen das Identitätsmerkmal öffentlicher Kommunikation. Daraus folgt auch, dass sämtliche Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation auf die eine oder andere Weise einen Beitrag zur Funktion des Systems Öffentlichkeit erbringen. Unterschiede zwischen den Leistungsrollen im Funktionssystem Öffentlichkeit ergeben sich jedoch in der Programmierung der Kodewerte. Wie bereits andernorts ausführlicher (für Unterhaltung und Journalismus) beschrieben (vgl. Görke 2002; 2007), lassen sich somit erstens die Kodewerte (Präferenzwert, Reflexionswert) nutzen, um Differenzen zwischen verschiedenen Leistungsrollen inner-
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halb eines Funktionssystems zu beschreiben. Dem unterliegt die Beobachtung, dass Kodes zwar binär verfasst sind, aber eben nicht nur zwei Zustände zulassen. Die Kodewerte sind somit nicht als absolute Setzungen zu verstehen, sondern als ein von Präferenz- und Reflektionswert begrenztes Kontinuum, dessen Spezifizierung im Einzelnen durch die Programmierung geleistet werden muss. Abbildung 3: Journalismus, Unterhaltung, Werbung und PR + Aktualität
FremdBeobachtung
Journalismus Nachrichtenjournalismus
SelbstBeobachtung
PR Krisen-PR
- Aktualität
Unterhaltung Fiktion
Werbung ImageWerbung
Das zweite Kriterium, das man anlegen kann, um verschiedene Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation voneinander zu unterscheiden, ist die Differenz von Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung. Journalismus, Unterhaltung, Werbung und PR unterscheiden sich demnach in der Programmierung der Kodewerte und hinsichtlich der Form der Beobachtung. Journalismus und Unterhaltung vollziehen demnach eine Fremdbeobachtung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Journalismus wird hierbei durch den Präferenzwert des Kodes (+ aktuell), Unterhaltung durch den Reflexionswert öffentlicher Kommunikation (– aktuell) co-dirigiert. Journalismus und Unterhaltung nutzen mit anderen Worten, ohne die Integrität des Kodes zu verletzen, unterschiedliche Kontinuumsbereiche öffentlicher Kommunikation. Sowohl Journalismus als auch Unterhaltung fungieren demnach als Formgeber im Medium der Aktualität und werden gleichzeitig hinsichtlich der Einheit der Differenz (+/– aktuell) unterscheidbar. Der gesellschaftliche Synchronisationsbedarf, der zunächst die Ausdifferenzierung des Funktionssystems Öffentlichkeit ermöglicht hat, findet solchermaßen in der journalistischen Aktualitätskonstruktion und der an sie gebundenen unterhaltenden Möglichkeitskonstruktion seine professionelle Entsprechung (vgl. Görke 2002: 73ff.; 2007). Indem Journalismus Aktualität konstruiert, synchronisiert er (Welt-) Gesellschaft:
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sachlich und sozial, vor allem aber temporal. Unterhaltung nutzt diese Reduktion der Komplexität zur eigensinnigen Produktion von Kommunikationsangeboten. Die auf Dauer gestellte Beobachtung gesellschaftlicher Grenzziehungen, wie sie durch die Leistungssysteme Journalismus und Unterhaltung vollzogen wird, stipuliert gewissermaßen auch die Antagonisten der Fremdbeobachtung: PR und Werbung. Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung stehen in diesem Sinne in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Gerade die Unausweichlichkeit der Fremdbeobachtung stipuliert in diesem Sinne den dringenden Wunsch, sich so beobachtet zu sehen, wie man sich selbst sehen möchte. Die Funktionsumschreibung von Hoffjann (2001: 130f.), der wohlgemerkt PR nicht als Leistungssystem öffentlicher Kommunikation, sondern als Subsystem anderer Funktionssysteme sehen will, ist hier m. E. durchaus anschließbar: „Public Relations konzentriert sich […] auf die Änderung von Umwelterwartungen von als relevant bewerteten Umweltsystemen“, indem es versucht, eigenformulierte Selbstbeschreibungen in die jeweiligen Reflexionen der Umweltsysteme einzutragen (vgl. auch Kohring/Hug 1997: 27).8 In ihrer Ausrichtung auf den Präferenzwert öffentlicher Kommunikation (+Aktualität) ähnelt PR dem Journalismus, wodurch sich gewissermaßen eine ökologische Konkurrenzsituationen gerade zwischen diesen beiden Teilsystemen öffentlicher Kommunikation ableiten lässt. Und Werbung? Werbung kann zunächst auch als Selbstbeobachtungsform klassifiziert werden. Im Unterschied jedoch zur Public Relations nutzt Werbung – darin Unterhaltung nicht unähnlich – die Möglichkeiten, die sich durch eine stärkere Mitberücksichtigung des Reflexionswertes (– aktuell) ergeben. Die hier vorgenommene Differenzierung ist durchaus anschlussfähig an alternative (systemtheoretisch-konstruktivistische) Beschreibungen des Systems Werbung. Anders als Journalismus und Unterhaltung „operiert die Werbung“, so Zurstiege (2002: 156; vgl. Luhmann 1996: 85), „immer auf der Basis einer eingebauten Parteilichkeit, über deren Ziele und Motive nicht hinweg getäuscht wird. […] Die Parteilichkeit der Werbung korrespondiert auf der sachlichen und der sozialen Ebene mit einer doppelten ‚Ausblendungsregel’.“ Zum einen richtet sich das Interesse der Werbung vor allem auf positive Ereignisse und Themen, zum anderen geht es ihr, so Zurstiege (vgl. 2002: 157) weiter, um die Generierung von Teilnahmebereitschaft, wobei die Teilnahmefähigkeit stillschweigend vorausgesetzt wird. Im Vergleich zur Wirklichkeitskonstruktion der Public Relations generiert die werbende Möglichkeitskonstruktion Wirklichkeitsentwürfe höherer Kontingenz. Wie schon im Verhältnis von Journalismus und Unterhaltung lässt sich auch dies auf operatives Displacement zurückführen (vgl. ausführlicher Görke 2007). Werbekommunikation kann sich
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demnach wie Unterhaltungskommunikation stärker darauf konzentrieren, ihre Informationsangebote variantenreich mitzuteilen: Werbung kann sich „auf das Spiel mit der Fiktionalität einlassen, weil sie zwar ihre Motive offen legt, aber gerade deshalb bei der Wahl ihrer Mittel vergleichsweise frei ist. […] Die Wahrheit der Werbung […] bemisst sich nicht an der realen Erfüllung ihrer Versprechungen, sondern an der Bedeutung ihrer Phantasien für den Betrachter.“ (Zurstiege 2002: 158)
Für die Binnendifferenzierung des Funktionssystems Öffentlichkeit sind aber nicht nur die Leistungsrollen ausschlaggebend. Mitentscheidend sind vielmehr auch die mit ihnen korrespondierenden Publikumsrollen (vgl. Görke 2007). Sozialverbindlichkeit, Faktizität, Relevanz, Neuigkeit (vgl. Weischenberg 1994; Malik 2004: 81f.) beschreiben in diesem Sinne Erwartungserwartungen des Publikums, die zwar (noch) für journalistische Anschlusskommunikation entscheidend sind (vgl. Scholl 2004), bei deren Nichteinhaltung eine auf Möglichkeitskonstruktion abzielende Fremdbeobachtung (Unterhaltung) oder Selbstbeobachtung (Werbung) aber sehr wohl möglich bleibt. Angebote der Public Relations, die mit ihren systemischen Selbstbeschreibungen die jeweiligen Reflexionen relevanter Umweltsysteme intendiert irritieren wollen, geraten dagegen in dem Maß in den Sog der genannten Erwartungserwartungen, in dem sie dies in der Regel nur mittelbar – durch vorherige Beobachtung durch den Journalismus – zu erreichen trachten. Dies gibt einen ersten wichtigen Hinweis darauf, dass sich Interrelationen zwischen den Leistungsrollen oder -systemen öffentlicher Kommunikation wie auch die Ausbildung von Hybridisierungen nicht für alle Leistungssysteme gleich chancenreich bzw. riskant darstellt. Einige haben – kurz gesagt – mehr zu verlieren und zu gewinnen als andere.9
6 Ausblick Das Denken in Systemen ist – gerade im deutschsprachigen Raum – stark (und vielleicht auch zu stark) mit dem Namen Niklas Luhmann verbunden. Die funktional strukturelle Systemtheorie ist in der Kommunikationswissenschaft wie in vielen anderen Disziplinen mittlerweile recht gut verankert, wenngleich dies nicht für alle Gegenstandsbereiche und Problemstellungen gilt und gelten kann. Im Gegensatz zu manchen Nachbardisziplinen zeichnet sich die kommunikationswissenschaftliche Diskussion der Systemtheorie indes auch dadurch aus, dass sie gerade mit Blick auf das System der Massenmedien recht kritisch mit den Beobachtungen ihres Vordenkers umgehen kann. In diesem Sinne sind die recht vielfältigen Einheits- und Differenzperspektiven, die in der Kommunikationswissenschaft entwickelt worden sind, ein Beleg dafür, dass systemtheoreti-
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sche Denkzeuge nicht nur einfach importiert und kopiert wurden, sondern gehörig modifiziert und weiterentwickelt wurden. Dieselbe Beobachtung (Vielfalt statt Einheit und zuweilen sogar Vielfalt der Einheit) wird zuweilen auch als Beliebigkeit ausgelegt. Ob Journalismus nun als Funktionssystem beschrieben werden kann oder doch eher als Leistungssystem öffentlicher Kommunikation hängt, so wie hier argumentiert wurde, wesentlich davon ab, welches Forschungsproblem in den Blick genommen werden soll(te). Warum auch sollte sich etwa ein Journalismusforscher darauf verpflichten lassen, sich auch mit Werbung, PR und Unterhaltung beschäftigen zu müssen, wenn es ihm in erster Linie um journalismusspezifische Problemlagen geht? In diesem Sinne markiert Luhmanns Realität der Massenmedien eine doppelte Zäsur: zum einen für sein eigenes Schaffen, zum anderen für die kommunikationswissenschaftliche Systemforschung. Der Stellenwert dieser Zäsur ist jedoch völlig unterschiedlich. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht muss hierbei mit einkalkuliert werden, dass allein bezogen auf den Journalismus mit den frühen Arbeiten Rühls (1979, 1980) bereits Theorieentwürfe vorliegen, die den Gegenstandsbereich detailgetreuer, angemessener und anspruchsvoller beschreiben, als dies in der Realität der Massenmedien geleistet wird. Mit der Kodeproblematik, dem Interaktionsverbot sowie der medientechnischen statt sinnorientierten Grenzziehung lassen sich die wichtigsten Kritikpunkte benennen. Die anhaltende Faszination, die vom System der Massenmedien ausgeht, erklärt sich daher nicht auf Grund der Originalität oder gar Sorgfalt, die Luhmann darauf verwendet hat, sondern mit Blick auf die vorgeschlagene Einheitsperspektive, Journalismus, Unterhaltung, PR und Werbung unter einem Dach zu vereinen. Damit hat sich die (vielleicht vorschnelle) Hoffnung verbunden, den Gegenstandsbereich der Publizistik und Kommunikationswissenschaft zu konturieren und dem Fach aus seiner latenten Selbstbestimmungskrise zu helfen (vgl. Kohring/Hug 1997; Kohring 2004: 200). Gewiss geht es auch eine Nummer kleiner, wenn man darauf hinweist, dass eine derartige Einheitsperspektive geeignet ist, Interrelationsprobleme und Hybridisierungsphänomene in Journalismus, Unterhaltung, Werbung und PR zu untersuchen. Theorieentwürfe, die mit Luhmann gegen Luhmann nicht die Massenmedien, sondern Öffentlichkeit als Funktionssystem der Gesellschaft modellieren, lösen einerseits einige Probleme, die am Beispiel des Ansatzes von Luhmann aufgezeigt wurden. Andererseits werfen sie auch neue Probleme auf und können schon daher nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Ein Hauptproblem besteht etwa darin, dass neben dem Journalismus (bislang) kaum andere Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation beschrieben wurden. Der vorliegende Beitrag versucht hier einen Diskussionsbeitrag zu liefern, indem er vier Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation und zwei Kernkriterien benennt,
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mit deren Hilfe man die Gegenstandbereiche Unterhaltung, Journalismus, Werbung und Public Relations unterscheiden kann. Die Spezifizierungsbedürftigkeit der damit beschriebenen öffentlichen Kommunikationsofferten kommt darin zum Ausdruck, dass nicht versucht wurde, das jeweilige Gesamtspektrum (etwa journalistischer Kommunikation) abzudecken. In einem ersten Schritt ging es vielmehr darum, die Clusterkerne der Leistungssysteme öffentlicher Kommunikation zu bestimmen. Stärker der Clusterperipherie zuordenbare Formen (z. B. Unterhaltungsjournalismus) wurden an dieser Stelle bewusst ausgeklammert. Der vorliegende Theorieentwurf muss auch damit leben, dass er vorerst vorwiegend makroperspektivisch argumentiert. Eine Ausweitung auf die Mesoebene der Organisationen ist andernorts für Unterhaltung und Journalismus ausführlicher ausgearbeitet worden (vgl. Görke 2007), steht aber für PR und Werbung noch aus. Das gilt jedenfalls dann, wenn man sich nicht umstandslos aus den einschlägigen differenzperspektivischen Beiträgen bedienen mag. Ein stabiles Merkmal der modernen Gesellschaft scheint jedoch zu sein, dass sie in allen zentralen Funktionsbereichen „mehrere Organisationen hervorbringt und diesen Pluralismus bejaht, auch wo er mit starken Momenten von Ungeplantheit und Anarchie einhergeht: mehrere Produktionsbetriebe, da es sonst keinen Markt gäbe, mehrere Parteien als Bedingung für Wahldemokratie, mehrere Zeitungen als Unterbau einer öffentlichen Meinung, die auch durch den jeweiligen Machthaber nicht kontrolliert werden kann.“ (Kieserling 2004: 221).
Weiterhin scheint der Pluralismus der Organisationen durch einen Pluralismus der Organisationsformen ergänzt zu werden. In diesem Sinne lässt sich etwa zeigen, dass journalistische Organisationen einem vergleichsweise ähnlichen Selektionszwang unterliegen, aus dem in der Konkurrenzsituation ein ebenfalls vergleichsweise homogener Variationszwang erwächst (vgl. Görke 2002). Hieraus ergibt sich wiederum eine Neigung zu einer vergleichsweise kompakten, strikten Kopplung des Organisationsgeschehens (vgl. Görke 2007). Demgegenüber sind Unterhaltungsorganisationen, deren Organisationsziele auf die systematische Möglichkeitskonstruktion im Medium der Aktualität ausgerichtet sind, weniger limitiert in der Wahl ihrer Organisationsform. Sie können auch auf flüchtigere, netzwerkartige Formen, mithin auf eine vergleichsweise lose (projektartige) Kopplung des Organisationsgeschehens setzen (vgl. Baecker 1999: 189). In diesem Sinne kann sich die Organisation von Unterhaltung vergleichsweise kontingent gestalten. Vor diesem Hintergrund wäre dann eine parasitäre Nutzung fremder Funktions- und Muttersysteme (im Sinne von Hoffjann) nicht zwingend ein Argument gegen die Beschreibung von PR als Leistungssystem, könnte aber in Abgrenzung zu stärker dem öffentlichen Funktionsprimat folgenden PR-Agenturen erklären, warum manche organisierte PR-Kommunikation weniger durchsetzungs- und erfolgsfähig ist als andere (vgl. Fuchs 1999).
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Ob nach allem, wie bisher argumentiert wurde, die funktional strukturelle Systemtheorie als Basistheorie der Kommunikationswissenschaft anzusprechen ist, kann im Grunde nur vom jeweiligen Forscher bzw. der jeweiligen Forscherin entschieden werden. Als Welterzeugungs- und damit immer auch als Problemerzeugungsinstrument ist das systemtheoretische Theorienensemble aus Kommunikations- und Medientheorie, Theorie sozialer Systeme und Differenzierung sowie Evolutions- und Gesellschaftstheorie meinem Eindruck nach gut positioniert, um – im Kontext konkurrierender Theorien – gerade für die Kommunikationswissenschaft attraktiv zu sein: als universalistisches Theorieangebot ohne Alleinvertretungsanspruch.
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Für Funktionssysteme ist es auch deshalb nicht opportun, Restriktionen gegen Interaktionen einzurichten, weil sie sich auf diese Weise um eine Letztmöglichkeit zum Systemerhalt bringen würden (vgl. Görke 1999:243; Fußnote 37). Die Untauglichkeit technischer Verbreitungsmedien als Sinn- und Grenzkriterien ist indes nicht gleichbedeutend mit deren Irrelevanz für die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung (vgl. Görke 1999: 260 ff.). Aus Ähnlichkeit wird so gesehen mit der Zeit Andersartigkeit und je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird der Nachweis der Gemeinsamkeiten. Wenngleich die Formulierungen etwas variieren, sehen auch Kohring (1997) und Hug (1997) den entscheidenden Ermöglichungsgrund für die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems Öffentlichkeit in der vorgängigen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Ausbildung von wechselseitigen Erwartungsstrukturen. Diese Perspektivierung ist dabei nicht zwingend darauf angelegt, jene Ansätze, welche die betreffenden Bereiche als Funktionssysteme fokussieren, zu ersetzen. Die vorliegende Modellierung ist vielmehr als Komplementärangebot zu verstehen, das für die Lösung bestimmter Probleme geeignet sein kann (vgl. Kap. 2). Infolgedessen wird an dieser Stelle auch nicht der Ehrgeiz verfolgt, sämtliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Leistungssystemen öffentlicher Kommunikation auf Makro-, Meso- und Mikroebene zu diskutieren. In der Regel wird vielmehr eine Makroperspektive eingenommen. Inwiefern Öffentlichkeitsarbeit/PR als Leistungssystem öffentlicher Kommunikation modelliert werden kann, bezeichnet Kohring (2004: 197), als „eine theoretisch noch nicht endgültig geklärte Frage“. Siegert und Brecheis haben zu Recht darauf verwiesen, dass sich die Zuordnung zum Wirtschaftssystem einer impliziten Fokussierung auf Wirtschafts- und Absatzwerbung verdankt (vgl. Zurstiege 2002). Diese Zuordnung wird vor dem Hintergrund fraglich, dass ja längst nicht nur Wirtschaftsunternehmen für sich und ihre Produkte werben, sondern auch Interessensgruppen, Verbände, politische Verbände, Wissenschaftsorganisationen, journalistische Organisationen und und und. „Insofern ist es wenig verwunderlich, dass sich bei denselben Autoren, die [für; ag] eine Zuordnung
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der Werbung zum Wirtschaftssystem argumentieren, durchaus auch Hinweise finden lassen, die eine Zuordnung der Werbung zum Teilsystem Publizistik/Medien rechtfertigen würden.“ (Siegert/Brecheis 2005: 112) Die Funktion von Public Relations beschreibt Hoffjann (2001: 130; vgl. indes auch Ronneberger/Rühl 1992: 249ff.) (dagegen) als „die Legitimation der Organisationsfunktion gegenüber den als relevant eingestuften Umweltsystemen.“ Hierbei bleibt m. E. jedoch etwas unklar, was legitimiert werden soll: die Organisation oder das Funktionssystem, das der Organisation ihre Funktion einprägt (vgl. zum Verhältnis von Funktions- und Organisationssystemen Görke 2007). Vgl. hierzu am Beispiel des Verhältnisses von Journalismus und Unterhaltung Görke (2007).
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Interdisziplinärer Theorietransfer in der Kommunikationswissenschaft am Beispiel des sozialen Kapitals Anne-Katrin Arnold & Beate Schneider
1 Anliegen Eine ständige Auseinandersetzung mit der Übernahme von Theorien auf Metaund Mesoebene aus angrenzenden Wissenschaften ist insbesondere in einer Hybriddisziplin wie der Kommunikationswissenschaft nötig, um eine Selbstreflexion des Faches und auf diesem Wege eine Weiterentwicklung des Theorienkanons zu gewährleisten. In Fächern, die nur wenige eigene Theorien entwickelt haben (zum Beispiel, wie im Fall der Kommunikationswissenschaft, wegen des geringen Alters der Disziplin), werden häufig Ansätze aus benachbarten Wissenschaften übernommen, beforscht und ggf. angepasst. Die Kommunikationswissenschaft bedient sich dabei häufig ‚klassischer’ Theorien aus der Soziologie. Aus verschiedenen Gründen gelingt eine Übernahme und Anpassung nicht immer problemlos. Zur Illustration der Übertragung einer spezifischen Theorie und zur Diskussion der Fruchtbarkeit der Vernetzung genuin kommunikationswissenschaftlicher Ansätze mit soziologischen, politischen oder ökonomischen Theorien versuchen wir im Folgenden eine Anbindung der in Nachbardisziplinen viel diskutierten Theorie des sozialen Kapitals an unser Fach. Unser ursprüngliches Anliegen war dabei auch die Konzeption einer theoretischen Grundlage für empirische kommunikationswissenschaftliche Sozialkapitalforschung, deren Felderfolg wir am Ende unserer Arbeiten kurz zur Evaluierung heranziehen werden.
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2 Auswahl der Thematik Die Thematik des sozialen Kapitals bietet sich für den Versuch einer Integration – oder besser Verknüpfung – soziologischer und auch ökonomischer und politologischer Theorien mit der Kommunikationswissenschaft aus verschiedenen Gründen an. Das Konzept wird in den Nachbardisziplinen seit langem ausführlich diskutiert und ist theoretisch recht gut und detailliert fundiert, auch wenn es theoretische Unklarheiten und konzeptionelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen gibt. Die Idee des sozialen Kapitals hat seinen Weg noch nicht in die deutsche Kommunikationswissenschaft gefunden, obwohl in vielen Ansätzen explizit oder implizit auf die Bedeutung medial vermittelter Kommunikation für den Aufbau und den Erhalt sozialen Kapitals verwiesen wird. In den populären Sozialkapital-Diskussionen werden Zusammenhänge und Kausalitäten bezüglich medialer Kommunikation postuliert, die auf einem wackeligen Fundament stehen (so z. B. Putnam 2000). Amerikanische Empiriker untersuchen den Zusammenhang zwischen der Nutzung von Massen- und neuen Medien und sozialem Kapital zwar seit kurzer Zeit mit steigender Frequenz. Dabei zeichnen sich zwei dominierende Vorgehensweisen ab: Ein Teil der Arbeiten stützt sich weitgehend unreflektiert auf bestehende und durchaus kritisch zu betrachtende Ansätze (z. B. Norris 1996). In diesen Fällen werden meist die hier noch zu explizierenden Annahmen von Robert Putnam zugrunde gelegt und empirisch überprüft – mit unterschiedlichem Erfolg. Eine zweite Gruppe von Studien beschränkt sich auf die Untersuchung kleiner Ausschnitte, die die gesamte Theorie nur unzureichend abbilden (z. B. Lee et al. 2004). Diese Studien leisten dabei meist entweder keine theoretische Grundlagenarbeit oder beziehen sich ebenfalls auf Putnam. Den kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen fehlt also eine theoretische Systematisierung sowohl im Hinblick auf eine einheitliche konzeptionelle Basis als auch auf theoretische Arbeit zur Bildung von Hypothesen über den Zusammenhang zwischen medialer Kommunikation und sozialem Kapital.
3 Vorgehen Wir beginnen unseren Theorietransfer bei Bourdieus Konzept sozialen Kapitals, das in der das Forschungsfeld dominierenden amerikanischen Diskussion weit-
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gehend unbeachtet bleibt, im Gegensatz zu Putnam aber eine konzeptionell geschlossene und nachvollziehbare theoretische Grundlage bietet. Weiterentwicklungen aus anderen Fächern, speziell der Politologie und der Ökonomie, sollen veranschaulichen, wie dieser umfassende Ansatz in Theorien mittlerer Reichweite spezialisiert und einem empirischen Zugang geöffnet wird. Letztere Theorien haben in der Regel hohe Praxisrelevanz und erleichtern so die konkrete Übertragung in die Kommunikationswissenschaft, bilden aber kaum noch eine theoretische Einheit. Diese Ansätze fassen wir in einem Modell zusammen, das Grundlage für eine systematische Anknüpfung an die Kommunikationswissenschaft sein soll und dessen konkrete Aspekte die Verbindung zu kommunikationswissenschaftlichen Theorien und Befunden erlauben. Diese wiederum ermöglichen eine weitere Explikation des Zusammenhangs zwischen sozialem Kapital und medial vermittelter Kommunikation. Den Erfolg unseres Vorhabens diskutieren wir abschließend mit Verweis auf unseren Versuch, das Modell empirisch umzusetzen.
4 Theorietransfer 4.1
Der Ausgangspunkt: Bourdieus Theorie vom sozialen Kapital
Bourdieus Unterscheidung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital steht eine Schlüsselrolle bei jeder theoretischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu. Seine Kapitalarten stehen für unterschiedliche Ausprägungen von Macht und sind unter bestimmten Voraussetzungen ineinander konvertierbar. Soziales Kapital versteht er als „Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; […] es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu 1983: 190f, Hervorhebung im Original).
Sozialkapital steht also für eine soziale Kreditwürdigkeit, die dem einzelnen Kapitalträger Vertrauenswürdigkeit, „Ehrbarkeit und Ansehen“ verleiht (Bourdieu 1982: 204) und ihm auf diese Weise zu Profit verhilft. Bourdieus Verständnis von sozialem Kapital bezieht sich auf Netzwerke, in denen der Umfang des Kapitals eines Individuums bestimmt wird durch die Größe seines persönlichen Netzwerkes und dem Kapital der anderen Mitglieder darin. Soziales Kapital kann nur in solchen Beziehungen entstehen und sich reproduzieren, in denen eine gewisse Solidarität besteht, in denen also reziproke
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Tauschprozesse meist immaterieller Ressourcen stattfinden. Nach Bourdieu sind zwei verschiedene Arten von Beziehungen als Kapitalträger denkbar: institutionalisierte (formelle) und nicht-institutionalisierte (informelle) Beziehungen. Diese Beziehungsarten führen uns im Folgenden zu Kapitalunterformen, die insbesondere bei den noch vorzustellenden Theorien einen wichtigen Ansatzpunkt für eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtung bieten. Pierre Bourdieu ist ein entschiedener Kritiker der Medien, insbesondere des Fernsehens. Durch Mechanismen wie Quotendruck, dem Zwang zu einer kurzen und anschaulichen Darstellung von Sachverhalten, Tendenzen zur Vereinfachung und durch seine hohe Reichweite sei das Fernsehen eine Gefahr für Kunst, Literatur, Wissenschaft, Philosophie, Politik und Recht (Bourdieu 1998). Das Fernsehen sei eine „symbolische Gewalt“ (ebd.: 21), die die abgebildete Wirklichkeit gemäß den Gesetzmäßigkeiten, denen es unterliegt, verzerre. Durch den Zwang zur Sensationalisierung werde beim Publikum eine Entfremdung von der Politik verursacht, die wiederum einen Rückgang des politischen Engagements und des Vertrauens in öffentliche Institutionen zur Folge haben kann, die in unmittelbar konstituierendem Verhältnis zu sozialem Kapital stehen. Allerdings könnten Medien auch soziale Bewegungen unterstützen, so Bourdieu, indem sie ihnen eine Öffentlichkeit bieten, die sie für Unbeteiligte und die Politik sichtbar macht. Auf diese Weise könne der Entpolitisierung und Kapitalisierung der Gesellschaft entgegengewirkt werden (Bourdieu 2001). Medien könnten zwar nicht die Bildung von Gruppen forcieren, aber ihre Entwicklung unterstützen – und damit auch die Herausbildung sozialen Kapitals. Diese Ausgangstheorie Bourdieus, die sich in ihren Ansätzen sicher noch weiter zurückverfolgen ließe, liegt nun nicht explizit, immer aber implizit späteren, differenzierteren Theoriekonstrukten zugrunde. Diese Ansätze sind meist weniger geschlossen in der theoretischen Basis, dafür aber für empirische Forschung besser zugänglich. Um theoretische Redundanz zu vermeiden, stellen wir im Folgenden drei spezifische Ansätze vor, die wir für genuin halten in dem Sinne, dass sie sich nicht zu weiten Teilen auf bereits bestehende Theoriegerüste stützen, sondern eigenständige Beiträge zur Weiterentwicklung des Konzeptes bieten. Dabei gehen wir nur auf die Aspekte ein, die über Bourdieus Explikationen hinausgehen und für unser Anliegen relevant sind. Konfrontiert mit der Viel- und Unzahl von Theorien, Hypothesen und Ideen zum sozialen Kapital lassen sich ohne Zweifel zwei bedeutende Autoren identifizieren, die grundlegende theoretische und empirische Arbeit geleistet haben: James Coleman und Robert Putnam. Darüber hinaus liefert Ronald Burt einen aufschlussreichen Beitrag zur Theorieentwicklung, indem er den Netzwerkaspekt des sozialen Kapitals in den Vordergrund stellt.
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4.2
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Die Ausdifferenzierung: praxeologische Ansätze verschiedener Wissenschaftsdisziplinen
Das Primat der Reziprozität: James Coleman Den Arbeiten Colemans verdankt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialem Kapital die Einsicht in die Bedeutung reziproker Tauschbeziehungen. Coleman (1995, 1994) führt die Prinzipien des „Homo Sociologicus“ und des „Homo Oeconomicus“ zusammen und geht davon aus, dass ökonomisch motivierte Nutzenmaximierung und durch das soziale Umfeld bestimmtes Handeln unmittelbar zusammenhängen. Nur die Synthese beider Axiome könne sowohl die Handlungen von Individuen als auch die Entwicklung sozialer Systeme erklären. Diese Synthese manifestiert sich in den Funktionen und Mechanismen sozialen Kapitals, das als Konstrukt nur durch die Interaktion gesellschaftlich verantwortungsvollen Handelns und individueller Nutzenmaximierung entstehen kann. Reziprozität spielt eine entscheidende Rolle bei Produktion und Reproduktion des Kapitals. Coleman führt dafür den Begriff des ‚credit slip’ ein: Erbringt A eine Leistung für B und setzt Vertrauen in B, dass B in Zukunft eine Gegenleistung erbringen wird, entsteht in A eine Erwartung und für B eine Verpflichtung. Diese Verpflichtung ist der ‚credit slip’, eine Gutschrift, die A nun besitzt und B zu einem von A bestimmten Zeitpunkt einzulösen hat. Die Anzahl der ausstehenden Verpflichtungen bestimmt die Größe des sozialen Kapitals einer Person. Die Anknüpfungspunkte für einen Theorietransfer sehen wir in den Ressourcen, die nach Coleman Individuen und Gruppen zur Verfügung stehen, wenn sie über soziales Kapital verfügen. Zu diesen Ressourcen zählen zum Beispiel Informationspotenziale. Soziale Beziehungen bergen einen möglichen Pool an Informationen, die als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage eingesetzt werden können. Da Informationen hohe Beschaffungskosten haben, im billigsten Fall ‚nur’ Aufmerksamkeit erfordern, können soziale Beziehungen, die für ganz andere Zwecke bestimmt sind, dieser Informationsbeschaffung dienen (Coleman 1995: Kap. 12). Normen konstituieren eine weitere Ressource (Coleman 1994: 104), die einem Akteur in einer Tauschhandlung eine gewisse Kontrolle über das Handeln des Gegenübers bietet. Diese Kontrolle führt zu einem beidseitigen Handeln im Bewusstsein aller persönlichen und sozialen Konsequenzen, die als Regeln sozialen Austauschs bekannt sind. Werte und Normen, deren Schaffung, Erhalt und Veränderung sind Gegenstand verschiedener Per-
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spektiven einer kommunikationsbezogenen Sozialwissenschaft, die wir später zum Theorietransfer heranziehen wollen. Zwei weitere Aspekte, die hauptsächlich an empirische Befunde angebunden werden können, sind Vertrauen als Voraussetzung für die Entstehung von Reziprozität – und damit für den Erhalt sozialen Kapitals – sowie Sozialstrukturen und Beziehungsstrukturen als Kapitalumwelt.
Mediale Unterhaltung als Kapitalvernichter: Robert Putnam Theoretisch weniger grundlegend als Bourdieu und Coleman, dafür aber ungleich populärer sind die Arbeiten des Politologen Robert Putnam. In seinem zum Bestseller gewordenem Werk „Bowling alone: The collapse and revival of American community“ (2000) definiert er soziales Kapital als Mittel zur Lösung von Problemen kollektiven Handelns. Ein Konsens zur Lösung kollektiver Dilemmata kann nur durch ein gemeinsames soziales Kapital gefunden werden, das Gruppen in die Lage versetzt, sich effizient vorstaatlich selbst zu organisieren. Putnam schreibt den Massenmedien eine klare Rolle zu: 40 Prozent des von ihm diagnostizierten dramatischen Kapitalverlusts in den USA seien durch einen primär unterhaltungsorientierten Medienkonsum verursacht. Informationsnutzer dagegen verfügen über hohes soziales Kapital, das ganz besonders durch starke politische Partizipation entsteht. Dies geht in der Regel einher mit einer überdurchschnittlichen Bildung und der gefühlten Verpflichtung, sich in die Gemeinde zu integrieren. Ein hohes Interesse an politischen Vorgängen führt in der Konsequenz zu politischem Engagement. Drei Faktoren einer vorwiegend unterhaltungszentrierten Mediennutzung wirken potenziell einschränkend auf soziales Kapital (Putnam 2000, 1995): 1.
Die Zeit, die ein Mensch vor dem Fernseher verbringt, kann er nicht gemeinnützigen Vereinigungen oder anderen sozialen Beziehungen widmen.
2.
Putnam bezieht sich auf die medienwissenschaftliche Theorie der Kultivation (dazu später mehr) und geht davon aus, dass unterhaltende Fernsehinhalte Misstrauen und Passivität kultivieren.
3.
Ohne sich auf eigene empirische Befunde stützen zu können, vermutet der Politologe eine dem Fernsehen entgegengesetzte Wirkung beim Internet (dazu ebenfalls mehr später). Internetkommunikation biete zumindest das
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Potenzial, soziales Kapital durch neue und neuartige Beziehungen zu stärken. Neben diesen expliziten Wirkungszuweisungen spielen, ähnlich wie bei Coleman, auch in diesem Ansatz Normen, Vertrauen, Reziprozität und Sozialstrukturen eine entscheidende Rolle. Schwache Beziehungen, so genannte ‚weak ties‘ (vgl. Granovetter 1973), spielen im letzten Fall sowohl für die Entstehung sozialen Kapitals als auch für die konzeptionelle Verbindung der Ausgangstheorie mit der Kommunikationswissenschaft eine Rolle.
Soziales Kapital als Netzwerktheorie: Ronald Burt Burt vertritt in der Diskussion um das soziale Kapital einen ökonomisch-instrumentellen Standpunkt. Für ihn ist Sozialkapital eine Metapher für Vorteil: Bestimmte Individuen sind erfolgreicher als andere; die Ursache dafür ist die Verfügbarkeit sozialen Kapitals (Burt 2001, 2000). Burt gründet seine Systematik auf der Logik von Informationsflüssen: Informationen fließen in Gruppen schneller als zwischen Gruppen. Dabei gibt es zwei Positionen, die ein Marktakteur einnehmen kann: Er kann in einer Gruppe stehen und vorwiegend Kontakt zu Mitgliedern dieser Gruppe haben, oder er kann zwei oder mehrere Gruppen verbinden, also Kontakt zu den Mitgliedern zweier oder mehrerer Gruppen haben. Zwischen Gruppen bestehen ‚strukturelle Löcher’, es fehlen Verbindungen zwischen den jeweiligen Mitgliedern. Personen, die diese strukturellen Löcher überbrücken – zwischen Gruppen vermitteln bzw. Mitglied in mehreren Gruppen sind – bezeichnet Burt (2000) als ‚Broker’ (Informationsbroker). Die Überbrückung der strukturellen Löcher bietet einen informativen Vorteil: Der ‚Broker’ hat Anteil an verschiedenen, nicht-redundanten Informationsflüssen, er weiß also mehr als andere Personen und erhält die Informationen auch schneller. Schwache Beziehungen spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie oft unterschiedliche Netzwerke verbinden. Burt sieht die Kernbedeutung sozialen Kapitals in der Eruierung und Anwendung marktrelevanter Informationen und der Kontrolle und Lenkung von Informationsströmen zum Vorteil der eigenen Transaktionen. Informationen in und zwischen sozialen Netzwerken können neben der interpersonellen Kommunikation auch durch mediale Kommunikation ausgetauscht werden. Die Bedeutung der Medien liegt hier in der Frage, inwieweit sie ‚Broker’ dabei unterstützen können, strukturelle Löcher zu überbrücken, Informationen zu sammeln und sie einzusetzen. Die Netzwerkcharakteristik sozialen Kapitals ist eine
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grundlegende Annahme, die zwar implizit in allen bisher vorgestellten Ansätzen deutlich wird, aber erst bei Burt zum tragenden Element der Theorie wird. Das hat für Modellbildung und Empirie deutliche Auswirkungen.
4.3
Systematisierung und Modellbildung
Aus den bisher vorgestellten Ansätzen lassen sich verschiedene Aspekte des Sozialkapital-Konstrukts derivieren. Wir identifizieren: 1.
Kapitalarten: Netzwerkkapital, Partizipationskapital Wellman et al. (2001) greifen die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements (siehe Putnam) auf der einen und informeller Beziehungen (Coleman, Burt) auf der anderen Seite auf und unterscheiden ‚Netzwerkkapital’ (aus informellen Beziehungen) und ‚Partizipationskapital’ (aus bürgerschaftlichem Engagement). Diese Systematisierung entspricht in etwa Bourdieus Unterscheidung von institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Beziehungen und erlaubt, wie wir später ausführen, die Anbindung an zwei Gruppen von Studien zur Massenkommunikation, die sich auf die gleiche Weise voneinander trennen lassen.
2.
Bedingungen: Vertrauen, Reziprozität, Werte und Normen Kapitalbedingungen verstehen wir als Merkmale von sozialen Beziehungen, die gemeinsam die Konstitution sozialen Kapitals bedingen. Vertrauen ist nach Luhmann (1984: 179) der Faktor, der Bildung und Reproduktion langfristiger sozialer Systeme ermöglicht, weil er die Voraussetzung dafür ist, dass eine Person sich auf eine andere einlässt, ohne deren zukünftiges Verhalten zu kennen. Damit ist Vertrauen die Voraussetzung für Reziprozität, die von Bourdieu, Coleman und Putnam als konstituierendes Merkmal einer Sozialkapital-Beziehung betrachtet wird. Reziprozität kann auch als ‚Norm der Gegenseitigkeit’ begriffen werden (Coleman 1994, 1995, Putnam 1993, 2000). Mit dem Begriff der Normen eng verbunden sind Werte, die ebenfalls Reziprozität bedingen können. Hier können sowohl Werte, die auf die individuelle Nutzenmaximierung ausgerichtet sind (Individualismus), als auch Werte, die auf das Wohl der Gesellschaft abzielen (Kollektivismus, Altruismus) eine Rolle spielen. Damit entsteht innerhalb der Bedingungen sozialen Kapitals eine gewisse Hierarchie: sowohl Vertrauen als auch eine bestimmte Werthaltung, die durch Normen
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umgesetzt oder sanktioniert wird, können zu reziproken Tauschsystemen führen, in denen dann soziales Kapital gebildet wird.
Abbildung:
Modell sozialen Kapitals in seinen Formen, mit seinen Bedingungen und in seiner Umwelt
Netzwerk Soziales Kapital S Reziprozität Reziprozität Altruismus Altruismus
Generalisierte Generalisierte Reziprozität Reziprozität
Eingeschränkte Eingeschränkte Reziprozität Reziprozität
Werte und und Normen Normen Individualismus Individualismus
Kollektivismus Kollektivismus
Vertrauen Vertrauen
in Form von Netzwerkkapital
Partizipationskapit
mit Ressourcen aus Verpflichtungen & Erwartungen
Informationspotenzialen
Normen & Sanktionen
Netzwerk mit netzwerkspezifischen Merkmalen: z.B. Formalisierungsgrad, Größe, Dichte, Heterogenität, Variabilität etc.
3.
Umwelt: Soziale Netzwerke/Sozialstrukturen In einem großen Teil der entsprechenden Fachliteratur unterscheiden die Autoren nicht zwischen Netzwerkkapital als einer Form sozialen Kapitals und sozialen Netzwerken als Umwelt, in der soziales Kapital entsteht. Diese Unterscheidung ist aber nicht nur logisch zwingend, sondern auch für eine Anknüpfung an Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft von Bedeu-
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Anne-Katrin Arnold & Beate Schneider tung. Nach Döring (1999: 318) umfassen soziale Netzwerke die „Gesamtheit der sozialen Beziehungen einer Person (Ego, Fokalperson) zu anderen Menschen (Alteri) sowie deren Beziehungen zueinander.“ Netzwerke sind gekennzeichnet durch verschiedene Merkmale, die die Ausprägung des Sozialkapitals mitbestimmen, so zum Beispiel die Stärke der Beziehungen innerhalb des Netzwerkes, ihre Größe, Dichte, Heterogenität und Variabilität (vgl. u. a. Döring 1999, Gräf 1997, Granovetter 1973, Wellman 2000).
Die Integration aller bisher aufgeführten Aspekte sozialen Kapitals führt zu dem in der oben stehenden Abbildung skizzierten Modell, das schlussendlich der Übertragung in die Kommunikationswissenschaft zugrunde liegen soll.
4.4
Anbindung kommunikationswissenschaftlicher Ansätze und Befunde
Perspektive der Massenmedien Massenmedien und Partizipationskapital: Die Videomalaise-These: Die Hypothese der Videomalaise geht auf Michael Robinson (1974, 1976) zurück und postuliert einen medialen Einfluss auf Vorstellungen und Einstellungen gegenüber den politischen Institutionen eines Staates und auf individuelles politisches Verhalten. Nach Robinson tragen Medien durch die strukturellen und inhaltlichen Besonderheiten der Politikberichterstattung zu Entfremdung von und Zynismus gegenüber der Politik bei, deren Folge eine zunehmende Passivität im demokratischen Partizipationsprozess ist. Die Politikdarstellung in den Medien – hauptsächlich im Fernsehen – führe zu einem Gefühl von Ohnmacht und Unverständnis in Bezug auf politische Entscheidungsprozesse. In der Folge verringere sich das Vertrauen in die Politik und das politische und zivile Engagement (Partizipationskapital) nehme ab. Wie auch bei Putnam (2000) liegt der spezielle Fokus der Auseinandersetzung auf dem Fernsehen, das wegen seiner Unterhaltungsorientierung im Gegensatz zu Tageszeitungen besonders zu politischer Entfremdung und Passivität beitragen soll (Holtz-Bacha 1989, Bentele 1998). Tageszeitungen würden dem durch die Ausbildung politisch mündiger Bürger entgegenwirken (Miller/ Reese 1982, Becker/Whitney 1980, Brettschneider/Vetter 1998). Einzelne Studien befassen sich mit Vertrauen gegenüber öffentlichen Institutionen und Politikern, mit politischer Kompetenz und mit bürgerschaftlichem Engagement. So meint Kepplinger (1998), wachsendes Misstrauen gegenüber
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der Politik, politisches Desinteresse, Unkenntnis politischer Vorgänge und geringe politische Aktivität seien auf die zunehmende Negativierung der politischen Berichterstattung und den stärker werdenden Einfluss der Medien auf die Bevölkerung zurückzuführen (vgl. auch Brettschneider/Vetter 1998, Norris 2000). Nach Holtz-Bacha (1989), Brettschneider/Vetter (1998) und Jäckel (1991) verhält es sich mit der politischen Kompetenz wie mit der Politikverdrossenheit: Unterhaltungsorientierte Nutzer fühlen sich machtlos, die Nutzer politischer Informationen – ganz besonders in Tageszeitungen – verfügen über ein stärkeres politisches Selbstbewusstsein. Im Endeffekt stehen bürgerschaftliches Engagement als Manifestation sozialen Kapitals und Unterhaltungskonsum in einem negativen Zusammenhang, während die Rezeption politischer Informationen dem Partizipationskapital zuträglich ist. Massenmedien und Netzwerkkapital: Die Kultivationsforschung: Netzwerkkapital sowie die Kapitalbedingungen Vertrauen, Werte und Normen lassen sich im Kontext der Kultivationstheorie analysieren. Die Gerbnersche Tradition der Kultivationsforschung geht von der Prämisse aus, das Fernsehen vermittele in seinen Unterhaltungsprogrammen kumulativ symbolische Gesellschaftsbilder, die die soziale Realität von Vielsehern prägen, das Fernsehen sei daher die Lernumwelt einer Nation (Morgan/Signorielli 1990). Aus dieser Perspektive hat das Fernsehen eine stabilisierende Leistung im Hinblick auf bestehende Wertsysteme (Gunter 1987, Adoni/Mane 1984), dies vorrangig durch die Ablehnung radikaler Veränderungen (Gerbner 1990). Durch die kumulierte Darstellung von dem, was ‚richtig’ ist, wird ein Publikums-Konsens über wünschenswerte Verhaltensweisen gebildet, der wiederum zu einem weitgehend normenkongruenten Verhalten führt. Grundsätzlich bewirkt diese mediale Kultivation eine Bestätigung bestehender Verhältnisse und Machtverteilungen (Gerbner/Gross 1976). Bestehende Wertesysteme können so stabilisiert und gefördert werden: Gibt es also einen Wertekonsens in einer Gesellschaft, der soziales Kapital fördert (Reziprozität, Altruismus etc.), dann kann dieser durch das Fernsehen verbreitet und bestärkt werden. Die Arbeiten der Gerbner-Gruppe zur Kultivation von Angst und Misstrauen gehören zu den am meisten beachteten Studien im Rahmen der Kultivationsforschung. Im Mittelpunkt steht dabei das ‚mean-world-Syndrom’, das eine Einstellung von Rezipienten bezeichnet, die die Welt für gefährlich und ungerecht, und ihre Mitmenschen für egoistisch und nicht vertrauenswürdig halten. Nach Gerbner et al. (1979) ist das Fernsehen eine der Ursachen einer solchen Weltsicht, weil es uns wiederholt zeigt, wovor und vor wem wir Angst haben müssen (vgl. Gunter 1987). Gewalthaltige Darstellungen – die nach Gerbners Erkenntnissen den größten Teil der Fernsehsendungen ausmachen – führen beim
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Rezipienten zu Angst, Misstrauen, Unsicherheit und einem erhöhten Schutzbedürfnis. Wie auch bei der Videomalaise ist hier eine Differenzierung der Inhalte zu beachten: Nach Hawkins/Pingree (1981) sind es fiktionale Inhalte, die das ‚mean-world-Syndrom’ fördern, Nachrichten und andere Informationssendungen hätten dagegen kaum solche Effekte. Eine mögliche Folge der durch das ‚mean-world-Syndrom’ produzierten Angst ist eine eigeninitiierte Isolation gegenüber anderen Menschen, die die Bildung sozialen Kapitals ernsthaft behindert. Darüber hinaus kann die Darstellung von Stereotypen im Fernsehen die Bildung sozialen Kapitals durch eine Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen erschweren, die dann von anderen Gruppen gemieden werden (z. B. ältere Menschen, Morgan 1983).
Perspektive der Internetkommunikation Internetkommunikation spielt eine ganz besondere Rolle für soziale Beziehungen und damit für soziales Kapital. Wegen der Bedeutung computervermittelter Kommunikation für die Bildung interpersonaler Netzwerke beschränken wir uns an dieser Stelle auf eine Diskussion der Kapitalumwelt. Entgegen den Erwartungen von Internet-Pessimisten, die von einer beziehungsnegierenden Funktion des Internet ausgehen, deuten empirische Befunde darauf hin, dass das Internet dazu geeignet ist, schwache Beziehungen zwischen Personen herauszubilden bzw. zu fördern. Im Internet sind Beziehungen beobachtbar, deren Intensität und Qualität wie auch außerhalb des Netzes von sehr hoch bis sehr niedrig reichen (Thiedeke 2000, Dollhausen/Wehner 2000, Wellman/Gulia 1999, Gräf 1997, Döring 1999, Pickering/King 1995, Hampton/ Wellman 2001, Wellman et al. 2001, Parks 1996). Virtuelle Netzwerke gliedern sich wie andere Netzwerke auch in primäre (starke) Beziehungen, sekundäre (schwache) und periphere Beziehungen. Computernetze bieten gute Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in lockeren, offenen Netzwerken, da mit Hilfe elektronischer Kommunikation einfach und kostengünstig bestehende Beziehungen über Distanzen hinweg erhalten und neue Beziehungen mit Unbekannten aufgebaut werden können (Wellman 2000). Durch den geringen zeitlichen und finanziellen Aufwand entstehen viele neue, aber meist schwache Beziehungen (Pickering/King 1995, Dollhausen/Wehner 2000, vgl. Heintz 2000, Döring 1999). Nach Gräf (1997) und Wellman/Gulia (1999) ist das Internet also ein Katalysator schwacher Beziehungen, die zum einen die Größe der Netzwerke erheblich ausweiten und zum anderen physische schwache Beziehungen substituieren können. Netzwerke werden größer, gleich-
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zeitig verringert sich ihre Dichte. Durch die Möglichkeit, ohne hohen Aufwand Mitglied in mehreren Gruppen zu sein, werden die Akteure zu ‚Brokern’ im Sinne Burts, die die strukturellen Löcher zwischen Gruppen überbrücken (Dollhausen/Wehner 2000, Wellman 2000). Im Ergebnis stehen mehr nicht-redundante Informationen zur Verfügung als das bei physischen Gruppen der Fall sein kann, und es steht einem ‚Broker’ dadurch einfacher, schneller und mehr soziales Kapital zur Verfügung. Obwohl meist davon ausgegangen wird, dass virtuelle Beziehungen eher schwach sind (Gräf 1997, Wellman 2000, Wellman/Gulia 1999, Heintz 2000, Döring 1999), ist auch die Entstehung starker Bindungen nachgewiesen worden (Wellman/Gulia 1999, Thiedeke 2000). Kommunikation im Internet vermehrt also die Möglichkeiten, über die Bildung starker Beziehungen auch auf substanzielle Ressourcen zugreifen zu können. Periphere Beziehungen im Internet spielen für das soziale Kapital vor allem insofern eine Rolle, als das aus ihnen möglicherweise die für soziales Kapital so wichtigen weak ties werden können (vgl. Gräf 1997, Wellman/Gulia 1999). Die Ausweitung der Peripherie eines InternetNutzers geschieht durch die Ausweitung seines Netzwerkes – je mehr Beziehungen (schwache oder starke) er aufbaut, desto mehr Freundesfreunde bilden den äußeren Kreis seines Netzwerkes (Gräf 1997).
5 Zusammenführung und Feldtest Die Problematik des Theorietransfers im Fall des sozialen Kapitals ist ein weites Feld, und es war uns nicht möglich, hier alle Aspekte darzustellen. Dennoch konnten wir schlussendlich explizite Zusammenhänge zwischen der Rezeption massenmedialer Inhalte und sozialem Kapital identifizieren, und ebenso die Bedeutung von Internetkommunikation für die Kapitalumwelt deutlich machen. Demnach steht Sozialkapital in einem eindeutig negativen Zusammenhang mit unterhaltungsorientiertem (Massen)Medienkonsum und in einer tendenziell positiven Beziehung mit informationsorientierter Mediennutzung. Nach aktuellem Forschungsstand kann die Umwelt sozialen Kapitals durch Internet-Kommunikation ausgeweitet und gestärkt werden, wodurch mehr Kapital-Potenzial geschaffen wird. Zwar führt unsere theoretische Auseinandersetzung und Systematisierung zu einem durchaus nachvollziehbaren Modell mit konkreten Bezügen zu kommunikationswissenschaftlichen Theorien. Unser Versuch, das theoretische Modell empirischer Arbeit zugrunde zu legen, war jedoch weniger erfolgreich. Im Auftrag der Landesregierungen von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt
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konnten wir 2003 das soziale Kapital in beiden Ländern durch eine bevölkerungsrepräsentative Telefonbefragung mit 6.000 Teilnehmern untersuchen. Neben einem umfassenden Fragenkatalog zum Partizipations- und Netzwerkkapital wurde auch die Mediennutzung erhoben. Das partizipatorische Kapital wurde hauptsächlich über folgende Variablen operationalisiert: Aktivität in Organisationen der Zivilgesellschaft; zeitliche Intensität des bürgerschaftlichen Engagements; aktives politisches Engagement (Teilnahme an Wahlen, Wahlkampfaktionen, politischen Veranstaltungen etc.). Das Netzwerkkapital wurde erfasst mit Variablen zu nicht-organisiertem sozialem Engagement (z. B. Nachbarschaftshilfe) und dessen zeitlicher Intensität; Spendeverhalten; Größe des persönlichen Freundeskreises; Qualität des Nachbarschaftsverhältnisses; Qualität der Gemeinschaft in bestimmten Gruppen (z. B. Kollegenkreis); Freizeitbeschäftigungen gemeinsam mit anderen Personen. Vertrauen, Reziprozität und Wertorientierung wurden über die Zustimmung zu entsprechenden Aussagen zur Einstellung gegenüber politischen Institutionen und der Bevölkerung allgemein sowie über die Motivation für soziales Engagement operationalisiert. Die Nutzung unterhaltender und informativer TV-Inhalte wurde erhoben über die Senderpräferenz und die Zustimmung zu den Aussagen „Fernsehen ist meine hauptsächliche Form der Unterhaltung“ und „Ich sehe fern, um mich auf dem Laufenden zu halten“. Zur Internetnutzung wurden Häufigkeit und Dauer der privaten und beruflichen Nutzung sowie Art und Intensität der Interaktionen mit anderen Nutzern erhoben (für genauere Ausführungen zur Operationalisierung siehe Arnold/Schneider 2003). Der „Misserfolg“ unserer Unternehmung offenbart sich in der Auswertung der Daten. Während unsere Ausführungen deutliche Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und sozialem Kapital vermuten lassen, können wir mit den von uns erhobenen Variablen zur Mediennutzung nie mehr als vier Prozent der Varianz im sozialen Kapital erklären. Auch die vermeintlich entscheidenden soziodemografischen Variablen wie Alter und Bildung tragen nur minimal zum Verständnis der individuellen Unterschiede im sozialen Kapital bei. Insgesamt lässt sich das soziale Kapital nicht erklären und nicht vorhersagen – ob dieses Problem seine Ursache in einer unzureichenden Operationalisierung oder in einem fehlerhaften Modell hat, konnten wir bisher nicht bestimmen.
6 Fazit Grundsätzlich lässt sich also ein Transfer bewerkstelligen – mit welchem Erkenntnisgewinn dies gelungen ist, bleibt noch zu diskutieren. Die Verknüp-
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fung empirisch geprägter kommunikationswissenschaftlicher Ansätze mit deutlich abstrakteren und weitreichenderen Theorien z. B. aus der Soziologie scheint vor allem ein Ergebnis zu haben: die Banalisierung einer komplexen und bedeutsamen Idee, wie sie von Bourdieu (und anderen) für das soziale Kapital formuliert wurde. Ob dies nun auf die mangelnde Reichweite der hier zitierten Ansätze zurückzuführen ist, oder ob der von uns eingeschlagene Weg nicht zielführend war, kann hier nicht entschieden werden. Dennoch weisen wir darauf hin, dass nicht nur die hier vorgestellten Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft selten einen eigenständigen Beitrag zur Theoriebildung und -entwicklung in einem größeren und abstrakteren – gesellschaftlichen – Kontext liefern. Die Übertragung von Theorien aus den Nachbardisziplinen scheint also ein Muss für eine theoretische Anbindung insbesondere empirischer kommunikationswissenschaftlicher Forschung zu sein, um ein gewisses Vakuum in unserer Disziplin auszugleichen.
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Über die Spezifika „nationaler Theoriediskurse“: Kommunikationswissenschaft in Frankreich Stefanie Averbeck
1 Vorbemerkungen Umfassende vergleichende Darstellungen zur Fachentwicklung der Kommunikationswissenschaft in Deutschland und Frankreich oder in Frankreich und einem anderen Land sucht man vergeblich. Dem ist hinzuzufügen, dass die gegenseitige Wahrnehmung deutscher und französischer Kommunikationswissenschaftler bis dato ohnehin marginal ist. Eine Ausnahmeerscheinung ist die München-Pariser Zusammenarbeit, die von Ursula E. Koch, Detlef Schröter und Pierre Albert initiiert wurde (vgl. Hermann 2005). Dabei ist Kommunikationstheorie so wenig national wie irgendeine andere Theorie, national sind wissenschafts- und wissenssoziologisch begründbare Einflüsse auf die Theoriebildung und in der Folge Ausprägungen derselben. Im Folgenden wird insbesondere auf die unterschiedliche Einbindung des US-amerikanischen Pragmatismus und Interaktionismus in die französische und deutsche Forschungstradition verwiesen, die wesentlich mit der unterschiedlichen Fachgenese der Kommunikationswissenschaft in beiden Ländern zusammenhängt. Das entsprechende erkenntnistheoretische Instrumentarium für eine wissenschafts- und wissenssoziologische Fundierung der Theorien- und Fachgeschichte bzw. -systematik der Kommunikationswissenschaft setze ich voraus (vgl. Averbeck/Kutsch 2002, 2005; Meyen/Löblich 2006). Der vorliegende Aufsatz bettet sich in ein größeres Projekt und argumentiert ergebnisorientiert.1 Ausgegangen bin ich vom „epistemologischen Diskurs der französischen Kommunikationswissenschaft“, ihrer Selbstthematisierung. Dieser Diskurs verweist zugleich auf Aspekte der Ideen- wie der Sozialgeschichte dieser Wissenschaft.2 Methodologisch handelt es sich um eine hermeneutische Analyse. Die Quellen, die ich ausgewertet habe, beziehen sich auf diesen Diskurs, der ein dreifacher ist: erstens der systematische über fachliche Gegenstände (Diskurse-
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Stefanie Averbeck
bene 1), zweitens der Metadiskurs über diese Reflexionsebene, der die fachlichen Gegenstände seinerseits erkenntnistheoretisch zu begründen sucht (Diskursebene 2), und drittens dessen historische Wendung, ergo Fach- und Theoriengeschichte (Diskursebene 3). Quellen für die Diskursebene 1 sind Monografien und Aufsätze, Quellen für die Diskursebene 2 sind solche, in denen die fachliche Diskussion sichtbar wird, so die Tagungsbände der kommunikationswissenschaftlichen Fachgesellschaft Société Française de l’Information et de la Communication (SFSIC) seit 1978 sowie deren Mitgliederbulletin La Lettre d’Inforcom, dessen 25 Jahrgänge ich ausgewertet habe. Diskursebene 3 finden wir in jüngeren Aufsätzen in kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften wie Réseaux oder Hermès, die die französische Theorien- und Fachgenese behandeln sowie diversen neueren Sammelbänden (vgl. Boure 2002b; Georgakakis/Utard 2001; Jeanneret/Ollivier 2004).
2 Französische Sciences de l‘Information et de la Communication (SIC) und deutsche Kommunikationswissenschaft Maßgebliche Unterschiede zwischen „deutscher“ und „französischer“ Kommunikationswissenschaft ergeben sich aus deren Entstehungsprämissen, den geistesgeschichtlichen, politischen und ökonomischen Kontexten, die die jeweilige Wissenschaftsentwicklung begleiteten. Während die deutsche Kommunikationswissenschaft, aus der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft kommend, sich vorrangig mit öffentlicher, massenmedial vermittelter Kommunikation befasst (vgl. Rühl 1999: 58; DGPUK 2001; Brosius 2003), legen die französischen Wissenschaftler einen umfassenden Begriff sozialer Kommunikation zu Grunde, der elementar auf sprachphilosophischen, anthropologischen und semiotischen Prämissen gründend generell nach der Sinnvermittlung durch Kommunikationsprozesse (über massenmediale hinaus) fragt (exemplarisch Quéré 1982; Esquenazi 2002). Das in Deutschland gängige, etwa durch die Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) vordefinierte Formalobjekt unserer Wissenschaft ist „öffentliche (Massen)kommunikation“ (vgl. DGPuK 2001). Auf französischer Seite geht es dagegen weniger um die Transmission von Informationen als vielmehr um das Teilen von Bedeutungen. Alex Mucchielli differenziert diesbezüglich explizit zwischen „communication-transmission“ und „communication-participation“ als zwei unterschiedlichen Paradigmen (vgl. Mucchielli 2004: 45). Dabei ist „participation“ nicht normativ zu verstehen, es geht um das Teilen von Symbolen, nicht um das Teilen besserer
Über die Spezifika „nationaler Theoriediskurse“
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Argumente.3 Das Paradigma „communication-participation“ meint Kommunikation als kulturelles Phänomen. Mucchielli wendet dies gerade gegen das Transmissionsparadigma, das immer auch funktional bestimmte Kommunikationsziele (Wissen über..., Erziehung zu...) im Auge habe (vgl. Mucchielli 2004: 90). Die französische Kommunikationswissenschaft versteht sich bis heute primär als „science humaine“, als Humanwissenschaft, nämlich anthropologisch, während die deutsche sich primär sozialwissenschaftlich begreift. Dabei schließt die „humanwissenschaftliche“ Orientierung in Frankreich sozialwissenschaftliche Perspektiven ein. „Sciences humaines“ werden nicht als Gegenpol zu „sciences sociales“ gesehen, sondern als Klammer auch für die letzteren. Daher findet man sowohl in der Wissenschafts- wie in der Alltagssprache oft den übergreifenden Begriff „sciences sociales et humaines“ (vgl. Schulte 1990: 340). Dies bedeutet nicht zuletzt, dass die Kommunikationswissenschaft in Frankreich weit weniger erfahrungswissenschaftlich verstanden wird als in Deutschland. Spekulative, in der Form oft essayistische Umgangsmodi mit Theoriebildung werden als legitime Ausdrucksformen verstanden. Das divergente Wissenschaftsverständnis führt also auch auf theoretischer und methodologischer Ebene zu Unterschieden, so stellt sich die französische Kommunikationswissenschaft viel weniger „geschlossen“, disparater dar als die deutsche, und zwar sowohl theoretisch als auch methodisch-methodologisch (vgl. Kopper 2004). Arbeitet die deutsche Kommunikationswissenschaft zumal positivistisch mit so genannten „harten“ empirischen Verfahren wie Inhaltsanalyse und Befragung, so herrschen in der französischen qualitative Methoden etwa semiologischer oder diskursanalytischer Art vor. Mitunter wird dies auch in Frankreich selbst vehement kritisiert (vgl. Maigret 2004: 115). Rückführbar ist die ‚weichere‘ Methodologie auf die Genese der französischen Kommunikationswissenschaft aus der Literaturwissenschaft und Semiotik. Allerdings ist die französische Kommunikationswissenschaft im 21. Jahrhundert im Umbruch hin zu „mehr Empirie“, also auch zu einer stärker positivistisch-quantitativen Methodologie. Aus deutscher Sicht indes kann gerade die qualitative Methodologie der Franzosen als Bereicherung und Ansatzpunkt gesehen werden (vgl. Albert et. al. 2003).
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3 Metabetrachtungen des eigenen Faches in Deutschland und Frankreich In Deutschland ist Kommunikationswissenschaft eine vergleichsweise ‚alte‘ Wissenschaft, die seit 1916 aus der Zeitungswissenschaft hervorging. Das garantiert aber noch keinen ausgereiften epistemologischen Diskurs. Die NSVergangenheit der deutschen Zeitungswissenschaft führte lange zu einer Verdrängung ideengeschichtlich-epistemologischer Diskurse (vgl. Hardt 2002); Arnulf Kutsch und Horst Pöttker sprechen diesbezüglich von einer ‚disziplinären‘ Amnesie (Kutsch/Pöttker 1997: 16). Seit Mitte der 1970er Jahre, beginnend mit den Arbeiten der ‚Enkelgeneration‘ insbesondere von Hans Bohrmann und Kutsch, kam es in Deutschland dann aber zu einer weit stärkeren fach- und theorienhistorischen Aufarbeitung als in Frankreich, zunächst vor allem bezogen auf die verdrängte NS- und die dadurch gleichsam vom Fach abgespaltene Vergangenheit der Weimarer Zeitungswissenschaft (vgl. v. Bruch/ Roegele 1986; Averbeck 1999; Averbeck 2001). Die französische fach-, zumal als institutionenhistorische Forschung, steht dagegen erst in den Anfängen (vgl. Jeanneret/Ollivier 2004). Anlass ist neuerdings das erst dreißigjährige Bestehen der Disziplin. Die Fachgründung, die in das Jahr 1975 datiert, wird in Frankreich selbst als „verspätet“ wahrgenommen (vgl. Cazeneuve 1982: 369; Mattelart 1983: 59; Wolton 1997: 77). Gleichwohl ist Epistemologie im engeren Sinne als Fachepistemologie traditionell stark. Wird Epistemologie in Frankreich per se als Teil der Kommunikationswissenschaft, ihrer Kommunikationskultur und Identitätsbildung verstanden (vgl. Jeanneret 2001; Boure 2002a), sind solche Metareflexionen in deutschen Fachdebatten noch randständig. Ich meine, dass das am doppelten Effekt vom zunächst Verdrängen der Fachgeschichte zwischen 1933 und 1945 und in der Folge oft nur punktuellen Analysen zur Zeitungs- und Publizistikwissenschaft liegt. Allerdings ist ein echter epistemologischer Diskurs jüngst auch in Deutschland festzustellen: z. B. sichtbar auf der Erfurter DGPuK-Tagung 2004, in der das Selbstverständnispapier der DGPuK einer Revision unterzogen wurde. Allerdings gibt es in der DGPuK, anders als in der Französischen Fachgesellschaft und dort seit 1997, keine eigenständige Fachgruppe für „Kommunikationstheorie“.4 Dieser deutsche Diskurs geht einher mit einer Öffnung des Formalobjektes von der Problemstellung „öffentliche Kommunikation“ hin zu der „soziale Kommunikation“, also weg von der publizistikwissenschaftlichen Tradition. Dafür steht zumal die Integration des Pragmatismus/Symbolischen
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Interaktionismus in die Kommunikationstheorie (vgl. Burkart 2002; Krotz 2001) und die Adaption der British Cultural Studies (vgl. Hepp 2004). Weise ich also „den deutschen Kommunikationswissenschaftlern“ das dominante Formalobjekt „öffentliche Kommunikation“ zu, bezieht sich das auf eine diachrone, fachhistorische Betrachtung, nämlich die Tradition, in der die deutsche Theoriengeschichte, vermittelt über die Zeitungs- und Publizistikwissenschaft, steht. Dabei ist nicht zu vergessen, dass es alternative Diskurse mit Beiträgen von Hans Traub in den 1930er Jahren (vgl. Averbeck 1999: 355-405), Henk Prakkes funktionaler Publizistik (vgl. Kutsch 2000; Klein 2004), der Münchner Zeitungswissenschaft (vgl. Schönhagen 2004) und auch der Semiotik Günter Benteles in den 1980er Jahren (vgl. Bentele 1980) stets gab. Dazu zu zählen ist auch die Adaption der Kritischen Theorie in der Kommunikationswissenschaft (vgl. Müller-Doohm 2000). Soziale Kommunikation im von mir in Anlehnung an den französischen Diskurs verstandenen Sinne meint weder interpersonale Kommunikation noch Kommunikation in Organisationen, vielmehr ist darunter ein kulturalistischsemiotischer Kommunikationsbegriff zu verstehen. Kommunikation ist dann Interaktion zwischen Menschen auf verschiedenen, miteinander vernetzten Ebenen, die öffentliche, medial vermittelte ebenso wie private Gesprächskommunikation umfassen.
4 Entwicklungslinien der SIC Der institutionelle Rahmen kommunikationstheoretischer Theoriebildung sind in Frankreich seit 1975 die SIC. Das ist die gängige Abkürzung für „Sciences de l’Information et de la Communication“, übersetzt Informations- und Kommunikationswissenschaften. Begründet sich der Plural in den ersten Jahren nach der akademischen Anerkennung der SIC und bis etwa Mitte der 1980er Jahre noch aus einem pluri-disziplinären Verständnis, ist dies über die Jahre anders geworden: Man reklamiert SIC-typische, von anderen Disziplinen abweichende Problemstellungen und begründet den Plural bezogen auf die Theoriegestalt des Faches nun inter- und transdisziplinär, dabei kreisend um einen Kern, ein Formalobjekt, das die SIC ausmache (vgl. Barrère 1977; Jeanneret 2001). Ähnliche „Entgrenzungsdiskurse“, die zugleich zur Ausbildung von Subdisziplinen der Kommunikationswissenschaft wie Kommunikator- oder Nutzungsforschung führten und unabgeschlossen sind, kennen wir auch in Deutschland. Trotz des Plurals in der Bezeichnung der Kommunikationswissenschaften in unserem Nachbarland: Auf der Ebene der Sozialgestalt hat die Disziplingründung von
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1975 inzwischen zu einem Kollektivsingular geführt, denn de facto besteht eine universitäre Disziplin SIC mit Lehrstühlen, Departments und Prüfungsrecht (vgl. Meyriat/Miège 2002). Auf die Darstellung der Schritte zu dieser Disziplingründung wird an dieser Stelle verzichtet (vgl. Averbeck 2005). Lediglich grobe Züge derselben, die für die erkenntnistheoretische Entwicklung des Faches wichtig sind, werden benannt. Externe Faktoren spielten bei der Fachgründung eine eminente Rolle: Die SIC wurden mit der Reform der französischen Universitäten nach 1968 eingerichtet (vgl. Miège 2000: 558; Arru-Gallart 2004: 9). Wissenschaftspolitisches Ziel ihrer Inauguration zu einer akademischen Volldisziplin war ihre Praxisnähe zu den neuen Berufen der Informationsgesellschaft ebenso wie die Reflexion dieser neuen (Post-)Moderne (vgl. Tétu 1994: 3; Bernard 2004: 28). Insbesondere die Erforschung des damals noch recht neuen und weitgehend unreflektierten Massenmediums Fernsehen galt als Legitimation der Disziplingründung (vgl. Mattelart 1983; Lochard 2004: 55). Die Stichworte „Pluridisziplinarität“ und „Praxisorientierung“ fassen die wissenschaftspolitischen Ziele zusammen. Interne Faktoren wie die Generationenentwicklung in den SIC bestimmten die Entwicklung mit: Wie im Falle der deutschen Zeitungswissenschaft kamen die sogenannten „Gründerväter“ aus anderen Disziplinen. Erst heute, mehr als 30 Jahre nach der Institutionalisierung, lehren in unserem Nachbarland primär solche Kommunikationswissenschaftler, die auch in diesem Fach promoviert sind (vgl. Cardy/Froissart 2002).
5 Erforschung der Populärkultur (1962-1974) Als zentrale Vorläuferinstitution der französischen SIC ist das Centre d’Etudes de Communication de Masse anzusehen, kurz CECMAS, an dem Roland Barthes (1915-1980), Georges Friedmann (1905-1977) und Edgar Morin (geb. 1921) ab 1962 forschten. Erklärtes Ziel war die Erforschung der Populärkultur, daher die Affinität zur Analyse von Film, Fernsehen und Zeitschrift. Allerdings wollten weder Morin, Barthes noch Friedmann eine Disziplin Kommunikationswissenschaft begründen, auch wenn sie ihr zehn Jahre nach der Gründung des CECMAS Anfang der 1970er Jahre als Mentoren auf den Weg halfen. Morin sagte rückblickend, dass der Oberbegriff „communication“, den das CECMAS und seine Zeitschrift Communications im Titel führten, ein Synonym für einen breiten, populären Kulturbegriff war, zu verstehen als ‚Massenkultur‘ in einem nicht pejorativ gemeinten Sinne (vgl. Morin 2004: 80).
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Die Sonderrolle des CECMAS, eingerichtet 1962 an der Ecole Pratique des Hautes Études (EPHE), wird auch in der französischen Literatur betont (vgl. Wolton 1998: 49; Mattelart/Mattelart 2002: 49). Diese Einrichtung hatte einen semiologisch-kultursoziologischen Gründungs- und Schaffenskontext und nahm das „héritage structuraliste“ der französischen Geistes- und Sozialwissenschaften auf (vgl. Lambert 1990: 54ff.; Véron 2001). Folgt man Lambert, war das eine französische Sonderentwicklung, die den epistemologischen Diskurs der SIC bis heute prägt. Die neuen populärkulturellen Forschungsinteressen der Generation „Gründerväter“ brachten in den 1960er Jahren auch die Rezeption der amerikanischen Soziologie und Kommunikationsforschung mit sich. Der erste zusammenfassende Reader „Theorie de l‘information“, 1973 von Francis Balle und George Padioleau herausgegeben, enthält Texte von Mitgliedern des CECMAS ebenso wie die amerikanischen Forschungsergebnisse zur Massenkommunikation und Information seit den 1940er Jahren (vgl. Balle/Padioleau 1973).5 Auch Communications, die am CECMAS von Barthes, Friedmann und Morin edierte Zeitschrift, machte die US-amerikanische Kommunikationsforschung bekannt (vgl. Gritti 1999: 22); federführend war Friedmann. Friedmann und Morin betreuten am CECMAS überdies gemeinsam mit Lazarsfeld einige Dissertationen (vgl. Souchon 2004: 196f.). Nicht zuletzt in der Diskussion zwischen Friedmann und Lazarsfeld hatte sich die Gründungsidee zum CECMAS überhaupt formiert (vgl. Morin 2004: 78).6 Zeitgleich mit der Kommunikationsforschung, und sich (mindestens in den Personen Friedmanns und Morins) damit überlappend, entwickelte auch die französische Soziologie im Rekurs auf Lazarsfeld Konkurrenzangebote zum strukturalistischen Paradigma. Stefan Moebius und Lothar Peter nennen diesbezüglich insbesondere den methodologischen Individualismus Raymond Boudons (geb. 1934), der bei Lazarsfeld in den USA studiert hatte. Außerdem rekurrieren sie auf die Markt- und Meinungsforschung, die Jean Stoelzel (geb. 1914) 1938 mit der Gründung des ersten französischen Instituts für Meinungsforschung, dem Institut Français de l‘Opinion Publique (IFOP), nach dem Vorbild des amerikanischen Gallup-Instituts organisiert, nach Frankreich brachte (vgl. Moebius/Peter 2004: 11ff.). Somit gibt es keine nationale Wissenschaft, wohl aber Wissenschaftskulturen, die national spezifisch sind. Mit der Rezeption des in Frankreich so genannten „amerikanischen Funktionalismus“ einher ging – gerade am CECMAS – die Kritik daran (vgl. Boure 2002a: 11). Sie richtete sich gegen einen Transmissions- ebenso wie einen effektzentrierten Begriff von Kommunikation und zielte auf die Erforschung der Interdependenzen von Kultur und Kommunikation, ganz im Sinne der semiotischen Tradition. So kritisiert Morin das seines
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Erachtens in der US-Forschung dominante „Schéma Lasswellien“: Nirgends werde Inhalt („content“) als Ausdruck von Kultur begriffen, der amerikanische Funktionalismus spalte die Inhaltsanalyse von der Kultursoziologie ab (vgl. Morin 1972: 97f.). Hier sei angemerkt, dass die deutsche Kommunikationswissenschaft sich traditionell stärker und adaptiver an der US-amerikanischen Kommunikationsforschung orientiert als die französische. Das hat auch disziplinhistorische Gründe: 1945 war die deutsche Zeitungswissenschaft diskreditiert (vgl. Duchkowitsch et al. 2004), viele produktive Vertreter der Weimarer Zeitungswissenschaft emigriert (vgl. Kutsch 1988; Averbeck 2001) und deren Schriften nach 1945 vergessen. Die Entwicklung eines Formalobjektes für eine Kommunikationswissenschaft brach 1933 ab und konnte erst Ende der 1940er Jahre wieder aufgenommen werden. Es kam zum berühmten (Re-)Import der empirischen Sozialforschung aus den USA (vgl. Reimann 1990). Geht man auf der Grundlage bisheriger Wissenschaftsforschung davon aus, dass singuläre wissenschaftliche Akteure vor allem in der Frühphase von Wissenschaften dominant sind, kann die Hypothese formuliert werden, dass offenbar Vertreter der „Lettres“, der Literaturwissenschaften, respektive der Linguistik wie Edgar Morin, ein starkes Bedürfnis hatten, etwas Neues zu entwickeln, und dass dieses Neue zudem mit ihren Herkunftsdisziplinen nur wenig kompatibel war. Die klassische Literatur- und Sprachwissenschaft und auch die Mehrzahl der französischen Soziologen lehnten die „neuen“ Forschungsgegenstände aus der Populärkultur ab (vgl. Escarpit 1992; Morin 2004: 82). Vermutlich wären Karrieren wie die von Robert Escarpit (1918-2000), der ab 1967 die Kommunikationswissenschaft in Bordeaux aufbaute (vgl. Averbeck 2005), und Morin in Paris innerhalb der Literaturwissenschaft nicht möglich gewesen. So schreibt Morin selbst über Roland Barthes, er habe mit seiner Semiotik der Alltagserscheinungen innerhalb der klassischen Linguistik keine Karrierechancen gehabt (vgl. Morin 2004: 78); ergo war bereits die Entwicklung der französischen Semiologie selbst ein Bruch mit der Tradition der Linguistik. Die außerhalb der Eigeninteressen der „Gründerväter“ liegenden strukturellen Aspekte der Disziplingründung SIC waren a) die Krise der Linguistik selbst, die sich neuen Forschungsgegenständen nur langsam öffnete, b) eine reformierte Wissenschaftspolitik und c) der Mangel einer Kommunikations- und Mediensoziologie innerhalb der Fachsoziologie. Die Vorgeschichte der SIC zwischen 1962 (Gründung des CECMAS) und 1975 (Anerkennung der SIC als akademische Disziplin) war prägend. Die auf diese Zeit zurückgehende Verschränkung spezifischer Forschungsrichtungen bleibt bis heute sichtbar: Insbesondere Semiotik (Barthes, Véron), Kultursoziologie (Friedmann, Morin), Literatursoziologie (Escarpit) und systemisch-
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kybernetische Ansätze (Morin, Escarpit) haben sich gegenseitig und mit Blick auf die Fragestellung „Was ist Kommunikation?“ beeinflusst. 1972, als sich unter Federführung von Barthes, Escarpit und Jean Meyriat ein Komitee gründete („Comiteé Français pour les Sciences de l‘Information et de la Communication“), das eine Kommunikationswissenschaft in den Universitäten vorantreiben und begründen wollte – was nicht zuletzt durch das „Lobbying“ eben dieses Komitees 1975 auch gelang –, hatte sich Morin, der diese Bestrebungen wohlwollend beobachtete (vgl. Escarpit 1992: 5), längst von der Kultursoziologie ab- und der allgemeinen Informations- und Systemtheorie sowie der Kybernetik zugewandt (vgl. Moebius 2004: 240). Damals für die SIC noch zu früh: die Basistheorie der Kommunikationswissenschaft und auch einer aufstrebenden Kommunikations- und Mediensoziologie blieb, trotz früher alternativer Programmatiken, der neo-marxistische Strukturalismus (vgl. Morin 2004: 80). Erst die post-semiotischen Richtungen der SIC der 1980er Jahre, die zu einer Semio-Pragmatik aufbrachen, konnten diese Perspektive hinter sich lassen. Barthes, Friedmann und Morin hielten die ursprüngliche Intentionen des CECMAS ab Mitte der 1970er Jahre nicht mehr aufrecht. Unter der Leitung von Claude Lefort und Morin formte sich das CECMAS zum CETSAP „Centre d‘Etudes Transdisciplinaires: Sociologie, Anthropologie, Politique“. Gleichwohl sorgten personelle Kontinuitäten wie die Tätigkeit von Eliséo Véron (geb. 1936), die ihn vom Stipendiaten am CECMAS zum Professor für Kommunikationswissenschaft an die Universität Paris 8 führte, dafür, dass die erste Generation „Gründerväter“ und die „Generation SIC“ einander auf vielfältige, auch inhaltlich-theoretische Weise verbunden blieben.
6 Semio-Pragmatik und sozialer Konstruktivismus (1980-2004) Die Grenzüberschreitungen zwischen Semiotik und SIC führten zur allmählichen Herausbildung des sozialen Konstruktivismus. Dieser ist in Frankreich wesentlich auf die Kritik an der strukturalistischen Linguistik und Semiotik zurückzuführen. Paul Béaud und Jean-Claude Kaufmann sprechen von „socio-sémiotique“, andere Autoren von „sémio-pragmatique“ oder „théorie sémio-contextuelle“ und meinen einen der neueren und originären Ansätze der französischen Kommunikationswissenschaft, der im Folgenden als Semio-Pragmatik bezeichnet wird (vgl. Béaud/Kaufmann 1998: 23ff.; Jeanneret 2001; Averbeck 2000).
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Weist der Kommunikationswissenschaftler Alex Mucchielli seiner eigenen Lesart des semio-pragmatischen „Projektes“ Theoriestatus zu (vgl. Mucchielli 2004: 145ff.), spreche ich nicht von einer Theorie, sondern von einem Ansatz: Denn insgesamt beziehen sich die französischen Autoren nicht auf eine oder die „sozio-semiotische“ oder „semio-pragmatische“ Theorie, sondern nehmen vielmehr die Semiotik als Basistheorie und entwickeln davon ausgehend unterschiedliche Erklärungsmuster für Kommunikationsprozesse (vgl. auch Jeanneret 2001: 13). Gemeinsam haben diese vielfach die Verknüpfung von Semiotik und Handlungstheorie, teilweise in Anbindung an Ansätze zur therapeutischen und interkulturellen Kommunikation, die in Palo Alto mit Arbeiten von Paul Watzlawick, Edward T. Hall und Ray Birdwhistell entstanden. Auch werden sie teils zusammengeführt mit dem symbolischen Interaktionismus in der Lesart George H. Meads (der Bezug auf Herbert Blumer findet sich seltener). Weiterführender als nach dem Theoriegehalt der Semio-Pragmatik zu fragen, ist es daher, nach deren Forschungsfragen zu suchen. Die Problematik liegt darin, Kommunikationsprozesse als zugleich sozial und kognitiv zu begreifen, herauszufinden, wie weit das Soziale das Kognitive strukturiert und umgekehrt (wobei das Kognitive selbst wiederum emotional mitstrukturiert ist). Es gilt also, die Beziehung zwischen der sozialen Position (das kann die des Rezipienten oder die des Kommunikators sein) und deren Ausdruck (in der semiotischen Produktion bzw. der Rezeption der Zeichen) zunächst einmal theoretisch zu beschreiben, sodann als Relation oder Wechselwirkung zwischen Rezipient und Produzent aufeinander zu beziehen, schließlich empirisch zu erforschen. Ein Drittes, neben den sozialen Prämissen des Kommunikationsprozesses (die im Gegensatz zum Strukturalismus nicht mehr als Determinanten begriffen werden) und der Produktion/Konsumption (die in Wechselwirkung stehen) ist die Form und die Art der Vermittlung, die ggf. über (Massen-)Medien erfolgt. Ob ein Inhalt interpersonal oder medial, dabei narrativ oder berichtend vermittelt wird, spielt für dessen potenzielle Adaption eine Rolle (vgl. Véron 1981, 1983, 1987). Die Semio-Pragmatik bereitet sozial-konstruktivistische Auffassungen vor, bzw. liegt solchen zu Grunde. Sie fügt sich ein in eine größere Denkbewegung innerhalb der französischen Sozialwissenschaften: den Niedergang des strukturalistischen Paradigmas (vgl. Le Moigne 1997: 1; Moebius/Peter 2004). Erst mit dem Abschied vom Strukturalismus konnte seit Anfang der 1980er Jahre der Symbolische Interaktionismus oder die Phänomenologie der Lebenswelt von Alfred Schütz in Frankreich rezipiert werden; Ansätze, die anders als der Strukturalismus zwischenmenschliche Interaktionen auf der Mikroebene in den Blick nehmen und diese als gesellschaftlich wirksam betrachten.
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Sowohl der Symbolische Interaktionismus als auch die Sprachpragmatik und/oder die interaktionistischen Ansätze aus Palo Alto wurden und werden dabei in Frankreich an eine Kritik und Erweiterung der Semiotik rückgebunden. Dies macht die post-semiotische Denkungsart geradezu aus. Dies bringt eine Verschränkung von Makro-/Mesoebene (Sprache, Kultur) sowie Mikroebene (Interaktion, kommunikatives Handeln) mit sich. Das finden wir so in Deutschland nicht. Die deutschen Ansätze sozialer Kommunikation, als frühe Formen die Münchner Schule der Zeitungswissenschaft und Henk Prakkes funktionale Publizistik, weichen ebenso wie die Rezeptionen des Symbolischen Interaktionismus durch Friedrich Krotz und Roland Burkart erkenntnistheoretisch von französischen Ansätzen ab, eben gerade da sie nicht oder nur nachrangig zeichentheoretisch argumentieren.7 Währenddessen band sich die in Deutschland marginal vorhandene Mediensemiotik nicht an die Pragmatik oder den Symbolischen Interaktionismus (vgl. Bentele 1981). In der deutschen Kommunikationswissenschaft erfolgte die Adaption des Symbolischen Interaktionismus außerdem später als in Frankreich, nämlich erst seit Mitte/Ende der 1990er Jahre systematisch (vor allem durch Krotz und Burkart). Meads Symbolischer Interaktionismus wurde auch von der deutschsprachigen Soziologie nur zögerlich rezipiert, den vermittelnden Anfang machten Peter L. Berger und Thomas Luckmann in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (vgl. Plessner 1994: XVI), das in Deutschland zuerst 1969 erschien. Die französische Ausgabe erschien erst 1986.8 Tatsächlich wurde Mead in den SIC nicht durch Berger und Luckmann (oder Habermas) vermittelt, sondern seit den frühen 1980er Jahren durch Véron und Quéré. Aber und wohl nicht zufällig ist dann später in den 1990er Jahren Berger und Luckmanns Publikation die Referenz für einen sozialen, pragmatisch verstanden Konstruktivismus (vor allem bei Mucchielli). Der radikale oder kognitionstheoretische Konstruktivismus spielt in der französischen Theoriebildung nur eine untergeordnete Rolle. Das hat meines Erachtens folgenden Grund: Das Formalobjekt „soziale Kommunikation“, wie es in der französischen Theorietradition – aus der Semiotik herleitend – verstanden wird, steht konträr zu einem kognitivistischen Konstruktivismus. Statt dessen finden wir einen sozialen Konstruktivismus („le Constructivisme Social“, vgl. Chevalier 2004: 10). Hier rekurrieren die Franzosen nicht zuletzt auf Schütz und wiederum seine Schüler Berger und Luckmann (vgl. Mucchielli 2004: 147; Gauthier 2004). Gerade unter jüngeren französischen Kommunikationsforschern werden die Debatten um Positivismus versus Nominalismus sowie Konstruktivismus besonders heftig geführt. Debatten, die ganz offenbar die ältere um „fonctionnalisme versus structuralisme“ verdrängt haben (vgl. Bernard 2002: [2]). Das liegt
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meines Erachtens nicht unwesentlich daran, dass der französische Konstruktivismus sich ideengeschichtlich – über die „Zwischenstufe“ der Semio-Pragmatik – direkt auf eine Kritik des Strukturalismus zurückführen lässt. Es sind gleichwohl zwei Linien, die den Konstruktivismus in der französischen Kommunikationswissenschaft beeinflussen, einerseits interaktionistische, andererseits kybernetisch und/oder kognitionsbiologisch argumentierende, wobei letztere sich zumeist an Arbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers JeanLouis Le Moigne anlehnen (vgl. Le Moigne 2002). Le Moigne hat gemeinsam mit Morin 1986 das Netzwerk „Réseau de l’Intelligence de la Complexité“ begründet, das sich als Diskussionsplattform für den interdisziplinären Austausch über autoregulative Prozesse versteht9 – womit sich der Kreis zwischen aktueller Forschergeneration und Gründervätern wiederum schließt. Dieser radikalere, erkenntnistheoretische Konstruktivismus hält gegenüber dem sozialen deutlich die schwächere Position. Nicht nur in den SIC, auch in der französischen Fachsoziologie geht diese Gewichtung vorerst auf (vgl. Moebius/Peter 2004: 28 und 30f.). Beim sozialen Konstruktivismus bezieht sich der Konstruktionsbegriff auf die symbolisch und/oder handelnd vermittelten Bedeutungsbezüge zwischen Menschen. Dann handelt es sich nicht – wie beim radikalen Konstruktivismus – um einen Konstruktivismus durch autonome Kognition, sondern durch gemeinschaftliche Interpretation. So schreibt Mucchielli, das Paradigma „communication-participation“, das der Semio-Pragmatik zu Grunde liegt, sei bereits selbst konstruktivistisch (vgl. Mucchielli 2004: 99). Auf Siegfried J. Schmidt, der lange Jahre als radikaler Konstruktivist der deutschen Kommunikationswissenschaft schlechthin galt und heute – nicht zuletzt im Rekurs auf sprach- und kulturtheoretische Perspektiven – dessen „Abschied“ feiert (vgl. Schmidt 2003), rekurriert meines Wissens in Frankreich niemand. Ebenso wenig auf Niklas Luhmanns Systemtheorie. Systemtheorie, die „approche systémique“ (vgl. Donnadieu/Karsky 2002: 37), was soviel wie systemtheoretischer Ansatz heißt, wird in Frankreich entweder über die Anlehnung an Talcott Parsons, Robert K. Merton sowie Herbert Simon und Ludwig von Bertalanffy vollzogen oder über die systemisch-kybernetischen Ansätze von Abraham Moles und Edgar Morin.10 Außerdem ist das Werk von Paul Watzlawick sowie das „invisible college“ Palo Alto insgesamt neben Watzlawick vor allem mit Gregory Bateson präsent und gilt als zentraler Beitrag sowohl zu einer systemischen wie einer konstruktivistischen Auffassung von Kommunikation (vgl. Lamizet/Silem 1997: 152f.; Donnadieu/Karsky 2002: 57). Auf semio-pragmatische Einzelwerke kann hier nicht eingegangen werden. Es sei die Literatur selbst empfohlen, die im Falle Vérons auch in englischer und spanischer Sprache zugänglich ist. Véron war es, der ausgehend von seinem
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sozio-semiotischen Projekt in Frankreich erstmals die Realitätskonstruktion durch Massenmedien beschrieb. Der „Störfall“ im Kernkraftwerk Harrisburg im März 1979 diente ihm dazu zu zeigen, dass Medienrealität und Ereignis sich in einem besonderen (re-)konstruktiven Verhältnis befinden, das über Sprache erst hergestellt wird, wobei der „Medientext“ zugleich Konstrukt des Kommunikators wie Ko-Konstruktion des Rezipienten sei (vgl. Véron 1981).
Anmerkungen 1
Es handelt sich um das laufende Habilitationsprojekt der Verfasserin „Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’Information et de la Communication 1975-2005“. 2 Der Diskursbegriff orientiert sich hier nicht am (post-)strukturalistischen Begriff der Diskursanalyse, auch wenn er mit ihm Gemeinsamkeiten hat. Die Verfasserin bindet Diskurse an konkrete Akteure zurück. Dabei wird deutlich, dass 1. einzelne, zentrale Akteure (z. B. „Gründerväter“) Diskurse über Jahre bestimmen oder solche anstoßen konnten, und 2. als wichtige Ebene einer Analyse des Zusammenhangs von Ideenund Sozialgestalt der Wissenschaft die „Wissenschaftlergeneration“ zu betrachten ist. 3 Hier liegt der Unterschied zum verständigungsorientierten Paradigma von Jürgen Habermas und dessen Adaptionen. In den französischen Sozialwissenschaften gibt es seit etwa 15 Jahren einen regen Diskurs über die „Ideologie“ des westlich geprägten Kommunikationstheorems, teilweise wendet er sich gegen die Diskursethik (Rationalisierbarkeit von Argumentation), teilweise gegen die mathematische Kommunikationstheorie (Transport von Information und Steuerbarkeit gesellschaftlicher Vorgänge) oder medienphilosophische Utopien („global village“) (vgl. Breton 2000). 4 Diese Fachgruppe „Théories et Pratiques de la Communication“ (TPS) hat Robert Boure initiiert. 5 In dem lange Zeit in Forschung und Lehre in den französischen SIC rezipierten Reader sind Texte von Lasswell, Riley/Riley, Westley/MacLean, Parsons, Lerner, Manning White, Katz, Katz/Foulkes in französischer Übersetzung enthalten. Einführend verweist Cazeneuve darauf, dass der Reader die Theoriengeschichte vom „effect-“ zum „limited effect“-Paradigma nachzeichne (vgl. Cazeneuve 1972: 23). 6 Zu Lazarsfelds weltweitem Einfluss als Institutionalisierer vgl. Pollack 1990. 7 Bei Krotz findet sich zwar immer wieder der Verweis auf die Semiotik als Basistheorie einer reformierten Kommunikationswissenschaft (vgl. z. B. Krotz 1997); jedoch ist die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit der Ergänzungsbedürftigkeit und -fähigkeit semiotischer Perspektiven um pragmatische in Frankreich sehr viel differenzierter. Das ist auch naheliegend, besieht man die Fachgenese der SIC, zumal deren direkte Herkunft aus linguistischen und semiotischen Traditionen. 8 Vgl. Berger, P.L./Luckmann, T. (1986): La Construction Sociale de la Réalité. Paris. 9 Das Netzwerk fasst die Association Européene du Programme Modélisation de la Complexité (AE-MCX), deren Präsident Le Moinge ist, und die Association pour la Pensée Complexe (APC), deren Präsident Morin ist, zusammen. Vgl. http://www.mcxapc.org (eingesehen am 23.11.2005). 10 Mit Morins Werk hat sich übrigens auch Luhmann befasst (Luhmann 1998: 164).
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Kommunikations-Kommunikationswissenschaft: Wissenschaftstheoretische Anmerkungen zur Theoriediskussion in den Kommunikationswissenschaften Matthias Karmasin
1 Zur Epistemologie der Kommunikationswissenschaften: zwischen Medien- und Publizistikwissenschaft Wissenschaftliche Disziplinen lassen sich nach dem aktuellen Stand der Wissenschaftstheorie aus verschiedensten Perspektiven definieren und abgrenzen (Poser 2001, Schülein/Reitze 2002): etwa nach ihrer paradigmatischen Grundposition oder ihrem epistemischen Kern, nach ihrer Entstehung und Differenzierung, nach ihrem Objektbereich und ihrem Methodenset, ihrem Erkenntnisinteresse und ihrem Begründungszusammenhang etc. Aus keiner dieser Perspektiven scheint jedoch der Singular für die Vielfalt an Angeboten, die sich unter dem Titel „Kommunikationswissenschaft“ vorstellen, gerechtfertigt. Was sich unter dem Titel „Medien- und Kommunikationswissenschaft“ bzw. „Publizistik und Kommunikationswissenschaft“ allein im deutschen Sprachraum versammelt, kann wohl kaum von sich behaupten, dass es ein Paradigma oder auch nur ein gemeinsames methodologisches Grundverständnis gäbe. Die Bezeichnung „Kommunikationswissenschaft“ wäre also aus wissenschaftssystematischer Perspektive nicht nur theoretisch nicht zutreffend, sondern würde auch der empirisch nachvollziehbaren Pluralität der Forschungstraditionen und Forschungsperspektiven der Disziplin widersprechen. Der Plural „Kommunikationswissenschaften“ scheint auch aus wissenschaftssoziologischer, wissenschaftsphilosophischer und wissenschaftshistorischer Perspektive mehr als angebracht, weswegen in der Folge auch von ihm die Rede sein soll. Die Kommunikationswissenschaften sind in institutioneller, curricularer und auch erkenntnistheoretischer Hinsicht ein weites Feld und damit ein Fach, das um Identität ringt. So jung die Disziplin ist, so dispers sind die Auffassungen darüber, welchen Objektbereich sie hat, welcher Erfahrungsgegenstand ihr
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eigen sei, welchen Erklärungsbegriff sie hat, was ihr Erkenntnisgegenstand sei, welche Gestaltungsaufgaben ihr zukämen, welche Reichweite ihre Theorien hätten, wen sie für was auszubilden hätte etc. Unklar und strittig ist darüber hinaus, aus welcher Perspektive1 man diese Analysen unternimmt und unter welcher Interessenslage man den Kommunikationsprozess analysiert, ob z. B. die Medienwissenschaft mit der Kommunikationswissenschaft gleichzusetzen ist, ob erstere Teil der letzteren sei, oder doch umgekehrt, ob Kommunikationswissenschaft sich auf öffentliche Kommunikation zu beschränken habe, oder ob Kommunikation als Basiskategorie und damit humanwissenschaftlich allumfassend aufzufassen sei. Tabelle:
Methodologische und methodische Grundkonzeptionen
Systematische Fragestellung a) Methodologischer Status b) Objektbereich c) Methodenset d) Modell von Interdisziplinarität
Sozialwissenschaft
Integrationswissenschaft
Analytisch/empirisch Öffentliche Kommunikation Empirisch sozialwissenschaftlich
Kritisch/empirisch Mediale Kommunikation Cultural Studies, Kritisch, Hermeneutisch
Anwendung
Grundlegung
Die Kommunikationswissenschaften verfügen kurz gesagt über kein einigendes Paradigma und sind am ehesten als „disziplinäres System“ mit einem gemeinsamen Fokus und einem gemeinsamen Objektbereich charakterisierbar2. Ihre methodologischen Grundpositionen bewegen sich im Wesentlichen zwischen den Polen empirischer Sozialwissenschaft mit dem Fokus „öffentliche Kommunikation“ und Kulturwissenschaft mit dem Fokus „mediale Kommunikation“. Vereinfacht gesagt, oszilliert das Fach aus fachhistorischer Perspektive zwischen Publizistik- und Medienwissenschaften. Die „Publizistikwissenschaften“ versuchen unter dem Dach der Kommunikationswissenschaft die historischen Wurzeln des Faches (also eigentlich die Zeitungswissenschaft respektive die Journalistik) zu bewahren und via den Terminus „öffentliche Kommunikation“ in eine durch Kommunikationstechnologien und Kommerzialisierung veränderte Medienzukunft zu transzendieren. Die „Medienwissenschaften“, die ihre Wurzeln im Bereich der Cultural Studies bzw. diverser Philologien haben, versuchen Elemente von Film- und Fernsehwissenschaft, von Germanistik und Kultursoziologie, von Alltagskultur und Mediensoziologie in ihr Forschungsprogramm zu integrieren. Annäherungen und Überschneidungen gibt es: Objektbereiche überschneiden sich und Ergebnisse ähneln oder gleichen einander. Der größte Unterschied liegt im Bereich der methodologischen und methodischen
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Grundkonzeptionen, die die oben stehende Tabelle zusammenfassend und vereinfachend darstellt. Der Mainstream der „Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“ bzw. der „Kommunikationswissenschaft“ versteht sich als interdisziplinäre, aber im wesentlichen empirisch orientierte Sozialwissenschaft.3 Dies hat – wie in anderen Fächern auch – wissenschaftsoziologische, forschungspragmatische und erkenntnistheoretische Gründe. Der relative Erfolg der solcherart betriebenen Disziplin im (inneruniversitären) Kampf um knappe Ressourcen4 gründet wohl auch auf ihrem Versuch, die geisteswissenschaftlichen Wurzeln des Faches zu kappen und dem Methoden- ideal einer „sozialen Naturwissenschaft“ (a) zu folgen, wie dies auch schon zum Erfolgsmodell der Soziologie, der Psychologie und der Ökonomie wurde. Die wissenschaftsprogrammatische Bescheidenheit der Kommunikationswissenschaften ist folglich Geschichte. Sah sich die Disziplin noch vor 25 Jahren als Zeitungswissenschaft, Publizistik oder Journalismustheorie eher an der Peripherie des akademischen Geschehens, so übertitelt die maßgebliche Berufsvereinigung des Faches im deutschen Sprachraum, die Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, ihr Selbstverständnispapier 2001 selbstbewusst mit „Die Mediengesellschaft und ihre Wissenschaft“. Die meisten Studienangebote im deutschsprachigen Raum haben sich konsequenterweise von Zweit- oder Ergänzungsfächern zu Diplomstudiengängen entwickelt, die auf vielfältige Berufsfelder in kommunikativen Kontexten nicht nur im Bereich des Journalismus, sondern im Bereich des Corporate Publishing, des Medienmanagements, des Narrowcasting, der Organisationskommunikation etc. vorbereiten. Der Objektbereich bei diesem Unterfangen ist öffentliche Kommunikation (b), das Methodenset (c) rekrutiert sich im Wesentlichen aus sozialwissenschaftlichen Methoden und das Modell von Interdisziplinarität ist anwendungsorientiert (d). Das heißt, dass auch Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie, Ökonomie und Philosophie etc. objekt- und problembezogen in den Methodenkanon integriert werden. Die methodologische Grundposition fühlt sich eher dem kritischen Rationalismus bzw. Pragmatismus, jedenfalls aber dem Postulat der Werturteilsfreiheit verpflichtet. Die zunehmende Kritik an dieser Position des Mainstreams verlangt eine (Re-) integration ökonomischer, technischer, vor allem auch geistes- bzw. kulturwissenschaftlicher Elemente (a, c) in die Kommunikationswissenschaften. Gemeinsamer Objektbereich (b) und Schnittfläche zwischen Kulturwissenschaften und Kommunikationswissenschaften sind dabei die „symbolic universes“5 bzw. der „homo communicans“6. Die Ausrichtung des Faches auf Kommunikation als basale Kategorie, die alle Lebens- und Kulturbereiche, ja die conditio humana per se umschließe und bestimme, ist hier Programm.7 Die Integration
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von Fragen der Cultural Studies, der Gender Studies, medienhistorische Zugänge, Probleme der interkulturellen Kommunikation, semiotische und sprachwissenschaftliche Aspekte, aber auch die überragende Rolle, die Medien als Teil der Lebens- und Alltagskultur spielen, werden in diesem Kontext ebenso diskutiert wie Fragen der Integration normativer Betrachtungen8 in kommunikationswissenschaftliche Aussagensysteme. Diese Position fühlt sich einer Grundauffassung verpflichtet, die das Fach nicht als „Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“, sondern als „Medienund Kommunikationswissenschaft“ versteht. Das Methodenset (c) ist weiter gefasst und umfasst neben Methoden der empirischen Sozialforschung auch psychoanalytische, narrative und den Cultural Studies entlehnte Vorgangsweisen. Das Modell von Interdisziplinarität (d) ist integrativ und versucht, einen Beitrag zur medientheoretischen Grundlegung ebenso wie einen Beitrag zur kritischen Reflexion zu leisten. In methodologischer Hinsicht ist man sich nicht dem Postulat der Werturteilsfreiheit verpflichtet, sondern integriert normative, kritische bzw. konstruktivistische Ansätze. Dies führt dazu, dass bei gleichem Entdeckungszusammenhang durchaus unterschiedliche Begründungs- und Verwertungszusammenhänge entwickelt werden, die ein und dasselbe Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln, aber jeweils immer auch unter dem Titel „Kommunikationswissenschaft“, unter den Pflug nehmen. Was dem einen dabei Ausdruck gelungener Marketingstrategie ist, bedeutet dem anderen die Durchdringung der Medien mit kapitalistischen Strukturen, was dem einen eine unerträgliche Benachteiligung gesellschaftlicher Gruppen am öffentlichen Kommunikationsprozess ist, ist dem anderen Ausdruck demokratischer Stärkeverhältnisse. Was aber ist tatsächlich der Fall? Wer verfügt nun über das bestgesicherte Wissen der Zeit? Muss man sich also entscheiden? Wenn man diese Fragen jenseits von Eklektizismus und biographischer Koketterie beantworten will, wird man sich um Begründungen bemühen müssen. Damit sind wir nach dieser kursorischen Betrachtung des Status-Quo bei der wissenschaftstheoretisch bedeutsamen Frage angelangt, wie man denn nun entscheiden kann, welche dieser Auffassungen eine wissenschaftliche Weltauffassung sei, was denn Kriterien für die Qualität wissenschaftlicher Theorien sein können und was dies letztlich für unser Fach bedeutet.
2 Zwischen Feld und Fach: am eigenen Schopfe aus dem Sumpf? Die Frage, welche der oben skizzierten Auffassungen nun angemessen, richtig oder gar wahr sei und warum dies so sei (oder so sein soll), kann jenseits von
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Parteilichkeit und Partikulärinteressen (also rational) nicht im Rahmen der Prämissen einer Einzeldisziplin beantwortet werden. Warum man also z. B. mittels der Methoden empirischer Sozialforschung zu Erkenntnissen über Kommunikation kommen kann, kann nicht mit diesen Methoden oder gar aus ihnen selbst begründet werden. Es geht dabei nämlich um Entscheidungen im Basisbereich, die immer (auch) normativen Charakter haben und die eben nicht aus sich selbst begründbar sind. Der Versuch, dies doch zu tun, mündet immer wieder in einen infiniten Regress, in Beliebigkeit oder Tautologien. Dieses logische Problem wird von Albert (1980) klassisch in Anlehnung an den Versuch des Lügenbarons, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, auch als „Münchhausen-Trilemma“ bezeichnet. Albert arbeitet drei Figuren der Begründung heraus, die je nach Erkenntnisinteresse unterschiedlich verwendet werden (sei es teleologisch, sei es vernunftzentriert, sei es empirisch): „Man hat hier offenbar nämlich nur die Wahl zwischen 1. einem infinitiven Regress, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, dass man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten sind, und der, weil logisch fehlerhaft, ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt, und schließlich 3. der Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar scheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.“9
Dies entspricht der generellen „Krise der Vernunft“ wie sie Hösle10 darstellt, oder einem von Giesen eindrucksvoll beschriebenen „Abschied von der universellen Rationalität.“11 In wissenschaftssoziologischer Hinsicht hat der kritische Rationalismus und der systematische Zweifel dazu geführt, dass der „Glaube“ an die Einheit der Vernunft der Wissenschaft im Allgemeinen und der Sozial- und Geisteswissenschaften im Besonderen geschwunden ist. Wenn es (wie Albert es stilgebend formuliert hat) keine nicht-hypothetische apriorische Erkenntnis, also keine als notwendig zu akzeptierenden synthetischen Sätze a priori, gibt, dann sind alle Aussagen vorläufig und (schlimmer noch): relativ. Dies hat sich aber mittlerweile auch außerhalb der Wissenschaft herumgesprochen und war und ist ihrer Legitimation nicht eben förderlich.12 Dies ist sicher nicht die einzige Ursache einer Krise der Wissenschaft, die sich mit Nowotny (1999) auch noch auf Ökonomisierung, Privatisierung und Demokratisierung zurückführen lässt. Bammé (2004) spricht im Zuge der aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion von einer „Entzauberung der Wissenschaft“. Er führt dies nicht nur auf die Popularisierung von wissenschaftlichen Disputen in Unterhaltungsserien, durch Campusromane und auf „Whizzle-Blower“ zurück, die den akademischen Konsens des Schweigens verließen und Eifersüchteleien, Fälschungen, Plagiate und den inneruniversitären Verteilungskampf um knappe
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Ressourcen, der sich eben nicht an erkenntnistheoretischen, sondern nur an egoistischen Zielen orientiert, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben,13 sondern auch auf den erkenntnistheoretischen Diskurs, der ja auch öffentlich ausgetragen wird. Dies trägt, so Bammé (2004: 38 ff.) zweifellos zum Verlust des Nimbus der akademischen Wissenschaft generell bei, aber vor allem im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften tritt im Zuge des „anything goes“ und einer postmodernen Wissenschaftsauffassung auch eine gewisse inhaltliche und erkenntnistheoretische Beliebigkeit hinzu. Während die Grundlagenkrisen der Mathematik und Physik etwa weitgehend als überwunden gelten können, trifft dies so Bammé (a.a.O.) für die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht zu. Sie ringen um Anerkennung und, wenn diese nicht per theoretischer Stringenz erreicht werden kann, dann wenigstens durch gesellschaftliche und praktische Nützlichkeit. Damit sind Theorien und wissenschaftliche Begründungen noch nicht völlig beliebig. Denn auch wenn im Zuge der Auseinandersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus und dem Pragmatismus mittlerweile Konsens darüber herrschen dürfte, dass Erkenntnis immer eine eigenlogische Konstruktion ist, so sagt dies noch nichts über die Qualität und die Stringenz von methodischen und methodologischen Zugängen aus. Auch wenn Krotz (2005: 78) den kommunikativ vermittelten Charakter von Realität und Kommunikation Voraussetzung jedweder wissenschaftlicher Erkenntnis nennt, so gibt es doch unterschiedliche Arten und Qualitäten von Theorien. Schülein/Reitze (2002: 213) fassen die aktuelle Diskussion wie folgt zusammen: „Theorie ist stets eine symbolische Reproduktion von Wirklichkeit und darf nicht mit Wirklichkeit gleichgesetzt werden. Sie schafft eine eigene Wirklichkeit, die eigenen Regeln folgt. Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass symbolische Reproduktion nicht gleich Theorie und Theorie nicht gleich Theorie ist. Insofern sagt diese allgemeine Feststellung noch nichts über die Art und Leistungsfähigkeit von Konstruktionen.“, denn „Theorien sind vom Anspruch an sich selbst her logisch konsistent und sind deswegen logisch korrekte Reproduktionen von Wirklichkeit und damit wird klar, dass nur denotative Theorien eindeutig sind und zumindest vorläufig exklusive Geltung gewinnen können, während konnotative notwendig vielfältig und dauernd pflegebedürftig bleiben.“ (Schülein/Reitze 2002: 214)
Zusammenfassend wird aus der Diskussion der letzten Jahrzehnte deutlich, dass moderne Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sich eben nicht bloß auf Erkenntnislogik beschränken kann, sondern mit Schülein/Reitze (2002: 220) den gesamten Kontext, in dem sich Erkenntnis abspielt, berücksichtigen muss. Eberhard (1999) rekonstruiert einen Zusammenhang zwischen gesellschaftshistorischen Entwicklungen und wissenschaftlich dominanten Erkenntniswegen (1999: 59 ff), so meint er, dass der induktiv empiristische, der deduktiv theoriekritische, der dialektisch materialistische Erkenntnisweg, der Erkenntnisweg der
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Aktionsforschung und der deduktiv dogmatische Erkenntnisweg jeweils mit spezifischen Entwicklungen der Gesellschaft zusammenhingen. Abbildung:
Wissenschaft und Weltsicht Weltsicht, Normen, Seinsvorstellungen
Bedürfnisse
Verfügungswissen
Orientierungs -wissen
Regeln 2. Stufe: Metaregeln
WissenschaftsEthik
Regeln 1. Stufe: Methodologische Festsetzungen • Ontologische Festsetzungen • Erkenntnisquellen • Hierarchie der Erkenntnisquellen • Judikale Feststetzungen
Wissenschaft als Aussagesystem
Wissenschaft als Handlung
Quelle: Poser 2001: 200
Es ist also nicht nur den wissenschaftsinhärenten Erkenntnissen geschuldet ob Empirismus oder Theoriekritik dominant sind, sondern es handelt sich auch um Reaktionen auf gesellschaftliche Konstellationen. Ähnlich argumentiert Schneider (1998) in seiner Rekonstruktion der Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts. Damit scheint der Eindruck für die Kommunikationswissenschaften erhärtet, dass deren Versuch eine „soziale Naturwissenschaft“ zu werden und sich in der Außendarstellung der Disziplin auch so zu gerieren, nicht unbedingt in einem Erkenntnisfortschritt oder einer überlegenen Methode gründet, sondern sich an gesellschaftlichen Forderungen und (im Streit der Fakultäten) an anderen „erfolgreichen“ Sozialwissenschaften orientiert. Es handelt sich jedenfalls auch hier um einen komplexen heterogenen und autopoetischen (und damit paradoxen) Gesamtprozess, der viele Einflüsse, viele Formen und Konstellationen enthält. Nur: Eine Begründung im obigen Sinne ist dies selbstverständlich nicht
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und (aller vermeintlichen Nützlichkeit zum Trotz) auch keine angemessene Reaktion auf die Legitimationskrise und die Theorienvielfalt. Dazu reicht eben die Rekonstruktion dessen, was ein Fach eben so tut, nicht hin, da bedarf es differenzierter und differenzierender Argumente. Wissenschaft stellt Verfügungswissen und Orientierungswissen in Bezug auf ein bestimmtes Aussagensystem (einen Objektbereich) her. Entscheidend dabei ist (etwa mit Poser 2001), dass die Regeln 1. Stufe, die Methodologie festlegen, nicht aus sich selbst heraus begründbar sind, sondern dass es Regeln 2. Stufe gibt (Metaregeln), die in einer Disziplin festlegen, ob und wie die Anwendung der Regeln 1. Stufe breitere, bessere oder sachgerechtere Erkenntnis liefern. Die Grafik nach Poser (2001: 200) stellt dies wie in der oben zu sehen Abbildung dar.
3 Die fehlende Einheit der Kommunikationswissenschaften als Problem der Regeln 2. Stufe Wir fassen zusammen: Die Rückkehr zu einer Einheit der Differenz ist auch für die Kommunikationswissenschaften unmöglich. Pluralität ist Imperativ der aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussion und damit gilt (zumindest bei den Regeln 1. Stufe), dass sich aus ihnen selbst keine Begründung für bessere oder sachgerechtere Erkenntnis ableiten lässt. Die Frage, was denn nun zu einer Disziplin, ja zur Wissenschaft selbst gehört, kann auf dieser Ebene nicht geklärt werden. Auf dieser Ebene wird Wissen produziert und Wissenschaft ist, wie sie eben ist. Dies reicht aber oft nicht hin, denn die Autoritäts- und Legitimationskrise der Sozial- und Geisteswissenschaften trifft auch die Kommunikationswissenschaften im vollen Ausmaß. Auch sie ist von der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz, der politischen Brauchbarkeit und der lebenspraktischen Nützlichkeit in hohem Ausmaße betroffen. Auch die Kommunikationswissenschaften können sich der Frage nach der Anwendbarkeit des Wissens und der Relevanz der erzeugten Erkenntnisse nicht verschließen. Nur: Auch wenn Ansprüche an Nützlichkeit und Prognosevalidität eingelöst werden, so ist dies zwar im Kampf um knappe Ressourcen und um Drittmittel lohnend, behebt aber nicht das Problem divergenter theoretischer Zugänge zum Objektbereich. Denn auch hier gilt: „Termini sine Theoria nihil valent“. Denn trotz aller Praxeologie und aller Empirie: Begriffe allein reichen nicht, es zeigt sich, dass man für Wissenschaft auch Theorien braucht, will man sich gegen den Vorwurf des „Fashionable Nonsense“ und jenen, die wissenschaftliche Heimat von Definitionskünstlern zu sein, in den Sciences Wars wehren können.14 Klar ist auch (etwa
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mit Rorty 2003), dass trotz aller Pragmatik und allem Empirismus zum Trotz, die Rekonstruktion einer bestimmten Praxis noch nichts auf den Begriff bringt, dass ein Begriff noch keine Theorie und eine Theorie noch keine Erkenntnis (oder gar Wahrheit) impliziert. Es braucht also auch in empirisch integrativen Sozialwissenschaften wie den Kommunikationswissenschaften tragfähige Theorien. Womit wir wieder bei der Frage wären, welche das denn sein könnten? Eine Basistheorie ist – wie eingangs dargestellt -, auf der Ebene der Regeln 1. Stufe für die Kommunikationswissenschaften nicht erwartbar, aber auch nicht wünschenswert. Hier um Integration zu ringen, mag heuristisch wertvoll sein, eine „Mutter aller Methoden“ oder die eine allumfassende „Methodologie“ die „Letztbegründung der Methode“ ist nicht in Sicht und nach dem Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion jenseits von Eklektizimus und fachhistorischen Rekursen auch nicht erwartbar. Diese Pluralität der Ansätze kann aber auch als Vorteil gesehen werden, denn sie ist jedenfalls heuristisch wertvoll und inspiriert zu neuen Ansätzen, die sich im Wettbewerb divergenter Erklärungsmodelle bewähren können. So plural und vielfältig die Regeln 1. Stufe sind und so vorteilhaft dieser Pluralismus sein kann, so problematisch ist der Zustand unseres Faches im Bereich der Regeln 2. Stufe. Diese sind mit Poser (2001: 201) die grundlegenden und grundsätzlichen Vorstellungen von wissenschaftlichem Wissen: Die Regeln zweiter Stufe liefern eine Begründung für die Akzeptanz oder für die Zurückweisung von Änderungen der Regeln erster Stufe. „Die allgemeinen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, auf die sie sich dabei berufen, betreffen das Abzielen auf gesicherte Erkenntnisse in einem systematischen Kontext, was im Einzelnen bedeutet: - das Erfordernis argumentativen Vorgehens, - das Erfordernis methodisch-systematischen Vorgehens, insbesondere - die analytische Problemsicht, der eine Synthese des analytisch Gewonnenen korrespondiert.“ (Poser 2001: 201).
Auch wenn diese Regeln selten zusammenhängend dargestellt und kommentiert werden, so werden sie doch dort überall angesprochen, wo es um die Grundlegungen eines Faches geht. In den meisten Einführungen in unser Fach jedoch werden lediglich Regeln der ersten Stufe beschrieben, also methodologische Festlegungen getroffen, diese aber nicht begründet. Man stellt zwar hie und da fest, dass diese Regeln aus sich selbst nicht begründbar sind, legt aber auch nicht dar, welche Metaregeln zur Auswahl eben dieser Erkenntnisquellen eben dieser Methoden geführt haben und wieso und inwiefern diese anderen Möglichkeiten überlegen sein sollen. In den meisten rezenten Einführungen in das Fach finden sich lediglich Beschreibungen der Fachgeschichte, des Objektberei-
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ches und der Methoden, im Unterschied zu Einführungen in andere Disziplinen jedoch wenige wissenschaftstheoretische oder methodologische Vorbemerkungen. In der Einführung von Pürer 2003 werden bei einem Gesamtumfang von fast 600 Seiten den theoretischen Zugängen und wissenschaftlichen Methoden vier Seiten gewidmet. Hier wird die Disparität der theoretischen Zugänge und das Fehlen einer verbindlichen empirisch kohärenten Systematik moniert. Auch der Sammelband von Bentele, Brosius und Jarren (2003), der sich als Handbuch der Kommunikations- und Medienwissenschaft versteht, lässt eine methodologische oder wissenschaftstheoretische Einführung vermissen. Die drei Herausgeber bekennen sich zu einer breiten sozialwissenschaftlichen Auffassung des Faches, stellen aber die wesentlichen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Prämissen und Basisstrukturen nicht dar, sondern setzen diese quasi inhärent voraus. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Objektbereiche und die Verwendung verschiedener Methoden kommen aber sehr wohl zur Sprache und eine Einheit dieser Vielfalt werde sich – auch das deuten die Herausgeber an –, schwerlich finden lassen. Burkart geht in seiner überarbeiteten Einführung in das Fach (1995) zwar von wissenschaftstheoretischen Defiziten aus (S. 385), deutet aber nicht an, wie diese zu beheben seien. Im eben (2006) erschienenen Lexikon der Kommunikations- und Medienwissenschaft findet sich kein Eintrag zur Methodologie (wohl aber zu Methoden), ein kurzer Abriss der Wissenschaftstheorie (jedoch ohne Verortung der Disziplin), kein Eintrag zu Wissenschaftsethik und der Beitrag zu Theorie orientiert sich nur am kritischen Rationalismus. Diese kurzen Beispiele illustrieren den Eindruck, dass auf der Ebene der Regeln 1. Stufe durchaus Setzungen passieren, dass man etwa sozialwissenschaftliche Methoden als Erkenntnisquelle und öffentliche Kommunikation als Objekt anderen möglichen Auffassungen vorziehe, dass man sich sogar bewusst sei, dass es diese anderen Möglichkeiten zur Gewinnung von wissenschaftlichen Aussagen gäbe und dass man die Differenzen zu anderen Regeln 1. Stufe auch durchaus elaboriert rekonstruieren kann. Was jedoch zumeist wenig oder gar nicht argumentiert wird, ist, warum eben dieses Vorgehen sich eher an der Leitidee möglichst unzweifelbarer Wahrheit orientiert, warum diese Erkenntnisquellen eher dazu dienen, das bestgesicherte Wissen der Zeit zu generieren, warum gerade diese epistemischen Setzungen richtige (oder richtigere) Erkenntnis generieren, oder warum diese normativen Festlegungen der Verantwortung der Kommunikationswissenschaften besonders gerecht würden. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich meine nicht, dass es a priori festlegbar ist, ob eine eher sozialwissenschaftliche, eine eher an den Cultural Studies orientierte, eine eher wertfreie oder eine kritische Theorie dem Objektbereich angemessener sei. Ich
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meine, dass es für unser Fach auch gar nicht so einfach festlegbar ist, denn Pluralität ist ein Wert an sich. „Wenn heute innerhalb der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung die Betonung auf die lokale Entstehung des Wissens und seine kulturelle, politischökonomische Einbettung gelegt wird, so entspricht dies zugleich der Überzeugung, dass Pluralität einen demokratischen Wert darstellt.“ (Nowotny 1999: 43).
Das Fehlen einer Universaltheorie oder auch nur die Beschränkung auf wenige zentrale Theorien, die für den Methodenpluralismus und den ideologischen Pluralismus charakteristisch sind, muss nicht negativ sein und kann auch als Spiegel des gesellschaftlichen Wertes Pluralismus verstanden werden. Dies gilt, so meine ich, auch für unser Fach. Hier nach der einen Basistheorie zu suchen und zu ringen scheint obsolet. Hier sollte man den Pluralismus der Ansätze als heuristisch wertvoll und kulturell geboten sehen. Das eigentliche Problem (und Defizit) unseres Faches liegt – so meine ich – auf Ebene der Regeln 2. Stufe. Es geht damit um die Qualität der Begründung für ein bestimmtes Vorgehen auf Ebene der Regeln 1. Stufe. Dafür reicht eben weder der Verweis auf die regulative Idee der Wahrheit allein, weil sie (wie Kant deutlich gemacht hat15) formal und inhaltsleer bleiben muss, noch der Verweis auf die Pragmatik, dass es eben funktioniere, weil es funktioniert. Martinz (2002: 5 ff.) greift in seiner Diskussion pragmatischer Philosophie bzw. pragmatischer Wissenschaftstheorie das Argument auf, dass die Reduktion der Vernunft auf zweckrationales Handeln ohne Zielreflexion, sei es in Form einer empirischen Pragmatik oder als universale Pragmatik, problematisch sei. Es stimme zwar, dass ein pragmatisches, an Zielen und Ergebnissen orientiertes wissenschaftliches Procedere, Arbeitswissen für die praktisch-technische Beherrschung der Welt für menschliche Zwecke produzieren könne (also Verfügungswissen im obigen Sinne). Aber die Pragmatik kann nur im beschränkten Umgang Bildungswissen (zur Entfaltung der Person) und gar kein Erlösungswissen (Teilhabe am Höchsten) erzeugen (Orientierungswissen im obigen Sinne). Regeln 2. Stufe versuchen Verfügungswissen und Orientierungswissen im Rahmen einer wissenschaftlichen Weltanschauung zu verbinden und an eben dieser wissenschaftlichen Weltsicht scheint es unserem Fach zu fehlen. Die Schlussfolgerung, die ich hier anbieten möchte, lautet: Das Nebeneinander verschiedener Ansätze auf Ebene der Regeln 1. Stufe zu akzeptieren und statt dessen Energie und ernste Bemühungen in die Qualität der Begründung, warum denn bestimmte Regeln 1. Stufe anderen vorzuziehen seien und aus welchen Gründen dies geschehen sollte, zu intensivieren. Kurz gesagt: den Diskurs auf der Ebene der Regeln 2. Stufe zu beginnen.
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4 Es ist so, es könnte auch anders sein: KommunikationsKommunikationswissenschaft als Desiderat Die Richtung, die unsere Theoriediskussion nehmen könnte (und, so meine ich, nehmen sollte) wäre in Richtung der Sätze zweiter Ordnung. Dazu bedarf es nicht nur einer differenzierten Auseinandersetzung mit der aktuellen erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Debatte, sondern, so meine ich, vor allem auch der Kraft und des Willens des Faches zur Selbstreflexion. Es bedarf also nicht nur der Theoriedebatten auf Tagungen, wie jener beiden, auf denen sich dieses Buch gründet, nicht nur angeregter Diskussionen auf Fachtagungen, nicht nur angedeuteter oder ausgesprochener Debatten in Rezensionen oder Erwiderungen auf Artikel in Fachzeitschriften, sondern, analog zur Philosophie der Philosophie (der Philosophiephilosophie) (Raatzsch 2000) einer wissenschaftlich systematischen Kommunikation über die Kommunikationswissenschaft: Kommunikationskommunikationswissenschaft. Diese könnte eine systematische Selbstreflexion der Disziplin, ein fester Diskursort für Regeln 2. Stufe, eine institutionalisierte reflexive Theoriendiskussion oder vielleicht sogar ein zukünftiger Bestandteil des Faches selbst sein (es wäre aber wohl zu früh an die Gründung einer Fachgruppe zu denken). Wie Schmidt/Zurstiege (2000: 210) zu Recht fordern, ist eine Autologie der Medienforschung von Nöten. Sie meinen, dass Medienforschung notwendig auf sich selbst bezogen ist, sie muss ihre eigenen Erklärungen erklären, sie benutzt ihre Mittel (Medien), um ihren Problembereich (Medien) zu bearbeiten. Mit anderen Worten: Sie ist immer noch Teil dessen, was sie beobachtet und beschreibt. Eine soziale Welt zu thematisieren, in die man selbst verstrickt ist, konfrontiert einen, so meint Bourdieu eingangs seiner Betrachtungen des homo academicus (1998: 31), mit einer Reihe grundlegender epistemologischer Probleme. Da man sich beim Beobachten bekanntlich nicht selbst beobachten kann, und dies gilt wohl auch für in der Beobachtung geschulte Empiriker, wird das Paradoxon der Selbstbeobachtung schlagend. Man kann die eigenen blinden Flecken jeweils nur durch die blinden Flecken anderer erkennen, denn mit Boxsel (2001) ist niemand intelligent genug, seine eigene Dummheit zu entdecken. Selbtsreflexion steht also am Beginn, denn wahrhafte Dummheit herrscht nach Boxsel (2001: 185) dort, wo jeder alles für selbstverständlich hält. Dies hat auch eine wissenschaftsethische Komponente, die über die institutionelle Selbstreflexion hinaus ins Individualethische, auf die Kommunikationswissenschaft als Handlung verweist. Eberhard (1999: 162 ff.) meint wohl zur Recht, dass es bei der Erzeugung
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von Glaubwürdigkeit und dem Einlösen der Verantwortung einer wissenschaftlichen Disziplin nicht nur um erkenntnistheoretische und methodologische Ansprüche ginge, sondern auch um Persönlichkeitshaltungen. Vor allem Auskunft zu geben, über die eigenen Denkvoraussetzungen, wenn man diese Denkvoraussetzungen nicht dogmatisch sondern hypothetisch vertritt. Wenn man die Wahrscheinlichkeit der Selbstwiderlegung durch geeignete Kommunikationsformen steigert, die Aufdeckung eigener Irrtümer als Lernchance begrüßt, wenn man sich als lernfähig erweist und das Gelernte in Verhalten umsetzt und man sich intensiv um Wahrhaftigkeit bemüht, dann sei man, so Eberhard, als Wissenschaftler und Intellektueller glaubwürdig. Diese Auffassung setzt offensichtlich auch eine Theoriediskussion voraus, die nicht nur die Disziplin und ihre Institutionenlandschaft, sondern auch das forschende Individuum in den Blick nimmt. Ich meine, dass Aufgabe einer Theoriediskussion in den Kommunikationswissenschaften auch sein könnte, die Diskussion über die professionellen und ethischen Grundlagen der Disziplin in dieser Hinsicht zu beleben. Nicht nur wissenschaftsethische Standards im Umgang miteinander und mit dem geistigen Eigentum anderer festzulegen, sondern auch über Vorbildwirkungen und individuelle Verantwortungen als Wissenschaftler und Mensch zu räsonieren. Theoriendiskussionen dienen, so meine ich, auch dazu, um jeweils selbst zu lernen und die Grenzen seiner eigenen Erkenntnisse und seiner eigenen Intelligenz zu erfahren. Dazu bedarf es aber einer Grundhaltung, die um Wahrhaftigkeit bemüht ist und die Kritik als Lernchance und Irrtümer als Korrekturvorbehalte einer eigenen wissenschaftlichen Praxis gegenüber begreift. Eine Theoriediskussion redlich zu führen, heißt auch, bei sich selbst anzufangen. Aber dort freilich nicht aufzuhören und auch die Kontexte der Forschung und Lehre zum Thema zu machen. Das zu organisieren wäre Aufgabe der Kommunikationskommunikationswissenschaft. Nowotny/Scott/Gibbons (2005: 315) führen aus, dass der Kontext von Wissenschaft gemacht und nicht vorgegeben ist, auch wenn er noch so determiniert und unwandelbar wirken mag. „Kontexte fungieren als eine Ressource oder Stütze, welche die Umwelt denjenigen anbietet, die sich in ihr befinden; doch müssen auch die Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen auch ihrerseits die Fähigkeit besitzen, sie wahrzunehmen und zu nutzen. Daher tendieren Kontexte dazu, sich nach einer gewissen Zeit in Bezug darauf zu stabilisieren, was sie anzubieten haben, sowie in Bezug auf die Mühelosigkeit, mit der diese Ressourcen verwendet werden können. Dies gilt für das Alltagsleben genauso wie für die Forschung.“
Und wenn die Kommunikationskommunikationswissenschaft nur darauf hinweist, dass es Theorienpluralität, dass es Differenzen bei gleichzeitigem Erkenntnisgewinn gibt, dass das heuristische Potenzial einer kulturwissenschaftli-
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chen Interpretation der „Klassiker“ ebenso hoch ist, wie der Versuch, humanwissenschaftliche Kommunikationstheorien sozialwissenschaftlich zu testen. Dass das „Re-Entry“, also die Konfrontation der Untersuchungsobjekte mit den über sie gewonnenen Erkenntnissen, auch bei quantitativen Studien sinnvoll ist, dass die Beantwortung klassischer zeitungswissenschaftlicher Fragestellungen mit Methoden der Ethnographie und die Beantwortung medientheoretischer Fragestellungen (z. B. nach Norm und Werturteil oder Identität) mit klassischen quantitativen Methoden durchaus zu neuen Erkenntnissen führen kann, könnte sich dabei ebenfalls zeigen. Heuristisch wertvoll ist es allemal und allein schon deswegen, auch gemessen an der regulativen Idee der Wahrheit: besser. Man kann sogar mit Krotz (2005: 96) der Meinung sein, dass das heuristische Potenzial ausschlaggebend sei für die Qualität von Theorien: „Deshalb ist die oben gemachte Annahme, dass der zirkuläre Forschungsprozess irgendwann zu Ende ist, weil man nichts Neues mehr findet, ein pragmatisches Wahrheitskriterium.“ Notwendig dafür ist nicht closing the ranks und das Bemühen, Energie in die Findung von Fachgrenzen auf Ebene der Regeln 1. Stufe zu investieren, sondern methodologische und methodische Offenheit und ein bisschen Mut zur Unordnung. So gilt wohl auch für unser Fach, was Nowotny/Scott/Gibbons (2005: 317) nach einer umfassenden wissenschaftstheoretischen und wissenschaftshistorischen Analyse schlussfolgern: „Je offener und umfassender die Wissenschaftlergemeinschaft ist, desto gesellschaftlich robuster wird das Wissen sein, das sie hervorbringt.“ Dies bedingt nicht nur eine institutionelle und objektbezogene Offenheit, sondern auch eine methodologische und methodische Öffnung. „Den epistemologischen Kern kontinuierlich immer wieder aufzufüllen erfordert eine Vielfalt an Wissenstraditionen“ (a.a.O. 318). Damit kann auch für die Kommunikationswissenschaften nicht mehr von einer (gar universell gültigen) Methode oder einem epistemischen Kern ausgegangen werden, sondern wir müssen von der Vielfalt, der Vergleichbarkeit und der Inkommensurabilität der Ansätze und Methoden ausgehen. Denn mit Nowotny/Scott/Gibbons (2005: 319) bin ich der Meinung, dass, wer auf Entwicklungspfade und Ergebnisse zu großes Gewicht legt, die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Projektes der Aufklärung leugnet. Auch die Kommunikationswissenschaften sind Wissenschaften im Zeitalter der Ungewissheit und auch sie müssen mit dem Verlust der Ordnung (auch jener der Einheit des Wissens) angemessen umgehen können. Wie Nowotny (1999: 82) treffend fragt: „Können wir lernen mit Widersprüchen und Paradoxien zu leben und die Entstehung von Wissen als einen Teil der Beschreibung der sozialen Wirklichkeit zu akzeptieren, der notwendigerweise immer unvollständig bleiben muss und immer historisch wandelbare Bedeutungen und Interpretationen in sich tragen wird? Können wir mit den besten uns
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zur Verfügung stehenden Methoden und theoretischen Einsichten eine Situation analysieren, wie sie ist – und dennoch wissen, dass es auch anders sein könnte?“
Für die Kommunikationswissenschaften ist die Antwort auf beide Fragen: ja. Nicht nur als Möglichkeit, sondern als angemessene Reaktion auf die aktuelle Theoriediskussion. Dies ist nicht nur rein theoretisch von Nöten, sondern auch (lebens-) praktisch geboten. Auch die Kommunikationswissenschaften werden sich dabei unter das Joch der (gesellschaftlichen) Nützlichkeit beugen müssen. Doch paradoxerweise kann gerade dieser Nutzen im Unnützen bestehen: In der Entdeckung von Neuem und in der Definition von Grenzen. „Die Paradoxie im aktuellen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft besteht darin, dass Innovation und Kreativität noch nie so hoch im Kurs standen, während die eingebauten Selektionsmechanismen der gesellschaftlichen Innovationsmaschinen, von denen die Wissenschaft die effizienteste und ergiebigste ist, immer feiner zu arbeiten beginnen.“ Nowotony (1999: 33).
Dieser Satz trifft, so meine ich, auch in vollem Umfang auf die Kommunikationswissenschaften zu. Immer feiner arbeiten die Mechanismen der Selektion auf Ebene der Regeln 1. Stufe, ohne dabei zu fragen, ob denn dies der Wahrheit oder zumindest der Praxis näher führe, oder ob dies gar Neues produziere. Will man dem selbst gesteckten Anspruch zumindest eine Schlüsseldisziplin der Medien- und Informationsgesellschaft zu werden, gerecht werden, dann genügt es eben nicht, Selektionsmechanismen zu verfeinern und zu verdichten, sondern man muss ganz im Gegenteil das methodologische und methodische Set öffnen und den Diskurs aus Ebene der Regeln 2. Stufe intensivieren. Solide Methodenanwendung und wissenschaftstheoretische Stringenz bei Flexibilität der Methoden und Pluralismus der Objektbereiche lautet das Motto einer neuen Kommunikationswissenschaft.16 Dafür bedarf es der institutionellen Selbstreflexion, der Visibilisierung von Verborgenem, der Explikation von Implizitem, das Spielen mir Paradoxien und das Diskutieren der Regeln 2. Stufe, eben einer wissenschaftlichen Kommunikation über Kommunikationswissenschaft jenseits der Beliebigkeit, einer KommunikationsKommunikationswissenschaft eben. Klar muss dabei sein: Ein sicheres Fundament, die Basistheorie oder die Theorie der Kommunikationswissenschaften wird es auch auf diesem Wege nicht geben. Auch für die Kommunikationswissenschaften gilt das schöne Bild von Otto Neurath „wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen, um aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ 17 Wir fahren also auf jeden Fall weiter und wir bauen das Boot, mit dem wir über die Informationsflut und die Medieninnovationswellen reiten, beständig um. Wichtig scheint nur: sich dies auch angemessen bewusst zu machen und
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immer wieder im Gespräch zu halten. Dies mag nicht unmittelbar Orientierungswissen für uns selbst erzeugen, aber es vermag doch ein wenig klarer zu machen, wozu und zu welchem Ende man diese Disziplin mit Leidenschaft, Integrität und mit Verantwortung betreibt. Dies zu klären, könnte die vornehmste und zugleich dringlichste Aufgabe der Kommunikationskommunikationswissenschaft auf dieser Odyssee sein.
Anmerkungen 1 2 3
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Dies impliziert nicht nur ein Nebeneinander von Funktionen- und Institutionenlehren, sondern auch ideologische und theoretische Disparitäten. Zur Bestimmung und Abgrenzung aus wissenschaftstheoretischer Perspektive Kuhn 1989. Exemplarisch: Burkart 1998: 18 f., Jarren/Bonfadelli 2001: 10, Maletzke 1998: 17, Pürer 1993: 9, Schmidt/Zurstiege 2000: 24 f und 211f. den Eintrag im Lexikon der Kommunikations- und Medienwissenschaft von Bentele/Brosius/Jarren 2006 und das Selbstverständnispapier der DGPuK. Zum Stand vgl. etwa das Heft 2/2000 des Medien Journals. Berger/Luckman 1996. Schönberger 1996. Schönberger 1996. Überblick in den Sammelbänden von Hepp/Winter 1997, erweiterte Neuauflage 2006, Saxer 1998, Bromley/Göttlich/Winter 1999, Robertson/Winter 2000, Diskussion: Merten 1999, Craig 1999, Tomlinson 1999, Karmasin/Winter 2003. Rath 2000, Karmasin 1996, 2002, Thomaß 1998, die Sammelbände von Wunden 1989, 1994, 1996, 1998, Funiok/Schmälzle/Werth 1999, Schicha/Brosda 2000. Albert (1980), S. 13. Hösle (1991), S. 13 ff. Vgl. Giesen (1991), S. 114 ff. Schülein/Reitze (2002: 212 ff.) meinen, dass jede historische Epoche auch ihre spezifisch dominanten ontologischen bzw. erkenntnistheoretischen Prämissen hat. Für die mittelalterliche Feudalgesellschaft sei die scholastische Philosophie dominant gewesen, für die bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit sei die klassische Erkenntnisphilosophie prägend gewesen, während für die Frühmoderne Positivismus und Positivismuskritik charakteristisch gewesen wären. In der Hochmoderne sind die analytische Philosophie und der kritische Rationalismus dominant, in der Postmoderne die Kritik des kritischen Rationalismus bzw. der Neokonstruktivismus. Diese Gemengelage von erkenntnistheoretischen Grundpositionen zwischen Hochmoderne und Postmoderne findet sich freilich auch im Bereich der Kommunikationswissenschaft. Hörisch (2004: 12) kommt zu dem Schluss, dass den Ansehensverlust der Hochschulen nicht nur die Politik und die leeren öffentlichen Kassen, sondern vor allem ihre Bewohner selbst verursacht haben. „Es gibt wenige Institutionen, die intern so sandkasten-psychologisch, so kindlich-narzistisch, so überbürokratisch, so argumentati-
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onsimmun, so hilflos, machtzentriert, so endogam, so inzestiös, so phobisch, kurzum so irrational organisiert sind, wie (deutsche) Universitäten....“ Mittelstraß (2001: 197) meint, dass der Begriff Medien neben jenem der Kultur dazu diene, alles Germanistische, ja alles Geisteswissenschaftliche alter Art ins Meer der Kulturwissenschaften zu entgrenzen und dass damit unter diesem weiten Mantel postmoderner Beschwörungen auch die Schwächlichtsten im Akademikervölkchen ihren Platz fänden. Die Science Wars wurden durch den als Scherz gemeinten Artikel von Sokal in der Zeitschrift Social Text, initiiert. Zu wissenschaftstheoretischen Implikationen Stadler 2000. Hierzu genauer Poser 2001: 104ff. Dies heißt nicht automatisch, dass man, um einen mir sympathischen Vorschlag aufzugreifen, die Fachgesellschaft in Deutsche Gesellschaft für Kommunikationswissenschaften umbenennt und die Debatte um „Medien- und Publizistikwissenschaft“- und „Öffentliche- und Private Kommunikation“ als Objektbereich um direkt und indirekt etc. vermeidet. Zit. nach Raatzsch 2000: 23, hier auch eine methodenkritische Interpretation.
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Teil 2: Forschungsfelder und Theorieentwicklungen
Neue Medien als Herausforderung für die Journalismustheorie: Paradigmenwechsel in der Vermittlung öffentlicher Kommunikation Christoph Neuberger
1 Prägung der Kommunikationswissenschaft durch traditionelle Massenmedien1 Die Geschichte der Kommunikationswissenschaft lässt sich, so Saxer (1995: 42), als eine Geschichte der „additiven Aneignung undisziplinierter Gegenstände“ beschreiben. Solche „undisziplinierten Gegenständen“ seien vor allem neue Medien: Das durch „sehr durchlässige Grenzen charakterisierte und aus Ressourcenmangel auf Legitimation durch gesellschaftliche Brauchbarkeit angewiesene System Kommunikationswissenschaft“ neige dazu, „dominante gesellschaftliche Medienerfahrungen zum Ausgangspunkt seiner Theorienbildung“ (Saxer 1992: 106; H.i.O.) zu nehmen. Die Konzentration auf das jeweils neue Medium führe aber zu einer Fragmentierung der Kommunikationswissenschaft: „Einzelmedienforschung, sei es am Materialobjekt Film, Zeitung oder Fernsehen, perpetuiert letztlich deren Nebeneinander auf Kosten integraler Theoriebildung.“ (Saxer 1995: 43)2 Auch in der Journalismusforschung sind es Änderungen der materiellen Basis, die ins Auge springen, während sich der sinnhafte Wandel im Journalismus eher unterschwellig und langfristig vollzieht. Dies verleitet auch hier dazu, mit jedem neuen Medium einen neuen Journalismus auszurufen: „Eine funktionale Betrachtungsweise des Journalismus mahnt […] dort zur Langsamkeit, wo in wenig reflektierter Reaktion auf den (vermeintlich rasanten) Wandel der Medienund Verbreitungstechnik immer neue ‚trendige’ Journalismen vom publizistischen Fließband fallen.“ (Görke 2000: 443)
Wenn diese Beobachtungen zutreffen, dann sind die theoretischen Konstrukte der Kommunikationswissenschaft durch die jeweiligen Objekte ihrer Forschung
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geprägt: Ihre Theorien, Modelle und Begriffe reflektieren oft (implizit) den jeweiligen status quo der Medienentwicklung. Die Kommunikationswissenschaft ist den bislang dominierenden Massenmedien verhaftet, weil sie in der Auseinandersetzung mit ihnen ihr Instrumentarium entwickelt hat. Durch die technische Entwicklung verlieren deshalb gegenwärtig die Definitionen für traditionelle Medien (wie Rundfunk und Zeitung), aber auch der Begriff „Massenkommunikation“ an Trennschärfe. Im Gegenzug gewinnen Begriffe an Bedeutung wie „multimedial“, „digital“, „online“ und „interaktiv“, mit deren Hilfe die Andersartigkeit der neuen Medien bezeichnet werden soll. Auch hier kommt es also wieder zu einer separaten, nicht medienübergreifenden Begriffs- und Theoriebildung. Im vorliegenden Beitrag soll das Problem am Beispiel des Journalismus diskutiert werden. Die hier vertretene These lautet: Der gängige Journalismusbegriff in der Kommunikationswissenschaft ist durch eine zurückliegende Phase der Entwicklung öffentlicher Kommunikation bestimmt, in der journalistische Angebote ausschließlich über Presse und Rundfunk vermittelt wurden.
2 Funktionale Äquivalente zum professionellen Journalismus In der Journalismusforschung dominiert der systemtheoretische Zugang: Nach Luhmann (1996: 11, 33) kennzeichnet das System Massenmedien der Gebrauch technischer Verbreitungsmedien, die keine Interaktion zwischen Sendern und Empfängern zulassen. Görke/Kohring (1996: 17-19) haben in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Luhmann darauf hingewiesen, dass soziale Systeme sinnhaft abzugrenzen sind, nicht technisch. Dies gilt auch für den Journalismus, der hier als Leistungssystem innerhalb des Funktionssystems Öffentlichkeit verstanden wird. Die Sinngrenzen des Journalismus werden durch seine Funktion (Selbstbeobachtung der Gesellschaft), Leistungen und seinen Code (aktuell – nicht-aktuell) markiert (vgl. Neuberger 1996: 348-352; Scholl/Weischenberg 1998: 63-78; Görke 2007, i.E.; Görke in diesem Band). Die gesellschaftliche Funktion des Journalismus und seine spezifischen Leistungen für andere Teilsysteme können im Rahmen unterschiedlicher, funktional äquivalenter Strukturen erbracht werden. Dieser systemtheoretische Gedanke ist in der Journalismusforschung bisher aber noch nicht konsequent umgesetzt worden. Technische Verbreitungs- und Speichermedien schaffen jeweils spezifische Kommunikationsbedingungen. Unter den Bedingungen der traditionellen Massenmedien Presse und Rundfunk richtet sich journalistische Kommunikation an ein disperses Massenpublikum und verläuft weitgehend einseitig, also unter
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Ausschluss eines „Feedback“ der Rezipienten. Produziert werden die Angebote von beruflich tätigen, meist dafür ausgebildeten Journalisten, die ihr Handeln an Berufsnormen orientieren und deren Arbeit im Rahmen einer Redaktion organisiert ist. Mit diesen Merkmalen ist der Begriff „Journalismus“ assoziiert – und zwar sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft, ohne dass es sich dabei jedoch um notwendige Merkmale handelt. Denkbar ist, dass im Internet zum herkömmlichen Journalismus funktional äquivalente Angebote entstehen, die andere Merkmale besitzen (vgl. Neuberger 2003: 132). Bisher ist es in der empirischen Forschung üblich, Journalismus über diese herkömmlichen Strukturmerkmale abzugrenzen. Das gilt auch für systemtheoretisch orientierte Studien: In der repräsentativen Münsteraner Journalistenbefragung „Journalismus in Deutschland“ wurden Journalisten über Merkmale wie Professionalität, die hauptberufliche Tätigkeit, Arbeitsrollen und die Zugehörigkeit zu einer Medienorganisation identifiziert. Funktion und Leistungen wurden – entgegen dem eigenen Anspruch (vgl. Weischenberg/Löffelholz/Scholl 1993: 23; Scholl/Weischenberg 1998: 16) – bei der Abgrenzung des Journalismus nicht berücksichtigt (vgl. Scholl 1997: 473-480; Scholl/Weischenberg 1998: 84-86). Ähnlich strukturell definiert wurde in neueren empirischen Studien der Internetjournalismus: Auch hier wurde auf den Bezug zu traditionellen Massenmedien, die redaktionelle Organisation und die berufliche Ausübung geachtet (vgl. Neuberger 2000: 310f.; Löffelholz/Quandt/Hanitzsch/Altmeppen 2003: 477-479; Quandt 2005: 40). Ebenso beschränken sich Forschungsübersichten auf den professionell-redaktionellen Journalismus im Internet (vgl. z. B. Altmeppen/Bucher/Löffelholz 2000). Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, wenn keine großen Unterschiede zwischen Internetjournalismus und traditionellem Journalismus aufgefallen sind: Funktionale Äquivalente konnten gar nicht erst ins Blickfeld geraten. Es reicht also nicht mehr aus, sich an empirisch zwar leicht fasslichen, aber dem traditionellen Verständnis verhafteten strukturellen Oberflächenmerkmalen zu orientieren. Die Identifikation des Journalismus muss einige Schritte früher ansetzen: Journalismus muss zunächst abstrakt und sinnhaft über die gesellschaftliche Funktion und spezifische Leistungen für andere Teilsysteme definiert werden. Die Leistungen müssen dann soweit konkretisiert werden, dass empirisch überprüfbar ist, in welchen Bereichen sie erbracht werden und wo die Erwartung darauf besteht. Nicht nur die Erfüllung der Leistungserwartungen muss empirisch nachgewiesen werden, sondern auch die Existenz dieser Erwartungen: Der Sinn sozialer Systeme ist „nicht, wie es in systemtheoretischen Ansätzen manchmal scheint, bereits vorgegeben, sondern muß – und kann – in sozialen Definitionsprozessen kognitiv-symbolisch festgelegt werden“
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Christoph Neuberger
(Mayntz 1988: 27). Mayntz forderte zu einer „‚empirischen Wende‘ bei der Bestimmung des Konstitutionskriteriums gesellschaftlicher Teilsysteme“ (ebd.: 19) auf. Sie seien variabel und müssten sich als „institutionalisierte Handlungszusammenhänge identifizieren lassen und auch von den Gesellschaftsmitgliedern als solche wahrgenommen werden“ (ebd.: 18). Wissenschaftliche Fremdbeschreibung muss also darauf achten, dass sie sich nicht von der Selbstbeschreibung im Funktionssystem abkoppelt. Auch die Uneinigkeit über Funktion und Code des Journalismus (vgl. den Überblick bei: Scholl/Weischenberg 1998: 63-78) zeigt einen Klärungsbedarf an. Bisher, so scheint es, war dies ein vernachlässigbares Problem, weil in Wissenschaft und Praxis ein weitgehend übereinstimmendes Verständnis vom Journalismus herrschte. Dieser Konsens schwindet aber, wie z. B. der inflationäre Gebrauch des Etiketts „Journalismus“ im Internet signalisiert. Für die Präzisierung journalistischer Leistungen bietet sich ein – an anderer Stelle (vgl. Neuberger 2004) ausführlich dargestellter – theoretischer Bezugsrahmen von Schimank (1992; 1996) an, mit dem die Kluft zwischen Akteursund Systemtheorie überwunden werden kann: Gesellschaftliche Teilsysteme liefern Akteuren „Fiktionen konkreter sozialer Situationen und fungieren damit als kontingenzbestimmende self-fulfilling-prophecies“ (Schimank 1988: 631). Akteure interpretieren konkrete soziale Situationen als „Ausprägungen der spezifischen Handlungslogik eines bestimmten gesellschaftlichen Teilsystems“ (ebd.: 633). Damit liefern sie situationsübergreifende, generalisierte Handlungsorientierungen und helfen Akteuren, Kontingenz und Interdependenz in Handlungssituationen zu bewältigen (vgl. ebd.: 620-629). Auf diese Weise werden sie in der Akteurperspektive relevant und empirisch zugänglich. Die institutionelle Ordnung eines Teilsystems setzt Akteuren Bedingungen ihres Handelns, die wiederum durch das Handeln (re-)produziert und verändert werden. Struktur und Handeln sind in einer „zirkulären Prozeßlogik“ (Nolte 1999: 109) miteinander verbunden.
3 Journalistische Leistungen Grenzt man den Journalismus – im Sinne der Systemtheorie – durch Funktion und Leistungen ab, so hat sich Journalismus auf die Bearbeitung von Vermittlungsproblemen öffentlicher Kommunikation spezialisiert (vgl. Neuberger 2004: 298-302). Die Leistung des Journalismus für andere Funktionssysteme besteht darin, dass er zwischen Leistungserbringern und -empfängern vermittelt. Leistungsempfänger (Wähler, Verbraucher etc.) verfügen in Systemen
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wie Politik und Wirtschaft bei einem Leistungsabfall der Leistungserbringer (Parteien, Unternehmen etc.) über die Sanktionsmöglichkeiten „voice“ (= Widerspruch gegen einen Anbieter) und „exit“ (= Abwanderung zu einem Konkurrenten) (vgl. Hirschman 1974). Zur Ausübung dieser Sanktionen sind sie auf den Journalismus angewiesen: •
•
Rezeptive Erwartungen: Die „exit“-Option setzt die Transparenz über Leistungen konkurrierender Anbieter voraus, also eine aktuelle Berichterstattung z. B. über Parteiprogramme, Produktqualitäten und -preise. Nur dann können Akteure rational zwischen Optionen entscheiden. Kommunikative Erwartungen: Bei der Wahl der „voice“-Option artikulieren die Leistungsempfänger öffentlich ihre Kritik. Unter den Vermittlungsbedingungen von Presse und Rundfunk können allerdings nur wenige Akteure, die Kollektivinteressen repräsentieren, zu Wort kommen.
Nicht nur Leistungsempfänger, auch Leistungserbringer richten Erwartungen an das Öffentlichkeitssystem. Die Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft verfügen darin über größere Einflusspotenziale („Public Relations“, Werbung) als die Leistungsempfänger, welche den Großteil des Publikums der Massenmedien stellen. Neidhardt (1994: 22-28) unterscheidet darüber hinaus journalistische Leistungen analog zum Produktionsprozess: •
Beobachtung („Input“ = Herstellen von Transparenz durch das Recherchieren und Auswählen von Informationen und Meinungen)
•
Validierung („Throughput“ = diskursive Prüfung von Informationen und Meinungen) Orientierung („Output“ = Weitergabe von Orientierungsdaten über die Relevanz von Problemen und die Akzeptanz von Lösungen an gesellschaftliche Akteure)
•
Beide Leistungskataloge lassen sich mit Hilfe der Frage kombinieren: In welchem Maße werden Erwartungen, die Akteure in bestimmten Rollen an den Input, Throughput und Output des Öffentlichkeitssystems richten, vom Journalismus erfüllt? Normative Öffentlichkeitsmodelle stellen dafür unterschiedlich hohe Anforderungen (vgl. Weßler 1999: 29-34): Das liberale Modell begnügt sich mit ihrer angemessenen Repräsentanz auf der Inputseite (Vielfalt, Ausgewogenheit). Öffentlichkeit nach dem deliberativen Modell soll darüber hinaus eine diskursive Bearbeitung und eine überzeugende öffentliche Meinung als Output produzieren. Peters (1994), der die Barrieren für die Realisierung dieser Ansprüche in den Massenmedien systematisiert hat, sieht in den Erwartungen an
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Christoph Neuberger
die Öffentlichkeit „ein wichtiges Element der symbolischen Verfassung moderner Gesellschaften“ (ebd.: 49), die als „praktisch wirksame Konzeptionen“ (ebd.: 71) auch empirisch nachweisbar sind.
4 Rollen in der öffentlichen Kommunikation Spätestens das Internet zwingt dazu, Rollen in der öffentlichen Kommunikation differenzierter zu betrachten, als dies bisher der Fall ist. Dabei lassen sich mehrere Rollenpaare unterscheiden (vgl. Tabelle 1). (1) Im Internet löst sich die starre Rollenverteilung der traditionellen Massenmedien auf: Die Interaktivität erlaubt einen flexiblen Wechsel zwischen der Kommunikator- und der Rezipientenrolle. (2) Die Interessenten sind die Leistungsempfänger des Systems Öffentlichkeit, die Mediatoren die Leistungserbringer. Da das Wort „Journalist“ traditionelle Massenmedien konnotiert, wird hier die weniger vorbelastete und breiter einsetzbare Bezeichnung „Mediator“ verwendet (vgl. Langenbucher 1974/75). Interessenten können unterschiedliche Erwartungen haben: Dies können Gratifikationen sein, die sie als Rezipienten empfangen, oder es können Wirkungen sein, die Medienangebote erzielen. Solche Wirkungsintentionen haben vor allem jene, die systematisch Werbung oder „Public Relations“ betreiben. Der vereinfachte Zugang zur Öffentlichkeit im Internet hat zur Folge, dass Kommunikatoren ihre Aussagen, mit denen sie eigene Interessen verfolgen, auch ohne die Vermittlung und Prüfung durch eine selektierende und qualitätssichernde Instanz, das heißt unter Umgehung der Mediatoren verbreiten können („Disintermediation“; vgl. Shapiro 1999). (3) Die Erwartungen der Interessenten an Öffentlichkeit sind durch ihre Rollen in anderen Funktionssystemen als Leistungserbringer oder -empfänger geprägt (vgl. Abschnitt 3). (4) Das Internet vereinfacht nicht nur das öffentliche Kommunizieren, sondern auch das Betreiben eines eigenen Angebots, z. B. in Form eines Weblogs. In Anlehnung an Goertz (1995: 484) wird zwischen Anbietern („Organisierender Beteiligter“) und Nutzern („Beteiligter“) unterschieden. Wesentliche Kompetenzen der Anbieter sind das Betreiben eines Angebots, also die Sicherung der technischen, ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen, sowie die Regulierung der fortlaufenden Kommunikation im Rahmen des Angebots. Eine empirische Prüfung dürfte eine große Variationsbreite der Kompetenzbündel von Anbietern und Nutzern zum Vorschein bringen. Während auf Websites traditioneller Medien eine Anbieterdominanz herrscht, können auf kollaborativen Websites (wie Wikipedia) Nutzer sogar in der Mediatorrolle auftreten, falls sie an der Qualitätsprüfung beteiligt sind.
Neue Medien als Herausforderung für die Journalismustheorie Tabelle 1:
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Rollen in der öffentlichen Kommunikation
Rollentyp (1) Rollen nach der Art des kommunikativen Handelns
Ausprägungen
Massenmedien
Internet
Kommunikator – Rezipient
i.d.R. kein Rollenwechsel
Möglichkeit des Rollenwechsels in vielen Angebotstypen
(2) Rollen im Öffentlichkeitssystem
Leistungserbringer (Mediatoren) – Leistungsempfänger (Interessenten)
(3) Rollen in anderen Funktionssystemen
Leistungserbringer – Leistungsempfänger
(4) Rollen im Kontext eines Angebots
(5) Rollen im zeitlichen Umfeld der mediatisierten Massenkommunikation (Voraus- und Anschlusskommunikation)
professionell-redaktionelle Vermittlung von Massenkommunikation durch Mediatoren, die als „Gatekeeper“ zwischen Interessenten (Rezipienten, „Public Relations“, Werbung) vermitteln Dominanz der Leistungserbringer als Quellen und Interessenten („Public Relations“, Werbung); Leistungsempfänger sind auf Repräsentanten als Kommunikatoren oder die „anwaltschaftliche“ Vertretung durch Mediatoren angewiesen
Anbieter – Nutzer
Anbieter als Kommunikatoren und Mediatoren – Nutzer als Rezipienten und Interessenten
Quelle – Rezipient
nichtöffentliche Individualund Gruppenkommunikation (1) zwischen Quelle und Redaktion sowie (2) zwischen den Rezipienten im nahen sozialen Umfeld, selten auch zwischen den Rezipienten und der Redaktion (Leserbriefe etc.)
weitere Vermittlungstypen (partizipative und technisierte) neben der professionellredaktionellen Vermittlung; öffentliche Kommunikation auch ohne Vermittlung („Disintermediation“)
Leistungsempfänger können eher als Kommunikatoren und Anbieter auftreten (durch den vereinfachten kommunikativen Zugang zur Öffentlichkeit)
Nutzer können als Rezipienten, Kommunikatoren und Mediatoren an einem Angebot beteiligt sein; Rezipienten und Quellen der traditionellen Massenmedien können die Anbieterrolle übernehmen (1) öffentliche und direkte Kommunikation der Quellen mit den Rezipienten („Disintermediation“), (2) Nutzung von Angeboten als Quelle in Redaktionen, (3) öffentliche Anschlusskommunikation der Rezipienten untereinander, mit Mediatoren und Quellen
Für traditionelle Massenmedien sind bestimmte Rollenkombinationen typisch: Anbieter übernehmen zugleich die Rolle organisierter Mediatoren und Kommunikatoren, Nutzer sind vorrangig Rezipienten. Diese starren Verbindungen lösen sich im Internet auf. Deshalb sollte sich auch die Journalismusforschung, die sich bisher auf die professionellen Leistungserbringer konzentriert
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Christoph Neuberger
hat, zur umfassenderen Öffentlichkeitstheorie hin öffnen. Wenn Nutzer die Kommunikator- und Mediatorrolle übernehmen können, lässt sich auch die bisherige Grenzziehung zur Rezipientenforschung nicht mehr aufrechterhalten. (5) Darüber hinaus verschwimmen im Internet die Grenzen zwischen der journalistischen Massenkommunikation sowie der Kommunikation im Vorfeld (zwischen der Redaktion und den Quellen) und im Anschluss (unter den Rezipienten oder zwischen den Rezipienten und der Redaktion). Voraus- und Anschlusskommunikation fanden bislang in der Regel nicht öffentlich statt. Im Internet wird nun vor allem die Anschlusskommunikation der Rezipienten öffentlich. Außerdem ist im Internet ein direkter Kontakt zwischen Quellen und Rezipienten möglich.
5 Paradigmenwechsel in der Vermittlung öffentlicher Kommunikation Jeder Kommunikationsprozess besteht aus einer Reihe von Problemen, für deren Lösung die Teilnehmer zumindest teilweise kooperieren müssen. Der Journalismus kann als Zusammenhang institutionalisierter Lösungen für die Probleme der Kommunikation aufgefasst werden (vgl. Neuberger 2004: 292f.). Technische Medien tragen primär dazu bei, das Problem der Verbreitung und Speicherung von Mitteilungen zu lösen. Dabei ist zu beachten, dass die Lösung eines Problems die Lösungsmöglichkeiten anderer Kommunikationsprobleme beeinflusst und Folgeprobleme aufwerfen kann (vgl. Luhmann 2001: 80). Technische Medien können z. B. danach beurteilt werden, in welchem Maße sie Partizipation, das heißt einen Zugang zum Öffentlichkeitssystem verschaffen: Wie kann sich ein möglichst großer Teil der Bevölkerung als Rezipient oder Kommunikator an der öffentlichen Kommunikation beteiligen? Das Aufkommen der Massenmedien, also die Einführung von Presse und Rundfunk, brachte eine Lösung für den rezeptiven Zugang. Der Durchbruch gelang im 19. Jahrhundert: Die Massenpresse konnte durch kostengünstige Möglichkeiten der Vervielfältigung und die Subventionierung der Bezugspreise durch Anzeigenerlöse weite Leserkreise erschließen. Gleichzeitig wandelte sich der Journalismus, der sich als Profession ausdifferenzierte und seither in Redaktionen organisiert wird. Der Journalismus orientierte sich zusehends an einem breiten, heterogen zusammengesetzten Publikum. Allerdings blieb der kommunikative Zugang beschränkt: Solange der Journalismus alleine auf die klassischen Massenmedien angewiesen war, also bis Mitte der neunziger Jahre, war redaktionelle Arbeit eine Art Mangelverwaltung.
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Diese Phase könnte man als Zeit des „Gatekeeper“-Paradigmas bezeichnen: Presse und Rundfunk haben bis heute eine vergleichsweise geringe technische Verbreitungs- und Speicherkapazität – nach dem Publikationsvolumen (gerechnet in Seitenzahlen oder Sendezeit), aber auch nach der Anbieterzahl. Die zentrale Frage ist hier, wer unter welchen Voraussetzungen die wenigen Zugänge zur Öffentlichkeit kontrollieren darf. Der professionell-redaktionelle Journalismus ist dafür eine Art „Notlösung“. Nur einzelne Akteure, oft sind es Repräsentanten von Gruppen, können zu Wort kommen, oder aber der Journalismus vertritt nicht-organisierte Interessen „anwaltschaftlich“. Die „Gatekeeper“ begleitet stets der Argwohn, dass sie ihre machtvolle Position missbrauchen könnten. Durch Fremd- oder Selbstregulierung werden sie auf Normen wie Ausgewogenheit, Vielfalt und Neutralität verpflichtet. Das Internet hat den kommunikativen Zugang zur Öffentlichkeit erweitert (vgl. zum Folgenden: Neuberger 2002; Neuberger 2005a): Weil dort technische, ökonomische, kognitive und rechtliche Barrieren für das Publizieren niedriger sind als in Presse und Rundfunk, kommt es angeblich – wie einst durch Gutenbergs Druck mit beweglichen Lettern, der vor allem den rezeptiven Zugang erweiterte – zu einem Entwicklungssprung. Auch wenn hier ein Paradigmenwechsel behauptet wird, so ist doch im Auge zu behalten, dass es sich um graduelle Verschiebungen handelt, die wesentlich auf das Internet beschränkt bleiben. Die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten entspricht einem – auch durch andere Faktoren vorangetriebenen – gesellschaftsweiten Trend (vgl. Gerhards 2001). Das Internet trägt dazu bei, dass Leistungsempfänger anderer Funktionssysteme an Einfluss gewinnen, weil sich ihre Möglichkeit, öffentlich Kritik zu üben („voice“), und die Markttransparenz verbessern („exit“). Der traditionelle Journalismus verliert im Internet sein „Gatekeeper“-Monopol: Durch den vereinfachten Zugang haben Leistungserbringer und -empfänger die Möglichkeit, eigene Mitteilungen direkt und ohne redaktionelle Prüfung zu verbreiten. Shapiro (1999: 187-192) sprach deshalb von einer „Kontrollrevolution“ im Internet, schränkte aber ein, dass vermittelnde Instanzen notwendig bleiben, weil neue Vermittlungsprobleme auftauchen: •
Im Internet ist das Nadelöhr nicht verschwunden, sondern nur an eine andere Stelle gerückt: von der Anbieter- auf die Nutzerseite. Die Nutzer sind alleine mit der Aufgabe konfrontiert, aus der Überfülle an verfügbaren Informationen eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Nicht mehr ein „Zuwenig“ ist das Problem, sondern ein „Zuviel“: Weil sich jeder öffentlich zu Wort melden kann, schwillt die „Informationsflut” weiter an. Diese Flut ist schon länger ein Topos der Kommunikationswissenschaft. Das Internet verschärft aber das „Überlast-Syndrom“ (Merten 1994: 155) ganz erheblich. Außer-
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•
Christoph Neuberger dem fehlt eine flächendeckende Qualitätssicherung („Informationsmüll“), wie sie in den traditionellen Medien unterstellt werden kann. Nun herrscht nicht mehr Knappheit an Verbreitungskapazität und Angebotsvielfalt, sondern eine Knappheit an Aufmerksamkeit und Urteilsvermögen auf Seiten der Rezipienten. Komplementär dazu schwindet für die Kommunikatoren die Wahrscheinlichkeit, Aufmerksamkeit und Resonanz in Form von Anschlusskommunikation zu erzielen. Außerdem sind Strukturen notwendig, welche die gegenseitige Bezugnahme und die Respektierung basaler Regeln sicherstellen.
Aus diesen Gründen müssen auch im Internet Auswahl-, Prüf- und Moderationsleistungen erbracht werden. Unter den Bedingungen des Internet bilden sich neben dem professionell-redaktionellen Journalismus zwei neue Typen der Vermittlung öffentlicher Kommunikation heraus: partizipative und technisch gesteuerte Vermittlung: •
•
Suchmaschinen wie „Google News“, die Nachrichten automatisch selektieren und gewichten, können einen Zugang zu einer Vielzahl von Angeboten im Internet verschaffen, ohne selbst Nachrichten beizusteuern. Sie sind nicht neutral, sondern ebenfalls manipulierbar (vgl. Neuberger 2005b: 7-10).3 Im so genannten „partizipativen Journalismus“ (vgl. Lasica 2003) kann im Prinzip jeder schreiben, der sich dazu berufen fühlt. Gemeint sind damit sowohl kollaborative Websites mit vielen Teilnehmern (wie „Slashdot.org“, „Wikinews“ und „Shortnews“) als auch Weblogs, die nur von einzelnen Personen betrieben werden, aber untereinander eng vernetzt sind („Blogosphäre“). Kollaborative Sites verfügen über Mechanismen der Qualitätssicherung, die an den journalistischen Standards orientiert sind. Während im traditionellen Journalismus die Qualitätssicherung aber weitgehend eine interne Angelegenheit der Profession und der Redaktionen ist, werden im „partizipativen Journalismus“ Informationen und Meinungen erst nach der Publikation von den Nutzern öffentlich geprüft (vgl. Bowman/Willis 2003: 6).
Als Gegenbegriff zum „Gatekeeping“ traditioneller Massenmedien, bei dem Redaktionen alleine darüber entscheiden, was veröffentlicht wird, schlägt Bruns (2005: 11-19) für das Internet „Gatewatching“ vor, weil die Orientierung über das im Internet verfügbare Angebot in den Vordergrund rückt. Tabelle 2 fasst die wesentlichen Merkmale der beiden Paradigmen zusammen. Verdienen partizipative Angebote die Bezeichnung „Journalismus“? Bieten sie vielleicht sogar einen besseren Journalismus? Diese Frage wird derzeit inten-
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siv diskutiert (vlg. Neuberger/Nuernbergk/Rischke 2007). Stärker als in anderen Medien thematisieren sich Anbieter und Nutzer im Internet selbst. Blogger betrachten zum Teil ihr Tun als neue Art von Journalismus, ergab eine Befragung (vgl. Neuberger 2005c: 85f.). Als Vorzüge im Vergleich zum traditionellen Journalismus sehen sie die subjektive Perspektive, den leichten Zugang zum Autor, die Aktualität sowie den vielfältigen und intensiven Meinungsaustausch. Hier zeigen sich Parallelen zum Laienjournalismus der Alternativpresse und der „offenen Kanäle“ im Rundfunk. Tabelle 2:
Paradigmen der Vermittlung öffentlicher Kommunikation
„Gatekeeper“-Paradigma Vermittlung unter den Bedingungen traditioneller Massenmedien (Presse, Rundfunk)
„Gatewatcher“-Paradigma Vermittlung unter den Bedingungen des Internets
Technische Lösung für das Problem des rezeptiven Zugangs: Massenmedien ermöglichen Massenpublika. Die Lösung für das Problem des kommunikativen Zugangs wird erschwert, weil Massenmedien nur eine geringe technische Vermittlungskapazität besitzen. • Folgeproblem für Kommunikatoren: geringe Zugangschancen • Folgeproblem für Rezipienten: geringe Vielfalt an publizierten Informationen und Meinungen (Leistung: Reduktion von Komplexität, das heißt Selektion als Dienstleistung) Bearbeitung der Folgeprobleme durch Vermittler: Professionellredaktionelle Vermittlung ist eine Art Notlösung („Gatekeeping“), wobei journalistische Standards den Zugang zur Öffentlichkeit regulieren sollen (Neutralität, Relevanz, Vielfalt, Ausgewogenheit etc.). Technische Lösung für das Problem des kommunikativen Zugangs: Das Internet vereinfacht technisch den Zugang zur Öffentlichkeit („Disintermediation“). • Folgeprobleme für Rezipienten: Es kommt zur quantitativen und qualitativen Überforderung der Rezipienten, weil Beobachtungsleistungen („Informationsflut“) und Validierungsleistungen („Informationsmüll“) selbst erbracht werden müssen. • Folgeprobleme für Kommunikatoren: Spiegelbildlich wird für Kommunikatoren das Gewinnen von Aufmerksamkeit, das Auslösen von Anschlusskommunikation und die geregelte Bezugnahme (Diskurs) zum Problem. Bearbeitung der Folgeprobleme durch Vermittler: • professionell-redaktionelle Vermittlung: Traditioneller Journalismus verliert im Internet sein „Gatekeeper“-Monopol (Ableger von Presse und Rundfunk im Internet, Nur-Online-Angebote). • technische Vermittlung: Suchmaschinen, vor allem Nachrichtensuchmaschinen („Google News“, „Paperball“ etc.) • partizipative Vermittlung: Weblogs („Blogosphäre“), kollaborative Websites („Wikipedia“, „Youtube“, „Slashdot.org“ etc.)
Allerdings wäre es fahrlässig, solche Selbstbeschreibungen, die „Blog-Folklore“ (Sixtus 2005: 150), ungeprüft in die Wissenschaft zu übernehmen. Erste empirische Arbeiten (vgl. z. B. Haas 2005; Neuberger/Nuernbergk/Rischke 2007) las-
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Christoph Neuberger
sen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei Weblogs um einen „NetzwerkJournalismus“ handelt, den eine egalitäre und globale Vernetzung kennzeichnet, wie Bucher/Büffel (2005) behaupten. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass in Teilen der „Blogosphäre“ journalistische Leistungen erbracht werden, wofür sich zumindest Einzelfälle als Belege anführen lassen (vgl. Neuberger 2005a: 209-211). Eine sorgfältige theoretische und empirische Prüfung,4 wie sie hier skizziert wurde, steht aber noch aus. Tabelle 3 stellt die drei Vermittlungstypen gegenüber, die hier durch Anbieter- und Nutzermerkmale definiert werden. Die genannten Vermittlungsstrukturen und -leistungen sind hypothetisch oder fraglich, bedürfen also einer empirischen Prüfung. Zu klären wäre außerdem, ob diese Vermittlungstypen in einem konkurrierenden oder komplementären Verhältnis stehen und ob in wachsendem Maße Hybridangebote Elemente mehrerer Vermittlungstypen bündeln. Tabelle 3:
Vermittlungsakteure, -strukturen und -leistungen der aktuellen Internetöffentlichkeit Professionelle Vermittlung Spiegel Online, Netzzeitung
Partizipative Vermittlung P2P („Peer-to-Peer“): Shortnews, Wikinews, Weblogs: Schockwellenreiter, Bildblog
Technisierte Vermittlung Google News
Betreiber des Angebots
i.d.R. Unternehmen
i.d.R. Unternehmen
Inhalteproduktion
Redaktion (Organisation), beruflich tätige Journalisten als Mitglieder (Kommunikatoren, Mediatoren)
Einzelpersonen, Unternehmen und andere Organisationen P2P: Nutzerpartizipation, Weblogs: Einzelpersonen als Anbieter
Massenpublika
kleine Nutzerschaft
kleine Nutzerschaft
Rezipient, punktuell als Kommunikator
Rezipient, Kommunikator, Mediator
Rezipient (Eingabe der Suchanfrage als Selektionsvorgang, keine Kommunikation)
Anbieter – Nutzer: gering
Nutzer – Nutzer: hoch
fehlt (Mensch-zu-Maschine-Beziehung = Selektivität)
Beispiele
Anbieter
algorithmisch gesteuerte Erfassung, Selektion und Gewichtung
Nutzer Größe der Nutzerschaft Nutzerkompetenzen (Übernahme der Rezipienten-, Kommunikator- und Mediatorrolle) Grad der Interaktivität
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Vermittlung (hypothetisch/fraglich) Struktur der Qualitätssicherung
Journalistische Berufsnormen
kontinuierliche und professionelle redaktionsinterne Prüfung, öffentlich weitergeführt, Kompetenz und Neutralität meistens hoch meistens hohe Akzeptanz und Beachtung
öffentlich, wechselseitig in internen (P2P) und externen („Blogosphäre“) Netzwerken, Kontinuität, Kompetenz und Neutralität fraglich
automatisierte Selektion und Gewichtung über wenig valide Relevanzindikatoren (Syntax und Vernetzung von Dokumenten)
Akzeptanz und Beachtung fraglich
Akzeptanz und Beachtung fraglich
Leistungen (hypothetisch/fraglich) Beobachtung: Sammeln von Informationen (Input) Validierung: Verarbeiten von Informationen (Throughput) Orientierung: Weitergabe von Informationen (Output)
kontinuierlicher und systematisch selektierter Input (Nachrichtenwert), teilweise recherchiert kontinuierliche und professionelle redaktionsinterne Prüfung, öffentlich weitergeführt hohe Reichweite
punktuelle Recherche, vor allem im Internet
breite Metaorientierung über das Internet
öffentliche Prüfung, Kontinuität, Kompetenz und Neutralität fraglich
Validität der Ergebnisse fraglich
thematisch spezifisch, geringe Reichweite, Verstärkung durch professionelle Vermittlung (Recherchequelle)
Berücksichtigung der Erwartungen von Leistungsempfängern Berücksichtigung der Erwartungen von Leistungserbringern
Publikumsorientierung der Journalisten fraglich
vermutlich hoch durch Partizipation als Kommunikatoren und Meditoren
geringe Reichweite (bezogen auf die einzelne Anfrage), Verstärkung durch professionelle Vermittlung (Recherchequelle) geringe Publikumsorientierung
starker Einfluss auf den redaktionellen Teil über „Public Relations” sowie durch die Abhängigkeit von Werbe- und Verkaufserlösen
Einfluss fraglich („verdeckte“ Beteiligung)
starker Einfluss über externe Manipulation („Seitenoptimierung“) und interne Manipulation („Paid placements“) der Ergebnislisten
6 Fazit Aus den Überlegungen in diesem Aufsatz ergeben sich mehrere Stoßrichtungen für die künftige Journalismusforschung:
264
Christoph Neuberger
•
Sie sollte sich noch dezidierter gegenüber der Öffentlichkeits- und Rezipientenforschung öffnen, weil der flexible Wechsel zwischen der Kommunikator- und Rezipientenrolle, zwischen der Interessenten- und Mediatorrolle es nicht mehr zulassen, einzelne Rollen isoliert zu betrachten.
•
Sie sollte sich auch weiter gegenüber der Medientheorie öffnen: Medien schaffen unterschiedliche Bedingungen für Vermittlungsleistungen und werfen jeweils besondere Vermittlungsprobleme auf. Eine Beschränkung auf den professionell-redaktionellen Journalismus birgt die Gefahr, dass funktionale Äquivalente im Kontext neuer Medien übersehen werden.
•
Dafür ist es notwendig, dass sie den Journalismus einerseits sinnhaft und abstrakt definiert, andererseits diesen Begriff aber soweit zu konkretisieren vermag, dass er empirisch anwendbar ist.
•
Schließlich sollte sie auch die Geschichte der Vermittlung öffentlicher Kommunikation im Blick haben, in der Journalismus- und Medienwandel ineinander greifen.
Dass Laien in der Internetöffentlichkeit nicht nur die Kommunikator-, sondern auch die Mediatorrolle übernehmen können, widerspricht der Vorstellung von einer linear verlaufenden Professionalisierung des Journalismus. In dieser veränderten Situation muss der professionelle Kern, der durch Laien oder Technik nicht substituiert werden kann, neu bestimmt werden.
Anmerkungen 1 2
3 4
Für eine kritische Diskussion des Beitrags danke ich Alexander Görke und Armin Scholl Auch Luhmann (1997: 1096) registrierte eine solche Fixierung auf neue Medien: „Die Behauptung einer zeitlichen Differenz und ihr Nachweis an Einzelphänomenen erlaubt es, ohne Gesamtanalyse weiterzuarbeiten und das gerade Neue (oder das, was dafür gehalten wird) als Wesentlichkeitsersatz in den Mittelpunkt der Gesellschaftsbeschreibung zu rücken.“ Auf eine vertiefte Diskussion technisierter Vermittlung muss an dieser Stelle verzichtet werden. Vgl. dazu die anregenden Ausführungen von Kuhlen (1999). Bucher/Büffel (2005: 85f.) haben den Vorschlag, nach funktionalen Äquivalenten zu suchen (vgl. Neuberger 2003: 132), aufgegriffen. Die Funktionen, mit denen sie den Journalismus bestimmen (vgl. Bucher/Büffel 2005: 88, 106), bleiben ohne Operationalisierung jedoch zu abstrakt, um sie auf Weblogs anwenden zu können. Das Belegmaterial ist unzureichend (Aussagen von Bloggern und Experten, journalistische Beschreibungen von Einzelfällen), die Schlüsse sind aber weitreichend (vgl. ebd.: 106f.). Die Autoren gemeinden Weblogs pauschal in den Journalismus ein. Dass sich
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überhaupt nur ein geringer Teil der Weblogs mit journalistisch relevanten Themen befasst, kommt nicht zur Sprache.
Literatur Altmeppen, K. D./Bucher, H.-J./Löffelholz, M. (2000): Online-Journalismus. Perspektiven für Wissenschaft und Praxis. Wiesbaden. Bowman, S./Willis, C. (2003): We Media. How audiences are shaping the future of news and information. o.O. Bruns, A. (2005): Gatewatching. Collaborative Online News Production. New York u. a. Bucher, H.-J./Büffel, S. (2005): Vom Gatekeeper-Journalismus zum Netzwerk-Journalismus. Weblogs als Beispiel journalistischen Wandels unter den Bedingungen globaler Medienkommunikation. In: Behmer, M./Blöbaum, B./Scholl, A./Stöber, R. (Hrsg.) (2005): Journalismus und Wandel. Analysedimensionen, Konzepte, Fallstudien. Wiesbaden: 85-121. Gerhards, J. (2001): Der Aufstand des Publikums. Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland zwischen 1960 und 1989. In: Zeitschrift für Soziologie 30. 163-184. Goertz, L. (1995): Wie interaktiv sind Medien? Auf dem Weg zu einer Definition von Interaktivität. In: Rundfunk und Fernsehen 43. Nr. 4. 477-493. Görke, A. (2000): Systemtheorie weiterdenken. Das Denken in Systemen als Herausforderung für die Journalismusforschung. In: Löffelholz, M. (Hrsg.): Theorien des Journalismus. Ein diskursives Handbuch. Wiesbaden: 435-454. Görke, A. (2007, i.E.): Argwöhnisch beäugt. Interrelationen zwischen Journalismus und Unterhaltung. In: Blöbaum, B./Scholl, A./Renger, R. (Hrsg.): Journalismus und Unterhaltung. Wiesbaden. Görke, A./Kohring, M. (1996): Unterschiede, die Unterschiede machen: Neuere Theorieentwürfe zu Publizistik, Massenmedien und Journalismus. In: Publizistik 41. Nr. 1. 15-31. Haas, T. (2005): From „Public Journalism“ to the “Public’s Journalism”? Rhetoric and reality in the discourse on weblogs. In: Journalism Studies 6. 387-396. Hirschman, A.O. (1974): Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten. Tübingen. Kuhlen, R. (1999): Die Konsequenzen von Informationsassistenten. Was bedeutet informationelle Autonomie oder wie kann Vertrauen in elektronische Dienste in offenen Informationsmärkten gesichert werden? Frankfurt a. M. Langenbucher, W. R. (1974/75): Kommunikation als Beruf. Ansätze und Konsequenzen kommunikationswissenschaftlicher Berufsforschung. In: Publizistik 19/20. 256-278. Lasica, J.D. (2003): What is Participatory Journalism? In: Online Journalism Review. 07.08.2003. „http://www.ojr.org/ojr/workplace/1060217106.php“ (27.08.2003). Löffelholz, M./Quandt, T./Hanitzsch, T./Altmeppen, K. D. (2003): Onlinejournalisten in Deutschland. Zentrale Befunde der ersten Repräsentativbefragung deutscher Onlinejournalisten. In: Media Perspektiven. Nr. 10. 477-486. Luhmann, N. (1996): Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen.
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Christoph Neuberger
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Journalismus in der Mediengesellschaft: Ein Plädoyer für eine integrative Journalistik Margreth Lünenborg
1 Einleitung Was macht Journalismus aus? Entsteht Journalismus durch die Tätigkeit von Journalistinnen und Journalisten, die in Redaktionen oder außerhalb als freie Mitarbeiter Informationen recherchieren, Material redigieren und eigene Texte in Schrift, Wort oder Bild verfassen? Ist Journalismus die spezifische Leistung, die gesellschaftlich erbracht wird, um kommunikative Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Wissenschaft und Religion herzustellen? Finden wir schließlich Journalismus dann (und nur dann?) vor, wenn eine öffentliche Aufgabe erfüllt und damit ein Beitrag zur Herstellung demokratischer Öffentlichkeit geleistet wird? Die drei Fragen bergen drei Optionen, Journalismus zu definieren: Die subjektzentrierte Sichtweise bestimmt Journalismus über seine Akteure – die Journalistinnen und Journalisten (vgl. Baum 1994). In der systemtheoretischen Perspektive dagegen verlieren eben diese Akteure an Relevanz, statt dessen wird Journalismus als funktionales Teilsystem der Gesellschaft verstanden, das nach eigenständigen Regeln funktioniert (vgl. Blöbaum 1994, 2000). In der dritten Variante schließlich wird Journalismus normativ bestimmt über die Leistungen, die er für die Demokratie zu erbringen hat (vgl. als Übersicht Löffelholz 2001). Alle drei Varianten bergen Schwierigkeiten in sich. Normative Setzungen erweisen sich aus erkenntnistheoretischer Sicht als problematisch, führen aber auch zu Problemen in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand: Ist Reisejournalismus, Sportjournalismus oder Unterhaltungsjournalismus nicht länger Journalismus, weil damit zweifellos nicht (primär) Leistungen erbracht werden, die der Herstellung demokratischer Öffentlichkeit dienen? Eine solche Verengung kann einer theoretischen Klärung der Bedeutung von Journalismus in der Gesellschaft nicht dienlich sein. So bleibt die Entgegensetzung von akteurs-
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theoretischen und systemtheoretischen Perspektiven in der Journalismusforschung. Aber lassen sich damit die aktuell relevanten Entwicklungen im Journalismus angemessen erfassen? Formen des Laienjournalismus in Weblogs stellen die Grenzen der Profession ebenso in Frage wie fehlende Trennschärfe zwischen PR und Journalismus sowie Journalismus und Propaganda wie sie vor allem im Kontext der Kriegsberichterstattung diskutiert worden ist (vgl. Löffelholz 2004, Lünenborg 2004). Anstatt das Gegensatzpaar Subjekt versus System erneut zu erörtern, wird hier eine Alternative entwickelt. Kultur wird als Paradigma erkannt, mittels dessen sich Journalismus in seiner aktuellen Bedeutung für die Gesellschaft verstehen lässt. Dabei wird angeknüpft an den Kulturbegriff der (British) Cultural Studies. Hier gelten nicht ausgewählte, herausragende Einzelleistungen als Kultur, sondern alltagsgebundene Praktiken und Lebensweisen. Aus dieser Perspektive wird Journalismus zur Kulturleistung, die eine Teilhabe an der Mediengesellschaft ermöglicht. Diese Leistung erbringt Journalismus jedoch nicht allein durch das Handeln der Akteure oder durch die spezifische Textproduktion, sondern im Zusammenhang von journalistischer Produktion, dem Medientext sowie der Rezeption journalistischer Angebote durch das Publikum. Eine solche integrative Perspektive hat in der Journalistik – und ihrem Vorläufer, der Zeitungswissenschaft – eine lange Tradition. Von den Anfängen der Journalistik ausgehend wird nachgezeichnet, welche Konsequenzen eine kulturtheoretische Fundierung der Journalistik heute mit sich bringt. Nach einer differenzierten Erörterung des Kulturbegriffs wird am Feld der Genretheorie sichtbar gemacht, wie eine integrative Journalistik in neuer Weise aktuelle Entwicklungen des Journalismus in der Mediengesellschaft erkennen und analytisch fassen kann. Der Blick ist dabei nicht vorab normativ auf jene Felder des Journalismus fokussiert, denen im Sinne des „public knowledge-projects“ (Corner 1991) öffentliche Relevanz beigemessen wird, sondern weitet sich auf alle journalistischen Angebote und deren Bedeutung im Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung (vgl. Lünenborg 2005).
2 Historische Wurzeln: die Journalistik als integrative Disziplin Robert E. Prutz beschreibt in seiner „Geschichte des deutschen Journalismus“ bereits 1845 „Wesen und Bedeutung des Journalismus“ wie folgt: „Der Journalismus überhaupt, in seinen vielfachen Verzweigungen und der ergänzenden Mannigfaltigkeit seiner Organe, stellt sich als das Selbstgespräch dar, welches die Zeit über sich selbst führt. Er ist die tägliche Selbstkritik, welcher die Zeit ihren eigenen
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Inhalten unterwirft; das Tagebuch gleichsam, in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt.“ (Prutz 1845: 7)
Mit dieser Beschreibung löst sich Prutz vollständig von handelnden Akteuren im Prozess der massenmedialen Kommunikation und betrachtet gleichsam auf der Metaebene die gesellschaftliche Bedeutung dessen, was journalistisch veröffentlicht wird. Als Literaturwissenschaftler betont er, dass ästhetisch vom Journalismus nichts Bemerkenswertes zu erwarten sei. Den Wert sieht er in der Momentaufnahme, der jeweils aktuellen diskursiven Verhandlung gesellschaftlicher Positionen und Meinungen. Journalismus kontextualisiert aktuelle Phänomene, so ließe sich Prutz‘ Beschreibung zeitgenössisch übertragen. Paul Fechter – ebenfalls literaturwissenschaftlich orientiert – knüpft 1924 in seinem Essay über „Dichtung und Journalismus“ an diese funktionale Beschreibung von Journalismus an: „Der Journalismus wirkt nicht nur die Verbindung zwischen Geschehen und Geschichte, sondern auch ebenso zwischen Individuum und Allgemeinheit. Er ist nicht nur Medium der Umwandlung, in dem Ereignis zum Bericht wird, sondern zugleich wesentlichster Faktor des Zusammenbindens und Einfügens des Einzelnen in den großen Reigen des Allgemeinen, das unser aller Leben und Dasein trägt.“ (Fechter 1924: 210f.)
Journalismus als Verbindung zwischen Individuum und Allgemeinheit, Journalismus als Vermittler zwischen Politik und Publikum, Journalismus als historische und soziale Kontextuierung von Ereignissen – all das sind moderne Beschreibungen von Journalismus als einem gesellschaftlichen Funktionsbereich, der nur im Zusammenwirken mit anderen Bereichen und in seiner Wirksamkeit für die Gesamtgesellschaft angemessen beschrieben und verstanden werden kann. Um diese gesellschaftliche Bedeutung von Journalismus zu erfassen, ist eine Beschränkung auf die Kommunikatorperspektive, die heute oftmals dominiert, unzureichend. Otto Groth widmet in seinem Werk „Die Zeitung. System der Zeitungskunde (Journalistik)“ (1928-1930) dem Publikum und seinem Verhältnis zur Presse innerhalb der „Theorie der Journalistik“ ein eigenständiges Kapitel. Verständlich wird das vor dem Hintergrund seines Journalistikverständnisses. Er betrachtet die Journalistik als Kulturwissenschaft, die sich in der empirischen Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand sozialwissenschaftlicher Methoden bedient (vgl. Groth 1928: IX f.). Groth plädiert für inter- und transdisziplinäre Vorgehensweisen, die die Zeitungswissenschaft als Nutzerin soziologischer, historischer und ökonomischer Theorie und Methoden kennzeichnet. In der „Verbindung und gegenseitigen Durchdringung“ dieser Ansätze entstehe „das ‚besondere‘ Forschungsprinzip, dessen die Zeitungswissenschaft bedarf“ (Groth 1928: X). Er wendet sich
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damit ausdrücklich gegen zu simple Wirkungsannahmen der Presse und charakterisiert das Verhältnis von Presse und Kultur als Wechselwirkung: „Auch die heutige Zeitung ist zuerst als ‚Ausdruck des gesellschaftlichen Bewusstseins‘, das heißt als etwas Bedingtes und Bestimmtes zu betrachten und als solches zu verstehen, ehe ihre Wirkungen auf die heutigen Menschen und kulturellen Entwicklungen festgestellt werden können.“ (Groth 1928: XII)
Otto Groth liefert damit ein frühes Beispiel für ein prozessuales, kontextorientiertes Verständnis der Journalistik. Journalismus rückt dabei in seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Wirksamkeit in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Das Publikum – als Rezipient und Bedeutungszuweiser journalistischer Angebote – erweist sich dabei als integraler Bestandteil der Theoriebildung. Demgegenüber hat die Fortentwicklung der Journalistik als Teildisziplin der Kommunikations- und Medienwissenschaft eine deutliche Verengung vollzogen. Empirisch zumindest ist die Journalismusforschung hier auf das Feld der Kommunikatorforschung beschränkt. Einzelne Autoren begrenzen das Feld auch theoretisch in dieser Weise: „Die Journalistik ist demnach als Feld der Kommunikatorforschung anzusehen“ (Löffelholz 2001: 2). Eine solche Verengung vollzieht eine kulturorientierte Analyse des Journalismus nicht nach. Sie knüpft vielmehr an das frühe, integrative Verständnis der Journalistik an und entwickelt diese Forschungsperspektive weiter.
3 Journalismus als Kultur – Der Kulturbegriff der Cultural Studies Auch das Verständnis von Journalismus als Kultur bzw. als spezifischer „Kulturleistung“ (Langenbucher 1994) hat in der deutschen und deutschsprachigen Forschung eine lange Tradition, die mit der historischen Verbindung von Journalismus und Literatur im 18. und 19. Jahrhundert zu tun hat. In der aktuellen Forschung wird die kulturelle Leistung des Journalismus insbesondere von jenen Forschern hervorgehoben, die sich vornehmlich für subjektive, interpretative und feuilletonistische Formen des Journalismus interessieren (vgl. Reifarth/ Reus 2002; Haas 1999; Reus 1998; Langenbucher 1994). „Die Heimkehr des verlorenen Subjekts“ (Reifarth/Reus 2002: 2) erscheint ihnen in Reaktion auf die subjektverleugnende Systemtheorie als Ausgangspunkt zur Entdeckung der Kulturleistung Journalismus. Zwar weisen die Autoren eine Rückkehr zur „publizistischen Persönlichkeit“ des Emil Dovifat (1967) von sich, doch fällt eine Abgrenzung von diesem hochgradig subjektzentrierten Modell schwer. Reifarth und Reus (2002: 3) fordern die „Hinwendung zu Persönlichkeit und Kul-
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turleistung im Journalismus“, um Formen des Feuilletons angemessen analysieren und bewerten zu können. Langenbucher (1994: 7) will den „ästhetischen und intellektuellen Rang“ qualitätsvollen Journalismus bewerten und „selbstschöpferische Leistungen von unzweifelhaft identifizierbaren Individuen“ erkennbar machen, die als „journalistischer Kanon“ sichtbar werden. Auch Haas (1999) greift auf den Begriff des Kanons zurück, wenn er Formen des „empirischen Journalismus“ analysiert. Er rückt in historischer Analyse kanonisierte Werke ausgewählter Autoren in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Zusammengefasst postulieren diese Journalismusforscher: Die Kulturleistung des Journalismus offenbart sich in den anspruchsvollen Texten bedeutender Autorinnen und Autoren, deren journalistisches Schaffen über den Tageswert hinaus von gesellschaftlicher Bedeutung ist. Darin wird Journalismus „vergleichbar (mit) Literatur, Theater, Kunst, Philosophie und Wissenschaft“ (Langenbucher 1994: 7). In der Konzentration auf das (schreibende) Individuum und sein, von äußeren Rahmenbedingungen weitestgehend unabhängig entstehendes Werk haben diese Konzepte mit dem subjektzentrierten Ansatz der publizistischen Persönlichkeit hohe Übereinstimmung. Wenn auch nicht auf spezifische Persönlichkeitsmerkmale Bezug genommen wird, so erscheint das journalistisch tätige Subjekt und sein Schaffensprozess doch weitgehend unabhängig von äußeren Einflussfaktoren. Die kulturelle Leistung von Journalismus erweist sich hier als herausragende Qualitätsproduktion. Nicht zufällig beziehen sich alle genannten Autoren auf Formen des Printjournalismus. Das Bild des individuell schöpferischen Subjekts lässt sich für die journalistische Arbeit in elektronischen Medien, die in hohem Maße auf das Zusammenwirken zahlreicher am Produktionsprozess Beteiligter angewiesen sind, nur in Ausnahmefällen aufrecht erhalten. Das beschriebene Verständnis von „Journalismus als Kulturleistung“ unterscheidet sich von dem Kulturbegriff der Cultural Studies grundlegend. Nicht ausgewählte, einzigartige oder herausragende Einzeltexte werden als journalistische Kulturleistung begriffen, sondern Journalismus als Ganzes wird als Bestandteil von Populär- und Alltagskultur betrachtet. Während die oben genannten Journalismusforscher ausgewählte journalistische Texte aus der Masse der Alltagsproduktion herausgreifen und zum Bestandteil von Hochkultur erklären wollen, ohne sie damit „terminologisch zur ‚Literatur‘ adeln [zu müssen]“ (Langenbucher 1994: 7), betrachten die Cultural Studies die Gesamtheit journalistischer Textproduktion als zentralen Baustein populärkultureller Bedeutungsproduktion. Nicht eine Unterscheidung von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Texten, seriösen Medien und Boulevardmedien, arbeitsteilig produzierten und individuell gefertigten Produkten ist erforderlich zur Analyse des kulturellen Gehalts von Journalismus. „As the sense-making practice of modernity, journa-
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lism is the most important textual system in the world“ (Hartley 1996: 36). Journalismus in seiner Gesamtheit der zur Verfügung gestellten Interpretationsangebote liefert die zentrale Deutungsinstanz der modernen Gesellschaft. Journalismus ist die populäre Instanz zur Beschreibung und Erklärung der Welt. Dabei variiert der Grad an Popularität je nach Medium und Mediengattung beträchtlich. Während Texte in Printmedien, die mit ihrer Zielgruppenadressierung als Elitemedien gekennzeichnet werden können, der Hochkultur näher stehen, sind Texte in elektronischen Medien sowie in Boulevardmedien stärker populärkulturell verortet. Die Cultural Studies bieten damit das analytische Repertoire, um eine Ausweitung und Ausdifferenzierung unterschiedlicher Formen des Journalismus wahrzunehmen. Zugleich verschieben sie bewusst den Fokus von Qualitätsmedien hin zu Populärmedien, von Printmedien hin zu elektronischen Medien, von der Top-down-Kommunikation hin zum Peer-to-peer-Netzwerk (vgl. Uricchio 2004). Diese Verschiebung wird erreicht durch das zu Grunde legen eines Kulturbegriffs, der auf einem dialektischen Verhältnis von Struktur und Kultur basiert. Er reicht damit hinaus über das frühe anthropologische Verständnis von Raymond Williams (1971 [1958]) „culture as a whole way of life“. Diese Sichtweise betont, dass Kultur nicht als spezifische Leistung einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe („Hochkultur“) oder als in sich geschlossenes gesellschaftliches Subsystem betrachtet wird, sondern als Ausdruck von Lebensweisen. Eine strukturalistische Erweiterung findet der Begriff in der Auseinandersetzung mit E. P. Thompson, der Williams’ Begriff als zu wenig gesellschaftsgebunden kritisiert. Kultur in ihren spezifischen Ausprägungen ist zwangsläufig gebunden an gesellschaftliche Macht- und Besitzverhältnisse. Mit dem Verständnis von Kultur als einer historisch und kontextuell verorteten Lebensweise öffnen die Cultural Studies für die Medienforschung – und hier insbesondere die Journalismusforschung – das Analysefeld beachtlich. Medientexte und die Prozesse der Medienaneignung werden als alltagskulturelle Praktiken erkannt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht deshalb nicht primär die Informationstransportleistung, die journalistische Texte erbringen. Journalistische Qualität lässt sich damit nicht bemessen an der Vielzahl und Vollständigkeit von Fakten, die dem Publikum vermittelt werden. Statt dessen wird die Rezeption und Aneignung journalistischer Angebote als alltagsgebundene Praxis erkannt, die hochgradig an die spezifischen Rezeptionsbedingungen gebunden ist. Nachrichtenlektüre ist aus dieser Perspektive nicht primär (oder ausschließlich) durch die Suche nach relevanten Informationen geprägt, sondern wird erkannt als tägliches Ritual, als zeitliche Brücke vor Beginn der Lieblingssendung oder als gemeinsames Familienereignis (vgl. Neverla 1992).
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Die Wahrnehmung der angebotenen Nachrichtentexte variiert entsprechend hochgradig – die Suche nach Informationen wird zu einem unter zahlreichen anderen Motiven der Rezeption. Berücksichtigt man diese Faktoren systematisch und betrachtet sie nicht als Fehlleistungen, die abzustellen sind, so muss sich die Forschungsperspektive der Journalistik grundlegend wandeln. Nicht das Handeln der Kommunikatoren und ihre politische Handlungsintentionen, nicht die Qualität des Medientextes und seine Faktengenauigkeit sind die Forschungsfelder der Journalistik. In den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückt vielmehr der prozessuale Zusammenhang zwischen medialer Produktion, Medientext und Rezeptionshandeln des Publikums. Erst im Zusammenwirken dieser Felder gewinnt Journalismus Relevanz als Instanz der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Dieser prozessuale Zusammenhang ist in der Abbildung 1 dargestellt und knüpft an Richard Johnsons (1999, [1983]) „Kreislauf der Produktion, Zirkulation und Konsumption kultureller Produkte“ an. In dem von Klaus und Lünenborg (2004) entworfenen Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion wird „Cultural Citizenship“ zum Kontext jeglichen Medienhandeln – auf Seiten der Rezipienten ebenso wie der Produzierenden. „Cultural Citizenship“ beschreibt dabei jene Formen der Teilhabe an Gesellschaft und Gemeinschaft, die medial geprägt sind. Angesichts des immensen Bedeutungszuwachses, den Medien und mediale Kommunikation für die Ausgestaltung der aktuellen Gesellschaftsformation gewonnen haben, wird „Cultural Citizenship“ zu einer eigenständigen Dimension von Staatsbürgerschaft in der Mediengesellschaft. Neben „civil, social and political citizenship“, die Marshall (1992) bereits 1949 unterschieden hatte, rückt aktuell die Teilhabe an den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft auf eine vergleichbare Ebene. „Cultural Citizenship“ wird damit verstanden als „eine wesentliche Dimension von ‚Staatsbürgerschaft’ in der Mediengesellschaft. Sie umfasst all jene kulturellen Praktiken, die […] kompetente Teilhabe an den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft ermöglichen“ (Klaus/Lünenborg 2004: 200).
276 Abbildung:
Margreth Lünenborg „Cultural Citizenship“ als Kontext im Kreislauf medialer Bedeutungsproduktion
cultural citizenship Medientext
Produktion Rezeption
Quelle: Klaus/Lünenborg 2004
Eine solch integrativer Ansatz in der Journalistik hat vielfältige Konsequenzen. Traditionell der Erforschung journalistischer Produktion verpflichtet, erwächst für die Journalistik die Herausforderung, sich den spezifischen Rezeptionsweisen sowie dem Zusammenhang von Text und Rezeptionsprozess zuzuwenden. Zugleich sind damit Forschungsansätze der Cultural Studies, die sich bislang in besonderer Weise der Aneignung von Medientexten gewidmet haben, herausgefordert, sich den spezifischen Produktionsweisen zu widmen und in der Analyse journalistischer Kulturen, die strukturellen und ökonomischen Bedingungen des journalistischen und redaktionellen Produktionsprozesses in den Blick zu nehmen. Nachfolgend wird hier am Feld der journalistischen Genres exemplarisch erörtert, welche Konsequenzen eine kulturorientierte Perspektive der Journalistik mit sich bringt.
4 Genres als Sinnstrukturen – Die Hybridisierung des Fernsehjournalismus „‚Hast Du gestern die Reportage über Spanien im Fernsehen gesehen?‘ soll jemand voller Ernst seinen Freund gefragt haben, nachdem Schillers ‚Don Carlos‘ als Fernsehinszenierung gebracht worden war. Und voller Ernst sehen nicht wenige Leute die
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Nachrichten der ‚Tagesschau‘ und die Kommentare in ‚heute‘ als regierungsamtliche Meldungen an – ‚ansehen‘ im doppelten Sinne. So etwas kann geschehen, wenn die grundlegenden Merkmale unterschiedlicher publizistischer Gattungen unklar sind.“ (Roloff 1982: 5)
Eckart Klaus Roloff erkennt, dass Genrewissen und Genrekenntnisse im Rezeptionsprozess elementare Bedeutung haben. Für ihn gibt es eindeutig ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Rezeptionsweisen, je nachdem ob das Publikum in der Lage ist, der Intention der Kommunikatoren zu folgen oder eigene – falsche – Wege geht. Zum ‚richtigen‘ Verständnis journalistischer Texte ist seiner Meinung nach deshalb die möglichst detaillierte Kenntnis der journalistischen Produktionsregeln erforderlich. Mit dieser Auffassung steht er prototypisch für die Auseinandersetzung der Journalistik mit Genres und ihren Bedeutungen. Zugleich wird daran die Begrenztheit dieser Perspektive deutlich: Einerseits geht das Publikum eigenständig – und nicht zwangsläufig den Regeln des journalistischen Handwerks folgend – mit angebotenen Medientexten um. Andererseits – das macht Roloffs Hinweis auf den regierungsamtlichen Charakter öffentlich-rechtlicher Fernsehnachrichten deutlich – transportieren Medientexte Bedeutungen, die Prozesse der diskursiven Verhandlung von Sinn in der Produktion widerspiegeln und damit u. U. den Intentionen der Autoren zuwider laufen. So repräsentieren Nachrichten in ihrer Sprache, ihrem Stil und im Habitus der Journalisten eine spezifische Nähe zur politischen Macht, auch wenn sich die Journalisten selbst als kritischen Widerpart begreifen. Die ‚falsche‘ Rezeptionsweise des Publikums erweist sich hier also als entlarvende Lesart, die die strukturelle Verbundenheit von Journalismus und Politik sichtbar machen. Genre- und Gattungsbezeichnungen spielen in der journalistischen Produktion ebenso eine Rolle wie in der Distribution und der Rezeption von Medientexten. Mit den Bezeichnungen werden – wenn auch vage – Vorstellungen über den Text, seine Eigenschaften und seine Aussagemöglichkeiten verbunden. Die Bezeichnung erzeugt auf Seiten der Produzierenden wie der Rezipierenden Erwartungen, sie dient der Verständigung über den Bezugsrahmen. Genre- oder Gattungsbezeichnungen werden kommuniziert in Programmzeitschriften, in den Bezeichnungen von Organisationseinheiten, zwischen beteiligten Produktionsfirmen, in der Aus- und Fortbildung von Journalistinnen und Journalisten, bei der Ausschreibung und Verleihung von Preisen. Doch dieser vielfältige Gebrauch der Begriffe garantiert keineswegs eindeutige Verständigung über das, was gemeint ist. Das feste Set an Genres, das den Fernsehjournalismus bis zu den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts zu bestimmen schien, ist längst einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Das Interview wandelte sich zur Talkshow, die Talkshow entwickelte sich zum ‚Confrontainment‘ oder ‚Emotainment‘. Komposita wie Doku-Drama oder Doku-Soap verweisen auf
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Formen, die im Grenzbereich zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt sind. Eine journalistikwissenschaftliche Genretheorie muss diese aktuellen Entwicklungen berücksichtigen. Sie machen deutlich, dass Genres historisch gebundene Formen sind, die einem steten Wandel und beständiger Weiterentwicklung unterliegen. Funktionale Beschreibungen, die sich auf die Intentionen der Produzierenden beschränken, greifen zu kurz, wenn Genres in ihrer Bedeutung zur Strukturierung des gesamten Prozesses der Medienkommunikation erfasst werden sollen. In der Soziologie wird der Gattungsbegriff jenseits der Medienkommunikation zur Analyse und Beschreibung alltäglicher Kommunikation verwandt. Gattungen werden dabei begriffen „als im Sprechen erzeugte interaktive Handlungsmuster“ (Günthner/Knoblauch 1994: 697). Je bedeutsamer und weiter verbreitet bestimmte Kommunikationsformen sind, desto eher haben sich dafür Gattungen als „Bindeglieder zwischen Gesellschaft und Sprache“ (Günthner/ Knoblauch 1994: 697) herausgebildet. Der Prozess der Interaktion beinhaltet die ständige Wechselwirkung von Bedeutungszuweisung durch den/die Sprechenden und Interpretationsleistungen der Zuhörenden. Kommunikative Gattungen können damit niemals statisch, eindeutig, trennscharf sein: „Gattungen stellen historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme dar, deren – von Gattung zu Gattung unterschiedlich ausgeprägte – Funktion in der Bewältigung, Vermittlung und Tradierung intersubjektiver Erfahrungen der Lebenswelt besteht.“ (Günthner/Knoblauch 1994: 699, basierend auf Luckmann 1992)
Gattungen tragen dazu bei, Handlungen Sinn zu geben. Mit dem Verweis auf eine bekannte Gattung kann auf gesellschaftliche Wissensvorräte zurückgegriffen werden. Je eindeutiger die Regeln der Gattung sind, desto verlässlicher ist die Kommunikation dieser Sinnstrukturen. Die Teilnehmenden der Kommunikation nutzen einen spezifischen sozialen und kulturellen Kontext und stellen ihn zugleich im Prozess der Kommunikation selbst her (reflexiver Kontextbegriff). Gattungen sind damit zu begreifen als „Verbindungselement zwischen dem subjektiven Wissensvorrat und der sozialen Struktur einer Gesellschaft“ (Günthner/Knoblauch 1994: 716 basierend auf Luckmann 1992). Als Bestandteile des kommunikativen Haushaltes verbinden Gattungen zugleich Kultur und Sozialstruktur. Kommunikative Muster sind unauflöslich verbunden mit spezifischen sozialen Milieus und institutionellen Bereichen. Mit der Wahl der Sprache und der sprachlichen Muster, die sich in Gattungen verfestigen können, wird Zugehörigkeit bzw. Distanz zu sozialen Räumen signalisiert und hergestellt. In diesem Sinne sind Genrebezeichnungen und -zuweisungen nicht allein „subjektive Theorien“, wie es der radikale Konstruktivismus formuliert (vgl. Schmidt 1987; Rusch 1987), sondern Verhandlungsprozesse zwischen subjekti-
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ven Deutungen und gesellschaftlichen Deutungsmustern. Diese gesellschaftliche Überformung ist verbunden mit Macht- und Statuszuweisungen. Besonders intensiv ist die Auseinandersetzung um dieses Spannungsverhältnis von Macht, Status und Genre am Thema Gender geführt worden. Schneider (2001) macht auf die Parallelität zahlreicher Debatten in Genre- und Gendertheorien aufmerksam. Nach anfänglichem Essenzialismus, bei dem Geschlecht wie Genre als absolute, ontologische Kategorien gesetzt wurden, prägt heute ein Bewusstsein um die diskursive Konstruktion die Vorstellung von Geschlecht ebenso wie von Genre. Das Geschlecht wird relevant bei der Produktion, Auswahl, Nutzung und Aneignung unterschiedlicher Genres. Die kulturelle Konstruktion von Geschlecht als dualem Prinzip trägt eine unaufhebbare Bedeutungszuweisung in sich. Diese wird bei der Textproduktion in den Medientext eingeschrieben. In der Rezeption wird das Geschlecht durch Genrepräferenzen sowie spezifische Lesarten des Textes bedeutungsvoll. Dabei erscheint es zu simpel von ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Genres auszugehen, wie es Fiske (1989) bei der Analyse von Fernsehserien vorschlägt. Er knüpft damit an Modleskis (1982) Überlegungen zur geschlechtsgebundenen Rezeption von Soap-Operas an. Eine solche Zuweisung geht von einem ontologischen Geschlechterverständnis aus, das ein kontextloses Sein von Männern und Frauen annimmt. Löst man sich von diesem Konzept, so verliert damit Geschlecht in der Produktion und Rezeption von Genres nicht an Relevanz, der Zusammenhang wird jedoch komplizierter: „Gender identity, in short, is both multiple and partial, ambiguous and incoherent, permanently in process of being articulated, disarticulated, and rearticulated.“ (Ang/Hermes 1994: 126)
Kann dieser Prozess der Artikulation, Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht nur in seiner kontextuellen Gebundenheit beschrieben werden, so gilt das gleichermaßen für den Rezeptionsprozess. Ang und Hermes (1994: 127) plädieren deshalb für eine radikal kontextuierte „consumption analysis“, bei der die Medienrezeption (nur) als ein Bestandteil eines komplexen Interaktionsprozesses mit dem Medientext begriffen werden kann. Interpersonale Kommunikation und Massenkommunikation gehen Hand in Hand und beeinflussen sich gegenseitig. Mit dieser Erkenntnis gewinnt der oben skizzierte Genrebegriff als kommunikative Gattung neue Bedeutung. Durch seine Ausweitung auf allgemeine Formen des Sprechens beschränkt er sich nicht allein auf das Feld der (massen-)medialen Kommunikation. Seine grundsätzliche Offenheit ermöglicht die Beschreibung medialer Gattungen sowie kommunikativer Gattungen des Sprechens im Prozess der Rezeption und Aneignung von Medientexten. Diese fließende Grenze zwischen massenmedialer und interpersonaler Kommunikation
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zeigt sich auch zunehmend im Bereich der elektronischen Medien (Email-Kommunikation, Chatrooms, Newsgroups, Blogging, mobile Kommunikation). Zudem knüpfen im Bereich von Hörfunk und Fernsehen immer mehr Mediengattungen und Kommunikationsstile an Formen der Alltagskommunikation an und versuchen damit, die mediale Geprägtheit des Genres unsichtbar zu machen (z. B. dialogische Kommunikation als Doppelmoderation im Hörfunk; Gesprächsführung in Talkshows, die an Alltagskommunikation anknüpft). Mit der beschriebenen handlungstheoretischen Fundierung einer Genretheorie wird die interaktive, diskursive Verhandlung von Bedeutung zu Grunde gelegt. Fiske (1987) beschreibt diese Strukturierung nach Genres als „cultural practice“, bei der Rezeptionsgewohnheiten und -erwartungen des Publikums sowie die Kommunikationsabsichten der Produzierenden diskursiv verhandelt und abgeglichen werden. Mit Neale’s Beschreibung von Genres als „systems of orientations, expectations and coventions that circulate between industry, text and subject“ (zit. nach Holly 1993: 164) wird deutlich, dass das Zusammenspiel von Erwartungen und Regeln strukturbildend für individuelle und gesellschaftliche Handlungen sowie für professionelles Handeln im Mediensystem ist. Bemerkenswert dabei ist, dass die Regeln der Strukturbildung nicht vorab und unzweideutig existieren, sondern „erst von den Beteiligten hergestellt [werden], und zwar mit erheblicher Variation“ (Holly 1993: 164). Genres werden damit als historisch und kontextuell gebundene Strukturen erkannt. Sie bilden „einen historisch-pragmatischen Zusammenhang, in dem sich sowohl Produzenten als auch Rezipienten befinden“ (Hickethier 1996: 199). Eine eindeutige, abschließende und trennscharfe Unterscheidung kann daher nicht möglich sein. Dennoch funktioniert das Genresystem als System der Orientierung und Bedeutungsstrukturierung nur dann, wenn bis zu einem gewissen Grade Übereinstimmung oder zumindest Verständigung zwischen den Intentionen der Produzierenden und den Erwartungen und Interpretationen der Rezipierenden erzielt werden kann. Kilborn und Izod sprechen in diesem Zusammenhang von „generic verisimilitude“ (Kilborn/Izod 1997: 34f.) als einer spezifischen Form der Intertextualität. Das Erkennen von Ähnlichkeit zu anderen Texten und deren Genrekonventionen ist zentraler Bestandteil der Rezeption. Bei hochgradig standardisierten und konventionalisierten Formen wie bspw. Nachrichtensendungen kann deshalb von einer hohen Übereinstimmung der Erwartungen ausgegangen werden. In diesem Sinne kann auf die von zahlreichen Autoren hervorgehobene grundlegende Unterscheidung zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Genres verwiesen werden (vgl. Gehrau 2001: 265; Bleicher 1999: 144; Schmidt/Weischenberg 1994: 218; Corner 1991: 267). Für Nachrichten(-sendungen) werden weitgehende Übereinstimmungen zwischen Produzierenden und Rezipierenden angenommen. Nachrichtensendungen geben das Versprechen auf Aussagen über
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die Realität. Vom Publikum werden in diesem Genre auch genau solche Aussagen erwartet. Das heißt jedoch keineswegs, dass die Zuordnung von Medientexten zu fiktionalen oder non-fiktionalen Genres grundsätzlich anders verläuft als andere Differenzierungsmerkmale. Fakt oder Fiktion – auch diese Unterscheidung ist eine diskursiv erzielte, kontextabhängige Strukturierung. Genres als kommunikative Gattungen medialen wie nicht-medialen Handelns sind damit zu verstehen als bedeutungsgenerierende Strukturen, die im Prozess der Kommunikation interaktiv von allen an ihr Beteiligten geschaffen werden. Das Genre entscheidet maßgeblich über die Auswahl und die Erwartungen, die mit dieser Auswahl verbunden sind. Weitergehend finden auf der Grundlage der Genrezuweisung Beurteilungen und Bewertungen statt. Subjektive Qualitätskriterien sind unmittelbar mit den genrespezifischen Erwartungen verbunden. Rusch (1987: 255f.) erweitert diese Funktionen über den Rezeptionsprozess hinaus und benennt als zentrale Aufgaben von Mediengattungen • • • • • •
die Identifikation und Klassifikation von Medienprodukten, die Orientierung beim Verarbeiten und Verstehen der Medienprodukte sowie bei der Planung und Entwicklung neuer Angebote, die Selektion von Medienangeboten in der Produktion sowie der Rezeption, die Evaluation von Medienprodukten, die Organisation und Strukturierung von Medieninstitutionen, die Regulation der Erwartungen von Medienproduzenten und -konsumenten.
Ergänzenswert erscheint, dass diese Funktionen beitragen zur • •
Standardisierung der Produktion sowie Normierung von Produkten und Produkterwartungen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Genres interaktiv hergestellte Strukturierungen von Kommunikationsprozessen darstellen. Der Prozess der Interaktivität beinhaltet die Möglichkeit differierender Deutungen und Zuweisungen. Diskursiv wird auf dieser Grundlage verhandelt, welche Deutung letztlich gesellschaftlich dominant wird. Interaktive und diskursive Verständigungsprozesse sind stets kontextuell und historisch gebunden. Genres stellen deshalb kein abgeschlossenes Set von Darstellungsmustern dar, sondern eine kulturell und historisch geprägte Interpretationsfolie kommunikativer Prozesse. Dabei finden gegenläufige Entwicklungen gleichzeitig statt: Einerseits erfordern globale Distributions- und Vermarktungsstrategien eine hochgradige Standardisierung von Produkten, um Rezeption auch bei kulturell differenten
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Erfahrungs- und Kommunikationsräumen zu ermöglichen (vgl. Hallenberger 2002). Andererseits führt die Standardisierung medialer Angebote zu individuell und subkulturell differenzierten Leseweisen und Interpretationsmustern. Insbesondere altersspezifische Formen der Mediensozialisation führen dabei zu Neu- und Re-Interpretationen vorhandener Genres (vgl. Paus-Haase et al. 1999). Zugleich gibt das Entstehen neuer sowie das Verschwinden alter Genres Aufschluss über gesellschaftliche Diskurse. Dabei geht es nicht allein um das Auftreten neuer ‚Stoffe‘ und ‚Themen‘, wie es die Filmwissenschaft sieht (vgl. bspw. Hickethier 1996: 201), sondern um spezifische Erzähl- bzw. Mitteilungsweisen. Die in neuen Genres wie der Doku-Soap oder dem Doku-Drama gewählten unscharfen Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität antizipieren ein medienkompetentes Publikum, dem Erzählweisen bspw. der Soap-Opera so vertraut sind, dass es affektiv von diesen gefesselt sein kann und zugleich im Wissen um die mediale Konstruiertheit Distanz dazu entwickelt. Zugleich drücken vielfältige Angebote des Reality-TV ein verstärktes Interesse an Realitätsauseinandersetzung auch in Formen unterhaltsamer Fernsehtexte aus (vgl. Keppler 1994). Legt man dieses diskursive und interaktive Genreverständnis zu Grunde, so müssen die einschlägigen Beschreibungen in der Journalistik als hochgradig unzulänglich erscheinen. Die bislang in der Journalistik vorliegenden Auseinandersetzungen mit einer Systematik der Genres oder Darstellungsformen (vgl. bspw. La Roche 1999; Kurz et al. 2000; Weischenberg 1990; Haller 1995; Autorenkollektiv 1985) beantworten die Frage nach dem Nutzen einfach und eindeutig: Die Lehre der Darstellungsformen, Genres oder Gattungen dient dazu, angehenden Journalistinnen und Journalisten die Produktion dieser Textsorten zu erleichtern. Doch eine solche funktionale Antwort greift vor dem skizzierten handlungstheoretischen Hintergrund entschieden zu kurz (vgl. Lünenborg 2005: 117-123). Bei aller Unterschiedlichkeit und systematischen Unschärfe, die sich in den verschiedenen journalistikwissenschaftlichen Arbeiten finden lassen, bleiben einige Charakteristika verbindend: •
•
In der journalistikwissenschaftlichen Literatur werden Genres als Textsorten beschrieben und charakterisiert. Die Systematik ist damit der textbasierten Form der literatur- und filmwissenschaftlichen Typologie vergleichbar. Genres beschreiben die Funktion von Texten intentional. Von der Absicht des Autors wird auf die Funktion und Aussageleistung des Textes geschlossen. Die Zentrierung auf den Kommunikator bleibt damit auch für die journalistikwissenschaftliche Analyse der Darstellungsformen strukturgebend.
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•
•
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Das Gros der Forschung legt ein festes Ensemble von Darstellungsformen zu Grunde. Genres werden damit nicht als historisch und kulturell gebunden und wandelbar beschrieben, sondern als statisches Set. Die Systematik der Darstellungsformen in der Journalistik greift – ohne dies explizit zu benennen – auf Erscheinungen des Printjournalismus zurück und erkennt allenfalls Variationen in elektronischen Medien. Die Funktion der Systematisierung besteht übereinstimmend in der Anleitung für das journalistische Handeln.
Mit dieser funktionalen Beschreibung eines festen Sets von Darstellungsformen lassen sich aktuelle Entwicklungen im Journalismus, speziell im Fernsehjournalismus nicht angemessen beschreiben und analytisch fassen. Im Zusammenhang zunehmender Entdifferenzierungsprozesse, bei denen Journalismus von Formen der PR und der Propaganda nicht trennscharf zu unterscheiden ist, sind auch Formen der Fernsehunterhaltung und des Fernsehjournalismus oftmals unauflöslich verbunden. Prozesse der Hybridisierung, Entgrenzung und Vermischung sind zentrale Charakteristika aktueller Angebote und Entwicklungen im Fernsehen. Diese Entwicklung wird im Folgenden in einer knappen Übersicht über zentrale dokumentarische Genres nachgezeichnet. Privates und Öffentliches (vgl. Herrmann/Lünenborg 2001), Politisches und Populäres (vgl. Dörner 2000, 2001), Unterhaltsames und Seriöses – solch historisch gewachsene Dichotomien finden sich in aktuellen Fernsehangeboten Seite an Seite. Sie sind miteinander verwoben, nehmen aufeinander Bezug, bedingen sich gegenseitig. Wurde gesellschaftliche Entwicklung in systemtheoretischer Perspektive als fortschreitender Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung beschrieben, so sind aktuelle Entwicklungen durch Prozesse der Entdifferenzierung gekennzeichnet. Die Logik eines unumkehrbaren Differenzierungsprozesses ist damit grundlegend in Frage gestellt. Solche Entdifferenzierungsprozesse finden sich auch auf der Ebene der Genres und Formate. Hickethier (1996: 192) spricht von Entgrenzungen der Formen und Erzählweisen, der Genres und der Programme. Zur Entgrenzung der Erzählweisen zählt die bewusste Vermischung dokumentarischer und fiktionaler Elemente im Doku-Drama, die Entgrenzung der Genres zeigt sich in Hybridgenres (wie Doku-Soap oder Real-People-Show), die der Programme wird in Angeboten wie dem Infotainment oder dem Edutainment sichtbar (vgl. Wittwen 1995). Dass diese Entgrenzungen über die Medienwirklichkeit hinausgehende Folgen haben, zeigt Dörner (2001) mit dem Konzept des Politainment auf. Politik und mediale Kommunikation gehen dabei eine symbiotische Verbindung ein, die sich nicht mehr für die Unterscheidung zwischen faktischer und fiktionaler Medienkommunikation interessiert.
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Fernsehjournalismus ist in diesem Prozess der Entdifferenzierung der Funktionen von Fernsehen eingebunden. Aktuelle Charakterisierungen von Fernsehjournalismus können also nicht losgelöst von den Besonderheiten des Mediums Fernsehen erfolgen. Damit leiden die in der Journalistik diskutierten Systematiken journalistischer Darstellungsformen, die allesamt an Produkten des Printjournalismus orientiert sind, an einem nicht behebbaren Mangel. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit den Spezifika des Mediums Fernsehen – seiner Zeitstruktur, seiner Ästhetik und Erzählweise –, um angemessene Aussagen über Formen des Fernsehjournalismus zu machen. Folgt man darüber hinaus der Ansicht, dass die Unterscheidung zwischen faktischer und fiktionaler Medienkommunikation vor allem im Fernsehen an Relevanz verloren hat, so stellt sich diese Schlussfolgerung noch radikaler. Die Entdifferenzierung im Fernsehen führt zur tendenziellen Ununterscheidbarkeit zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Medienangeboten. Journalismus nimmt damit keine Sonderstellung im Ensemble medialer Präsentationsformen ein. Damit wird keine vollständige Auflösung der Grenze zwischen faktischen und fiktionalen Medienangeboten angenommen. So bleiben bspw. Fernsehnachrichten als hochgradig standardisiertes und formatiertes Genres der Fernsehinformation markant unterscheidbar. Es wächst jedoch die Zahl der Genres, die bewusst im Grenzbereich von Fakt und Fiktion angesiedelt sind. Handelt es sich soweit um Phänomene der Entgrenzung auf textueller Ebene, so erfordert die Integration der Publikumsperspektive in ein genretheoretisches Konzept einen weiter gehenden Schritt: (Auch) die Zuweisung eines Medientextes zum faktischen oder fiktionalen Angebot ist ein Bestandteil des Aushandlungsprozesses in der Rezeption. Damit können Genres nicht a priori als faktisch oder fiktional gesetzt werden, sondern werden im Sinne einer handlungstheoretischen Fundierung in Produktion bzw. Rezeption mit den entsprechenden kontextgebundenen Deutungsangeboten versehen.
Formen des Zeigens
Programmformen Live-Übertragung Reportage
Genre
Formen des Argumentierens -----------------------------------Formen des Spiels
Kommentar Glosse Kritik/Rezension Sportübertragung Factual Entertainment
Mischung von Erzählen, Zeigen und Spiel enthält performative Anteile Mischung von Erzählen, Argumentieren und Spiel
Mischung von Berichten und Erzählen
Gerichtsshow, Real-Life-Soap, Quiz- Mischung von Zeigen, Show Erzählen, Spiel
Late-Night-Talk politische Talksendung
Daily Talk, Prime-Time Talk,
Spezifika und Hybridstrukturen Mischung von Zeigen und Berichten
Quelle: Systematisierung Lünenborg anknüpfend an Bleicher 1999; grau unterlegte Felder bezeichnen Genres im Grenzbereich zwischen Fakt und Fiktion
Performativer Modus
Informativer Modus
Talkshow Formen des Erzählens ------------------------------------
Doku-Soap
Langzeit-Beobachtung
Aufsager Fachmagazin, politisches Magazin Infotainment-Magazin, Newsshow Doku-Drama
Live-Reportage, Live-Schaltung
Einzelausprägungen
Tabelle:
Nachricht ------------------------------------ Bericht Magazin Informativer Modus Infotainment Dokumentation/Feature Formen des Reality TV Berichtens Porträt -----------------------------------Moderation Serielle Dokumentation Narrativer Modus
Kommunikativer Modus
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Journalistische Genres im Fernsehen
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Die oben stehende Tabelle bietet eine Übersicht, um die Vielzahl hybrider Fernsehgenres und -formate innerhalb des journalistischen Angebotsspektrums systematisch zu erfassen. Ausgegangen wird dabei von den vier Formen der Fernsehnarration, die Bleicher (1999) unterschieden hat: Formen des Zeigens, des Berichtens, des Erzählens und des Spiels. In all diesen Formen tauchen faktische ebenso wie fiktionale Formen auf. Ergänzt werden die Formen des Argumentierens, die aus der Tradition des Printjournalismus auch Eingang in den Fernsehjournalismus genommen haben, wenngleich es sich bei diesen Formen wie dem Kommentar, der Glosse oder der Rezension um die am wenigsten fernsehspezifisch entwickelten Formen handelt. Diese Formen der Fernsehnarration treten in Verbindung mit verschiedenen kommunikativen Modi, die Journalismus übernimmt. Nur ein begrenzter Teil journalistischer Formen wählt den informativen Kommunikationsmodus. Daneben spielen der narrative sowie der performative Modus zunehmend starke Rollen (vgl. Ekström 2000). Sichtbar wird daran, dass sich die Funktion und Bedeutung von Journalismus nur teilweise damit beschreiben lässt, Informationen zu transportieren. Daneben übernimmt Journalismus die Aufgabe zu unterhalten, Geschichten zu erzählen, Mythen zu aktualisieren, Angebote zur Teilhabe zu liefern. Entlang der Kommunikationsmodi und Programmformen lassen sich die unterschiedlichen Genres von der Nachricht bis zu Formen des factual entertainment unterscheiden. Aus der handlungstheoretischen Perspektive heraus wird die Zuweisung von Genres als interaktive Entscheidungsprozesse zwischen Produktion und Rezeption erkannt. Damit lässt sich das Repertoire journalistischer Formen nicht eindeutig und statisch bestimmen. Die Abgrenzung zwischen journalistischen und nicht-journalistischen Fernsehangeboten muss unscharf ausfallen, da sie nicht allein intentional von Seiten der Produzierenden getroffen werden kann. Sie wird im Prozess der Rezeption vom Publikum aktiv vorgenommen. Ausgehend von eigenen Genrekenntnissen, aktuellen Erwartungen und dem präsentierten Medientext wird Sinn konstituiert und Bedeutung zugewiesen. Es ist also das Publikum in seiner sozialen und kulturellen Kontextuierung, das die Grenzen im Prozess der Entdifferenzierung von Journalismus täglich neu bestimmt.
4 Fazit Journalismus liefert als „signifying system“ (Hartley 1996) in der gesamten Vielfalt seiner Ausprägungen fortlaufend Deutungsentwürfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit diesen Deutungsentwürfen, die sich in stetem Widerstreit
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mit Entwürfen anderer Bestandteile des medialen Ensembles wie der PR, der Propaganda oder fiktionalen Medienangeboten befinden, erhält die Gesellschaft Angebote zur diskursiven Selbstverständigung. Journalismus kann dabei keineswegs unumstritten den Anspruch erheben, exklusiv Aussagen über gesellschaftliche Wirklichkeit zu treffen. Den Status, unumstritten zuverlässige, wahrhaftige und/oder authentische Aussagen über gesellschaftliche Wirklichkeit zu ermöglichen, hat Journalismus längst verloren. Aus einer kulturorientierten Perspektive ist diese Entwicklung keineswegs nur als gesellschaftlicher Bedeutungs- und Funktionsverlust zu bewerten. Eine solche Bewertung ergibt sich dann, wenn die Perspektive der Kommunikatoren zum ausschließlichen Maßstab gemacht wird. Die Prozesse der Entdifferenzierung und Hybridisierung von Journalismus gehen für die Journalistinnen und Journalisten selbst tatsächlich mit einem Verlust an Prestige, Status und Nähe zu den wirtschaftlichen und politischen Eliten einher. Anders sieht diese Entwicklung aus der Sicht der Rezipierenden aus. Ihre Genre- und Medienkompetenz erst schafft die Voraussetzungen für die Prozesse der Entdifferenzierung und Grenzauflösung. Nur mit einem kompetenten Publikum ist es möglich, die spezifischen Potenziale und Angebote innerhalb des medialen Ensembles als kulturelle Leistungen täglich neu zu bestimmen und dabei Journalismus als das kenntlich zu machen, was er ist – eine spezifische, kulturell geformte Erzählung von Wirklichkeit.
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Zugehörigkeit und Teilhabe von Migranten in der Mediengesellschaft: Neue Fernsehkanäle und die alte Aufgabe Integration Oliver Zöllner
1 Einleitung Das Thema Migration steht nicht nur in Mitteleuropa auf der Tagesordnung. Wanderungsbewegungen verändern Bevölkerungszusammensetzungen und mit ihnen bisherige Modi des Zusammenlebens in vielen Weltgegenden. Dies stellt Gesellschaften und ihre Funktionssysteme, darunter Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, vor neue Aufgaben. Medien etwa sollen nicht nur gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln (via Journalismus), sondern auch, wie manche Politiker fordern, eine aktive Rolle in der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse wie z. B. der Integration von Migranten einnehmen. Der folgende Beitrag skizziert anhand eines Fallbeispiels aus Deutschland, welche gesellschaftlichen Konzepte mit solchen Forderungen verbunden sind und welche bisherigen kollektiven Identitäten davon berührt werden. So erscheinen bisherige Begründungen des Nationalstaats in Teilen zunehmend obsolet und werden von neueren Formen von Bürgerschaft und Zugehörigkeit überlagert. Der Beitrag wird argumentieren, dass mittel- und langfristig neue Narrationen von nationaler Identität in Deutschland aufkommen können, in deren Zuge die Aushandlung neuer, teils auch multipler oder flexibler Loyalitäten und Anbindungen vorstellbar wird, die traditionelle Definitionen und Kategorien von „Deutschsein“ hinter sich lassen oder weiter entwickeln. Im Einzelnen wird der folgende Beitrag nach der Vorstellung eines Fallbeispiels aus der Fernsehbranche die angesprochenen Analyseebenen von „Migrantenfernsehen“ sortieren und erste Thesen entwickeln. Anschließend stellt der Artikel das gesellschaftliche Schlüsselkonzept der „Integration“ vor und verknüpft es mit dem gewählten Fallbeispiel. Weiter führende Fragen nach kollektiver Identität und Zugehörigkeit in der Mediengesellschaft werden anhand einer
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Diskussion um „Cultural Citizenship“ aufgegriffen, die an Vorstellungen von T. H. Marshall (1950/1992) anknüpft. Daraus ergeben sich Überlegungen zum diskursiven Konzept der Nation und ihren möglichen Umbrüchen und Neudefinitionen in eben jener Mediengesellschaft. Die Schlussfolgerungen zeigen Anknüpfungspunkte für empirische Forschung und Theoriebildung auf.
2 Fallbeispiel Im Juni 2004 fand der Vorschlag eines Ministerpräsidenten Erwähnung in einigen Artikeln in den Medienressorts der größeren Tageszeitungen. Bremens Bürgermeister Henning Scherf hatte vorgeschlagen, ein „deutsch-türkisches Integrationsfernsehen“ einzurichten. „[D]ie Diskussion um das Zuwanderungsgesetz habe gezeigt, dass die Integration dringend verbessert werden müsse. ‚Es gibt eine integrationswillige Minderheit, die Mangels Angebot nur ihre türkischen Heimatsender über Satellit gucken‘, sagte Scherf“ (zitiert nach Grassmann 2004).
Was in der Argumentation des seinerzeitigen bremischen Bürgermeisters aufscheint, ist die Furcht vor einer „medialen Segregation“, in der „ethnische Minderheiten im Wesentlichen Ethnomedien nutzen und dadurch ethnische Teilöffentlichkeiten existieren, die gegenüber der Aufnahmegesellschaft und ihrer dominanten Öffentlichkeit abgeschottet sind“ (Geißler 2005c: 72). Dies scheint in Deutschland nur eingeschränkt der Fall zu sein, wie Studien1 belegen, aber zumindest lässt sich konstatieren, dass das „Verwurzeln der türkischen Diaspora“ in Deutschland „nicht schmerzlos“, also keineswegs ohne Probleme vor sich ging (Mandel 2005: 59): „Für einige beinhaltete dieser Prozess den Verlust der Muttersprache, besonders für die Generationen, die in Deutschland geboren sind. Damit einher ging auch die radikale Infragestellung der eigenen Bindung zum Land der Vorfahren, parallel zur verführerischen Erkundung des neuen, deutschen Heimatlands.“ (ebd.)
Scherf wies darauf hin, dass auch die rund 7,5 Millionen in Deutschland lebenden Ausländer2 Fernsehgebühren zahlten und sie im Gegenzug passende Angebote erwarten dürften. Der Politiker skizzierte ein zwei- bis dreistündiges zweisprachiges Programm, das von den Sendern Phoenix oder 3sat ausgestrahlt werden könne. Er wolle sich auf der Konferenzen der Ministerpräsidenten über den neuen Gebührenstaatsvertrag in der Folgewoche für dieses Projekt einsetzen, das nach seinen Vorstellungen etwa 20 bis 25 Millionen Euro kosten solle. Nachdem auch der WDR-Intendant Fritz Pleitgen die Idee gutgeheißen hatte (mit der Option, auch andere Migrantengruppen als lediglich türkischstämmige
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im Programm zu berücksichtigen), wurde das Projekt „Integrationsfernsehen“ ARD-intern beraten und – gegen Ende 2004 schließlich vorerst zu den Akten gelegt: Die monatliche Teilnehmergebühr war nach heftigen medienpolitischen Debatten nur um 0,88 Euro statt, wie von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gefordert, um 1,09 Euro erhöht worden. In der Summe ließ diese Erhöhung wohl keinen Raum für Sonderprojekte. Das rein pekuniär begründete vorläufige Ende einer Idee, deren Negativfolie eindeutig die oben beschriebene „mediale Segregation“ ethnischer Minderheiten in Deutschland ist. Bislang scheint dieses Land im Fernsehsektor stillschweigend auf die Leitidee einer „assimilativen medialen Integration“ (Geißler 2005c: 73) zu setzen, in dem Programminhalte speziell für Migranten3 nur in wenigen randständigen Sendeinseln angeboten werden und die medialen Bedürfnisse von Einwanderern ansonsten keine Rolle spielen.4 Im Inland produzierte „Ethnosender“ fehlten bisher, jedenfalls im Fernsehsektor. Realisiert wurde dagegen wenige Monate nach der Debatte um den ARD-„Integrationskanal“ eine Planung für dieselbe Zielgruppe. Anfang Januar 2005 begann der erste deutsche Fernsehsender in türkischer Sprache seine Ausstrahlungen – von einem Sendestudio in Duisburg und mit einer Lizenz der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien. Zu empfangen ist „Kanal Avrupa“ per Satellitenschüssel. Das Programm hat laut Presseberichten rund 20 Mitarbeiter. „Über die Bildschirme flimmern rund um die Uhr Talkshows sowie Musik-, Wissensund Ratgebersendungen für Türken, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern leben.[...] ‚Unser Sender will vor allem das Leben der Türken in Deutschland zeigen‘, sagt Ali Pasa Akbas, Inhaber und Geschäftsführer. Dieses Leben sei eben anders und nicht zu vergleichen mit der Situation der Deutschen oder dem Leben in der Türkei.[...] ‚Diese Menschen sind heimatlos. Wir wollen ihre Medienheimat sein‘, sagt Akbas, der 700 000 Euro in den Aufbau des Senders gesteckt hat.“ (zitiert nach Kamisli 2005)
Zwei Programme, zwei unterschiedliche Konzepte. Was „Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ oberflächlich eint, ist der Fokus auf eine mediale Vermittlung von „Heimat“. Auf der einen Seite das (vorerst ins Archiv verbannte) öffentlich-rechtliche Angebot, das in Deutschland lebende Türken (bzw. eine „integrationswillige Minderheit“ unter ihnen) davon abbringen soll, lediglich Sender aus der Türkei zu empfangen. Auf der anderen Seite ein kommerzielles Unternehmen, das mit Deutschtürken vor und hinter der Kamera versucht, das Leben dieser Zielgruppe in Deutschland nachzuempfinden. Die Genese dieser beiden Fernsehprogramme just um den Zeitpunkt herum, da das deutsche Parlament am 1. Juli 2004 ein „Zuwanderungsgesetz“ beschließt und sich damit erstmals offiziell dazu bekennt, ein Einwanderungsland zu sein, ist es wert, auch aus kommunikationswissenschaftlicher Perspek-
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tive hinterfragt zu werden.5 Welche Aufgaben sollen Migrantenmedien dieser Art lösen, welchen gesellschaftlichen Leitbildern folgen sie und welche Konsequenzen sind hieraus für interkulturelle Kommunikation zu ziehen?
3 Theoretische Einordnung und Thesenbildung Bereits eine grobe Durchsicht der in den zitierten Zeitungsartikeln aufgeführten Programmkonzepte bietet erste Ansätze für eine wissenschaftliche Sondierung des Forschungsgegenstandes „Migrantenfernsehen“ in theoretischer Hinsicht. Erkennen lassen sich Anknüpfungspunkte von Theorien auf drei Bezugsebenen (vgl. Abb. 1). In einer Mikroperspektive sprechen die Konzepte von ARD-„Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ Prozesse der individuellen Rezeption (Nutzung und Verarbeitung der Sendeinhalte) auf Seiten der in der Zukunft erhofften Zuschauer an, etwa auch mit Blick auf eine Verbesserung von individuellen Lebenssituationen. In einer Mesoperspektive sind (anstalts-)organisationsinterne Prozesse der inhaltlichen Programmierung (Programmplanung und -produktion) sowie der Finanzierung, Akzeptanzmessung und Evaluation des Angebots zu verorten, ebenso Prozesse der kollektiven Rezeption und Aneignung des Programms bei Zielgruppen, die hier als gesellschaftliche Subgruppen oder Teilöffentlichkeiten gesehen werden sollen; auch deren spezifische kollektive Identitätsbildungen (als Migranten) sind hier einzuordnen. Prozesse dieser Art sind zum Teil allerdings bereits verwoben mit Handlungen auf einer gesamtgesellschaftlich orientierten Ebene. In einer solchen Makroperspektive verweisen „Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ auf Prozesse des Aushandelns von Identitäten (hier: nationalen und subnationalen kulturellen Identitäten), von Bürgerschaft und Zugehörigkeit(en), von gesellschaftlichen Leitmotiven und Konzeptionen des Zusammenlebens („Integration“ vs. „Segregation“, „Inklusion“ vs. „Exklusion“, „Diversität“ vs. „Assimilation“ etc.). All dies sind durchaus konfliktäre Prozesse, in denen „Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ offenbar funktionale Rollen einnehmen sollen, folgt man den Äußerungen ihrer Initiatoren. Die Definition dieser Prozesse ist eingebettet in gesellschaftliche Diskurse, die Macht und Machtinteressen widerspiegeln. Folgende Thesen seien hier aufgestellt: Der geplante ARD-„Integrationskanal“ kann als Instrument zur Definition eines bestimmten Modells von gesellschaftlicher Partizipation von Migrantengruppen in Deutschland gesehen werden; dem Programm kann (vorerst hypothetisch) die Aufgabe zugeschrieben werden, bestimmte Bilder der deutschen Gesellschaft, von „Deutschsein“ und „Dabeisein“ zu vermitteln; es bildet einen Diskurs über individuelle und kollek-
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tive nationale wie kulturelle Identität(en) und kann in diesem Zusammenhang Ausdruck einer Machtbeziehung oder Hegemonie sein. Abbildung 1: Theoretische Anknüpfungsebenen an Fernsehprogramme von Migranten Makroperspektive: - Gesellschaft
Identitätsbildung, Teilhabe, Bürgerschaft, Diskurs, Macht
„Migrantenfernsehen“, „Ethnomedien“ Mesoperspektive: - Veranstalter: Medienorganisationen - Teilöffentlichkeiten: Zielgruppen
Produktion/Programmierung, Organisation, Evaluation, Akzeptanzmessung; Identitätsbildung
Mikroperspektive: - Inhalte, Rezipienten
individuelle Rezeption, Aneignung
Anders zwar, aber nicht unähnlich scheint der in Verantwortung von Migranten produzierte „Kanal Avrupa“ ausgerichtet zu sein, der „allen Deutschländern6 ein Forum bieten“ und das Leben dieser Zielgruppe in Deutschland abbilden will (Kamisli 2005). Auch hier können, wie beim „Integrationskanal“, Diskurse um Definitionsmacht und Interpretationshoheit am Werk sein.
4 Das Schlüsselkonzept der „Integration“ Der Begriff der „Integration“ ist längst zum – jedenfalls im öffentlichen Sprachgebrauch – weitgehend unreflektierten Schlagwort geworden. Im Oktober/ November 2005 tauchte er erneut auf, als in mehreren französischen GroßstadtVororten Jugendliche mit Migrationshintergrund mit großer Zerstörungswut randalierten und ein mögliches Überschwappen dieser Gewalt auch etwa auf Deutschland diskutiert wurde. Der Begriff taucht allerdings in vielerlei Zusammenhängen auf. In seiner Darstellung der Funktionen von Unterhaltungsöffent-
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lichkeit beschreibt Andreas Dörner (2001: 97ff.) auch deren Integrationsfunktion. „Unterhaltungsöffentlichkeit eröffnet gemeinsame Kommunikationsräume, steuert und bündelt Aufmerksamkeiten, bietet Schnittstellen für gemeinsame Anschlußkommunikation, stiftet orientierungsfreundliche öffentliche Meinungen, stellt politisch-kulturelle Traditionsbestände auf Dauer und bietet Modelle von individueller und kollektiver Identität an.“ (Dörner 2001: 108)
Auch wenn ARD-„Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ nicht als rein unterhaltende Angebote angelegt sind, lässt sich eine Verbindung zur von Dörner postulierten Integrationsfunktion von Unterhaltungskommunikation durchaus bilden. Wesentlich für soziale Integration ist der Aspekt eines gemeinsamen Kommunikationsvorrats, gemeinsam geteilter Bedeutungen, mithin eines Wissens der Teile einer Gesellschaft übereinander. Horst Pöttker betont die auf Emile Durkheim zurückgehende Zentralität dieser Erkenntnis. Es scheint ihm „das Wissen von Mehrheitsbevölkerung und ethnischen Minderheiten übereinander besonders aufschlussreich“ als Indikator für Integration, zumal mediale Integration (Pöttker 2005: 40). Er definiert: „Integration ist der erwünschte soziale Prozess, der die Teile einer Gesellschaft (Individuen, Institutionen, Gruppen) unter Mitwirkung ihres Bewusstseins mehr oder weniger stark zum Ganzen dieser Gesellschaft verbindet, wobei sowohl Ähnlichkeit und Einigkeit der Teile als auch Verschiedenheit und Auseinandersetzung zwischen ihnen in einem zu optimierenden Verhältnis von Bedeutung sind.“ (Pöttker 2005: 40f., dort kursiv)
Rainer Geißler stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass in Deutschland – anders als etwa in Kanada – „monokulturelle Tendenzen“ in der Integration von ethnischen Minderheiten „dominieren“ (Geißler 2005b: 53), exemplifiziert etwa an der Assimilationsthese von Hartmut Esser, die Migranten letztlich nur soziale Teilhabechancen zugesteht, wenn diese sich die Werte der Aufnahmekultur aneignen (Geißler 2005b: 54ff.).7 Als Gegenposition erscheint die Inklusionsthese, mehrfach aufgestellt in Publikationen des Zentrums für Türkeistudien, derzufolge Migranten hohe Teilhabechancen bei gleichzeitiger Beibehaltung der Werte ihrer Herkunftskultur haben können (ebd.). Geißlers Kritik an solchen – theoretisch und empirisch oft nur unzureichend begründeten – meist normativen Analyseansätzen lässt ihn auf das Fallbeispiel Kanada blicken, ein Land, in dem das Prinzip von „Gleichheit in Verschiedenheit“ (unity within diversity) zum Leitmotiv der gesellschaftlichen Integrationsdebatte wurde (ebd.: 56ff.). Als wesentliches Merkmal dieses Theorems (das in all seinen Einzelheiten hier nicht repliziert werden soll) ist festzuhalten, dass es „nicht nur für ethnische Minderheiten“ gilt, „sondern auch für die Angehörigen der Mehrheitskultur“ (ebd.: 58). Auch letztere sollen also befähigt sein bzw. werden, sich dem Anderen oder Andersartigen zu öffnen und mit ihm „gleichwertig zu kommunizieren und zu
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interagieren“ (ebd.). Dies steht für einen wechselseitigen Prozess des Aushandelns von Identitäten, bei dem folglich nicht ausschließlich einer der beteiligten Partner sich dem anderen anpassen soll, jener seine Wertvorstellungen, Sitten, Rituale etc. dagegen nicht verändern braucht. Geißler nennt diesen Ansatz „interkulturelle Integration“ – in dezidierter Abgrenzung zum ideologisch vorbelasteten Begriff des Multikulturalismus übrigens. Das Konzept der „interkulturellen Integration“ sei geeignet, das in Deutschland verbreitete „dichotome Denken“ in den beiden Polen assimilative Integration versus Pluralismus/Segmentation/Segregation zu überwinden und zu erweitern – hin zu einer „Trichotomie“, die interkulturelle Integration als sinnvollen Mittelweg des Miteinanders in einer multiethnischen Gesellschaft anbietet. Dieser interaktionistische Integrationsansatz bedürfe allerdings der „aktiven Akzeptanz“ (und ihrer Förderung) der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und Interessenvertreter als Grundvoraussetzung für ein Gelingen der Integration (vgl. Geißler 2005b: 63f.). Alle Beteiligten werden demnach voneinander lernen müssen. „Interkulturelle Integration“ bedeutet Veränderung, auch in der Aufnahmegesellschaft. Kollektive Identitäten sind in derartigen Prozessen einem Wandel unterworfen.
5 Integration und Zugehörigkeit in der Mediengesellschaft „Film and television media play a powerful role in the construction of collective memories and identities“ (Morley/Robins 1995: 91). Ihren Zielgruppen könnten ARD-„Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ demnach nicht nur vordergründig Unterhaltung, praktische Lebenshilfe und dergleichen anbieten, sondern – längerfristig angelegt und eher ‚subkutan‘ – eine oder mehrere soziale Identitäten. Identitäten sind dabei als Ausdruck von Zugehörigkeiten zu verstehen. „Medien und spezifische Formen ihrer Nutzung sind unverzichtbare Bestandteile zur Konstituierung von Identität(en)“ (Klaus/Lünenborg 2004: 193), womit Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg zugleich einen Hinweis auf die Integrationsleistung von Medien geben. In diesem Zusammenhang führen Klaus und Lünenborg mit Rückgriff auf Thomas Marshalls mehrschichtiges Konzept von bürgerlicher, politischer und sozialer Bürgerschaft (citizenship) (Marshall 1992) eine ergänzende und auch integrative, zwischen den drei Vorbildmodellen vermittelnde neue Dimension von Bürgerschaft ein: die „Cultural Citizenship“. Mit dieser theoretischen Weiterentwicklung lassen sich „unter Bezug auf theoretische Konzepte der Cultural Studies Diskurse zur Integrationsleistung von Medien“ zusammenführen (Klaus/ Lünenborg 2004: 193). „Bürgerschaft“ im Sinne Marshalls geht also weit über
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die deutsche und eher formale Vorstellung von „Staatsbürgerschaft“ hinaus. „Citizenship [...] bedeutet Zugehörigkeit zu wirtschaftlich, sozial, kulturell und räumlich verorteten Gemeinschaften“ (ebd.: 196). Sie ist ein umfassendes Diskurssystem der Aushandlung von Zugehörigkeiten zu/in einer Gesellschaft.8 Cultural Citizenship erscheint als Kontext im Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion, in dem der Medientext, seine Rezeption und seine Produktion in einem interdependenten Verhältnis stehen. Differenzen im Sinne von Hegemonialbeziehungen spielen hier eine wesentliche Rolle. „Nicht der isolierte Medientext materialisiert gesellschaftliche Machtverhältnisse, vielmehr werden diese von den ProduzentInnen in den Text eingeschrieben und vom Publikum im Prozess der Rezeption dem Text zugewiesen. [...] Cultural Citizenship spannt jenen Raum auf, in dem Bedeutungen ‚zirkulieren‘, also verhandelt und festgelegt werden.“ (Klaus/Lünenborg 2004: 200)
Auf dieser Basis bestimmt Cultural Citizenship „wesentlich den Prozess gesellschaftlicher Identitätsbildung mit seinen Ein- und Ausschlüssen. Dieser ist medieninduziert und medienvermittelt“ (ebd.). Die Darlegungen zur Cultural Citizenship bieten deutliche Anknüpfungspunkte an Geißlers Überlegungen zur „interkulturellen Integration“. Beide Ansätze sind deutlich interaktionistisch angelegt, beruhen auf ergebnisoffenen Verhandlungen und bedürfen einer prinzipiellen Bereitschaft der Prozesspartner, bisherige eigene Situationsdefinitionen zu modifizieren und neue, andere zuzulassen. Identitätskonstruktionen der Mehrheitspopulation bzw. der Aufnahmegesellschaft, wiewohl meist diskursiv dominant, wären in einem solchen Kräftespiel nicht länger das Maß der Dinge. Neuartige Hybridisierungen wären die Folge. Mit Blick auf das Fallbeispiel Deutschland und türkische „Deutschländer“ (s.o.) formuliert Ruth Mandel treffend: „Hier kommen neue Begriffe auf, die dazu führen könnten, dass die Annahmen von ‚unserer Kultur‘ umgemodelt werden. Dies erfordert allerdings, dass die Deutschen nach innen blicken und neu bewerten, was es heißt, ‚deutsch‘ zu sein. Für einige ist das ein schmerzhafter Abschied von Annahmen über ausländische Mitbürger. Es wird immer mehr Deutschen klar, dass der Ausdruck ‚deutsch‘ überfällig ist für eine Neudefinition.“ (Mandel 2005: 59)
Medienangebote können in diesem Zusammenhang – in Anlehnung an die verfassungsrechtlich definierte Rolle der Medien in der bundesdeutschen Gesellschaft9 – „Medium und Faktor“ eines gesellschaftlichen Diskurses über Zugehörigkeiten und Identität(en) in der modernen, durch Migration geprägten Industriegesellschaft sein. Interkulturelle Integration wird begleitet von der Aushandlung von cultural citizenship – und umgekehrt. In ihrer Synthese schaffen diese beiden Konzepte Zugehörigkeit. Die mit ihnen verbundenen Prozesse ver-
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handeln Gesellschaft. Akteursinstanzen dieser Prozesse sind z. B. Medienangebote wie der ARD-„Integrationskanal“ oder „Kanal Avrupa“. In Anlehnung an, aber auch als Weiterentwicklung von Klaus/Lünenborgs graphischer Darstellung des „Zirkulationsraums“ Cultural Citizenship (vgl. Klaus/Lünenborg 2004: 201), lässt sich das System narrativer Identitätskonstruktionen im (interkulturellen) Wechselspiel der Produktion und Rezeption von Medientexten durch autochthone und allochthone Bevölkerungsgruppen wie folgt darstellen (Abb. 2): Abbildung 2: Narrative Identitätskonstruktion und interkulturelle Integration in der Mediengesellschaft Bedingungen: kulturelle
soziale ökonomische
historische
politische
Gesellschaft
autochthone Population
allochthone Population(en) interkulturelle Diskurse
"Wir"
"Sie"
Integration Bedeutungen
Bedeutungen
Medientexte
„Integrationskanal“
„Kanal Avrupa“ weitere Angebote
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6 Nation, Germanness: diskursive Konzepte Die Erörterungen zu „interkultureller Integration“ und „Cultural Citizenship“ haben deutlich werden lassen, dass beide Konzepte „Anpassungen“ nicht etwa nur von den Einwanderer-Subpopulationen abverlangen, sondern ebenso von der Aufnahmegesellschaft. Identitäten sind stets neu auszuhandeln und stehen niemals fest; der Ausdruck „deutsch“ wird sogar als „überfällig für eine Neudefinition“ gesehen (s. o.). Vor diesem Hintergrund ist der für die Fragestellung dieses Beitrags zentrale Diskurs näher zu betrachten: der zur deutschen Nation und zum „Deutschsein“. Dieser gesellschaftliche Diskurs wird bisher meist höchst einseitig geführt (Stichwort: „Leitkultur“-Debatte), gewissermaßen als Selbstgespräch.10 Diskussionen zu diesem Thema sind zudem mit Reflexen auf ideologische Versatzstücke aus der nationalsozialistischen Diktatur belastet. Oft entsteht in dieser Diskussion der Eindruck (bzw. jener soll erweckt werden), es gäbe einen wohl definierten Kanon „deutscher“ Attribute und Wesenskennzeichen, demnach auch eine klare Konzeption der deutschen Nation. Das Gegenteil dürfte wohl der Fall sein. Der Nationalstaat ist etwa seit dem späten 18. Jahrhundert die bestimmende Organisationsform gesamtgellschaftlicher Organisation, jedenfalls in Europa und Nordamerika. Er ist also eine relativ junge oder rezente Form staatlichen Zusammenlebens und politischer Gemeinschaft. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Max Weber auf die Schwierigkeiten hin, den Begriff oder seine Zugehörigkeitskriterien zweifelsfrei zu klären: „‚Nation‘ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft, daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an.“ (Weber 1972: 528)
In besonderem Maße scheint dies für Deutschland zu gelten, einer „verspäteten“ (Plessner 1994) bzw. „zu späten Nation“ (Hättich 1990). Zugespitzt lässt sich fragen: Wer ist Deutscher, oder auch: Wie ist man Deutscher? Ganz im Weberschen Sinne argumentiert Manfred Hättich: „Deutscher ist man, indem man sich dazu rechnet und (oder) dazu gerechnet wird.“ (Hättich 1990: 41) Keine eben klaren oder auf den ersten Blick gesicherten Kategorien, wie überhaupt das Konzept der „Nation“ zumindest umstritten ist. Versuche, objektive Definitionen aufzustellen, sind immer wieder versucht worden, jedoch allesamt gescheitert, wie Eric Hobsbawm feststellt:
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„the criteria used for this purpose – language, ethnicity or whatever – are themselves fuzzy, shifting and ambiguous, and as useless for purposes of the traveller‘s orientation as cloud-shapes are compared to landmarks.“ (Hobsbawm 1990: 6)
Hobsbawm verweist auf die veränderlichen historischen Rahmenbedingungen hin, die soziale/politische Gebilde auf einem bestimmten Territorium als Nationen bzw. Nationalstaaten erfahrbar machen. Er betont die Aspekte von Künstlichkeit und Erfindung bei der Nationenbildung11 und verweist – mit Rückbezug auf Ernest Gellner (1983: 48f.) – auf den mythischen Charakter des Konzepts der Nation: „Nationalism requires too much belief in what is patently not so.“ (Hobsbawm 1990: 12) Insoweit Nationen zwar ‚von oben‘ (von Machthabern, ihren Partikularinteressen oder etwa auch ihrer Propaganda) konstruiert werden, gibt Hobsbawm dennoch zu bedenken, dass sie zugleich ‚von unten‘ (von einfachen Menschen und ihren Annahmen, Hoffnungen, Bedürfnissen, Interessen usw.) gelebt werden und somit auch von dieser Warte aus zu analysieren seien. In einer solchen (auf der Grenzlinie von Mikro- und Mesoperspektive anzusiedelnden) Sichtweise beantwortet auch die Kulturanthropologin Diana Forsythe die Frage danach, wer Deutscher ist, und zwar aus der Innensicht dieser Population heraus: „Germanness as experienced from within has a fragile, ambiguous quality that Germans themselves find highly problematic.“ (Forsythe 1989: 137f.)12 Die Forscherin stellt – kurz vor dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten – eine differenzierte Abstufungs-Typologie des „Deutschseins“ auf: von (damaligen) Bundesbürgern als in höchstem Maße „deutsch“ bis zu nicht deutschsprachigen Abkömmlingen von deutschen Auswanderern im Ausland als am wenigsten „deutsch“ – mit mehreren Zwischenabstufungen: Spätaussiedler, DDR-Bürger, Deutsch sprechende Auswanderer, deutschsprachige Schweizer und Österreicher (ebd.: 143-147).13 In der nachfolgenden Diskussion ihrer typologischen Einteilung von „Germanness“ in Abgrenzung zu „foreignness“ spielen auch Gastarbeiter und die ihnen zugewiesenen Attribute (Klischees, Stereotype) eine Rolle. Türkische Immigranten, so wird dabei deutlich, sind in der Wahrnehmung der von Forsythe befragten Deutschen gemeinsam mit Juden14 und Dunkelhäutigen die am deutlichsten als „ausländisch“15 angesehenen Bevölkerungsgruppen (ebd.: 148). Die in Deutschland lebenden Türken (als die größte wahrnehmbare „ausländische“ Subpopulation) scheinen eine besondere symbolische Rolle zu spielen: „Turks [...] probably play a symbolic role for Germans as the incarnation of foreignness in German society“ (ebd.: 149). Diese allochthone Bevölkerungsgruppe ist demnach das Andere, welches der autochthonen Gruppe der Deutschen – so sehr auch das Konzept des „Deutschseins“, wie oben argumentiert wurde, fraglich ist – die Selbstdefinition per Abgrenzung ermöglicht.16 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, welche definierenden Attribute des
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nationalen Selbstbildes Forsysthe bei Deutschen ermittelt hat. Diese kreisen hauptsächlich um das als positiv empfundene Zentralmerkmal „Ordnung“, verbunden mit Stabilität, Sauberkeit, Verlässlichkeit usw. Zusammengefasst: „From the standpoint of Germans, at least, Germanness seems to line up with most positive qualities of cleanliness, stability, Whiteness, Christianity, familiarity, and reliability; in short, with order.“ (Forsythe 1989: 151)
Die obigen Ausführungen zur Konstruktion bzw. Konstruiertheit von „nationalen“ (in anderen Zusammenhängen auch: „ethnischen“ oder „kulturellen“) Identitäten und Zugehörigkeiten17 verweisen auf das Konzept des „Diskurses“, wie es etwa von Michel Foucault eingeführt worden ist. Laut Foucault können wir einen Diskurs als eine Ansammlung von Wissen begreifen, das „Wahrheitseffekte“ zeitigt. Dies soll bedeuten, dass Diskurse in sich weder „wahr“ noch „falsch“ sind, also weder verifizierbar noch falsifizierbar; sie sind vielmehr Resultat von ausgeübter Macht, z. B. durch Sprache, sprachliche Handlungen (Foucault 1980).18 Als solche produzieren sie Realität und damit auch etwa Identität(en). Diese sind jedoch nichts Naturgegebenes, sondern flüchtige Konstruktionen. Mit dieser – zugegebenermaßen stark verkürzten – Zusammenfassung des Foucaultschen Diskurskonzepts lassen sich auch Forsythes Ausführungen neu betrachten. Wenn „Deutschheit“ bzw. die Zugehörigkeit zu einem wie auch immer als „deutsch“ konstruierten Kollektiv eine Identität impliziert, die Ausdruck eines starken Ordnungsprinzips ist, so könnte auch das (mehr oder weniger zufällig) fast zeitgleiche Erscheinen zweier unterschiedlicher, eventuell konkurrierender Konzepte von Migrantenfernsehen auf unterschiedliche Konzepte von diskursiver Ordnung hinweisen.
7 Schlussfolgerungen Aus den oben angestellten Überlegungen zu ARD-„Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ lassen sich hypothetisch einige Schlussfolgerungen zu den diesen beiden Protagonisten möglicherweise zugedachten Positionen im vielschichtigen Prozess von nationaler/kultureller Identitätsbildung und Integration ziehen. Diese Hypothesen stehen allerdings vor der Schwierigkeit, nicht auf Programmanalysen oder organisationsinterne Konzeptpapiere zurückgreifen zu können, die diese Überlegungen empirisch untermauern könnten; zumindest Outputanalysen wären im Falle des ARD-„Integrationskanals“ ja auch nicht möglich, da er seinerzeit Gedankenexperiment geblieben ist.
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„Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ könnten als Vermittler von Kommunikation unterschiedliche Ordnungsmodelle von Prozessen der Identitätszuschreibung ausdrücken, unterschiedliche Modi von Teilhabe an der Gesellschaft (der „deutschen Nation“) und damit „Heimat“ widerspiegeln. Dabei ist zu bedenken, dass „Heimat is a mythical bond rooted in a lost past, a past that has already disintegrated [...]. It is about the ‚fundamentals‘ of culture and identity. And, as such, it is about sustaining cultural boundaries and boundedness. To belong in this way is to protect exclusive, and therefore excluding, identities against those who are seen as aliens and foreigners.“ (Morley/Robins 1995: 89)
Identitätsbildungsprozesse im oben beschriebenen Sinne dürften keineswegs auf allochthone Bevölkerungsgruppen beschränkt bleiben; sie sind parallel auch bei der Mehrheitsgesellschaft denkbar. „Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ können Akteure innerhalb solcher Prozesse werden. Vorerst ist lediglich belegbar, dass sie in einem spezifischen und konkreten historischen Zeitpunkt in den öffentlichen deutschen Diskursraum treten: kurz nach Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes. Die mehrjährigen Diskussionen um dieses Gesetz haben der Öffentlichkeit in Deutschland vor Augen geführt, dass tradierte Vorstellungen über „Deutschsein“ oder irgendeinen feststehenden Nationalcharakter der Deutschen überholt sind und z. B. Türken als „Negativfolie“ all dessen, was „deutsch“ zu sein vorgibt, nicht mehr taugen können. Wie sich „die Deutschen“ bzw. die in Deutschland lebende Bevölkerung in Zukunft allerdings kulturell – und damit auch als Gesellschaft – definieren wird, ist in all seinen Facetten nicht absehbar. Sicher ist nur: Dies wird veränderlich, ein Prozess in ständigem Flux sein. Nationen sind, wie Benedict Anderson (1991) aufgezeigt hat, „vorgestellte Gemeinschaften“, Resultate also von Prozessen der Imagination; Eric Hobsbawm und Terence Ranger (1983) haben in durchaus ähnlicher Grundtendenz scheinbar naturgegebene nationale Charakteristika, Sitten und Gebräuche als relativ rezent und vor allem: konstruiert bzw. erfunden identifiziert. Andreas Hepp (2002) hat ergänzend auf das Konzept der Translokalität als Ausdruck einer zunehmenden Deterritorialisierung und Globalisierung von Medienkommunikation hingewiesen, die Nationalkulturen als alleinige Referenzpunkte von Kommunikationsanalysen obsolet erscheinen lassen. Rico Lie fasst zusammen: „Identities are localizing and globalizing at the same time. They seem to be more and more constituted by overlapping cultural fragments, instead of giving reference to single national frames.“ (Lie 2003: 149)
Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass mittel- und langfristig neue Narrationen von nationaler Identität in Deutschland aufkommen werden, in deren Zuge es zur „Erfindung“ (besser wohl: Aushandlung) auch neuer Traditionen kommen dürfte, die bisherige Definitionen und Kategorien von „Deutschsein“ – aber
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ebenso von z. B. „Türkischer-Migrant-in-Deutschland-Sein“ oder ähnlichen Hybriden – hinter sich lassen oder weiter entwickeln: „Inhabiting the multiplicity of cultural borders and hybrid identities, we are prepared to ‚suffer‘ a kind of ‚flexible citizenship‘ that always remains incomplete, mutable and open.“ (Terekinas 2005: 28)
Die hier geäußerte Idee der „flexible citizenship“ im Sinne einer Ausdifferenzierung von Zugehörigkeiten verweist auch auf die durchaus verwandte Vorstellung von „multiple belonging“ (Christiansen/Hedetoft 2004: 2) mit parallelen Loyalitäts- und Anbindungshierarchien, die bisherige Konzeptionen des Nationalstaats oder von nationalen Identitäten durchaus in Frage zu stellen vermögen.19 Eindeutig, gesichert oder zwingend ist dies indes nicht. „[...] the migrants who participate in the construction of the transnational communities do not refer to the territory of a ‚mythical‘ state but to a territorial nation state from which they originate. However, the constituent elements of a transnational community‘s identity do not necessarily correspond to the ‚official‘ identity displayed by its reference nation state; this holds true in the case of Turkey.“ (Kastoryano 2004: 80)
Sender wie „Integrationskanal“ und „Kanal Avrupa“ werden mögliche mediale Ko-Akteure von Prozessen der Neudefinition von kollektiven transnationalen Identitäten sein – neben einer großen Zahl anderer Instanzen. Wenig realistisch dürfte indes sein, dass viele Mitglieder der autochthonen Bevölkerung mediale Angebote nutzen, die speziell für allochthone Gruppen produziert werden, zumal wenn diese in einer Fremdsprache präsentiert werden. Analysen von zukünftigen möglichen Entwicklungen deutscher Identitäten werden also auch andere Einflussfaktoren und Modelle berücksichtigen müssen. Insofern ist es ratsam, in diesem Zusammenhang eher von langfristigen Prozessen auszugehen, bei denen die Einflüsse von vielfältigen Erscheinungen der Kulturproduktion (etwa Popmusik oder Literatur) relevant sind. Erste Hinweise, z. B. türkischdeutscher Rap und literarische und komödiantische Verarbeitungen des Migrantenstatus, sind bereits zu finden und auch kommerziell erfolgreich. Aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Sicht gilt es also mehrere Ebenen kontinuierlich zu beobachten: neben der individuellen Mikroebene der Rezeption und Aneignung von Medieninhalten und der organisationalen Mesoebene der Produktion dieser Inhalte nicht zuletzt auch die Makroebene der kollektiven Identitätsbildung und der gesellschaftlichen (politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, medialen usw.) Bedingungen, die diese Prozesse steuern. Diese Bedingungen spiegeln herrschende Interpretations- bzw. Machtinteressen der beteiligten Akteure wider und definieren damit auch die Ausgestaltung von Zugehörigkeit, ob man sie konzeptuell nun „Integration“ oder „Cultural Citizenship“ nennt. Diese und andere Ordnungsmodelle zu identifizieren und zu analysieren wird eine Aufgabe der akademischen Forschung sein, die über die
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manifeste Programmebene von Sendern wie „Kanal Avrupa“ oder dem – bisher Planung gebliebenen – „Integrationskanal“ hinaus geht. Eine Umsetzung dieser Aufgabe in empirische Forschung wird allerdings vor dem grundsätzlichen Problem stehen, dass Prozesse auf der Makroebene (z. B. grundlegende, längerfristige gesellschaftliche Einstellungsänderungen, kulturelle Trends usw.) weitaus schwieriger bzw. aufwändiger operationalisierbar sind als (eher kurz- oder mittelfristig orientierte und „kleinteilige“) Phänomene auf der Mikro- oder Mesoebene. Die Auswahl relevanter Forschungsmethoden wird an dieser Komplexität auszurichten sein.
Anmerkungen 1
Zur Mediennutzung und teils entsprechenden Typologisierungen von (oft speziell auch türkischstämmigen) Migranten in Deutschland siehe etwa Eckhardt 1996, Güntürk 1999, Müller 2005b, Ottenschläger 2005, Trebbe 2003; ein frühes Forschungsprojekt der ARD zu diesem Thema dokumentieren Darkow et al. 1985. Zu Fallbeispielen aus den Niederlanden vgl. Ogan 2001 und Peeters/d‘Haenens 2005, zu Großbritannien Aksoy/Robins 2003. 2 Nähere Angaben finden sich bei Statistisches Bundesamt 2005. – Rund 1,8 Mio. türkische Staatsbürger bilden (per 31.12.2004) die mit Abstand größte Gruppe unter den rund 7,3 Mio. in Deutschland lebenden Ausländern. Nächstplatziert sind Italiener (ca. 548.000), Bürger des früheren Jugoslawien (ca. 507.000) und Griechen (ca. 316.000). Verlässliche Angaben, wie viele Deutsche Staatsbürger türkischer oder sonstiger nicht deutscher Herkunft sind, ließen sich nicht finden. – Zur geschichtlichen Entwicklung der jüngeren Einwanderung nach Deutschland vgl. Geißler 2005a. 3 Hier und im Folgenden wird der Einfachheit halber von „Migranten“ gesprochen, auch wenn meist fest ansässige Personen gemeint sind – vulgo „Menschen mit Migrationshintergrund“. 4 Entwicklung und Angebotspalette von „Ethnomedien“ in Deutschland zeigen Horn 2004, Müller 2005a und Weber-Menges 2005 auf. 5 Zum kulturhistorischen Zusammenhang dieser Entwicklung vgl. Meier-Braun 2002; Geißler 2005a. 6 Das sind: deutsch sozialisierte Türken (türk.: Almanyalı) – ein Ausdruck, der im Türkischen oftmals negative Konnotationen hat. 7 Vgl. auch Esser 2000. 8 Bereits hier wird offensichtlich, dass dieses Konzept weit über die Kommunikationsund Medienwissenschaft hinaus geht und mindestens gleichberechtigt Fragestellungen der Politikwissenschaft, Soziologie und Ethnologie aufgreift – neben den bereits erwähnten Cultural Studies. Die Integrationsleistung, die bei der Cultural Citizenship im Mittelpunkt steht, gilt also auch disziplinär. 9 Vgl. Altendorfer 2001: 128ff. 10 Reflektionen zur schwelenden „Leitkultur“-Debatte und zum Nationalcharakter der Deutschen boten jüngst Seibt 2005 und Thiemeyer 2005 in sehr lesenswerten Zeitungsartikeln, beide am selben Tag, wenn auch getrennt voneinander, in der sel-
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ben Zeitung veröffentlicht. Eine treffende, wenn auch überspitzte Außenwahrnehmung des deutschen „Nationalcharakters“ und seiner gegenwärtigen diskursiven Spannungen bietet das Kapitel „Hunforgiven“ in Gill 2002: 172-182. Vgl. auch die Beiträge in Hobsbawm/Ranger 1983 sowie Calhoun 1997: 33ff. Zu Fragen deutscher Identität(en) vgl. auch das aufschlussreiche Kapitel „No place like Heimat: Images of home(land)“ in Morley/Robins 1995: 85-104. Forsythe hat ihre Daten in Westdeutschland erhoben. – Die Auflösung der DDR lässt Forsythes Typologie nur in kleinen Details überholt erscheinen; möglicherweise ist dieser Aspekt im Zusammenhang einer Debatte um eine gesamtdeutsche Identität inzwischen sogar wieder höchst aktuell. Ein beachtenswertes Detail, das einen in Deutschland nach wie vor virulenten Antisemitismus zum Ausdruck bringt; zum Hintergrund vgl. die Beiträge in Benz/Bergmann 1997. In Anbetracht der Tatsache, dass viele der von vielen Deutschen als „ausländisch“ angesehenen Personen in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, also eigentlich ja „Inländer“ sind, ist die Bedeutung dieses Wortes nicht eindeutig und wird daher hier in Anführungszeichen gesetzt. Vgl. hierzu auch Thomas 2003 mit weiteren Hinweisen. Vgl. auch Barker 1999: 64ff. Vgl. Kögler 2004: 83ff.; DuGay 1997: 4. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Ulrich Beck zu Globalisierung und Identitätsbildung, exemplarisch zusammengefasst in Rantanen 2005: 255ff. (mit weiteren Hinweisen).
Literatur Aksoy, A./Robins, K. (2003): Banal Transnationalism. The Difference that Television Makes. In: Karim, K. H. (Hrsg.): The Media of Diaspora. London u. a.: 89-104. Altendorfer, O. (2001): Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland. Band 1. Wiesbaden. Anderson, B. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised edition. London u. a. Barker, C. (1999): Television, Globalization and Cultural Identities. Buckingham, Philadelphia. Benz, W./Bergmann, W. (Hrsg.) (1997): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Freiburg u. a. Calhoun, C. (1997): Nationalism. Buckingham. Christiansen, F./Hedetoft, U. (2004): Introduction. In: Christiansen, F./Hedetoft, U. (Hrsg.): The Politics of Multiple Belonging. Ethnicity and Nationalism in Europe and East Asia. Aldershot, Burlington: 1-19. Darkow, M./Eckhardt, J./Maletzke, G. (1985): Massenmedien und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Schriftenreihe Media Perspektiven. Band 5. Frankfurt a. M. u. a.
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Krisen als Medienereignisse: Zur Ritualisierung mediatisierter Kommunikation im Fernsehen Stephan Alexander Weichert „Other commentators pointed to more recent stories of similarly monumental breaking news – the 1972 Munich Olympics hostage crisis, the Challenger explosion, the Persian Gulf War, the death of Princess Diana, or the Columbine high school shootings – but the point remains the same. That is to say, many journalists found themselves looking backwards to figure out how to shape their […] coverage of September 11. Some recognized the crucial role they had to play not only in framing the story but in helping move whole populations from crisis into continuity.” (Zelizer/Allan 2002: 4)
1 Einleitung Bei der Verarbeitung von Krisen, Konflikten und Katastrophen spielen die Medien in spätmodernen Gesellschaften eine tragende Rolle – in mehrfacher Hinsicht: Sie dienen als erste Informationsquellen, sie ordnen das Geschehen über einen längeren Zeitraum hinweg ein, liefern dem Publikum wichtige Eindrücke über den aktuellen Fortgang eines Krisenereignisses und helfen den Menschen schließlich dabei, in den normalen Alltag zurückzufinden. Vor allem das Fernsehen bemüht sich in Krisenzeiten um wichtige rituelle Funktionen wie Orientierung, Integration und Sinnstiftung, indem es nicht nur informiert, sondern auf Grund seiner spezifischen Inszenierungslogik und narrativen Rahmung des Geschehens hilft, Antworten auf Bedrohungen in der Gesellschaft zu finden. Konflikte werden dadurch gelöst, dass das Fernsehen Krisenbewältigungsmechanismen in Gang setzt und nach einer Phase der Ereignisberichterstattung allmählich dazu übergeht, Kontinuität wiederherzustellen. In Krisensituationen geht es dabei immer auch um die Aufrechterhaltung oder Neubestimmung
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gesellschaftlicher Werte. Insofern handelt es sich bei Krisen um Schwellenphasen im Sinne des Kulturanthropologen Victor W. Turners (1967, 1969, 1974, 1989), nämlich um einen chaotischen, anti-strukturellen Zustand, der mit Hilfe der Fernsehkommunikation (wieder) in eine geordnete Struktur kultureller Selbstdeutung überführt wird.1 Damit erfüllt das Fernsehen grundsätzliche Funktionen der subjektiven Wirklichkeitserhaltung, auf die bereits Peter L. Berger und Thomas Luckmann (2003: 166ff.) im Zusammenhang mit „Wirklichkeitskrisen“ hingewiesen haben. Was Berger und Luckmann allgemein für Rituale in Bezug auf individuelle (persönliche Schicksalsschläge wie bedrohliche Krankheiten, Autounfälle etc.) oder kollektive (Naturkatastrophen etc.) Wirklichkeitskrisen in Augenschein nehmen, gilt umso mehr in Anwendung auf die heutige Krisenberichterstattung: Als öffentliche Orientierungssysteme und kulturelle Foren ergreifen die Massenmedien, sobald die für die soziale Realität konstitutiven Routinen aussetzen, bestimmte Verteidigungsmaßnahmen, indem sie Krisen oder Katastrophen verarbeiten, das Wirklichkeitsbedrohende verstehbar machen und auf diese Weise signalisieren, dass sie alles im Griff haben. Gesamtgesellschaftliche Krisen medial zu verarbeiten und zu überwinden heißt für die Konstruktion von Wirklichkeit aber auch, zugleich Lösungsstrategien aufzuzeigen oder zumindest Kommentierungen gesellschaftspolitischer Streitfragen bereitzustellen. Inwiefern hierfür Kommunikationsrituale verantwortlich sind, die sich in dem abrupten Wechsel von der Routine zur Krise manifestieren und solche, die den Übergang von der Krise zurück zur Routine organisieren, soll in diesem Beitrag theoretisch hergeleitet und diskutiert werden. Dazu wird zunächst versucht, den Ritualbegriff in seinen ursprünglichen anthropologischen Zusammenhängen konnotativ zu umreißen, ihn sodann aber losgelöst von einem engen religiösen Verständnis in Hinführung auf seine ‚moderne’ Sichtweise in den Cultural Studies differenziert zu betrachten. Um das analytische Potenzial des Ritualansatzes in Hinblick auf die medien- und kultursoziologische Theoriebildung auszuschöpfen, wird anschließend das vor allem im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Konzept der ‚ritual communication‘ in Anwendung auf die Krisenberichterstattung im Fernsehen näher spezifiziert.2
2 Die Mediatisierung des Alltags und die Ritualisierung der Medienkommunikation Aktuelle Medientrends belegen, dass derzeit neue Formen der Vergesellschaftung entstehen, die in vielfältiger Weise auf unsere Lebenswelten einwirken.
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Die anhaltende „Mediatisierung des Alltags“ (Krotz 2001), also die zeitliche, gesellschaftliche und räumliche Ausdehnung der Medienkommunikation, ist eng verknüpft mit dem derzeitigen soziokulturellen Wandel. Obwohl die sozialen Konsequenzen der um sich greifenden Mediatisierung noch bei weitem nicht abzusehen sind, wird bereits heute deutlich, dass die Medien nicht nur die individuellen Beziehungen und Identitäten der Menschen prägen, sondern Einfluss nehmen auf „Gesellschaft und Kultur insgesamt“ (ebd.: 31). Die wachsende Bedeutsamkeit medial induzierter Orientierungsleistungen im Zuge dieses Metaprozesses findet vor allem in der Ritualisierung von Medienkommunikation3 ihren Ausdruck. Seit jeher war der Zusammenhalt kultureller wie sozialer Gemeinschaften durch Formen ritueller Kommunikation bestimmt: Symbolische und mythische Erzählungen bilden heute noch die konstitutive Grundlage für eine „symbolische Sinnwelt“ (Berger/Luckmann 2003: 98ff.), die gesellschaftliche Kontinuität und Ordnung überhaupt erst ermöglicht: „Die symbolische Sinnwelt bringt Ordnung in die subjektive Einstellung zur persönlichen Erfahrung. Erfahrungen, die verschiedenen Wirklichkeitssphären angehören, werden durch Einbeziehung in ein und dieselbe überwölbende Sinnwelt integriert. [...] Diese ‚nomische’ Funktion, die symbolische Sinnwelten für das individuelle Bewusstsein erfüllen, kann ganz einfach als diejenige bezeichnet werden, die ‚jedes Ding an seinen rechten Platz rückt’.“ (ebd.: 104f.)
Ritualisierungsmuster, Routinebildungen und Regelhaftigkeiten kommunikativer Handlungen – hier verstanden als ‚jedes Ding an seinen rechten Platz rücken’ – sind gegenwärtig immer mehr in den Massenmedien und durch sie zu beobachten. Als Maßnahmen gegen das Verlustempfinden von Gemeinschaftlichkeit, Authentizität, interpersonaler Kommunikation und gegen die wachsende soziale Unsicherheit kommt ihnen in spätmodernen Gesellschaften die Aufgabe zu, im Rahmen ihrer eigens erschaffenen symbolischen Sinnwelten Chaos durch Ordnung, Unübersichtlichkeit durch Orientierung, Beliebigkeit durch Verbindlichkeit zu ersetzen. Neben habitualisierten Nutzungsmustern und der Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche durch Medien wird dies besonders deutlich an so genannten Medienereignissen, in deren Kontext rituelle Kommunikationsformen als Geschichten „aufgegriffen, erhalten, weiterentwickelt, inszeniert und in alle Haushalte transportiert“ (Krotz 2001: 30) werden. Da Medienereignisse sowohl den Alltag des Publikums als auch die Strukturen der Medien durchbrechen und mitunter von einem Millionenpublikum rezipiert werden (etwa am 11. September 2001, bei der Tsunami-Katastrophe, den Olympischen Spielen oder der Trauerfeier für Prinzessin Diana), wirken sie den sozialen Desintegrationstendenzen nachhaltig entgegen (vgl. Hickethier 1998: 537ff.).
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Inszeniert und erlebt durch die Medien übernehmen gerade Krisenereignisse im Fernsehen, über die während eines längeren Zeitraumes berichtet wird, rituelle Funktionen kommunikativer Orientierung und Integration. Hierbei dient das Fernsehen in besonderem Maße als vertrauter Sinnvermittler zur Einordnung, aber auch als Transformationsinstanz zur Überwindung von Krisen und Konflikten. Indem allgemein gültige Normen und Wertvorstellungen darüber vermittelt werden, was gut und böse, was wichtig und unwichtig, was wahr und falsch ist, offenbart sich vor allem während mediatisierter Krisenereignisse ein enormes rituelles Deutungspotenzial, das sich jedoch anders als bei geplanten Ereignissen manifestiert und auswirkt: Insbesondere was die Art der Vorstrukturierung gesellschaftlicher Wirklichkeit durch die Medien und die damit verbundene Präsentation bestimmter symbolischer Darstellungen in Krisensituationen angeht, können die Rückwirkungen auf das ‚Realereignis’ selbst und dessen Hergang – beispielsweise, was die Entscheidungen der politischen Akteure oder die Reaktionen der Bevölkerung auf das Geschehen betrifft – gar nicht überschätzt werden. Je nachdem, wie erwartet oder unerwartet die Krise (oder das jeweilige Ereignis, das zur Krise führt) auftritt, desto schneller bzw. langsamer greifen allerdings die ritualisierten Funktionslogiken des Fernsehens, um das Krisenereignis ‚in den Griff‘ zu bekommen. Diese Funktionen können zusammenfassend als Eigenschaften ritueller Kommunikation erfasst werden, die ich im Folgenden unter Rückgriff auf die anthropologischen Wurzeln des Ritualbegriffs und seine gegenwärtige Verwendung in der kulturorientierten Medienforschung erläutere.4
3 Die Renaissance der Ritualforschung – Versuch einer kulturund sozialwissenschaftlichen Standortbestimmung Obwohl ‚Ritual’ ursprünglich einmal ‚Gottesdienst’ bedeutete, wird der Ritualbegriff seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich auf religiöse, sondern immer häufiger auch auf säkulare Gesellschaftsphänomene ganz allgemein angewandt (vgl. Krieger/Belliger 2003: 7ff.; Hughes-Freeland/ Crain 1998; Wulf/Zirfas 2004). Ethnologie und Anthropologie, aber auch die Einführung von Soziologie und Psychologie im 19. Jahrhundert als ‚neue’ Wissenschaften haben entschieden dazu beigetragen, dass Rituale inzwischen in einem überwiegend weltlichen Sinn als kommunikativ geprägte Handlungen aufgefasst werden, die in fast allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens vorkommen (vgl. Krieger/Belliger 2003: 30).
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Demzufolge sind Rituale in der heutigen Gesellschaft derart verinnerlicht, dass ihr religiöser, mythischer oder kultischer Gehalt meist nur noch implizit vorhanden ist. So sind auch ganz alltägliche soziale Ereignisse häufig eingebettet in ritualisierte Handlungsabläufe. Entsprechend plädieren David J. Krieger und Andréa Belliger (ebd.: 7) dafür, das Ritual als Alltagsphänomen sui generis zu betrachten, das sinnvollerweise „eigene theoretische Klärung und methodologische Zugänge verlangt“. Die Renaissance der Ritualforschung ist hier also als Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen. Insbesondere im Kontext der modernen Massenkommunikation spielen Rituale zusehends eine tragende Rolle. Vor allem der Einfluss des Leitmediums Fernsehen in seiner Funktion als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz ritualisierter Darstellungen und Erlebnisse ist in den vergangenen Jahren – bei gleichzeitigem Bedeutungsschwund religiöser Institutionen und der Säkularisierung traditioneller Wertesysteme – erheblich gestiegen: So handelt es sich etwa bei Medienereignissen in der Regel um sozial bedeutsame Kollektivrituale im Sinne eines Vergemeinschaftungsprozesses, die im Zeitalter erodierender Sozialstrukturen das vorherrschende Grundbedürfnis nach individueller Anerkennung und kultureller Identitätssuche befriedigen. Angesichts des zunehmenden Multikulturalismus in der sich herausbildenden globalen Weltgesellschaft ist gerade die Ritualanalyse aus diesem Begriffsfundus heraus inzwischen nicht mehr per se religiös konnotiert, sondern erfährt eine völlig neue Akzentuierung: „Im Mittelpunkt der durchaus unterschiedlichen Fragehorizonte und Problematiken steht dabei die Frage nach dem Wie sozialer Ordnungen“ (vgl. Wulf/Zirfas 2004: 38). Im Kern dieses Ansatzes steht folglich die „Aufführung künstlerischer oder sozialer Handlungen […], die ein einmaliges, zeitlich begrenztes Ereignis darstellt“ (ebd.: 39; vgl. hierzu auch Tambiah 2003). Auch wenn derartige Ausdehnungen des Ritualverständnisses mitunter Kritik hervorgerufen haben, hat sich in den im angelsächsischen Sprachraum entstandenen Ritual Studies die Auffassung durchgesetzt, dass Ritual und Ritualisierung als grundlegende Dimensionen kommunikativen Handelns zu begreifen sind, die gleichfalls in modernen Kulturen Gültigkeit besitzen. In Anlehnung an Wulf und Zirfas (2004: 18-24) lassen sich insgesamt sieben Hauptfunktionen benennen – Rituale sind demnach •
kommunitär: Sie konstituieren Gemeinschaften, formen diese und gewährleisten dadurch deren emotionalen und symbolischen Zusammenhalt;
•
stabilisierend: Sie repräsentieren politische, soziale und kulturelle Ordnung(en) und erhalten diese aufrecht, indem sie aufzeigen, was richtig und was wichtig ist;
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•
identifikatorisch-transformativ: Sie redefinieren die Identität ihrer Mitglieder oder nehmen neue Mitglieder auf, indem sie ihnen bestimmte soziale Eigenschaften zuschreiben;
•
Gedächtnis stiftend: Sie kontrollieren das Erinnern und Vergessen, indem sie Teilnehmern durch Wiederholung eine zeitliche Kohärenz vermitteln und so für gesellschaftliche Kontinuität sorgen;
•
kurativ-philosophisch: Sie dienen dazu, Antworten auf Bedrohungen in der Gesellschaft zu finden und Konflikte zu lösen, indem sie Heilungsprozesse und Krisenbewältigungsmechanismen in Gang setzen;
•
transzendental: Sie dienen der Komplexitätsreduktion und vermitteln Sicherheit, indem sie eine Kommunikation mit dem Anderen, den Glauben an eine ‚heile Welt’ herstellen;
•
Differenz bearbeitend: Sie wirken als Handlungssysteme integrierend, indem sie (gemeinsame/geteilte) gesellschaftliche Brüche und Schwellen herausstellen.
An dieser Aufzählung wird deutlich, dass Rituale schon immer Schlüsselfunktionen übernommen haben – und dies auch in der Gegenwartsgesellschaft noch tun. Doch während es früher religiöses Brauchtum war, das zugleich stabilisierende und transformierende Wirkungen zeitigte, sind es in säkularisierten Gesellschaften meist Kommunikationsrituale mit symbolischem Gehalt. Und wenn man die kulturgeschichtliche Dimension von Ritualen genauer betrachtet, leuchtet ein, dass die genannten Funktionen inzwischen zu einem Großteil von und durch Massenmedien ausgefüllt werden. Gerade in Gesellschaften, in denen die „Entzauberung der Welt“ im Sinne Max Webers (1972 [1920]) unaufhaltsam voranschreitet, sorgt die Medienkommunikation dafür, die sozialen Strukturen zu erhalten und neu zu ordnen.
4 Der ‚Ritual View of Communication’ in den Cultural Studies und sein Potenzial für die Fernsehforschung Konkrete Vorstellungen dazu, wie sich die Ritualperspektive in die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung integrieren ließe, liefern vor allem die Cultural Studies: Unter Kultur wird hier bekanntlich ein komplexes System von geteilten Symbolen und soziokulturellen Bedeutungen verstanden. Daher verwundert es nicht, dass auch in den Cultural Studies der Ritualbegriff eine zentrale Rolle spielt. Da sie sich in Bezug auf Medienkommunikation strikt
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gegen eine behaviouristische Auffassung wenden und stattdessen an den kulturellen Praktiken ansetzen, entfaltet das Ritualkonzept hierbei eine soziale Dimension: In der Regel wird zwar auf klassische anthropologische Ritualansätze von Durkheim (1981) über Geertz (1983) bis Turner (1969) zurückgegriffen, während die Ritual Studies stärker manifeste symbolische Ordnungen in den Blick nehmen, stellen die Cultural Studies jedoch den rituellen Charakter von Kommunikation in den Mittelpunkt einer kultur- und medienzentrierten Gesellschaftsanalyse. Die Herangehensweise, Rituale in alltäglichen Kommunikationsinhalten und -prozessen zu analysieren, geht auf die Hauptvertreter des so genannten „ritual view of communication“ zurück, vor allem auf den Soziologen James W. Carey (1975, 1988, 1989), die Kultursoziologen Horace Newcomb und Paul M. Hirsch (1986, 1987) sowie den Kommunikationswissenschaftler Michael R. Real (1985, 1989, 1996). Carey war demnach einer der ersten Cultural-StudiesVertreter, die dem ausgedienten „transmission view of communication“ (vgl. Shannon/Weaver 1949) den „ritual view of communication“ gegenüber gestellt haben. In einem bereits 1975 erschienenen Essay erläutert Carey, warum der „transmission view of communication“ die Effizienz von Kommunikation im Raum beschreibt, während der „ritual view of communication“ auf den Erhalt von Gesellschaft abhebt: Carey geht davon aus, dass Medienkommunikation auf geteilten Ritualen von Sendern und Empfängern basiert und daher kulturell integriert; in Analogie zu Berger und Luckmann (2003) entwickelt er einen Ansatz, der Kommunikation als gemeinschaftsstiftenden Prozess versteht, durch den symbolische Formen geschaffen, verstanden und genutzt werden. Im direkten Anschluss an die Arbeiten Careys haben Newcomb und Hirsch (1986, 1987) eine Theorieperspektive vom „Fernsehen als kulturellem Forum“ vorgeschlagen:5 Ihnen geht es dabei weniger um einen individuenbezogenen Prozess der Realitätskonstruktion, sondern – wie bei Berger und Luckmann – um eine gesamtgesellschaftlich konstruierte Wirklichkeitsmatrix. Wie bei vielen Studien aus dem Forschungsumfeld der Cultural Studies findet die Auseinandersetzung mit den rituellen Aspekten der Massenmedien bei Newcomb und Hirsch in erster Linie in Bezug auf das Fernsehen statt, dessen Funktionen sie analog (bzw. substitutiv) zur Sinnproduktion und -vermittlung durch traditionelle Rituale betrachten: Auf der Folie des Unterhaltungs- und Informationsangebots im Fernsehen, so ihre Kernthese, würden die Lebensauffassungen der Menschen widergespiegelt. Massenmedien gelten in ihrer Sichtweise als „cultural bricoleurs, seeking and creating new meaning in the combination of cultural elements with embedded significance” (vgl. Newcomb/Hirsch 1987: 457). Newcomb und Hirsch
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betonen, dass vor allem Mitarbeiter im Fernsehbereich – etwa Produzenten, Drehbuchschreiber, Regisseure, Schauspieler, Programmverantwortliche – wie kulturelle Interpreten agieren. Dabei beziehen sie sich prominent auf Turners Modell des rituellen Prozesses, wenn sie feststellen, dass das Fernsehen einen liminalen Bereich und die darin transportierten Rituale eine Meta-Sprache darstellt, die uns bedeute, wer und was wir sind, wie unsere Werte und Einstellungen angepasst würden und wie sich unsere Meinungen ändere (vgl. ebd.: 458f.). Ihrer Argumentation zu Folge hat das Fernsehen die Aufgabe kultureller Reflexion übernommen und entfaltet auf diese Weise eine zentrale gesellschaftsstabilisierende Funktion. Auch Michael R. Real (1989) konzediert in „Super Media. A Cultural Studies Approach“ die rituellen Funktionen der Medienkultur (vgl. Krotz 1992: 417ff.). Dass Real seinen Ritualansatz größtenteils auf kulturprägende Medienereignisse wie die Olympischen Spiele und die Academy Awards projiziert, ist kein Zufall: Als „community stories“ sprechen Medienereignisse verhältnismäßig große Publika an und spiegeln die „grand narrative stories that explain the origins of a people and present their ultimate destinies and ideals“ (Real 1989: 66) wider – kurz gesagt: Medienereignisse sind Mythen, welche die kollektiven Helden, Herkünfte und Identitäten in expressiven Ritualen feiern. Real (ebd.: 68) verweist ebenfalls auf Turner, wenn er davon ausgeht, dass bestimmte Medienangebote das Potenzial für ein nachhaltiges emotionales Involvement erzeugen und liminale Übergänge schaffen wie vormals traditionelle Rituale. In einem Zwischenfazit seiner Analysen stellt Real (ebd.: 237) fest, dass der Vorteil der rituellen Sicht auf Mediendarstellungen (und vor allem Medienereignisse) darin begründet liegt, dass sie helfe, die in mythischen Strukturen versteckten Ideologien, Weltsichten und Deutungen über das Reale und Wahre aufzuspüren, die heute von den Medien aufgegriffen und transportiert würden – uns aber größtenteils verborgen blieben. Mit Real (1996: 47; zit. n. Bonfadelli 2002: 139f.) können wir ferner sechs Ritualfunktionen festhalten, die sich besonders in der ereignisspezifischen Fernsehkommunikation erkennen lassen: •
Objektivierung: Medienkultur ist Ausdruck kollektiver Erfahrung und vereinigt die Teilnehmenden durch Symbole und emotionale Ansprache;
•
Repetitive Muster: Medienereignisse ermöglichen simultane Partizipation, vereinigen Teilnehmer via Story und haben Modellcharakter;
•
Strukturierung von Zeit und Raum durch Definition und Etablierung von Ordnung, Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart;
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•
Transport und Transformation: Überführung des Alltäglichen ins Mythologische (klassische Initiationsriten vs. profanes Fitnessstudio-Erlebnis);
•
Öffentliches Zelebrieren von zentralen kulturellen Werten;
•
Soziale Realität: Schaffung, Aufrechterhaltung und Veränderung.
Da sich die genannten Theorieansätze sämtlich mit den Ebenen der kulturellen Sinnvermittlung und symbolischen Bedeutungszuschreibung befassen, kann man bei der Fernsehkommunikation im Sinne der Cultural Studies also zusammenfassend von einer spezifischen Ausdrucksform der Ritualkommunikation sprechen. Ferner muss jedoch geklärt werden, wie diese Ritualkonzepte in eine umfassende Kulturtheoriebildung der Medien zu implementieren sind.
5 Außeralltägliche Erlebniswelten: Medienereignisse als moderne Übergangsrituale Das angestrebte Integrationspotenzial des Ritualbegriffs unter Berücksichtigung der genannten Theorieperspektiven fasst der Kommunikationswissenschaftler Eric W. Rothenbuhler in seinem Buch „Ritual Communication. From Everyday Conversation to Mediated Ceremony“ (1998) äußerst luzide zusammen. Es handelt sich um den bisher umfassendsten Entwurf einer eigenständigen Ritualtheorie in Anwendung auf die moderne Massenkommunikation. Neben der kultursoziologischen Fundierung und empirischen Absicherung seiner theoretischen Annahmen liegen die Stärken von Rothenbuhlers Überlegungen vor allem darin, die rituellen Funktionen des Fernsehens mit den genannten Ritualebenen in Beziehung zu setzen. Ähnlich wie Real entwirft Rothenbuhler seine Thesen dazu am Beispiel der Olympischen Spiele (vgl. Rothenbuhler 1988a, 1988b). Anhaltspunkte dafür, dass Rituale heutzutage „ubiquitous“, „inevitable“ und „necessary“ (Rothenbuhler 1998: 117) sind, sucht Rothenbuhler ebenfalls im Modell des „ritual view of communication“. Inspiriert von Careys theoretischen Ausführungen ordnet er (ebd.: 78-95) dem Ritualbegriff vier Analysedimensionen zu: •
Rituale, die in Folge der Übertragung von rituellen Medienereignissen auftreten und eine spezifische Form moderner Rituale im Sinne Durkheims ritueller Gemeinschaft markieren.
•
Alltägliche Formen medialer Nutzungsrituale, die symbolisch bedeutsame Verhaltensmuster in Verbindung mit der Mediennutzung repräsentieren (z.
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Stephan Alexander Weichert B. Kleidung, Essen, Gruppenbildung) und sich dadurch von habitualisierten Nutzungsmustern abgrenzen lassen.
•
Rituale in journalistischen Arbeitsprozessen, insofern sich Journalisten in ihrer täglichen Arbeit von einem ritualisierten Handeln leiten lassen, das sich in formalen Regeln und Routinen wie Themenselektion, Interviewtechniken, Darstellungsformen etc. manifestiert.
•
Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, funktionieren überdies als Ritual im Sinne einer (amerikanisch geprägten) Religion, da sich im gesamten Programm und in dessen Inhalten Rituale wiederfinden, die ähnliche Funktionen erfüllen wie religiöse Riten.
Auch wenn Rothenbuhler kein entsprechendes empirisches Forschungsprogramm mitliefert, zeigen diese Ebenen zumindest, wie vielschichtig die Ritualtheorie angelegt sein kann. Zur Theoretisierung öffentlicher Kommunikation unter rituellen Gesichtspunkten stellen die von ihm genannten Dimensionen damit erste Implikationen eines Theorierepertoires dar, das sich zur dichten Beschreibung von Medienereignissen als grundlegend erweist. Vor allem im Kontext der von Daniel Dayan und Elihu Katz (1992) vorangetriebenen Theorie ritueller Medienereignisse spielt die Ritualperspektive auf Medienkommunikation eine bedeutende Rolle: Bei den Mediendarstellungen von solchen Großereignissen handelt es sich um ritualisierte Inszenierungen, die das (indirekt) beteiligte Publikum vorübergehend aus der Normalität seines Alltags heraus- und in eine andere, außeralltägliche Erlebniswelt hineinführen. Weil sie den Zuschauern vor Augen halten, welchen Stellenwert sie als Mitglied einer Gemeinschaft oder Kultur haben, können Medienereignisse als die neuen Sinn stiftenden Großerzählungen gelten, eine Art kulturelle Gleichmacher, die der zunehmenden gesellschaftlichen Zersplitterung entgegenwirken. Auf Basis von zahlreichen Fallstudien, die über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren durchgeführt wurden,6 haben Dayan und Katz zu rekonstruieren versucht, inwiefern nicht nur archaische, sondern auch (spät-)moderne Gemeinschaften an bestimmte Rituale gebunden sind, die von den Medien aufgegriffen, konserviert, inszeniert und gedeutet werden. Insgesamt liegt auch ihrem Ritualmodell der Gedanke zu Grunde, dass insbesondere das Fernsehen nicht nur über Ereignisse berichtet, sondern diese narrativ verdichtet, ihnen symbolische Bedeutungen zuschreibt, sie also gewissermaßen rituell ‚performt’ – weshalb diese Medienereignistheorie von ihrem theoretischen Grundverständnis her kongenial zum „ritual view of communication“ der Cultural Studies angelegt ist. Auf der Seite des Publikums deuten Dayan und Katz in der Begrifflichkeit Tuners an, dass Medienereignisse die Strukturen des Alltags aufbrechen und somit moderne Übergangsrituale („rites de passage“) für ihre Teilnehmer bzw.
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die Gesellschaft als Ganzes bereitstellen. Folgt man diesem Kerngedanken, ist die Inszenierung der meisten Kollektivrituale in modernen Gesellschaften und die öffentlichen Diskurse darüber ebenso wenig ohne Medien(-ereignisse) erklärbar, wie die Analyse der Massenmedien ohne eine Ritualperspektive auskommt, welche in erster Linie die Ästhetik von Medieninszenierungen und deren narrative Bedeutungszuschreibungen berücksichtigt. Dieser Dialektik folgend entsteht nämlich, sobald über ein (gesellschaftlich, politisch, kulturell, kirchlich etc.) relevantes Ereignis berichtet wird, ebendort ein narratives, funktionales Äquivalent: das ritualisierte Medienereignis. Und neben ritualisierten Produktionsstrukturen und Arbeitsprozessen auf Seiten von Medienunternehmen und Journalisten sind es vor allem spezifische Darstellungsroutinen, die für solche massenmedialen Ereigniskonstitutionen (und damit deren öffentliche Wahrnehmung) mitverantwortlich zeichnen.
6 ‚Making the Extraordinary Routine’: Mediatisierte Krisenereignisse als Teil ritualisierter Bedeutungsproduktion Die von Dayan und Katz erforschten ‚geplanten Medienereignisse‘ gewinnen immer mehr an Bedeutung – weil sie kulturelle Lesarten von Wirklichkeit transportieren und somit Teil ritualisierter Bedeutungsproduktion sind. Dies gilt aber umso mehr für plötzliche, unerwartete Geschehnisse wie politische Revolutionen, kriegerische Auseinandersetzungen sowie Terroranschläge, Naturkatastrophen und Technikunfälle, über die während eines längeren Zeitraums breitenwirksam berichtet wird. Solche Krisenereignisse können wir mit Berger und Luckmann (2003: 167) als Situationen verstehen, „[…] in denen die Wirklichkeit zusammenzubrechen droht“. Diese Erkenntnis auf die Massenmedien zu übertragen bedeutet, dass beispielsweise das Fernsehen in solchen Grenzsituationen „besondere Verfahrensweisen“ (ebd.) anwendet, um diese medial zu bewältigen: Die These lautet, dass sich gerade an Extremereignissen wie dem 11. September 2001 am ehesten zeigt, wie die Medienlogik funktioniert, vor allem, weil unter extremem Zeitdruck gearbeitet wird, der den Journalisten schnelle Entscheidungen abverlangt (vgl. Hickethier 2003; Weichert 2003, 2006). Medienereignisse vom Typ ‚Krisen‘ markieren demnach Grenzerfahrungen im Sinne Turners, weil sie Unterbrechungen des sozialen (und medialen) Lebens darstellen, Augenblicke der Trennung und der Wiedervereinigung beinhalten und beim Zuschauer Erlebnisse mit anti-strukturellen („nichts ist mehr, wie es war“), gemeinschaftlichen („wir ste-
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hen zusammen“) und konjunktivischen („was wird danach sein?“) Dimensionen hervorrufen (vgl. Keller 2000). Bis hierher hat die Diskussion gezeigt, dass es sich bei rituellen Medienereignissen um ebensolche Schwellenphasen des Besonderen handelt. Dazu muss grundsätzlich eingeräumt werden, dass Krisenereignisse wie die Terroranschläge von New York (11. September 2001) oder Naturkatastrophen wie der Tsunami in Südostasien (Dezember 2004) von ihrer medialen Struktur her in vielerlei Hinsicht einen narrativen Gegenpol zu den meist lange vorab geplanten Prinzenhochzeiten, Staatsbegräbnissen oder Sportwettkämpfen bilden, die Dayan und Katz (1992) beschreiben: Krisen, Konflikte und Katastrophen repräsentieren weder traditionelle Rituale noch gesellschaftliche Grundregeln der Fairness. Als Sonderfall von Medienereignissen drücken sich in Krisen vielmehr die zunehmende Verletzbarkeit der Gesellschaft, die Grenzen zivilisatorischer Kontrolle und die Brüchigkeit kultureller Systeme aus. In ihrer medialen Inszenierungslogik folgen sie jedoch ebenfalls einem ritualisierten Präsentationsmuster und fungieren in ihrer Wirkkraft als soziale Bindeglieder – auch wenn sie in der Regel auf schmerzlichen Erfahrungen wie Tod, Gewalt und Zerstörung basieren (vgl. Weimann 1987, 1990). Dabei helfen die Medien dem Publikum, das plötzlich auftretende Krisenereignis besser einzuordnen, da sie den jeweiligen gesellschaftlichen Wertekanon ins Gedächtnis rufen und bedeuten, welches Verhalten in solchen Situationen angemessen ist. Aus dem Blickwinkel der rituellen Medienereignistheorie nimmt gerade das Fernsehen in Krisensituationen somit spezifische Ritualisierungsfunktionen wahr: Denn plötzliche Diskontinuitäten in der Gesellschaft, verursacht durch ein traumatisches Ereignis, fordern seine Funktionsweise als kulturelle Integrationsinstanz in besonderem Maße heraus. Tatsächlich geht es darum, in kürzester Zeit Hintergründe, Erklärungen und Interpretationen des Geschehens für die Zuschauer bereit zu halten und dem Vorgefallenen einen Sinn zu geben. Daneben trägt das Fernsehen dazu bei, Panik in der Bevölkerung zu vermeiden und ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln (vgl. Hickethier 2003). Zugleich drückt sich in seiner Rolle als Ereignisinterpret eine besondere Verantwortung in solchen Momenten aus. Vor allem in der konstruktiven Krisenbewältigung durch das Fernsehen spiegelt sich die grundlegende Rolle eines Ratgebers in Bezug auf das Erlebte wider, angefangen bei der Vertrauensbildung bis hin zur Wiederherstellung von gesellschaftlicher ‚Normalität’ – auf den Punkt gebracht: „making the extraordinary routine“ (vgl. Zelizer/Allan 2002: 3). Entsprechend sind Medienrituale an sich schon antithetisch, weil solche die Fernsehnachrichten (und das gilt vornehmlich in Bezug auf Krisenereignisse) ein unerwartetes, chaotisches Geschehen in eine zyklische, ausgewogene, also rituelle Mediendarstellung überführen, die auf den Zuschauer beruhigend wirkt.
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7 Schlussdiskussion: Krisenereignisse und die Überwindung des Katastrophischen Doch wie genau läuft nun die Bearbeitung von Krisenereignissen im Fernsehen ab? Mary Ann Doane (vgl. 1990: 229) weist speziell für Krisen darauf hin, dass das Fernsehen auf einem ‚Modell des Katastrophischen’ beruht, das heißt gesellschaftliche Diskontinuitäten und Krisen werden im Tagesgeschäft der Nachrichten ohnehin strukturell erwartet (vgl. Tuchman 1973). Ähnlich gibt Patricia Mellencamp (1990: 246) zu bedenken, dass die Funktionsweise des Fernsehens wesentlich auf einer Dialektik von Schock und Therapie basiere, indem zunächst Ängste geschürt und während der andauernden Berichterstattung Erklärungen geliefert und Lösungen aufgezeigt würden, wobei gerade dies vom Publikum auch erwartet werde. So vermutet Mellencamp, dass die ultimative Katastrophe für die Zuschauer darin bestünde, ‚wenn gar nichts gesendet‘ werde. Mit der von ihr unterstellten Produktionsstrategie Kreation – Widerspruch – Absage (worin das Schwellenphasen-Muster Turners klar zu erkennen ist) ist das Fernsehen Ausbruch („outbreak“) und Schutzaktion („protective action“) zugleich (ebd.: 248). Mellencamp betont, dass diese Verteidigungsfunktionen des Fernsehens unter anderem auf Inszenierungen beruhten, die suggerierten, alles unter Kontrolle zu haben. Ein weiteres Merkmal der Krisenbewältigung ist die rituelle Redundanz der Berichterstattung (vgl. Doane 1990: 230ff.; Mellencamp 1990: 252): Weil das Fernsehen die Bilder eines Krisenereignisses ständig wiederholt, erfüllt es eine wichtige rituelle Verarbeitungsfunktion. So gesehen ist die Berichterstattung über Krisen und Katastrophen ‚open-ended’; sie endet erst dann, wenn eine tragfähige Antwort bzw. Lösung für die Krise gefunden wurde, oder wenn sie – wie Mellencamp (ebd.) bemerkt – „becomes exhausted from repetition“. Bei derartigen Wiederholungen geht es also um eine therapeutische Ritualfunktion des Fernsehens: „Like a doctor detailing medical procedures to a patient before and after surgery, information here provides a therapeutic service, a ritual akin to prayer or chanting. Cloaked as episteme, a desire to know, it soothes our anxiety, protecting us from fear. Thus, information, the raison d’être of coverage, becomes story, therapy, and collective ritual. Later it will be known as myth.” (ebd.: 248)
Dieses Sicherheitsgefühl wird verstärkt durch die mediale Teilhabe am kontinuierlichen Programmfluss, denn: „If it were happening to us, we wouldn’t be watching television“ (ebd.: 262). Gerade beim Fernsehen stellt sich also beim
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Zuschauer oftmals das Gefühl ein, dass, solange gesendet wird, die Welt noch in Ordnung sein muss – andernfalls gäbe es keinen Grund, sich die Berichterstattung weiterhin anzusehen. Die vertrauten Produktions- und Präsentationsrituale tragen zu diesem Bewusstsein bei: Ein Ereignis ‚im Griff‘ haben bedeutet nämlich, es an die vorgegebenen Programmabläufe und Genres strukturell anzupassen, das heißt ihm mediale Form und Gestalt zu geben (vgl. Weichert 2006). Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Umformung des Geschehens und die umgehende Wiederherstellung einer sozialen Ordnung somit speziell hinsichtlich der ritualisierten Krisenbewältigung im Fernsehen erkennen lassen. Vor diesem theoretischen Hintergrund sollen zum Abschluss vier wesentliche Merkmale für Krisenereignisse thesenartig zusammengetragen werden, an denen sich zeigt, warum das Fernsehen wichtige rituelle Bewältigungsmechanismen in Gang setzt, die zur subjektiven Wirklichkeitserhaltung im Sinne von Berger und Luckmann (2003) beitragen: •
Deutlicher als im Medienalltag treten in Krisensituationen die Ritualisierungsfunktionen der kulturellen Sinnstiftung und Kontinuität zu Tage: Als Medium, das Ratgeber, Therapeut und Trostspender zugleich ist, sorgt das Fernsehen besonders im Krisenfall für eine subkutane Stabilisierung der gesellschaftlichen Grundordnung, indem Krisenereignisse diskursiv angeeignet und verarbeitet werden; weil das Fernsehen den Menschen authentische Vorstellungen des Geschehens vermittelt, akute Probleme thematisiert und kulturelle Wertvorstellungen transportiert, trägt es insgesamt zur Überwindung von Krisen bei.
•
Um zu betonen, dass etwas Wichtiges stattgefunden hat, aber auch, um Programmzeit zu füllen, sobald nichts Neues mehr passiert, bemüht sich das Fernsehen, seine Berichterstattung um ein Krisenereignis herum zu drapieren und zu arrangieren. Dieser mediale ‚Erklärapparat’, begleitet von Kommentierungen und Hintergrundinformationen über das Ereignis, greift bei Krisen ebenso wie bei anderen Medienereignissen, allerdings um so intensiver. Moderatoren und Korrespondenten werden zu Heldenfiguren, die über das Geschehene sensibel und sensationell zugleich erzählen sollen. Ihre besondere Rolle ergibt sich auch daraus, dass sie während der Krise ‚standhaft‘ bleiben und somit zu Vertrauten und Vorbildern werden, die die Situation meistern.
•
Krisenereignisse bedrohen Kontinuitäten und Konventionen, Gewohnheiten und Gesetze, die das Fernsehen durch Narrativierung und Wiederholung grundsätzlich zu verteidigen sucht. Dabei hilft das Fernsehen zunächst, den Schock der Krise zu stimulieren und weiterzudrehen, reguliert aber letztlich in seiner Doppelrolle des Beobachters und Beschützers die Bedrohung,
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indem es das Krisenereignis ritualisiert, das heißt ihm einen Erzählrahmen gibt. Die Ritualisierung von Krisen bedingt dabei immer auch Formen der medialen Eigeninszenierung, die sich in den formal-ästhetischen Darstellungsroutinen und inhaltlich-thematischen Programmabläufen und den journalistischen Arbeitsprozessen ausdrücken. •
Während Nachrichten im Fernsehen konstant verfügbar sind und damit einen wesentlichen Bestandteil des kontinuierlichen Sendeflusses ausmachen, markieren Krisen Unterbrechungen von Programm und sozialem Alltag. Mitunter handelt es sich um gesellschaftliche Zäsuren, weil deren Rezeption von gemeinschaftlichen Diskursen und Handlungen begleitet wird, die Zugehörigkeiten zu einer Kultur oder Gesellschaft in extremer Weise bestärken bzw. überhaupt erst induzieren. Auf Grund des hohen Informationsbedürfnisses und der emotionalen Grenzerfahrungen (Angst, Trauer, Hass, Tod etc.), verstärkt durch die dramatisierten Mediendarstellungen, erwirkt das Fernsehen bei den Zuschauern hochintegrative Nutzungsrituale und macht sie gerade während Krisenereignissen zu stark involvierten Teilnehmern.
In diesem Beitrag wurde theoretisch hergeleitet und diskutiert, warum sich gerade in der Berichterstattung über Medienereignisse spezifische Formen der Ritualkommunikation finden lassen. Insbesondere in der Krisenberichterstattung, so meine Argumentation, drückt sich die Aufrechterhaltung von sozialen Ordnungen aus: Stärker als bei anderen Ereignissen geht es in Krisen um die rituelle Überwindung von Chaos, Zerstörung und Gewalt zu Gunsten der Wiederherstellung und Stabilisierung von lebensweltlicher Normalität. Vorrangig sind es die vielfältigen Ritualisierungsstrategien des Fernsehens, die ein Krisenereignis zunächst als etwas Wirklichkeitsbedrohendes darstellen, aber schon wenig später signalisieren, dass die Situation unter Kontrolle ist. Der rituelle Prozess von einer professionellen Ausnahmesituation zur Routine hilft dem Publikum, das Krisenereignis einzuordnen, es zu verstehen und letztlich auch zu bewältigen. Diesen Vorgang gilt es vor allem angesichts der aktuellen Krisenereignisse im Maßstab einer interdisziplinären Kulturtheorie weiter analytisch zu durchdringen.
Anmerkungen 1
Victor W. Turner, dessen Werk auf die moderne Ethnologie und Religionswissenschaft entscheidenden Einfluss hatte, untersuchte religiöse Spannungs- und Veränderungsprozesse, vor allem im südlichen Afrika. Er fand in seinen Studien heraus,
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dass gerade in Zeiten des sozialen Wandels und der Unsicherheit Rituale an Bedeutung gewinnen, um Sicherheit (wieder-)herzustellen. Die folgende Argumentation stützt sich auf eine umfassende Studie über die Fernsehberichterstattung anlässlich des 11. September 2001, die ich im Rahmen meiner Dissertation unternommen habe (vgl. Weichert 2006). Das Konzept der Ritualisierung von Medienkommunikation sehe ich in deutlicher Parallele zum Metaprozess der Mediatisierung wie ihn Krotz (2001) beschrieben hat (vgl. dazu ausführlicher Weichert 2006). Ein Überblick zur Verwendung des Ritualbegriffs und gängiger Definitionen finden sich z. B. bei Rothenbuhler (vgl. 1998: 3-45). Vgl. außerdem die hilfreichen, wenn auch knappen Begriffsklärungen bei Fürsich (1994: 30f.) und Bonfadelli (2002: 138f.) sowie die zahlreichen Literaturverweise bei Thomas (1998: 423f.). Hierbei handelt es sich um einen Aufsatz, der zuerst 1983 in der amerikanischen Fachzeitschrift „Quarterly Review of Film Studies“, 1986 dann auf deutsch in der Fachzeitschrift „Rundfunk und Fernsehen“ erschienen ist. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen Nachdruck des Originalaufsatzes aus Newcomb (1987). Zu den von Dayan und Katz (1992: 4f.) untersuchten Medienereignissen gehören unter anderem die ersten Präsidentschaftsdebatten zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon 1960, der Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadats in Jerusalem 1977, die königliche Trauung von Charles und Diana 1981 (vgl. Dayan/ Katz 1985) und der erste Papstbesuch von Johannes Paul II. in Polen 1979.
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Medien als Strukturen und Akteure: Kommunikationswissenschaftliche Theoriediskussion zwischen System- und Handlungstheorie Patrick Donges
1 Medien im Spannungsfeld von Akteur-Struktur-Dynamiken Der Begriff des Mediums ist für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit ihrem Forschungsgegenstand der öffentlichen und massenmedial vermittelten Kommunikation ein zentraler Begriff. Wichtige Begriffe sind in den Sozialwissenschaften immer auch umstrittene, da von ihren unterschiedlichen Bedeutungsaspekten verschiedene Theoriestränge ausgehen. So ist die Frage, was „eigentlich“ ein Medium ist, auch für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft immer wieder von Relevanz – etwa wenn Phänomene wie die Konvergenz diskutiert werden (vgl. u. a. Burkart 2000). Die folgenden Überlegungen knüpfen an den Medienbegriff Ulrich Saxers an, der Medien als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen“ definiert (Saxer 1999: 6). Medien sind damit zugleich •
technische Kommunikationskanäle,
•
Organisationen bzw. Akteure mit eigenen Zielen und Interessen,
•
institutionalisiert im Sinne kollektiver Regelungsmuster wie auch
•
Sozialsysteme
•
mit funktionalen und dysfunktionalen Auswirkungen auf andere Teilbereiche oder Teilsysteme der Gesellschaft (Saxer 1999:6).
Saxers Medienbegriff verweist darauf, dass Medien als technische Infrastrukturen und die Art und Weise ihrer Nutzung nur dann angemessen erfasst werden können, wenn man die organisatorischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin-
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Patrick Donges
gungen nicht vernachlässigt, in denen es zur Ausbildung, Bereitstellung und Nutzung dieser Infrastrukturen kommt. Damit liegt ein Medienbegriff vor, der sowohl für die Mikroebene einzelner Individuen (Aspekt des Kommunikationskanals), die Mesoebene von Akteuren und Organisationen (Aspekt der Organisiertheit und Institutionalisierung von Medien) wie auch die Makroebene (Aspekt des Sozialsystems) fruchtbar gemacht werden kann (vgl. auch Donges 2005). Der folgende Beitrag nimmt drei dieser Aspekte auf und diskutiert den Begriff des Mediums als Systeme, Institutionen und Akteure. Damit wird der Begriff des Mediums eingebunden in ein heuristisches Modell von AkteurStruktur-Dynamiken, das Uwe Schimank (2000) vorgelegt hat und das von verschiedener Seite schon für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nutzbar gemacht wurde, so etwa bezogen auf den Journalismus (vgl. Neuberger 2000), die Ökonomisierung des Fernsehens (vgl. Wehmeier 1998, 2001) und die Rundfunkpolitik (vgl. Donges 2002). Abbildung:
Modell der Akteur-Struktur-Dynamiken Gesellschaftliche Strukturdimension
Handlungsprägung
Teilsystemische Orientierungshorizonte
Wollen
Institutionelle Ordnungen
Sollen
Akteurkonstellationen
Können
Handelndes Zusammenwirken
Gesellschaftliche Strukturierung
Quelle: Schimank 2000b: 247
Kurz gefasst versucht das Modell der Akteur-Struktur-Dynamiken gesellschaftliche Strukturierung durch das Zusammenwirkung von drei Strukturdimensionen mit unterschiedlichen Handlungsprägungen zu erklären: Teilsystemische Orientierungshorizonte, die hochgradig generalisierte Wollensvorgaben modellieren (Politik strebt Macht an, Ökonomie Profit etc.), institutionelle Ordnungen, die diese allgemeinen Vorgaben spezifizieren und in Regeln, Normen und
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Erwartungen konkretisieren, und schließlich konkrete Akteurkonstellationen, in denen Akteure ihre Handlungsziele umsetzen können – oder eben nicht. Die Handlungsprägungen der drei Strukturebenen wirken zusammen, und durch die aus ihnen resultierenden Handlungen kommt es wiederum zu Prozessen der gesellschaftlichen Strukturierung und Differenzierung. Der Beitrag versucht, Medien in dieses heuristische Theoriemodell zu integrieren und nach dem Erklärungsgewinn der unterschiedlichen Perspektiven zu fragen, in denen Medien als Systeme, Institutionen und Akteure betrachtet werden.
2 Medien als System Ist in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft von einem Mediensystem die Rede, oder wird Bezug auf „die“ Systemtheorie genommen, so ist damit meistens die Theorie selbstreferenzieller Systeme von Niklas Luhmann gemeint (vgl. die Beiträge von Ziemann; Scholl/Görke in diesem Band). Zwar ist die Theorie selbstreferenzieller Systeme heute die führende innerhalb der differenzierungstheoretisch argumentierenden Systemtheorien, aber eben nicht die einzige. Gerade für publizistik- und kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar ist meines Erachtens der Systembegriff von Renate Mayntz, der funktionale Teilsysteme nicht wie Luhmann als Kommunikations-, sondern als Handlungssysteme begreift: „Funktionelle Teilsysteme lassen sich als gesellschaftsweit institutionalisierte, funktionsspezifische Handlungszusammenhänge definieren. Ihr Konstitutionskriterium ist ein spezieller Sinn, der auf der normativ-kognitiven Ebene als besondere Handlungslogik oder Handlungsrationalität und auf der Handlungsebene als eine besondere Tätigkeit identifizierbar ist (wobei es der spezielle Sinn ist, der die Ausgrenzung der Tätigkeit erlaubt).“ (Mayntz 1988: 17-18)
Dieser Systembegriff unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von dem Systembegriff Luhmanns. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die Relevanz der Funktion und der Leistungen eines Teilsystems, die Frage seiner Autonomie respektive Autopoiesis und der Definition des Begriffs ‚funktionale Differenzierung‘. Funktion und Leistung: In der Theorie selbstreferenzieller Systeme wird der „spezielle Sinn“ (Mayntz) eines funktionalen Teilsystems gleichsam „von oben“ durch die Zuweisung einer für die Gesamtgesellschaft notwendigen Funktion festgelegt. Gegen diese Vorgehensweise kann aus akteurtheoretischer Perspektive jedoch argumentiert werden, dass damit eine ausschließlich soziologische Beobachtungskategorie eingenommen wird, die rein theoretisch bleibt und sich
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empirischen Zugängen verschließt. Im Alltagsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder und auch der jeweiligen teilsystemischen Leistungsträger wird die jeweilige Funktion als „spezieller Sinn“ kaum präsent sein (vgl. Schimank 2000b: 248-249). Denn es sind ja die Leistungen und nicht die Funktion, an Hand derer gesellschaftliche Akteure ein Teilsystem als solches identifizieren. Das Konstitutionskriterium funktionaler Teilsysteme wird damit zur empirischen Frage und davon abhängig gemacht, ob Akteure ein Teilsystem an Hand seiner Leistung als solches anerkennen. Erst die Identifikation und Anerkennung eines Teilbereichs der Gesellschaft als funktionales Teilsystem durch andere Akteure ermöglicht den Aufbau von Gegenleistungserwartungen und die Herausbildung von Produzenten- und Abnehmerrollen (vgl. Mayntz 1988: 19): „Die Ausgrenzung einzelner funktioneller Teilsysteme in der Wahrnehmung der Gesellschaftsmitglieder ist ihrerseits eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung von Ansprüchen der exklusiven Zuständigkeit, besonderer Zugangsbedingungen oder auch spezieller Aufmerksamkeit seitens des politischen Systems. Insofern findet eine Wechselwirkung zwischen symbolisch-kognitiven Prozessen der Definition und sozialstrukturellen Ausdifferenzierungsvorgängen statt, die sich gegenseitig stützen.“ (Mayntz 1988: 23)
Schimank beschreibt solche funktionalen Teilsysteme aus Sicht der Akteure auch als Akteurfiktionen, als „abgrenzbare Zusammenhänge generalisierter sinnhafter Orientierungen, die den Akteuren als allgemein verbreitete situationsdefinierende Fiktion gegenwärtig sind“ (Schimank 1992: 169) und damit ihr allgemeines „Wollen“ prägen. Fiktionen definiert Schimank dabei als simplifizierende Abstraktionen, die gesellschaftliche Akteure an die Stelle der Kontingenz sozialer Situationen setzen (vgl. auch Schimank 1988: 635). Akteure richten ihr Handeln zum einen an Strukturen und Teilsystemen aus und erwarten zugleich, dass andere Akteure dies ebenfalls tun. Dadurch wird die Adäquanz der Fiktion immer wieder bestätigt, wodurch sie in weiteren Situationen beibehalten werden kann und bezüglich der wechselseitigen Interaktionserwartungen der Akteure eine komplexitätsreduzierende Funktion erfüllt. Autonomie und Autopoiesis: In der Frage der operativen Geschlossenheit funktionaler Teilsysteme, ihrer Autonomie gegenüber anderen Systemen und der Autopoiesis als Form ihrer Reproduktion argumentiert Luhmann bekanntlich sehr apodiktisch: „Ein System ist autopoietisch, oder es ist es nicht“ (Luhmann 1987: 318). Gegen diese binäre Sichtweise Luhmanns kann grundlegend eingewandt werden, dass es allenfalls den Unterschied zwischen modernen zu vormodernen Verhältnissen markiert, aber als analytische Kategorie zur Analyse von Veränderungstendenzen in der Gegenwart nur bedingt geeignet ist (vgl. Schimank 2000b: 168). Vielmehr sollte zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass es unterschiedliche Stufen der Teilsystembildung gibt
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und Systeme auch unterschiedlich autonom gegenüber ihrer Umwelt sind. Erst wenn Teilsysteme einen hohen Grad an funktionaler Ausdifferenzierung erreicht haben, wenn sie eine eigene Handlungslogik entwickeln und institutionell festigen, werden sie von anderen Akteuren als eigenständig und abgrenzbar wahrgenommen. Der Grad der Ausdifferenzierung von Teilsystemen wird zur empirischen Frage gemacht und unterschiedliche Grade der selbstreferenziellen Geschlossenheit von Teilsystemen unterschieden (vgl. Gerhards 1991: 268). Funktionale Differenzierung: In Luhmanns Theorie selbstreferenzieller Systeme bildet Evolution den grundlegenden Mechanismus funktionaler Differenzierung. „Gesellschaft ist das Resultat von Evolution“ (Luhmann 1997: 413). Evolution als Erklärungsvariable macht wenig Aussagen über die Mechanismen, auf Grund derer sich Systeme bilden und die Effekte hervorbringen, an deren Erklärung man interessiert ist (vgl. auch Schmid 2001: 142). Auch Schimank kritisiert an der Evolutionstheorie Luhmanns, dass „die Erklärungsleistung all dessen nicht sonderlich groß, und teilweise auch nicht sehr originell“, kurzum „bescheiden“ sei (Schimank 2000b: 182-183). Differenzierung kann nach Schimank weder ausschließlich system- oder handlungstheoretisch erklärt werden, sondern beide theoretischen Perspektiven sind relevant und erst ihre Kombination ist hier weiterführend. Schimank umschreibt Differenzierung damit, „dass Trennlinien durch zuvor Ungetrenntes gezogen werden: Sinngrenzen, die wie politische Grenzen Hoheitsgebiete etablieren“ (Schimank 1999: 48), und unterscheidet drei Fälle : •
Erfolgreiche Differenzierungspolitik, indem handlungsfähige Sozialsysteme (Akteure) eine bestimmte Differenzierungsstruktur anstreben und diese verwirklichen.
•
Erfolglose Differenzierungspolitik, indem handlungsfähige Sozialsysteme eine bestimmte Differenzierungsstruktur zwar anstreben, jedoch eine andere, nicht-intendierte realisieren.
•
Unbeabsichtigte Differenzierungseffekte, indem handlungsfähige Sozialsysteme ohne gezielte Absicht die Differenzierungsstruktur verändern (vgl. Schimank 1985: 428).
Funktionale Differenzierung ist damit aus Schimanks Sicht „nur als Ergebnis von Interessen- und Einflusskonstellationen gesellschaftlicher Akteure im Rahmen funktionaler Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion angemessen rekonstruierbar“ (Schimank 1985: 422). Die Unterscheidung handlungsprägender und handlungsfähiger Sozialsysteme sowie die Differenzierung funktionaler Erfordernisse auf der einen und Interessen- und Einflusskonstellationen auf der anderen Seite sind dabei sowohl Ursachen funktionaler Differenzierung als auch
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deren Mechanismus – „Differenzierung erklärt Differenzierung“ (Schimank 1985: 432). Was sind die Vorteile eines solchen Systembegriffs, der auf Handlungen statt auf Kommunikation rekurriert? •
Bezüglich der Relevanz von Funktion und Leistung lenkt er den Blick von der etwas mühsamen Diskussion um die Funktion eines Medien- oder publizistischen Systems hin zur Frage der spezifischen Leistungen der Medien für andere gesellschaftliche Teilsysteme. Denn so wenig es die Medien gibt, so wenig gibt es eine Funktion des Mediensystems, sondern „nur spezifische Informationsleistungen von Medienkommunikation bezüglich der Bedarfslagen spezifischer Systeme“ (Saxer 1998: 56). Die interne Differenzierung des Mediensystems in informations- und unterhaltungsorientierte Medienangebote, ‚general interest‘ und ‚special interest‘-Angebote, Leit- und Folgemedien etc. ist auch in systemtheoretischen Überlegungen Rechnung zu tragen.
•
Im Unterschied zur Annahme einer operativen Geschlossenheit und Autopoiesis des Mediensystems werden im Modell eines Handlungssystems unterschiedliche Grade an Autonomie und auch Überschneidungen von Handlungsorientierungen angenommen (vgl. mit Bezug auf Journalismus etwa Weber 2000). Dieser Kerngedanke ist für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft gerade deshalb relevant, weil Publizistik eine ausgesprochen schwache Handlungsorientierung darstellt. Zum einen verfolgen Medien als Akteure immer mehrere Handlungsorientierungen, das heißt im Unterschied zu stärker ausdifferenzierten Teilsystemen wie der Politik und der Ökonomie ist die Handlungslogik des eigenen Teilsystems nicht exklusiv. Medien als Akteure haben es auch nie geschafft, eine ausschließliche Zuständigkeit für die von ihnen erbrachten Leistungen gesellschaftsweit durchzusetzen. Es gibt keine Zugangskontrollen zu entsprechenden Berufen, kein teilsystemspezifisches Wissen, das anderen Akteuren in der Gesellschaft als exklusiv zu vermitteln wäre. Publizistik ist vielmehr ein offenes System in dem Sinne, dass die Besonderheit seiner Handlungslogik bei den Akteuren immer wieder neu und gegen Widerstände durchgesetzt werden muss.
Gerade die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft braucht ein Differenzierungsverständnis, das nicht nur Prozesse funktionaler Differenzierung erklärt, sondern auch ihr Gegenstück: die Entdifferenzierung. Bei dem Gegenstand unserer Disziplin, der öffentlichen, massenmedial verbreiteten Kommunikation, sind Prozesse der Entdifferenzierung gegenwärtig problematischer und erklärungsbedürftiger: Journalistische Berufsrollen verschwinden, die Grenzen zwischen Journalismus, Public Relations und Literatur werden fließender, bran-
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chenfremde Akteure gewinnen an Bedeutung. Die Systemtheorie gerät hier in Erklärungsnotstand. Können sich autopoietische Systeme eigentlich zurückbilden – wie Blöbaum etwa bezogen auf den Journalismus gefragt hat (vgl. Blöbaum 2000: 182)? Entdifferenzierungsprozesse des Journalismus scheinen mir nur dann plausibel erklärbar zu sein, wenn man die an ihnen beteiligten Akteure und ihre Differenzierungspolitiken berücksichtigt.
3 Medien als Institutionen Innerhalb der Organisationstheorie sind unter der Bezeichnung Neo-Institutionalismus bzw. New Institutionalism in den vergangenen Jahren eine Reihe von Theorieansätzen diskutiert worden, die bislang von der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft kaum rezipiert wurden (vgl. u. a. DiMaggio/Powell 1991; Scott 2001; Walgenbach 2002; Hasse/Krücken 2005). Der Begriff der Institution wird hierbei allgemein mit Regeln, Normen oder kulturellen Selbstverständlichkeiten umschrieben: „Institutions are composed of cultural-cognitive, normative, and regulative elements that, together with associated activities, and resources, provide stability and meaning to social life“ (Scott 2001: 48). Sie sind also zugleich •
ein Set an gemeinsamen Symbolsystemen und geteilten Bedeutungen, das den Akteuren als scheinbar objektiv und äußerlich gegenwärtig ist (vgl. u. a. Zucker 1987: 444),
•
normative Vermittlungsinstanzen, die Werte und Normen verbindlich machen (vgl. u. a. Rehberg 1994: 57),
•
Regelsysteme, die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren begrenzen (vgl. u. a. Scharpf 2000).
Barley/Tolbert haben Institutionen zusammenfassend und treffend mit der Grammatik einer Sprache verglichen: „Institutions are to social action as grammar to speech” (Barley/Tolbert 1997: 96). Diese Metapher zeigt zugleich die Relevanz von Institutionen für soziale Handlungen an: Wir können noch so viele Wörter einer Sprache beherrschen – nur wenn wir ihren Syntax kennen, sind wir überhaupt in der Lage mitzuteilen, was wir möchten, und können uns mit anderen verständigen. Institutionen modulieren also nicht nur das konkrete Handeln von Akteuren, sondern auch ihre Wahrnehmungen und die Präferenzen, die sie legitimerweise anstreben können. Akteure sind grundsätzlich institutionell konstituiert (vgl. u. a. Scharpf 2000: 78; Türk 1997: 146).
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Im Modell der Akteur-Struktur-Dynamiken stehen Institutionen „in der Mitte“ zwischen funktionalen Teilsystemen und konkreten Akteurkonstellationen. Schimank verweist auch darauf, dass die Kategorie der Institution „etwas analytisch Sperriges in der Mitte“ zwischen einzelnen Akteuren und Strukturen darstellt und je nach Fragestellung einem der beiden Pole zugeschlagen werden kann. Institutionen werden einerseits durch das Handeln von Akteuren geschaffen und reproduziert, auf der anderen Seite werden sie zugleich als etwas Zwanghaftes angesehen (vgl. Schimank 2000b: 245-246). Zentral ist für Schimank die normative Modalität von Institutionen: Institutionen schaffen für die Akteure wechselseitige Erwartungssicherheiten, da sie sowohl Regeln für das eigene Handeln als auch für das Handeln anderer Akteure enthalten (Schimank 2000b: 245). So bemerkt auch Esser aus handlungstheoretischer Perspektive: „Eine Institution sei – ganz knapp und allgemein gesagt – eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen“ (Esser 2000: 2). Akteurtheoretisch formuliert, sind Institutionen also „operationale Vorgaben dazu, wie Akteure bestimmte Situationen wahrnehmen und beurteilen und wie sie demzufolge dann handeln sollten“ (Schimank 1992: 170). Medien erfüllen diese Vorgaben in vielerlei Hinsicht (vgl. auch Donges 2006): •
Medien erzeugen ihre eigenen Regeln und Regelsysteme. Allein die Nachrichtenfaktoren bilden grundlegende Regeln, die darüber entscheiden, was und wie öffentlich kommuniziert wird.
•
Medien schaffen und festigen normative Erwartungen. Zum einen müssen Akteure ständig mit einer Medienberichterstattung rechnen und sich entsprechend ständig auf eine Nachfrage einstellen (vgl. u. a. Jarren 2001: 10). Zum anderen beobachten Akteure auch, dass sie von den Medien beobachtet werden – eine Voraussetzung für die Ausbildung wechselseitiger Erwartungssicherheiten. Die Beobachtung von Beobachtung – systemtheoretisch formuliert die Beobachtung zweiter Ordnung – liefert damit das Potenzial für eine Reflexion über Werte und Normen in der Gesellschaft insgesamt (vgl. Marcinkowski 2001: 101, 2002: 117).
•
Medien sind kulturelle Selbstverständlichkeiten. Akteure haben ein Verständnis davon, wie Medien funktionieren und welche Wirkung sie haben. Die Wirkung, die Medien in Bezug auf Akteure entfalten, entsteht also nicht aus diesen selbst heraus, sondern aus dem Verständnis, das Akteure von den Medien haben: „Existing media logic is so incorporated into contemporary urban society that media professionals and the public take for granted that ‘seeing’ social phenomena through media logic is ‘normal’” (Altheide/Snow 1979: 236). Gerade aus der kulturellen Selbstverständlichkeit heraus können Medien ihre Wirkung auf die Gesellschaft entfalten:
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„Media are powerful because people have adopted a media logic. Since people perceive, interpret, and act on the basis of the existing media logic, that logic has become a way of life” (Altheide/Snow 1979: 237). Begreift man Medien als Institutionen, so eröffnen sich für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft eine Reihe interessanter Fragestellungen: Wie nehmen Akteure die verschiedenen institutionellen Umwelten wahr, in denen sie handeln? Wie verarbeiten sie die Anforderungen dieser Umwelten? An welchen Stellen kommt es zu Widersprüchen zwischen einzelnen institutionellen Umwelten oder zwischen diesen und den Ressourcen oder Interessen einer Organisation – und wie reagiert die Organisation auf solche Konflikte? Wie balancieren sie institutionelle Anforderungen aus? Das wären sowohl theoretisch als auch empirisch zu klärende Fragestellungen.
4 Medien als Akteure In der letzten Strukturdimension lassen sich Medien als Organisationen und Akteure interpretieren. Medien werden im Alltagsverständnis zwar häufig als Akteure bezeichnet, diese Zuweisung wird aber nur wenig reflektiert (vgl. etwa Page 1996). Es ist jedoch sinnvoll danach zu fragen was es heißt, Medien den Status eines Akteurs zuzuschreiben. Allgemein werden als Akteure handelnde Einheiten bezeichnet, die sowohl aus einem Individuum (individuelle Akteure bzw. Akteure erster Ordnung) als auch aus einem Kollektiv (komplexe Akteure bzw. Akteure zweiter Ordnung) bestehen können. Komplexe Akteure unterscheiden sich von Kollektiven durch das Merkmal ihrer kollektiven Handlungsfähigkeit, was nach Geser bedeutet, dass „Vorgänge, Ereignisse oder andere Bewirkungen identifizierbar [sind], die zwingend dem Kollektiv als Verursachungsinstanz zugerechnet werden müssen“ und von denen „zumindest einige“ als Handlung bezeichnet werden können, „weil zweifelsfrei erkennbar ist, dass ihnen Prozesse autonomer Selektivität, sinnhafter Intentionalität und zielgerichteter Rationalität zu Grunde liegen“ (Geser 1990: 402-403). Anders formuliert: Komplexe Akteure sind in der Lage so zu handeln, als wären sie eine einzelne Person. Dieses Handeln bezieht sich intentional auf ein gemeinsames Ziel, das durch das aufeinander abgestimmte individuelle Handeln erreicht werden soll, und erst die Absicht, ein gemeinsames Produkt zu schaffen oder ein gemeinsames Ziel zu erreichen, macht aus einem Kollektiv einen komplexen Akteur (vgl. u. a. Schimank 2000a: 308; Scharpf 2000: 101; Allmendinger/Hinz 2002: 10-11).
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Komplexe Akteure können wiederum in kollektive und korporative Akteure unterschieden werden. Die Differenzierung dieser beiden grundlegenden Typen komplexer Akteure ist in der Literatur nicht einheitlich, da unterschiedliche Unterscheidungsmerkmale zu Grunde gelegt werden, etwa die Form der Handlungskoordination (vgl. Scharpf 2000), Ressourcenzusammenlegung (vgl. Mayntz/Scharpf 1995) oder bindenden Vereinbarungen (vgl. Schimank 2000a). Wichtiger für unsere Zwecke ist die Frage, durch welche zentralen Merkmale sich komplexe Akteure von anderen Formen sozialer Zusammenschlüsse unterscheiden. In dem von Mayntz und Scharpf entwickelten Forschungsansatz des akteurzentrierten Institutionalismus werden Akteure durch die Merkmale Handlungsorientierungen (Wahrnehmungen und Präferenzen) und Fähigkeiten charakterisiert (vgl. Scharpf 2000: 95). Diese drei Merkmale von Akteuren tauchen, wenn mitunter mit anderen Begriffen, auch bei weiteren akteurtheoretisch argumentierenden Autoren auf: •
Akteure verfügen über eine Wahrnehmung, das heißt sie sind in der Lage, ihre Umwelt zu beobachten, aus diesen Beobachtungen Rückschlüsse zu ziehen und auch Vermutungen über Phänomene anzustellen, die sich einer direkten Beobachtung entziehen. Inwieweit komplexe Akteure zu einer solchen Wahrnehmung fähig sind, ist in der Literatur umstritten – spätestens seit in den 1950er Jahren Ansätze der begrenzten Rationalität entwickelt wurden, die davon ausgehen, dass Akteure in der Regel über ein unvollständiges Wissen verfügen, das heißt ihnen nicht alle Entscheidungsalternativen bekannt sind und sie auch gar nicht die kognitiven Fähigkeiten haben, alle Handlungsalternativen zu kennen (vgl. u. a. March/Simon 1993: 158-163).
•
Akteure besitzen Präferenzen, die sich im Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus aus unterschiedlichen Komponenten wie Interessen, Normen, Identitäten und Interaktionsorientierungen zusammensetzen (vgl. Scharpf 2000: 117). Der Begriff der Präferenz wird hier bewusst dem des Interesses vorgezogen, „verführt“ doch der Interessenbegriff „mit seinen höchst unterschiedlichen Bedeutungsgehalten […] zur unscharfen Verwendung“ (Mayntz/Scharpf 1995: 54). Der Begriff des Interesses wird häufig verengt auf einen unmittelbaren Nutzen, den Akteure anstreben, oder auf das Ziel, das eine Organisation nach außen ausflaggt, die Leistung, die sie erreichen möchte. Interessen bilden zwar einen wichtigen, aber eben nur einen Teil der Präferenzen von Akteuren. Weitere Präferenzen ergeben sich zum Beispiel aus den normativen Erwartungen, die an Akteure gerichtet werden. Solche normativen Erwartungen sind zum Teil als systemweit gültige Werte formuliert oder ergeben sich aus den jeweiligen institutionellen Ordnungen, aus denen die Akteure heraus handeln. Ferner haben komplexe
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Akteure die Fähigkeit, eine eigene Identität herauszubilden. Damit meint Scharpf, dass sie eigene Interessen und Normen definieren können und in der Lage sind, „spezifische Aspekte des Eigeninteresses selektiv hervorzuheben“ (Scharpf 2000: 119). Schimank unterscheidet Identitäten nach evaluativen Selbstansprüchen („konkrete Utopien über sich selbst“), normativen Selbstansprüchen („Gewissen“) und kognitiven Selbsteinschätzungen, die die beiden Formen der Selbstansprüche relativieren können (vgl. Schimank 2000a: 123-125). In Konstellation mit anderen bilden Akteure schließlich Interaktionsorientierungen aus, das heißt eine „subjektive ReDefinition einer ‚objektiven’ Interessenkonstellation“ durch den Akteur (vgl. Scharpf 2000: 149). Eine Interaktionsbeziehung zwischen Akteuren kann damit für die Beteiligten einen Eigenwert annehmen, das heißt sie berechnen Beziehungen nicht nur nach dem kurzfristigen Nutzen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich Akteure grundsätzlich feindlich gesinnt sind und sich wechselseitig schaden wollen (vgl. Scharpf 2000: 152). •
Akteure besitzen Fähigkeiten oder Ressourcen, die sie zur Erreichung bestimmter Handlungsziele einsetzen. Mit dem Begriff Fähigkeiten können nach Scharpf alle „Handlungsressourcen bezeichnet werden, die es einem Akteur ermöglichen, ein Ergebnis in bestimmter Hinsicht und zu einem gewissen Grad zu beeinflussen“ (Scharpf 2000: 86). Welche Fähigkeiten oder Ressourcen relevant sind, hängt von der jeweiligen Handlungssituation ab. Giddens würde diese Form der Fähigkeiten in seiner Theorie der Strukturation als Macht bezeichnen: „Handeln hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, ‚einen Unterschied herzustellen’ zu einem vorher existierenden Zustand oder Ereignisablauf, das heißt irgendeine Form von Macht auszuüben“ (Giddens 1995: 66). Ressourcen wiederum sind für Giddens „Medien, durch die Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird“ (Giddens 1995: 67). Die Kategorie der Fähigkeiten und Ressourcen entzieht sich aber einer theoretischen Klassifikation: Welche Ressource unter welchen Bedingungen wirkungsvoll ist, ist so stark von den Kontexten abhängig, dass darüber im Rahmen eines allgemeinen Ansatzes wenig Brauchbares ausgesagt werden kann (vgl. Scharpf 2000: 95). Anders formuliert: „Resources can be almost everything that is perceived as valuable“ (Pfeffer 1992: 87).
Diese ausführliche Diskussion der Merkmale eines Akteurs soll zeigen, dass die Zuweisung des Akteurstatus an Medienorganisationen nicht vorschnell erfolgen sollte: Medien als Akteure verfügen über eine kollektive Handlungsfähigkeit, sind in der Lage, ihre Umwelt wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen zu verarbeiten, können Präferenzen ausbilden und ihre Fähigkeiten und Ressourcen
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auf die Verfolgung dieser Präferenzen hin abstellen – höchst voraussetzungsvolle Merkmale also, die aus einer Gruppe von Individuen einen Akteur machen. In Akteurkonstellationen treffen die Akteure eines Teilsystems mit ihren spezifischen Wahrnehmungen, Präferenzen und Fähigkeiten auf andere Akteure mit ebenso spezifischen Merkmalen. Dadurch entstehen sowohl Handlungsmöglichkeiten als auch -restriktionen: Die Akteure beobachten sich wechselseitig, nehmen ihre Präferenzen gegenseitig wahr und sehen sich als mögliche Hindernisse oder als Verbündete bei der Realisierung der eigenen Interessen. Erst aus der Beobachtung anderer Akteure, ihrer Situationsdeutung und ihres konkreten Handelns erhält der Akteur Informationen darüber, was von ihnen zu erwarten ist, welche Auswirkungen ihr Handeln auf die eigenen Handlungsziele haben, und wie die Interaktion koordiniert werden kann, um die eigenen Handlungsziele zu erreichen. Sie entwickeln grundlegende Interaktionsorientierungen, wie etwa bei Scharpf (2000: 152) Individualismus, Solidarität, Wettbewerb, Altruismus und Feindschaft.
5 Konklusion Was bringt die Anwendung des Modells der Akteur-Struktur-Dynamiken auf die Medien für die Theoriediskussion der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft? Es konnte gezeigt werden, dass Medien auf allen drei Ebenen eine Rolle spielen – als Teilsystem der Gesellschaft mit der Publizistik als spezifischer, aber nicht ausschließlicher Handlungsorientierung, als Institutionen, die diese Handlungsorientierungen in Regeln, Normen und kulturellen Selbstverständlichkeiten konkretisieren, und schließlich als Akteure, die in konkrete Akteurkonstellationen eingebunden sind. Sowohl theoretisch als auch empirisch spannend sind die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ebenen, das „handelnde Zusammenwirken“, das rekursiv wiederum zu gesellschaftlicher Strukturierung führt. Akteurkonstellationen können sich relativ kurzfristig verändern – sei es durch das Auftauchen neuer Akteure oder durch die Veränderung der Präferenzen bereits in Konstellationen eingebundener Akteure (wobei Veränderung der Präferenzen akteurtheoretisch eben nicht nur eine Verlagerung von Interessen meint, sondern auch von Normen, Identitäten und/oder Interaktionsorientierungen). Eine solche konkrete Veränderung ist beispielsweise die Ökonomisierung des Medienbereiches durch das Hinzutreten branchenfremder Akteure und der
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Veränderung der Orientierung bereits eingebundener Akteure, die auf Ökonomisierung nicht nur reagieren, sondern diese selbst auslösen (vgl. u. a. Altmeppen 2001). Solche Veränderungen auf der Ebene der Akteurkonstellationen führen mittelfristig auch zu einer Veränderung der institutionellen Ordnung. Die operationalen Vorgaben für die Situationswahrnehmung der Akteure und ihre Orientierung in Form von Spielregeln oder Regelwerken verschieben sich weg von der Publizistik hin zur Ökonomie. Schlussendlich kann es auf der Ebene der teilsystemischen Orientierungshorizonte langfristig zu einer Verschiebung zwischen dem publizistischen und dem ökonomischen Orientierungshorizont zu Gunsten letzterem kommen (so auch Wehmeier 2001: 321). Diese Verschiebung zeigt sich dann darin, dass Entscheidungen zur Veröffentlichung zunehmend nicht auf die Erwartungsstrukturen des Publikums rekurrieren, also nicht an Hand der Leitdifferenz des publizistischen Systems getroffen werden, sondern auf Basis der Erwartung von Zahlungen, also des ökonomischen Kodes, oder umgekehrt eine auf den Erwartungsstrukturen des Publikums aufbauende Veröffentlichung auf Grund der Erwartung von Zahlungen unterbleibt. Solche graduellen Verschiebungen der Handlungsorientierungen sind mit der Theorie selbstreferenzieller Systeme und ihrer Begriffe meines Erachtens nur schwer in den Griff zu bekommen. Die Systemtheorie Luhmanns hat Mühe damit, das langsame „Einsickern“ und den Import fremden Sinns in ein Handlungssystem zu erklären. Das Konzept der „strukturellen Kopplung“ löst diese Erklärungsprobleme nicht (vgl. Berger 2001: 225; vgl. auch Schimank 2001: 281). Für Begriffe wie Ökonomisierung, Verrechtlichung, Medialisierung und Entdifferenzierung im Sinne eines zunehmenden Graubereichs (etwa zwischen Journalismus und PR) bleibt die Theorie selbstreferenzieller Systeme „sprachlos“. Gerade das sind aber die Phänomene, welche die Theoriediskussion in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zukünftig beschäftigen wird.
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Produktion und Reproduktion von Öffentlichkeit: Über die Möglichkeiten, die Strukturationstheorie von Anthony Giddens für die Kommunikationswissenschaft nutzbar zu machen Franzisca Weder
1 Medien zwischen System und Akteur Die zum Makroleitbild der Postmoderne hochstilisierte Informations- und Mediengesellschaft zeugt von der medialen Durchdringung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche. Immer mehr Kommunikatoren sind in einem immer enger geflochtenen, grenz- bzw. bisherige Kommunikationsarenen überschreitenden Netzwerk von Kommunikationen vernetzt, die Kommunikationen vermehren, beschleunigen und globalisieren sich über bestehende institutionelle, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen hinaus. Damit einher geht der ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ (vgl. Habermas 1984), also einerseits die Ausdifferenzierung der Medien aus dem politischen System und ihre Orientierung an der Marktlogik des Wirtschaftssystems, in anderen Worten die soziale und ökonomische Ablösung der Medien von ihren herkömmlichen Trägern (Parteien, Verbänden, Verlegerverbänden etc.) und die Dualisierung der elektronischen Medien. Andererseits ergeben sich in damit verknüpften strukturellen Wandlungsprozessen neue Öffentlichkeitsstrukturen in den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen und eben über deren Grenzen hinweg. Darüber hinaus beteiligen sich durch die neuen Medien und entsprechend neue Formen der Interaktivität immer mehr Sprecher und damit verschiedenste Arten von ‚Kommunikations- oder ‚Content-Manager’ an der Herstellung von Öffentlichkeit. Zwei große strukturelle Veränderungsprozesse wirken also mit- bzw. ineinander: Von der einen Seite wirken die Veränderungsprozesse in den Medien, die sich sozial, politisch und ökonomisch von ihren herkömmlichen Kontexten gelöst und zu Dienstleistungsorganisationen mit Kapitalversorgung
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und Renditeerwartungen entwickelt haben (Jarren 2001: 10-19). Diese orientieren sich heute am Medienkonsumenten und dadurch an veränderten Selektions- und Interpretationslogiken. Auf der anderen Seite differenzieren sich neue Publikums- und Leistungsrollen aus. Digitalisierung, Konvergenz und die Durchdringung interaktiver Medien aller Lebensbereiche emanzipieren das Publikum zu Gestaltern von Öffentlichkeit. Parallel dazu schreitet die Rollendiversifikation der ursprünglichen ‚Sprecherrollen’ in der Öffentlichkeit voran, Journalisten werden zu Content-Produzenten, hinzu kommen Fachjournalisten und Kommunikationsmanager und -strategen aller Art. Interessant ist aber vor allem, dass neben der Ausdifferenzierung neuer Rollen, resultierend aus einer zunehmenden Funktionsäquivalenz, traditionelle Berufsrollen verschmelzen. Den Medien- und Kommunikationswissenschaftern stellt sich heute dementsprechend die Frage nach dem geeigneten theoretischen Instrumentarium, mit dem all diese Akteure, die Öffentlichkeit herstellen (wollen, sollen und können), differenziert in Bezug auf die Wandlungsprozesse der gesellschaftlichen und Öffentlichkeitsstrukturen beschrieben und damit fass-, versteh- und erklärbar gemacht werden können. Die Suche nach einem derartigen Instrumentarium führte bisher zumeist entweder über system- oder akteurstheoretische Ansätze. Versucht, diesen Dualismus zu überwinden, haben in der Soziologie Uwe Schimank mit seiner Theorie komplementärer Dynamik von System, Institution und Akteur (vgl. Schimank 2002a, 2002b, 2000) und daran anschließend Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt mit ihrem Konzept politischer Öffentlichkeit (vgl. Neidhardt 1994; Gerhards 1994). In der Kommunikationswissenschaft hat diese Idee bisher allerdings kaum Resonanz hervorgerufen. Nur vereinzelt versuchen einige Wissenschaftler, sich von der basalen theoretischen Dichotomie zu lösen, und wenn, dann zumeist „ohne jedoch den dynamischen Charakter der Komplementarität von teilsystemischen Orientierungshorizonten, institutionellen Ordnungen und Akteurskonstellationen zu berücksichtigen.“1 Ein erster gelungener Versuch der Übertragung der Idee gelang Christoph Neuberger (vgl. Neuberger 2000), der Journalismus als systembezogene Akteurskonstellation beschreibt. Patrick Donges hat diesen Ansatz auf die Medien als Strukturen und Akteure in seinem Beitrag im vorliegenden Band erweitert. Ein mit diesen Überlegungen zusammenhängender Lösungsvorschlag für eine Untersuchung der die Öffentlichkeit herstellenden Akteure in Bezug auf die sich verändernden Gesellschafts- bzw. Öffentlichkeitsstrukturen ist die Adaption der Strukturationstheorie des Soziologen Anthony Giddens. Diese berücksichtigt die komplementäre Dynamik zwischen Akteur, Institution und System, erweitert sie um die Dimension der Rekursivität (dazu im Folgenden mehr) und ist damit weniger abstrakt. Sie setzt auf der Mesoebene an und verbindet Makro- und Mikrountersuchungsebene gleichsam über die Mesoebene.
Produktion und Reproduktion von Öffentlichkeit
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Die Fruchtbarkeit der Giddensschen Ideen zur Lösung konzeptioneller Probleme z. B. der Management- und Organisationstheorie wurde in der britischen und amerikanischen Literatur bereits zu Beginn der 1980er Jahre erkannt (vgl. Ranson et al. 1980; Whittington 1992). Auch in der deutschsprachigen Theorielandschaft findet Giddens in den letzten Jahren zunehmend Beachtung (vgl. Becker 2003; Ortmann/Sydow 2001; Windeler 2001). Im Folgenden soll gezeigt werden, wie eine Nutzbarmachung speziell für die Kommunikationswissenschaft aussehen könnte, genauer: an welchen Stellen sie die bisher genutzten Theorieperspektiven ergänzt und erweitert.
2 Die rekursive Verknüpfung von Struktur und Handlung Anthony Giddens’2 Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1990, 1995) wurde bereits in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen in unterschiedlicher Intensität diskutiert und als Folie auf verschiedene Problemlagen gelegt. Viele zählen Giddens inzwischen zusammen mit Habermas und Luhmann zu den als wichtigste zeitgenössische deutsche Theoretiker gehandelten Wissenschaftlern. Auch wenn Giddens’ Werk an deren philosophischen Tiefgang sicherlich nicht heranreicht3, füllt seine aus einer Kritik an objektivistischen und subjektivistischen Ansätzen der Soziologie resultierende Theorie der Strukturierung manch blinde Flecken der handlungs- und der systemtheoretischen Gesellschaftsperspektive und kann als der derzeit wohl gelungenste Versuch, den Dualismus von Mikro- und Makrotheorie zu überwinden, mit Recht also als ein ‚new type of theory‘ bezeichnet werden.4 Seine Theorie der Strukturierung wird diesbezüglich sogar als „Wendepunkt in der soziologischen Theorie“ bezeichnet – auch wenn es sich nicht um eine ‚Metatheorie‘ handelt, als die er sie selbst ausweist.5
2.1
Die Dualität von Struktur
Der Kern der Giddensschen Theorie der Strukturierung sind die Konzepte „Struktur“, „System“ und „Dualität von Struktur“. Funktionalisten und damit eine Mehrheit der Sozialwissenschaftler verstehen unter „Struktur“ eine Art Muster zur Strukturierung sozialer Beziehungen, zur Strukturierung von Gegenwärtigem. Strukturierung ist für Giddens das ständige ‚Werden‘ sozialer Systeme, er bezeichnet damit die „Bedingungen, die die Kontinuität oder Veränderung von Strukturen und deshalb die Reproduktion sozialer Systeme bestim-
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men.“6 Jede Gesellschaft birgt solche Strukturprinzipien in sich und reproduziert diese ständig; allerdings nur solange, bis der Übergang zu neuen Strukturprinzipien erfolgt, die die Grundlage eines anderen Gesellschaftstyps abgeben werden. Strukturprinzipien sind deswegen äußerst relevant, weil sie in Raum und Zeit weit ausgreifen und so einen gewissen objektiven, strukturellen Zwangscharakter für das Handeln der Subjekte bekommen, sie ermöglichen das Ausdehnen von Systemen über Raum und Zeit hinweg. Die „Praktiken, die […] die größte Ausdehnung in Raum und Zeit besitzen, kann man als Institutionen bezeichnen.“7 Struktur ist also kein Zwang, schränkt das Handeln nicht nach einem bestimmten Muster ein, sondern ermöglicht es. Das ist der erste wichtige Hinweis darauf, dass die Strukturationstheorie über die Theorie der komplementären Dynamik von Akteur, Institution und System und damit die Ansätze von Schimank oder Gerhards/Neidhardt hinaus geht, die Struktur als ‚contraints‘, als Handlungsbedingung verstehen: „Akteure wählen innerhalb der durch Systeme aufgespannten ‚constraints‘, durch die abstrakte Ziele substanziell vorgegeben und Mittel zur Erreichung der Ziele definiert sind, diejenigen Handlungen, die ihre spezifischen Ziele mit dem geringsten Aufwand erreichbar machen.“8
Soziale Strukturen begreift Giddens demgegenüber nicht als Orientierungshorizont, als handlungsprägende Bedingung, sondern als das Medium, in dem sich jedes Handeln vollzieht. Im Handeln nehmen Akteure also Bezug auf Regeln und Ressourcen; dabei reproduzieren sie gleichzeitig die Strukturen des Sozialen (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Prozess der reflexiven Strukturation
STRUKTUR : . ion bzw tut sti eren en n Ko duzi izier o dif pr re mo
Regeln
er Ko m ns ö ti be glich tutio gr en n: en ze bzw n .
Wissen
Quelle: Eigene Darstellung
Ressourcen
Können HANDLUNG
Raum
Zeit
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Der zentrale Gedanke der Giddensschen ‚duality of structure’ ist demnach: Strukturen sind zugleich Medium und Ergebnis von Handlung; Handlungen reproduzieren die Strukturen, auf die sie Bezug nehmen. In anderen Worten: Auf der einen Seite sind Handlungen immer schon konstitutive Elemente des Systems, dessen Strukturierungsmodalitäten ihre Hervorbringung erst ermöglichen. Auf der anderen Seite ist das Bestehen der Systeme das Ergebnis dieser Handlungen bzw. werden Systeme durch die Handlungen produziert und reproduziert. Wichtig ist, dass der Begriff der Rekursivität immer Replikation und Veränderung meinen kann. „Repliziert wird die Struktur, wenn sich die Akteure strukturkonform verhalten, aber nur dann. Denn Rekursivität bedeutet nicht Ausschaltung der prinzipiellen Kontingenz, sondern Akteure können auch der Struktur zuwider handeln, indem sie beispielsweise andere interpretative Schemata produzieren, wodurch sie die kognitive Ordnung eines sozialen Systems und somit dessen Struktur ändern kann.“9
Struktur ist demnach weder statisch noch objektiv existent, sie kann sich jederzeit verändern oder in gleicher Weise reproduziert werden, sie steht fortwährend unter der ‚Spannung des Handelns’. Bei der Reproduktion von Strukturmomenten reproduzieren die Akteure also auch die Handlungsgrundlagen, die Bedingungen, die ein entsprechendes Handeln ermöglichen. Diese Handlungsgrundlagen differenziert Giddens in Regeln und Ressourcen, die beide damit in die Produktion und Reproduktion sozialer Systeme eingehen.10 Als Regeln bezeichnet er generalisierbare Prozeduren, die die Aufrechterhaltung einer etablierten Handlungsfolge erlauben. Sie haben zwei Dimensionen: „Erstens legen sie die Bedeutung der Phänomene und der Kontextbedingungen fest, auf die man sich in seinem Handeln bezieht, wie auch die Art und Weise, wie man die erstrebten Ziele erreichen kann. Zweitens haben sie auch eine normative Komponente, die darüber bestimmt, wie Handlungen sozial bewertet werden11.“
In diesem Sinne unterscheidet Giddens also Regeln der Sinnkonstitution (Signifikation; Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata als Grundlage des Handelns bilden eine kognitive Ordnung einer Organisation) von Regeln der Sanktionierung sozialen Handelns (Legitimation; bilden die normative Ordnung einer Organisation). Die Struktur des Sozialen besteht nach Giddens neben diesen Regeln auch aus Ressourcen, genauer: allokativen und autorativen Ressourcen. Erstere beziehen sich auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung mit dem Ergebnis, die Herrschaft über Objekte, Güter oder materielle Phänomene zu erlangen. Autorative Ressourcen beziehen sich auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen bzw. Akteure überhaupt erst möglich machen. Die Ressourcen beschreiben also insgesamt die Möglichkeiten, auf die sich die Akteure in ihrer Zielverwirklichung beziehen können. Wichtig ist dann nur noch, inwieweit der Akteur seine Ressourcen auch mobilisieren kann.
350
Franzisca Weder
Regeln und Ressourcen ermöglichen Verbindungen zwischen den Handlungen, „indem sie dazu beitragen, die Beschränkungen zu überwinden, die durch die zeitliche und räumliche Positionierung der Akteure gegeben sind.“12
2.2
Akteure und ihr Handeln
Nach Giddens steuern Akteure nicht nur kontinuierlich den Fluss ihrer Aktivitäten und erwarten dasselbe auch von anderen Akteuren; „Sie kontrollieren routinemäßig ebenso die sozialen und physischen Aspekte des Kontextes, in dem sie sich bewegen.“13 Sie verfügen sowohl über ein Handlungsvermögen und können so direkt auf Ereignisse, Themen, Strukturen eingreifen und damit strukturellen Wandel gezielt initiieren bzw. auf diesen Bezug nehmen. Dies wird ergänzt durch ihr Reflexionsvermögen. Mit praktischem und diskursivem Bewusstsein können die Akteure Handlungen für sich rationalisieren und Handeln reflexiv steuern. Der Begriff des praktischen Bewusstseins ist fundamental für die Theorie der Strukturierung; das praktische Bewusstsein beinhaltet bei Giddens alles, was die Handelnden stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, Ziele bewusst im Kopf haben. Das ‚reflexive monitoring of action’ im Sinne einer routinemäßigen Überprüfung auf Vernünftigkeit findet dabei zum großen Teil auf einer Ebene praktischen Bewusstseins statt, also mit Hilfe impliziten Wissens. Routinemäßig werden die Situation und die anderen Teilnehmer der Situation eingeschätzt und die für die Situation angemessen erscheinenden Verhaltensweisen ausgewählt, durchgeführt und in ihrer Wirkung beurteilt. Handeln kann dabei stets unbeabsichtigte Folgen haben, da das Handlungswissen des Akteurs grundsätzlich als begrenzt verstanden wird und Akteure ja immer in soziale Kontexte eingebunden sind, die sie nicht völlig kontrollieren können. Genauso wenig sind ihnen alle Bedingungen, unter denen sie agieren, vollständig bekannt. Es ist also wichtig zu vermerken, dass die Handelnden zwar ein Wissen über den strukturellen Rahmen haben, dieses aber in typischer Weise beschränkt ist. Dies bedeutet, Gesellschaft und ihre Strukturen sind nicht bewusst gewolltes Resultat der sozialen Akteure, sondern die Reproduktion der Strukturen erfolgt auch durch die nicht intendierten Folgen menschlichen Handelns. Handlungen weisen zudem einen Wiederholungscharakter auf, der die materielle Grundlage für das ist, was Giddens das rekursive Wesen des gesellschaftlichen Lebens nennt. In anderen Worten:
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351
„Die Akteure sind bei der Hervorbringung ihrer Handlungen an vorgegebene Mittel gebunden und diese Bindung übt auch Einfluß auf die Folgen der Handlung aus. Dies führt wiederum dazu, dass die Akteure sich selbst und zugleich die Bedingungen reproduzieren, die die Mittel für ihre Handlungen bereitgestellt haben.“14
Zusammengefasst: Akteure reproduzieren also im Zuge ihres intentionalen Handelns die Strukturen sozialer Systeme und damit auch die sozialen Systeme selbst, indem sie sich auf soziale Praktiken und die Modalitäten der Strukturation beziehen.
3 Reproduktion von Öffentlichkeit durch intentionales und strategisches Handeln Auf der Grundlage dieser Gedanken kann nun sowohl Journalismus (intentionales Kommunikationshandeln) als auch Organisationskommunikation oder andere Formen des gezielten Kommunikationsmanagements mit dem Ziel bzw. Ergebnis der Herstellung von Öffentlichkeit (strategisches Kommunikationshandeln) mit Hilfe der Giddensschen Strukturationstheorie rekonstruiert und erklärbar gemacht werden. Für die Auffindung von entsprechenden Strukturationsprinzipien, im vorliegenden Fall also rekursiv verknüpften Kommunikationsstrukturen und -handlungen, empfiehlt Giddens selbst: „Die Identifizierung der Strukturprinzipien und ihre Verbindung in zwischengesellschaftlichen Systemen stellt die umfassendste Ebene der institutionellen Analyse dar. Anders ausgedrückt, bezieht sich die Analyse von Strukturprinzipien auf jene Weisen der Differenzierung und Vernetzung von Institutionen, die in Raum und Zeit am weitesten und dauerhaftesten ausgreifen.“15
Kommunikationstheoretisch wird davon ausgegangen, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme Selbstbeobachtungen produzieren, Umwelterwartungen ausbauen und gleichzeitig der Umweltbeobachtungen anderer Teilsysteme bedürfen, die ihnen eine Orientierung in ihrer von verschiedenen Beobachterperspektiven geprägten (pluralistischen) Gesellschaft ermöglichen. Öffentlichkeit wird hier im Sinne Neidhardts in Abgrenzung vom und gleichzeitiger Weiterentwicklung des ‚Spiegelmodells’ von Luhmann (vgl. Luhmann 1988, 1996) und des ‚Diskursmodells‘ von Habermas (vgl. Neidhardt 1994; Habermas 1981, 1984) als ein ‚Arenenmodell‘ der Öffentlichkeit und der öffentlichen Kommunikation, als ein offenes Kommunikationssystem verstanden, das ‚quer‘ zu den gesellschaftlichen Teilsystemen liegt. ‚Öffentlichkeit’ bezeichnet in diesem Fall eine ‚soziale Handlungssphäre’ (Peters 1994: 44), ein ‚Netzwerk für die Kommunikation von Meinungen’ (Habermas 1992: 436), innerhalb derer das Prinzip
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Öffentlichkeit realisiert werden kann (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990; Habermas 1992: 435ff.). Hier findet der ‚Austausch der Selbstbeobachtungen und Umwelterwartungen‘ statt. Journalismus ist dann die auf das System Öffentlichkeit bezogene Akteurskonstellation, die durch das auf der Mesoebene verortete Funktionssystem Publizistik den ‚Sinn der Öffentlichkeit‘ operationalisiert. Die Publizistik wird also verstanden als institutionalisierte Ordnung, durch die der Journalismus die Umwelterwartungen und Selbstbeobachtungen der Teilsysteme veröffentlicht, genauer: in Beziehung setzt und damit Öffentlichkeit im Sinne Giddens (re-)produziert. In Ergänzung dazu wird Kommunikationsmanagement (also alles strategische Kommunikationshandeln) parallel zur Publizistik auf der Ebene der institutionellen Ordnungen verortet und Öffentlichkeitsarbeit/PR oder Organisationskommunikation verstanden als die Akteurskonstellationen, die den Sinn eines gesellschaftlichen Teilsystems mit ihren Regeln und Ressourcen operationalisieren. Das heißt konkret, dass beispielsweise Öffentlichkeitsarbeit Selbstbeobachtungen eines Teilystems (auch z. B. einer Organisation) herstellt, die dann ggf. durch den Journalismus in Beziehung setzbar wären. Aus diesen Selbstbeobachtungen können also – wenn durch den Journalismus in Beziehung gesetzt – potenziell Umweltbeobachtungen werden. Auf diese Weise entsteht Öffentlichkeit. Öffentlichkeitsarbeit konstituiert in diesem Sinne wie auch Journalismus Öffentlichkeit, reproduziert wie Journalismus durch die entsprechenden Handlungen die Öffentlichkeitsstrukturen. Öffentlichkeit ist damit das Prozessprodukt der von PR hergestellten und vom Journalismus selektierten und in Beziehung gesetzten Organisationskommunikationen. Wie lassen sich nun diese intentionalen und strategischen Handlungen, die Öffentlichkeit herstellenden Akteure, in Bezug auf diese (re-)produzierten, möglicherweise einem Strukturwandel unterstellten Strukturen der Öffentlichkeit erklären?
3.1
Intentionales Kommunikationshandeln
Giddens unterscheidet, wie beschrieben, die drei Dimensionen des Sozialen (Signifikation, Legitimation und Herrschaft, vgl. Abbildung 2) auf der Strukturebene und verortet demgegenüber kommunikatives, sanktionierendes Handeln und Machtausübung auf der Interaktionsebene. Die Rekursivität wird durch Akteure hergestellt, die in ihren Interaktionen auf Regeln und Ressourcen der Strukturebene zurück greifen (müssen). Dadurch wird ihr Handeln einerseits ermöglicht aber eben auch restringiert. Die Regeln und Ressourcen werden dabei von den Akteuren je nach Situation, eigenen Erfahrungen, Kompetenz und
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353
Rang spezifisch aufgegriffen und somit zu Modalitäten des eigenen Handelns. Im Anschluss an die erwähnten Überlegungen Schimanks, Gerhards, Neubergers oder Donges ist in dem Schema also erstens das Verbindungstheorem der Theorie komplementärer Dynamik zwischen Akteur, Institution und System zu erkennen. Abbildung 2: Die Dimensionen des Sozialen Struktur
Signifikation
(Modalität)
interpretatives Schema
Interaktion
Kommunikation
Herrschaft
Legitimation
Fazilität
Norm
Macht
Sanktion
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Giddens (1995)
Die Öffentlichkeit ist in diesem Sinne der teilsystemische Orientierungshorizont eines Leistungssystems Journalismus. Journalismus stellt Öffentlichkeit her, Vermittlungsaufgaben sind Recherche, das Auswählen, Prüfen und Darstellen von Informationen und Meinungen. Dafür stehen ihm entsprechende autoritative und allokative Ressourcen zur Verfügung. Er ist zumindest in einem Mindestmaß eingebunden in eine bestimmte Organisationsform und entsprechende Mechanismen des Leistungsaustauschs und folgt bei der Auswahl und der Darstellung der teilsystemischen Selbstbeobachtungen entsprechenden Selektionskriterien. Sowohl ein freier Mitarbeiter als auch ein festangestellter Redakteur ist in redaktionelle Herrschaftsstrukturen eingebunden, ist konfrontiert mit realen (z. B. Sanktionen des Chefredakteurs, des Verlegers) und strukturell bedingten Machtmitteln (ökonomischer und zeitlicher Druck), folgt in seinen Interaktionen diesen Strukturen und reproduziert sie dadurch. Journalismus besitzt besondere gesellschaftliche Funktionen (‚In-Beziehung-Setzen‘ der Selbstbeobachtungen der Teilsysteme, Thematisierung durch dieses Herstellen von Umweltbeobachtungen, damit Synchronisation der Gesellschaft), seine Regeln der Legitimation und orientiert sich am Leitwert „Aktualität“ als Regel der Sinnkonstitution. Wir erinnern: Regeln wurden nicht nur als rein formale Vorschriften (vergleichbar den Regeln eines Spiels) aufgefasst, sondern es wird stets die unmittelbare Verknüpfung der Regel mit der Praxis,
354
Franzisca Weder
also dem Handeln gesehen. Regeln sind in diesem Sinne „sprachliche Ausdrücke geformte Interpretationen eines bestimmten Ablaufs“16, in Giddens Worten „Techniken oder verallgemeinerbare Verfahren […], die in der Ausführung/ Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden“17. Regeln sind also für die Konstitution von Sinn (Erklärung eines Spiels, Signifikation) und für die mit Sanktionen verbundenen Regulationen eines Handlungsablaufs (Legitimation) verantwortlich und damit wie die Ressourcen definitionsgemäß Elemente einer Struktur. Sinnkonstituierende Regeln der Publizistik sind beispielsweise Nachrichtenfaktoren, verstanden als interpretatives Schema, das die intentionale Kommunikation leitet. Ein Redaktionsstatut, der Pressekodex oder auch die für den einzelnen Journalisten geltende Berufs- bzw. Individualethik sind die Regeln der Legitimation, die Normen, die neben den geltenden rechtlichen Normen (Medienrecht, Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit etc.) Kommunikationshandeln leiten und gegebenenfalls sanktionieren. Sowohl durch das Befolgen als auch das Nicht-Befolgen derartiger Regeln im kommunikativen Handeln, genauer: während dem In-Beziehung-Setzen von Selbstbeobachtungen der gesellschaftlichen Teilsysteme, werden auch diese journalistischen Regeln bestätigt oder möglicherweise verändert und damit re- oder eben neu produziert. Wichtig dabei ist, die Kontextualität jeder regelgeleiteten Handlung nicht außer Acht zu lassen. Regeln sind immer nur in einem zu ihnen gehörenden Bedeutungszusammenhang zu verstehen. Machtunterschiede im Regelverhalten (Blogger vs. Volontär vs. Chefredakteur) und moralische und erkenntnistheoretische Beurteilungen von Regelbefolgungen (Individual- vs. Berufs- vs. Gesinnungsethik) müssen unterschieden werden. In Bezug auf das Giddenssche Schema kann also nicht nur das Handeln durch die Strukturen als ‚constraints’ erklärt werden, in dem Sinn dass der ‚Sinn’ der Öffentlichkeit durch die institutionellen Ordnungen (die Medien, entsprechende Berufsverbände, Leistungs- und Qualitätskriterienkataloge, ethische Kodizes, Presserecht etc.) operationalisiert wird. Darüber hinaus können diese Strukturen bzw. strukturelle Veränderungsprozesse auch durch das Handeln aufgedeckt und analysiert werden. Denn Giddens selbst weist darauf hin: Jede Person weiß, was sie tut und was sie mit ihrem Tun erreichen möchte (Reflexivität), jede/r Handelnde vermag immer auch Gründe dafür anzugeben, warum sie/er etwas tut oder getan hat18 (Unterscheidung zwischen reflexiver Steuerung und Handlungsrationalisierung), und Jeder/Jede greift in die Außenwelt ein, um eigene Handlung zu realisieren, eigene Ziele durchzusetzen (Macht im Sinn eines umgestaltenden Vermögens). Die Strukturationstheorie erweitert also die bisherigen Versuche, den Dualismus zwischen handlungs- und systemtheoretischer Perspektive zu überwinden um den Aspekt der Rekursivität. Ein Analyseschwerpunkt kann demnach sowohl aus der Perspektive des Journalisten bzw.
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entsprechender journalistischer Kommunikationshandlungen auf den damit rekursiv verknüpften Strukturen liegen, als auch vice versa von diesen ausgehend das Kommunikationshandeln untersucht werden. Dies ist für die Kommunikationswissenschaft besonders dann relevant, wenn sie sich mit strategischer Kommunikation, also dem gezielten Kommunikationsmanagement auseinandersetzt.
3.2
Strategisches Kommunikationshandeln
Bei der Untersuchung von strategischem Kommunikationsmanagement werden in der Regel Organisationen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gestellt. Der Vorteil der Strukturationstheorie für diese Untersuchungsperspektive: Die Theorie bietet einen integrativen Rahmen für Diskurse über Regeln und Ressourcen in Unternehmen bzw. Organisationen (z. B. Unternehmenskultur, Mikropolitik); sie vervollständigt bislang ‚halbierte‘ Rekursivitätsschleifen (z. B. Strategie und Struktur), und sie verbreitert die Betrachtung von strategischem Kommunikationsmanagement (vgl. Röttger 2004). Die Modalitäten, Regeln und Ressourcen, in Organisationen sind: •
Deutungsschemata: Organisationsvokabular, Leitbilder, Unternehmensphilosofie, Symbole, Mythen,
•
Machtmittel: Geld, Budget, Investitionen, Produktionstechnik, Informationstechnik, Hierarchie, Administration, Arbeitsorganisation und
•
Normen: rechtliche und (in-)formelle Regeln, Entscheidungsprämissen, Ausführungsprogramme.
In ihrer Kommunikation greifen Organisationsmitglieder also auf strukturelle Formen der Signifikation zurück, z. B. dadurch, dass sie ein organisationsinternes Vokabular benutzen. Die speziellen PR-Modalitäten, über die die Strukturund Handlungsdimension miteinander rekursiv verknüpft werden, sind •
als Deutungsschemata u. a. das Image einer Organisation, das Logo, eine Marke oder Leitbilder,
•
als Machtmittel bzw. Ressourcen das Budget, die Verortung der PR in der Organisations-Hierarchie, das Verhältnis mit anderen Kommunikationsfeldern wie z. B. dem Marketing, die Arbeitsorganisation der PR-Abteilung oder Formen der Integration der Mitglieder über institutionalisierte Feedbackprozesse, interne Kommunikation, Intranet etc. und
356 •
Franzisca Weder als Normen Berufsnormen wie ein Code of Conduct, PR-Kodizes der DPRG oder z. B. branchenspezifische Kodizes wie das Heilmittelwerbegesetz (HWG) in der Pharmaindustrie.
Der Organisations- bzw. Unternehmenskommunikation kommt dabei eine Legitimationsfunktion nach Innen und Außen zu. Die Funktion ist in diesem Sinne das „organisationsseitige Kommunikationsmanagement“ zwischen den ambivalenten Sinndispositionen innerhalb und außerhalb der betreffenden Organisation, das Ziel, die „Akzeptanz für die Eigenart der vertretenen Organisation in Meinungsmärkten, um deren Handlungsoptionen zu optimieren (Chancen/Risiken), Entwicklungsspielräume zu nutzen und durch den Genuss eines möglichst weitreichenden sozialen Vertrauens die Effizienz organisationaler Prozesse zu steigern.“19 Das Kommunikationsmanagement nach Innen verstärkt die Reflexivität und Diskursivität der Bezugnahme auf Regeln der Sinnkonstitution; genauer: es werden ‚In-Beziehung-setzbare’ Selbstbeobachtungen hergestellt. Nach Außen kann das Kommunikationsmanagement Einfluss auf Signifikations- und Legitimationsordnungen nehmen, genauer: Einfluss auf die Rangfolge und Interpretation von Themen sowie die Etablierung von Normen und Regeln. Man kann sogar soweit gehen, dass der Organisationskommunikation die Rolle der reflexiven Steuerung der jeweiligen Organisation zugesprochen wird, wodurch auch ein reflexives Management ihrer Umweltbeziehungen möglich wird. Aus Giddens Perspektive bieten sich die folgenden Möglichkeiten für das strategische Kommunikationsmanagement: •
Interne Kommunikation: Durch die verstärkte Reflexivität und Diskursivität der Bezugnahme auf Regeln der Sinnkonstitution wird die Herstellung von ‚In-Beziehung-setzbaren Selbstbeobachtungen’ möglich und gezielte Kommunikationsverdichtungen zu einem Thema sowie entsprechende Anschlusskommunikationen wahrscheinlich.
•
Externe Kommunikation: Möglich wird ebenfalls eine Einflussnahme auf externe, makro- und mesostrukturelle Signifikations- und Legitimationsordnungen, genauer gezieltes Themenmanagement und die Einflussnahme auf strukturellen Wandel, die Einflussnahme auf die Themenrangfolgen, Interpretationsregeln und die Etablierung neuer Normen und Regeln (bestes Beispiel: Kampagnen als gebündelte Kommunikationsstrategien).
Mit Giddens’ Strukturationstheorie wird also Kommunikationshandeln aller Art und jeglichen Grades der Intentionalität in Bezug auf vorhandene und zu bildende/angestrebte Strukturen versteh- und erklärbar. „Die Strukturierung sozialer Systeme zu analysieren bedeutet, zu untersuchen, wie diese in Interaktionszusammenhängen produziert und reproduziert werden.“20 Hierzu sei ergän-
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zend vermerkt, dass Akteure nach Giddens versuchen, ihre Handlungsbedingungen einschließlich der sozialen Kontexte unter denen sie handeln sowie die Konsequenzen ihres Handelns reflexiv zu kontrollieren. Reflexivität verweist hier erneut auf den Kern seiner Überlegungen, dass die Handelnden „auf den fortlaufenden Prozess des gesellschaftlichen Lebens steuernd Einfluss nehmen.“21 Das theoretisch aber auch praktisch wertvolle dabei – insbesondere für eine empirische Überprüfung intentionaler und strategischer Kommunikationshandlungen seitens der Kommunikationswissenschaft – ist, dass der Handelnde ein Verständnis für die Gründe seines Handelns entwickelt und diese auf Nachfrage (Beispielsweise im Rahmen einer Befragung) auch annähernd erklären kann.
4 Kritische Einordnung Ein Manko der Giddensschen Strukturationstheorie ist sicherlich die fehlende Zuweisung von theoretischen Begriffen auf soziale Sachverhalte (vgl. Bryant/ Jary 1991); Grundbegriffe bleiben ungenau definiert, und die zentralen Ideen werden durch die Diskussion problematischer Einzelheiten überlagert. Bestimmte Begriffe bleiben sogar komplett ungeklärt, so z. B. inwieweit sich ‚kompetente Akteure’ von ‚Laienakteuren‘ unterscheiden (was in Bezug auf Internet-Nutzer, Blogger etc. als potenzielle ‚neue’ Journalisten bzw. ‚Kommunikationsmanager‘ aber noch zu klären wäre), was tatsächlich mit Rationalisierung des Handelns gemeint ist und wann und wie das (handlungs-)praktische Wissen bei sozialen Handlungen eine Rolle spielt. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft sein Schwanken zwischen Determinismus und Voluntarismus; er legt sich nicht wirklich fest, ob Handlungen von persönlichem Willen oder durch Normzwang dominiert werden. Daraus ergibt sich auch das verschwommene Bild, das er von sozialen Akteuren zeichnet. Einerseits stellt er sie als ‚soziologische Experten’ dar, die durch ihr zweckgerichtetes und reflexives Verhalten bewusst in den Prozess der Gesellschaft (in den Lauf der Geschichte) eingreifen, andererseits betont er deren geistige Beschränktheit und Unfähigkeit, Struktur gänzlich zu erfassen. Hier bedarf es insbesondere bei kommunikationswissenschaftlichen Überlegungen und Analysen einer Verfeinerung und Konkretisierung, da gerade in Anbetracht der sich ausdifferenzierenden Sprecherrollen in der Öffentlichkeit eine Differenzierung zwischen den ‚professionellen’ Sprechern, den ‚‚Experten’ und den ‚Laien-Sprechern‘ (Blogger und Co.) unabdingbar ist, insbesondere für das Anlegen entsprechender Qualitätsmaßstäbe und -ansprüche wie Objektivität, Trennung von Information und Werbung oder
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Erfüllungsansprüche in Sachen Meinungsbildungs-, Kritik- und Kontrollfunktion. Eine gewisse konzeptionelle Enge des Giddensschen Konzepts zeigt sich u. a. daran, dass Handlungen immer nur in Bezug auf Strukturmomente von den Systemen gesehen werden, deren konstitutive Elemente sie bilden. Nicht näher besprochen wird die Möglichkeit, dass kausal relevante Handlungen durch die Strukturmomente anderer Systeme bestimmt sind oder Akteure sich gar nicht an bestehenden Systemen orientieren. Erwähnt seien beispielsweise Kommunikationsprobleme zwischen PR-Leuten und Journalisten22, die in vielfältigen Abhängigkeits- und Einflussstrukturen eingebunden und aneinander – nicht nur strukturell – gekoppelt sind. Dennoch bietet sich die Strukturationstheorie als geeignete Folie an, gerade verborgene, verwobene und häufig intransparente, das heißt nicht-öffentliche, Strukturen verstehbar zu machen, die durch entsprechendes (ökonomisch orientiertes) journalistisches Handeln und immer professionelleres (und damit immer „journalistischeres“) Kommunikationsmanagement bzw. PR-Handeln immer wieder reproduziert werden. Damit eröffnet es nicht nur aus theoretischer Perspektive neue Möglichkeiten, insbesondere öffentliche Kommunikation umfassend und mehrdimensional zu begreifen.
Anmerkungen 1
2 3
4
5
Vgl. Löffelholz, M./Schlüter, C. (2003): Die Zukunft im Blick. Wie Evolution und Perspektiven medialer Kommunikation analysiert werden. In: Löffelholz., M./Quandt, T. (Hrsg.): Die neue Kommunikationswissenschaft. Theorien, Themen und Berufsfelder im Internet-Zeitalter. Eine Einführung. Wiesbaden, 103. Herv. i. O. Anthony Giddens: geb. 1938, Prof. für Soziologie an der University of Cambridge seit 1986, Director of the London School of Economics and Political Science (LSE) seit 1997. Teilweise wird ihm sogar der Vorwurf der Oberflächlichkeit gemacht: Die Arbeiten von Giddens seien nicht immer nachvollziehbar und trotz der von ihm aufgewendeten Begriffsklärung „in zentralen Punkten“ unbestimmt oder mehrdeutig. Zudem ist die Theorie der Strukturierung mit Versatzstücken aus anderen Theorien und mit Fragestellungen befrachtet, die zur Beantwortung der von ihr aufgeworfenen Probleme nichts beitragen und ihre Argumentationskraft schwächen, vgl. hierzu Anderas Balog (2001): Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Stuttgart, 201. Vgl. Thrift, N. (1985): Bear and Mouse or Bear and Tree? Anthony Gidden’s Reconstruction of Social Theory. In: Sociology (19), 609-623. Eine in Giddens Augen zeitgemäße Sozialtheorie braucht also beides: Makrotheorie, Mikrotheorie, Objektivismus und Subjektivismus. Vgl. Balog, A. (2001): Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Stuttgart, 201. Demgegenüber beschreiben Weaver/Gioia (1994) den Giddensschen Ansatz als eine (meta-)theoretische Perspektive; ähnlich argumentiert auch Wiegand (1996).
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6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
19
20 21 22
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Vgl. hierzu Weaver. G.R./Gioia, D.A (1994): Paradigms Lost: Incommensurability vs. Structurationist Inquiry. In: Organizational Studies 15 (4), 565-590 und Wiegand, M. (1996): Prozesse organisationalen Lernens. Wiesbaden. Vgl. Giddens 1995: 77. Vgl. Giddens 1995: 69. Herv. i. O. Institutionen versteht er also als die dauerhaften Merkmale des gesellschaftlichen Lebens. Vgl. Gerhards 1994: 80. Vgl. Bergknapp A. (2000): Ärger in Organisationen. Wiesbaden, 137. Er verzichtet nicht darauf, das sozialwissenschaftliche Verständnis von Struktur als etwas dauerhaftes zu übernehmen, erweitert dies aber durch sein Verständnis der Dualität von Struktur, hierzu im Folgenden mehr. Vgl. Balog 2001: 209-210. Herv. i. O. Vgl. Balog 2001: 210-211. Vgl. Giddens, A. (1995): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt u. a., 55. Vgl. Balog 2001: 208. Vgl. hierzu auch Becker, A. (2003): Controlling als reflexive Steuerung von Organisationen. Stuttgart, 203. Vgl. Giddens 1995: 240. Vgl. Hamedinger, A. (1998): Raum, Struktur und Handlung als Kategorien der Entwicklungstheorie. Eine Auseinandersetzung mit Giddens, Foucault und Lefebvre. Frankfurt a. M. u. a., 62. Vgl. Giddens 1995: 73. Das bedeutet, dass die Gesellschaftsangehörigen immer ein komplexes Wissen über die Umstände, Bedingungen und Anlässe ihres Handelns haben und ihre Handlungen in weitreichende Absichten integrieren. Balog weist darauf hin, dass Giddens aber nicht das Bestehen von kausal wirksamen unbewussten Motiven (im Sinn von Bedürfnissen) ausschließt; vgl. Balog 2001: 207. Vgl. Szyszka, P. (2004): PR-Arbeit als Organisationsfunktion. Konturen eines organisationalen Theorieentwurfs zu Public Relations und Kommunikationsmanagement. In: Raupp, J./Klewes, J. (Hrsg.): Quo vadis Public Relations? Auf dem Weg zum Kommunikationsmanagement: Bestandsaufnahme und Entwicklungen. Festschrift für Barbara Baerns. Wiesbaden, 165. Vgl. Giddens 1995: 77. Giddens zitiert bei Wyss 2002: 55. Dieses Verhältnis klärt die Autorin im Rahmen ihres Dissertationsprojekts auf der Basis der Giddensschen Strukturationstheorie, die ihr dabei ermöglicht, über die determinations- und intereffikationshypothetischen Ansätze hinauszugehen. Vgl. hierzu Gottwald, F. (2006): Journalismus und Public Relations im Gesundheitsbereich. Ein Netzwerkmodell für strategisches Kommunikationsmanagement. Konstanz: In Vorbereitung.
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Franzisca Weder
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Kommunikation und soziale Praxis: Chancen einer praxistheoretischen Perspektive für Kommunikationstheorie und -forschung Johannes Raabe
1 Einleitung Seit einiger Zeit zeichnet sich in den Sozialwissenschaften eine Tendenz zur theoretischen Fokussierung sozialer Praxis und dort beobachtbarer Praktiken ab. Schatzki spricht programmatisch gar von einem „practice turn in contemporary theory“ (Schatzki 2001). Es handelt sich dabei um eine theoretische Ausrichtung verschiedener Forschungsrichtungen, die mal als Praxistheorien oder Varianten einer Praxeologie, mal als Theorien sozialer Praktiken auftreten. Ihr Grundanliegen ist es, die Bedeutung von Praxis als dem ‚Ort’ des Sozialen ernst zu nehmen und Merkmale wie Spezifika der dort situierten Praktiken herauszuarbeiten. Das Interesse gilt dann den Konstituenten wie den Kontexten der Handlungspraxis, eingelebten Handlungsmustern, routinisierten Verhaltensweisen sowie praktischem Gebrauchswissen in Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen und – darunter liegend – der Strukturbedingtheit, aber gerade auch der Unberechenbarkeit und Kreativität solcher Praxis. Eine Diskussion praxistheoretischer Einsichten gibt es in der Kommunikationswissenschaft bislang nicht, weshalb eine Auseinandersetzung um deren Fruchtbarkeit für kommunikationswissenschaftliche Frage- und Problemstellungen erst einmal in Gang zu bringen ist. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein Anstoß in diese Richtung. Doch sind einzelne praxistheoretische Anliegen und Vorstellungen innerhalb des disziplinären Diskurses bereits formuliert und aufgegriffen worden. Das gilt vor allem für die Analyse der Zuwendung, des Gebrauchs und der Aneignung von Medienangeboten innerhalb der Rezeptionsforschung und in den Cultural Studies (vgl. Krotz 1992, 2001; Weiß 1996, 2000; Hepp/Winter 2006; Hepp 2004; Göttlich 2001, 2004), auch wenn dort nicht immer explizit praxistheoretisch argumentiert wird. Die folgenden
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Überlegungen gehen davon aus, dass der Nutzen einer praxistheoretischen Perspektive für die kommunikationswissenschaftliche Forschung über Einsichten im Analysebereich der Medienrezeption deutlich hinausgeht. Von daher geht es im Folgenden darum zu skizzieren, welche Optionen sich für Kommunikationstheorie und -forschung aus einer praxistheoretischen Grundlegung ergeben. Es erscheint sinnvoll, Theorien sozialer Praxis zunächst innerhalb der Sozialwissenschaften zu verorten und ihre Grundannahmen und -einsichten zu explizieren. Im Anschluss daran soll zumindest in groben Zügen diskutiert werden, inwiefern die Kommunikationswissenschaft aus der Einnahme einer praxistheoretischen Perspektive profitieren könnte. Das betrifft zum einen Möglichkeiten einer reflexiven Kommunikationsforschung, zum anderen aber auch Optionen der theoretischen Modellierung von Kommunikation und der empirischen Analyse von Prozessen interpersonaler, organisierter und öffentlicher (Medien-)Kommunikation. Insofern dabei der Zusammenhang zwischen Struktur und Handeln bzw. Kommunikation einer Reformulierung unterzogen wird, eröffnen sich schließlich auch neue Sichtweisen für die Analyse medialen Wandels.
2 Zur Verortung von Praxistheorien Gemeinhin gilt, dass sich sozialwissenschaftliche Forschung ihrem Gegenstand als dem zu analysierenden Ausschnitt sozialer Wirklichkeit auf zweierlei Weise nähern kann: Während die eine bei den Individuen und ihren Beziehungen zueinander startet und versucht, über deren Handeln und die oft unbeabsichtigten Handlungsfolgen Aufschluss über die soziale Welt zu gewinnen (Individualismus), beginnt die andere mit der Idee sozialer Ordnung und fragt jenseits der Handelnden danach, wie es zu solcher Ordnung kommen und wie man sie wissenschaftlich erklären kann (Holismus).1 Praxistheorien beschreiten gewissermaßen einen ‚dritten Weg’ des Zugangs, der weder am individuellen Akteur noch bei der Gesellschaft oder einem System ansetzt, sondern stattdessen soziale Praxis bzw. konkrete Praktiken in den Blick nimmt – zumal beides, soziale Ordnung wie auch die Individualität der Handelnden, nicht als Voraussetzung, sondern als Hervorbringung sozialer Praktiken angesehen werden (vgl. Schatzki 1996). Praxistheoretische Arbeiten werden oft den Kulturtheorien zugeordnet, da sie das relative Geordnetsein sozialer Zusammenhänge durch kollektive Formen des Verstehens und (Be-)Deutens erklären. Doch gibt es gute Gründe, ihren Platz in der Theorienlandschaft eher zwischen den Handlungs- und den Kultur-
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theorien anzusiedeln. Denn einerseits distanzieren sie sich von klassischen Handlungstheorien, wenn sie nicht individuelle Akteure und Einzelhandlungen, sondern überindividuelle Praktiken in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rücken und Akteure eher als Träger denn als Urheber dieser Praktiken begreifen. Andererseits distanzieren sie sich auch von gängigen kulturtheoretischen Konzepten; mitunter wird sogar eine handlungstheoretische Fundierung praxistheoretischer Forschung eingeklagt (vgl. Göttlich 2001). Mit der zentralen Bedeutung, die der Praxis beigemessen wird, weisen praxistheoretische Ansätze Gemeinsamkeiten mit dem Pragmatismus auf.2 In Abgrenzung von intellektualistischen Traditionen gilt bei beiden das Interesse den Gewohnheiten, praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie dem ‚knowing how’, das von Handelnden in der Praxis in Anschlag gebracht wird. Als die prominentesten Vertreter zeitgenössischer Praxistheorien gelten Bourdieu und Giddens, deren Ausarbeitungen zugleich zwei entgegengesetzte Pole des praxistheoretischen Diskurses markieren. Denn Bourdieu akzentuiert vor allem den Charakter des Eingelebten, des „Eingeborenseins“ (Bourdieu 1997: 40) im Verhältnis zur praktischen Welt. Damit unterstreicht er das Implizite und Vorreflexive allen praktischen Wissens und Könnens, was er durch Verinnerlichung (Internalisierung) und Einverleibung (Inkorporierung) von Strukturen in Habitus und Körper erklärt. Giddens hingegen entwickelt in seiner Strukturationstheorie eine Konzeption sozialer Praktiken, die stärker auf reflexive Handlungssteuerung durch das ‚praktische Bewusstsein’ der Handelnden abstellt (vgl. Giddens 1995: 342ff.). Eine Hinwendung zu praxistheoretischen Fragestellungen ist jedoch nicht nur in der Soziologie zu beobachten. Entsprechende Neuorientierungen gibt es auch in der Philosophie (bei Turner, Taylor, Schatzki), Kulturtheorie (Foucault, Lyotard), Ethnologie (Holland), Ethnomethodologie (Heritage, Lynch) sowie der Geschichtswissenschaft. Ihre materialen Forschungsfelder finden Praxistheorien in der Wissenschaftssoziologie (Knorr-Cetina, Latour), Techniksoziologie (Pickering, Hörning) und Organisationsforschung, in Gender Studies sowie Medien- und Lebensstilanalysen (vgl. Schatzki 2001; Reckwitz 2003; Ebrecht/Hillebrandt 2002). Im Folgenden geht es nicht darum, die zum Teil stark divergierenden Argumentationen dieser Ansätze und Forschungsarbeiten herauszuarbeiten, sondern deren gemeinsame Stoßrichtung deutlich zu machen und ihr theoretisches Grundverständnis zu skizzieren.
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3 Grundzüge der Theorien sozialer Praxis Die zentralen theoretischen Vorstellungen praxistheoretischer Ansätze sollen in den nachfolgenden Abschnitten (1) am Verständnis von Praxis und sozialen Praktiken, (2) der Betonung der Materialität von Praktiken, (3) Kulturbedingtheit und -bedeutung aller Praxis sowie (4) dem Verständnis von Handeln und der Bedeutung praktischen Wissens festgemacht werden. Kennzeichen von Praxistheorien ist schließlich (5) die Spannung zwischen der Akzentuierung der Routinisiertheit und des repetitiven Charakters von Praktiken einerseits und ihrer Unberechenbarkeit, Widerständigkeit sowie Momenten der Kreativität andererseits. ad (1): Unter ‚Praxis’ lässt sich der je gegenwärtige und dann historisch spezifische, körpergebundene und raum-zeit-bindende Vollzug von Handlungsweisen verstehen, in denen Akteure sich die Bedingungen vorgefundener Wirklichkeit aneignen und sie verändern. Der aktuelle Praxisvollzug erfolgt insofern ‚blind’, als dabei die Kontingenz der eigenen Möglichkeiten – die sich einem Beobachter zeigen mag – ausgeblendet bleibt. Bedingungen jeweiliger Praxis sind zwei Arten von Strukturen, in denen zeitlich vorausgegangene Praxis ihre Spuren hinterlassen hat: aus vorgängiger Praxis resultierende ‚exteriorisierte’ Strukturen in Form von Institutionen, Regeln und Positionen sowie ‚interiorisierte’ Strukturen in Form inkorporierter Erfahrung als handlungsgenerierende und -bestimmende Dispositionen, dem Habitus der Akteure (vgl. Bourdieu 1997, 2001). Praxis ist durchzogen von einer impliziten Logik, die Bourdieu in Gegenüberstellung zur theoretischen als eine ‚vorlogische Logik’ bezeichnet.3 Diese eigentümliche Logik resultiert aus der Zeitlichkeit aller Praxis, die irreversibel ist und ein Kontinuum bildet, innerhalb dessen die Akteure handeln (vgl. Schwingel 1995: 49). Für den Handelnden führt dieses Sequentielle des jeweiligen Sich-Ereignens zu Momenten der Ungewissheit und Unberechenbarkeit, ermöglicht gerade dadurch aber sinnhafte Verknüpfungen (mit Vorausgegangenem) und Verweisungen (auf Zukünftiges). In der Praxis lassen sich Praktiken ausmachen, ohne dass alle Praxis ausschließlich aus Praktiken ‚bestehen’ würde. Während ‚practice’ (Praxis) von Schatzki bestimmt wird als die je gegenwärtige Aktivität des „doings“ im Sinne eines „ceaseless performing and carrying out […], [a notion that] designates the continous happening at the core of human life qua stream of activity” (Schatzki 1996: 89), versteht er unter einer ‚practice’ (hier: Praktik) „a temporally unfolding und spatially dispersed nexus of doings and sayings.“ (Schatzki 1996: 89)
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Von daher stellt auch nicht jedes Handeln bereits eine Praktik dar. Erst durch situationsübergreifendes und regelmäßiges Tun bilden sich im Lauf der Zeit Praktiken im Sinne typischer Handlungs-, Umgangs- und Gebrauchsweisen aus, die in relativ routinisierter Form verlaufen und eine spezifische Handlungsnormalität im Alltag begründen (vgl. Hörning/Reuter 2004: 12). Da sie durch anhaltende Wiederholung zeit- und raumübergreifend auf Dauer gestellt werden, verfestigen sich in ihnen Strukturen, die den Akteuren dann als handlungsleitende Bezugspunkte dienen. Den verschiedenen konkreten Praktiken, nicht der Totalität von Praxis, gilt das besondere Interesse der Praxistheorien (vgl. Reckwitz 2003: 289). Entsprechend bilden Praktiken als solche ‚nexus of doings and sayings’ – und nicht Systeme, Strukturen, Handeln, Akteure oder individuelle Subjekte – die zentrale Analyseeinheit praxistheoretischer Forschung. Dass Praktiken als soziale Praktiken verstanden werden, bedeutet dabei nicht, dass es sich stets um Handlungsweisen mit Interaktionsbeziehungen handeln müsste, wie bei Praktiken des Konsums oder der Körperpflege sofort einsichtig. Ihr soziales Moment erschöpft sich auch nicht in der Überindividualität bzw. Kollektivität ihres Vorkommens. Es ist der intersubjektive Charakter von Praktiken in dem Sinne, dass ihre jeweilige Ausführung für Beobachter als angemessene (oder legitime) Realisierung einer bestimmten Praktik verstehbar ist (vgl. Reckwitz 2003: 290) – man denke nur an den Besucher eines Bazars, der feststellt, dass die Menschen um ihn herum ‚am Feilschen’ sind. Die Beobachtung einer Handlungsweise als Exemplar einer Praktik hängt mit deren Wahrnehmbarkeit als ‚performance’ zusammen; eine solche körperliche ‚performance’ aber verweist bereits auf die Materialität sozialer Praktiken. ad (2): Praxistheorien betonen die Materialität sozialer Praktiken, indem sie sich stark machen für die Berücksichtigung des Körperlichen aller Praxis und neues Licht auf den Umgang mit Dingen werfen. Ersteres betrifft die grundlegende Körpergebundenheit sozialer Praktiken, das heißt ihr Angewiesensein auf spezifische, weitgehend routinisierte Aktivitäten des Körpers. Das können, müssen aber keine motorischen Fertigkeiten sein; zumeist ist es eine Kombination von sichtbaren Aktivitäten und kognitiven Fertigkeiten.4 Zu den praxisrelevanten Körperaktivitäten gehören jedoch auch, worauf Reckwitz zu Recht hinweist, Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben, Sprechen und nicht offen sichtbare Formen von Aktivität, zu denen er Muster des Fühlens und Denkens rechnet (vgl. Reckwitz 2003: 290). So ist auch die Praktik des Bücherlesens, die eine weitgehende Stillstellung körpermotorischer Aktivitäten voraussetzt, zweifellos körpergebundene Praxis. Der zweite Aspekt der Materialität meint das Eingebundensein von Dingen bzw. Artefakten in soziale Praktiken. Artefakte sind häufig Bedingung für Ent-
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stehung und Fortdauer von Praktiken; man denke nur an Werkzeuge, Computer, Kleidungsstücke, Flugzeuge, Bücher, TV-Geräte oder Mobiltelefone, deren Verfügbarkeit und Verwendung – im häuslichen Gebrauch, in Unternehmen, Verwaltungen, bei der Freizeitgestaltung, Selbstinszenierung etc. – spezifische Praktiken erst ermöglichen. Sie gelten als „Gegenstände, deren sinnhafter Gebrauch, deren praktische Verwendung Bestandteil“ von Praktiken sind (Reckwitz 2003: 291; Herv. i.O.). Sie werden also weder als beliebig verstehbare und verwendbare Objekte oder bloß technische Hilfsmittel angesehen, noch als alles determinierende Technik, sondern als konstitutive Elemente von Praktiken, die gleichwohl – in Abhängigkeit vom praktischen Wissen ihrer Nutzer – veränderte Gebrauchsweisen erlauben, was in der Folge auch zum Wandel der Praktiken selbst führen kann (vgl. Hörning/Reuter 2004: 11ff.). ad (3): Mit den Kulturtheorien unterstreichen Praxistheorien die Kulturbedingtheit und -bedeutung sozialer Phänomene und zielen darauf ab, die sinnhafte Dimension des Sozialen zu erschließen und damit aufgeworfenen Fragen der Bedeutungszuweisung, des Symbolischen und der Interpretationsbedürftigkeit der sozialen Welt nachzugehen. Die klassische Gegenüberstellung von Sozialem und Kultur wird mit der Einsicht in das Kulturelle sozialer Praxis überwunden. So entgehen Praxistheorien auch der Gefahr, in die „kulturalistische Falle“ zu geraten und „Kultur zu isoliert von den sozialen, politischen und ökonomischen Gesellschaftsbedingungen“ zu betrachten (Hörning 2001: 158). In Absetzung von anderen Kulturtheorien wenden sie sich gegen jede Form des Mentalismus wie auch gegen ein Verständnis, das Kultur als ‚Text’ oder Diskurs fasst. Die Kritik an ‚mentalistischen’ Theorien richtet sich gegen die Separierung eines Bereichs des Geistigen bzw. Ideellen, in den das Symbolische verwiesen wird. ‚Textualistische’ Theorien hingegen drohen aus praxistheoretischer Sicht Diskursen, ‚Text’ und Symbolsystemen einheitliche und kohärente Bedeutungen vor und außerhalb ihrer sinnhaften Verwendung im praktischen Handeln zuzuweisen (vgl. Hörning 2001: 157ff., Reckwitz 2004b: 15ff., Schatzki 1996: 21ff.). Statt also ein mentales Inneres von einem materialen Äußeren zu scheiden und statt Bedeutungsstrukturen unabhängig von ihrer handlungspraktischen Aktualisierung zu objektivieren und Kultur in solchen der Praxis vorgängigen Manifestationen zu suchen, wird als ‚Ort’ von Kultur die soziale, körpergebundene Praxis ausgemacht und der praktische Umgang mit symbolischen Codes, ihr Gebrauch und (Wieder-)Hervorbringen im praktischen Handeln in den Vordergrund gerückt. Man kann dann sehen, dass sich in den Praktiken symbolische Ordnungen, kulturelle Codes, Deutungsmuster und Sinnhorizonte nicht nur manifestieren, sondern allererst entfalten. Zugleich müssen sie als notwendige
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Voraussetzung für das Entstehen, die Beständigkeit wie für den Wandel sozialer Praktiken gelten, insofern „sämtliche Komplexe von Praktiken […] – vom archaischen Ritus bis zur modernen Naturwissenschaft – erst vor dem Hintergrund der jeweiligen, sehr spezifischen Sinnhorizonte und Bedeutungscodes möglich sind, ‚normal’ und ‚rational’ werden oder gar als ‚notwendig’ und ‚natürlich’ erscheinen. Normal, rational, notwendig oder natürlich sind die Praktiken nur im Verhältnis zu ihren spezifischen, kontingenten Sinnsystemen.“ (Reckwitz 2004b: 8)
ad (4): Praxistheorien geht es weder um das Handeln von Individuen noch um isolierte Einzelhandlungen, sondern um praktische Handlungsweisen und das (Miteinander-)Tun in Praktiken. Gleichwohl haben sie eine spezifische Konzeption von Handeln entwickelt, die sich von klassischen Handlungstheorien distanziert und in der Ablehnung von deren Annahmen und Implikationen ihr theoretisches Profil gewinnt (vgl. Raabe 2005a: 124ff.; Reckwitz 2000: 119ff., 2004a): Das utilitaristische bzw. teleologische Handlungsmodell, das Handeln zweckrational über subjektive Handlungsziele erklärt, wird zurückgewiesen, weil es Soziales aus den Wünschen, Motiven, Intentionen von Subjekten zu erklären versucht und dabei rationale Handlungsmomente unzulässig generalisiert. Auch das normorientierte Handlungsmodell eines von ‚äußeren’ Rollenerwartungen und Sollens-Regeln bestimmten Handelns wird abgelehnt, weil die Vorstellung von ‚voraus gesetzten’, selbst nicht mehr erklärungsbedürftigen Normen und Werten als artifizielle Annahme gilt. Beide Modelle müssen sich zudem den Vorwurf gefallen lassen, Handeln aus der Einbettung in historischspezifische Praxiskonstellationen und -kontexte herauszulösen. Näher ist den Praxistheorien da schon eine Handlungsvorstellung, wie sie der symbolische Interaktionismus entwickelt hat. Dort wird Handeln durch gegenseitiges Anzeigen und Interpretieren in einem reflektierten Interaktionsprozess über diejenigen Bedeutungen erklärt, die dabei wechselseitig ausgehandelt und zugewiesen werden. Als defizitär erscheint diese Konzeption aus praxistheoretischer Sicht jedoch, weil sie zu einseitig auf die Kopräsenz von Individuen abstellt und Prozesse des Hervorbringens, Anzeigens und Interpretierens von Bedeutungen auf die jeweilige Face-to-Face-Situation verengt.5 Im Prinzip verwenden Praxistheorien ein kulturorientiertes Handlungsmodell, bei dem Akteure auf kollektive, kontextübergreifende symbolisch-kulturelle Wissensregeln, Sinnmuster und symbolische Codes zurückgreifen, wenn sie Dingen Bedeutungen beimessen (vgl. Raabe 2005a: 125f.). Auf der Grundlage der „durch spezifische Sinnsysteme angeleiteten Bedeutungszuschreibungen“ können sie „auf spezifische Weise handeln. Ändern sich die kollektiven Wirklichkeitsmodelle, so muss sich auch das sinnhafte Handeln ändern. Umgekehrt ist die Persistenz gleichförmigen Handelns auf die Persistenz der kollekti-
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ven Wissensordnungen zurückzuführen“ (Reckwitz 2004a: 313). Solche symbolisch-kulturellen Wissensregeln limitieren folglich nicht so sehr das Handeln (wie die Sollens-Regeln des norm-orientierten Handlungsmodells), sondern müssen als generative Sinnstrukturen gelten, die Kontingenzen einschränken und dadurch Handeln ermöglichen, insofern sie Dinge als sinn- und bedeutungsvoll, wünschenswert, angemessen etc. erscheinen lassen. Doch darf die Bedeutung solch kollektiver Wissensregeln und Schemata nicht dazu führen, jetzt diese kognitiven Ordnungen (statt Motive, Zwecke, Ideen, Normen, Systeme) „den eigentlichen Vollzugswirklichkeiten des praktischen Umgangs mit der Welt“ (Hörning 2004: 28) theoretisch vorzuordnen und als nicht mehr erklärungsbedürftig anzusehen. Die praxistheoretische Pointe liegt gerade darin, solche überindividuellen, Situationen, Raum und Zeit übergreifenden Sinnhorizonte, Wissensordnungen und Semantiken als etwas anzusehen, das in sozialer Praxis, im praktischen Handeln hervorgebracht wird (vgl. Schatzki 1996: 188ff.).6 Es gilt dann zu analysieren, wie kulturelles Wissen und Denken tatsächlich praktiziert wird und wie dabei kollektive Sinnhorizonte bzw. Wissensregeln emergieren; konkret: wie Akteure im Miteinander und in der Vernetzung praktischen Handelns kulturelle Repertoires des (Be-)Deutens entwickeln, die sich in ihrem praktischen Handlungswissen niederschlagen. Das praktische Wissen muss als unerlässliche Voraussetzung für jede Handlungspraxis und den Vollzug sozialer Praktiken angesehen werden, denn es ist diese Art von Wissen, die die Beteiligten erst praxiskompetent, handlungsfähig, ja überhaupt erst zu ‚Akteuren’ macht (vgl. Reckwitz 2004c: 44). Es wird ‚praktisch’ genannt, da es im Unterschied zum theoretischem Wissen (‚knowing that’) dem Handeln nicht vorausgeht, sondern als implizites Gebrauchswissen, praktisches Verstehen und Können (‚knowing how’) Teil der Handlungspraxis ist. Es bildet die Basis einer impliziten Handlungskompetenz, mit der die Relevanz und Bedeutung einer Sache erfasst wird und mit der man ihr im praktischen Handeln mehr oder weniger angemessen begegnen kann. ad (5): Ein scheinbarer Widerspruch oder zumindest eine starke Spannung durchzieht die Argumentation vieler Praxistheorien, wenn es um die Frage geht, ob für Praktiken die Repetitivität, Routinisiertheit, Strukturreproduktion und damit relative Beharrungskraft kennzeichnend ist oder ob sie sich nicht vielmehr gerade durch Unberechenbarkeit, Widerständigkeit, Subversion und Momente der Spontaneität und Kreativität, das heißt auch ein Potential für Veränderung und den Wandel der Praktiken selbst auszeichnen. Die Antwort lautet: Sowohl das Reproduktive bzw. Iterative als auch das Transformative und Innovative ist für soziale Praktiken charakteristisch, da sie sich „auf Vorhandenes, auf Repertoires [stützen], denn wir beginnen nie von Grund auf. Praktiken sind fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wieder-
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holte Aneignungen, sind immer wieder erneuerte Realisierung von bereits Vorhandenem. Aber zur gleichen Zeit müssen Praktiken auch produktiv gedacht werden, gesehen als eingespieltes In-Gang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebtem, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem. Praktiken sind immer beides: Wiederholung und Neuerschließung.“ (Hörning 2001: 163; Herv. i.O.)
Für diesen Doppelcharakter sozialer Praxis lassen sich vier Gründe anführen (vgl. Raabe 2005a: 185f.; Bourdieu 1997; Bourdieu/Wacquant 1996: 154): Erstens sind die Habitus-Dispositionen der Akteure, die für die Routinisiertheit geregelter Praktiken bürgen, nicht im Sinne eines sozialen Determinismus zu verstehen, sondern als generatives Prinzip, das mit einer endlichen Anzahl von ‚Festlegungen’ eine unendliche Vielfalt von Praxis erlaubt (wenn auch innerhalb des Rahmens, der von den Dispositionen abgesteckt wird). Zweitens ist der Habitus nicht das einzige Erzeugungsprinzip; je nach Erfordernis der Praxis, bei Unerwartetem und Neuem, kommen reflexive und kreative Handlungsmomente ins Spiel. Drittens entgeht die geregelte Praxis schon deshalb dem Circulus vitiosus der reinen Reproduktion von Bestehendem, weil Handeln stets auf neue und andere Konstellationen und Kontexte trifft, die sich von historisch Gegebenem unterscheiden. Viertens aber – und aus praxistheoretischer Sicht das gewichtigste Moment – bedingt das praktische Wissen der Akteure ein Unberechenbarkeitselement in sozialen Praktiken: Es ist die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, mitunter widersprüchlicher Formen praktischen Wissens, die die Akteure ins Handeln einbringen. So lässt sich Simmels soziologische Vorstellung vom Individuum als dem ‚Kreuzungspunkt sozialer Kreise’ praxeologisch reformulieren: „Das Subjekt [stellt] den Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens-/Wissenskomplexe dar […], ein mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen: In deren Heterogenität, Nicht-Aufeinanderabgestimmtheit, möglicherweise auch Inkommensurabilität findet sich ein Potential für die Unberechenbarkeit des Verstehens und Verhaltens des Einzelnen und für die kulturelle Transformation sozialer Praxis. Aus praxistheoretischer Perspektive ist es nicht die vorausgesetzte Autonomie oder ‚Individualität’ des Subjekts, die diese ‚Eigensinnigkeit’ begründet; sie ergibt sich vielmehr aus der praktischen Notwendigkeit, mit verschiedenen Verhaltensroutinen und deren heterogenen Sinngehalten umzugehen.“ (Reckwitz 2003: 296, Herv. i.O.)
Letztlich lassen sich soziale Praktiken also erst vor dem Hintergrund der Bedeutung praktischen Wissens verstehen: Sie erscheinen nun als körpergebundene Aktivitäten, die sich aus alltäglichen Handlungsweisen mit anderen und mit Dingen zusammensetzen, welche durch die Klammer praktischen Wissens relationiert und zusammengehalten werden.
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4 Wissenschaftliche Forschung aus praxistheoretischer Sicht Aus der Analyse sozialer Praxis heraus richten Praxistheorien ihr Augenmerk auch auf die Praxis (des eigenen) wissenschaftlichen Handelns und nehmen sie in den Gegenstandsbereich mit auf; sie sind reflexiv. Das beginnt mit einer erhöhten Sensibilität für die Alltagssicht sozialer Wirklichkeit mit ihren fraglosen Gegebenheiten und vermeintlichen Evidenzen. Diese praktische Sicht der Welt gilt nicht als defizitär, sondern ungeeignet, um eine Basis für den wissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungsprozess abzugeben. In dieser Hinsicht ist praxistheoretisch orientierte Wissenschaft kontra-intuitiv. Mit anderen Theorierichtungen wie dem Konstruktivismus und der Systemtheorie besteht sie auf der Notwendigkeit eines epistemologischen Bruchs mit der Alltagssicht.7 Dieser Bruch ist – so Bourdieu – gegen zweierlei Illusionen gerichtet: die Illusion einer Transparenz der Sozialwelt und die Illusion unmittelbaren Wissens (vgl. Bourdieu et al. 1991: 15ff.). Empirische Forschung ist dann notwendig erkenntniskritische Forschung. Ihr Forschungsobjekt kann nicht mehr einfach im Sinne von gesellschaftlich Vorfindbarem oder schlicht Gegebenem übernommen werden, sondern ist, wie Rühl das bereits vor über 25 Jahren für die Journalismusforschung formuliert hat, „von der Wissenschaft allererst herzustellen“ (Rühl 1980: 14). Erkenntniskritische Forschung ist notwendig konstruktivistisch. Als erfahrungswissenschaftliche Forschung bleibt sie jedoch dem Ziel der Erschließung und Analyse empirischer Wirklichkeit verpflichtet, sodass sich das Problem des Realitätsstatus des zu analysierenden Wirklichkeitsausschnitts stellt: Ist das Objekt der Forschung bloße Konstruktion? An diesem Problem hat sich der Radikale Konstruktivismus abgearbeitet, indem er bei der Analyse des Erkenntnisprozesses allein auf die Innenseite der Unterscheidungsoperation, das heißt die beobachterabhängige, selbstreferentielle Konstruktion kognitiver Systeme abstellt, so dass den beobachteten Objekten der Status einer rein kognitiven Konstruktion zukommt (vgl. Raabe 2005a: 107ff.). Mit Luhmann kann man dagegen an der Beobachterrelativität der Unterscheidung festhalten, aber die Innen- und Außenseite unterscheidenden Bezeichnens in den Blick nehmen. Damit lässt sich das Subjekt-Objekt-Problem nicht lösen, aber als notwendiges Moment der Praxis des Beobachtens und Bezeichnens fassen: Im Vollzug des Wahrnehmens, Denkens und Handelns – also auch im konstruktiven Erkenntnisprozess der Forschung – erfolgt beides: die ‚Abgrenzung’ des Beobachters vom Beobachteten (wodurch er seine Identität als Beobachter gewinnt) und die Setzung von letzterem als vom Beobachter unterschiedenes ‚reales’ Objekt (vgl.
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ebd.; Luhmann 1984). Folglich ‚gibt’ es keine wirklichen Beobachter außerhalb sozialer Praxis und ohne Beobachtungspraxis wirklicher Beobachter keine ‚realen’ Objekte. Da die Setzung, die die wissenschaftliche Konstruktion darstellt, aber eine beobachterrelative ist, lässt sich nach den (praktischen) Bedingungen der Möglichkeit dieser Setzung fragen. Am konsequentesten hat Bourdieu diese Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis analysiert (vgl. Bourdieu 1997, 1998, 2001). Aus praxeologischer Sicht erscheint Wissenschaft selbst als eine Form sozialer Praxis: die Praxis der Theorie (von gr. ‚theorein’: schauen, das schauende Auge, Beobachtung). Im Unterschied zum praktischen Erkennen bestehen die Bedingungen theoretischer Erkenntnis darin, dass sie sich von gesellschaftlicher Praxis zurückzieht und sie aus der Distanz des Unbeteiligten betrachtet. Theoretische Beobachtung erfolgt unter Handlungsentlastetheit, also der Unabhängigkeit von zeitlichen, sachlichen und sozialen Zwecken und Zwängen der Praxis.8 Die epistemologische Wachsamkeit des Forschers muss sich folglich nicht nur darauf richten, dass auch er in Alltagssprache und Primärbeziehungen zur Sozialwelt eingebunden ist und eine seiner sozialen Position korrespondierende Sicht auf das Soziale innehat, sondern auch darauf, dass seine Erkenntnis Resultat des Umstands ist, dass er unter privilegierten Bedingungen einen distanzierten Blick auf die Sozialwelt wirft, der sich von den darin involvierten Akteuren grundlegend unterscheidet.9 Mit Austin nennt Bourdieu diese Sichtweise den ‚scholastischen Blick’ (von gr. ‚skholè’: Innehalten von der Arbeit, Muße, Unterricht). Weil sie die eigenen Denk- und Wahrnehmungsvoraussetzungen im Unbedachten lässt, verführt sie den Wissenschaftler zum ‚scholastischen Fehlschluss’, das heißt dazu, die handlungsentlastete Sicht auf die Praxis mit der alltagspraktischen Sicht sozialer Akteure in der Praxis gleichzusetzen und die theoretischen Prinzipien – in Ermangelung einer Vorstellung von der Genese sozialer Praxis – als Erzeugungsprinzipien der Praxis in die Köpfe der Akteure zu verlagern (vgl. Bourdieu 1998: 201ff., 2001: 18ff.). Deshalb muss sich der Forscher in einem zweiten ‚Bruch’ auch von solchen scholastischen Vorstellungen lösen. So entwickelt Bourdieu eine ‚praxeologische Theorie der Praxis’, die das praktische Wissen und Handeln der Akteure wieder in die Sozialanalyse mit einbezieht (vgl. Bourdieu 1997). Zwar ist deren Alltagsverständnis von Wirklichkeit durchsetzt von Vorstellungen, die die Realität verkennen oder sich gar als Illusionen entlarven lassen. Doch diese gilt es mit zu berücksichtigen, weil sie nicht folgenlos bleiben (und häufig eine soziale Funktion haben), wenn sie dem Wahrnehmen, Handeln und der Kommunikation der Akteure zugrunde liegen. So besteht „die Herausforderung der ‚Praxiswende’ in den Sozial- und Kulturwissenschaften […] darin, das wissenschaftliche Verhältnis zur Praxis von der praktischen Einbeziehung in
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die Praxis zu lösen und damit auch die Grenzen der theoretischen Erkenntnis des Wissenschaftlers und der praktischen Erkenntnis des Handelnden herauszuarbeiten.“ (Hörning/ Reuter 2004: 14, Herv. i.O.)
5 Kommunikation, Medienproduktion und -rezeption als soziale Praxis Die Kommunikationswissenschaft kann kein allgemein soziologisches Interesse an sozialer Praxis haben, geht es ihr doch um die Erweiterung und Vertiefung theoretisch und methodisch gesicherten Wissens über die verschiedenen Kommunikationsweisen in der Gesellschaft (vgl. Rühl 2006). Doch könnte die praxistheoretische Perspektive zu einem differenzierteren Verständnis von Kommunikationsprozessen beitragen. Dazu gehört die Einsicht, dass auch Kommunikation Teil sozialer Praxis ist und deren spezifischen Bedingungen unterliegt, sodass Kommunikationsprozesse nicht losgelöst von ihren zeitlichen, sozialen und sachlichen Kontexten zu analysieren sind. Wie alle soziale Praxis folgt auch Kommunikation in ihrem Vollzug nicht einer theoretischen, sondern der praktischen Logik. Für Kommunikation gilt sogar in besonderer Weise, dass sie einerseits ‚blind’ verläuft, andererseits mit spezifischen Ansprüchen der Bewusstheit, individueller Absicht und Reflexivität ‚überfrachtet’ wird; sie ereignet sich gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen praktischer Gewohnheit und reflexiver Steuerung durch die an Kommunikation Beteiligten. Doch nur allzu oft ist sie intrinsischer Teil jener ‚nexus of doings and sayings’, die von den Akteuren nicht reflektiert werden. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene theoretische Modellierungen von Kommunikation problematisch. Das gilt nicht nur für die klassisch informationstheoretische Transportvorstellung und die Idee einer Informations- bzw. Bedeutungsvermittlung, sondern auch für verschiedene Varianten rationalistischer Überhöhung von Kommunikation und von Handlungsweisen, aus denen Kommunikation hervorgeht. Kommunikation trägt in besonderer Weise zur Fortdauer sozialer Zusammenhänge in der Gesellschaft bei (vgl. Luhmann 1984). Eine praxistheoretische Sichtweise macht darauf aufmerksam, dass Kommunikation dabei vielfach in soziale Praktiken eingebunden ist. Die meisten interaktiven und überindividuellen Praktiken wären ohne Kommunikation nicht denkbar. Mehr noch: Zahlreiche soziale Praktiken müssen als genuine Kommunikationspraktiken im Sinne eines ‚doing communication’ verstanden werden – Praktiken des ‚small talks’ und Formen der Konversation in Arbeit und Beruf, Praktiken der Verhandlung und Diplomatie, Begrüßungspraktiken, Praktiken des Lehrens und Unterrich-
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tens, solche geschäftlicher oder behördlicher Korrespondenz, der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens, des Werbens, Anpreisens, Kaufens und Verkaufens etc. Die Analyse solcher Kommunikationszusammenhänge hätte entsprechend nicht bei den beteiligten Individuen, aber auch nicht bei gesellschaftlichen Funktionssystemen zu beginnen, sondern an den geregelten Handlungsund Kommunikationsweisen selbst anzusetzen und die Implikationen ihrer Praxisgebundenheit herauszuarbeiten. Auf diese Implikationen wären nicht nur Formen der Face-to-Face-Kommunikation, sondern auch der öffentlichen Präsenzkommunikation, der Organisationskommunikation, der medienvermittelten Individualkommunikation sowie der medialen öffentlichen Kommunikation hin zu untersuchen. Sichtbar würden dann etwa Rituale öffentlicher Kommunikation oder kompetente ‚Performances’ von Öffentlichkeitsakteuren in den Medien, die nicht vorschnell analog zur Präsenzkommunikation in face-to-face-Situationen modelliert werden sollten. Im Bereich der personalen Kommunikation kommen mit neuen technischen Medien die Artefakte ins Spiel, die spezifische Praktiken ermöglichen oder traditionelle Praktiken durch ihren Gebrauch grundlegend wandeln – wie an Praktiken der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens vor und nach der Einrichtung von ‚Flirtlines’ und Online-Kontaktbörsen sofort einsichtig. So hat das Internet seit der Etablierung des World Wide Web nicht nur neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet, sondern eine Reihe bis dato unbekannter sozialer Praktiken hervorgebracht, als deren derzeit erfolgreichstes Beispiel das ‚Blogging’ gelten kann (vgl. Schmidt 2006). Von besonderem Interesse für die Kommunikationswissenschaft ist freilich die öffentliche Kommunikation mittels Presse, Hörfunk und Fernsehen sowie über (zunehmend mobile) Online-Angebote. Auch wenn man Luhmanns Verständnis von Kommunikation als einem emergenten sozialen Phänomen durch Kopplung der dreistufigen Selektion von Information, Mitteilung und (einem wie auch immer gearteten) ‚Verstehen’ folgt (vgl. Luhmann 1984), kann sich eine praxistheoretisch orientierte Forschung nicht mit der Beobachtung systemlogisch erfolgreich gekoppelter Kommunikationssequenzen begnügen. Sie interessiert sich vielmehr gerade für deren Genese, das heißt das Zustandekommen von Informations- und Mitteilungsangeboten auf der Seite der Medienproduktion sowie für den jeweiligen Umgang mit und die Aneignung von Medieninhalten seitens der Rezipienten. Hier, bei der Analyse von Rezeptionsprozessen, sind seit einigen Jahren kommunikationswissenschaftliche Studien mit kulturund neuerdings auch praxistheoretischer Ausrichtung entstanden (vgl. Weiß 2000, 2001; Göttlich 2001, 2004), während es bis dahin den Cultural Studies überlassen wurde, Mediengebrauch als ‚kulturelle Praktik’ (Williams) anzusehen und die Aneignung von Medienangeboten in Konsumptionspraktiken und
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ihren Kontexten zu analysieren (vgl. Hepp 2004: 38ff.; Hepp/Winter 2006). Allerdings kann die Kommunikationsforschung kein Interesse daran haben, dass dabei das ‚Widerständige’ und ‚Subversive’ in den Praktiken theoriepolitisch gesetzt bzw. überzeichnet wird; vielmehr ist es in der Analyse empirisch offen zu ermitteln. Darauf zielen die Rezeptionsstudien Göttlichs ab, der Gebrauchsund Nutzungsweisen von Medien als Ausdruck spezifischer Alltagspraktiken versteht, bei denen praktische Herausforderungen des Umgangs mit Neuem und Unerwartetem in Rezeptionsmodalitäten bewältigt werden (vgl. Göttlich 2004). Explizit praxeologisch argumentiert Weiß, wenn er mittels einer ‚Theorie des praktischen Sinns’ Muster handlungspraktischer Orientierungen und Anschauungsweisen von Rezipienten als alltagsweltliche Grundlagen für ein Medienhandeln herausarbeitet, dessen Bedeutung für die Praxis des Alltagslebens in subjektiven Formen der Aneignung medienkultureller Angebote analysiert werden soll (vgl. Weiß 2001). Arbeiten, die sich auf ähnliche Weise mit der Produktion von Medienangeboten auseinandersetzen, gibt es in der Kommunikationswissenschaft bislang nicht. Dabei verweist die Frage nach dem Zustandekommen medialer Informations- und Mitteilungsangebote auf die Handlungspraxis von Medienschaffenden. Hier haben sich im Laufe der Entwicklung des Journalismus (wie der Public Relations, Werbung und TV-Unterhaltungsindustrie) im berufsbezogenen Handeln situations- und raumübergreifend Praktiken herausgebildet, sodass deren Kommunikationsofferten nicht als personenbezogene kommunikative Akte begriffen werden dürfen. Vielmehr sind sie als Hervorbringung ganzer Bündel miteinander vernetzter Handlungsweisen anzusehen,10 in denen das ‚knowing how’ der Handelnden Vorrang vor jedem theoretischen Wissen hat. Gleichzeitig ist die Handlungspraxis journalistischer Akteure derjenige Ort, an dem die ‚objektivierten’ Strukturen des Journalismus aktualisiert und damit überhaupt erst sozial relevant werden: In der Verkettung einzelner Handlungen zu sozialen Praktiken des Journalismus kontinuieren diese Strukturen nur dadurch, dass sie im Handeln der Akteure reproduziert, aber auch transformiert werden (vgl. Raabe 2005a: 166ff.).11 Ein praxistheoretisches Verständnis kann in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Grundlage journalistischer Handlungspraxis das praktische Wissen der Akteure und die in ihm aktualisierten kulturellen Bedeutungs- und Wissensregeln in Form spezifischer Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster bilden. Als Produkte sozialer Erfahrung sind sie nicht allein der Zugehörigkeit zum teilgesellschaftlichen Sinnbezirk des Journalismus bzw. dessen Regeln und Normen geschuldet, sondern auch den lebensweltlich geprägten, soziokulturellen Kontexten der Akteure (vgl. Raabe 2005b: 71ff.). So weisen Journalisten herkunfts- und sozialisationsbedingt spezifische kulturelle
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Orientierungen und ‚Weltsichten’ auf, die unweigerlich in das journalistische Handeln mit eingehen. Deshalb kann sich Journalismus auch wandeln, wenn sich mit Wechseln im Redaktionspersonal die sozio-kulturellen Hintergründe der Akteure ändern. Während man auf der Rezeptionsseite die symbolisch-kulturelle Dimension von (Medien-)Handeln längst erkannt hat, wird sie seitens der journalistischen Aussagenproduktion bis heute nahezu vollständig vernachlässigt – ganz so, als würden arbeitsteilige Organisation und redaktionelle Verfasstheit journalistischer Handlungspraxis alle symbolischen Strukturierungsprozesse journalistischer Produktion abdecken oder zumindest kontrollieren können.
6 Schlussfolgerungen Der Beitrag wollte in Theorien sozialer Praxis einführen und Möglichkeiten ihrer Anwendung auf kommunikationswissenschaftliche Frage- und Problemstellungen zumindest in groben Strichen skizzieren. Dabei kann auf Arbeiten der Medienrezeptionsforschung verwiesen werden, in denen der Umgang und Gebrauch medienkultureller Angebote praxistheoretisch formuliert und als Teil von Alltagspraktiken analysiert wird. Zugleich zeichnet sich vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ab, dass das Potential einer praxistheoretischen Perspektive für Kommunikationstheorie und -forschung über den Bereich der Mediennutzung und -aneignung hinausgeht. Der mögliche Gewinn betrifft sowohl wissenschafts- als auch analysebezogene Aspekte. Im Hinblick auf eine reflexive Kommunikationswissenschaft kann eine praxistheoretische Perspektive dazu beitragen, die Kenntnis um die Möglichkeiten (und deshalb auch: Grenzen) kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnis durch den Selbsteinbezug in den Analysebereich zu erweitern und aufmerksamer als bislang der Übernahme alltagsvernünftiger Vorstellungen in kommunikationswissenschaftliche Konzepte entgegenzutreten. Zugleich kann sie mit dem Problem des Realitätsstatus konstruierter Forschungsobjekte umgehen, indem diese als notwendige Setzungen der wissenschaftlichen Praxis unterscheidenden Bezeichnens erscheinen, die sich auf ihre Voraussetzungen hin befragen lassen. Durch die Reflexion der eigenen Bedingungen erlaubt die praxistheoretische Perspektive schließlich die Verabschiedung von der immer noch vorfindbaren Haltung, in der die wissenschaftliche Beobachtung als eine voraussetzungslose Sicht ‚von außen’ bzw. wie eine Draufsicht auf soziales Geschehen erscheint. Auf sozialtheoretischer Ebene helfen praxistheoretische Einsichten, traditionelle theoretische Modellierungen von Kommunikation einer kritischen Prü-
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fung zu unterziehen, artifizielle Annahmen (wie unhinterfragte gesellschaftliche Normen und Werte, einen allgemeinen Funktionssinn oder praxisunabhängige symbolisch-kulturelle Wissensordnungen) zu vermeiden und statt dessen die entsprechenden Sinnmomente im praktischen Vollzug von Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen freizulegen. Damit lässt sich auch der Fehler vermeiden, vom theoretischen Modell unmerklich zur Analysewirklichkeit überzugehen und die Prinzipien des Modells zu praktischen Erzeugungsweisen sozialer Handlungs- und Kommunikationspraxis zu machen. Mit ihrem Theorieprogramm von sozialer Praxis und den dort beobachtbaren Praktiken bieten sie ein theoretisches Instrumentarium zur Fokussierung von Forschungsproblemen und implizieren daneben eine Art empirischer Forschungsprogrammatik, insofern der Verzicht auf geschlossene Theoriesysteme und ‚Supertheorien’, aus denen Funktionsweisen empirischer Zusammenhänge deduktiv abgeleitet würden, zu einer theoretisch begründeten, aber zugleich hinreichend theorieoffenen empirischen Forschung führt (vgl. Raabe 2004). Nicht zuletzt mag eine praxistheoretische Orientierung dazu beitragen, die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse wieder stärker in den Aufmerksamkeitsfokus der Kommunikationswissenschaft zu rücken. Sie könnte damit kulturtheoretische Überlegungen früher Arbeiten des Fachs wieder aufnehmen, die durch die einseitige Übernahme ‚kulturblinder’ Theorien und Konzepte der US-amerikanischen Sozialforschung ab den 1960ern für den disziplinären Theoriediskurs über viele Jahrzehnte verloren gegangen sind. Zugleich würde dies die Integration theoretischer Anliegen der Cultural Studies erlauben, die wegen eigenständiger wie auch eigensinniger Traditionen und Vokabularien (mit einem äußerst vagen Kulturbegriff) von der Kommunikationsforschung bislang nicht hinreichend in eigene Frage- und Problemstellungen aufgenommen wurden. Letztlich verweist die Frage nach der Fruchtbarkeit einer praxistheoretischen Perspektive für das Fach natürlich auf die künftige Praxis kommunikationswissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung; sie ist mithin empirisch offen.
Anmerkungen 1 2
Die Auseinandersetzung um die rechte Zugangsweise zu ihrem Gegenstand ist als der „konfessionelle Streit“ sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bezeichnet worden (Kneer/Nassehi 1994: 26). Vgl. Brandom 2000: 29; Sandbothe 2000.
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Kennzeichen dieser praktischen Logik sei es, „nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem Logischsein nicht mehr praktisch wäre“ (Bourdieu 1992: 103). 4 Das gilt auch für das Erlernen der (später hochgradig routinisierten) Praktik des Fahrradfahrens, die nicht durch theoretisches Studium oder schriftliche Anleitung, sondern nur durch Hexis, das heißt körperliche Praxis erworben werden kann. 5 Durch die Begrenzung auf das ‚vis à vis’ von Interaktionspartnern aber bleibt ungeklärt, wie es zu Anschlüssen und Verkettungen von Handlungssequenzen und dadurch zur Ausbildung eines situationsübergreifenden, überindividuellen Sinns in Handlungszusammenhängen kommt (vgl. Hörning 2004: 31). 6 Genese und Vorkommen kollektiver Wissensordnungen bzw. kultureller ‚codes’ in der Handlungspraxis haben dabei wenig von der Eindeutigkeit, mit denen sie sich als distinkte Ordnungen einem Wissenschaftler aus der theoretischen, das heißt abstrahierenden Beobachterperspektive zeigen mögen. 7 Gemeint ist damit, dass der Forscher mit der Vertrautheit der sozialen Welt, die das Produkt vor- und außerwissenschaftlicher Alltagswahrnehmung, ihrer Begriffe und Vorstellungen ist, bewusst bricht (vgl. Raabe 2005a: 138ff.). Das erscheint in den Sozialwissenschaften und folglich auch in der Kommunikationswissenschaft umso dringlicher, als hier die Trennung zwischen Alltagsannahmen und wissenschaftlichen Vorstellungen weit weniger klar ist als in anderen Disziplinen. 8 Und dies auch ganz praktisch: „Erst diese Suspension von unmittelbar praktischen Zwängen ermöglicht sowohl die individuelle Aneignung als auch die institutionell organisierte Anwendung der im Laufe der Wissenschaftsgeschichte akkumulierten Erkenntnisinstrumente (Theorien, Methoden, Modelle usw).“ (Schwingel 1995: 45) 9 So wie es für Wissenschaftler einen Unterschied macht, ob sie theoretisch über Kommunikation in Organisationen reflektieren oder selbst in Kommunikationskonflikte im Universitätsbetrieb verstrickt sind. 10 Dazu gehören Praktiken des Recherchierens, Interview- und Befragungspraktiken, redaktionelle Entscheidungsprozeduren, professionelle Produktionsroutinen, Praktiken der Kontakt- und Informantenpflege etc. 11 Eine solche Konzeption überwindet die Kluft zwischen einer (subjektorientierten) Handlungstheorie und einer (objektivistisch ausgerichteten) Strukturtheorie und damit zugleich die Dichotomie von einer Mikroebene individuellen Handelns und einer Makroebene sozialer Strukturen (vgl. ebd.).
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Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung: Handlungs- und praxistheoretische Aspekte als Herausforderung der Rezeptionsforschung Udo Göttlich
1 Einleitung Es gehört mittlerweile zur allgemein geteilten Auffassung, dass sich die Medienrezeption und -nutzung als aktiver Prozess bzw. als Aktivität des Zuschauers wie des Publikums beschreiben und begreifen lässt. Vergleicht man dazu jedoch das im Uses-and-Gratifications-Approach anzutreffende Aktivitätsverständnis mit demjenigen in den Cultural Studies oder vergleichbaren interpretativen Ansätzen, so trifft man auch auf deutliche Unterschiede vor allem in den handlungstheoretischen Grundannahmen, die den jeweiligen Modellen oder Konzepten zugrunde liegen. Wie die Medienrezeption handlungstheoretisch zu erschließen ist, welche Handlungsweisen in den Blickpunkt treten und welche Perspektive auf Aneignungsprozesse sich daraus ergibt, hängt nicht zuletzt von der handlungs- und praxistheoretischen Auskleidung und Fassung der Interaktions- und Aktivitätsvorstellungen selber ab. Auf diesem Gebiet haben sich in der soziologischen Theoriebildung der letzten beiden Jahrzehnte eine Reihe an Entwicklungen ergeben, mit denen die traditionellen Modelle der Wirkungs- und Rezeptionsforschung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft bislang nicht weiter vermittelt sind. Im Ganzen betrachtet fehlt es im Fach überhaupt an einer Theoriegeschichte zu den handlungstheoretischen Grundannahmen, was nicht ohne Konsequenzen ist, wie sich insbesondere an den weithin unreflektierten handlungstheoretischen Implikationen der Wirkungsforschung zeigen lässt. Darüber hinaus ist das mitunter schwierige, in jedem Fall aber wechselvolle Verhältnis von Wirkungs- und Rezeptionsforschung bislang ebenfalls nicht mit Blick auf die Handlungstheorie und der dadurch gegebenen Bezugnahme auf sozialwissenschaftliche, vorwiegend soziologische Theorien aufgeklärt.
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In diesem Beitrag verfolge ich dazu im zweiten Abschnitt eine handlungstheoretische Kritik der in Nutzenansätzen und neueren praxistheoretischen Ansätzen anzutreffenden Aktivitätsvorstellungen. Die Diskussion der Handlungsbegriffe kann angesichts der Fülle an zu berücksichtigenden Ansätzen in diesem Beitrag nicht anders als ausschnitthaft sein und erfolgt mit Blick auf das Problem der situationalen Rahmung von Rezeptionsprozessen. Hiervon ausgehend können die kulturellen Bedeutungsproduktionen gesellschaftlicher Gruppen sowie Einzelner als kreative Praxis verstanden werden. Mit dieser praxistheoretisch begründeten Blickwendung steht mehr auf dem Spiel als die bewussten Rezeptionsstrategien von Rezipienten oder die Rolle unbewusster Rezeptionsmuster mit quantitativen Modellen entlang eines Variablenkatalogs oder der Zuschreibung von Bedürfnissen zu klassifizieren. Es soll deutlich werden, welche Verbindungen zur soziologischen Basistheorie der Handlung bestehen und wie diese für die Rezeptionsanalyse weiter ausgebaut werden können. Diese Herausforderung werde ich im dritten Abschnitt an Hand einer theoretisch orientierten Diskussion des Situationsproblems exemplarisch vertiefen und abschließend im vierten Abschnitt nochmals auf die interpretative Rolle des Kreativitätsbegriffs zur Analyse von Rezeptions- und Aneignungsprozessen eingehen. Die mit diesem Beitrag verfolgte handlungstheoretische Öffnung der Medien- und Kommunikationswissenschaft kann umfassend nur umgesetzt werden, wenn a) herausgearbeitet wird, welche Handlungsmodelle den jeweiligen Theorien mittlerer Reichweite zu Grunde liegen und wenn b) die Vorstellung des kreativen Charakters der Handlung die jeweiligen Konzepte insofern zu überwölben in der Lage ist, als damit eine theoretisch differenzierte Antwort auf die aus dem medialen Wandel erfolgenden Veränderungen der Medienrezeption möglich wird, die nicht allein Brücken bildend wirkt, sondern auch das aktuelle Problem löst, das darin besteht, dass es nicht länger in schlichter Fortführung der Lasswell-Formel um die Wirkung eines Stimulus bei einem Empfänger gehen kann,1 sondern um die Analyse von Handlungspraktiken, mit denen kulturelle Bedeutungskonstruktionen verbunden sind.2
2 Theoretische Landmarken zur handlungstheoretischen Wende in der Rezeptionsforschung Wie einleitend bereits herausgestellt, zählt es mittlerweile zu einem Allgemeinplatz, dass sich die Mediennutzung als aktiver Prozess bzw. als Aktivität des Publikums beschreiben und begreifen lässt. Zur handlungstheoretischen Kritik
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ließe sich dabei nun negativ, an Hand einer Grenzziehung zur Wirkungsforschung und zum Uses-and-Gratifications-Approach vorgehen (vgl. Palmgreen 1984). Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer, eine Dominanz des zweckrationalen Handlungsbegriffs mit den daraus resultierenden Verkürzungen festzuhalten und zu kritisieren, gerade da der Aktivitätsbegriff bislang keine ausreichende, das Spektrum des Begriffes nutzende handlungstheoretische Anbindung erfahren hat, die vor allem in den Cultural Studies schon deutlicher auf Kreativität verweist. Für eine genaue Grenzziehung fehlt es aber auch hier an einer weiterführenden Reflexion der impliziten handlungstheoretischen Grundannahmen, mit der das mit dem kreativen Charakter der Handlung formulierte Deutungsspektrum erfolgreich umgesetzt werden kann. In seiner Kritik der im Fach anzutreffenden Aktivitäts- und Interaktivitätsbegriffe hat Jäckel (1995) bereits auf die fehlende handlungstheoretische Vermittlung aufmerksam gemacht. Dazu hat er angemerkt, dass diese Begriffe selbst an den Stellen Verwendung finden, in denen offensichtlich kein wechselseitiger Austausch über den gemeinten Sinn zwischen Individuen stattfindet. Im soziologischen Sinne geht es daher streng genommen bei diesen mitunter metaphorischen Begriffsverwendungen auch nicht um Interaktion oder Aktivität. Vielmehr steht Interaktion „als Oberbegriff für Aktivitäten“ und „als Teil der Publikumsaktivität“, ohne dass eine „Interaktion im soziologischen Sinne“ und damit auch keine Handlung im soziologischen Sinne stattgefunden habe (vgl. Jäckl 1995: 468ff.). Die Hinwendung zu diesem – wenn man es genau betrachtet, soziologisch halbiertem Aktivitätsverständnis – stellte sich in den späten 1950er Jahren mit der Umformulierung der wirkungstheoretischen Ausgangsfrage „What do the media do to people“ zu der Frage „What do the people do with the media“ im Uses-and-Gratifications-Approach ein. Mit diesem Schritt wurde die Perspektive der klassischen Wirkungsforschung (Stimulus-Response Ansatz) erstmals hinterfragt – wenn auch bis heute nicht verworfen – und ein von der Publikumsaktivität bzw. dem Individuum ausgehende Suche nach den Motiven seines Handelns eingeleitet, wofür der Bedürfnisbegriff einsteht.3 Das Referenzmodell der Mediennutzung (vgl. Renckstorf 1989) hat dabei z. B. den vom User zu leistenden Umgang mit der Medienbotschaft dahingehend zu erklären gesucht, inwiefern er im Verständigungs- bzw. Interpretationsprozess auf problematische Probleme oder unproblematische Probleme trifft, die jeweils eine als zweckrational unterstellte Bewältigung bedürfen bzw. zu einer solchen führen, um als Handlung abgeschlossen zu werden. Das in dieser Unterscheidung eigentlich bereits mitberührte Problem der Reflexivität der Handlung wurde damit jedoch trotz bestehender Anlehnungen an den Symbolischen Interaktionismus, mit dem zweckrationalen Handlungsbegriff erklärt. So blieb diese
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Perspektive vorwiegend auf die individuellen Auswahlentscheidungen bzw. Wirkungsfragen zwischen Text und Leser beschränkt, die sie handlungstheoretisch zu grundieren beabsichtigte. Die sich in dieser Absicht bereits auch andeutende Konvergenz mit dem praxisorientierten Handlungsverständnis wurde jedoch weder weiter verfolgt noch überhaupt erkannt. Die dadurch fortbestehenden theoretischen Einschränkungen kann man sich in Anlehnung an Giddens damit klar machen, dass der zweckrationale Handlungsbegriff in Widerspruch zur erfahrenen Durée des individuellen Handelns über Situationen hinweg tritt, welche gerade Kennzeichen von Kommunikation und Reflexivität ist, in der sich Kreativität mit andeutet: „[…] mit solchen Begriffen wie ‚Zweck‘, bzw. ‚Intention‘, ‚Grund‘, ‚Motiv‘ und so fort muss vorsichtig umgegangen werden, da ihr Gebrauch sehr oft […] mit einem hermeneutischen Voluntarismus verbunden ist, und weil sie menschliches Handeln aus der Kontextualität von Raum und Zeit herauslösen. Menschliches Handeln vollzieht sich ebenso wie menschliches Erkennen als eine Durée, als ein kontinuierlicher Verhaltensstrom. Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat oder einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt. Es ist vielmehr sinnvoll, Reflexivität in der ständigen Steuerung des Handelns verankert zu sehen […]. Handeln setzt sich nicht aus einzelnen diskreten, voneinander klar geschiedenen ‚Handlungen‘ zusammen: ‚Handlungen‘ als solche werden nur durch ein diskursives Moment der Aufmerksamkeit auf die Durée durchlebter Erfahrung konstituiert.“ (Giddens 1992: 53f.)
Im Anschluss an Joas (1992) führt diese Perspektive auf die zur Bewältigung von Situationen im Handeln angelegte Kreativität, die man allerdings erst dann fruchtbringend in die Theoriebildung einbinden kann, wenn man neben Zeit und Raum auch die Korporalität – also die am Körper gemachten Erfahrungen der primären Sozialität – in die Theoriebildung mit einbindet, das heißt den zweckrationalen Handlungsbegriff zu Gunsten der pragmatischen Handlungsvorstellung aufgibt bzw. den Handlungsbegriff in dieser Richtung rekonstruiert. Mit dieser Blickverlagerung auf die situierte Kreativität ergibt sich an Stelle einer negativen Grenzziehung nun eine Konvergenz, von der ausgehend die Rekonstruktion des Handlungsbegriffs ansetzen kann. Während Parsons eine Konvergenz der in der Ökonomie sowie der politischen Ideenlehre bis hin zur frühen Soziologie vorliegenden Handlungstheorien darin sah, dass diese trotz aller Unterschiede auf einen Voluntarismus hinauslaufen, lässt sich für die Rezeptionsforschung eine Konvergenz dahingehend ausmachen, dass der kreative Charakter der Handlung unter utilitaristischen Gesichtspunkten weiter als zweckrational eingehegt wurde.4 Anders formuliert heißt das: Eigentlich war die handlungstheoretische Herausforderung schon frühzeitig gegeben, konnte aber auf Grund theoretischer und methodischer Eigenarten bislang offenbar nicht in Angriff genommen werden.
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Die „erste Überführung“ dieses handlungstheoretischen Problems der Nutzenforschung in die praxistheoretische Analyse der Alltagsbewältigung – im Zusammenhang mit den Medien als Rahmen für symbolische Kreativität5 – bezeichnet die Problemstellung, der sich die Cultural Studies mit ihren spezifischen Methoden zur Erfassung des aktiven Zuschauers im Kontext der ethnografischen Zuschauerforschung („ethnographic audience studies“) zugewandt haben, wofür David Morleys Ansatz (1992) neben den Ansätzen von Ien Ang (1996) oder John Fiske (1987) die wichtigsten Beiträge darstellen. Die Cultural Studies verstehen Kultur dabei als „Ort“ der Produktion von geteilten gemeinsamen Bedeutungen6 oder in kultursoziologischen Begriffen gesprochen, als Bereich der kommunikativen Konstruktion von Sinn, Orientierung und Identität, wobei aber auch hier die gegebene Nähe zum Symbolischen Interaktionismus noch keineswegs eine im soziologischen Sinne gesprochene handlungstheoretische Umsetzung des Aktivitätsverständnisses mit sich brachte.7 So besteht der Beitrag der Cultural Studies zur Analyse, Beschreibung und Erfassung der Zuschaueraktivität vor allem darin, die Rezeption mit Blick auf das häusliche und familiäre wie gruppenbezogene Umfeld und die dort geäußerten Formen symbolischer Kreativität konzeptualisiert zu haben. Dadurch treten an die Stelle der Fragen nach den in der Nutzung von Medien sich ausdrückenden Bedürfnissen, die an der Sinnkonstruktion beteiligten Aspekte sowie Aushandlungsprozesse in interpretativen Gemeinschaften und unter dem Einfluss von Machtbeziehungen in den Vordergrund. Im Zusammenspiel mit dem Polysemiekonzept wurde als zentraler Gewinn dieser Forschungen deutlich, dass der „Kampf“ um Bedeutungen ein äußerst wechselvolles Handlungsfeld von Widerstand und Unterordnung, Opposition und Komplizenschaft, Affirmation und Kritik darstellt, das sich nicht nur auf der semiologischen Ebene, sondern unter dem Einfluss und der Kontrolle sozialer Machtstrukturen neben den in den Text eingeschriebenen Strukturen vollzieht. Diese Vorstellung ist Ausdruck des im Pragmatismus thematisierten Handlungsproblems zwischen Routine und Widerstand, an das sich für die weitere Diskussion des kreativitätsorientierten Handlungsbegriffs anschließen lässt. Die Bedeutung des Spannungsverhältnisses von Routine und Widerstand für die Medienaneignung wird im folgendem Zitat deutlich, in dem Joas (1992) auf die Unterbrechung von Handlungsroutinen und die sich daran anschließenden Prozesse der Stabilisierung oder Wiedergewinnung von Handlungssicherheit erinnert, die auf „Kreativität“ verweisen und die an der selbstreflexiven Steuerung des Verhaltens in Situationen anschließen: im Handlungsmodell der Pragmatisten „[…] ist alle Wahrnehmung der Welt und alles Handeln in ihr in unreflektiertem Glauben an selbstverständliche Gegebenheiten und erfolgreiche Gewohnheiten verankert. Immer
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wieder aber brechen dieser Glaube und die mit ihm verknüpften Handlungsroutinen zusammen; der bisher gewohnte, automatisch wirkende Ablauf des Handelns wird unterbrochen. Die Welt erweist sich als Quell solcher Erschütterung unreflektierter Erwartungen; die Handlungsgewohnheiten prallen von der Widerständigkeit der Welt ab. Dies ist die Phase des realen Zweifels. Aus dieser Phase heraus führt nur eine Rekonstruktion des unterbrochenen Zusammenhangs. Die Wahrnehmung muss neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen; die Handlung muss an anderen Punkten der Welt ansetzen oder sich selbst umstrukturieren. Diese Rekonstruktion ist eine kreative Leistung des Handelns. Gelingt es, durch die veränderte Wahrnehmung die Handlung umzuorientieren und damit wieder fortzufahren, dann ist etwas Neues in die Welt gekommen: eine neue Handlungsweise, die sich stabilisieren und selbst wieder zur unreflektierten Routine werden kann. Alles menschliche Handeln wird so im Blick der Pragmatisten in der Spannung zwischen unreflektierten Handlungsgewohnheiten und kreativen Leistungen gesehen. Das heißt zugleich auch, dass Kreativität hier als Leistung innerhalb von Situationen, die eine Lösung fordern, gesehen wird, und nicht als ungezwungene Hervorbringung von Neuem ohne konstitutiven Hintergrund in unreflektierten Gewissheiten.“ (Joas 1992: 190)
Mit Blick auf diese Formulierung lässt sich als Herausforderung der Rezeptionsforschung die handlungstheoretische Erfassung, Beschreibung und Analyse der Situationsbewältigung zwischen Routine und Widerstand, zwischen unreflektierter Handlungsgewissheit und der kreativen Leistung zu deren Wiedergewinnung gegenüber Unsicherheiten des Alltags bezeichnen, mit der sich das Konzept nutzbringend anwenden lässt.8 Hierzu bietet sich der Begriff der ‚Rezeptionsmodalität‘ an, der den Modus und die Perspektive des Wahrnehmenden zum Wahrgenommenen mit Blick auf die darin zum Ausdruck kommenden Formen symbolischer Kreativität beschreibbar macht.9 Der Kreativitätsbegriff versucht in diesem Zusammenhang eine Antwort auf das Problem zu finden, wie Handlungssituationen im Modus von (mitunter fundamentaler) Unsicherheit – und für die Medienkommunikation heißt das vor allem in Situationen der Wahrnehmung von Neuem und Unbekannten – bewältigt werden, gerade da die in Funktionstheorien der Handlung behauptete Zweckgerichtetheit, Regelhaftigkeit und Normorientierung – wenn möglicherweise auch nur kurzzeitig – verloren gegangen ist. Diese Problemstellung führt auf die Frage der konstitutionellen Verfasstheit des Handelns und der Wahrnehmung selbst, die im Pragmatismus in der selbstreflexiven Steuerung unseres Verhaltens in spezifischen Situationen gesehen wird, die deutlich über die Erklärung zweckrational oder auch normativ gerichteter Motive hinausweist. Das Problem der konstitutionellen Verfasstheit lässt sich somit an Hand eines Vergleichs des im zweckrationalen sowie dem pragmatischen Paradigma anzutreffenden Umgangs mit der Situation weiter vertiefen. Grob gesprochen tritt hier die weiter oben in der Vorstellung der „Durée“ angesprochene Handlungsvorstellung der Vorstellung von über Zwecke isolierbarer Handlungsvollzüge gegenüber. Gerade die Annahme, dass Handeln in
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Situationen stattfindet, gehört zu den Grundannahmen der Handlungstheorie (vgl. insb. Bahrdt 1996). Funktionalistische Erklärungen scheitern jedoch daran, dass offene Situationen verschiedenartige Antworten zulassen und nicht von Vornherein bereits auf eine intentionale Antwort gerichtet sind. Als eine Reaktion auf diese Ausgangslage treffen wir z. B. in aktuellen Überlegungen Essers auf ein rationales, weiterhin am ‚homo oeconomicus‘ orientiertes Situationsmodell, das die Pointe beinhaltet, „dass die rationalitätstrübenden kognitiven und emotionalen Selektionen bei der Situationsdefinition selbst ‘den Variablen und der Selektionsregel der Theorie des rationalen Handelns‘“ (Straub/Werbik 1999: 14f.) unterliegen. Eine Auffassung, die im Gegensatz zu Joas‘ Bestrebungen auf eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Theorie des rationalen Handelns zielt.10 Wenn man so will, lässt sich auch das als ein weiterer Beleg für die angedeutete Konvergenz sehen, mit der in der Theoriebildung in zwei unterschiedliche Richtungen weiter verfahren wird. Bei der Kreativitätsfrage des Handelns handelt es sich somit um eine spezifische praxisorientierte Konzeption, die nicht weiter den auf Annahmen des Voluntarismus sich gründenden Handlungstheorien in der Nachfolge Parsons folgt, was einen entscheidenden Unterschied für den nachfolgend diskutierten Umgang mit der Situation bedeutet, mit der die handlungstheoretische Differenzierung weiter verfolgt wird. Dieses Einstiegstor gilt es nun detaillierter zu diskutieren.
3 Zum theoretischen Problem der Kreativität des Handelns Die mit der bislang entwickelten Konzeption gelegte Spur für die Auseinandersetzung mit den in der Medien- und Kommunikationswissenschaft anzutreffenden dominanten Wirkungs- und Nutzen- sowie Rezeptionsmodellen erlaubt nochmals nachhaltig zu erkennen, dass die überwiegende Zahl der bestehenden Theorien und Theoriekonzeptionen im ökonomisch-utilitaristischen Paradigma ihre Wurzeln haben (vgl. Jäckel 1999). Diese streben in ihrem Vorgehen kaum danach, Zwecksetzung grundsätzlich zu problematisieren und somit das Handlungsproblem theoretisch für ihre Fragestellungen neu zu fassen. Das Dilemma des Utilitarismus besteht aus der Binnenperspektive dieses Ansatzes – wie bereits an der obigen Feststellung Bahrdts abzulesen – nach Esser darin „[…] dass er entweder erstens die Willensfreiheit der Menschen annehmen muß, dann aber keine Lösung des Problems der zufälligen Variation der Ziele finden kann. Oder aber es wird zweitens akzeptiert, dass empirisch die Ziele nicht variieren. Dann findet
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der Utilitarismus aber innerhalb seiner Annahmen keinen Ort mehr, von wo eine ‚freie‘ Selektion des Handelns ausgehen könnte.“11 (Esser 2001: 38, Herv. i. O.)
Was die von Joas durch die Annahme des kreativen Charakters der Handlung erbrachte Erweiterung der Handlungstheorie an dieser Stelle auszeichnet, ist, dass sie in Reaktion auf die schon lange anhaltende Kritik am Utilitarismus zu einer Rekonstruktion anhebt, die die Grenzen des Funktionalismus als auch der Theorien rationalen Handelns im Vergleich mit dem favorisierten Situationsmodell an der Pointe festmacht, Selektion als konstitutiven und eben nicht intentionalen Akt für Handlungen überhaupt zu sehen, wobei im Rahmen der selbstreflexiven Steuerung Selektionsregeln Anwendung finden, die dem reflexiven und nicht dem intentionalen Charakter der Handlung entspringen. Insofern bestimmt die Logik der Situation durchaus die Logik der Selektion – wie Esser (vgl. 1999b: 134) in der Absicht der Verteidigung des teleologischen Paradigmas herausgestrichen hat –, allerdings unter Unterschlagung der konstitutiven Voraussetzung der Kreativität des Handelns, wie aus der pragmatischen Perspektive anzufügen ist. Dieser Unterschied der Positionen lässt sich folgendermaßen an Hand von drei Schemata, die das Situationsproblem unterschiedlich einklammern und weiter entwickeln, vor Augen führen. Das erste Schema behandelt den zweckrationalen Handlungsbegriff, während die beiden folgenden Schemata die Spur des kreativen Charakters der Handlung weiter verfolgen. Abbildung 1: Schema zum zweckrationalen Handlungsbegriff Normen Handelnder
–
Ziel/Zweck – Situation
Werte
Im ersten Schema wird die Situation für den Handelnden offensichtlich erst nach der bereits gefällten Entscheidung eines Handlungszieles maßgeblich, worin die utilitaristische Basisannahme zum Ausdruck kommt. Den für die Argumentation entscheidenden Bezugspunkt bildet dabei der Umgang mit der bzw. die Stellung der Situation in der Handlungserklärung. In der schematischen Darstellung wird das an Hand der Positionierung des Begriffs ‚Situation‘ in der Symbolisierung des Handlungsaufbaus verdeutlicht. Im zweiten Schema ist es jedoch die Deutung der Situation selber, die die anschließenden Handlungsentscheidung vorbereitet, womit die utilitaristische Schiene – vergleichbar einem
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Vorzeichenwechsel – umgestellt wird. Beide Schemata stellen eine verkürzte Sequenz bzw. den initialen Ausschnitt eines Handlungsstroms dar. Abbildung 2: Schema zur konstitutiven Auflösung des zweckrationalen Handlungsbegriffs Normen Handelnder
–
Situation
–
Ziel/Zweck
Werte
Im Vergleich mit dem ersten Schema bestimmt auch im zweiten Schema die Logik der Situation durchaus noch die Logik der Selektion der Handlungsziele, wie Esser (1999a: 134) in der Absicht der Verteidigung des teleologischen Paradigmas herausgestrichen hat. Allerdings geschieht dies bereits unter Einbeziehung der konstitutionellen Voraussetzung kreativer Akte, die sich in der Situationsdeutung finden – wie aus der Perspektive von Joas anzufügen ist. Das zweite Schema stellt aber nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zur handlungstheoretischen Umsetzung der Kreativitätsidee dar, die mit dem untenstehenden dritten Schema erfolgt. In der pragmatischen Handlungstheorie steht für die konstitutiven Akte vor allem der Begriff der Routine und die mit ihm verbundene Leistung in der Bewältigung von Störungen oder Unsicherheiten, die ebenso auf Kreativität hinführen wie die widerständigen Umgangsweisen, die die Situation stabilisieren können und dabei selbst wieder zur unreflektierten Routine werden können. Joas interpretiert dieses Problem aus der Warte einer nicht-teleologischen Deutung der Intentionalität des Handelns, die in einer Bannung der Handlungsunsicherheit besteht, die nicht auf die Rettung der Routine, sondern deren Adaption als Ausdruck der selbstreflexiven Steuerung des Verhaltens verweist. Überträgt man diese Überlegung auf die hier zur Diskussion und Lösung anstehende Rezeptionsproblematik, dann lässt sich formulieren: Im Moment der Situationsbewältigung wird eruiert, ob die Lösung innerhalb bestehender Habitualisierungen, also Routinen, oder jenseits davon liegt, womit sich in diesem Prozess die Frage des Widerstands bzw. der Reaktion darauf stellt. Eines Widerstands, der dann aufbricht und erfahren wird, wenn Routinen irritiert und dadurch unsicher geworden sind. Schematisch lässt sich diese Annahme folgendermaßen darstellen.
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Abbildung 3: Schema zur Kreativität der Handlung in der Medienrezeption Normen Handelnder
–
Situation
–
Routine/Widerstand
Werte (situierte Kreativität)
(symbolische Kreativität)
duré ee
Die im dritten Schema skizzierte Überlegung scheint mir mit Blick auf die Erklärung habitualisierter und routinisierter Formen der Medienanwendung eine interessante Perspektive für die Analyse zu eröffnen, indem es zur Vermutung Anlass gibt, dass auch die Zuwendung zu neuen Medienangeboten zunächst aus der Haltung bewertet wird, dass das Angebot der subjektiven Empfindung entgegenkommt und auch den erlernten Schemata entspringt, ehe darüber hinaus zielende widerständige, u. a. wohl ästhetische Momente zur Einordnung des Neuen angelegt werden. Handlung wird in den beiden letzten Schemata damit bestenfalls als „diffus teleologisch“ gegenüber einer allein auf Intentionalität fußenden Theoriebildung gesehen, wobei letztere einen Zweck lediglich deduziert und hypostasiert, den sie dann als Motiv bildend für die weitere Erklärung des Handlungsvollzugs begreift. Den Pragmatisten gilt im Gegensatz dazu „Zwecksetzung […] nicht als ein außerhalb von Handlungskontexten stattfindender Akt des Bewusstseins. Zwecksetzung kann vielmehr nur sein ein Resultat der Reflexion auf Widerstände gegenüber dem vielfältig orientierten Verhalten eines Wesens, dessen Welt immer schon in praktischer Weise vor aller Reflexion schematisiert ist.“ (Joas 1988: 423)
Erst bei einer Behinderung bzw. der Unmöglichkeit, „[…] den verschiedenen leitenden Handlungsantrieben oder -zwängen gleichzeitig zu folgen, [kommt, U.G.] es zur Selektion eines dominanten Motivs […], das dann als Zweck die Übrigen dominiert oder nur nebenhin zur Geltung kommen läßt. Diese klare Zweckorientierung ist aber keineswegs der Regelfall. Natürlicherweise ist Handeln nur diffus teleologisch“ (Joas 1989: XVII). Die in der Abbildung 3 schematisch dargestellte handlungstheoretische Fassung des Kreativitätsbegriffs hat nicht von ungefähr den bereits im vorangehenden Abschnitt zum Ankerpunkt erhobenen konsequenten Bezug auf die für die Bewältigung von Unsicherheiten notwendigen Handlungsressourcen, die die im teleologischen und normativen Handlungsbegriff gelegenen Modellkonzeptionen überwindet und die Rezeptionsforschung an neuere Probleme in der Ana-
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lyse der Nutzung von Medienmenüs heranführen kann. Im Zusammenhang mit dem Wandel des Medienangebots – der in diesem Beitrag inhaltlich nicht näher betrachtet werden kann12 – führt das hier vorgestellte Praxiskonzept im Kontext medialer Konstruktionen von Wirklichkeit zur Analyse von Formen des kulturellen Produzierens der Rezipienten, die mit der Nutzung und Aneignung von Medienangeboten in einem Zusammenhang stehen.13 Die für die empirische Umsetzung dieser Vorstellung notwendige Verbindung mit dem weiter oben bereits genannten Begriff der Rezeptionsmodalität als analytischem Fokus erfolgt in der Absicht der Rekonstruktion des situationalen Zusammenhangs, der sich aus der Perspektive und dem Modus des Wahrgenommenen zum Wahrnehmenden zwischen Routine und Widerstand ergibt. Die in der Situationsbewältigung zum Ausdruck kommende Kreativität der Handlung wird in den Rezeptionsmodalitäten u. a. an Hand der aufweisbaren Bewertungen und Deutungen von Kommunikationsangeboten, die zwischen Routine und Widerstand angelegt sind, analytisch greifbar, worauf insbesondere qualitative Untersuchungen zur symbolischen Kreativität ein erstes Licht geworfen haben.
4 Zur interpretativen Rolle der Kreativität des Handelns für die Medien- und Kommunikationswissenschaft Mit der bis zu diesem Punkt veranschaulichten Rolle der situierten Kreativität für die Erklärung des Rezeptionshandelns wird es möglich, „Kreativität gerade als Freisetzung für neue Handlungen aufzufassen“ (Joas 1992: 196), wie dies im Pragmatismus mit zu Grunde gelegt ist. Der mit der Einführung dieses Begriffs mögliche Perspektivenwechsel in der Rezeptionsforschung lässt sich abschließend nochmals mit Blick auf die Überwindung der utilitaristischen Sichtweise verdeutlichen. Hierzu gilt es sich klar zu machen, „dass die schließlich zum Wertstandard hypostasierte intrinsische Rationalität der Einzelhandlung, in der der Handlungsvollzug den antizipierten Zielzustand erreicht, erst durch die Kommunikation signifikanter Gesten möglich wird“ (Wenzel 1985: 50), die als Ergebnis situierter Kreativität dann diese oder jene Handlungsfolge zeitigen. Zusammengefasst heißt das: „Dem Kultursystem Parsons‘ steht das ‚universe of discourse‘ Meads gegenüber, den durch strukturelle Elemente bestimmten Systemen des Handelns der durch symbolische Interaktion integrierte soziale Prozess, dem eigentümlich unterbestimmt bleibenden Begriff des voluntaristischen Handelns die emergente Rekonstruktion der Situation durch Handeln.“ (Wenzel 1985: 50)14
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Diese Einsicht verdeutlicht aus einer anderen theoretischen Perspektive betrachtet auch Raymond Williams (1983), wenn er mit Blick auf den kreativen Charakter der Handlung formuliert, dass wir eine Sache zu sehen lernen, wenn wir sie beschreiben lernen, was im Rahmen der Rezeptionsforschung insbesondere auf die Aneignungsfrage von Neuem verweist.15 Eine zu dieser Sichtweise passende Spezifizierung des Kreativitätsbegriffs findet sich in dem Buch „Common Culture“ von Paul Willis (1990), der sich mit der symbolischen Kreativität im Alltag – vor allem Jugendlicher – auseinander gesetzt hat. Dabei kommt Willis zu folgender, auf die Erweiterung des Aktivitätsbegriffs zielenden, Unterscheidung, die beim Kommunikationsbegriff als aktiver symbolischer Tätigkeit ansetzt und bereits dadurch auch einen deutlichen Unterschied zum Aktivitätsbegriff im Uses-and-Gratifications-Approach leistet: „We argue that symbolic creativity is not only part of everyday human activity, but also a necessary part. This is because it is an integral part of necessary work - that which has to be done every day, that which is not extra but essential to ensure the daily production and reproduction of human existence.“ (Willis 1990: 9)
Im Zusammenhang mit dem Begriff gesellschaftlich notwendiger Arbeit nimmt Willis zunächst eine formale Ausweitung der materialistischen Sichtweise vor, durch die er auch die symbolische Tätigkeit mit zu dieser hinzuzählt und dann resümiert: „[…] symbolic work. This is the application of human capacities to and through, on and with symbolic resources and raw materials (collections of signs and symbols - for instance the language as we inherit it as well as texts, songs, films, images and artefacts of all kinds) to produce meaning. This is broader than, logically prior to and a condition of material production, but its ‚necessariness‘ has been forgotten.“ (Willis 1990: 10)
Zu den basalen Voraussetzungen der symbolischen Arbeit zählt Willis – was sich auch als Ergänzung zur pragmatischen Grundlegung der Kreativitätsidee bei Joas anbietet – erstens die Sprache als Praxis und symbolische Quelle. Zweitens den Körper bzw. die Körperlichkeit als Praxis und symbolische Quelle sowie drittens Drama als Praxis und symbolische Ressource. Alle diese Elemente laufen zusammen in der symbolischen Kreativität, verweisen aber zugleich auf die Aufgabe zur Bewältigung der handlungstheoretischen Ebene: „Language, the body, dramatic forms are, in a way, both raw material and tools. Symbolic creativity is more fully the practice, the making - or their essence, what all practices have in common, what drives them“ (Willis 1990: 11). Die Hinwendung zum Kreativitätsbegriff, die sich bereits in den von Williams und Willis genannten Bestimmungen mit andeutet, besteht schließlich in der Öffnung zur Performanzproblematik in der Medienrezeption, die über die ebenfalls mit angelegte Öffnung zum kommunikativen Handeln hinausgeht und neben dem expressiven auch den dramaturgischen Charakter des Handelns in
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eine durch den Kreativitätsbegriff bzw. der symbolischen Kreativität gewiesene Anwendungsrichtung verfolgt (vgl. Habermas 1981: 135 und 141ff.). Dieser Aspekt kann an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden. Mit Blick auf die bis hier diskutierte Kritik und Problemstellung lässt sich resümieren, dass die Wirkungsforschung ohne Artikulation des kulturellen Erfahrungsrahmens auf deutlich um Kultur verkürzte psychische Effekte und Reaktionen des Individuums zielt, die als Verhalten verstanden, aber eben nicht weiter als handlungstheoretisch fundiert angesehen werden können. Es sei denn, man akzeptiert die in der Motivationshypothese gründende Handlungskonzeption als ausreichend für die Lösung und Behandlung anstehender Rezeptions- und Aneignungsfragen. Der innerhalb der Cultural Studies eingeschlagene praxistheoretische Weg eröffnet hier einen deutlichen Unterschied, der aber auch erst in seinen handlungstheoretischen Konsequenzen weiter aufzuschließen und für die Rezeptionsforschung anschließbar zu gestalten ist. In den Cultural Studies hatte Stuart Hall die Übernahme der als pragmatisch zu bezeichnenden Handlungsperspektive bereits im Rahmen seiner Kritik von Übermittlungstheorien im Encoding/Decoding-Modell vorgezeichnet. Für die Thematisierung der von Hall so bezeichneten „discursive activity“ sind jedoch noch die theoretischen Positionen des historischen Materialismus sowie des strukturalistischen Ansatzes in der Nachfolge von Althusser zentral. Mit dem kommunikativen Handeln und der Idee des Performativen ist nun im Rahmen dieses auf den Kreativitätsbegriff zielenden Diskussionsabschnittes die Stelle bezeichnet, an der die Aspekte des kreativen Handelns von Joas in die Grundannahmen der Cultural Studies mit überführt werden können. Von hier aus ist auch der theoretische Grund geebnet, den gesamten Zusammenhang auch für die Cultural Studies – und nicht nur für die Medienwirkungsforschung – handlungstheoretisch mit dem Ziel zu rekonstruieren, die vorliegenden Modelle mit Blick auf das rationalitätskritische Moment zu erweitern. Das kann in diesem Beitrag nicht mehr weiter an Hand von Beispielen aufgezeigt werden. Die Organisation von Erfahrung durch Medien schließt immer einen kulturellen Bedeutungskontext mit ein, der nicht nur in der Rezeption aktualisiert, sondern auch in der Auslegung der Alltagspraxis zur Anwendung kommt – worin die praxistheoretische Konsequenz zum Ausdruck kommt. Kurz gesprochen: Die häufig unspezifische Verwendung des Interaktions- und Aktivitätsbegriffs, wie sie sich mitunter auch in der Rezeption der Cultural Studies zeigt, wird an dieser Stelle mit dem Kreativitätsbegriff bzw. dem Verständnis situierter Kreativität aufgeladen und praxistheoretisch spezifiziert. Dazu ist allerdings die handlungstheoretische Rekonstruktion der für die Rezeptionsforschung bis-
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lang relevanten Ansätze und Modellkonstruktionen ebenfalls weiter zu verfolgen. Mit der in diesem Beitrag verfolgten basistheoretischen Debatte konnten entscheidende theoretische und methodische Probleme angesichts der Breite des Gegenstandes und Forschungsfeldes verständlicherweise nur ausschnitthaft diskutiert werden. Vor dem bislang entfalteten Problemhintergrund zeigt sich, dass die Medien- und Kommunikationsforschung spätestens mit der Einführung des Uses-and-Gratifications-Approach – durch den dort mit im Hintergrund stehenden Zugriff auf den Symbolischen Interaktionismus – das Tor zu der hier im Mittelpunkt stehenden theoretischen Position bereits weit aufgestoßen hatte, um sich den kreativen Charakter der Handlung zu erarbeiten, wobei dieses Tor zur Erarbeitung eines praxistheoretisch grundierten Handlungsbegriffs dann jedoch nicht durchschritten wurde. Vielleicht gelingt es mit der hier vorgestellten Perspektive eine handlungstheoretische Grundlagendebatte im Fach anzustoßen, die sich der aktuellen Herausforderung als Folge des Medienwandels weiter annimmt.
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Raymond Williams (1974: 120f.) hatte bereits auf den für ihn bestehenden ideologischen Charakter der Lasswell-Formel aufmerksam gemacht, in der zwar danach gefragt werde, „wer was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt sage“, wodurch allerdings die Interessen gänzlich ausgeblendet würden. Deshalb müsse die Formel lauten: „Who says what in which channel to whom with what effect and in which interest?“ (Williams 1974: 120) Dieser Zugriff stellt eine Seite der umfassender in meiner Habilitationsschrift unternommenen Kritik und Rekonstruktion des Handlungsbegriffs für die Rezeptionsforschung dar. Die Arbeit trägt den Titel: „Die Kreativität des Handelns in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung.“ (Göttlich 2007). Der Argumentation von Halff (1998: 235ff.) folgend, ließe sich ein Grund für das Festhalten an der Wirkungsforschung durchaus im Szientifismus festmachen. Aber auch dieses Argument sieht an dem Grundproblem der Handlung vorbei, was im Übrigen bei der starken psychologischen Tradition der Wirkungsforschung kein Wunder ist, mit der der Zugang über die Gratifikationen und Bedürfnisse, nicht aber über den Weg einer handlungstheoretischen Rekonstruktion gesucht wird. Die Feststellung der Konvergenz bedeutet nicht, wissentlich über grundsätzliche Unterschiede von Theorien hinwegzusehen oder gar von einer Konvergenz der behandelten Autoren oder Ansätze auszugehen. Es handelt sich um die Zuspitzung eines Aspekts und der Darlegung von dessen Möglichkeiten, neben der Beachtung aller bestehenden grundsätzlichen Unterschiede. Kurz, während die pragmatistische Handlungstheorie auf den kreativen Charakter der Handlung zugeht, versuchen die
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utilitaristischen Ansätze diesen als einen die Rationalität trübenden Aspekt methodisch zu kontrollieren. Vgl. zum Begriff der „symbolischen Kreativität“ ausführlich Willis (1990). „The individual self is formed within culture, and on the basis of shared cultural resources.“ (Couldry 2000: 44) Ein das Problem grundsätzlich benennender, dazu die handlungstheoretische Leerstelle der Wirkungs- und Rezeptionsforschung deutlich kritisierender Zugang findet sich bei Krotz (vgl. insb. 1996, 1997). Dabei hat er sowohl an den Symbolischen Interaktionismus als auch an die Cultural Studies angeschlossen und deren handlungstheoretische Konzepte vom Menschenbild ausgehend rekonstruiert. Mit dieser Ausrichtung bzw. Einklammerung handelt es sich bei der kreativitätsorientierten Wende keineswegs um eine Spontantheorie des Handelns, die den situativen Faktor etwa durch die Ausblendung strukturationstheoretischer Fragen hypostasiert und dadurch dem status quo Vorschub leistet. Da in diesem Beitrag keine weiterführende empirische Betrachtung verfolgt werden kann, können die für die empirischen Analyse entscheidenden Zugangswege bzw. Konzepte nur genannt werden. Vgl. dazu genauer Göttlich (2007). Die von mir verfolgte Definition der Rezeptionsmodalität erfolgt dazu auch in Abgrenzung zum Begriff bei Suckfüll (2004), die eine wirkungstheoretisch begründete Fassung des Konstrukts der Rezeptionsmodalität mit Blick auf unterschiedliche Formen des Involvements wie der Distanzierung verfolgt (vgl. ebd.: 111ff.). Jäckel verfolgt einen ähnlichen, auf die Konvergenz hindeutenden Gedanken, wenn er festhält: „Das Ausmaß der Rationalität ist variabel bzw. eine Funktion der Situationsbestimmung“ (Jäckel 1996: 80). In der Rezeption zeigt sich Variabilität immer auch in unterschiedlichen Bedeutungen, womit auch hierdurch auf die Kreativitätsidee zugesteuert wird. Prinzipiell überspringen diese Modelle damit sogar das Hobbesian ‚Problem of Order‘, da sie eben nicht erklären können, wie es zur Zwecksetzung kommt, sondern diese bereits als gegeben voraussetzen. Die Lösung des Ordnungsproblems stellte innerhalb der Soziologie aber eine entscheidende Herausforderung selbst für die Theorie Parsons dar. Gedacht ist dabei im Wesentlichen an die Angebotspalette des performativen Realitätsfernsehens mit seinen Folgen und nicht allein an das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktizität. Vgl. zur damit verbundenen Frage des „doing culture“ Hörning/Reuter (2004). In der Analyse von Interaktionen interessiert, welche Schritte die Interaktionspartner unternehmen, die Situation in möglichst gleicher Weise zu interpretieren, etwa indem sie sich an ihren Rollen orientieren. „Dies geschieht meist mit Hilfe von Gesprächsritualen […] die nichts über die besprochene Sache mitteilen, aber schnell symbolisieren, welche Situation vorliegt und wer jetzt welche Rolle zu spielen hat“ (Bahrdt 1996: 120). In praxisorientierter Hinsicht ist das ein Hinweis auf vergleichbare Situationen in der Rezeption. Empirisch ergeben sich hier etwa Anschlusspunkte mit Blick auf die Genretheorie und die Veränderungen durch performative Elemente.
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Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung
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Domestizierung 2.0: Grenzen und Chancen eines Medienaneignungskonzeptes Maren Hartmann
1 Einleitung Der Begriff der Domestizierung löst Assoziationen aus: Haustiere tauchen auf, angepasst an menschliche Bedürfnisse.1 Die Assoziation der gebändigten Wildheit ist durchaus von den Anwendern der Metapher gewollt, nur dass aus den Haustieren Technologien geworden sind, genauer gesagt Medientechnologien: „The domestication of new media and information technologies involves, quite literally, a taming of the wild and a cultivation of the tame“ (Silverstone 1994: 11). Mehrere Vertreter des Ansatzes haben seit neuestem eine Art zweiten Ausbruch gewagt, denn der Ansatz ist sowohl im ursprünglichen als auch in neuen (deutschsprachigen) Kontext(en) neu aufgelegt worden. Dieser ‚Ausbruch‘ ist das Thema dieses Kapitels.
2 Domestizierung 1.0? Der Domestizierungs-Ansatz ist ein Ansatz aus der Medienaneignungs-, Rezeptions- und Nutzungsforschung.2 Er stammt primär aus Großbritannien, ist aber momentan dabei, auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung zu finden. Der Ansatz ist nicht mehr völlig neu, kann aber dennoch auch für die Analyse von derzeitigen Medienaneignungsprozessen relevant sein. Ohne weiteres auf neuere Kontexte übertragbar, so wird hier behauptet, ist er allerdings nicht. Es soll aber im Folgenden gezeigt werden, dass diese ‚begrenzte Halbwertszeit’ nicht für den gesamten Ansatz gilt. Begonnen wird mit einer Rekonstruktion des Ursprunges. Darauf aufbauend soll gezeigt werden, welche Anwendungen er über die Jahre erfahren hat und
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inwiefern diese den ursprünglichen Ansprüchen gerecht werden. Im Zusammenhang mit der Frage nach einer möglichen zukünftigen Anwendung wird auch die Anwendung des Konzeptes im deutschsprachigen Raum beleuchtet. Die Frage ist, wo die Stärken, aber auch die Schwächen des Ansatzes in Hinblick auf eine Analyse von Medienaneignung im Zeitalter der Mediatisierung, Individualisierung, von steigender Mobilität und zunehmender Konvergenz liegen.
2.1
Geschichte
Als ein Meilenstein in der Entwicklung des Domestizierungsansatzes gilt ein 1984 auf Englisch erschienener Aufsatz des Tübinger Ethnologen Hermann Bausinger mit dem Titel „Media, Technology and Daily Life“. In diesem Aufsatz formulierte Bausinger im Prinzip eine ganzheitliche Mediennutzungs-Forschungsprogrammatik. Diese umfasste vor allem die folgenden Schwerpunkte: „(1) To make a meaningful study of the use of the media, it is necessary to take different media into consideration. […] (2) As a rule the media are not used completely, nor with full concentration. […] (3) The media are an integral part of the way the everyday is conducted. […] (4) It is not a question of an isolated, individual process, but of a collective process. […] (5) Media communication cannot be separated from direct personal communication. […] (6) […] With regard to media offerings the story of the synthetic average viewer surely does not work.” (Bausinger 1984: 349-350)
Die Stichworte ‚verschiedene Medien‘, ‚Alltag‘, ‚kollektiver Prozess’ und ‚interpersonale Kommunikation‘ sind eindeutig im Domestizierungsansatz wieder zu finden und spielen dort eine zentrale Rolle. Ebenso zeigt Bausinger in seinem Aufsatz an Hand der Beschreibung eines Wochenendes innerhalb der Familie Meier, wie derartige Prozesse für die Forschung sichtbar gemacht werden können. Der Domestizierungs-Ansatz selbst entstand Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien. Zu den frühen Autoren zählen vor allem Roger Silverstone und David Morley, aber auch Eric Hirsch.3 Später folgte Leslie Haddon. Der Ansatz war u. a. eine Reaktion auf eine in der angelsächsischen Medien- und Kommunikationswissenschaft lange Zeit vorherrschende Konzentration auf den Medien-Text im engeren Sinne. Die Cultural Studies-Vertreter, zu denen auch die Autoren des Domestizierungsansatzes zählen, konzentrierten sich stattdessen auf die Zuschauer-Interpretationen der Medientexte und nicht mehr nur auf die Texte als solche.4 Auch der Kontext der Mediennutzung als Forschungsgegenstand (und theoretischer Anspruch) spielten bei beiden eine Rolle. Der Domestizierungsansatz fügt dem die Untersuchung der
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Medien(-Technologien) selbst hinzu. Ähnlich der aktiven Rezeption gibt es hier die Vorstellung von einer aktiven Medienaneignung und Alltagsnutzung. Der Ansatz entstand im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes, welches an der Brunel University angesiedelt war (HICT – „The Household Uses of Information and Communication Technologies“). Im Rahmen dieses Projektes wurden zwanzig Haushalte in Hinblick auf Ihre Mediennutzung ethnografisch erforscht (vgl. Moores 1995: 98-102). Das Folgeprojekt wiederum war Teilprojekt eines Programms mit dem Namen PICT („Programme on Information and Communication Technologies“). Die theoretischen Grundlagen des Domestizierungsansatzes wurden vor allem im Rahmen des ersten Projektes formuliert (z. B. Morley/Silverstone 1990; Silverstone et al. 1991, 1992). Ende der 1990er Jahre dann gab es wenig Bewegung – in den letzten Jahren aber sind wieder neuere Arbeiten der ursprünglichen Autoren zum Thema erschienen (Haddon 2004; Morley 2001, 2003; Silverstone 2005, 2006). Mitte der 1990er Jahre erschienen stattdessen – für viele weniger sichtbar, da hauptsächlich als Forschungsberichte oder Konferenzbeiträge verfasst – die ersten größeren Berichte zur empirischen Umsetzung des Ansatzes (vgl. Haddon 1994, 2006; Haddon/ Silverstone 1995, 1996). Die relative ‚Flaute‘ Ende der 1990er Jahre lässt sich am ehesten mit den Grenzen des Konzeptes erklären (vgl. auch Silverstone 2006): Es kann ‚nur beschränkte‘ Erklärungen liefern, erhob aber ursprünglich einen anderen Anspruch. Damit erging es diesem Ansatz wie vielen anderen auch, nur dass, wie Silverstone betont, das zu untersuchende Phänomen nicht an Komplexität verloren hat: „All concepts are metaphors. They stand in place of the world. And in so doing they mask as well as reveal it. […] Concepts that survive are, most often, simple ones. Domestication is […] no exception. Perhaps this is surprising, since the world they reach towards and attempt to frame is far from simple, and far from stable.“ (Silverstone 2006: 229).
Unterstrichen wird hierbei, dass dieser Ansatz keine Theorie darstellt (einen Anspruch, den er auch nie für sich erhob), sondern einen Ansatz mittlerer Reichweite (eventuell besteht hier ein Zusammenhang mit seiner inhaltlichen und potenziell auch zeitlichen Begrenzung).
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Maren Hartmann
3 Grundbegriffe und Konzepte Der Domestizierungsansatz bietet einen Versuch des Verstehens von Mediennutzung in ihrer Einbettung in den Alltag der Nutzer. Hervorgehoben wird der prozessuale Charakter von Medienaneignung.
3.1
Das Haus, der Haushalt, das Heim
Ein Schwerpunkt in dem Begriff der Domestizierung ist das Häusliche: zum Domestizieren benötigt es (scheinbar) ein domus, ein Haus bzw. einen Haushalt. In der Forschungspraxis beinhaltete dies oft einen familiären Kontext, denn innerhalb der alltäglichen Medienaneignung liegt der Schwerpunkt auf den sozialen Beziehungen. ‚Domestizität’ („domesticity“) wird als Produkt miteinander verwobener, sozialer und kultureller Prozesse angesehen, in denen Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) eine immer größere Rolle spielen. Das hat u. a. mit ihrer Rolle als Bindeglied zwischen den Haushaltsmitgliedern und der Außenwelt zu tun, aber vor allem auch mit den sozialen Prozessen, die innerhalb des Haushalts stattfinden. Deswegen wurde der Ansatz oft zur Analyse von Gender-Fragen in Hinblick auf Mediennutzung herangezogen (vgl. Berg/Aune 1993; Habib/Cornford 2002; Morley 2001; Röser 2003). Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Bandbreite der Mediennutzung, das heißt der Ansatz betont, singuläre Medien seien nicht ausreichend, sondern die gesamte Palette der Mediennutzung müsse betrachtet werden (wie es ja auch Bausinger betont hat). Dies ist, zumindest zum Zeitpunkt des Entstehens des Ansatzes, eine radikale Forderung. Zugleich wird hier die Materialität des Mediums betont (siehe Abschnitt zur doppelten Artikulation), was in dieser Form selten in der Kommunikationswissenschaft zu finden ist.
3.2
Dimensionen der Medienaneignung
Die von Silverstone betonte Einfachheit des Konzeptes findet sich vor allem in den verschiedenen Dimensionen der Medienaneignung, die es beschreibt. So
Domestizierung 2.0
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sprechen die Autoren von den Dimensionen der Kommodifizierung („commodification“), der Aneignung („appropriation“) und der Umwandlung („conversion“). Zudem gibt es untergeordnete Dimensionen: die der Kommodifizierung zugeordnete Imagination, und die der Aneignung zugeordneten Dimensionen der Objektifizierung („objectification“) und der Eingliederung („incorporation“).5 Zur Kommodifizierung gehören das Design, die Herstellung und die Vermarktung der Medientechnologie. Letztere wiederum zielt ab auf die Imagination als ein erster Schritt im Prozess der Aneignung.6 Ohne eine Vorstellung von einem Konsumbedürfnis in Hinblick auf die neue Medientechnologie käme es nicht ohne weiteres zur nächsten Dimension, der Objektifizierung. Hierzu muss das Objekt, das heißt das Medium, in den Besitz gebracht werden und einen Platz im Haushalt bekommen. Die Eingliederung erfolgt in die alltäglichen Abläufe, in die Routinen und Rituale des Alltags, das heißt es ist u. a. ein zeitlicher Aspekt. Die Umwandlung wiederum beinhaltet ein nach außen Tragen des Prozesses. Hier wird gezeigt, dass die Medien vorhanden sind und genutzt werden, bzw. es wird diskutiert, was genutzt wird, wozu, etc. Die private Mediennutzung wird hier – zumindest teilweise – öffentlich gemacht: „In this process, new technologies and services already packaged and marketed as user friendly but nevertheless still unfamiliar, exciting but also threatening, are brought (or not) under control by domestic users. […] they [the technologies, MH] are at the same time cultivated. They become familiar and are moulded and shaped to fit the expectations and values of the household.“ (Silverstone 1994: 11)
Der Prozess ist – zumindest ansatzweise – ein reziproker, das heißt auch der Mediennutzer verändert seine Kultur, das heißt seinen Alltag, seine Auffassungen. Im Kern geht es um einen Prozess des ‚Dinge-nach-Hause-Bringens’ (Silverstone 2006: 233). Dies ist kein linearer, einfacher Prozess, denn die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich werden dadurch in Frage gestellt. Im Prinzip aber gehen die Autoren von dem Bedürfnis der Bewahrung des Bestehenden aus und beschreiben die Domestizierung als einen grundsätzlich konservativen Prozess (vgl. Silverstone/Haddon 1996: 60). Dies wiederum ist einer der wesentlichen Kritikpunkte.
3.3
Moralische Ökonomie
Mit dem Begriff der Domestizierung ist somit bei Silverstone et al. tatsächlich die Zähmung der wilden Medientechnologien gemeint. Die Integration in den Alltag führt zu einer Kultivierung, bis das Medium nicht mehr als fremdes Element zu erkennen ist und somit das Bestehende nicht mehr in Frage stellt:
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„Domestication was something human beings did to enhance and secure their everyday lives“ (Silverstone 2006: 231). Die Nutzer wollen ihre ontologische Sicherheit (vgl. Giddens 1988), das heißt das Vertrauen auf das Fortbestehen der sozialen Welten, wie sie zu sein scheinen, bewahren. Dies spiegelt sich auch im Konzept der moralischen Ökonomie wieder, welches im Rahmen des Domestizierungsansatzes vertreten wird (z. B. Silverstone et al. 1992: 16-20). Grundannahme ist zunächst, dass der Haushalt eine ökonomische Einheit darstellt, welche in die weiter gefasste Ökonomie eingebunden ist. Die ökonomischen Handlungen des Haushaltes wiederum sind gebunden an Moralvorstellungen: Wahrnehmungen, Biografien, Werte, Rituale, etc. Die moralische Ökonomie ist ein Balance-Akt, in dem die Moralvorstellungen der Haushaltsmitglieder mit den Werten und Erfahrungen, die von außen an sie herangetragen werden, konkurrieren. Das Ganze ist eine Transaktion, in der sowohl Produkte als auch vor allem Bedeutungen ausgetauscht werden. Um aber die ontologische Sicherheit zu bewahren, müssen die Haushaltsmitglieder mit der ‚Bedrohung’ umgehen.
3.4
Doppelte Artikulation
Eine besondere Form der Herausforderung bilden neue Medientechnologien, die in den Haushalt integriert werden sollen. Diese sind doppelt artikuliert, das heißt sie bringen Inhalte mit sich, Werte und Normen aus einer anderen – der öffentlichen – Welt. Sie sind aber zugleich Konsumobjekte und Technologien. Die doppelte Artikulation zeichnet sich somit vor allem dadurch aus, dass sie Rezeption und Konsum vereint. Der eine Teil der doppelten Artikulation sind die Medieninhalte: Programme, Genres, Sendezeiten, Ideologien, allerdings als Gesamtsymbolik, nicht einzelne Inhalte gedacht (vgl. Silverstone et al. 1991: 219). Demgegenüber steht das technische Objekt, die Materialität des Mediums. Dieses Objekt wird konsumiert und erhält somit eine eigene symbolische Bedeutung – wichtig insbesondere in Hinblick auf neue Medien. Hinzugefügt werden kann dem Ganzen eine dritte Ebene der Artikulation: der individuelle Inhalt, das heißt das klassische Thema der Rezeptionsforschung (vgl. Hartmann 2006).7 Hier müsste der Ansatz weiter gedacht werden. Empirisch gesehen ist der Versuch, beiden (geschweige denn allen drei) Artikulationen gerecht zu werden, schwierig. In den Forschungsberichten aus dem Domestizierungsansatz z. B. treten Inhalte u. a. als Erinnerungen an früher, als Alltag strukturierende Elemente oder aber als familiäre Konfliktpunkte auf, aber nicht in einem detaillierten Sinne. Sicherlich ist die Einbettung in den Kontext das eigentlich Erhellende, aber dieser ergibt oft erst durch den Inhalt einen
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Sinn. Wenn man z. B. über die Rolle des Internet bei Bakardjieva und Smith (z. B. Bakardjieva/Smith 2001: 75) nachliest, so schwingen immer wieder die Inhalte mit – diese machen gar den Unterschied in der Nutzung aus. Die methodische Frage nach drei Dimensionen von Artikulation ist damit aber in keiner Weise gelöst.
3.5
Empirische Umsetzung und Methoden
Die empirische Umsetzung des Domestizierungsansatzes begann ethnografisch. Anfangs begab sich eine Forscherin direkt in die Familien, um jeweils eine Woche mit diesen zu verbringen. Sie sollte die Mediennutzung beobachten, um im Nachhinein die Familien noch einmal detailliert dazu zu befragen. Der Beobachtungswoche ging eine Woche voraus, in der die Haushaltsmitglieder ein so genanntes ‚time-use diary‘ ausfüllen mussten, was als Anlass zu Gesprächen genommen wurde. Ergänzt wurde das Ganze durch Konversationen über Fotos, Zeichnungen, Listen, Pläne der sozialen Netzwerke, so genannte ‚mental maps‘, und ähnliches. Die Bandbreite an Methoden war groß. Das ursprüngliche ‚Eintauchen’ in die Familien aber, das heißt die teilhabende Beobachtung, erwies sich als äußerst schwierig. Aus verschiedenen Gründen (drohende Gender-Dynamik einerseits; beschränkte Aussagen auf Grund von Beobachtungen andererseits) entschloss man sich, die Methode zu verändern. Im nächsten Teil dann legte das Team größeren Wert auf die Interviews, welche über einen Zeitraum von mehreren Monaten stattfanden (es gab bis zu neun Besuche pro Haushalt). Beide Herangehensweisen (teilhabende Beobachtung und Interviews) wurden als ethnografisch bezeichnet und in jeweils größere methodische Reflektionen eingebettet.8 Mitte der 1990er Jahre führten Haddon und Silverstone in drei Jahren drei Studien mit je 20 Haushalten durch. Die Zielgruppen waren Telearbeiter, allein erziehende Eltern und ältere Menschen (die so genannten ‚young elderly‘). Die Methode stützte sich vornehmlich auf eine Reihe von Tiefeninterviews, die zwar auch mehrmalig stattfanden, aber nicht in derselben Häufigkeit wie beim HICTProjekt. Der theoretische Rückbezug – zumindest in den reinen Forschungsberichten – blieb zum Teil schwach. Dies liegt sicherlich zu einem großen Teil an der Natur der Berichte und der Finanzierung. Zusätzlich erstellten die beiden Studien zu spezifischen neuen Technologien oder Angeboten (CD-i, Kabelfernsehen, elektronischer Handel) bzw. Länder vergleichende Studien zu verschiedenen Aspekten (vgl. Haddon 2004: 3, 2006: 104-106). Auch policy-Papiere wurden verfasst, die insbesondere auf der
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Mediennutzung innerhalb verschiedener sozialer Gruppierungen aufbauten. Denn die genannten Gruppierungen bzw. Haushaltskompositionen zeigten unterschiedliche Formen sozialer Einbindung bzw. Benachteiligung, die sich unter anderem auch in ihrer Mediennutzung niederschlug (vgl. Haddon 2000). In diesem Zusammenhängen ist der Domestizierungsansatz durchaus als ein politisches Konzept zu verstehen (und kann dementsprechend, wie Röser (2005) es tut, zur Analyse z. B. der digitalen Spaltung herangezogen werden).
4 Domestizierung 2.0? Anwendung des Konzeptes in Deutschland „All concepts, once having gained the light of day, take on a life of their own. Domestication is no exception.“ (Silverstone 2006: 229)
Zunächst lässt sich feststellen, dass trotz der Relevanz Bausingers für die frühe Formulierung der Domestizierungsideen eine deutsche Umsetzung lange auf sich warten ließ. Dies hat sich erst jüngst verändert. Das ist insofern auffallend, als dass in anderen europäischen Ländern (und auch weltweit) in den letzten zehn Jahren Studien durchgeführt wurden, die eindeutig auf dem Ansatz aufbauen (z. B. Bakardjieva/Smith 2001). Die Bandbreite reicht von einer großen Studie, die sowohl qualitative als auch quantitative Daten in großem Ausmaß mit dem Ansatz kombinierte (Punie/Frissen 2000; Punie 2004); einem ‚domestizierten’ Blick auf die Zukunft (Punie 2005); einer Studie zur Domestizierung von IuK in kleineren Unternehmen (Pierson 2006) zu mehreren Aneignungsstudien in Haushalten. An anderer Stelle ist der ethnografische Rahmen auf andere Haushaltszusammensetzungen ausgedehnt worden, oder man hat ein ganzes Dorf unter die Lupe genommen (vgl. Ward 2005). Die europäische Forschungsförderung ist einer der Faktoren, die dies ermöglicht haben. So gab es von 1995 bis 1998 das erste ‚European Media, Technology and Everyday Life‘ (EMTEL)-Netzwerk (man bemerke die Anlehnung an Bausingers Titel); das zweite (unter dem gleichen Namen) existierte von 2000 bis 2003 (vgl. Silverstone 2005).9 In der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft wurde der Ansatz bis dato vor allem von Jutta Röser (2003, 2005), der Autorin selbst (Hartmann 2004, 2005, 2006) und seit neuestem von Thilo von Pape und Thorsten Quandt (2005) aufgegriffen.10 Hinweise auf den Ansatz finden sich – wenn auch eher marginal – zum Beispiel bei Hepp (z. B. 2004) und bei Klaus (z. B.
Domestizierung 2.0
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1997), meistens in Zusammenhang mit Zusammenfassungen der Cultural Studies und/oder als Konzept der Gender-Forschung. Eine weite Verbreitung des Ansatzes gibt es bis dato nicht.11 Interessant ist, dass sich sowohl bei Röser (2005) als auch insbesondere bei von Pape und Quandt (2005) eine (zum Teil) andere methodische Ausrichtung als die ursprüngliche findet. Diese geht in Richtung quantitativer Ansätze.12 Allerdings nutzt Röser die statistischen Daten zur Internetnutzung nur, um diese mit einer – durch ein Interview entstandenen – Fallstudie zu kontrastieren und im Endeffekt als zu kurz gefasst zu kritisieren. Insofern stellen die Internetnutzungsdaten nur eine Art Hintergrund dar, vor dem die eigentlichen Domestizierungsprozesse gelesen werden. Diese Herangehensweise ist der ursprünglichen nicht wirklich fremd. Schwieriger aus heutiger Sicht ist ihre Betonung auf dem konservativen Element der alltäglichen Mediennutzung (Röser 2005: 95). Schwierig insofern, als dass dies sicherlich neben der Stärke des Ansatzes (vgl. Hartmann, 2004) auch seine Schwäche ist (Silverstone 2006; dies wird im folgenden Abschnitt ausführlicher zur Sprache kommen). Unbenommen ist Rösers Annahme, dass die Zunahme an digitalen Medien den häuslichen Kontext weiter verändern wird und dementsprechend die ethnografische Medienforschung dort etwas Interessantes beizutragen hat (Röser 2005: 94-95). Die Frage ist nur (auch hier ein Verweis auf den nächsten Abschnitt), inwiefern der häusliche Kontext in dieser Abtrennung betrachtet werden kann. Auch von Pape und Quandt (2005) gehen von einer Veränderung der Medienwelt aus und wollen sich dementsprechend die sozialen Faktoren und das Alltagsleben in Hinblick auf die Medienaneignung genauer ansehen. Ihr mehrdimensionales Modell für die Forschungsfrage, welche die Charakteristika des Haushaltes, der individuellen Nutzer als auch der Medien in Verbindung setzt, ist sehr illustrativ und ihr Bezug zu Bourdieu sehr hilfreich. Dies erweitert das Konzept in einer konsequent weitergedachten Richtung. Methodisch haben sie eine Art Mittelweg gewählt, das heißt eine Multi-Methoden-Studie in ca. hundert Haushalten. Dazu wurden Interviews und Beobachtungen durchgeführt. Die Beobachtungen sind allerdings keine Beobachtungen der ethnografischen Art, sondern Auflistungen der vorhandenen Medien (an Hand eines Kodebuches) und ein fotografisches Festhalten derselben. Die Interviews wiederum waren semi-standardisiert, mit einigen offenen Fragen. Die Auswertung gestaltet sich dementsprechend anders als in der traditionellen Domestizierungsforschung. Dies an sich kann, insbesondere auf Grund der erwähnten ‚Flaute’, als notwendiger Schritt angesehen werden (insbesondere auch in Hinblick auf eine potenzielle Überwindung oft üblicher Berührungsängste). Allerdings bleibt dennoch zu fragen, ob der Domestizierungsansatz als solcher hier tatsächlich noch eine größere Rolle spielt oder eher zu einem von
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Maren Hartmann
mehreren Rahmen wird. So erscheinen bei dieser Studie z. B. ein Hinterfragen des von den Interviewten Gesagten, eine Neuausrichtung der Thematik im Laufe des Interviews (auf Grund der gewonnenen Erkenntnisse, z. B. an Hand von längerfristigen Beobachtungen) nicht möglich. Konflikte innerhalb der Haushalte oder ähnliches sind ebenso wenig – zumindest in dieser ersten Zusammenfassung der Studie – zu erkennen. Stattdessen aber bekommen wir ein weiter gefasstes, überblicksartiges Bild geboten, welches andere Domestizierungsstudien selten bieten. Damit landen wir bei der hinlänglich bekannten Debatte zu qualitativen und (semi-)quantitativen Herangehensweisen. Die eigentliche Frage aber lautet, was das jeweilige Erkenntnisinteresse ist – und da, so ist zu vermuten, finden sich große Differenzen. Dies aber macht den Domestizierungsansatz zu einem großen Teil aus. Kritik daran lässt sich üben, denn gewisse Grundannahmen sind potenziell problematisch. Diese aber müssten zunächst aufgezeigt werden.
4.1
Kritik der Domestizierung 1.0 – 2.0
Kritik am Domestizierungskonzept gibt es schon länger, wobei der momentan stattfindende Medienwandel zu neuen Fragen geführt hat. Dementsprechend geht es nun eher um die Übertragbarkeit des Ansatzes auf veränderte Medienumfelder und Medienmenüs, das heißt auf dessen Anwendbarkeit in Bereichen, die es vor einigen Jahren so nicht gab. Frühe Kritikpunkte hingegen waren einerseits die fehlende Analyse des ethnografischen Materials, die angebliche Beschränkung auf traditionelle Haushaltszusammensetzungen, die Linerarität des Modells und die Frage nach dem konservativen Charakter des Ansatzes. Der letzte ist der nach wie vor kritische Punkt. Ein neuerer Kritikpunkt ist die Annahme, das Ganze sei theoretisch nicht eingebettet genug. Moores beklagt schon früh, dass vom eigentlich vorhandenen Material der ersten Studie (HICT) nicht einmal ein Viertel in den Veröffentlichungen auftauchte. das heißt es gab eine große Masse Material, welches nicht weiter für Außenstehende zugängig war (Moores 1995: 101). Eine Ausnahme bildete schon damals Hirsch (1992), der einige Jahre später auf das Material zurückkommt (z. B. 1998a, 1998b). Dies kann als Bedauern, nicht aber als fundamentale Kritik am Projekt vermerkt werden. Zu Recht wirft Moores allerdings die Frage auf, inwiefern derartig detailliertes ethnografisches Material überhaupt verwend- und interpretierbar sei. Am wenigsten aufschlussreich ist der Kritikpunkt der Haushaltszusammensetzung. Eine Tendenz zum traditionellen Familienmodell mag auf die frü-
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hen Studien zutreffen, war dort allerdings auch bewusst gewählt; die späteren Studien sind dort eindeutig weiter gestreut – wären aber selbstverständlich jederzeit ausbaubar. Zur Linearität des Modells hingegen lässt sich sagen, dass die Autoren immer betont haben, dass die Dimensionen nicht als Schritte eines Prozesses zu sehen sind, der zu einem Ende kommt, sondern als Aspekte des Aneignungsprozesses, welche in unterschiedlichen Gewichtungen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten können. Der Prozess kann immer wieder von Neuem beginnen bzw. auch umgekehrte Richtungen einschlagen („De- und ReDomestizierung“). Sicherlich gibt es temporäre Fixierungen, das heißt Bedeutungszuweisungen, denn ohne diese könnte der menschliche Alltag nicht funktionieren. Diese Kritik scheint weniger das Modell als solches zu betreffen, sondern auf die notwendige Reduktion von Komplexität innerhalb jeglicher Modelle zu verweisen. Von Pape und Quandt wiederum kritisieren, der Domestizierungsansatz sei theoretisch nicht weit genug eingebettet (von Pape/Quandt 2005: 6). Dem entgegenzusetzen wären zum einen die mit den Cultural Studies geteilten Interessen an Kontext und Machtverhältnissen, welche durchaus theoretisch weiter gefasst sind. Aber auch andere Aspekte (der moralischen Ökonomie, der Alltagsstruktur in Bezug auf Zeit und Raum, der Kontingenz sozialen Geschehens etc.) sind theoretisch durchaus fundiert dargestellt. Die Frage, die sich eher stellen lässt, ist, inwiefern die empirische Umsetzung den Ansprüchen gerecht wird bzw. noch einmal theoretisch reflektiert wurde. Hier ist Skepsis durchaus angebracht. Dies gilt insbesondere für den bereits erwähnten konservativen Charakter des Ansatzes bzw. seiner Schwerpunktsetzung auf der konservativen Natur des Domestizierungsvorganges. Dies wird von Feenberg als „too cozy“ bezeichnet (Feenberg 1999: 107), womit er dem Domestizierungsansatz einen Anspruch als generelle Theorie der Medienaneignung absprechen möchte. Die Betonung auf dem Konservativen ist zumindest einseitig. Die breit geführte Debatte zum Ausmaß der ‚agency‘, das heißt der Handlungsfreiheit der Nutzer (Rezipienten, Zuschauer etc.), unterstreicht diesen Punkt. In der Domestizierung wird die ‚agency‘ in Richtung ‚status quo‘-Erhalt interpretiert, der Widerstand (auch passiver Art) wird nicht wirklich mitgedacht und somit auch nicht die Möglichkeit des Neuen. Silverstone selbst betont in seinen neueren Reflektionen zum Ansatz, dass diese Möglichkeit in den frühen Formulierungen zwar vorhanden war, aber tendenziell zu wenig beachtet wurde. Dementsprechend formuliert er das Ganze jetzt so um, dass es immer nur einen Versuch der Aneignung geben kann – und dass gerade der Teil, welcher der völligen Aneignung entgegensteht, der Teil der Nicht-Domestizierung, der letztendlich interessante ist: Denn nur hier kann Veränderung stattfinden. Er geht sogar so weit zu sagen, dass nur hier eine allgemeine Ohnmacht verhindert und die notwendige Verantwortung für
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die Welt übernommen werden kann – durch die Moral (Silverstone 2006: 245-247). Dies ist keine Rückkehr zur moralischen Ökonomie als solcher (die ja Teil des Systems ist, welches der Neuerung skeptisch gegenübersteht), sondern zu einer weiter gefassten, auf die Welt bezogenen Moral. Ohne diese Möglichkeit der Veränderung (ob nun als Moral, sei dahingestellt) müsste der Ansatz sich fragen lassen, wo denn das Potenzial für etwas Neues steckt und ob ursprünglich die Handlungsfreiheit in diesem Ansatz nur eine sehr eingeschränkte ist. Für den Ansatz selbst wäre eine Erweiterung auch in Hinblick auf die ‚agency’ der Technologie ebenso hilfreich. So betonen die Autoren schon früh, dass auch der Kultivierende sich im Prozess der Domestizierung verändert (erkennen allerdings später an, dass die Domestizierungsmetapher anderes vermuten lässt, vgl. Silverstone 2006: 231-232). Die Technologie ordnet sich nicht gezwungenermaßen unter, sondern bringt etwas Eigenes mit. Was genau und wie dies passiert, ist einer der Punkte, die oft unterbeleuchtet bleiben – trotz doppelter Artikulation. Die große Frage also wäre die nach den verschiedenen Formen von ‚agency’ (auch der Inhalte) in diesem Zusammenspiel der Kräfte.
4.2
Domestizierung 2.0: Fazit
Was bleibt nun übrig von einem solchen Ansatz – ist er eventuell zu sehr gezähmt worden? In gewisser Hinsicht haben die Autoren sich selbst gezähmt. Die Texte im Laufe der Jahre zeigen, dass einiges sich nicht aufrechterhalten ließ, was ursprünglich mit dem Ansatz erreicht werden sollte. Dies liegt in der Natur der Dinge. Diese Reflektion findet auch bei den Autoren selbst statt und kommt nicht nur von außen. Nur kommen sie zu unterschiedlichen Schlüssen, was vom eigentlichen Ansatz beibehalten werden sollte. Der eine (Silverstone) betont die Widerständigkeit gegen die letztendliche Aneignung an Hand der Moral. Der andere betont, dass eventuell ein Verständnis für das ‚‚Heim“ („home“) nach wie vor hilfreich sein kann, um Medienaneignung zu verstehen (Morley 2003; vgl. auch Röser 2005), wobei er auch hinterfragt, inwiefern dies momentan nicht genau gegenläufigen Tendenzen ausgesetzt ist. Wiederum ein anderer versucht, das Ganze auf die neuen Medien anzuwenden (Haddon 2001), scheitert dabei aber an dem Entschwinden des Spezifischen des Ansatzes. Denn wie integriert man die Mobilität (von Medien und Menschen) in einen Ansatz, der sich gerade durch den spezifischen Ort auszeichnet? Die unbestrittene Relevanz der häuslichen Nutzung kann nicht die alleinige Antwort sein. Dies allerdings wirft die Frage nach dem Begriff der Domestizierung auf: Eventuell muss
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dieser von nun an auf die Aneignung begrenzt bleiben und ergänzt werden um einen Begriff, der zusätzlich den Widerstand und das Neue denken lässt. Es handelt sich um soziale Prozesse der medialen Aneignung, aber auch des Gegenteils, das heißt der Entwöhnung, der Ablehnung. Womit wir wieder bei der dreifachen Artikulation wären. Denn ‚medial‘ beinhaltet mehrere Ebenen – auf all diesen können Aneignungen als auch Ablehnungen in verschiedener Form stattfinden. Das Plädoyer hier ist für ein Verlassen des häuslichen Terrains, zumindest als ausschließlichem Ort der Domestizierungsforschung. Es ist ein möglicher Ort von vielen, an dem diese Prozesse stattfinden. Wichtig aber bleibt die abstraktere Ebene dahinter: der Anspruch, den Kontext der Mediennutzung mit zu erforschen. Denn die Mediatisierung (Krotz 2001) zeichnet sich durch eine Veränderung und Auflösung von den gewohnten Nutzungskontexten aus – desto mehr müssen Kontexte auf verschiedenen Ebenen thematisiert werden. Dementsprechend verlagern sich die Gewichtungen innerhalb der Dimensionen des Domestizierungsprozesses: Die Kommodifikation und auch die Umwandlungen gewinnen an Gewicht, während die anderen Aspekte sich von den ursprünglichen Assoziationen lösen und neue Muster entwickelt werden. Insgesamt gewinnt es an Komplexität. Der Hinweis auf die Kommodifikation bestärkt auch die bereits erwähnte Zentralität der Materialität der Medien – denn diese gewinnt mit den neueren, personalisierten Medien an Gewicht. Dementsprechend das Plädoyer für die mindestens doppelte Artikulation: Auch der Domestizierungsansatz kann von einem Blick auf die Inhalte (und deren Rezeption) nur an Gewicht gewinnen. Oder, um es mit Bausinger auszudrücken: „A bit of wild thinking is needed to catch and describe this complex world in all its rational irrationality“ (Bausinger 1984: 351). Wildes – nicht gezähmtes Denken.
Anmerkungen 1 2
3
Der Begriff ‚Domestizierung‘ ist eine direkte Übersetzung des englischen Begriffes ‚domestication’, welcher in diesem Ansatz explizit genutzt wurde und der zu einem Label des Ansatzes geworden ist. Es wird im Folgenden nur noch von der Medienaneignung die Rede sein, da diese den Fokus des Ansatzes darstellt. Ein Großteil des theoretischen Rahmens und auch der empirischen Umsetzung jedoch bezieht sich auch auf die Mediennutzung und -rezeption (Mediennutzung ist hier als direkte Übersetzung von ‚media use’ zu lesen, welches im Englischen nicht die Konnotation der kommerziellen Nutzerforschung mit sich trägt). Auch Sonia Livingstone und Andrea Dahlberg waren in der Anfangsphase in Brunel mit dabei, tauchen aber in der Literatur selten auf.
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Neben den Cultural Studies gibt es folgende Theorie-Entwicklungen der 1980er Jahre, die in den Domestizierungsansatz einfließen: a) Technologie-Studien, welche einen konstruktivistischen Ansatz verfolgten, b) die Konsumforschung und c) feministische Studien sowohl zu Technologien und Medien als auch insbesondere zur häuslichen Umgebung. 5 Die Ein- und Unterordnung der verschiedenen Punkte ist je nach Text verschieden – sie reichen von drei über vier bis zu allen fünf Dimensionen. 6 Sicherlich gibt es viele Objekte, die ich mir nur in der Imagination aneigne, ohne dass es je zu einer Objektifizierung kommt. Diese Aneignung kann auch in Form einer Ablehnung stattfinden. 7 Silverstone selbst drückt ein Unbehagen gegenüber der Idee einer dritten Artikulation aus (2006: 240). 8 Eine Debatte zur Frage nach der angemessenen Form einer Medienethnografie kann hier nicht geführt werden, ist aber relevant. 9 Auch andere europäische Projekte bezogen sich auf diesen Ansatz, so z. B. COST 248, COST 269, COST A4 bzw. SIGIS. 10 Die Studie von Quandt und Papes wurde unter anderem von Werner Wirth initiiert. Auch andere Kollegen aus München bzw. Zürich scheinen sich in diese Richtung zu bewegen. Eine frühe deutsche Beteiligung gilt auch für das Berliner Institut für Sozialforschung (BIS), welches Teil von EMTEL 1 war und sich dort insbesondere durch die ‚Smart Home’-Forschung einerseits und durch langfristige Technologienutzungsforschung (mit Kohortenvergleich) andererseits auszeichnete (vgl. Meyer/ Schulze 1993, 1994). 11 Dabei soll hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. 12 Haddon selbst verweist auf die Erweiterung des Ansatzes in Richtung quantitativer Erhebungen, bleibt aber – trotz eigener Umsetzung – skeptisch (2006: 106).
Literatur Bakardjieva, M./Smith, R. (2001): The Internet in Everyday Life: Computer Networking from the Standpoint of the Domestic User. New Media and Society 3. Nr. 1. 67-83. Bausinger, H. (1984): Media, Technology and Daily Life. In: Media, Culture and Society 6. 343-351. Berg, A.-J./Aune, M. (Hrsg.) (1993): Domestic Technology and Everyday Life. COST A4 workshop. Trondheim. Feenberg, A. (1999): Questioning Technology. London u. a. Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt a. M. u. a. Habib, L./Cornford, T. (2002): Computers in the Home: Domestication and Gender. In: Information, Technology and People 15. Nr. 2. 159-174. Haddon, L. (1994): Studying Information and Communication Technologies in Teleworking Households. In: Berg, A. J./Aune, M. (Hrsg.): Domestic Technology and Everyday Life – Mutual Shaping Processes. Proceedings of COST A4 Workshop in Trondheim, November 1993. Norway: 28-30.
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Medienentwicklung als Bezugspunkt für die Erforschung von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel Carsten Winter
1 Medienentwicklung im Kontext der Diskussion über öffentliche Kommunikation und Gesellschaft im Wandel Der Zusammenhang von Medienentwicklung mit dem Wandel öffentlicher Kommunikation und von Gesellschaft, der bisher am Rande von Disziplinen und Diskussionen thematisiert wurde, rückt ins Zentrum der Diskussion über Wandel. Diskutiert wird, wie die Entwicklung neuer Medien die Wirtschaft durch neue Geschwindigkeiten und Vernetzungen (Davis/Meyer 1998) und die Kultur durch neue Verbundenheiten und Erfahrungen transformiert (Tomlinson 1999), wie sie Weltmärkte und Marktplätze zusammenrücken (Friedmann 1999) und die Welt „flach“ machen (ders. 2006). Gesellschaftstheoretiker wie Baumann bezeichnen Handy und Laptop als Insignien des neuen „leichten Kapitalismus“ (2003/2000), Urry als die „Maschinen des 21. Jahrhunderts“ (2003) und Castells macht aus dem Internet „das Gewebe, auf dem unser Leben beruht.“ (2005/2001: 9) Was sind im Rahmen dieser Diskussion über die Zukunft von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft überhaupt Medien? Wie wird reflektiert, wie Medien entwickelt werden? In der Form, in der sie als „Maschinen des 21. Jahrhunderts“ oder „Gewebe unseres Lebens“ thematisiert werden, sind sie nicht vom Himmel gefallen. Forschung zum Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft sollte, so wird hier argumentiert, stärker als bisher die Entwicklung von Medien erforschen. Für sie wird hier eine multikontextuelle, multiperspektivische Konzeptualisierung entwickelt, die nicht Systeme oder Strukturen im Wandel analysiert, sondern den Wandel des Umgangs mit Medien als vor allem dessen Ent-
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wicklung in unterschiedlichen Momenten und Kontexten medialer Kommunikation zur Veränderung der oder Teilhabe an Kommunikation und Orientierung. Ausgehend von einer allgemeiner gehaltenen Hinführung zur Thematik Medienentwicklung (2) wird diese im Kontext der Entdeckung der Medien in der soziologischen Diskussion zu vor allem Gesellschaft im Wandel thematisiert (3), bevor die Forderung nach der empirischen Beachtung der Rolle von Medien und Medienentwicklung für ein Verständnis des Wandels von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft zum Thema werden (4) und gezeigt wird, wie Medienentwicklung multiperspektivisch und multikontextuell so konzeptualisiert werden kann (5), dass die komplexe Verwobenheit der Entwicklung von Medien mit dem Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft verstanden werden kann, die am Beispiel der Kommerzialisierung der Entwicklung digitaler Netzwerkmedien veranschaulicht wird (6).
2 Die Berücksichtigung von Medien in der Diskussionen über den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft Die Rolle neuer Medien für den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft war die längste Zeit kein Problem: Sie waren entweder Gefahr oder Verheißung. Das gilt, seit es Propheten als Bewahrer des Bestehenden und Apologeten als Verfechter des Neuen gibt. Eine komplexere Perspektive auf Medien als kulturellen Einrichtungen zur Konstitution und Vermittlung von öffentlicher Kommunikation und Orientierung in Gesellschaft entwickelten Max Weber, Walter Benjamin, Harold A. Innis und Marshall McLuhan. Max Weber erklärte über diesen Zusammenhang die Entwicklung von kultureller Rationalität,1 der Kulturkritiker Walter Benjamin den Wandel der Form und Organisation von Wahrnehmung und in der Folge, vermutet er, von Gesellschaft,2 der Wirtschaftswissenschaftler Harold A. Innis die Leistungsfähigkeit von Gesellschaften, ihr Wissen und Orientierung zu verteilen,3 dessen Thesen der Literaturwissenschaftler McLuhan durch seine Botschaft, dass das Medium die Botschaft sei,4 breiter bekannt machte. Zu einer systematischen Diskussion der Erforschung des Zusammenhangs von Medien mit öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel trugen diese Klassiker aber noch nicht viel bei. Der Grund dafür ist nicht nur der vortheoretisch metaphorische und empirisch unbefriedigende und auch oft zu Recht kritisierte Umgang Marshall McLuhans’ mit diesem Thema. Max Weber hat den angesprochenen und in Wirtschaft und Gesellschaft (1980/1922b) abgedruckten Aufsatz nie vollendet. Er wurde erst posthum von seiner Frau
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Marianne Weber publiziert. Die Tragweite seiner systematischen Überlegungen zu Vermittlern von kultureller Orientierung als Trägern von Rationalität blieb weitgehend unverstanden.5 Ähnlich verhält es sich mit Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Der Aufsatz erschien erst fast dreißig Jahre nach der Abfassung und einer um zentrale Aussagen gekürzten Version in der Zeitschrift für Sozialforschung im Jahr 1936. Für Benjamin bargen die neue „Massenkultur“ und die neuen „Massenmedien“ nicht nur die Gefahr ihrer sowohl kulturindustriellen wie faschistischen Vereinnahmung, sondern auch die Chance einer neuen Wahrnehmung der Gesellschaft und darüber einer neuer Gesellschaft. Anders als Horkheimer und Adorno nahm Benjamin an, dass neue Medien neue Zugänge zu Kultur schaffen.6 Diese Auffassung unterschied sich vermutlich zu sehr von Max Horkheimers und von Theodor W. Adornos, die gerade in die USA übergesiedelt waren, und die die neuen Medien nicht zuerst als Veränderung der Möglichkeiten der Wahrnehmung von Kunst und Kultur betrachteten.7 Innis blieb als Wirtschaftshistoriker, wie Barck anführt (1997: 3), außerhalb Kanadas und Amerikas „so gut wie unbekannt“ (ebd.: 3). Trotz der anders ausgerichteten Forschung und Perspektive auf kanadische Handels- und Transportwege entwickelt er einen ähnlichen Grundgedanken wie Max Weber: Medien prägen als materielle Träger der Kommunikation die Entwicklung von Gesellschaft entsprechend ihrer Eigenschaften,8 von denen er annimmt, dass sie als „Tendenzen eines Mediums“ diesen inhärent sind.9 Seine Annahmen über die Bedeutung von Medien für den Wandel von Gesellschaften beeinflussten in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts die so genannte Toronto School of Communication (Barck 1997: 4f.). Sie prägten McLuhans Gutenberg Galaxy (1962/dt.1986) und sein Understanding Media (1974/1964), das diese vor allem popularisiert und damit maßgeblich zur Entdeckung der Medien in den Sozialund den Kulturwissenschaften beigetragen hat. Sein metaphorischer Umgang mit Medien und sein trennungsscharfer Medienbegriff haben eine systematische und empirische Bestimmung der Medien für den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft allerdings eher verzögert als vorangetrieben. Keine dieser frühen Überlegungen zur Bedeutung der Entwicklung von Medien für kulturelle Rationalität (Weber), Wahrnehmungsmuster (Benjamin) oder die Konstitution und Verteilung von Wissen und Orientierungen (Innis) wurden Bezugspunkte der am Wandel von Strukturen und Systemen interessierten ersten systematischen Diskussion der Rolle von Medien für den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft. An diese Diskussion, die Talcott Parsons und Winston White (1972/1960) angestoßen haben, knüpfen später Niklas Luhmann (1981), Jürgen Habermas (1988/1981a&b; 1990/1962) und Richard Münch (1991) an.
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Die Logik der Diskussion von Medien bei Parsons und White war nicht an Medien von und für öffentliche Kommunikation orientiert, sondern an Parsons’ soziologischer Medientheorie, die er über die Analyse der Tauschfunktion von Geld als Theorie symbolisch generalisierter Interaktionsmedien entwickelt hatte. Widersprüche und Komplexität blieben ausgespart: So etwa Webers Problem, den Umgang mit Trägern kultureller Rationalität als Vermittlern von Orientierung zu verstehen (vgl. Winter 2006: 17ff.); bei Benjamin das Problem ob – und wenn ja, wie – der Wandel der Formen von Wahrnehmungen seinerseits gesellschaftlichen Wandel zur Folge haben kann; bei Innis die Frage, wie neue Medien, über die Produktion und Verteilung von Wissen und Information Gesellschaften verändern; bzw. bei McLuhan das Problem, wie die Komplexität der Bedeutung der Medien für Wandel, die seine Metaphern und Vergleiche herausstellen, empirisch erforscht und medienbezogen konzeptuell geordnet und anschlussfähig diskutiert werden können. Vor diesem Hintergrund, der auch Hinweise gibt, warum die Entwicklung der Medien, die schon ein spezifisches Wissen über das voraussetzen, was da entwickelt wird, bislang kein zentrales empirisches oder konzeptuelles Thema geworden ist, werden Medien seit Mitte der 90er Jahre vom Bezugs- zum Ausgangspunkt der Diskussion über gesellschaftlichen Wandel. Beispielhaft dafür ist Manuel Castells. Er stellt die Umorientierung zu Medien im Titel der letzten Monographie sogar heraus: The Internet Galaxy (2001). Er erinnert nicht zufällig an McLuhans’ Gutenberg-Galaxy (1962). Wie für Weber wurde für Castells die Entwicklung der Konstituenten und Vermittler von Gesellschaft der Bezugspunkt seiner Analyse von Wandel – bei der er sich zuletzt auf das Internet als „Kommunikationsmedium“ konzentriert (ebd.: 9-10). Ähnliches gilt für Davis und Meyer aus der Perspektive auf Management. Für sie als Wirtschaftswissenschaftler begründen digitale Netzwerkmedien – wie Innis angenommen hatte – entscheidende neue Unterschiede und Möglichkeiten in Raum und Zeit. Ihr Blur: The Speed of the Connected Economy (1998) erklärt mit diesen den Wandel der Wirtschaft hin zu Netzwerken und einer Arbeit unter Echtzeitbedingungen. John Tomlinson zeigt in Globalization and Culture (1999), dass das, was Castells allgemein für die Gesellschaft und Davis und Meyer spezieller für die Wirtschaft argumentieren, auch für den Wandel von Kultur im Kontext von Globalisierung gilt. Ähnlich wie bei Benjamin steht bei ihm der Wandel der Voraussetzungen von Wahrnehmungen und Erfahrungen im Vordergrund. Er zeigt, wie Fernsehen und digitale Netzwerkmedien völlig neue, deterritoriale Erfahrungen und Formen kultureller Verbundenheit ermöglichen, die das Leben ihrer Nutzer und Nutzerinnen verändern. Digitale Medien prägen im Sinne von Innis die Produktion und Allokation von Information als die sie z. B. die Welt-
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bestseller von Thomas L. Friedmann möglich gemacht haben, was das „zwischen“ im Titel: Globalisierung verstehen: Zwischen Marktplatz und Weltmarkt (1999) ebenso wie die Logik seiner Argumente, wonach die Welt „flach“ sei (2006), belegen. Sie stellt Rifkins These (2000) auf den Kopf, der argumentiert, dass digitale Netzwerkmedien neue Barrieren von und zu Kommunikation, Wissen und Kultur und so von Gesellschaft sind und der an Gefahren der Indienstnahme von Medien für kommerzielle und politische Zwecke erinnert. Die Zusammenschau verschiedener Argumentationen, nach der die Entwicklung von Medien eng mit dem Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft zusammenhängen, belegt diesen Zusammenhang aus verschiedenen Perspektiven und mit Bezug auf die Veränderung von verschiedenen Momenten und Kontexten von Kommunikation – und ohne zu klären, wie Medien entwickelt wurden. Der Wandel wurde mal mit der Veränderung der Produktion und Konstitution öffentlicher Kommunikation und Orientierung erklärt (Weber; Parsons/White und Castells), oder eher deren Verteilung (Innis; Davis/Meyer; Rifkin und Friedmann), oder der Veränderung der Wahrnehmung (Benjamin; Tomlinson) oder Nutzung von Medien (Baumann; McLuhan oder Urry) – wie diese Veränderungen zusammenhängen wird ebenfalls nicht thematisiert oder gar geklärt – auch nicht in der ersten gesellschaftswissenschaftlichen Diskussion der Rolle von Medien im Zusammenhang mit Wandel.
3 Der Umweg der Medien ins Zentrum der Diskussion über gesellschaftlichen Wandel Die erste wissenschaftliche umfangreichere Diskussion über gesellschaftlichen Wandel, in der systematisch auf die Medien Bezug genommen wurde, war die Diskussion über den Wandel von Strukturen, Funktionen und Systemen in der Folge des Beitrags Die Massenmedien und die Struktur der amerikanischen Gesellschaft von Talcott Parsons und Winston Whites (1972/1960). Beide bestimmen die Bedeutung der Medien für die Gesellschaft allgemein im Rahmen von Parsons’ Verständnis von Gesellschaft als sozialem, auf Interaktion gegründetem und auf seinen Erhalt ausgerichtetem System und spezieller im Rahmen der von Parsons und Smelser entwickelten, soziologischen Medientheorie. Beide sind für ein Verständnis der Rolle der Medien in dieser Diskussion zentral. Interaktion, die in dieser Theorie das soziale System „Gesellschaft“ konstituiert, wird als komplementärer Zusammenhang doppelt kontingenter Handlungen und Erwartungen von Ego und Alter konzeptualisiert (in Parsons System-
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theorie), die ihr Handeln jeweils am anderen orientieren. Der Erfolg von Interaktionen entscheidet in der Summe über den Erfolg sozialer Systeme. Deshalb haben diese Strukturen ausgebildet, die diesen Erfolg über die Erfüllung der von Parsons angenommenen vier Grundfunktionen gewährleisten, die sein AGIL-Schema benennt: die Anpassung (Adaption), die Zielerreichung (Goalattainment), die Integration (Integration) sowie die Erhaltung latenter Strukturen (Latent pattern maintenance). Ausgehend von einer Betrachtung der Komplexität und Freiheiten in der amerikanischen Gesellschaft argumentieren Parsons und White, dass die Funktion der Massenmedien in der Gesellschaft mit jener des symbolisch generalisierten Mediums „Geld“ vergleichbar sei. Ihre Darstellung der Bedeutung der Medien in der amerikanischen Gesellschaft baut auf Grundannahmen auf, die Parsons in der Analyse der Funktion von Geld in der Wirtschaft gemeinsamen mit Neil Smelser (1956) entwickelt hatte. Nach ihr organisiert jedes Subsystem des sozialen Systems Gesellschaft durch generalisierte Interaktionsmedien die eigenen Operationen und integriert diese in das soziale System Gesellschaft (vgl. Jensen 1980). Im Rahmen dieser an bestehenden Strukturen und ihren Funktionen orientierten Grundannahmen argumentieren Parsons und White, dass ähnlich wie das symbolisch generalisierte Medium „Geld“ auch „Massenmedien“ die Strukturen von Gesellschaft verändern, weil sie Kommunikation in ihr „differenzieren“ und „erweitern“ und so ihre Qualität „steigern“. Wandel erfolgt, weil Medien den Zugang zu Bildung und Kultur „erweitern“. Dadurch steigt deren Qualität, während durch die Differenzierung auch zur Auflösung traditioneller Beziehungen beigetragen wird.10 An diese konzeptuellen Überlegungen knüpfen im deutschen Sprachraum Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Richard Münch seit den 80er Jahren jeweils unterschiedlich an. Dabei machen sie auf zentrale Probleme bei der Bestimmung der Bedeutung der Medien für den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft aufmerksam, bis Jürgen Habermas eine am Linguistic Turn (Rorty 1992/1967) orientierte Ergänzung und Revision an Grundannahmen aus seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit aus sozialstruktureller Perspektive entfaltet und aus dieser auf neue Konzeptualisierungen hinweist, die eine empirisch angemessenere Bestimmung der Medien und ihrer Entwicklung im Kontext des Wandels von öffentlicher Kommunikation und von Gesellschaft erlauben, als diese bisher in dieser Diskussion möglich war. In seinem Beitrag Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien greift Luhmann (1981) Überlegungen von Parsons und White auf. Auch für ihn ist das System Gesellschaft das „System aller kommunikativ erreichbaren Erlebnisse und Handlungen“ (Luhmann 1981: 311), wobei der Zusammenhang von Medien mit dem Wandel von Gesellschaft für ihn anders als vor zwanzig Jahren inzwischen „zu erwarten“ ist,11 weil „komple-
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xere Gesellschaftssysteme, […], nicht ohne neuartige Formen der Kommunikation integriert und erhalten werden“ (ebd.: 311) können. Ihre Entwicklung und Bedeutung wird jedoch erneut keine empirische und konzeptionelle Herausforderung. Luhmann belässt es wie Parsons bei einem Hinweis auf symbolisch generalisierte Medien, die gesellschaftliche Systeme auf der Basis binärer Codes organisieren und dabei integrieren. Er will sich nicht auf „kompliziert liegende historische Kausalitäten […] einlassen“. Ihm genügt zu zeigen, dass neue Medien Bedeutung für den Wandel von Gesellschaft haben, weil sie spezifische Funktionen anders erfüllen können. Ihn interessiert nicht, wie und warum Medien gemacht werden, sondern nur, welche Funktionen sie erfüllen: „Funktionale Analyse ist eine Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme. Die Welt kann nicht auf den Soziologen warten, sie hat ihre Probleme immer schon gelöst. Die Frage kann nur sein: wie?“ (ebd.: 316). Aus dieser funktionalen Perspektive rückt anders als in Parsons’ Strukturperspektive jetzt Kommunikation als zentraler, für Gesellschaft konstitutiver Prozess in den Mittelpunkt. Das war eine Novität! Luhmann konzeptualisiert Kommunikation als dreifstufigen Selektionsprozess, der durch Medien kontingenter wird, weil diese in der Regel Funktionen bestehender Medien äquivalent erfüllen können. Obwohl für Luhmann Kommunikation der komplexe kontingente Selektionsprozess ist, in dem Gesellschaften in den Horizont neuer Möglichkeiten gestellt werden, entdeckt er aber die Medien noch nicht als Horizont neuer Möglichkeiten. Als dieser werden sie im Kontext von Funktionen und Strukturen in Richard Münchs Dialektik der Kommunikationsgesellschaft (1991) ein Thema. Bei ihm kommen sie im Zentrum der Diskussion über den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft an, der für ihn vor allem durch die Dialektik der Steigerung13 der Chancen und „Risiken“ (ebd.: 17) medialer Kommunikation geprägt ist. In der historischen Nähe zu den revolutionären Veränderungen in Osteuropa erkennt er die Bedeutung der Entwicklung neuer Medien für diesen revolutionären Wandel an und behauptet von ihm, dass diese Veränderungen „erst auf der Basis der globalen Telekommunikation“ (ebd.: 16) gelingen konnten. Im Zusammenhang mit einer kurzen und abstrakten Darstellung dieser „historischen Revolution in den Ländern Osteuropas“ (ebd.: 16), fordert er ein neues Verständnis dieser „Entwicklung“ von Kommunikation: „Im Lichte der historischen Rolle, welche die Telekommunikation in der Entfachung der Revolution in Osteuropa gespielt hat, ist es an der Zeit, zu einem Verständnis der globalen Kommunikation zu gelangen, das über die flache Kritik an der Massenkommunikation hinausgeht. Es geht darum, die hoffnungsvollen und die gefährlichen Seiten der ungeheuren Vermehrung, Beschleunigung, Verdichtung und Globalisierung von Kom-
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munikation unserer Tage zu erfassen. Es gilt, die Dialektik aufzuspüren, die dieser Entwicklung zugrunde liegt.“ (Münch 1991: 16-17)
Münch argumentiert, dass der „politischen Revolution in Osteuropa“ eine „kommunikative Revolution vorausgegangen“ sei (ebd.: 16), was er dabei sogar historisch in den Kontext der Revolution von 1789 stellt. Dieser war „auch eine Revolution der Medien (Enzyklopädie, Journale, Tagespresse) vorausgegangen“ (ebd.: 113). Die neue interpenetrationstheoretische Konzeptualisierung von Münch überwindet Schwächen von Parsons’ wie von Luhmanns’ Konzeptualisierung. Sie thematisiert Risiken der „Steigerung“ medialer Kommunikation auf konkretere Weise und ermöglicht zu erkennen, dass die von Luhmann noch als „kontingent“ konzeptualisierten Selektionen unter Bedingungen stattfinden, die diese einschränken. Die Bedeutung der Entwicklung von Medien für den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft kann in einem konzeptuell so eng an eine Idee von Gesellschaft als System und eine Idee von Dynamik als strukturell-funktionale Differenzierung und Interpenetration gebunden Rahmen14 nicht aufklären. Obwohl Münch die Entwicklung von Medien stärker als je zuvor anführt, und diese die Dynamik seiner Theorie der „Interpenetration“ von Systemen bedingt und konstituiert, lässt es die Logik der strukturellen Soziologie nicht zu, Medien als empirische wie konzeptuelle Herausforderung zu entdecken. Die Medien werden daher in der von der strukturellen und funktionalen Analyse dominierten Diskussion über den Wandel von Gesellschaft im deutschen Sprachraum von einem Kritiker an dieser Orientierung stärker in den Vordergrund gerückt: Von Jürgen Habermas vor dem Hintergrund des Linguistic Turn in den Sozialwissenschaften und seiner Historisierung und Kritik von Parsons’ Theorie symbolisch generalisierter Medien durch seine Dualisierung von Lebenswelt und System (Habermas 1988/1981b) und seine Vorschläge zur Erweiterung und Revision seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990/1962). Hintergrund der Vorschläge war die Kritik an Habermas’ Unterscheidung von System und Lebenswelt sowie seine problematische Diskussion von Medien in diesem Zusammenhang. Einerseits war Habermas mit der Unterscheidung von System und Lebenswelt eine plausible Trennung unterschiedlich integrierter, gesellschaftlicher Formationen gelungen, die es ihm aber nicht erlaubte Medien auch als „lebensweltlich“ und nicht nur als als „systemisch“ und also zweckrational integriert darzustellen. Habermas’ wichtige Kritik der Übertragung der am Beispiel der Tauschfunktion von Geld entwickelten Logik auf andere Medien war gerade aus der Perspektive auf Kultur und Medien aber trotzdem unbefriedigend.15 Deshalb setzt Kritik an dieser Dualisierung an (Alexander 1986; Krüger 1986). Während Alexander die an Adorno orientierte
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kulturkritische Darstellung der Massenmedien (vgl. Habermas 1981a: 495ff.) beklagt, die er als „kulturtheoretischen Schwachpunkt“ (Alexander 1986: 102) ausmacht,16 und eine komplexere Berücksichtigung der Alltagskommunikation fordert (Alexander 1986: 88ff.), kritisiert Hans-Peter Krüger die fehlende Integration von symbolisch generalisierten Medien und von Kommunikationsmedien.17 Habermas entgegnet ihm, dass sie „auseinander gehalten werden müssen“ (Habermas 1986: 395), weil „Kommunikationstechnologien, die erstmalig höherstufige, kondensierte Formen öffentlicher Kommunikation ermöglichen“ als Kommunikationsmedien eine Möglichkeitsbedingung für öffentliche Kommunikation sind. Diese Argumentation, die so im Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1990/1962) noch nicht anzutreffen ist, baut Habermas im neuen Vorwort aus, in dem er auf Kritik an seiner Studie reagiert und diese ergänzt und über Verweise auf die Cultural Studies und ihre empirische Medienforschung, die damals in der deutschen Kommunikations- und Medienforschung weitgehend unbekannt waren, sogar im Hinblick auf seine Einschätzung der Linearität des Strukturwandels revidiert. Cultural Studies spricht er als neue Forschungen zur englischen Sozialgeschichte an, die sich in seine Öffentlichkeitsanalyse „gut einfügen“ lassen (ebd.: 14). Raymond Williams’ The Long Revolution (1975/1961) und Communication (1976/1962) hebt er als „erhellend“ für ein Verständnis der „Transformation der zunächst bildungsbürgerlichen und literarisch bestimmten, kulturräsonierenden Öffentlichkeit zu einer durch Massenmedien und Massenkultur beherrschten Sphäre“ (Habermas 1990/1962: 15) hervor. Diese reflektiert er dann im Licht der Medienforschung, nachdem er von ihm noch Television. Technology and cultural form (2003/1974) und Keywords (1983) als „detailliertere Untersuchungen“ zum weiteren Verlauf des Strukturwandels der Öffentlichkeit anspricht (ebd.: 27), bevor er seine Revision der kulturtheoretischen Vorannahmen seiner Studie vornimmt. Diese Revision betrifft seine These einer gradlinigen „Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, ‚vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum‘“ (ebd.: 30), die er unter dem „Einfluss von Adornos Theorie der Massenkultur“ (Habermas 1990/1962: 29) formuliert hatte. Mit ihr überwindet er den „kulturtheoretischen Schwachpunkt“ sowohl von Parsons’ Medientheorie wie von Adornos Kulturindustrietheorie. Williams’ Arbeiten, die gegen reduktionistische Kulturtheorien geschrieben wurden, dürften dazu beigetragen haben. Habermas’ Revision wird in der Folge aber auch daran deutlich, dass er „Medienforschung“ für die Erforschung des Strukturwandels der Öffentlichkeit als „wichtig“ betont und explizit „kommunikationssoziologische Untersuchungen“ (Habermas 1990/1962: 30) als Perspektive auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit herausstellt.
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Nachdem Habermas die auf Adorno einerseits und auf Parsons andererseits zurückgehende Vorstellung einer quasi linear negativen oder Kommunikation positiv steigernden Wirkung aufgegeben hat, hebt er hervor, dass der „ideologiekritische Ansatz mit stärker empirischen Akzenten weitergeführt worden“ ist und dabei die Aufmerksamkeit erheblich differenzierter und empirischer „einerseits auf den institutionellen Kontext der Medien, andererseits auf den kulturellen Kontext der Rezeption gelenkt“ (ebd.: 31) wurde, was er vor allem mit Stuart Hall belegt. Diese Revision korrespondierte in der Medien- und Kommunikationsforschung mit der Umorientierung der Forschung von der Frage „Was tun die Medien mit den Menschen?“ zur Frage „Was tun die Menschen mit Medien?“ und eine Öffnung hin zu mediumtheoretischen Perspektiven, auf die Habermas am Ende des Vorwortes über die mediumtheoretische Studie No Sense of Place von Joshua Meyrowitz (1990/1985) zum Fernsehen Bezug nimmt, die sich nicht wie die Medienforschung der Cultural Studies auf die Analyse konkreter Weisen des Umgangs mit Medien in bestimmten Kontexten konzentriert, sondern auf formale Eigenschaften der Medien. Am Ende des neuen Vorwortes schreibt er, dass die Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit auch wegen der mediumspezifischen Arbeit von Joshua Meyrowitz „weniger trotzig ausfallen“ würde.18 Die Überwindung zu einfacher kulturindustrietheoretischer und strukturfunktionaler Konzepte von öffentlicher Kommunikation und Orientierung und die Hinwendung zu einer empirischen Erforschung des Wandels der Lebenswelt verändern die Diskussion über Medien im Kontext des Wandels von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft, in der nun neue medien- und kommunikationsspezifischere Perspektiven auf diesen Wandel und seine Ursachen entdeckt und entwickelt werden, die Erkenntnisse aus der Perspektive der strukturellen Soziologie zur Auflösung traditioneller Bindungen, zur Kontingenz und Selektion von Kommunikation oder zu der Dialektik der Steigerung ihrer Möglichkeiten und Risiken teilweise in einem anderen Licht erscheinen.
4 Medienentwicklung als neue, empirische und konzeptuelle Herausforderung für ein Verständnis von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel Die Beiträge zur Entwicklung von Medien, an die in den 90er Jahren in der maßgeblichen Diskussion um Globalisierung angeknüpft wird, stammten wie auch die Beiträge von Weber, Benjamin, Innis und McLuhan, nicht aus etablierten Forschungsfeldern zum Wandel von Gesellschaft. Ihnen wird daher oft Mis-
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strauen entgegengebracht. Neue Perspektiven müssen sich immer erst bewähren. In der Globalisierungsdiskussion galt das für Beiträge aus den Cultural Studies und der Managementforschung. Für ein Verständnis der Rolle der Medien im Bezug auf ihre Bedeutung im Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft ist zuerst die Kommunikations- und Medienforschung der Cultural Studies wichtig geworden, nachdem Medien überraschend durch Anthony Giddens prominent eingebracht wurden. In seinem Konsequenzen der Moderne (1995/1990), in dem er Globalisierung als Globalisierung der Strukturen der Moderne diskutiert, behauptet er Medien als „ganz grundlegenden Aspekt der Globalisierung“, weil sie in der Geschichte „alle Aspekte der Globalisierung dramatisch beeinflusst“ (ebd.: 100) hätten – ohne weiter auf sie einzugehen (vgl. Winter 2005). Für den weiteren Verlauf der Beachtung der Medien in der Diskussion um Globalisierung wird nun die Kritik an zu allgemeinen Beiträgen wichtig. Diese werden als „Global Babble“ (Abu Lughod 1991 – ausf. dazu Winter 2005) kritisiert: Ihre struktur- und makrosoziologische Perspektive, so die Kritiker, erlaubt keine konkrete Antwort auf Fragen nach dem „warum“, dem „wozu“ und den Folgen von Globalisierung. Damals wurden Beiträge aus dem Umfeld der Cultural Studies, die diesen Wandel schon länger konkreter im Hinblick auf die Nutzung von Medien als einem kreativen und durchaus auch widerspenstigen Handeln betrachteten, zum Thema. Über sie finden neue analytische und normative Argumente und Erkenntnisse über globale mediale Angebote und Dienste in ihrer Bedeutung für Selbstrepräsentationen und Identitäten in sich verändernde Lebenswelten Eingang in die Globalisierungsdiskussion. Cultural Studies bauen dabei auf Grundannahmen von Raymond Williams zu Kommunikation als Entwicklung, als kreativer und schöpferischer, aber umkämpfter Tätigkeit auf (die denen zur Entwicklung von Rationalität, Wahrnehmung und Gesellschaft von Weber und Benjamin nicht unähnlich sind), die er seit dem Schlusskapitel von Culture and Society (Williams 1999/1958) entwickelt, in dem er zeigt, wie Kultur und Gesellschaft durch Kommunikation konstituiert werden. Von dieser Erkenntnis aus konzeptualisiert er Kommunikation im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Entwicklung von gesellschaftlicher Wirklichkeit als kreative und kulturprägende Tätigkeit (Williams 1983/1961a) und entwickelt seine These, dass Kommunikation ähnlich dem wirtschaftlichen und politischen Handeln eine „primäre“ Tätigkeit ist, weil sie diesem ja nicht nachfolgt, sondern dies vielmehr mitkonstituiert (Williams 1976/1962) kurz nachdem Parsons seine Sozial- und Gesellschaftstheorie kommunikationstheoretisch – freilich abstrakt – umgebaut hatte. Ausgehend von diesen Thesen beschäftigte sich Williams in verschiedenen Kontexten mit Fernsehen, bevor er Fernsehen als veränderbare technische und kulturelle Form
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(Williams 2003/1974) konzeptualisiert und rekonstruiert. Rekonstruiert wird, welche Leute wie und warum Fernsehen als komplexen Kommunkationszusammenhang durch auf das Fernsehen gerichtete Medienproduktions- und Mediennutzungshandlungen gemacht haben – im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher, technischer und kultureller Entwicklungen. Williams’ Konzeptualisierung der Entwicklung des Fernsehens durch Handlungen, die nicht „nur“ auf Technologien gerichtet sind, sondern auf Medien als Konstituenten und Vermittlern von öffentlicher Kommunikation, erweitert die Möglichkeiten, die Entwicklung von Medien zu konzeptualisieren, durch die Einführung einer neuen Gruppe von Handlungen erheblich. Denn diese Medienentwicklungshandlungen sind keine „sozialen Handlungen“ im Sinne Webers,19 noch sind es „parasoziale“ Handlungen, die auf Akteure in den Medienformaten gerichtet sind (Krotz 1996), oder „performative Sprechhandlungen“, die auszeichnet, dass sie nicht an Personen gerichtet sind, sondern an eine Öffentlichkeit (vgl. Austin 1975/1962). Als Entwicklungshandlungen erinnern die von Williams beschriebenen und auf die technologische sowie kulturelle Entwicklung des Fernsehens als einem Medium gerichteten Handlungen eher an komplexe Entwicklungen von Handlungszusammenhängen, die sonst nur aus der Geschichte anderer Medien bekannt sind, in deren Kontext oft überhaupt erst verständlich wird, wie verschiedene auf Medien bezogene Handlungen verwoben sind. Jedoch entwickelt Williams keinen Bezugsrahmen, der eine systematische Integration verschiedener Perspektiven auf die Entwicklung von Medien konkret anbietet. Dafür waren seine Überlegungen zu sehr auf das Fernsehen und zu wenig auf öffentliche Kommunikation allgemein ausgerichtet. Aus seiner auf die Entwicklung eines demokratischen Mediensystems gerichteten Perspektive interessierten ihn weniger allgemeine Konzeptualisierungen als vielmehr Vorschläge zur Entwicklung alternativer Weisen des Umgangs mit dem Fernsehen (Williams 2003/1974: 139ff.). Williams konstruiert auf der Basis der von ihm entwickelten, umfangreichen konzeptuellen Grundlagen keine Theorie des Zusammenhangs von Medien mit dem Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft. Obwohl er im Kontext seiner historischen Arbeiten zu Medien die Bedeutung der Entwicklung von Medien für diesen Wandel als erster belegt, den Max Weber und ebenso Walter Benjamin eher vermutet hatten, und den Innis und McLuhan empirisch unkonkreter – um nicht zu sagen: fragwürdiger – zum Thema macht, entwickelt er keinen Bezugsrahmen für eine Konzeptualisierung von Medienentwicklung. Seine eigene Konzeption eines „kulturellen Materialismus“ ist für ein Verständnis der Komplexität und vor allem Widersprüchlichkeit der Entwicklung von Medien letztlich ungeeignet (vgl. dazu ausf. Winter 2007).
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Hinweise auf einen solchen systematischen Bezugsrahmen, der sowohl für die Rekonstruktion wie auch ein Verständnis von Komplexität und Widersprüchlichkeit der Entwicklung von Medien geeignet ist, entwickelt Stuart Hall mit dem Beitrag „encoding/decoding“ (1999/1980/1973). Der Beitrag, der Parallelen zur Entwicklung der Konzeptualisierung von Medien in der rekonstruierten sozialstrukturellen Diskussion zu Medien im Kontext von Wandel aufweist, ist gegen Konzeptualisierungen von Kommunikation als kanalartiglinearen Prozess gerichtet. In Orientierung an dem von Karl Marx entwickelten Skelett des Güterkreislaufs (1857/1858) hebt Hall hervor, dass Kommunikation aus verschiedenen Momenten bzw. Teilprozessen von Kommunikation besteht:20 „Doch es ist denkbar und auch sinnvoll, diesen Prozess als eine Struktur aufzufassen, die durch die Artikulation miteinander verbundener, aber eigenständiger Momente produziert und aufrechterhalten wird: Produktion, Zirkulation, Distribution/Konsum, Reproduktion. Dies hieße, den Prozess als ‚komplexe, dominante Struktur‘ zu verstehen, die durch die Artikulation miteinander verbundener Praktiken entsteht, von denen jede in ihrer Unverwechselbarkeit erhalten bleibt und ihre spezifische Modalität, ihre eigenen Existenzformen und -bedingungen hat.“ (Hall 1999/1980/1973: 92-93)
Halls Beitrag diskutiert die Komplexität der Verbundenheit verschiedener Umgangsweisen insbesondere mit Fernsehnachrichten und dabei vor allem ihre Aneignung, ihr „decoding“. Deshalb blendet er, nachdem er Probleme des „linearen“ oder „kausalen“ Verständnisses von medialer Kommunikation diskutiert hat, die Komplexität des Gesamtzusammenhangs von Kommunikation aus und konzentriert sich auf die zwei Teilprozesse, die ihn in Bezug auf Fernsehnachrichten interessieren: das „encoding“ und das „decoding“ (vgl. hierzu Abb. 1). Obwohl dieses Modell die Komplexität seiner Konzeptualisierung von Kommunikation,21 mit der Hall die Problematik einer linear-kanalartigen Kausalität von Kommunikation aufgezeigt hat, ganz erheblich reduziert, bleibt Halls Diskussion von zwei Fragen zu Medienentwicklung in der Arbeit maßgeblich. Der Frage, wie Medien im Rahmen von Kommunikation komplex vermittelt sind, und der, wie Leute über den Umgang mit Medien mit Wandel vermittelt sind. Hall geht es – wie gesagt – vor allem um ein Verständnis des „Decodierens“. Die Darstellung der Bedingungen der Produktion von Fernsehen und Fernsehnachrichten, die durch bestimmte Spezifika „dominiert“ und nicht „determiniert“ ist, ist auch auf andere Medien übertragbar. Das gilt vor allem für seine Darstellung des „decoding“ als dem Prozess der Wahrnehmung und Nutzung von Kommunikation, der so wie der Prozess des „encoding“ von spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen abhängig ist.22
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Abbildung 1: Das „encoding/decoding“-Modell Programm als 'sinnhafter' Diskurs
kodieren Bedeutungsstrukturen 1
dekodieren Bedeutungsstrukturen 2
Wissensrahmen
Wissensrahmen
Produktionsverhältnisse
Produktionsverhältnisse
technische Infrastruktur
technische Infrastruktur
Quelle: Hall 1999/1980/1973: 97
Hall entfaltet hier empirisch die für ein Verständnis von Medienentwicklung zentrale Erkenntnis, dass mediale Kommunikation ein Prozesszusammenhang verschiedener Momente oder Teilprozesse ist, die dabei aufgrund von unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen üblicherweise auch eigene Logiken und Spezifika aufweisen. Halls Unterscheidung verschiedener, durch verschiedene Bedingungen und Voraussetzungen gekennzeichneter, Momente des Umgangs mit Medien im Prozess der medialen Kommunikation verdeutlicht, dass alltagspraktische oder lebensweltliche mediale Kommunikation über den Umgang mit Medien komplex mit den Momenten und Kontexten der Produktion und Allokation medialer Kommunikation, die Habermas explizit systemisch organisiert und integrierte nannte, vermittelt. Bei Hall werden diese Momente und Kontexte nicht mehr nur differenziert, sondern in ihrer Verschiedenheit und Artikulation aufeinander bezogen. Die Umgangsweisen mit Medien im Prozess medialer Kommunikation werden jede für sich als relativ eigenständige primäre kreative auf die Konstitution von und die Teilhabe an öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft gerichteter Kommunikationshandlungen verständlich, die – egal wie „aktiv“ sie sind – in der Folge öffentliche Kommunikation sowie darüber Gesellschaft immer auch verändern. Das zweite für eine Theorie der Medienentwicklung grundlegende Argument von Hall macht Probleme von Weber und Benjamin konkreter und Luhmanns Vorannahmen problematischer. Es knüpft an die Einsicht in die Ver-
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schiedenartigkeit der Weisen des Umgangs mit Medien im Rahmen medialer Kommunikation an. Hall entfaltet diese Einsicht im Rahmen einer Kritik an der Konzeption selektiver Wahrnehmung, die „fast nie so selektiv, willkürlich oder privatisiert (ist, C.W.), wie es der Begriff suggeriert.“ (ebd.: 105) Denn die Schemata der Wahrnehmung weisen „über individuelle Abweichungen hinweg, entscheidende Ballungen auf.“ (ebd.). Halls Konzeptualisierung der Komplexität von medialer öffentlicher Kommunikation, die an der Verschiedenartigkeit ihrer Teilprozesse ansetzt, und die erst im Zusammenhang öffentliche Kommunikation konstituieren, erlaubt es, die Medien in diesen Teilprozessen als Horizont der Möglichkeiten für die Veränderungen von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft zu entdecken. Dabei wird – ganz anders als bei Luhmann – deutlich, dass dieser Horizont nicht kontingent, sondern durch Bedingungen limitiert und durch Interessen bestimmt ist. In der Globalisierungsdiskussion wird die Rezeption- und Publikumsforschung der Cultural Studies, die maßgeblich zu einem besseren Verständnis der Globalisierung der Medien in den Lebenswelten von Leuten beitrug, aber auch kritisiert. Ien Ang hat diese im Aufsatz Kultur und Kommunikation. Auf dem Weg zu einer ethnographischen Kritik des Medienkonsums im transnationalen Mediensystem (1999/1990) formuliert. Sie fordert dort, Publikumsforschung umfassender mit den gesellschaftlichen Prozessen zu verbinden23 und das „Hegemoniale“ des transnationalen Mediensystems zu spezifizieren, in dem, so Ang, „auf spezifische Weise die strukturellen und globalen Konfigurationen der Hegemonie“ entwickelt werden, in dem sich aktuell „die gegenwärtigen Praktiken von Medienrezeption und -konsum herausbilden.“ (Ang 1999/1990: 330). Erst ein so umfassendes Verständnis schafft „Bewusstsein für die relevanten Asymmetrien zwischen Produktion/Distribution und Konsum, dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Globalen und dem Lokalen“ (ebd.: 331), das es erlaubt, so lässt sich weiter argumentieren, den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Kontext von Globalisierung zu verstehen. Mit der Spezifikation der globalen medialen Produktion und Verteilung von Medien und ihren Inhalten, haben sich die Cultural Studies trotz der historisch wegweisenden Vorarbeiten von Raymond Williams und Stuart Hall allerdings schwer getan.24 Aus der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive gelang es ihnen bisher nicht, die Praktiken im Moment der Produktion als das, was sie sind, als „Managements“ zu berücksichtigen (vgl. ausf. Winter 2001; Winter 2002a).
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5 Ein Modell für eine multiperspektivische, multikontextuelle Erforschung der Entwicklung von Medien für öffentliche Kommunikation und Gesellschaft im Wandel Die Erkenntnis, dass mediale Kommunikation weder ein linear-kanalförmiger Prozess noch eine allein kontingente mehrstufige Selektion ist, sondern ein Zusammenhang von Prozessen, in denen Leute mediale Kommunikation unter bestimmten Bedingungen durch ihren Umgang mit Medien machen, weist den Weg zu einer multiperspektivischen und multikontextuellen Erforschung von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel. Diese Forschung setzt beim konkreten Umgang von Leuten mit Medien an, der als die kleinsten Einheiten des Wandels von öffentlicher Kommunikation und damit von Gesellschaft im Zusammenhang mit der Entwicklung von Medien verstanden wird. Dieser Umgang ist aus meist unterschiedlichen Perspektiven in unterschiedlichen Kontexten auf Medien gerichtet. Leute versammeln sich zur Teilhabe an öffentlicher Kommunikation nicht mehr in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen. Sie nutzen immer mehr immer verschiedenere Medien, um sich immer unabhängiger von Zeit und Raum überpersonal und öffentlich zu orientieren und zu informieren. Dazu wird Webers Grundannahme, dass die Entwicklung kultureller Rationalität von der ihrer Träger abhängt, mit Williams in den Kontext öffentlicher Kommunikation als Prozess gestellt, in dem im Umgang mit Medien gesellschaftliche Wirklichkeit aktiv entwickelt und verändert wird. Der Prozess wird in Anlehnung an Marx, Hall und anderen25 als Zusammenhang der Produktion, Allokation, Wahrnehmung und Nutzung von Medien zur Kommunikation konzeptualisiert. Mit Münch wird weiter angenommen, dass die Entwicklung von Medien die der Gesellschaft vorantreibt. Diese sollte nicht linear oder trotzig, sondern empirisch erforscht werden. Dabei ermöglicht es das entwickelte Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente- Modell (Abb. 2), Medienhandlungen bestimmten Momenten medialer Kommunikation zuzuordnen, die als unterscheidbare Kontexte empirisch analysiert werden können, um diese Kontexte und die Art und Weise zu verstehen, wie und warum in ihnen über den Umgang mit Medien jeweils kulturelle und technologische Verbundenheiten und Konnektivitäten konstituiert, verändert oder auch verhindert werden. Dieses Modell, das die Aufmerksamkeit bei der Analyse auf den Umgang von Leuten mit Medien in explizit als unterscheidbar angenommenen Momenten und Kontexten von medialer Kommunikation sowie den kulturellen und
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technischen Formen ihrer Verbundenheit richtet, ermöglicht die Beschreibung der historischen und aktuellen Entwicklung von Medien, die auch hilft, die kulturelle Form der Unterscheidung von Medien als Primär-, Sekundär-, Tertiärund Quartärmedien zu verstehen. So wird es mit diesem Modell möglich, die kulturellen Ursachen und Folgen der Entwicklung von Medien zu verstehen (vgl. hier für Primär- oder Menschmedien exemplarisch Winter 2006). Ein anderes Beispiel sind etwa die Druckmedien. Ihre Entwicklung im Umgang mit ihnen löste öffentliche Kommunikation von Plätzen und bestimmten Rollen mit medialen Funktionen und schuf neue Bedingungen der Produktion und Allokation (durch die Ausbreitung von Drucken und später von Presse) und später der Wahrnehmung und Nutzung (durch die Ausbreitung der Lese- und Schreibfähigkeiten) von öffentlicher Kommunikation, die diese und Gesellschaften verändert haben. Abbildung 2: Das Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente-Modell
Das Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente-Modell ermöglicht ein neues komplexeres Verständnis der Verwobenheit der Entwicklung von Medien mit dem Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft. Es richtet die Aufmerksamkeit auf die Medienentwicklung im Kontext der Veränderungen der Kontexte und Momente von medialer Kommunikation als Entwicklung technologischer und kultureller Form durch auf Medien gerichtete Handlungen. Seine Möglichkeiten liegen nicht nur in der historischen Rekonstruktion, sondern auch in den Möglichkeiten, den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft auch durch die Integration differenzierterer Perspektiven einerseits und andererseits auch durch die Differenzierung allgemeiner Darstellungen besser zu verstehen.
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6 Medienentwicklung als Integrationsperspektive auf den Wandel von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft Nach der Überwindung der kulturtheoretischen Schwachstelle bei der Berücksichtigung der Komplexität des lebensweltlichen und oft widersprüchlichen Umgangs mit Medien durch eine empirische Forschung, die nicht mehr von medialer Kommunikation als einem kanalartig-linearen Prozess ausgeht, sondern als Zusammenhang von Teilprozessen, in denen oft sehr verschiedene Menschen etwas unter oft sehr verschiedenen Bedingungen, in auch emotional möglicherweise sehr unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedlich machen. Diese neuen Erkenntnisse konnten im Rahmen des Medien-KommunikationsKontexte/Momente-Modells differenziert berücksichtigt werden, auch weil die kognitiven und emotionalen Bedingungen des Umgangs mit Medien im Moment der Rezeption als Moment der Wahrnehmung, der in der konstruktivistischen Perspektive zentrale Bedeutung hat, von den gesellschaftlichen und also ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen bei der Nutzung von Medien und ihren Angeboten unterschieden werden können. Die Überwindung der kulturtheoretischen Schwachstelle deckte im Zuge der Globalisierungsdiskussion dann die Schwachstelle der Berücksichtigung der Veränderungen der Produktion und Allokation von Medien und ihren Inhalten vor allem durch transnationale Medienkonzerne auf, die durch die Entwicklung von digitalen Netzwerkmedien oder Quartärmedien27 noch größer geworden ist (vgl. Neverla 2001), da ein Einblick in die Asymmetrien im virtuellen Prozess mediale Kommunikation noch schwieriger ist. Das Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente-Modell erlaubt auch die Überwindung dieser Schwachstelle, weil es wie Forschung zur Nutzung (Cultural Studies) und zur Rezeption und Wahrnehmung (Psychologie) auch solche zum Management der Produktion und Allokation von Medien und ihren Angeboten integrieren kann. Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Berücksichtigung der Medien im Zuge der Entwicklung des Managements als wissenschaftlicher Disziplin war Alvin Tofflers The Third Wave, das in Deutschland als Die Zukunftschance (1980) publiziert wurde. Toffler verdeutlicht darin, dass Entwicklungen der Medien Kulturschocks und Chancen zur Folge haben. Seine Darstellung der Individualisierung und Aktivierung von Personen, Mitarbeitern, Bürgern und Kunden auf der Basis neuer medialer Chancen forderte die entstehende Managementwissenschaft heraus, in der diese seit Michael E. Porter (1999/1985) als Wertschöp-
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fungs- und Wettbewerbsvorteile bezeichnet werden, für deren Entwicklung die von Medien und Kommunikation als kritischer Erfolgsfaktor gilt. Abbildung 3: Das Grundmodell der Wertkette nach Porter
Quelle: Porter 1999: 66
Porters Wertschöpfungskette integriert alle Aktivitäten in Unternehmen als primäre oder als unterstützende, wobei er argumentiert, dass die Fähigkeit von Unternehmen, Wettbewerbsvorteile zu entwickeln, von der Steigerung der Leistung in den einzelnen Stufen der Wertschöpfung oder ihrer Abstimmung abhängt, was für ihn immer mit der Entwicklung von Technologie zu tun hat (vgl. die oben stehende Abbildung von Porters Wertschöpfungskette in Abb. 3 mit der unterstützenden Aktivität „Technologieentwicklung“). Die Veränderung der Entwicklung von Medien und ihren Angeboten bei ihrer Produktion und Allokation kann mit dem Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente-Modell empirisch als Kommerzialisierung erklärt werden. Die mediale Konnektivität der Momente und Kontexte medialer Kommunikation setzt keine gemeinsam geteilten Werte oder die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder Gesellschaft voraus, sondern wird durch Transaktionen begründet, die auf Gewinn ausgerichtet sind (vgl. ausf. Winter/Karmasin 2001). Diese Ausschließlichkeit gab es bei der Entwicklung neuer Medien noch nie – nicht einmal bei der Entwicklung der Printmedien, die die längste Zeit durch Konfessionen und Parteien geprägt war und die erst zuletzt bei der Transformation von Printtiteln in Marken eine ähnliche Entwicklung nimmt. Die Integration und die Berücksichtigung der Wertkette als der dominanten Orientierung bei der Entwicklung der Produktion und Allokation von Medien erlaubt es, das „Hegemoniale“ des neuen transnationalen Mediensystems und die Art und Weise, wie die „strukturellen und globalen Konfigurationen der Hegemonie“ entwickelt werden, in denen sich die „Praktiken von Medienrezeption und -konsum heraus-
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bilden“ (Ang 1999/1990: 330 und oben) genauer zu erkennen und zu spezifizieren: Resultat dieser Entwicklung ist eine von der Produktion und Allokation ausgehende strukturelle globale Kommerzialisierung der Konnektivität medialer Kommunikation, die dabei durch die Analyse der Handlungen und Interessen der Beteiligten im Rahmen des Models besser differenzierter und zugleich verbundener als je zuvor erforscht und verstanden werden kann. Die Kommerzialisierung verändert die Beziehung zwischen den Momenten und Kontexten erheblich, die Ang normativ angesprochen hat, als die „relevanten Asymmetrien zwischen der Produktion/Distribution und Konsum, dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Globalen und dem Lokalen“ (ebd.: 331). Sie löst bestehende Beziehungen auf, ohne dass aber die Leute die Logik dieser Entwicklung verstehen, in denen die Formen von und für Beziehungen zu den Momenten und Kontexten, in denen öffentliche Kommunikation und Gesellschaft konstituiert wird, verändert werden – aktiv und durch auf Medien gerichtete Handlungen von Leuten die neue Beziehungen zu neuen Dingen und Leuten eingehen wollen und von Leuten die ihr Geld damit verdienen, dass sie kommerziell erfolgreich Beziehungen zwischen Leuten und Leuten und Leuten und Objekten entwickeln. Die Perspektive auf Medien und Medienentwicklung als einem Horizont neuer Möglichkeiten hat in der Managementforschung Shoshana Zuboff mit In the Age of the Smart Machine. The Future of Work and Power (1988) entfaltet. Ihre Aussagen zu „Smart Machines“ nehmen die späteren von Baumann, Urry und Castells zu Medien teilweise vorweg, deren Darstellung der materiellen Welt als Bezugsrahmen für Wandel und Entwicklung mit ihrer Argumentation, wie Medien Wirklichkeit verändern können – wobei diese Wirklichkeit jene der Kontexte der Produktion und Allokation von Medien und ihren Angeboten ist, deren Horizont die Medien darstellen, insgesamt weniger konkret und also empirisch anschlussfähig ist: „Technological change defines the horizon of our material world as it shapes the limiting conditions of what is possible and what is barely imaginable. It erodes taken-for-granted assumptions about the nature of our reality, the “pattern” in which we dwell, and lays open new choices. When the telephone makes it possible to pursue intimate conversation without bodies that touch or eyes that meet, or when the electric light rescues the night from darkness, the experience is more than simply an element within the pattern. Such innovations give form and definition to our worldly place and provoke a new vision of the potential for relatedness within it. It is in this sense that a technology cannot be considered neutral. Technology is brimming with valence and specificity in that both creates and forecloses avenues of experience.” (Zuboff 1988: 388)
Mit dem Medien-Kommunikations-Kontexte/Momente-Modell kann Zuboffs Erforschung der Entwicklung der Produktion und Allokation von medialer Kommunikation berücksichtigt werden, die früher als andere Entwicklungen
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wie „Konvergenz“, die „Unmittelbarkeit“ und die „Komplexität“ von Kommunikation im Kontext der Entwicklung „smarter Maschinen“ zu einem Thema macht,28 als John Urry, bei dem diese fünfzehn Jahre später zu den Maschinen des 21. Jahrhunderts (s.o.) werden. Diese Entwicklungen lassen sich im Modell anschaulich darstellen, in dem die bis zu den Tertiärmedien übliche Reihenfolge der Momente und Kontexte von medialer Kommunikation aufgelöst wird, da mit digitalen Netzwerkmedien in die Produktion und die Verteilung, aber auch die Wahrnehmung medialer Kommunikation im Moment ihrer Nutzung eingegriffen werden kann. Vom Moment der Nutzung aus wird es heute immer öfter möglich zu bestimmen, welche Inhalte, über welche mediale Plattform an welchem Ort zu welcher Zeit an zusammengestellt und alloziiert werden. Die Konvergenz medialer Kommunikation als „konvergente“ Entwicklung, die eine neue „Unmittelbarkeit“ und „Komplexität“ von digitaler Netzwerkmedien-Kommunikation zur Folge hat, stellt die konvergente Adaption des Modells dar (vgl. Abbildung 4). Abbildung 4: Die Konvergenz medialer Kommunikation
Zuboffs aus Managementperspektive beschriebene Entwicklungen digitaler Netzwerkmedien (vgl. Winter 2006b) konzeptualisieren diese als „smarte Maschinen“ und nicht als Vermittler und Träger öffentlicher Kommunikation und als Konstituenten von Gesellschaft, sondern als Vermittler und Träger von Wettbewerbsvorteilen und also von Unterschieden und nicht von Gemeinsamkeiten. Digitale Netzwerkmedien werden die Bedeutung, die einmal überregionale Zeitungen für gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeiten hatten, die das
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Radio hatte und die heute durch seine politischen Formate noch das öffentlichrechtliche Fernsehen hat, sicherlich nicht erlangen. Dafür sind andere supranationale Netzwerke und Ströme von Kommunikation und Information heute im Vergleich zu national-gesellschaftlichen Öffentlichkeiten zu wichtig. Digitale Netzwerkmedien steigern und differenzieren Kommunikation zu sehr, als das solche national-gesellschaftlichen Öffentlichkeiten mit ihnen zu konstituieren wären. Die empirische multiperspektivische, multikontextuelle am eingeführten Modell orientierte Erforschung von Medienentwicklung im Bezug auf öffentliche Kommunikation und Gesellschaft im Wandel erlaubt zu verstehen, wie und warum wer mit digitalen Netzwerkmedien das „Gewebe, auf dem unser Leben beruht“ (Castells 2005/2001: 9) neu und anders konstituiert, als es andere zuvor mit anderen Medien im Rahmen ihrer technologischen und kulturellen Form gemacht haben. Deutlich wird im historischen Vergleich, dass die Möglichkeiten für Kommunikation und Orientierung noch nie so vielfältig, komplex, konvergent und unmittelbar waren, die aber in ihrer Komplexität auch nicht so klar und empirisch analytisch beschrieben und verstanden werden konnten.
Anmerkungen 1
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Max Weber war der erste, der die Bedeutung von Vermittlungsinstanzen für die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft umfassend erkannt und im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Entwicklung kultureller Rationalität untersucht hat, als dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem darüber entschieden wird, was als vernünftig gilt. Zu Max Webers unabgeschlossener, erst posthum veröffentlichter systematischer Religionssoziologie (1980/1922a) vgl. ausf. Winter (2006a: 17ff.). Weber argumentiert im Bezug auf seine bekannten religionshistorischen Studien die Entwicklung gesellschaftlicher Rationalität in Abhängigkeit von der Entwicklung ihrer Träger; konkret argumentiert er diese als Entwicklung vom Magier über den Priester und den Propheten bis hin zum Buchdruck als Entwicklung unterscheidbarer Träger dieser Rationalität. „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.“ (Benjamin 1977/1936: 14 – kursiv im Original!) Vgl. zu Benjamin aktuell gerade im Hinblick auf die Entwicklung neuer Medientechnologien Hartmann 2006. „Jedes einzelne Kommunikationsmittel spielt eine bedeutende Rolle bei der Verteilung von Wissen in Zeit und Raum und es ist notwendig, sich mit seinen Charakteristika auseinanderzusetzen, will man seinen Einfluss auf den jeweiligen kulturellen Schauplatz beurteilen. […] Wir können davon ausgehen, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, dass der überall vorhandene Einfluss dieses Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in
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der Leben und Veränderungen zunehmend schwieriger werden, und dass schließlich ein neues Kommunikationsmedium auftreten muss, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen.“ (Innis 1997/1949: 95-96. Vgl. zu Innis explizit als Klassiker der Kommunikations- und Medienwissenschaft Giessen 2002. 4 Vgl. McLuhan 1974/1964: 15ff. Zu McLuhan vgl. insbes. Krotz 2001. 5 Das liegt vor allem daran, dass Webers Überlegungen neu waren. Es stimmt nicht, dass Weber bestehendes Material „nur unterschiedlich ordnete“ (Kaesler 2003/1979: 176), wie Dirk Kaesler annimmt. Seine Darstellung insbesondere der „Entwicklung“ kultureller Rationalität in dieser Zeit war – wie die in diesem Zusammenhang maßgebliche Arbeit von Wolfgang Schluchter (1979) – vor allem durch die Einsicht in Webers dreistufiges- oder drei Ebenen-Vermittlungsmodell geprägt. Vgl. Kaesler 2003/1979: 122. 6 Vgl. zum anderen „Kunstverständnis“ des Instituts ausführlicher Jay 1981. Er schreibt sehr deutlich: „Keine Übereinstimmung zwischen den Institutsmitgliedern, insbesondere zwischen Adorno und Benjamin, gab es hingegen in der Einschätzung der Auswirkungen dieses Wandels. Man fürchtete damals, dass die Massenkunst eine neue politische, ihrer traditionell ‚negativen‘ diametral entgegengesetzte, politische Funktion ausüben werde; dass die Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit dazu beitragen werde, das Massenpublikum mit dem status quo auszusöhnen. In diesem Punkt war Benjamin anderer Meinung.“ (ebd.: 250). Dazu ausführlicher die frühe Diskussion von Wawrzyn 1973. 7 „Die Massenkultur ist für Benjamin – zunächst jenseits aller Wertungen – ein Folgeproblem jener Öffnung von Zugangschancen, die durch die technische Entwicklung der Reproduktionsmedien bewirkt worden ist.“ (Dubiel 1990: 264) 8 Vgl. zu seiner Konzeption Innis 1997/1947 und zur Entwicklung der Logik seiner Theorie vor allem „The Bias of Communication“ aus dem gleichnamigen Buch, das als „Tendenzen der Kommunikation“ ins Deutsche übersetzt wurde (Innis 1997/1949). 9 „Je nach seinen Eigenschaften kann solch ein Medium sich entweder besser für die zeitliche als die räumliche Wissensverbreitung eignen, besonders, wenn es schwer, dauerhaft und schlecht zu transportieren ist, oder aber umgekehrt eher für die räumliche als für die zeitliche Wissensverbreitung taugen, besonders wenn es leicht und gut zu transportieren ist. An seiner relativen Betonung von Zeit oder Raum zeigt sich deutlich seine Ausrichtung auf die Kultur, in die es eingebettet ist.“ (Innis 1997/1949: 94) 10 „Besonders im Bereich der Kommunikation liegt diesem Wandlungsprozess die Zerstörung älterer traditioneller Bindungen vor allem in Bezug auf die soziale Schichtung zugrunde. Das elitäre System beschränkte sein Publikum im Großen und Ganzen auf seine Peers. Man erwarte nicht, dass die gesamte Öffentlichkeit in irgendeiner Weise interessiert sein würde oder könnte – außer vielleicht, um die Eleganz des Lebensstils der Oberklasse mit diffuser Bewunderung zu bedenken. Eine wichtige Folge der Auflösung askriptiver Bindungen ist die Erweiterung des Zugangs zu kulturellen Inhalten für immer größere Bevölkerungskreise. In der jüngeren Geschichte der westlichen Länder ist die Ausweitung der Bildung dafür das anschaulichste Beispiel. Weit größere Gruppen als je zuvor, so darf man vermuten, wissen Elemente des großen westlichen Kulturerbes zu schätzen.“ (Parsons/White 1972/1960: 283) 11 Aus sehr weitem Abstand und mit Hilfe scharfer begrifflicher Abstraktion kann man erkennen, wie gesellschaftliche Evolution zusammenhängt mit Veränderungen in den Kommunikationsweisen. Ein solcher Zusammenhang ist zu erwarten. Schließlich
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wird das soziale System der Gesellschaft durch Kommunikationsprozesse konstituiert.“ (Luhmann 1981: 309) „Zunächst: Ein Kommunikationsprozess verbindet nicht Fakten oder Daten in ihrer puren Faktizität, sondern Selektionen – das heißt Ereignisse, die so oder auch anders ausfallen könnten und insofern Informationswert haben. Ferner ist Kommunikation immer eine dreistellige Relation, bei der alle drei Stellen kontingente Selektionen repräsentieren: 1. ein Sachverhalt, der so oder auch anders beschaffen sein könnte; 2. ein Kommunikator, der über diesen Sachverhalt reden oder auch nicht reden könnte; und 3. ein Empfänger, der die Mitteilung verstehen oder nicht verstehen, akzeptieren oder nicht akzeptieren kann. Kommunikation ist ein Prozess, der auf Selektionen selektiv reagiert, also Selektionen verstärkt. Ein solcher Prozess impliziert Kontingenz – Kontingenz im Sinne eines Horizontes anderer Möglichkeiten. Und er produziert, wenn er nur lange genug läuft, im Laufe der gesellschaftlichen Evolution schließlich unsere voll kontingente, theologisch so schwierige Welt.“ (Luhmann 1981: 314ff.) „Durch die Steigerung von Kommunikation wird die Gesellschaft in einem Maße bewegt wie niemals zuvor.“ (Münch 1991: 16) Die Orientierung an struktureller Soziologie ist nur in der Soziologie ein Vorteil, weil sie dort Anschlussfähigkeit gewährleistet. Sie ist jedoch ein Nachteil, wenn es um die Entdeckung der Entstehung und/oder Entwicklung von Neuem geht, das im Rahmen ihrer Kategorien und der Logik der von ihr schon entwickelten Argumentationssysteme nicht vorgesehen ist. „Man kann deshalb die Lebenswelt negativ als die Gesamtheit der Handlungsbereiche definieren, die sich einer Beschreibung als mediengesteuerter Subsysteme nicht fügen.“ (Habermas 1986: 387) Alexander hat das Unvermögen, Kultur als komplexen Vermittlungszusammenhang zu verstehen, nicht nur bei Habermas kritisiert, sondern auch bei Parsons und dort als generellen Schwachpunkt der strukturellen Soziologie und Theorie aufgezeigt (vgl. Alexander 1993/1998). Alexander hat m. E. zu Recht erkannt, dass er ein tieferes Verständnis von Kultur und medialer Kommunikation verhindert. Krüger kritisiert vor allem den weitgehend unerkannten, aber für die Entwicklung einer multiperspektivischen, multikontextuellen, auf die Entwicklung von Medien gerichteten Theorie von öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft im Wandel empirisch und konzeptuell problematischen doppelten Dualismus von Habermas: „Der in dem ‚Mediendualismus‘ verlängerte gesellschaftstheoretische Dualismus von Habermas schließt eine einheitlich kommunikationstheoretische Erklärung des Entwicklungszusammenhangs von kontextualen Inhalten, medialen Formen und mentalen Gehalten der gesellschaftlichen Kommunikation aus.“ (Krüger 1986: 230) Habermas schätzt die „originelle Studie“, die „Auswirkungen elektronischer Medien auf die Umstrukturierung einfacher Interaktionen zum Gegenstand hat“ (Habermas 1990/1962: 48) „ambivalent“ ein (49). Er wüsste nicht, wenn er „noch einmal an eine Untersuchung des Strukturwandels der Öffentlichkeit herangehen würde, […] welches Ergebnis sie für eine Demokratietheorie haben würde – vielleicht eines, das Anlass wäre für einen weniger trotzigen, bloß postulierenden Ausblick als seinerzeit.“ (49-50) „‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1980/1922b: 1)
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20 Diese Verwendung des Modells zur Konzeptualisierung von Kommunikation war insbesondere in der empirischen Literaturwissenschaft üblich. So verwendete es etwa auch Siegfried J. Schmidt 1991/1980. 21 Die Konzeptualisierung medialer Kommunikation in Anlehnung an das Skelett des Güterkreislaufs war damals in der empirischen Literaturwissenschaft nicht üblich, wie etwa Siegfried J. Schmidt belegt, der argumentiert, dass mit dieser Unterscheidung in vier Medienhandlungsbereiche alle Kommunikationshandlungen mit Medien berücksichtigt werden können. (Schmidt 1991/1980: 174) 22 „In einem anderen ‚determinierten‘ Moment hält die ‚Nachricht‘, vermittels ihrer Decodierung, Einzug in die Struktur gesellschaftlicher Praktiken. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass dieser Wiedereintritt in die Rezeptions- und Nutzungspraktiken der Zuschauer sich nicht auf der Basis bloßer Verhaltensbeschreibungen erklären lässt. Die typischen Prozesse, die in der positivistischen Forschung an isolierten Elementen festgemacht werden – Wirkungen, Nutzen, ‚Gratifikationen‘ – werden selbst wiederum von Verständnisstrukturen vorgegeben, die von den jeweiligen sozialen und ökonomischen Verhältnissen mitproduziert werden, und die deren ‚Realisation‘ am Rezeptionsende der Kette die entsprechende Form verleihen. Darüber hinaus ermöglichen sie es den im Diskurs ausgewiesenen Bedeutungen in die Praxis oder ins Bewusstsein übergeleitet zu werden (um gesellschaftlichen Gebrauchswert bzw. politische Wirksamkeit zu erlangen.“ (Hall 1999/1980/1973: 96) 23 „Eine derartige Einbindung ist notwendig, wenn die Cultural Studies nicht bloß eine raffiniertere Form der empirischen Publikumsforschung sein wollen, sondern zu einem umfassenderen strukturellen und historischen Verständnis unserer gegenwärtigen kulturellen Lebensverhältnisse beitragen wollen.“ (Ang 1999/1990: 323) 24 Es gab einen wichtigen Aufbruch in diese Richtung (du Gay 1997; du Gay et al. 1997), der aber nicht systematisch entwickelt und weiterverfolgt wurde. 25 Vergleiche zur Entwicklung der Bezeichnung der Momente und Kontexte von Kommunikation sowie eines Vorläufers des unten vorgestellten Modells ausführlich Winter 2003a. 26 Vgl. meine Studien zur Entwicklung medialer Mehrwertdienste (Winter 2002a), der von Broadcasting zu Narrowcasting (Winter 2002b), zum Wandel von Kinder- und Jugendkultur (Winter 2003b), zur Digitalisierung des Fernsehens (2004), sowie zu Medienentwicklung als Herausforderung für Konvergenzmanagement (2006b), zu Medienentwicklung im Kontext des Aufstiegs einer neuen konvergenten Beziehungskunst (Winter 2006c) sowie die Medienkulturgeschichte des Christlichen Predigers von den Anfängen bis Heute (Winter 2006a). 27 Vgl. dazu vor allem im Hinblick auf die Unterscheidung und Konzeptualisierung dieser neuen Gruppe von Medien, die sich nicht nur durch Technologie bei der Produktion und Nutzung auszeichnet, sondern zusätzlich durch Client-Server-Programme und Übertragungstechnologien, die den Kommunikationsprozess nun prinzipiell umkehren können, bzw. deren Nutzer durch die Übertragungstechnologie völlig neue Möglichkeiten im Hinblick auf die Momente und Kontexte medialer Kommunikation erhalten (Winter 1998, 2002b und 2006c). 28 „Information technology is a label that reflects the convergence of several streams of technical developments, including microelectronics, computer science, telecommunication, software engineering, and systems analyses. It is a technology that dramatically increases the ability to record, store, analyze, and transmit information in ways that permit flexibility, accuracy, immediacy, geographic independence, volume, and complexity. Information technology has a unique capability to restructure operations
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that depend upon information for the purpose of transaction, record keeping, analysis, control, or communication.” (Zuboff 1988: 415)
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Über die Autorinnen und Autoren Anne-Katrin Arnold, ist Research Fellow und Doktorandin an der Annenberg School for Communication der University of Pennsylvania (USA). Forschungsschwerpunkte: Kommunikationstheorien, politische Kommunikation, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Veröffentlichungen u. a.: „Communicating separation? Ethnic media and ethnic journalists as institutions of integration in Germany. In: Journalism: Theory, Practice & Criticism, 2007, „TV kills Social Capital? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sozialkapitalforschung von Robert Putnam“, In: Publizistik 49, 2004. Stefanie Averbeck, Dr., ist Hochschuldozentin für Theorie und Soziologie der öffentlichen Kommunikation sowie Medienethik an der Universität Leipzig (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Kommunikationstheorien, vergleichende Geschichte der Kommunikationswissenschaft, Interkulturelle Kommunikation. Buchveröffentlichungen: „Kommunikationswissenschaft als Prozess. Soziologische Perspektiven in der Zeitungswissenschaft 1927-1934“ (Münster u. a. 1999), „Karl Jäger. Mitteilung statt Medium. Probleme, Methoden und Gegenstände der publizistischen Wissenschaft“ (hrsg. mit Arnulf Kutsch, München 2000), „Zeitung, Werbung, Öffentlichkeit. Systematisch-biographische Studien zur Frühgeschichte der Kommunikationsforschung“ (hrsg. mit Arnulf Kutsch, Köln 2005). Patrick Donges, Dr., ist Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Mediensysteme und -strukturen in vergleichender Perspektive, Medienregulierung sowie Medien und Gesellschaftstheorien. Buchveröffentlichung u. a.: „Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung“ (mit Otfried Jarren, Wiesbaden 2006), „Von der Medienpolitik zur Media Governance?“ (Köln 2007) und „Ordnung durch Medienpolitik“ (mit Otfried Jarren, Konstanz 2007). Johanna Dorer, Dr., ist Assistenzprofessorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Feministische Medienforschung, Kommunikationsund Medientheorie, Nichtkommerzielle Medien, Öffentlichkeitsarbeit.
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Über die Autorinnen und Autoren Buchveröffentlichungen u. a.: „Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft“ (hrsg. mit Brigitte Geiger, Wiesbaden 2002), „Frauen und Kommunikation“ (München, Mehring 1997), „Öffentlichkeitsarbeit politischer Organisationen“ (Wien 1995), „Kommunikation und Macht“ (mit Matthias Marschik, Wien 1993).
Alexander Görke, Dr., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kommunikationswissenschaft (Abteilung Journalistik) der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Journalismustheorie, öffentliche Kommunikation, Risikokommunikation und Weltgesellschaft. Buchveröffentlichungen: „Risikojournalismus und Risikogesellschaft. Sondierung und Theorieentwurf“ (Opladen 1999). Udo Göttlich, Dr., ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen sowie Leiter der Forschungsgruppe „Politik und Kommunikation“ am Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies, Rezeptionsforschung. Buchveröffentlichungen u. a.: „Die Kreativität des Handelns in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung“ (Konstanz 2007). Maren Hartmann, Dr., ist Juniorprofessorin für Kommunikationssoziologie an der Universität der Künste Berlin (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Medienaneignung, Domestizierung, Cyber- und Medienkultur, Technologiewandel. Buchveröffentlichungen u. a.: „Technologies and Utopias“ (München 2004) und „Domestication of Media and Technology“ (hrsg. mit Thomas Berker, Yves Punie und Katie Ward, Maidenhead 2006). Andreas Hepp, Dr., ist Professor für Kommunikationswissenschaft am Fachbereich Kulturwissenschaften (Institut für Medien, Kommunikation und Information) der Universität Bremen (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Kommunikations- und Mediensoziologie, inter- bzw. transkulturelle Kommunikation, Medien- und Kommunikationstheorie, Cultural Studies, Medienwandel, Methoden qualitativer Medien- und Kommunikationsforschung sowie Medienrezeption/-aneignung. Buchveröffentlichungen u. a.: „Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus der Perspektive der Cultural Studies“ (Opladen 1998), „Cultural Studies und Medienanalyse“ (Wiesbaden 1999, 2004), „Netzwerke der Medien.
Über die Autorinnen und Autoren
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Medienkulturen und Globalisierung“ (Wiesbaden 2004) und „Transkulturelle Kommunikation“ (Konstanz 2006). Kurt Imhof, Dr., ist Professor für Publizistikwissenschaft und Soziologie und Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) an der Universität Zürich (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Öffentlichkeitsund Mediensoziologie, Soziologie sozialen Wandels, Öffentlichkeitstheorie und -geschichte sowie Minderheitensoziologie. Buchveröffentlichungen u. a.: „Integration und Medien“ (hrsg. zusammen mit Roger Blum und Otfried Jarren, Opladen 2002), „Mediengesellschaft“ (hrsg. zusammen mit Heinz Bonfadelli, Roger Blum und Otfried Jarren, Wiesbaden 2002) „Die Diskontinuität der Moderne. Zur Theorie des sozialen Wandels“ (Frankfurt a. M. 2006). Matthias Karmasin, Dr. Dr., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Kommunikationstheorie, Organisationskommunkation, Kulturtheorie und Medien, Medienethik, Wirtschaftsethik, Medienökonomie, Medienmanagement. Wichtige Buchveröffentlichungen u. a.: „Paradoxien der Medien. Über die Widersprüche technisch erzeugter Wirklichkeiten“ (Wien 2005), „Journalismus: Beruf ohne Moral? Von der Berufung zur Profession. Journalistisches Berufshandeln in Österreich“ (Wien 2005), „Politik und Medien – Medien und Politik“ (hrsg. mit Peter Filzmaier und Cornelia Klepp, Wien 2006), „Konvergenzmanagement und Medienwirtschaft“ (hrsg. mit Carsten Winter, München 2006). Elisabeth Klaus, Dr., ist Professorin und Leiterin des Fachbereichs Kommunikationswissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Kommunikationswissenschaft, Genre- und Unterhaltungsforschung, Gender Studies, Öffentlichkeitstheorien und Journalistik. Buchveröffentlichungen u. a.: „Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus“ (Münster 2005) und „Identitätsräume. Nation, Körper und Geschlecht in den Medien“ (hrsg. mit Brigitte Hipfl und Uta Scheer, Transcript 2004). Friedrich Krotz, Dr., ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation am Seminar für Medien und Kommunikation der Universität Erfurt (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Digitale und interaktive Medien, Medienwandel im Hinblick auf sozialen und kulturellen Wandel, interkulturelle Kommunikation, Methoden der Medienforschung. Buchveröffentlichungen u. a.: „Lebenswelten in der
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Über die Autorinnen und Autoren Bundesrepublik Deutschland“ (Opladen 1990), „Neue Theorien entwickeln“ (Köln 2005), „Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation“ (Wiesbaden 2007), „The Media Society and its Myths“ (hrsg. mit Patrick Rössler, Konstanz 2005) und „Globalisierung der Medienkommunikation“ (hrsg. mit Andreas Hepp und Carsten Winter, Wiesbaden 2005).
Margreth Lünenborg, Dr., Vertretungsprofessorin für Journalistik am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin (Deutschland), zuvor Gastprofessuren an den Universitäten Wien und Siegen. Forschungsschwerpunkte: Journalismusforschung, insbes. europäisch vergleichend, kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung, kulturorientierte Medienforschung. Buchveröffentlichungen u. a.: „Journalismus als kultureller Prozess“ (Wiesbaden 2005), „Tabubruch als Programm“ (zus. mit F. Herrmann, Opladen 2001), „Journalistinnen in Europa“ (Wiesbaden 1997). Stephan Müller-Doohm, Dr., ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Interaktions- und Kommunikationstheorien sowie Leiter der Adorno Forschungsstelle an der Universität Oldenburg (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Kultursoziologie, Medientheorie. Buchveröffentlichungen u. a.: „Adorno. Eine Biographie“ (Frankfurt a. M. 2003, übersetzt in 8 Sprachen), „Adorno-Portraits“ (hrsg. mit Reinhard Papst, Frankfurt a. M. 2007) und „Wozu Adorno?“ (hrsg. mit G. Kohler, Weilerswist 2007). Christoph Neuberger, Dr., ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Journalistik am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Journalismusforschung (Theorie, Qualität, Arbeitsmarkt und Qualifizierung), Internetforschung (Internetjournalismus, Aktivitäten von Presse und Rundfunk im Internet, Suchmaschinen, partizipative Formate). Buchveröffentlichungen u. a.: „Online - Die Zukunft der Zeitung?“ (hrsg. mit Jan Tonnemacher, Wiesbaden 2003), „Alte Medien – neue Medien“ (hrsg. mit Klaus Arnold, Wiesbaden 2005), „Das Internet“ (2007). Johannes Raabe, Dr., ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Kommunikationstheorie, Journalismusforschung, Journalismus- und Medienethik, Medienlehre. Buchveröffentlichungen u. a.: „Die Beobachtung journalistischer Akteure“
Über die Autorinnen und Autoren
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(Wiesbaden 2005) und „Presse in Deutschland“ (gemeinsam mit Heinz Pürer, Konstanz 2007). Beate Schneider, Dr., ist Professorin für organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Grundlagen der Medien am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik und Theater in Hannover (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: nationale und internationale Mediensysteme, Entwicklung der Medien und des Journalismus in der ehemaligen DDR, Medienangebote und deren Produktion. Buchveröffentlichungen u. a.: „Praxis des Zeitungsmanagements“ (mit Wiebke Möhring, München 2007) und „Europäische Pressemärkte“ (mit Walter J. Schütz, Wien 2004). Rudolf Stöber, Dr., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der OttoFriedrich-Universität Bamberg (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kommunikationsgeschichte, Politische Kommunikation, Propaganda, Öffentlichkeit. Buchveröffentlichungen u. a.: „Pressefreiheit und Verbandsinteresse“ (Berlin 1992), „Die erfolgverführte Nation“ (Stuttgart 1998), „Deutsche Pressegeschichte“ (Konstanz 2000, 2. Aufl. 2005), „Mediengeschichte. Die Evolution neuer Medien von Gutenberg bis Gates“ (Wiesbaden 2003) sowie Mitherausgeber des „Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte“ (Stuttgart). Franzisca Weder, Dr., ist Assistentin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt sowie Lektorin an der FH Wien, Studiengang Kommunikationswirtschaft (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Medienökonomie und -management, Wirtschafts- und Medienethik, PR/Öffentlichkeitsarbeit, Gesundheits- und Wissenschaftskommunikation. Buchveröffentlichungen u. a.: „Gesundheitsöffentlichkeit“ (Konstanz 2006) und „Medienselbstregulierung“ (Berlin, Wien 2006). Stephan Alexander Weichert, Dr., ist wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik sowie Publizist und Medienberater in Berlin (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Krisenkommunikation, Terrorismus und Medien, politische Kommunikation und Qualitätsjournalismus. Buchpublikationen u. a.: „Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen“ (Köln 2006), „Die Selbstbeobachtungsfalle. Grenzen und Grenzgänge des Medienjournalismus“ (hrsg. mit Michael Beuthner, Wiesbaden 2005), „Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September“ (hrsg.
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Über die Autorinnen und Autoren mit Michael Beuthner, Joachim Buttler, Sandra Fröhlich und Irene Neverla, Köln 2003).
Carsten Winter, Dr., ist Professor für Medien- und Musikmanagement am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kulturmanagement, Strategie, Konvergenzmanagement, Medienkulturgeschichte, Medien- und Kommunikationstheorie, Medienentwicklung. Buchveröffentlichungen u. a.: „Grundlagen des Medienmanagements“ (hrsg. mit Matthias Karmasin, München 1999, 2002), „Medienentwicklung und gesellschaftlicher Wandel“ (hrsg. mit Markus Behmer, Friedrich Krotz und Rudolf Stöber, Wiesbaden 2003), „Die Medienkulturgeschichte des christlichen Predigers von den Anfängen bis heute. Entstehung und Wandel eines Mediums in kommunikativ-kulturellen Vermittlungsprozessen“ (Graz 2006) und „Konvergenzmanagement und Medienwirtschaft“ (hrsg. mit Matthias Karmasin, München 2006). Andreas Ziemann, Dr., ist Juniorprofessor für Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Theorie der Gesellschaft, allgemeine Kommunikationstheorie, Soziologie des Raumes, Soziologie der Medien. Buchveröffentlichungen u. a.: „Grundkurs Kommunikationswissenschaft“ (zusammen mit Dieter Krallmann, München 2001) und „Soziologie der Medien“ (Bielefeld 2006). Oliver Zöllner, Dr., ist Professor für Medienmarketing und Medienforschung an der Hochschule der Medien Stuttgart (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Methoden der Markt- und Medienforschung, Public Relations, Public Diplomacy, internationale und interkulturelle Kommunikation. Buchveröffentlichungen u. a.: „Beyond Borders. Research for International Broadcasting“ (hrsg., Bonn 2004), „Targeting International Audiences. Current and Future Approaches to International Broadcasting Research“ (hrsg., Bonn 2005).
Index Agency 411-412 Akteur 20, 22, 59-60, 67-68, 71-78, 82, 84, 157, 160, 197, 204, 218, 254-255, 259, 262, 269-271, 299, 303-304, 314, 329-341, 345-346, 348-353, 357-358, 365-367, 369-371, 373-377, 428 Allokation 420, 430, 432-436 Alltag 15, 19, 23, 36, 43-44, 55, 60-61, 95, 107, 125-127, 160, 213, 218, 230, 232, 241, 253, 270, 273-274, 278, 280, 311, 313-315, 317, 319-321, 324-325, 332, 337, 367, 371-373, 376-377, 379, 387-388, 394-395, 402-406, 409, 411, 425, 430 Aneignung 14, 17, 23, 107, 113, 126-127, 132, 251, 274, 276, 279, 294, 296, 304, 363, 366, 371, 375-377, 379, 383-384, 387, 393-396, 401-405, 408-409, 411-414, 429 Arena 16, 68, 70-71, 73-74, 76-77, 80-81, 345, 351 Artikulation 17, 97, 109, 117, 123, 126, 128, 130-131, 255, 279, 395, 404, 406-407, 412-414, 429-430 Aufklärung 16-17, 43, 54, 60-61, 65-66, 69, 74, 77-78, 82, 242
Authentizität 51, 55, 76, 129, 287, 313, 324 Autopoiesis 155, 160, 163, 331-332, 334-335 Basistheorie 9-11, 173, 188, 219-220, 223, 237, 239, 243, 384, 396 Bedeutung 11, 17, 19, 21-22, 29-30, 32-35, 40-41, 44, 57, 94-95, 97-99, 116-119, 124, 127, 130-131, 133, 146, 194, 197, 199, 212, 222, 242, 271-273, 275-281, 286, 296, 298, 315, 317, 319, 321, 325, 335, 338, 349, 354, 366, 368-369, 374, 376, 384, 387, 395, 397, 406, 411 Bedürfnis 32, 53-55, 79, 203, 218, 293, 301, 315, 359, 384-385, 387, 396, 401, 405 Bewusstsein 16-17, 35, 38, 41, 49-50, 55, 133, 143, 160, 197, 272, 279, 296, 313, 324, 332, 350, 365, 392, 431, 441 Beziehung 36, 44, 119-120, 122, 133, 141, 149, 195-202, 204-205, 262, 298, 313, 339, 347, 356, 364, 367, 373, 387, 404, 422, 436 Bild 130, 142, 150-151, 269, 273, 323, 357, 397, 410 Blog 260-262, 264, 280, 354, 357, 375
454 Bürger 49-51, 56-62, 65-67, 69, 71-72, 75-76, 79, 83, 141, 200, 202, 206, 244, 297-298, 301, 305, 434 Computer 30, 42-43, 150-151, 204, 368, 441 Cultural Citizenship 21, 275-276, 292, 297-300, 304-305 Cultural Studies 20, 23, 36, 113-116, 118, 125, 130, 215, 230, 232, 238, 270, 272-274, 276, 297, 305, 312, 317-319, 321, 363, 375, 378, 383, 385, 387, 395, 397, 402, 409, 411, 414, 425-427, 431, 434, 441 Dekonstruktion 96-98, 279 Demokratie 16, 44, 56, 58, 60-62, 66, 72, 81, 83, 91, 187, 269, 428, 440 Deterritorialisierung 128, 303, 420 Dialog 40, 44, 120, 122, 280 Differenzierung 18-19, 22, 42-43, 71, 74-75, 77-82, 84, 122-123, 152, 157-158, 163-166, 176-181, 183-185, 188, 197, 203, 229, 238, 281, 283, 331, 333-335, 338, 351, 357, 389, 422, 424, 433 Diffusion 150, 152 Diskurs 40, 58-59, 62, 67, 92-93, 96-99, 109, 116, 118-119, 126-130, 133, 167, 211-215, 217, 223, 234, 239-240, 243, 255, 261, 271, 277, 279-282, 287, 292, 294-295, 297-298, 300, 302-303, 321, 324-325, 350-351, 355-356, 363, 365, 368, 386, 441 Doing Gender 95-96, 105-107
Index Doing 366-367, 374, 397 Dokumentation 115, 150, 277, 282-283 Domestizierung 23, 401-414 Drama 277, 282-283, 394 Druck 259 Dualität 347, 359 Dynamik 57, 68, 77-78, 144, 179, 346, 348, 353, 407, 424 Einheitsperspektive 174-175, 186 Emergenz 143-144, 151, 370 Empirie 12-13, 15, 30, 35, 42-43, 49-50, 52-53, 61, 93, 100, 132, 193-196, 198, 200, 204-206, 213, 218, 220, 229-231, 233, 236-239, 253-254, 256, 261-262, 264, 271-273, 292, 296, 300, 302, 305, 319-320, 332-333, 337, 340, 357, 364, 372, 376, 378, 389, 393, 397, 403, 406-407, 411, 413, 418-420, 422-426, 428, 430, 432, 434-436, 438, 440-441 Entdifferenzierung 22, 84, 283-284, 286-287, 334-335, 341 Entfremdung 50, 196, 202 Entgrenzung 108, 215, 283-284 Erfahrung 35, 38-39, 44, 53-54, 58, 93-94, 100, 115, 213, 229, 251, 278, 282, 313, 319, 322, 325, 352, 366, 372, 376, 386, 391, 395, 406, 417, 420 Erkenntnis 19, 44, 82, 92-94, 99-100, 108, 140, 159-160, 168, 201, 206-207, 211-212, 216, 221-223, 229-231, 233-238, 240-242, 244, 269, 279, 296, 321,
Index 354-355, 372-374, 377, 379, 410, 426-427, 430, 432, 434 Ethik 223, 238, 240-241 Evolution 17, 139-147, 149, 151-155, 162, 165, 168, 178, 188, 333, 439-440 Fernsehen 21, 23, 40, 42, 55, 59, 101, 117, 127, 150-151, 154, 161, 177-178, 196, 198, 202-204, 206, 216, 251, 276, 280, 283-285, 291-294, 302, 311-312, 314-315, 317-325, 330, 375, 397, 420, 426-429, 438 Film 55, 101, 116, 125, 127, 150-151, 153, 216, 230, 251, 282, 297, 326 Fluss 16, 67-68, 70-74, 116, 155, 199, 324, 350 Formation 97-98, 116, 118-119, 126-129, 275, 424 Funktionalismus 83, 132, 217-218, 390 Funktionssystem 18, 161-165, 167-169, 173-186, 188-189, 252, 254, 256-257, 259, 291, 352, 375 Gatekeeper 257-259, 261 Gattung 51, 53, 140-141, 150, 153, 161, 274, 277-282 Gemeinschaft 33, 35, 128, 206, 275, 298, 300, 303, 313, 316-317, 320, 322, 325, 387, 435 Gender 11, 94-96, 98, 101, 103-108, 232, 279, 365, 404, 407, 409 Genderforschung 91, 94, 101-102, 105, 107-108
455 Genre 153, 270, 276-287, 324, 397, 406 Gesellschaft 9, 14-23, 29, 31, 43-44, 49, 51, 54, 56-58, 65-66, 68-70, 72, 74, 76-78, 83, 103, 105, 107-108, 115, 122-123, 130, 133-134, 141, 150, 158, 160-163, 165, 167-170, 175, 177-183, 186-188, 200, 203, 235, 243, 251-256, 259, 264, 269-275, 278-283, 286-287, 291-292, 294, 296-300, 303-305, 311-318, 320-325, 329-334, 336-337, 339-340, 345-348, 350-354, 357, 359, 364, 368, 372-376, 378, 384, 394, 417-424, 426-428, 430-441 Gesellschaftstheorie 31, 49-50, 54, 157-159, 162, 166, 188 Gespräch 38, 40, 42, 119-120, 215, 244 Globalisierung 13, 17, 43, 81, 99, 123, 127, 130, 141, 166, 303, 306, 420-421, 423, 426-427, 431, 434 Habitus 277, 365-366, 371, 392 Handeln 29-35, 37-40, 43-45, 58, 62, 95, 98, 103, 105, 107, 117, 119, 139, 143, 154, 157, 160, 162, 167, 197-198, 221, 239, 253-254, 257, 270-271, 275, 280-281, 283, 315, 320, 332, 335-337, 339-340, 348-359, 364-374, 376-377, 379, 383, 385-397, 422, 427, 440 Handlung 16, 22-24, 31, 33, 35, 37-38, 44, 58, 65, 67, 69, 71, 73, 76-77, 94, 96, 120, 129, 139,
456 146, 160-161, 167, 182, 197, 240, 254, 275, 278, 280, 282, 284, 286, 294, 302, 313, 315-316, 325, 329-331, 333-341, 347-352, 354-359, 363-371, 373-379, 383-397, 406, 411-412, 421-422, 428, 430, 432-433, 436, 440-441 Handlungstheorie 9-10, 14, 16, 21-23, 29-37, 42, 139, 160, 220, 347, 354, 364, 383 Haushalt 278, 314, 403-410 Hegemonie 36, 93, 98-99, 295, 298, 431, 435 Holismus 57, 364 Hörfunk 53, 147, 150, 177-178, 280, 375 Hybridisierung 17, 97, 128-130, 185-186, 262, 276, 283, 286-287, 298, 304 Identifikation 17, 105-106, 123, 126-127, 129-130, 132, 178, 253-254, 281, 304, 332 Identität 29, 35, 38, 44, 66, 69, 72, 95, 97-99, 105, 107, 126, 129-130, 177, 180, 182, 214, 229, 242, 291, 294-300, 302-304, 306, 313, 315-316, 318, 338-340, 372, 387, 427 Ideologie 49-51, 55-56, 66, 93, 223, 297, 300, 318, 396, 406, 426 Individualisierung 13, 42, 116, 402, 434 Individualismus 200, 217, 340, 364 Information 9, 29, 32, 34, 44, 55, 60, 79, 101, 107, 117, 124, 132, 159, 161, 164-165, 167,
Index 177-178, 185, 197-199, 203-205, 212, 215-217, 219, 223, 243, 255, 259-261, 263, 269, 274-275, 284, 286, 311, 318, 324-325, 334, 340, 345, 353, 355, 357, 374-376, 401, 403-404, 420, 432, 438, 440-441 Innovation 17, 139-140, 149-152, 154, 243 Institution 19, 22, 29, 50, 53, 56, 58-59, 62, 65, 71, 74, 77, 80-81, 96, 98-99, 101, 105, 107, 118, 124, 149, 166, 180, 196, 202, 206, 214, 216, 229, 241, 244, 254, 278, 281, 296, 315, 330-331, 333, 335-337, 339-341, 345-346, 348, 351-354, 366, 379, 426 Institutionalisierung 145, 149, 151-152, 161, 166, 216, 254, 258, 329-331, 352, 355 Integration 51, 66, 69, 72, 78, 80-81, 130, 159, 162-163, 165, 167, 179-180, 194, 202, 214, 231-232, 237, 284, 291-300, 302-305, 311, 314, 317, 319, 322, 331, 355, 359, 378, 405, 422-423, 425, 428, 433-435 Interaktion 34-36, 38, 74, 95-96, 119-123, 128, 133, 141, 145, 165, 176-178, 186, 188, 197, 206, 215, 220-221, 252, 278-279, 281, 297-298, 332, 338-340, 352-353, 356, 367, 369, 379, 383, 385, 393, 395, 397, 420-422, 440 Interdisziplinärität 19, 49, 193, 222, 231, 326
Index Internet 42-43, 59, 107, 127, 133, 148-149, 154, 161, 177-178, 198, 204-206, 253-254, 256-264, 357, 375, 407, 409, 417, 420 Interpersonale Kommunikation 43, 119-120, 122, 133, 178, 204, 215, 220, 279, 313, 375, 402 Journalismus 9, 17-18, 20-21, 80, 84, 102-108, 158, 168, 173-177, 179, 182-187, 231, 251-255, 258-261, 264, 269-277, 283-284, 286-287, 291, 325, 330, 334-335, 341, 346, 351-353, 359, 376-377 Journalismusforschung 17, 20, 177, 230, 251-252, 257, 263, 269-272, 274-277, 282-284, 372 Kapital 19, 67, 81, 193-207, 345 Kapitalismus 49-50, 232, 417 Katastrophe 311-312, 314, 321-323 Klassifikationssystem 116, 118-119, 126-128 Kode 164-166, 174-175, 177-179, 182-183, 186, 252, 254, 341, 356, 368-369, 379, 409, 423 Kommerzialisierung 51, 230, 233, 418, 435-436 Kommunikationsbegriff 11, 29, 32-34, 37, 39-40, 42, 117-121, 145-146, 157, 159-160, 168, 178, 212, 214-215, 217, 230-231, 394 Kommunikationsfluss 16, 67-68, 70-71, 73-74 Kommunikationsmodell 29, 37 Kommunikationstheorie 11, 13, 17-18, 22, 37, 157-158, 160, 168,
457 211, 214-215, 223, 242, 351, 363-364, 377, 427 Komplexität 18, 43, 108, 143, 161-162, 165, 168-169, 180-181, 184, 261, 305, 316, 332, 403, 411, 413, 420, 422, 428-431, 434, 437-438 Konflikt 17, 68, 71, 98, 116, 118, 133, 158, 294, 311, 314, 316, 322, 337, 379, 406, 410 Konnektivität 17, 114, 119-123, 127, 130-131, 133, 432, 435-436 Konstruktion 32, 60, 83, 92, 94-97, 99, 105-108, 183-185, 187, 221-223, 234, 279, 298-299, 302, 312, 318, 372-373, 384, 387, 393, 396 Konstruktivismus 10, 96, 101-102, 105-106, 132, 219, 221-222, 234, 278, 372 Konsum 51, 53-55, 61, 75-76, 79, 126, 198, 203, 205, 220, 346, 367, 405-406, 414, 425, 429, 431, 435-436 Kontext 11, 17-18, 20, 23, 33, 36, 62, 100, 107, 114, 116, 118, 120, 122, 130, 241, 257, 264, 270-272, 274-276, 278-281, 284, 286, 298, 313, 315, 320, 339, 345, 349-350, 354, 357, 363, 369, 371, 374, 376, 386-387, 392-393, 395, 401-402, 404, 406, 409, 411, 413, 417-418, 420-424, 426-438, 440-441 Kontingenz 143-144, 162, 165, 169, 180, 184, 254, 332, 349, 366, 370, 411, 424, 426, 431, 440
458 Konvergenz 79, 145-147, 149, 152, 329, 346, 386, 389, 396-397, 402, 437-438 Kreativität 22-23, 243, 363, 366, 370, 383-397 Krise 21, 49, 60, 67-68, 75, 77, 186, 218, 233-234, 236, 311-312, 314, 316, 321-326 Kritik 49, 51, 54-57, 59-60, 62, 66, 68, 70, 92-93, 95-101, 103, 116, 132, 196, 230, 232, 234-235, 241, 244, 252, 255, 259, 270, 277, 296, 315, 347, 357-358, 368, 372, 377, 384-385, 387, 390, 395-396, 410-411, 418, 423-427, 431, 435 Kritische Theorie 14, 52, 54, 215, 238 Kritischer Rationalismus 231, 233, 238, 244 Kultivation 81, 198, 203, 412 Kulturbedeutung 116 Kulturbegriff 115-116, 118, 125, 127-131, 133, 157, 216, 270, 272-274, 378 Kulturindustrie 16, 49, 54-57, 60-61, 66, 78, 419, 425-426 Kulturmarkt 51 Kulturtheorie 9, 14-15, 17, 113-114, 129-132, 319, 326, 364-365, 368, 425 Kunst 51, 55, 62, 76-77, 115, 147, 155, 196, 273, 419, 439 Lebenswelt 16, 57-59, 62, 220, 278, 313, 325, 376, 424, 426-427, 430-431, 434, 440
Index Leistungssystem 18, 174-175, 181-188, 252, 353 Macht 16, 56-58, 69-72, 76, 83, 93, 97-98, 100, 103, 108, 126-127, 132-133, 140, 161, 163, 187, 195, 203, 259, 274, 277, 279, 294-295, 298, 301-302, 304, 330, 339, 352-355, 387, 411 Makroebene 188, 221, 304-305, 330, 379 Management 347, 351-352, 355-356, 358, 420, 427, 431, 434, 436-437 Manipulation 54-55, 57, 263 Massenkultur 49-50, 52, 54, 56, 216, 419, 425, 439 Massenmedien 17-20, 43, 52, 56, 60, 101, 107, 125, 158, 161, 167-169, 173-174, 176-179, 185-186, 202-203, 223, 251-253, 255-258, 260-261, 271, 279, 312-313, 316, 318, 320-321, 329, 334, 419, 422, 425 Materialismus 10, 14, 16-17, 234, 395, 428 Materialität 366-367, 404, 406, 413 Mediatisierung 13, 16, 30, 42-43, 68, 78, 80-82, 124, 158, 167, 313, 321, 326, 341, 402, 413 Medienangebot 256, 281, 284, 287, 298-299, 318, 334, 363, 375-376, 392-393 Medienbegriff 124, 154, 329-330, 419 Medienentwicklung 139, 152, 252, 417-418, 426, 428-430, 433-434, 436, 438
Index Medienereignis 21, 311, 313-315, 318-322, 324-326 Mediengesellschaft 9, 20-22, 167-168, 231, 269-270, 275, 291-292, 297, 299, 345 Medienkommunikation 9, 17, 21, 24, 113-114, 119, 123-124, 127, 130-131, 278, 283-284, 303, 313, 316-317, 320, 326, 334, 388 Medienkultur 17, 114-116, 118, 123-133, 318-319, 376-377 Medientheorie 11-12, 14, 16, 18, 20, 49, 54, 60, 101, 108, 113, 161, 188, 264, 420-421, 425 Medium 32, 43, 52, 58, 61-62, 70, 80, 122, 124, 133, 150-154, 164-165, 174-175, 180-183, 187, 251, 271, 274, 284, 298, 315, 324, 329-330, 348-349, 404-406, 418-420, 422, 428, 438-439 Mediumstheorie 122-123 Mesoebene 187-188, 193, 221, 304-305, 330, 346, 352 Metaprozess 30, 43, 313, 326 Methode 19, 34, 93, 166, 213, 229-233, 235, 237-239, 242-243, 271, 305, 374, 379, 386-387, 396-397, 407, 409 Methodologie 158, 213, 236-238, 315, 365 Migration 50, 81-82, 99, 291, 295, 298, 305 Mikroebene 188, 220-221, 304, 330, 379 Mobilkommunikation 42-43, 120, 368, 417
459 Moderne 16, 62, 65-66, 68-70, 74, 76-78, 80, 82-83, 122-123, 125, 144, 162-164, 166-169, 179-180, 187, 216, 234, 244, 256, 271, 274, 298, 311-313, 315, 319-321, 326, 332, 369, 427 Monolog 120, 122 Motiv 31-32, 161, 184-185, 197, 206, 275, 294, 296, 359, 369-370, 385-386, 388, 392 Multikulturalismus 297, 315 Musik 50-54, 61, 147, 293, 304 Netzwerk 16-17, 20, 59, 70, 73-74, 79, 101, 123, 134, 187, 195-196, 199-201, 203-206, 261, 263, 274, 345, 351, 359, 407-408, 418, 420-421, 434, 437-438 Netzwerktheorie 199 Nutzung 32, 43, 79, 81-82, 166, 187, 194, 198, 205-206, 215, 257, 279, 294, 297, 305, 313, 320, 325, 329-330, 376-377, 383-385, 387, 393, 401-405, 407-409, 412-414, 421, 427-429, 432-434, 437, 441 Öffentliche Kommunikation 60, 66-71, 73-77, 79-80, 82-83, 119, 174-175, 179-188, 214-215, 230-232, 238, 251-252, 254, 256-258, 260-261, 264, 320, 329, 334, 351, 358, 364, 375, 417-428, 430-434, 436-438, 440 Öffentliche Meinung 59, 62, 67, 159, 176-177, 187, 255, 296 Öffentlichkeit 15-18, 20, 22, 49, 56-60, 62, 65-75, 77-78, 81-83, 107, 151, 174, 179-183, 185-186, 188, 196, 234, 252, 255-259,
460 261-264, 269, 292, 294-296, 303, 345-346, 351-354, 357, 375, 422, 425-426, 428, 437-440 Ordnung 10, 49, 65, 81-82, 95, 97-98, 104, 117-118, 124, 143, 153, 158, 161-163, 166-167, 178, 240, 242, 254, 302-304, 313, 315-317, 319, 324-325, 330, 336-337, 339, 341, 346, 349, 352, 354, 356, 364, 368, 370, 378-379, 397 Organisationskommunikation 73, 231, 351-352, 356, 375 Organisationssystem 189 Orientierung 31, 79, 93, 116, 118, 120, 127, 133, 146, 157, 163-164, 202, 206, 213, 236, 239, 244, 254-255, 260, 263, 280-281, 296, 311-314, 330, 332, 334, 338-341, 345-346, 348, 351, 353, 365, 376-378, 387-388, 392, 418-421, 424, 426, 429, 435, 438, 440 Partizipation 21, 49, 58, 61, 69, 72-73, 81, 198, 200, 202-203, 206, 239, 258-259, 262-263, 270, 275, 286, 291, 294, 296, 303, 319, 324, 418, 430, 432 Performativität 98, 286, 395, 397, 428 Politik 9, 22, 44, 57-58, 61-62, 65-67, 69, 71-73, 75-82, 95, 99, 103, 139-140, 144, 169, 175-178, 181, 196, 202-203, 218, 244, 255, 269, 271, 275, 277, 283, 287, 291, 293, 296-297, 300-301, 304-305, 312, 314, 316, 321, 330,
Index 332-335, 345-346, 355, 368, 376, 386, 408, 421, 424-425, 427, 434, 438-439, 441 Polysemie 387 Populärkultur 51, 119, 216-218, 273-274 Postmoderne 66, 93-94, 99-102, 109, 168, 234, 244, 345 Poststrukturalismus 93-97, 100-102, 108-109 Pragmatismus 211, 214, 231, 234, 280, 365, 386-388, 390-391, 393-395 Praktik 96, 126, 129, 132, 270, 274-275, 317, 348, 351, 354, 363-371, 374-379, 384, 429, 431, 435, 441 Praxeologie 197, 236, 363, 371, 373, 376 Praxis 21-23, 41, 59, 62, 68-69, 94, 96, 102, 117, 119, 164, 254, 274, 353, 363-379, 384, 386, 389, 393-395, 397, 404, 441 Praxistheorie 363-372, 374-378, 383-384, 387, 395-396 Presse 57, 59, 69, 147-148, 150-151, 154, 161, 176, 252, 255, 258-259, 261, 271-273, 283-284, 286, 293, 354, 375, 424, 433 Print74, 124, 147, 149-151, 177-178 Produktion 14, 17, 21, 42, 50-51, 55, 92, 99, 101, 105-106, 117, 124-126, 132, 184, 187, 197, 220, 255, 262, 270, 273, 275-277, 279, 281-282, 284, 286, 294, 298-299, 304, 318, 321, 323-324,
Index 345, 349, 355, 374-377, 379, 384, 387, 420-421, 428-437, 441 Programm 133, 164-166, 177, 179, 182, 203, 277, 283, 286, 292-295, 302, 305, 318, 320, 324-325, 378, 406 Propaganda 270, 283, 287, 301 Public Relations 18, 75, 158, 168, 173-175, 177, 179, 182-189, 255-257, 263, 270, 283, 287, 335, 341, 352, 355-356, 358, 376 Publikum 53, 56-57, 59-62, 74-76, 79-80, 105, 133, 148, 150, 177, 181, 185, 196, 203, 255, 258, 263, 270-272, 274-275, 277, 280-282, 284, 286-287, 298, 311, 314, 318, 320-323, 325, 341, 346, 383-385, 425, 431, 439, 441 Radio 23, 43, 51-54, 61, 107, 125, 127, 151, 438 Rationalität 49, 56, 60, 66, 69, 94, 139, 147, 162, 165, 233, 255, 331, 337-338, 369, 385-386, 388-391, 393, 395, 397, 418-420, 424, 427, 432, 438-439 Recht 58, 62, 65-71, 73, 75, 81, 177-178, 181, 196 Reflexivität 77, 252, 354, 356-357, 374, 379, 385-386 Regel 58, 60, 133, 139, 141, 143-145, 148-149, 154, 159, 165, 197, 234, 236-240, 242-243, 260-261, 269, 277-278, 280, 313, 320, 322, 329-330, 335-336, 340-341, 348-350, 352-356, 366, 369-370, 376, 388-390
461 Regulation 17, 78-79, 126, 132-133, 259, 281, 354 Religion 76-77, 123, 269, 320, 438 Repräsentation 17, 99, 118, 126-127, 132, 255, 277, 316, 320, 322, 427, 440 Reproduktion 50-51, 69, 81, 96, 106, 153, 159, 162, 165-166, 168-169, 197, 200, 234, 332-333, 339, 345, 347, 349-352, 354, 370-371, 429, 439 Ressource 62, 127, 129-130, 140, 143, 152, 195-197, 205, 231, 234, 236, 241, 251, 275, 337-340, 348-350, 352-355, 392, 394 Revolution 57, 66, 72, 147-148, 151, 259, 321, 423-424 Rezeption 9, 14, 21, 23, 36, 40-41, 43, 50-51, 54, 80, 102, 106, 113, 117, 203, 205, 220, 270, 274-277, 279-281, 284, 286, 294, 298-299, 304, 325, 363-364, 374-377, 383-384, 386-389, 391-397, 401, 403, 406, 413, 426, 431, 434-435, 441 Ritual 21, 70, 274, 297, 311-326, 375, 397, 405-406 Rolle 20, 31, 38-40, 60, 74-75, 80, 105-106, 181-182, 185, 253, 255-257, 263-264, 277, 286, 291, 294, 298, 301, 311, 315, 317, 320, 322-323, 325, 332, 334, 340, 346, 356-357, 369, 384, 393, 397, 402, 404, 407, 409, 418-419, 421, 423, 427, 433, 438 Routine 67, 70-71, 96, 102, 105-106, 179-180, 312-313,
462 320-321, 325, 339, 350, 371, 379, 387-388, 391, 393, 405 Rundfunk 52-53, 55, 59, 61, 147, 150-151, 252, 255, 258-259, 261, 293 Rundfunkpolitik 330 Selbstbewusstsein 35, 38, 41, 203 Selektion 68, 79-80, 155, 159, 165, 176, 178, 187, 243, 256, 260-263, 281, 320, 346, 353, 375, 389-392, 423-424, 426, 432, 440 Semiotik 10, 117, 213, 215, 218-221, 223 Sinn 11, 21, 29-30, 33-36, 54, 58, 83, 117-118, 160-162, 178, 251-253, 264, 276-278, 286, 311, 313-315, 318-320, 322, 324, 331-333, 337, 341, 349, 352-354, 356, 366, 368-371, 376, 378-379, 385, 387, 406, 438, 440 Situation 29, 32, 38, 41, 53, 95, 101, 105-106, 159, 161-162, 164-165, 243, 254, 264, 293-294, 298, 311, 314, 321-322, 324-325, 332, 336, 339-341, 350, 352, 367, 369-370, 375-376, 379, 384, 386-391, 393, 397, 434 Status 62, 173, 177, 179, 279, 287, 304, 337, 339, 372, 377 Struktur 11-12, 15-16, 20-22, 31, 35, 38, 41, 50, 57, 66, 74, 96, 99, 104, 124, 126-127, 147, 158-166, 168, 178-181, 185, 188, 198-199, 201-202, 205, 217-220, 232, 238, 252-254, 260, 262-263, 274, 276-278, 280-282, 284, 312,
Index 314-316, 318-319, 321-324, 329-333, 336-337, 340-341, 345-359, 363-368, 370, 376-377, 379, 387, 393, 406, 411, 417, 419, 421-424, 426-427, 429, 431, 435-436, 440-441 Strukturalismus 36, 219-220, 222, 274, 395 Strukturationstheorie 339, 345-348, 351, 354-359, 365 Strukturwandel 17, 56-57, 68, 73, 75, 77-78, 80, 82, 84, 345, 350, 352, 356, 422, 424-426, 440 Subjekt 51, 55, 57, 93-95, 97-100, 104-105, 107, 126, 130, 261, 269-270, 272-273, 278, 280-281, 312-313, 324, 339, 347-348, 358, 367, 369, 371-372, 376, 379, 392 Symbolischer Interaktionismus 10, 16, 29-30, 33, 35, 37, 42, 211, 215, 220-221, 369, 385, 387, 396-397 System 16-18, 22, 29, 31, 54-55, 60, 65-68, 70-71, 73-76, 79-80, 83-84, 96-98, 104-106, 108, 118, 120, 124, 126, 133, 144-149, 153, 157, 159, 161-165, 167-169, 173-182, 184-188, 197, 200, 251-252, 270-271, 274, 280, 286, 299, 317, 331-332, 334, 345-349, 351-354, 356, 358, 364, 367-370, 372, 375, 378, 393, 412, 417-419, 421-422, 424, 439-440 Systemintegration 162, 163, 168 Systemtheorie 10, 14-15, 18, 22, 31, 83, 114, 155, 157-159, 162, 167-168, 173-174, 185, 188, 219,
Index 222, 254, 269-270, 272, 329, 331, 333, 335-336, 341, 346, 372, 421 Tausch 31, 57, 61, 196-197, 201, 420, 424 Technologie 106-107, 167, 177, 230, 401, 403-407, 412, 414, 425, 428, 432-433, 435, 438, 441 Teilsystem 73-74, 76-77, 80, 167, 175, 179, 184, 189, 252-254, 269, 329-334, 336, 340-341, 345-346, 351-354 Telefon 42, 119-120, 150-151 Telegrafie 150-151 Territorialität 65-66, 69, 71, 79, 83, 127-129, 131 Territorium 128-130 Text 36, 53, 125-126, 149, 223, 269-270, 273-277, 279-282, 284, 286, 298-299, 368, 386-387, 394, 402, 412, 414 Theoriediskurs 19, 166, 211 Theorietransfer 193-195, 197-198, 205 Transaktion 199, 406, 435 Transdisziplinärität 114, 215, 271 Transformation 53, 56, 92, 117, 147, 161, 314, 316 Translokalität 114, 120-125, 127-131, 134, 303 Umwelt 14, 140-141, 143-144, 146, 151, 153, 165, 169, 174-175, 177, 179, 184-185, 189, 198, 201, 203-205, 241, 333, 337-338, 340, 351-353, 356 Unterhaltung 18, 51-53, 55, 60, 107, 174, 177, 179, 182-187, 189,
463 198, 202-203, 205-206, 233, 269, 283, 295-297, 318, 334, 376 Utilitarismus 369, 386, 389-390, 393, 397 Vergemeinschaftung 123, 162, 315 Vergesellschaftung 41, 57, 146, 167, 313 Vernetzung 22, 134, 180, 193, 261, 263, 351, 370, 417 Verstehen 32-33, 38-39, 41, 104-105, 159-161, 168, 281, 364, 370-371, 375, 404 Wahrnehmung 31, 38, 58, 67, 69, 169, 211, 275, 301, 321, 332-333, 335-336, 338, 340-341, 349, 372-373, 376, 379, 387-388, 393, 406, 418-421, 427, 429, 431-434, 437-438 Wandel 9, 11, 14-17, 23, 30, 43-44, 51, 67, 69, 77, 79, 114-115, 122-123, 125, 131-132, 139, 141-142, 151-153, 158, 251, 258, 264, 275, 277-278, 283, 297, 313, 326, 346, 364, 368-370, 375, 377, 384, 393, 396, 410, 417-424, 426-429, 431-434, 436, 438-441 Weblog 256, 260-262, 264, 270 Weltgesellschaft 158, 162-163, 165-169, 181, 315 Weltsicht 44, 203, 235, 239, 318, 377 Werbung 18, 32, 147, 168, 174-175, 177, 179, 182-189, 255-257, 357, 375-376 Widerstand 387-388, 391, 393, 411, 413
464 Wirtschaft 44, 49, 58, 75-80, 82, 103, 119, 165, 169, 175, 177-178, 181-182, 188-189, 222, 255, 269, 287, 291, 298, 304, 345, 417-420, 422, 427 Wissen 83, 92-93, 97, 99-100, 108, 118, 127, 213, 232, 236-238, 242-243, 277-278, 282, 293, 296, 302, 338, 350, 357, 359, 363, 365-366, 368-374, 376, 378-379, 418-421, 438-439 Wissenschaft 33, 44, 76-77, 108, 139, 166, 169, 175, 181, 193, 196, 212, 214, 217-218, 223, 231, 233-236, 241-243, 251-254, 259, 261, 269-273, 278, 282, 293-294, 304-305, 314-315, 317, 319, 326, 329-331, 334-335, 337, 340-341, 345-347, 355, 357, 363-365, 369, 372-379, 383-384, 389, 393, 402, 404, 408, 418-421, 424, 431, 434, 439, 441
Index Zeichen 29, 34, 39, 41, 50, 124, 133, 146, 220-221 Zeitschrift 116, 124, 147-148, 216, 277, 326, 419 Zeitung 43, 55, 124, 147-148, 187, 202-203, 212, 214-216, 218, 221, 230-231, 242, 251-252, 262, 270-272, 292, 294, 305-306, 437 Zivilgesellschaft 58, 60, 67, 70, 73, 75-78, 83, 206 Zugang 67, 69, 81-82, 148, 252, 256-261, 332, 334, 364, 378, 396-397, 422, 439 Zugehörigkeit 21, 75, 82, 108, 195, 253, 278, 291, 294, 297-298, 300, 302, 304, 325, 376, 435