Susumu Shikano · Joachim Behnke · Thomas Bräuninger (Hrsg.) Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie
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Susumu Shikano · Joachim Behnke · Thomas Bräuninger (Hrsg.) Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie
Susumu Shikano · Joachim Behnke Thomas Bräuninger (Hrsg.)
Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie Band 5: Theorien der Verfassungsreform
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16523-3
Inhalt
Susumu Shikano, Joachim Behnke, Thomas Bräuninger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Nathalie Behnke Agenda-Setting für Verfassungsreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Astrid Lorenz, Wenke Seemann Verfassungspolitische Konjunkturzyklen? Überlegungen zur Wirkungsweise konstitutioneller Rigidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Dietmar Braun Verfassungsänderung trotz vieler Veto-Spieler: Föderalismusreform in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Katja Heeß, Christoph Hönnige Risiken und Nebenwirkungen von Vetospielerreferenden – Warum Chirac das Verfassungsreferendum verloren hat . . . . . . . . . . 119 Matthias Lehnert, Eric Linhart Der Einfluss der Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuss auf die deutsche Gesetzgebung . . . . . . . . . . . .149 Eric Linhart Ämterschacher oder Politikmotivation? Koalitionsbildungen in Deutschland unter gleichzeitiger Berücksichtigung von zweierlei Motivationen der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Claudia Landwehr Woher wissen wir, was wir wollen? Möglichkeiten und Grenzen der Rationalisierung von Präferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
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Joscha Legewie, Arno Simons Zur Rationalität von Selbstmordattentätern. Kritische Überlegungen zur Anwendung von Rational-Choice Theorien . . . . 245 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
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Editorial Susumu Shikano, Joachim Behnke, Thomas Bräuninger
Verfassungen enthalten die grundlegenden Bestimmungen über die Organisation, Funktionsweise und Aufgaben der Staatsgewalt sowie die Rechtsstellung des Einzelnen. Sie sind damit das wichtigste institutionelle Fundament eines Staates, da hier die Grundsätze und Grundlagen des politischen Handelns innerhalb des Staates sowie des Staates selbst als handelnder Akteur festgelegt sind. Die Verfassung regelt nicht nur die Art und Weise politischen Handelns (Ausübung politischer Macht) oder die des politischorientierten Handelns (Beeinflussung politischer Macht); sie stellt darüber hinaus eine Metaregel dar, unter Beachtung derselben die Bildung von Regeln für das politische Handeln überhaupt erst zu erfolgen hat. Eine langfristig stabile Verfassung dient daher dazu, sowohl die inhaltlichen als auch die institutionellen Spielräume der Akteure aufzuzeigen und erleichtert so die Antizipationsbildung von politischen Akteuren. Die Berechenbarkeit politischen Handelns wiederum fördert die Koordination und Kooperation zwischen den beteiligten politischen Akteuren. Kontinuität und Stabilität der Spielregeln stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis mit einer sich wandelnden sozialen und ökonomischen Umwelt und einem veränderten politischen Kräfteverhältnis. Entsprechend steht die Reform von Verfassungen im Spannungsverhältnis eines daraus folgenden Wunsches einzelner Akteure nach einer Modifikation der Spielregeln und dem allgemeinen Bestreben, mit der Stabilität der Verfassung die Berechenbarkeit politischen Handelns zu erhalten. Diese Reform von Verfassungen bzw. Theorien darüber, wie dieser Prozess abläuft, stellen den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes dar. Als solche theorie-orientierten Untersuchungen der Verfassungsreform konnten wir für diesen Band vier Beiträge gewinnen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema beschäftigen. Im ersten Beitrag geht Nathalie Behnke der Frage nach, welche Akteure unter welchen Umständen und auf welche Weise eine Verfassungsreform initiieren. Diesen AgendaSetting-Prozess der Verfassungsreform modelliert die Autorin in Anlehnung
an die Idee eines „Policy-Windows”, deren Anwendung auf die deutsche Föderalismusreform auf überzeugender Weise dargestellt wird. Zudem dient dieser Beitrag durch seine Darstellung der begrifflichen Grundlagen von Verfassungen und Verfassungsreformen (Abschnitt 2 und 3) als Einführung in den Schwerpunkt dieses Bandes. Astrid Lorenz und Wenke Seemann stellen in ihrem Beitrag eine weit verbreitete Hypothese in Frage, wonach die erfolgreiche Reform von Verfassungen von institutionellen Hürden abhängen soll. Erstens zeigen die Autorinnen mit einer neu gebildeten Datenbasis, dass die Hypothese keine sichere empirische Unterstützung besitzt. Als alternative Erklärung wird daher auf einen mikroökonomischen Ansatz zurückgegriffen. Dabei wird vorhergesagt, dass aufgrund der autoregressiv verändernden Kosten-Nutzen-Erwägungen ein Konjunkturzyklus bei der Verfassungsreform auftreten sollte. Diese theoretische Implikation wird durch ländervergleichende Daten bestätigt, was die Stärke dieses Beitrags nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Empirie ausmacht. Dietmar Braun befasst sich mit der schweizerischen Föderalismusreform, die in den letzten Jahren beschlossen wurde. Die zentrale Frage dieses Beitrags lautet: Wie konnte die Schweiz trotz ihrer zahlreichen Vetospieler derartige umfassende Veränderungen realisieren? Die Antwort darauf findet der Autor in der gemischten Motivation der Akteure bei einer Debatte über die Verfassungsreform. Die Akteure hatten nämlich sowohl ein Interesse an der Stabilität des Regimes bei der Verfassungsfrage als auch ein Interesse an der Gewinnmaximierung bei der Verteilungsfrage. Um seine These zu stützen, beschreibt der Autor sehr detailliert, wie es den Akteuren gelungen ist, die Verfassungsfrage von der Verteilungsfrage zu trennen. Verfassungsreformen können nicht nur von der Initiative der politischen Eliten ausgehen, sondern auch von der des Volkes. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein Referendum für eine Verfassungsänderung einberufen wird. Mit diesem Aspekt befassen sich Katja Heeß und Christoph Hönnige. Der konkrete Fokus ihres Beitrags liegt auf dem französischen Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag vom Mai 2005. Dabei wird gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass der französische Staatspräsident ein Referendum verliert, das er selbst freiwillig einberufen hat. Nach Auffassung der Autoren ist für eine Erklärung dieses Ergebnisses die relative Gewichtung zweier Konfliktdimensionen, der europapolitischen einerseits und der innenpolitischen andererseits, ausschlaggebend. Der Beitrag zeigt, wie die innenpolitische Dimension wegen des ambivalenten Charakters des französischen Referendums und der gezielten Kampagne der Opposition 8
bei der Entscheidung der Bürger an Bedeutung gewann und so das vom Präsidenten nicht vorhergesehene Ergebnis hervorbrachte. Außerhalb des Rahmens, den der Schwerpunkt setzt, enthält der vorliegende Band vier weitere Beiträge. Der Beitrag von Matthias Lehnert und Eric Linhart befasst sich mit dem Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Die Rolle dieses bislang in der Literatur vernachlässigten Akteurs berücksichtigen die Autoren in einem räumlichen Modell des Gesetzgebungsprozesses im deutschen Bikameralismus. Aus dem Modell wird eine interessante, der spontanen Intuition widersprechende Hypothese abgeleitet, die dann sogar mit empirischen Daten belegt werden kann. Eric Linhart wendet in seinem Beitrag ein neuartiges Modell der Koalitionsbildung auf die deutsche Regierungsbildung seit 1949 an. Die Besonderheit des Modells liegt vor allem darin, dass die beiden wohlbekannten Motivationen der Parteien in der Koalitionsbildung, Ämter und Policy, gleichzeitig berücksichtigt werden. Seine umfassende, detaillierte Analyse zeigt, dass die gleichzeitige Modellierung der beiden Motivationen die Koalitionsbildung in der Bundesrepublik Deutschland besser erklären kann als die einfacheren Modellierungen. Mit einem grundlegend theoretischen Beitrag bereichert Claudia Landwehr diesen Band. Dabei geht es um die Bildung und Transformation von Präferenzen. In der Regel nehmen handlungstheoretische Ansätze Präferenzen als exogen an, wobei ihr Ursprung nicht weiter verfolgt wird. Genau diesen Schritt vollzieht dieser Beitrag auf analytischer Weise. Diese theoretischen Überlegungen liefern, wie die Autorin mit Recht argumentiert, durchaus relevante Implikationen für Politikwissenschaft, vor allem aus der demokratietheoretischen Perspektive. Joscha Legewie und Arno Simons stellen sich der äußerst interessanten Aufgabe, ein auf den ersten Blick völlig „irrationales” Handeln, nämlich dasjenige von Selbstmordattentätern, mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie zu rekonstruieren. Wie die Autoren diese Herausforderung meistern, wird an dieser Stelle nicht verraten. Hier nur soviel: Die Autoren nehmen keineswegs eine Haltung eines „Anwendungsimperialismus” der Rational-ChoiceTheorie ein. Im Gegenteil: Durch ihre Analyse stellen die Autoren vielmehr klar, welche Grenze die Tragweite der Rational-Choice-Theorie ihrer Ansicht nach hat. Die in diesem Band aufgenommenen Beiträge sind, wie immer, einem Peer-Review-Verfahren mit anonymen Gutachtern unterzogen. Hiermit bedanken wir uns nochmals bei den Gutachterinnen und Gutachtern für ihre Mühe. Dieser Band hätte noch 2007 erscheinen sollen. Leider konnte dieser 9
Termin wegen der redaktionellen Arbeit nicht eingehalten werden. Hierfür möchten wir uns entschuldigen und uns für die Geduld der Autorinnen und Autoren bedanken. Einer der Gründe für die Verspätung ist, dass das ganze Manuskript zum ersten Mal mit LaTeX gesetzt wurde. Wir hoffen dadurch der inhaltlichen Attraktivität des Bandes eine entsprechende der äußeren Form hinzugefügt zu haben. Für die technische Unterstützung bedanken wir uns bei Martin Elff, Raphael Kösters, Ralf Schmitt, Guido Tiehmann und Cornelia Weins.
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Agenda-Setting für Verfassungsreformen Nathalie Behnke
1 Einleitung Wann, warum, in welcher Form und welchem Ausmaß und mit welchem Ergebnis werden Verfassungen geändert? Diese Fragen liegen letztlich jeder Beschäftigung mit Verfassungswandel zugrunde. Dahinter steht die Vermutung, dass der Beginn, der Verlauf, das Timing und das Ergebnis eines Verfassungswandelprozesses miteinander kausal verknüpft sind, oder, anders ausgedrückt, dass das Ergebnis eines Verfassungswandels zumindest teilweise durch die Umstände ihres Beginns und Verlaufs erklärt werden kann. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei natürlich der Initiierung des Wandlungsprozesses zu. Wird kein Wandlungsprozess angestoßen, kann er auch zu keinem Ergebnis führen. Traditionelle Verfassungstheorien gehen zumeist von einem funktionalistischen Verständnis von Verfassungswandel aus, dergestalt, dass Verfassungen eben dann geändert werden, wenn sie sich in der einen oder anderen Form als defizitär, überholt, lückenhaft oder anpassungsbedürftig erwiesen haben. Sie problematisieren aber nicht die Frage, wie und warum eine solche Einschätzung der Änderungsbedürftigkeit der Verfassung überhaupt auf die politische Agenda kommt. Theorien des Agenda-Setting (Kingdon, 2003; True et al., 1999) betonen hingegen die Rolle interessierter Akteure, die Aufmerksamkeiten lenken und somit Themenkonjunkturen beeinflussen können. Die Übertragung von Erkenntnissen aus der Policy-Forschung auf die Verfassungspolitik liegt nahe, da die Problemkonstellationen als analog gesehen werden können. Dementsprechend wird in diesem Beitrag davon ausgegangen, dass Verfassungsprobleme dann und nur dann auf die Reformagenda kommen, wenn sie von interessierten Akteuren als solche thematisiert werden. Die Vorstellung einer sich objektiv aufdrängenden Notwendigkeit von Verfassungsreformen aufgrund von Funktionsdefiziten wird hierdurch wenn nicht grundsätzlich abgelehnt, so doch stark differenziert. Verfassungsprobleme werden insbesondere dann öffentlich thematisiert, wenn eine Änderung der bestehenden Strukturen eine Umverteilung an Macht oder Ressourcen nach sich ziehen würde, da
solche Entscheidungen sich durch ein besonders hohes Konfliktniveau auszeichnen. Dies trifft insbesondere auf föderale Reformen zu. Änderungen der föderalen Ordnung implizieren zumeist massive vorhersehbare Umverteilungen an Macht oder Ressourcen zwischen den Gliedstaaten und sind daher besonders konfliktbehaftet. In diesem Beitrag soll daher untersucht werden, wann, von wem, unter welchen Umständen und in welcher Weise Veränderungen der föderalen Strukturen als Verfassungsprobleme thematisiert werden und auf die Reformagenda gelangen. Die allgemeine Frage nach den Wirkmechanismen von Verfassungswandel wird hierdurch doppelt eingeschränkt und fokussiert. Zum einen ist der Beitrag ausschließlich auf die erste Reformphase konzentriert, nämlich das Agenda-Setting, zum anderen liegt der Fokus für die empirische Untersuchung auf föderalen Verfassungsreformen als besonders konflikthaften und häufigen Reformthemen. Im Folgenden werden zunächst die begrifflichen und theoretischen Grundlagen für Untersuchungen des Verfassungswandels dargelegt (Abschnitt 2.1). Da für die langfristige Gültigkeit und Effektivität von Verfassungen ein Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Anpassungsfähigkeit besteht, ist die Untersuchung von Verfassungswandel für ein Verständnis von Verfassungen fundamental. Abhandlungen über konstitutionellen Wandel vernachlässigen jedoch systematisch die Rolle von interessengeleiteten Akteuren in der Thematisierung von Verfassungsproblemen. Daher wird in Abschnitt 2.2 eine Heuristik zur Untersuchung von Verfassungswandel entworfen, die auf einem Zwei-Ebenen-Modell von Verfassungspolitik aufbaut, das zwischen der Arena der verfassten Alltagspolitik und der Arena der Verfassungspolitik unterscheidet. Auf der Basis einer Auswertung der Grundgesetzänderungen seit 1949 wird empirisch die Differenzierung von alltagspolitischem und verfassungspolitischem Verfassungswandel eingeführt, die das Wechselspiel zwischen den Arenen präzisiert. Diese Differenzierung lehnt sich an die von Baumgartner und Jones (1993); True et al. (1999); Jones et al. (2003) entwickelte Theorie des ’punctuated equilibrium’ an, mit der sie den dualen Befund von langen Phasen der Stabilität und des inkrementellen Wandels von Policies einerseits, herausgehobenen Situationen dramatischen Wandels andererseits in der US-amerikanischen Politik erklären. Diese aus der Policy-Forschung entlehnte Theorie trifft zwar nicht auf das Phänomen des alltagspolitischen Wandels zu, ist aber durchaus hilfreich für eine präzise und differenzierte Beschreibung des verfassungspolitischen Wandels. Als Erklärung für verfassungspolitischen Wandels ist sie jedoch unzureichend, da auch sie die Frage nicht beantwortet, wann und warum 12
Themen aus der Alltagspolitik plötzlich in den Fokus der Verfassungspolitik rücken. Bevor diese Frage jedoch geklärt wird, wird in Abschnitt 3 die Bedeutung föderaler Verfassungsreformen für die Analyse des Agenda-Setting diskutiert. Föderale Verfassungen können als reale Gesellschaftsverträge angesehen werden, die revidiert werden können, wenn die durch den Vertrag festgeschriebene Ressourcenverteilung nicht mehr der Machtverteilung zwischen den vertragschließenden Parteien entspricht. Diese Möglichkeit wurde von James M. Buchanan (2000) im Rahmen seines vertragstheoretischen Arguments als ’Neuverhandlungserwartung’ bezeichnet. Hieraus folgt aber für die Frage, wann eine Reform der föderalen Strukturen auf die verfassungspolitische Agenda gelangt, eine herausgehobene Bedeutung der Vertragspartner als Akteure, die eine Reform dann thematisieren, wenn sie sich hiervon eine Verbesserung ihrer Position versprechen. Interessierte Akteure mögen eine notwendige Bedingung für das AgendaSetting einer föderalen Verfassungsreform sein, sie sind aber sicherlich keine hinreichende Bedingung. Ein objektiver Problemdruck, Reformvorschläge und ein geeignetes Timing sind weitere wichtige Zutaten. Diese Bedingungen werden sehr anschaulich durch die Idee des ’policy window’ zusammengefasst, die ursprünglich von Cohen, March und Olsen entwickelt (1972) und von John Kingdon in seiner Theorie des Agenda-Setting aufgegriffen und explizit so benannt wurde (Kingdon, 2003). Die Theorie des ’policy window’ geht davon aus, dass Themen dann auf die politische Agenda gelangen, wenn Probleme, Lösungsvorschläge und interessierte Akteure in günstiger Weise zusammentreffen. Der entscheidende Vorteil, den diese Theorie für die Erklärung von Agenda-Setting bietet, ist, dass dort die Zeitlichkeit verschiedener Variablen berücksichtigt wird. Probleme, Lösungen und Akteure werden als Zeitströme betrachtet, die parallel laufen oder sich kreuzen können. Das richtige Timing wird hiermit ein entscheidender Faktor für das Agenda-Setting. Aufbauend auf dieser Formulierung des ’policy window’ wird in Abschnitt 4 ein Modell zur Erklärung des Agenda-Setting entworfen. In Abschnitt 5 wird die Erklärungskraft des Modells dann am Beispiel der Föderalismusreform in Deutschland empirisch getestet. Dieser Test ist nicht als statistischer Hypothesentest zu verstehen, sondern als ein Versuch, die einzelnen Elemente des Modells empirisch anzureichern und auf ihre Plausibilität und Erklärungskraft hin zu überprüfen. Der begrenzte Geltungsbereich dieses Erklärungsmodells, der sich aus der qualitativen Überprüfung anhand einer einzelnen Fallstudie ergibt, sollte in weiteren zeit- und län13
dervergleichenden Untersuchungen ausgeweitet und nach Möglichkeit mit Hilfe quantitativer Tests präzisiert werden. Dennoch erbringt dieses Modell für die Untersuchung von Verfassungsreformprozessen einen Erkenntnisgewinn, da es eine prozessorientierte, zeitsensitive Heuristik zur Verfügung stellt, die die handlungs- und entscheidungstheoretische Perspektive von Akteuren in den Vordergrund stellt, aber in den institutionellen und situativen Kontext einbettet. 2 Verfassungswandel Viele Autoren, die sich mit der Frage nach Wandlungsprozessen von Verfassungen beschäftigen, thematisieren die problematische Unterscheidung zwischen formalen und informalen Wandlungen, Wandlungen unterschiedlicher Reichweite und politischer Bedeutung (vgl. bspw. Lorenz, 2004; Busch, 1999; Bryde, 1982; Benz et al., 2006). So macht es natürlich Sinn, formale und ratifizierte Textänderungen von Verfassungen von einer Umdeutung des Gehalts von Verfassungen, etwa durch Rechtsprechung und politische Praxis, zu unterscheiden. Ähnlich findet man schwerlich ein Argument dafür, rein redaktionelle Korrekturen oder Aktualisierungen eines Verfassungstextes mit großen, inhaltlich bedeutsamen und folgenschweren Revisionen des Gesamtkonzepts einer Verfassung zu vergleichen. Der Begriff des Verfassungswandels eignet sich aber dazu, zunächst einmal alle Formen und Arten einer Veränderung von Verfassungen einzuschließen. Unter diesem Oberbegriff sollen die unterschiedlichen Erscheinungsformen auch mit verschiedenen Begriffen belegt werden, um konzeptionelle Klarheit zu schaffen. Formale Textänderungen seien als Verfassungsänderungen bezeichnet, denen die Verfassungsentwicklung zur Beschreibung des inkrementellen und informalen Wandels gegenüber steht. Größere Pakete formaler Änderungen, denen ein längerer Diskussions- und Aushandlungsprozess vorausgeht, sollen als Verfassungsreformen bezeichnet werden.1 Die Thematisierung solcher Verfassungsreformen im engeren Sinne steht im Fokus dieses Beitrags, da davon ausgegangen werden kann, dass kleinere formale Änderungen und erst recht informale Änderungen gar keinem Prozess des Agenda-Setting unterliegen. Für eine Betrachtung der späteren Phasen des Policy-Zyklus hingegen ist insbesondere das Wechselspiel zwischen (mögli-
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Diese Differenzierung entspricht der Sprachregelung, die in Benz et al.(2006:7) gefunden und tabellarisch dargestellt wurde.
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cherweise gescheiterter) formaler Reform und informaler Entwicklung von Verfassungen interessant. 2.1 Zur Konzeptualisierung von Verfassungen Verfassungen sind die fundamentalen Gesetze, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln. In der Regel werden sie in einem formalen Akt verabschiedet und sind schriftlich niedergelegt. Sie erstrecken sich üblicherweise auf die Abgrenzung der Herrschaftssphäre (in welchen Fragen und an welchen Subjekten darf Herrschaft legitimerweise ausgeübt werden?), die Organisation der Herrschaftsausübung (Institutionenordnung, Verfahren und Kompetenzen) sowie die Benennung und den besonderen Schutz der fundamentalen Ziele und Werte, auf denen die Gesellschaft fußt.2 Die Organisation der Herrschaftsausübung bezieht sich erstens auf die Frage der Institutionen- und Kompetenzordnung (wer darf was und wer hat welche Aufgaben), zweitens auf die Festlegung von Verfahren zur Anerkennung legitimer Akte der Herrschaftsausübung sowie drittens auf die Festlegung von Verfahren zur legitimen Änderung des bestehenden Regelwerks.3 Verfassungen können somit zwar auch klare adressatenbezogene Verpflichtungs- und Verbotsregeln enthalten – Regeln erster Ordnung, wie Hart (1994: 82ff.) sie bezeichnet –, sie umfassen aber im Wesentlichen Regeln zweiter Ordnung (ebd.), die sich auf den Umgang mit den Regeln erster Ordnung beziehen. Je nachdem, wie detailliert eine Verfassung eines Landes ist, enthält sie mehr oder weniger Regeln erster Ordnung, da diese häufig auch auf nachgeordnete Gesetze delegiert werden. In ihrer Eigenschaft als fundamentale Gesetze einer Gesellschaft sind Verfassungen aus dem üblichen politischen Prozess herausgehoben und durch höhere Hürden vor allzu einfacher, schneller und häufiger Änderung geschützt. Um Verfassungen zu ändern, bedarf es häufig höherer qualifizierter Mehrheiten in einer oder beiden Kammern des Parlaments, der Ratifikation durch Referenden oder wiederholter Voten am Ende und Beginn von Legislaturperioden.4 In Deutschland ist in Art. 79, Abs. 2 des GG geregelt, dass 2
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Vgl. zur staatsrechtlichen Diskussion des Verfassungsbegriffs Stern (1984, 69ff.), ähnlich auch Loewenstein (1975, 127ff.), Böckenförde (1991, 43) oder Elster (1994, 38). Vgl. Hart (1994, 94ff.), der zwischen rules of recognition, rules of amendment und rules of adjudication unterscheidet. Für einen Überblick über Änderungsverfahren in verschiedenen Ländern vgl. Lorenz (2004).
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verfassungsändernde Gesetze eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat benötigen. Diese erhöhten Änderungshürden sollen die Verfassung sichern und ihr eine Stabilität, Dauerhaftigkeit und auch Berechenbarkeit verleihen, die über die normalen Schwankungen des politischen Alltags hinausreicht. Dies ist insofern nötig, als die Regeln der Verfassung nur ihre Wirkung als fundamentale Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens entfalten können, wenn sie in der Lage sind, stabile Verhaltensmuster und Verhaltenserwartungen unter den Gesellschaftsmitgliedern zu generieren. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Stabilität als ein zentrales Merkmal von Verfassungen angesehen wird (Bryde, 1982, 18f; vgl. auch Lorenz, 2004, 2005). Zugleich ist eine Verfassung aber nur dann wirksam, wenn sie sich von den gelebten Regeln und Wertvorstellungen nicht zu weit entfernt. Eine Verfassung, die die grundlegenden Selbstverständnisse, Werte und Konfliktlinien einer Gesellschaft nicht abbildet, verliert ihre Akzeptanz und damit ihre Gültigkeit und Effektivität. Sie muss daher in hohem Maße änderungs- und anpassungsfähig sein, um real veränderte Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufgreifen und abbilden zu können. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer überalltäglichen Stabilität der Verfassung einerseits, einer hohen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit andererseits ergibt sich die besondere Relevanz von Untersuchungen des Verfassungswandels. 5 Angesichts der Bedeutung der Wandlungsfähigkeit für die langfristige Stabilität von Verfassungen erstaunt es, dass die meisten verfassungstheoretischen Untersuchungen die Frage des Verfassungswandels kaum oder gar nicht thematisieren. Zwar wird gemeinhin auch in Definitionsversuchen für Verfassungen anerkannt, dass die Änderungsfähigkeit ein Merkmal von Verfassungen sei (Loewenstein, 1961; Bryde, 1982; Häberle, 2000; Masing, 2005), die weitergehenden Fragen nach Gründen, Auslösern, Mechanismen oder Ergebnissen von Verfassungsänderungen werden aber nicht gestellt. Vielmehr wird angenommen, dass der Verfassungswandel ein quasi automatischer Prozess ist, der in Gang kommt, wenn ein Veränderungsbedarf entsteht. So geht etwa Loewenstein davon aus, dass wenn „... eine Verfassungsnorm, die bei der Schaffung der Verfassung vernünftig und ausreichend war, ihre Funktionsfähigkeit eingebüßt hat, [sie] also im Interesse des reibungslosen Ablaufs des politischen Prozesses ergänzt, beseitigt oder 5
Dieses Spannungsverhältnis ist besonders klar und kenntnisreich von Bryde (1982: 18ff.) herausgearbeitet worden.
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in anderer Weise den veränderten Anforderungen angepasst werden muß.“ (Loewenstein, 1961, 21). Dieses theoretische Defizit in den Erklärungsansätzen wird auch durch die Klassifikation von Astrid Lorenz (2007, 13ff.) bestätigt, die institutionalistische, kulturalistische, historisch-soziologische und ökonomische Ansätze zur Erklärung von Verfassungswandel unterscheidet. So unterschiedlich in diesen Ansätzen die Begründungen für einen Verfassungswandel sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie von einem mechanistischen Problemverständnis ausgehen: Veränderungen sind demzufolge immer objektiv notwendig und drängen sich den Akteuren gewissermaßen auf, etwa weil die bestehenden Verfassungsnormen defizitär sind, Regelungslücken aufweisen, interpretationsbedürftig sind oder unter dem Druck gesellschaftlicher Veränderungen angepasst werden müssen. Unklar bleibt in diesen Ansätzen aber durchweg, wo etwa die Schwelle liegt, dass ein Veränderungsdruck zu konkreten Maßnahmen der Verfassungsänderung führt. Wann ist eine Regelungslücke so groß, eine Formulierung so unklar, eine gesellschaftliche Veränderung so gravierend, dass sich die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung den politischen Akteuren aufdrängt? Besonders deutlich wird dieser Mangel in der juristischen Betrachtung (z.B. Stern, 1984; Hesse, 1985) sowie im Ansatz des ’Constitutional Design’ (Sartori, 1994), die einen Schwerpunkt auf die Wirkung von Institutionen legen, die den Verfassungsreformprozess steuern, aber dabei systematisch den politics-Aspekt und somit den Gestaltungsspielraum intentional handelnder Akteure vernachlässigen.6 Ökonomische Untersuchungen betrachten zwar die Entscheidungsprozesse für Verfassungsänderungen, unterstellen aber einfach, dass Entscheidungen über Verfassungsänderungen als strukturgleich mit Entscheidungen über Verfassungsgebungen behandelt werden können. So liefern Buchanan und Tullock (1962) zwar eine überzeugende Analyse der Einstimmigkeitsregel als des normativ einzig akzeptablen Entscheidungsmodus bei Verfassungsentscheidungen, sie unterscheiden hierbei aber nicht zwischen den unterschiedlichen Situationskontexten (ähnlich in Buchanan, 1975 oder Brennan und Buchanan, 1993). Im Falle einer Verfassungsgebung ist der Status quo bei Nichteinigung ein vorvertraglicher Zustand, also möglicherweise eine Anarchie, ein Bürgerkrieg oder eine Diktatur. Die beteiligten Entscheidenden sind sich dieser Alternativoption bewusst, die ein höchst unerfreuliches Ergebnis für alle Beteiligten darstellen würde. Unter diesen Umständen besteht ein großer Druck, die 6
Zur Kritik vgl. auch Schultze (1997).
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hohe Konsenshürde der Einstimmigkeit wirklich zu erreichen. Im Falle einer Verfassungsreform aber sieht die Situation anders aus. Der Status quo im Falle der Nichteinigung ist hier einfach der bestehende konstitutionelle Zustand, der vermutlich sogar für einige der Entscheidungsbeteiligten die bessere Alternative darstellt, da sie im Falle einer Verfassungsänderung Umverteilungseinbußen hinnehmen müssten. Unter diesen Umständen ist der Druck auf die Entscheidenden, zu einer Einigung zu gelangen, wesentlich geringer. Zwar wird in der Regel bei Entscheidungen über Verfassungsänderungen nicht die Einstimmigkeit als Quorum vorausgesetzt, sondern eine qualifizierte Mehrheit; dennoch führt die Rückfalloption des Status quo insgesamt zu einer relativ schlechteren Erfolgsprognose bei Verfassungsreformen im Vergleich zu Verfassungsgebungen. Jon Elster (1998) erweitert die Analysen Buchanans und Tullocks insofern, als er neben den rein rationalen Kalkülen der Akteure auch deliberatives Verhandeln unterstellt und die Bedeutung des situativen Kontextes für die Wahl eines Verhandlungsmodus betont. Insbesondere diskutiert er den Einfluss von Größe und Öffentlichkeit des Verhandlungsgremiums sowie von externem Entscheidungsdruck auf den Verhandlungsstil und die Ergebnisse. Allerdings unterscheidet auch er nicht explizit eine andere Situation der Verfassungsänderung im Vergleich zur Verfassungsgebung. Die Frage der Übertragbarkeit seiner Ergebnisse der Untersuchung von Prozessen der Verfassungsgebung auf Prozesse der Verfassungsänderung ist somit empirisch noch ungeklärt. Eine Heuristik zur Untersuchung von Verfassungsreformprozessen, die sowohl die Wirkung von Institutionen als auch von Akteursentscheidungen und Verhandlungsmodi berücksichtigt und es darüber hinaus erlaubt, zwischen Situationen der Verfassungsgebung und der Verfassungsreform zu differenzieren, bietet die Modellierung der Verfassungspolitik in Form eines Zwei-Ebenen-Prozesses oder eines ’nested game’ (Kaiser, 2002, 64f.). Dieser Modellierung liegt die Unterscheidung zweier verschiedener Arenen zugrunde, in denen politische Entscheidungen getroffen werden, die als Arena der verfassten Politik (Alltagspolitik) und als Arena der Verfassungspolitik beschrieben werden können: Die Verfassung selbst wird hier als Rahmenordnung für die Gesellschaft interpretiert. In dieser Rahmenordnung sind die Regeln festgelegt, nach denen die Mitglieder einer Gesellschaft in der Arena der verfassten Politik operieren können (Hayek, 1971; Voigt, 1999). Die Regeln ermöglichen die Koordination von Handlungen und Erwartungen und regeln den Austrag und Abgleich legitimer unterschiedlicher Partikularinteressen. Das heißt, in der Arena der verfassten Politik soll und darf 18
Interessenkonflikt herrschen, nur muss die Konfliktaustragung den vorgegebenen Regeln folgen. Über diese Verfassungsregeln, die die Rahmenordnung konstituieren, sollte hingegen in der Gesellschaft ein breiter Konsens herrschen. In der Arena der Verfassungspolitik ist daher der konflikthafte Austrag von Partikularinteressen unerwünscht. Allerdings ergibt sich hierbei das Problem, dass die Wirkungen der Verfassungsregeln auf den Interessenaustausch in der Arena der verfassten Politik zumindest ungefähr prognostizierbar sind. Je nachdem, wie die Regeln der Rahmenordnung formuliert werden, entfalten sie unterschiedliche Verteilungswirkung und können verschiedene Gruppen begünstigen oder benachteiligen. Insofern können sich Interessenkonflikte über konkrete Verteilungsergebnisse, die eigentlich in der Arena der Alltagspolitik bestehen, in die Arena der Verfassungspolitik über die Wahl von Institutionen mit prognostizierbaren Verteilungswirkungen indirekt übertragen (Filippov et al., 2004, 52ff.). Daher ist es besonders wichtig, die Regeln zur Schaffung und Änderung der Verfassung dem alltagspolitischen Prozess vorzulagern und von konkreten Interessenkonflikten möglichst abzukoppeln. Klare Verfahrensregeln zur Verfassungsänderung und hohe Änderungshürden dienen diesem Zweck. Eine Erklärung für Verfassungsreformen ergibt sich in dieser ZweiArenen-Beschreibung aus dem Wechselspiel zwischen der Arena der verfassten Alltagspolitik und der aus der Alltagspolitik herausgehobenen Arena der Verfassungspolitik. Solange die Regeln der Rahmenordnung den Interessenabgleich in der Arena der Alltagspolitik effizient regeln und von den politischen Akteuren akzeptiert werden, ist eine Verfassung voll funktionsfähig. Wird die durch den politischen Prozess entstehende Verteilung der Rechte und Ressourcen von einigen Gesellschaftsmitgliedern aber nicht mehr als effizient betrachtet oder als unfair wahrgenommen, werden diese Forderungen erheben, die Verteilung anzupassen. Gelingt dieser Anpassungsprozess innerhalb der bestehenden Verfassungsregeln, ist das System insgesamt intakt. Da aber ja die Verfahrensregeln zur Aggregation von Individualinteressen über Verteilungszustände das Ergebnis der Verteilung selbst beeinflussen, ist es möglich, dass einige Gesellschaftsmitglieder nicht mehr bereit sind, über eine Neuverteilung unter den bestehenden Verfahrensregeln zu verhandeln, sondern dass sie diese selbst in Frage stellen. In diesem Falle ist der durch die Verfassung vorgegebene Rahmen zur Konfliktaustragung nicht mehr ausreichend, der Problemdruck wird aus der Arena der Alltagspolitik auf die Ebene der Verfassungspolitik verlagert, und eine Verfassungsreform wird nötig.
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Auch in dieser Modellierung von Verfassungsreformen besteht aber nach wie vor das Problem, dass ein Prozess der Verfassungsreform als eine quasiautomatische oder notwendige Reaktion auf ein auftauchendes Verfassungsproblem angesehen wird. Zwar rückt das Wechselspiel zwischen Akteursinteressen, Handlungen, Institutionen und situativen Kontexten stärker in den Blick als bei anderen Ansätzen zur Erklärung von Verfassungswandel; aber auch hier wird die Bedeutung interessierter Akteure für die Entstehung eines Verfassungsproblems systematisch unterschätzt. Tatsächlich ist die Frage, wie ein Verfassungsproblem auf die politische Reformagenda kommt, aber nicht trivial, wie ein Blick in die vergleichende Verfassungsreformforschung zeigt (Banting und Simeon, 1985, 10ff.). Vielmehr ist die zentrale Annahme in diesem Beitrag, dass ein Verfassungsproblem überhaupt erst zu einem solchen werden kann, wenn es von interessierten Akteuren definiert wird. Hiermit wird aber die Frage, wie Verfassungsreformen auf die politische Agenda kommen, zu einer Frage der Rekonstruktion von Akteursinteressen. 2.2 Alltagspolitische oder verfassungspolitische Änderungen Das deutsche Grundgesetz gilt mit seinen Änderungshürden der doppelten Zweidrittelmehrheit im internationalen Vergleich als eine relativ rigide Verfassung. Auf dem Rigiditätsindex von Lijphart (1999, 219ff.) erreicht Deutschland auf einer Skala von 1 bis 4 den Wert 3,5. Unter den etablierten Demokratien weisen nur die Schweiz, Kanada und die USA eine höhere konstitutionelle Rigidität auf. Je rigider eine Verfassung, also je höhere Hürden das formale Änderungsverfahren vorsieht, desto seltener - so erscheint die logische Konsequenz - wird sie geändert. Das deutsche Grundgesetz wurde in den 57 Jahren seines Bestehens 52 mal geändert. 7 In weniger als der Hälfte aller Jahre (27) gab es keine Änderung, in 30 Jahren wurden einer oder mehrere Grundgesetzartikel geändert. 8 Insgesamt wurden 193 7
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Alle Zahlenangaben, die sich auf Änderungshäufigkeiten beziehen, sind eigene Berechnungen, die auf einer Analyse der Gesetzestexte zur Änderung des Grundgesetzes beruhen. Eine Übersicht der GG-Änderungen findet sich unter anderem unter http://www.verfassungen.de/de/gg-index.htm (gelesen am 27.11.07). In unterschiedlichen Darstellungen über die Änderungshäufigkeit von Verfassungen mögen konkrete Zahlen voneinander abweichen. Das kann unter anderem daran liegen, dass eine unterschiedliche Berechnungsbasis gewählt wurde. Den im vorliegenden Beitrag präsentierten Ergebnissen liegen die verfassungs-
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GG-Artikel geändert, gestrichen oder neu eingefügt. Aktuell verfügt das Grundgesetz über 184 Artikel, im Schnitt wurde also jeder Artikel mindestens einmal geändert. Diese Zahlen scheinen nicht gerade für eine geringe Änderbarkeit der deutschen Verfassung zu sprechen. In der Tat bestätigen die Untersuchungen von Astrid Lorenz (2004, 2005, 456ff.), dass die Hypothese eines Zusammenhangs von formaler Rigidität und geringer Anzahl von Verfassungsänderungen empirisch nicht bestätigt werden kann. Was aber bewirken dann die Änderungshürden, die dem Grundgesetz zum Schutze seiner Stabilität beigegeben wurden? Ein Blick auf die Inhalte der Verfassungsänderungen hilft, die Befunde etwas zu differenzieren. Von Interesse für die hier vorgestellte Untersuchung sind ja nicht alle GG-Änderungen gleichermaßen, sondern nur diejenigen, die die institutionellen Grundlagen eines föderalen Staates betreffen, also die Macht- und Ressourcenverteilung zwischen Gliedstaaten und Zentralstaat. Damit wird nur ein kleiner Ausschnitt aus der Menge aller möglichen Verfassungsreformen betrachtet. In der Tat zeigt sich aber, dass föderalen Verfassungsänderungen ein besonderes Gewicht zukommt: Der GG-Artikel, der am häufigsten geändert wurde, ist Art. 74 (Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung). Ganze elf mal wurde er geändert oder ergänzt. Insgesamt wurden die Gesetzgebungskompetenzen 25 mal geändert, anders ausgeändernden Gesetze zugrunde, das heißt, ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes wird als eine Änderung gewertet. In manchen Reformprozessen (etwa 1968 und 1969) gab es allerdings mehrere Gesetze innerhalb eines Jahres. Auch kann ein Gesetz eine unterschiedlich große Anzahl von Artikeln umfassen (zwischen 1 und 37 Artikeln - dieser Rekord stammt aus dem Jahr 1968, als die Wehrverfassung komplett ins GG eingefügt wurde). Unterschiedliche Zählungen der geänderten Artikel können sich möglicherweise daraus ergeben, dass innerhalb eines Gesetzes unterschieden wird, ob ein Artikel eingefügt, geändert oder gestrichen wird. Wenn bspw. im 40. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes von 1994 Art. 74 Abs. 2 neu eingefügt und dafür Art. 74 Abs. 1, Nr. 5 und 8 gestrichen wurden, so wurde dies hier als Änderung nur eines GGArtikels gewertet, man könnte dies aber auch als zwei oder drei Änderungen zählen. Die jährliche Darstellung der Änderungen ist hier angezeigt, da hierbei die detaillierteste Information über die Dynamik von Reformprozessen erhalten bleibt. Eine Aggregation nach Legislaturperioden würde ignorieren, dass einige der größeren Reformprozesse zwei Legislaturperioden überschnitten haben. Eine Bildung des Durchschnittswertes jährlicher Änderungen (vgl. Lorenz und Seemann, 2007) verwischt die Unterschiede zwischen einzelnen Jahren, die aber verdeutlichen, dass Verfassungsreformen in Deutschland eher in Wellen denn kontinuierlich vorkommen.
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Abbildung 1: GG-Änderungen pro Jahr
drückt knapp 14% aller geänderten GG-Artikel bezogen sich auf die Gesetzgebungskompetenzen. Gemeinsam mit den Gesetzgebungskompetenzen ist der Spitzenreiter in der Änderungshäufigkeit die Finanzverfassung, die sich in Abschnitt X des GG findet und die Art. 104a bis 115 umfasst. Sie wurde ebenfalls 25 mal geändert. Mit den Gemeinschaftsaufgaben, dem Aufgabenvollzug und der Behördeneinrichtung, Fragen der Länderneugliederung und der Mitwirkung der Länder an Europafragen hat man die wesentlichen Aspekte der föderalen Kompetenz- und Ressourcenverteilung erfasst. Diese machen insgesamt 87 der 193 geänderten Artikel aus, also 45%, die in weit über der Hälfte aller Änderungsgesetze (33 von 52) geändert wurden. Wie man in Abb. 1 erkennt, ist der Föderalismus auch über die Zeit hinweg ein kontinuierliches Thema der Verfassungsänderungen und machte häufig die Hälfte und mehr der geänderten GG-Artikel eines Jahres aus. Die andere Hälfte der Verfassungsänderungen umfasst verschiedene Bereiche. So stellt Bryde (1982, 121) heraus, dass sich ein Großteil der Verfassungsänderung in den Nachkriegsjahren auf - wie er es nennt - nachholende Verfassungsgebung bezog, also auf Aspekte, die 1949 nicht abschließend geregelt werden konnten oder bei denen sich im Zuge der zunehmenden Souveränität Deutschlands Regelungsbedarf ergab. Daneben sind die Wieder22
bewaffnung der Bundeswehr und dementsprechend die Wehrordnung, Änderungen des Wahlrechts oder der Parteienfinanzierung oder Anpassungen an die Wiedervereinigung oder die Europäisierung Deutschlands Bereiche, in denen es zu Verfassungsänderungen kam. 9 Diese Änderungen sind aber großenteils historisch kontingent und unterstreichen damit den Befund, dass es vor allem die Gesetzgebungskompetenzen und die Finanzverfassung sind - mithin die beiden Kernelemente der föderalen Macht- und Aufgabengestaltung - die häufig ohne erkennbaren äußeren Einfluss, quasi aus sich selbst heraus geändert wurden. Die Änderungshäufigkeit dieser Materien liegt vermutlich in zwei Eigenschaften begründet. Zum einen ist die föderale Struktur ein ständiges Konfliktthema, da sie die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern festlegt. Bei wahrgenommenen relativen Machtverschiebungen zwischen Bund und Gliedstaaten, so steht zu vermuten, werden die betroffenen Akteure Versuche unternehmen, die Machtverteilung zu ihren Gunsten anzupassen. Zum anderen handelt es sich bei ihnen weitgehend um Regeln 1. Ordnung. So weist auch Bryde darauf hin (1982: 121), dass die Gesetzgebungskataloge und die Finanzverfassung diejenigen Materien sind, die am konkretesten und detailliertesten geregelt sind und somit rein aus ihrer Form heraus einen quasi permanenten Änderungsbedarf erzeugen: „Die Finanzverfassung zum Beispiel, und hier vor allem das Recht des Finanzausgleichs, ist mit einer zunehmenden Perfektion geregelt worden; Stil und Inhalt sind eher einem Gesetz als der Verfassung angemessen. Diese äußerst detaillierte und konkrete Regelung betrifft einen Regelungsgegenstand, der dynamischem Wandel unterliegt: sowohl Finanzbedarf der am Ausgleich beteiligten öffentlichen Körperschaften, wie Ertrag der einzelnen Steuern sind im Zuge ökonomischer Entwicklungen in ständiger Bewegung. Der Versuch, einen solchen Gegenstand im Detail zu regeln, führt daher zwangsläufig zu Verfassungsnormen, die ebenso häufiger und routinemäßiger Änderung unterworfen sind wie Steuergesetze und -verordnungen.“ (Bryde, 1982, 121) Obgleich also föderale Verfassungsänderungen gegenüber anderen denkbaren Materien quantitativ von großer Bedeutung sind, ergibt sich hinsichtlich der Art der Verfassungsänderungen kein eindeutiger Befund. Zu vermuten wäre, dass föderale Strukturen eher in großen Reformpaketen verabschiedet werden, da sie Umverteilungen implizieren und damit relativ konfliktträchtig sind. In der Tat beträgt aber der Anteil der Föderalismus9
Eine detaillierte vergleichende Gegenüberstellung von Inhalten von Verfassungsänderungen findet sich bei Lorenz (2007: 6ff.)
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Anzahl geänderter Artikel je Änderungsgesetz 1 2-4 5-10 >10 gesamt
Häufigkeit Änderungen gesamt (Artikel) 28 12 (30) 8 (51) 4 (84) 52 (193)
Häufigkeit Änderungen Föderalismus (Artikel) 14 8 (17) 7 (23) 4 (33) 33 (87)
Quotient (Artikel) 0.5 (0.5) 0.66 (0.57) 0.88 (0.46) 1 (0.39) 0.63 (0.45)
Tabelle 1: Anteil der Föderalismusartikel an GG-Änderungen nach Umfang artikel an allen geänderten Artikeln immer knapp 50%, egal ob es sich um Einzeländerungen, kleine Änderungen oder große Gesetzgebungspakete handelt (vgl. Tab. 1). Zwar lassen sich zwei große Verfassungsreformen identifizieren, die fast ausschließlich die föderale Machtverteilung betrafen - 1969 die Reform der Finanzverfassung und die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben (9 und 7 geänderte Artikel) und 2006 die Föderalismusreform (23 geänderte Artikel), aber ebenso häufig werden Veränderungen in der prozentualen Verteilung des Steueraufkommens oder einzelne Posten in den Katalogen der konkurrierenden oder Rahmengesetzgebung eben auch als Einzelartikel geändert. Damit ist auch die Vermutung widerlegt, dass Änderungen der föderalen Ordnung per se besonders konfliktbehaftet und somit schwierig zu erreichen seien. Offensichtlich muss diese Überlegung weiter differenziert werden. Hierfür soll noch einmal das Argument der Rigidität von Verfassungen aufgegriffen werden: Wenn die Rigiditätsvermutung zuträfe, würde dies implizieren, dass Verfassungsänderungen (unabhängig von ihrem Inhalt) generell relativ selten stattfinden. Eine plausible Folge aus der Vermutung wäre außerdem, dass man - da die Hürden einer Änderung relativ hoch sind - diesen Umstand nicht für einzelne kleine Änderungen auf sich nimmt, sondern Änderungsmaterien gewissermaßen sammelt, um sie dann in einem großen Verfahren gemeinsam zu beschließen. Dann wären Verfassungsänderungen nicht nur relativ selten, sondern auch jeweils relativ groß. Diese Überlegung entspricht der Logik eines ’punctuated equilibrium’, wie es in einer Theorie des Agenda-Setting von Baumgartner und Jones (1993) entwickelt worden ist (vgl. auch True et al., 1999; Jones et al., 2003). Jones et al. (2003) gehen davon aus, dass die institutionellen Kosten (Informations-, Transaktionsund Entscheidungskosten), die politische Institutionen den Handlungen von 24
Akteuren in diesen Institutionen zur Änderung von Policies auferlegen, zu einer unregelmäßigen Informationsverarbeitung bzw. Entscheidungsfindung führen: Informationen, die in die Richtung einer Veränderung weisen und eigentlich verarbeitet werden müssten, werden aufgrund der Informationsverarbeitungskosten zunächst ignoriert. Diese Informationen türmen sich somit gewissermaßen unbearbeitet auf und lösen erst zu einem bestimmten Zeitpunkt, der aber nicht präzise zu prognostizieren ist, eine Aktivität aus, die dann zu einer relativ großen Veränderung führt. 10 Je höher die Kosten, desto ’klebriger’ (stickier) die Institutionen, desto seltener finden also Änderungen statt, diese sind dann aber in ihrem Ausmaß ungewöhnlich groß. Obgleich die Veränderungshürden, die institutionellen Kosten einer Entscheidung, bei Verfassungsänderungen noch deutlich höher sind als bei Policies, trifft dieses Modell aber offensichtlich nur begrenzt zu. Zwar verteilt sich die Häufigkeit der kleinen und großen Veränderungen in der Tendenz so, wie es das Modell des ’punctuated equilibrium’ prognostizieren würde: Es gibt einen sehr großen Anteil (über 50 % aller Änderungen), die nur einen Artikel umfassen, ein schwach besetztes Mittelfeld von Änderungen, die wenige Artikel betreffen und einige große Verfassungsänderungen. Aber die Begründung, die im Modell des ’punctuated equlibrium’ für diese Verteilungsform geliefert wird, trifft nicht zu: Jones et al. (2003, 155) argumentieren, dass die institutionellen Entscheidungskosten in der Mehrzahl der Fälle zu inkrementellem Wandel anstatt zu Reformen führen. Im Falle von Verfassungsreformen müssen aber auch die kleinen Reformen, in denen nur ein einziger Artikel geändert wird, die formale Hürde passieren. Insofern verhindert die Hürde nicht die Reform, im Gegenteil, die Hürde scheint als so gering wahrgenommen zu werden, dass viele einzelne kleine Verfahren angestrengt und offensichtlich problemlos durchgeführt werden. Als sinnvolle Differenzierung des Theorems von Jones et al. (2003) bietet sich aber die Unterscheidung zwischen alltagspolitischem und verfassungs10
Das Konzept des ’punctuated equilibrium’ stammt aus der mathematischen Chaos-Forschung und wird bspw. als „Sandhaufenmodell“ illustriert: Sandkörner strömen gleichmäßig auf einen Haufen herab, der dabei höher wird, bis ein Sandkorn fällt, das den Haufen zum Umstürzen bringt. Man weiß, dass das passieren wird, kann aber nicht prognostizieren, welches Sandkorn den Sturz auslöst. Jones et al. (2003) selbst verwenden das Bild der Plattentektonik: Erdplatten verschieben sich kontinuierlich minimal gegeneinander, ohne dass diese Bewegungen spürbar wären. Irgendwann führt aber eine weitere solche unmerkliche Bewegung zu einem Riss, der ein Erdbeben verursacht.
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politischem Wandel an. Diese Unterscheidung ergibt sich fast zwangsläufig, wenn man die Materien der Verfassungsänderungen betrachtet: Die kleinen Änderungen beziehen sich fast immer auf redaktionelle Korrekturen, Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen oder höherrangiges Recht. Sie sind praktisch vollständig konfliktfrei und werden im alltagspolitischen Geschäft ohne große Diskussion beschlossen. Für diese alltagspolitischen Änderungen ist das doppelte 2/3-Quorum keine echte Änderungshürde, da der Konsens unter den politischen Entscheidungsträgern übergreifend ist. Dieser Befund wird zumindest bis in die 1980er-Jahre auch durch die Untersuchung Brun-Otto Brydes bestätigt (1982: 124), der im Detail nachweist, dass der Prozess der Verfassungsänderung in der Regel durch einen sehr großen Konsens gekennzeichnet ist. Selbst Fälle von Veränderungsinitiativen, die am Quorum scheitern, interpretiert Bryde (1982: 125) nicht als Ausdruck von Interessenkonflikten, sondern häufig als ’technisches’ Scheitern, da es nicht gelang, für die Abstimmung im Plenum die erforderliche 2/3-Mehrheit an Abgeordneten zusammenzutrommeln. Nur für Verfassungsänderungen, die fundamentale Meinungs-, Interessenoder Verteilungskonflikte implizieren, stellt das Quorum somit eine echte Hürde dar. In diesen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass der Entscheidung über die Verfassungsänderung ein längerer Prozess der Thematisierung, Diskussion und Überzeugung zwischen den Abgeordneten vorausgeht, in dessen Verlauf Positionen definiert, Argumente formuliert und Verhandlungen geführt werden. Da in diesen Fällen der Weg zu einer Reform wesentlich aufwändiger und das Ergebnis auch unsicherer ist, kann man für diese verfassungspolitischen Reformen eher von einem unregelmäßigen Muster seltener, aber umfangreicher Änderungen ausgehen. Nur diese verfassungspolitischen Reformprozesse sind aber für eine politikwissenschaftliche Analyse spannend, da in alltagspolitischen Verfassungsreformen kein Agenda-Setting und kein Aushandeln stattfinden. Die Unterscheidung zwischen alltags- und verfassungspolitischem Wandel fügt sich auch logisch in die oben beschriebene Modellierung des Verfassungswandels als ZweiEbenen-Spiel ein: Große Interessenkonflikte, die in der Arena der verfassten Politik entstehen, benötigen zu ihrer Lösung einen Prozess der Verfassungsreform, der auf der Ebene der Verfassungspolitik angestrengt werden muss. Die Frage bleibt aber, wie diese Konflikte auf die Ebene der Verfassungspolitik kommen.
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3 Verfassungen föderaler Staaten Die Ausführungen in Abschnitt 2 bezogen sich weitgehend auf Verfassungen im Allgemeinen. Im Speziellen richtet sich aber das Erklärungsinteresse in diesem Beitrag auf föderale Verfassungen, da diese im Hinblick auf Verfassungswandel von besonderer Bedeutung sind: Föderale Systeme benötigen Verfassungsnormen zur Regelung der vertikalen Gewaltenteilung und der Ebenenbeziehungen. Da Mehrebenenstrukturen politischer Systeme auf ständige Veränderungen im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gefüge reagieren müssen und in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen ein Gleichgewicht halten müssen, stehen sie einerseits unter einem besonders hohen Veränderungsdruck, andererseits ist die Verfassungsänderung in föderalen Systemen besonders schwierig. Der Zentralstaat ebenso wie die Gliedstaaten sind für Veränderungen, die beide Ebenen betreffen, mit Mitbestimmungs- und Vetorechten ausgestattet, was in Deutschland besonders deutlich durch das doppelte 2/3-Quorum in Bundestag und Bundesrat veranschaulicht wird. Empirisch wurde bereits in Abschnitt 2 aufgezeigt, dass Fragen der föderalen Machtund Ressourcenverteilung besonders häufig Gegenstand von Verfassungsänderungen sind. Föderale Verfassungen sind aber auch unter einem zweiten Gesichtspunkt besonders interessant für Untersuchungen des Verfassungswandels: Sie bieten einen Ansatzpunkt, Akteure und Akteursinteressen systematisch in die Dynamik des Verfassungswandels zu integrieren und damit den Automatismus der Veränderung zu überwinden, der den meisten Erklärungsansätzen inhärent ist. Föderale Verfassungen können nämlich als reale Gesellschaftsverträge konzeptualisiert werden, ohne für die üblichen Kritikpunkte anfällig zu sein, die ansonsten gegen vertragstheoretische Argumente vorgebracht werden. 11 Es sind Verträge zwischen Gliedstaaten, die explizit ausgehandelt und diskutiert und schriftlich in Form der föderalen Verfassung festgehalten sind (vgl. Filippov et al., 2004, 18f.) und natürlich prinzipiell für Revisionen, also für Verfassungsänderungen offen sein müssen. Diese Sichtweise wird besonders deutlich von James Buchanan in „The Limits of Liberty“ (1975) vertreten. Buchanan geht davon aus, dass sich im anarchischen Zustand eine - wie er es nennt - ’natürliche Verteilung’ von Gütern ergibt (Buchanan, 2000, 75). Er entwickelt dann ein Argument analog zu Hobbes: Ausgehend von dieser natürlichen Verteilung, in der jeder 11
Für einen Überblick über die Kritik am Vertragsargument und für Lösungsansätze vgl. Buchanan (2000, 96) und Kersting (1996, 21-38).
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neben der Produktion von Gütern einen Teil seiner Ressourcen in Abwehrmaßnahmen investieren muss, erkennen alle rationalen Individuen, dass sie sich besser stellen würden, wenn sie einen Vertrag schließen, der ihre Güter schützt, damit sie dann diese Ressourcen, die sie für die Abwehr einsparen, produktiv nutzen können. Der resultierende Vertrag orientiert sich an der natürlichen Verteilung, muss sie aber nicht zwangsläufig exakt reproduzieren. Ist der konstitutionelle Vertrag geschlossen, ist das entscheidende Problem des Vertragsarguments, wie die Einhaltung der Vertragsbedingungen unter den Vertragschließenden gewährleistet werden kann, also die grundlegende Frage nach der Stabilität der föderalen Ordnung (Filippov et al., 2004, 26ff.). Dieses Problem formuliert Buchanan (2000: 97) als die Frage: „Under what conditions are individuals most likely to adhere to the inherited rules of order, most likely to respect and to honor the assignment of individual rights in being?“ Versucht man, die Frage nach der Einhaltung des Verfassungsvertrags zu beantworten, so führt einen dies unmittelbar zu einem dritten Element des Vertragsarguments, nämlich zur Vertragsrevision (Buchanan 2000: 97ff.): Menschen können nur dann die Regeln der überkommenen Ordnung akzeptieren, wenn sie diese so betrachten, als ob sie das Ergebnis eines aktuellen oder ständig neu ausgehandelten Vertrages wären. Sie müssen also ihre eigene Position mit der vergleichen, die sie haben könnten, wenn der Vertrag neu ausgehandelt würde. Diese Erwartung nennt Buchanan (2000: 98) die ’Neuverhandlungserwartung’ (renegotiation expectation). Wenn ihre aktuelle und ihre unter Neuverhandlungen zu erwartende Position nicht zu weit divergieren, dann können sie die bestehende Ordnung auch akzeptieren. Wird die Distanz zwischen der realen und der erwartbaren Position jedoch größer, sinkt die Bereitschaft, die bestehende Ordnung zu akzeptieren. Unter diesen Umständen wird - gesamtgesellschaftlich gesehen - die Anzahl der Regelverletzungen ansteigen, worauf man entweder mit einer Verschärfung der Kontrollen und Sanktionen reagieren kann, was jedoch langfristig keine stabile Lösung ist. Alternativ muss die Gesellschaft dann versuchen, den Gesellschaftsvertrag neu auszuhandeln (Buchanan 2000: 100). Überträgt man die Logik der Neuverhandlungserwartung auf Fragen föderaler Verfassungsreform, so lassen sich daraus Prognosen sowohl über die situativen Bedingungen als auch über die Initiatoren von Verfassungsreformen ableiten: • Der einfachste Fall ist gegeben, wenn die bestehende Macht- und Ressourcenverteilung von allen Vertragsparteien (Individuen, gesell28
schaftlichen Gruppen oder im Falle föderaler Staaten regionalen Einheiten) als ineffizient wahrgenommen wird und durch eine Neuverhandlung ein pareto-superiorer Zustand erreicht werden kann. In diesem Falle kann man davon ausgehen, dass die Problemlage in der Tat offenkundig gegeben ist und eine entsprechende Handlung fast zwangsläufig erfolgen wird. • Zumeist ist aber davon auszugehen, dass sich unter gewandelten Umweltbedingungen die Neuverhandlungserwartung nur für einen Teil der Vertragspartner gegenüber der aktuellen Position deutlich verbessert. Andere müssen fürchten, durch Neuverhandlung zu verlieren, so dass man eine asymmetrische Situation zwischen Reformbefürwortern und Reformgegnern erwarten kann. Die Reforminitiative wird in diesem Fall von denjenigen ausgehen, die hoffen, durch die Neuverhandlung zu gewinnen. Es wird aber nur dann zu einer Neuverhandlung kommen, wenn diese Gruppe auch die Mittel und Möglichkeiten hat, eine Neuverhandlung zu erzwingen. • Vorstellbar ist drittens, dass eine Teilreform ’von oben’ initiiert wird, um dem Neuverhandlungsdruck die Macht zu nehmen. „If the individual holder of a right or claim, defined in the status quo, comes to predict that this claim will be eroded or undermined unless the structure is modified, he may willingly acquiesce in some current reduction in this claim’s value as a means of forestalling the possibility of larger damage.“ (Buchanan, 2000, 101f.) In dem Maße, wie sich ein Druck der Unzufriedenheit mit der bestehenden Verteilung unter dem Status quo aufstaut, steigt die Gefahr eines großen Umbruchs, der sich schlimmstenfalls in einer Revolution oder einem Bürgerkrieg äußern könnte. Diese Dynamik voraussehend, würden sich Akteure, die prinzipiell an einem Erhalt des Status quo interessiert sind, auf eine kleinere Verfassungsreform einlassen oder diese sogar initiieren, wobei sie hoffen können, die Veränderungsbestrebungen zu kanalisieren und weniger von ihrer aktuellen Position aufgeben zu müssen, als wenn sie es zum großen Bruch kommen ließen (vgl. auch Cobb und Elder, 1971, 903). Wenn also die bestehenden Strukturen große Ineffizienzen produzieren, die für alle Vertragspartner schädlich sind, oder wenn einige Vertragspartner die Gültigkeit der bestehenden Ordnung in Frage stellen, weil sie durch die Verteilungsstrukturen ausgebeutet werden, oder wenn der Zusammenhalt 29
des Gemeinwesens aufgrund der großen Unzufriedenheit generell gefährdet ist, dann sind situative Bedingungen für eine Verfassungsreform gegeben.12 Welche Akteure die Verfassungsproblematik aber thematisieren und auf die politische Agenda bringen, hängt letztlich von der realen Machtverteilung im Föderalstaat ab. Da Verfassungsänderungen nur unter einer großen Interessenkoalition durchzusetzen sind, muss eine kleine Gruppe entweder über ein sehr großes Drohpotenzial verfügen, um die anderen zur Kooperation zu zwingen (z.B. Sezessionsdrohung) oder es müssen für eine Mehrzahl der Vertragsparteien überzeugende Argumente gefunden werden oder mehrere Interessenkonstellationen fallen in günstiger Weise zusammen. Ein Vorschlag, wie diese Komponenten zusammenspielen müssen, damit eine Verfassungsreform auf die politische Agenda kommt, wird im folgenden Kapitel entwickelt. 4 Ein Modell des Agenda-Setting 4.1 Phasen des Verfassungsreformprozesses In der Einleitung wurde argumentiert, dass sich Theorien des AgendaSetting, die in der Policy-Forschung entwickelt wurden, sinnvoll auf Fragen des Verfassungswandels übertragen lassen. Nicht nur sind die Problemund Handlungskonstellationen weitgehend vergleichbar, man könnte sogar so weit gehen zu argumentieren, dass die Durchführung einer Verfassungsreform selbst eine Policy sei. Der Reformprozess durchläuft verschiedene Phasen vom Agenda-Setting über die Institutionalisierung des Prozesses, die Verhandlung, die Entscheidung und die Umsetzung, die sich auch in gängigen Beschreibungen des Policy-Zyklus finden. Eine wohl weitgehend konsensfähige Auflistung der einzelnen Phasen stammt von Peter deLeon (1999, 21), in der er ’Initiation’, ’Estimation’, ’Selection’, ’Implementation’, ’Evaluation’ und ’Termination’ unterscheidet. Allerdings wird bei dieser Auflistung im Vergleich zum Prozess der Verfassungsreform deutlich, dass in der Policy-Forschung die eigentliche Entscheidungsfindung deutlich weniger problematisiert wird als die Frage der Implementation und Evaluation der Entscheidungsergebnisse. Während sich die Entscheidung in PolicyFragen auf die Abwägung zwischen verschiedenen Policy-Alternativen konzentriert, die Frage, ob man zu einer Entscheidung kommt, aber als unproblematisch angenommen wird, stellen im Verfassungsreformprozess der 12
Vgl. Benz et al. (2006, 81), wo diese Problemtypen als Effektivitätsprobleme, Integrationsprobleme und Legitimationsprobleme bezeichnet werden.
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Verhandlungsprozess selbst und die Konsenssuche sowie das formale Entscheidungsverfahren das Hauptproblem für die Erzielung eines Reformergebnisses dar. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Policy-Prozesse nach der Evaluation in der Regel aller Fälle als abgeschlossen betrachtet werden können. Verfassungsreformprozesse aber gehen häufig über mehrere Runden der Art, dass ein Ergebnis (oder auch ein Nicht-Ergebnis) einer ersten Verhandlungsrunde lediglich die Ausgangsbasis für eine weitere Phase der Verfassungsreform bietet, die dann in einem neuen formalisierten oder auch in einem informalen Verfahren fortgesetzt werden kann. Insofern ist eine Erforschung der Implementation oder gar eine Evaluation von Verfassungsreformergebnissen noch problematischer als in der Policy-Forschung. In der Policy-Phasen-Betrachtung von Verfassungsreformen kommt der ersten Phase des Agenda-Setting eine herausgehobene Bedeutung zu, weil hier der Ebenenwechsel zwischen der Ebene der verfassten Alltagspolitik und der herausgehobenen Verfassungspolitik vollzogen wird. Nur wenn ein Issue wirklich als Verfassungsproblem thematisiert wird, gelangt es auf die Ebene der Verfassungspolitik, wo es mit dem Ziel der Suche nach Konsens diskutiert wird. In diesem Sinne ist das Agenda-Setting auch von entscheidender Bedeutung dafür, wer worüber und unter welchen Prämissen und Zielvorgaben verhandelt, und welche Ergebnisse erzielt werden. Daher werden im folgenden die Bedingungen, unter denen ein Thema auf die Verfassungsreformagenda gelangen kann, genauer untersucht. 4.2 Bedingungen für Agenda-Setting In der Agenda-Setting-Literatur der Policy-Forschung gilt es als weitgehend unstrittig, dass ein Thema dann auf die politische Agenda kommt, wenn es eine hinreichend große Koalition aus interessierten Akteuren gibt (Sabatier und Jenskins-Smith, 1999), die einen Problemdruck plausibel nachweisen können und überzeugende Lösungsvorschläge anbieten (Kingdon, 2003; True et al., 1999; Cobb und Elder, 1971; Princen, 2007). Damit sind im Prinzip die wesentlichen Bedingungen für das Agenda-Setting bereits benannt: Akteure, Probleme, Lösungsvorschläge und Machtstrukturen. Kingdon betont darüber hinaus die große Bedeutung der Zeitlichkeit von Entscheidungen. Er geht davon aus, dass sich die Probleme, die Lösungen (policies) und die Machtstrukturen (politics) als Prozesse verstehen lassen, die zunächst einmal unabhängig voneinander verlaufen, sich aber zu bestimmten Zeitpunkten berühren oder kreuzen können (Kingdon 2003: 87f.). Ein ähnliches Bild verwenden auch True, Jones und Baumgartner
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(1999: 99ff.), die zwischen einer seriellen und einer parallelen Verarbeitung von Problemen unterscheiden: Während meistens Entscheidungsprozesse über verschiedene Themen in verschiedenen Entscheidungsgremien parallel verlaufen, passiert es im Falle einer hohen Problemprofilierung, dass sich höherrangige Entscheidungsinstanzen des Themas (oder einiger weniger ausgewählter Themen) annehmen und diese nacheinander abarbeiten. In diesem Falle sind auch explizite Zielabwägungen nötig, die größere Abweichungen von der bisherigen Politik ermöglichen, wohingegen im Falle der parallelen Entscheidung lediglich inkrementelle Anpassungen getroffen werden. Es kommt also offensichtlich auf die richtige Kombination von Akteurskonstellationen und situativen Chancen an, ein Thema zu platzieren. Diese goldenen Gelegenheiten wurden von Cohen et al. (1972) als „choice opportunity“ bezeichnet, ein Begriff, den Kingdon (2003: 165ff.) für seine Analyse des Policy-Prozesses aufgreift und in „policy window“ abwandelt. Wann und wie sich solche Gelegenheitsfenster im Strom der Zeit öffnen, ist nicht prognostizierbar. Es geschieht, wenn Probleme, Lösungen und interessierte Akteure zu einem Zeitpunkt zusammentreffen, an dem die Machtkonstellation einen Vorstoß für ein bestimmtes Thema ermöglicht. Diese einzelnen Ereignisströme und deren Zusammentreffen lassen sich aber für den Zweck einer Erklärung durchaus nachträglich rekonstruieren. In diesem Modell des Agenda-Setting kommt den Akteuren eine zentrale Stellung zu. Die Rolle der Akteure sowie die Zeitlichkeit der Prozesse stellen gewissermaßen Querschnittskomponenten dar, die die drei Ereignisströme - Problemdefinitionen, Lösungsvorschläge und Machtkonstellationen - prägen. Hinsichtlich der Problemdefinition kommt interessierten Akteuren die Aufgabe zu, ein Thema aufzugreifen und seine Dringlichkeit öffentlichkeitswirksam zu verdeutlichen. Die Problemdefinition hängt dabei sowohl von den interessierten Akteuren als auch von den objektiven Problemindikatoren ab (vgl. Kingdon 2003: 90ff.). Ein Problem wird nicht automatisch als solches wahrgenommen, aber es kann auch nicht einfach herbeigeredet werden. Dies bedeutet, dass Probleme nur eine Chance haben, als solche wahrgenommen zu werden, wenn sich interessierte Gruppen zu ihren Fürsprechern machen und sie thematisieren. Zugleich haben aber Akteure, die ein Interesse an einer Änderung der bestehenden Verfassungsordnung haben, nur dann reale Chancen, Gehör zu finden, wenn ihre Sichtweise der Probleme durch objektivierbare Indikatoren untermauert wird. Wenn interessierte Akteure ein Thema auf die Reformagenda bringen, haben sie zumeist auch Lösungsvorschläge (policies) im Angebot. Im Falle der Ver32
fassungsreformen lässt sich zumindest von Lösungsideologien sprechen, die die Problemwahrnehmung der einzelnen Akteure oder Akteursgruppen prägen. Allerdings dürfte bei Verfassungsreformen das ’garbage can’-Modell von Cohen, March und Olsen eine weniger adäquate Beschreibung der Produktion von Lösungsvorschlägen sein als bei Organisationsentscheidungen. Zwar mögen die Problemdefinitionen von kognitiven Frames oder politischen Ideologien geprägt sein, häufig besteht hier aber eine relativ größere Offenheit für Lösungsvorschläge, die nicht notwendig bereits im Papierkorb oder in der Schreibtischablage warten. Experten und Sachverständigen kann bei der Produktion innovativer Lösungsvorschläge eine erhebliche Rolle zukommen. Der politics-Aspekt schließlich weist darauf hin, dass speziell bei Verfassungsreformen - eine große Mehrheit der Entscheidungsträger benötigt wird, um eine positive Entscheidung über ein Reformvorhaben herbeizuführen. Dies bedeutet im Rückschluss, dass Themen erst dann ernsthaft auf die Reformagenda gebracht werden, wenn ihre Fürsprecher sich realistische Chancen ausrechnen, diese Mehrheit gewinnen zu können. Entweder muss also ein Thema so brennend sein, dass ein überparteilicher Konsens zu erwarten ist - dies dürfte im Falle föderaler Verfassungsreformen schwerlich der Fall sein, da hier zumeist manifeste Interessenkonflikte im Spiele sind; oder es muss sich gewissermaßen eine abstrakte Interessenkoalition ergeben, bei der verschiedene Akteure oder Akteursgruppen aus unterschiedlichen Interessenlagen und Zielsetzungen heraus eine gemeinsame Problemdefinition haben und sich somit über die Reformnotwendigkeit einig sind, wenngleich die Lösungsvorschläge in diesem Falle weit auseinander liegen können. Eine solche abstrakte Koalition reicht somit aus, um ein Thema auf die politische Reformagenda zu bringen, aber nicht unbedingt, um darüber auch eine konsensuale Entscheidung herbeizuführen. Wichtig für beide Phasen - das Agenda-Setting und die Entscheidungsfindung ist, mit welchen formalen Machtressourcen die einzelnen Akteure oder Akteursgruppen ausgestattet sind, wer also Agenda- oder Vetomacht hat, wer formal am Entscheidungsprozess beteiligt werden muss und wer letztlich Entscheidungsgewalt hat. Insbesondere der politics-Aspekt verdeutlicht die massive Zeitgebundenheit eines policy window. Wann sich ein policy window öffnet, hängt von zeitgebundenen Faktoren ab, deshalb muss man den Prozess tatsächlich als fortlaufend im zeitlichen Fluss betrachten. Der Vorteil einer solchermaßen in Komponenten zerlegten Betrachtung des Agenda-Setting-Prozesses liegt darin, dass das Modell zum einen akteurzentriert ist; den Akteuren kommt im Zusammenhang mit allen drei Ereignisströmen eine zentrale Rolle zu, was gegenüber den in Abschnitt zwei skiz33
zierten funktionalistischen Modellen des Verfassungswandels einen Fortschritt darstellt. Es ist zweitens flexibel auf unterschiedliche Situationen anwendbar, da die konkrete empirische Ausfüllung der einzelnen Variablen situationsabhängig geschehen muss. Somit ist das Modell im Prinzip breit anwendbar und birgt das Potenzial, verschiedene Prozesse von Verfassungswandel systematisch miteinander zu vergleichen. Drittens öffnet das Modell den Blick für die Bedeutung der Zeitlichkeit von Situationen, was vor allem im Bild des policy window verdeutlicht wird. Allerdings liefert das Modell, so wie es bislang beschrieben ist, keinen Anhaltspunkt für die Identifikation interessierter Akteure. Hierfür greife ich auf die Problematisierung föderaler Verfassungsreformen als einer Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrags auf, die in Abschnitt 3 in Anlehnung an James Buchanans Formulierung beschrieben wurde. Dort wurden drei Situationen unterschieden: erstens könnten alle (oder eine überwiegende Mehrheit der) Verhandlungspartner ein gemeinsames Interesse an einer Verfassungsreform haben, wenn der Status quo als ineffizient wahrgenommen wird. Zweitens sind quasi die natürlichen Fürsprecher für Verfassungsreformen diejenigen Akteure oder Akteursgruppen, deren Neuverhandlungserwartung massiv von ihrer Position unter dem Status quo abweicht. Drittens können auch diejenigen Akteure oder Akteursgruppen sich für Reformen einsetzen, die zwar von einer Reform nicht gewinnen würden, aber hoffen, dadurch den als unvermeidlich wahrgenommenen relativen Positionsverlust zu begrenzen. Im Folgenden werden die Prozesse des Agenda-Setting für die Föderalismusreform I in Deutschland (2003-2006) anhand des hier eingeführten Modells erklärend rekonstruiert. Mit Hilfe geeigneter Indikatoren für die einzelnen Ereignisströme der Probleme, policies und politics kann unter Berücksichtigung der Akteure und des Zeitverlaufs aufgezeigt werden, welchen Dynamiken der Prozess des Agenda-Setting von Verfassungsreformen folgt. 5 Die Entstehung der deutschen Föderalismusreform Die deutsche Föderalismusreform, die 2003 begann und aktuell immer noch andauert, ist die umfangreichste Verfassungsreform in der Geschichte der Bundesrepublik und betrifft ausschließlich Materien der föderalen Kompetenz-, Macht- und Ressourcenverteilung. Sie erstreckt sich mittlerweile über zwei Legislaturperioden unter verschiedenen Regierungskoalitionen. Nachdem sie im Koalitionsvertrag der rot-grünen Bundesregierung vom 16. Ok34
tober 2002 erstmals explizit als politisches Programm erwähnt worden war, wurde genau ein Jahr später, am 16. und 17. Oktober 2003, eine gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung mit umfassendem Auftrag eingesetzt. „Die Kommission hatte die Aufgabe, Vorschläge zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung mit dem Ziel zu erarbeiten, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern. Im Hinblick darauf sollten vorrangig folgende Materien überprüft werden: die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf Bund und Länder; die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes; die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Dabei sollten sowohl die Weiterentwicklung der Europäischen Union als auch die Situation der Kommunen berücksichtigt werden.“ (http://www.bundesrat.de/cln_050/nn_276146/DE/foedera lismus/foederalismus-node.html?__nnn=true; gelesen am 23. 11.2007) Die Kommission unter dem Vorsitz des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und des Vorsitzenden der SPD Bundestagsfraktion Franz Müntefering beendete ihre Arbeit am 17. Dezember 2004 ohne Ergebnis. Da sich die Kommissionsmitglieder nicht hatten einigen können, legte die Kommission keine Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes vor. Nach den vorgezogenen Wahlen zum 16. Bundestag im September 2005 wurde das Reformvorhaben von der nun regierenden großen Koalition unter der Kanzlerschaft Angela Merkels wieder aufgegriffen. Ohne eine neue Kommission ins Leben zu rufen, wurden die strittigen Punkte in Koalitionsrunden verhandelt und mündeten schließlich in einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs.16/813). Nachdem der Bundestag eine erneute Expertenanhörung gefordert hatte, die vom 15.05.06 bis 02.06.06 andauerte, brachte die Regierungskoalition am 28.06.06 in zweiter Lesung einen überarbeiteten Gesetzesentwurf ein (BT-Drs. 16/2052), der vom Bundestag am 30.06.06 und vom Bundesrat am 07.07.06 angenommen wurde (BR-Drs 462/06). Mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 31. August 2006 (BGBl. 2006, I, Nr. 41: 2034ff.) war die erste Phase der Föderalismusreform formal abgeschlossen. Fortgesetzt wird der Reformprozess 35
aktuell durch die so genannte Föderalismusreform II, die sich insbesondere der Reform der Finanzbeziehungen widmet. Auch für diese zweite Phase wurde eine Reformkommission eingesetzt (Beschluss von Bundestag und Bundesrat vom 15. Dezember 2006; BT-Drs. 16/3885 und BR-Drs. 913/06). Das Ziel der hier vorgenommenen Analyse ist es jedoch nicht, den gesamten Reformprozess nachzuzeichnen, zu rekonstruieren und zu interpretieren, sondern vielmehr diejenigen Prozesse und Schritte aufzuzeigen, die im Vorfeld der Einsetzung der ersten Reformkommission zur Thematisierung der Föderalismusreform maßgeblich beigetragen haben. Auf diese Weise wird mit Hilfe der einzelnen Komponenten des im vorangehenden Abschnitt entwickelten Modells der Prozess des Agenda-Setting der Föderalismusreform rekonstruiert. 5.1 Messung von Agenda-Setting Zunächst stellt sich die Frage, wann überhaupt davon gesprochen werden kann, dass ein Verfassungsproblem tatsächlich auf der Reformagenda ist. Kingdon arbeitet mit einer pragmatischen Definition: „The agenda, as I conceive of it, is the list of subjects or problems to which governmental officials, and people outside of government closely associated with those officials, are paying some serious attention at any given time.“ (Kingdon, 2003, 3; Hervorhebung im Original). Cobb und Elder ergänzen diese Definition, die sie als ’institutionelle Agenda’ bezeichnen, um die Dimension des Konflikts, der die ’systemische Agenda’ kennzeichne: „... we have used the term ’agenda’ to refer to a general set of political controversies that will be viewed as falling within the range of legitimate concerns meriting the attention of the polity.“ (Cobb und Elder, 1971, 905; vgl. auch Princen, 2007, 24). Diese Unterscheidung ist insofern sehr hilfreich, als sie darauf hindeutet, dass Themen zwar von politischen Institutionen behandelt werden, aber dass diejenige politische Agenda, die tatsächlich auch auf Interesse in der Öffentlichkeit stößt, durch konflikthafte Themen gekennzeichnet ist. Im Folgenden soll also davon ausgegangen werden, dass ein Thema dann auf der Agenda ist, wenn es nicht nur durch die politischen Institutionen behandelt wird, sondern wenn dies außerdem unter einem größeren öffentlichen und medialen Interesse geschieht. Andernfalls wäre auch die Unterscheidung zwischen alltagspolitischen und verfassungspolitischen Änderungen (vgl. Abschnitt 2.2) für die Untersuchung des Agenda-Setting hinfällig. Es lassen sich also zwei Stufen unterscheiden. Zum einen muss ein Problem Eingang in den parlamentarischen Prozess finden, das ist gewisserma-
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ßen eine formale Mindestbedingung. Dann kann davon ausgegangen werden, dass ein Thema eine gewisse politische Relevanz hat. Die parlamentarische Behandlung allein ist jedoch kein geeigneter Indikator für AgendaSetting, da im Bundestag viele Vorgänge behandelt werden, die politisches Alltagsgeschäft sind und überhaupt nicht durch Medien und Öffentlichkeit wahrgenommen werden; darüber hinaus deuten viele Vorgänge noch nicht einmal auf eine ernsthafte politische Behandlung, da regelmäßig und wiederholt von kleinen, zumeist oppositionellen, Gruppen Eingaben gemacht werden, die eine rein symbolische Zielsetzung haben. Dass ein Thema in der politischen Behandlung herausgehobene Bedeutung hat, drückt sich aber beispielsweise dadurch aus, dass es sich in programmatischen Äußerungen der regierenden Parteien findet (vgl. Cobb und Elder, 1971, 909). Zur Untersuchung des Agenda-Setting werden daher hier die Koalitionsverträge seit 1994 ausgewertet. Ein zweiter Indikator neben der parlamentarischen Behandlung ist natürlich die mediale Berichterstattung über ein Thema. In dem Moment, wo durch die Medien in mehr als Agenturnachrichten über ein Thema berichtet wird, soll davon ausgegangen werden, dass es auf der politischen Agenda ist (ebd.). Um einen Überblick über die mediale Agenda zur Föderalismusreform zu gewinnen, wurden die beiden großen überregionalen Tageszeitungen SZ und FAZ sowie das politische Wochenmagazin „Der Spiegel” seit 1990 ausgewertet. 13 Eine notwendige Bedingung ist also die Aufnahme in programmatische Äußerungen politischer Akteure sowie parlamentarische Behandlung, eine andere notwendige Bedingung ihr Erscheinen in größeren Berichten überregionaler Tages- und Wochenzeitungen. Beide zusammen sollen als hinreichend angesehen werden. Ergänzend hierzu wird außerdem wissenschaftliche Literatur herangezogen, in der in verschiedener Form die Debatten im Vorfeld der Reform dokumentiert und ausgewertet werden. Auf diese Weise können Positionspapiere verschiedener interessierter Gruppen, die ebenfalls wichtige programmatische Dokumente sind, ebenfalls berücksichtigt werden. 13
Das Ziel der Medienanalyse ist in diesem Falle keine quantitative Erhebung der Häufigkeit der Berichterstattung. Zwar lässt sich eine gewisse Themenkonjunktur nachzeichnen, aber diese ist für sich genommen aufgrund geringer Fallzahlen nicht besonders aussagekräftig. Wichtiger ist hier die Identifikation der Zeitlichkeit, der Themen und Diskussionsteilnehmer, die sich aus einer inhaltlichen Auswertung der Berichterstattung ergibt.
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5.2 Akteure Die Akteurskonstellation ist in Fragen der Föderalismusreform durch zwei Konfliktlinien geprägt. Zum einen steht der Bund (Bundestagsmehrheit und Bundesregierung) den Ländern mit tendenziell unterschiedlichen Interessen gegenüber: über Jahrzehnte ist es der Bundesebene gelungen, mehr und mehr legislative Kompetenzen an sich zu ziehen (Benz, 1999; Abromeit, 1992) im Austausch für finanzielle Zuweisungen und Mitbestimmungsrechte der Länder im Bundesrat. Diese Entwicklung war über Jahre hinweg nicht einmal unbedingt konfliktbehaftet, da die Länder diesen Austausch gerne mittrugen. In jüngerer Zeit zeigt sich hier aber eine Trendwende, und zwar von beiden Seiten: generell hat der Bund nach wie vor das Interesse, seine Kompetenzen zu behalten oder noch auszuweiten. Im Zuge von Bemühungen um die Sanierung des Bundeshaushalts sind jedoch auch Bestrebungen erkennbar, sich aus einigen der über die Jahre eingegangenen gemeinsamen finanziellen Verantwortlichkeiten wieder herauszuziehen. Dem steht ein gestiegenes Interesse der Länder sich an mehr ’Eigenstaatlichkeit’ gegenüber, das sich im Ringen um mehr legislative Eigenständigkeit, einen größeren eigenen Aufgabenbereich und nicht zuletzt mehr unabhängige finanzielle Ressourcen äußert. Hier kommt die zweite Konfliktlinie ins Spiel, nämlich zwischen reichen und armen Bundesländern, wobei diese Trennung durch den Status im Länderfinanzausgleich operationalisiert wird: reiche Länder sind die Geberländer Hessen, Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und NordrheinWestfalen, arme Länder sind die übrigen elf Nehmerländer. Die reichen Länder streben zum einen in stärkerem Maße als die armen Länder eine Unabhängigkeit vom Bund an, da sie von eigenständigen Ressourcen und größerem Aufgabengestaltungsspielraum in anderem Maße profitieren können als die armen Länder, die von den Bundeszuweisungen abhängig sind. Zum anderen streben die reichen Länder eine Neuverhandlung des horizontalen Länderfinanzausgleichs mit einer geringeren Nivellierung an, da - so ihr Argument - das aktuelle Niveau eines Ausgleichs auf 99,5 % der durchschnittlichen Finanzausstattung keinerlei Anreize mehr zu eigener Leistung bietet. Dieses Anliegen wird natürlich von den Nehmerländern nicht geteilt. Hierbei ist nicht zu vergessen, dass diese Konfliktlinie sich nach der Wiedervereinigung dramatisch verschärfte, da der horizontale Finanzausgleich fünf neue finanziell deutlich schwächere Länder mittragen musste. Diese zwei widersprüchlichen Konfliktlinien prägen sowohl den Prozess des Agenda-Setting als auch die Reformverhandlungen selbst.
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Ein weiterer wichtiger Akteur im föderalen Machtspiel ist das Bundesverfassungsgericht (Scharpf, 2006; Vanberg, 2005), da es durch seine Rechtsprechung seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre die relativen Machtpositionen von Bund und Ländern maßgeblich verändert hat. Die ersten Akteure, die eine Neuverhandlung des föderalen Vertrags ins Spiel brachten, waren in der Tat die Geberländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen mit ihrer Normenkontrollklage gegen Regelungen des Länderfinanzausgleichs vor dem Bundesverfassungsgericht. Unterstützt wurde diese Position durch die Naumann-Stiftung der FDP (Hrbek und Eppler, 2003, Dok. 8/1) sowie 2002 durch die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU (Margedant, 2003, 9). Ebenfalls von diesen Bundesländern gingen verschiedene Positionspapiere aus. Neben Regierungserklärungen und Presseäußerungen der Ministerpräsidenten der konservativ regierten süddeutschen Länder ist hier vor allem die gemeinsame Positionserklärung von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen von 1999 „Modernisierung des Föderalismus - Stärkung der Eigenverantwortung der Länder“ zu nennen. Der bayerische Landtag berief sogar eine Enquête-Kommission „Reform des Föderalismus - Stärkung der Landesparlamente“ ein, die im März 2002 ein Reformpapier vorlegte (Margedant, 2003, 8f).14 Deutlich ist also, dass die ersten Initiativen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre von den reichen Geberländern im Länderfinanzausgleich ausgingen und auf eine Stärkung ihrer finanziellen Unabhängigkeit zielten. Die Nehmerländer zeigten zu jenem Zeitpunkt noch wenig Initiative. Zwar gelang es der Ministerpräsidentenkonferenz, 1998 die „umfassende Überprüfung mit dem Ziel der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung” auf ihre Tagesordnung zu setzen (Margedant, 2003, 9), aber dieser Vorstoß zeitigte zunächst keine Konsequenzen. Auch der Bund verhielt sich lange zurückhaltend. Erst unter dem Eindruck einer weitgehenden Gesetzgebungsblockade durch den Bundesrat, der nicht zuletzt durch die massive Kritik von Gutachten der BertelsmannStiftung sowie politikwissenschaftlicher Publikationen hervorgerufen wurde (Hrbek und Eppler, 2003, Dokument 7; Männle, 1998; Benz, 1999; Münch, 1999; Fischer und Große Hüttmann, 2001), schwenkte er schließlich auf die Reformlinie ein, um seine eigenständige Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen. 1999 gab es - initiiert von den Ministerpräsidenten der Länder erste Gespräche zwischen Bund und Ländern mit dem Ziel, Positionen zu 14
Eine differenzierte Aufarbeitung der unterschiedlichen Reforminitiativen der Länder leisten Münch und Zinterer (2000) sowie Sturm (2003).
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formulieren und eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzusetzen (Hrbek und Eppler, 2003, 88; Münch und Zinterer, 2000, 657); aufgrund des ausstehenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Finanzausgleich wurde dieses Vorhaben jedoch zunächst hinausgeschoben. In seinem Urteil vom 11.11.1999 forderte das Verfassungsgericht vom Bund die Verabschiedung eines so genannten Maßstäbegesetzes, mit dem allgemeine Grundsätze für die Finanzverteilung in Deutschland konkretisiert werden sollten (BVerfGE, 2 BvF 2/98). Hierdurch erhöhte sich der Handlungsdruck auf die Bundesebene deutlich. Trotzdem verzögerte sich die geplante Bund-LänderKommission schließlich um drei Jahre: erst nach den Bundestagswahlen 2002 wurde das Ziel der Föderalismusreform auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben, am 27.02.2003 legten die Ministerpräsidenten ein Positionspapier vor (Hrbek und Eppler, 2003, Dokument 1), gefolgt im Sommer 2003 durch ein Positionspapier der Bundesregierung (Hrbek und Eppler, 2003, Dokument 2). Dass die Bundesregierung insgesamt bei der Thematisierung der Föderalismusreform immer noch Zurückhaltung übte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Positionspapier der Bundesregierung, das eigentlich vom 09.04.2003 stammt, bis in den Sommer hinein nicht veröffentlicht wurde. Die einzige Äußerung des Bundes, die bis zum Sommer in der Föderalismusdiskussion wiedergegeben werden konnte, war ein Interview der Justiziministerin Brigitte Zypries mit der FAZ vom 16.04.2003. Mit Nachdruck bekannte sich die Bundesregierung eigentlich erst 2005 zum Ziel der Föderalismusreform, als es im Koalitionsvertrag der großen Koalition eine prominente Position erhalten hatte (Kap. V.1 des Koalitionsvertrags vom 11.11.2005). 6 Prozesse 6.1 Probleme Dass der in die Jahre gekommene deutsche Föderalismus mit großen Problemen behaftet sei, darüber herrschte am Ende des 20. Jahrhunderts unter Praktikern wie Wissenschaftlern Einigkeit. Besonders prägnant ist die Defizitanalyse von Roland Sturm (2005, 195) zusammengefasst, weshalb sie hier vollständig zitiert werden soll: „Auf der Ebene der Gesamtbetrachtung des politischen Systems werden Ineffizienzen und Politikblockaden, mangelnde Entscheidungstransparenz, Demokratiedefizite - unter anderem
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wegen der Entmachtung der Landesparlamente -, falsche ökonomische Anreize im Steuersystem und im Finanzausgleich, eine sozialstaatliche Überfrachtung föderaler Konsensbildung und die mangelnde Europatauglichkeit des deutschen Beteiligungsföderalismus festgestellt. Konkret als reformbedürftig gelten in erster Linie die Mitwirkungsrechte des Bundesrates, eventuell auch sein Entscheidungsverfahren oder die Institution Bundesrat an sich (mit der Alternative eines Senatsmodells); die Zuordnung von Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, der Rahmengesetzgebung und der Gemeinschaftsaufgaben; die Regelungen zur Ausführung der Bundesgesetze; die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern von der Organisation der Steuerverwaltung über den Großen Steuerverbund bis hin zum Finanzausgleich sowie der Artikel 23 GG, bzw. allgemeiner formuliert, das Verfahren der Mitwirkung der Länder an der europäischen Gesetzgebung, wenn ihre Kompetenzen berührt werden.“ Bei einer solchen Mängelanalyse wird vor allem eins deutlich: An Problemen, an denen man den Reformbedarf argumentativ anknüpfen konnte, bestand bei der Föderalismusreform wahrlich kein Mangel. Erstaunlich ist eher, warum diese Probleme ausgerechnet 2003 so aufgegriffen wurden, dass sie zur Einsetzung einer Verfassungsreformkommission führten. Letztlich konzentrierte sich die Problematisierung auf drei Stränge: 1. die Ineffektivität des Gesetzgebungsverfahrens aufgrund der Mitregierungs- und Blockademacht des Bundesrates; 2. die Aushöhlung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder durch eine extensive Auslegung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen durch den Bund; 3. die Ineffizienz und Intransparenz des Finanzausgleichssystems. Diesen drei Problemsträngen korrespondieren die Konfliktlinien, die in Abschnitt 5.2 für die beteiligten Akteure identifiziert wurden. Die Ineffektivität des Gesetzgebungsverfahrens ist in der vertikalen Konfliktdimension insbesondere aus Sicht des Bundes problematisch, die Aushöhlung der Länderkompetenzen aus Sicht der Bundesländer (namentlich der Landtage).
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Die Problematisierung des Finanzausgleichs spiegelt die horizontale Konfliktlinie zwischen den Ländern wider, wo vor allem die Geberländer ein Interesse daran haben, weniger Ausgleichszahlungen leisten zu müssen. Problem 1 wurde in der öffentlichen Debatte als das drängendste Problem wahrgenommen, das auch am häufigsten zur Begründung der Notwendigkeit der Föderalismusreform ins Feld geführt wurde. Die Hintergründe des Vorwurfs sind hinreichend bekannt: Eine ganze Reihe von Gesetzgebungstatbeständen bedarf auf der Grundlage von Art. 77 Abs. 2 GG der Zustimmung durch den Bundesrat.15 Die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze, so das Argument, habe im Laufe der Jahre zugenommen ebenso wie die Neigung der Länder, den Bundesrat parteipolitisch motiviert als „Blockadeinstrument“ zu missbrauchen.16 Tatsächlich finden sich aber kaum objektive Indikatoren für dieses Problem (vgl. etwa Dästner, 2001). Der prozentuale Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze schwankte mit Ausnahme der ersten Legislaturperiode (dort lag er mit 41,8 % rund acht Prozentpunkte unter dem nächstniedrigsten Stand) zwischen 49,4 % (5. WP 1965-1969) und 60,6 % (10. WP 1980-1983) mit einem Durchschnittswert von 53,2 % und ohne eine erkenntliche durchschnittliche Zunahme über die Zeit hinweg (Georgii und Borhanian, 2006, 8). Auch die Zahl der abgelehnten oder nach einem Vermittlungsverfahren endgültig gescheiterten Gesetze liefert keine überzeugenden Hinweise: Von der 1. bis zur 14. Legislaturperiode einschließlich sind von 147 zustimmungspflichtigen Gesetzgebungsverfahren, in denen die Zustimmung durch den Bundesrat zunächst versagt wurde, nur 66 letztendlich gescheitert. Gemessen an der Zahl der Gesetzesbeschlüsse in diesem Zeitraum (6021) entspricht dies einem Anteil von rund 2,4 % (Schütze, 2006, 56; Schindler, 1999, 2005). Möglicherweise ist aber für die Wahrnehmung einer Blockade weniger die Menge der blockierten Gesetze relevant als vielmehr deren Inhalt. Handelt es sich um besonders konfliktträchtige Themen, die eine große Öffentlichkeitswirkung haben, dann mag dem Blockadebefund dennoch zugestimmt werden. Spektakuläre Fälle großer Gesetzesvorhaben, die zunächst im Bundesrat scheiterten, waren bspw. die rot-grüne Steuerreform im Juni 2000 und das Zuwanderungsgesetz im Juli 2003. Beide Gesetze konnten aber 15
Diese so genannten Zustimmungsgesetze nach Art. 77 Abs. 2 ergeben sich aus weiteren grundgesetzlichen Bestimmungen. Die Zahl der Grundgesetzartikel, die einen solchen Zustimmungstatbestand ausweisen, hat im Laufe der Jahre von 12 auf 35 zugenommen (vgl. Georgii und Borhanian, 2006, 7 m.w.N.). 16 Für einen Überblick über die zahlreichen Publikationen, die diese Einschätzung bekräftigen, s. Margedant (2003: 10f.).
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im zweiten Durchgang nach Anrufung des Vermittlungsausschusses verabschiedet werden, die Steuerreform im Juli 2000, das Zuwanderungsgesetz im Juli 2004. Schließlich ließe sich argumentieren, dass der Weg über Bundesrat und Vermittlungsausschuss die Effektivität der Gesetzgebung dadurch beeinträchtigt, dass ein Gesetz zwar formal verabschiedet wird, in der Zwischenzeit aber so viele Änderungen erfahren hat, dass es keine substanzielle Problemlösung mehr darstellt. Dies ist aber ein Problem jedes Verhandlungssystems mit Konsenszwang und liegt letztlich in der Natur demokratischer Entscheidungsfindung. Lediglich für die Zustimmungspflicht nach Art. 84 GG, der für den Zeitraum von 1981 bis 1999 fast 60 % aller zustimmungspflichtigen Gesetze ausmacht (Dästner, 2001, 296) ist der Befund des Blockadepotenzials relativ unumstritten. Allerdings gilt hier, dass der Bund die Zustimmung des Bundesrates schon immer umgehen konnte, indem er Gesetze in zustimmungspflichtige Teile, die sich auf die Behördenorganisation der Länder bezogen, und nicht zustimmungspflichtige Teile mit inhaltlichen Bestimmungen aufsplittete (Georgii und Borhanian, 2006, 14), von dieser Möglichkeit aber wenig Gebrauch gemacht hat (Dästner, 2001, 306ff.). Eine objektive dringende Notwendigkeit zur Verfassungsreform war in diesem Punkt also eigentlich nicht gegeben, die öffentliche Debatte über den blockierten Föderalismus hatte aber eine Eigendynamik entwickelt, die offensichtlich keine objektiven Problemindikatoren mehr benötigte. Problem 2 zielt auf die über die Jahre immer extensivere Ausschöpfung der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung (Art. 72 und Art. 75 GG) durch den Bund. In der Tat waren über die Jahre mehr und mehr Materien aus den jeweiligen Gesetzgebungskatalogen vom Bund übernommen worden. Durch die letzte große Verfassungsreform von 1994 in Folge der Wiedervereinigung war allerdings bereits die so genannte „Bedürfnisklausel“ in Art. 72 Abs. 2 GG in eine „Erforderlichkeitsklausel“ umgewandelt worden, da die Bedürfnisklausel als das Haupteinfallstor für eine Auszehrung der Länderkompetenzen angesehen wurde (AU2, 17; vgl. auch BT-Drs. 12/6000: 33). Während das Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Angemessenheit der Bundeskompetenz über lange Jahre dem Gesetzgeber überlassen hatte (AU2, 15f.), änderte es diese Rechtsprechungspraxis 2002 mit seinem Urteil zum Altenpflegegesetz (2 BvF 1/01). Durch dieses Urteil wurde die bis dato eher theoretisch gegebene Möglichkeit, die Ausweitungstendenzen durch die Bundesregierung zu begrenzen, konkretisiert und somit zugunsten einer Kompetenzstärkung der Länder eine Trendwende eingeleitet. Nach Auffassung der Länder bestand jedoch im unmittelbaren Vorfeld der Föderalismusreform eine starke Diskrepanz zwischen ihren verfassungs43
rechtlichen Möglichkeiten und der Verfassungspraxis, die zu korrigieren sie anstrebten (vgl. AU2, 18). Problem 3 umfasst den gesamten Problemkomplex des Finanzausgleichssystems. Ein zentraler Indikator für die Effektivität des Finanzausgleichs dürfte das Gesamtvolumen der Transferzahlungen sein, die seit 1990 dramatisch angestiegen sind.17 Da zugleich die absolute Zahl der Geberländer nicht angestiegen ist (es waren und sind die fünf genannten), sind diese natürlich heute wesentlich stärker belastet. Ausdruck dieses wahrgenommenen Ungleichgewichts war die in Abschnitt 5.2 bereits erwähnte Verfassungsklage Baden-Württembergs, Bayerns, und Hessens, die letztlich zur Verabschiedung des Maßstäbegesetzes führte. Dass hier ein objektiver Problemdruck bestand und besteht, dürfte unumstritten sein. Im Bereich der vertikalen Finanzverflechtungen waren insbesondere die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und b sowie die Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach Art. 104a Abs. 4 GG umstritten. Einerseits stellen diese finanziellen Verflechtungen der Bundes- und der Länderfinanzen eine finanzielle Unterstützung der Länder dar, andererseits wurden sie als „goldener Zügel“ empfunden und schränkten wiederum die eigenständige Handlungsfähigkeit der Länder massiv ein. Hier hatten alle Bundesländer das Interesse, die Einflussnahme des Bundes zu begrenzen, wobei zugleich zwischen den reicheren und den ärmeren Ländern der Interessenkonflikt bestand, dass die ärmeren Länder fürchteten, bei Wegfall der Finanzzuweisungen des Bundes überhaupt nicht mehr handlungsfähig zu sein. Ein drittes Argument gegen die bestehende Finanzverfassung war die insgesamt hohe Ineffizienz, die nicht zuletzt durch den Verwaltungsaufwand des hohen Umverteilungsvolumens und die weitgehende Zweckbindung der Bundeszuweisungen verursacht war. Allerdings spielte das Problem des Finanzausgleichs für das Agenda-Setting eine untergeordnete Rolle, da 2001 bereits ein Kompromiss im Länderfinanzausgleich erzielt worden war und dadurch zentrale Elemente der Finanzverfassung bis auf 2019 festgeschrieben worden waren. So konzentrierte sich denn das primäre Interesse auf die vertikalen Finanzverflechtungen. 17
1989 betrug die Summe der bundesweiten horizontalen Ausgleichszahlungen rund 2,5 Mrd. Euro, 2005 lag sie bei rund 7 Mrd. Euro (Angaben des Bundesfinanzministeriums: Daten zum Länderfinanzausgleich unter http:// www.bundesfinanzministerium.de/cln_05/nn_4320/DE/Finanz_und_Wirts chaftspolitik/Foederale_Finanzbeziehungen/Laenderfinanzausgleich/node.ht ml_nnn=true; gelesen am 23.11.07).
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6.2 Vorschläge Die Lösungsvorschläge, die zeitgleich mit der Problemthematisierung die politische Debatte beherrschten, zielten zum einen auf eine Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Ländern; dieser Vorschlag wurde - wenig erstaunlich - vor allem von den Geberländern des Länderfinanzausgleichs favorisiert sowie von ihnen ideologisch nahe stehenden Vereinigungen (BDI, Naumann-Stiftung). Mit Hilfe einer Stärkung des Wettbewerbsföderalismus sollte die Ineffizienz des Finanzausgleichs behoben werden. Da der Bund kein genuines Interesse an einem Wettbewerbsföderalismus hatte und die Nehmerländer jede Tendenz in diese Richtung fürchteten, konnte sich dieser Vorschlag aber nicht als dominantes Paradigma in der Reformdebatte durchsetzen. Er kennzeichnet vor allem die frühe Phase des Agenda-Setting vor 2000, als die Diskussion weitgehend allein von den Befürwortern des Wettbewerbsföderalismus bestimmt wurde. Parallel dazu und diesen Vorschlag nach und nach ablösend, wurde eine massive Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern vorgeschlagen. Die traditionelle Funktionentrennung (Gesetzgebung beim Bund, Vollzug durch die Länder) sollte durch eine klare Trennung von Gesetzgebungskompetenzen ergänzt werden, nach dem Konnexitätsprinzip sollten Aufgabendefinition, -vollzug und -finanzierung in einer Hand liegen. Dieser Lösungsvorschlag entwickelte im Vorfeld und insbesondere im weiteren Verlauf der Reformdiskussionen in der Bundesstaatskommission eine große suggestive Kraft, da sich darauf als abstrakten Anspruch alle beteiligten Parteien einigen konnten und er sich zugleich durch demokratische Tugenden wie erhöhte Transparenz und Verantwortlichkeit des Regierungshandelns sowie eine Stärkung der demokratisch direkt legitimierten Landesparlamente auszeichnete (Benz, 2005). Da Entflechtung in diesem pauschalen Anspruch operativ kaum zu realisieren und darüber hinaus wenig funktional ist, gestalteten sich die Verhandlungen in der Bundesstaatskommission denkbar schwierig.18 Interessanterweise wurden in den Verhandlungen - insbesondere durch die Beiträge der Sachverständigen in den Anhörungen - durchaus neue und differenziertere Lösungsvorschläge entwickelt, die sich aber dennoch nicht gegen das Entflechtungsparadigma durchsetzen konnten. Hier zeigt sich, dass die realen Machtpositionen, mit denen die verschiedenen Akteure im Reformprozess ausgestattet waren, einen deutlichen Einfluss auf die Durchset18
Für eine detaillierte Analyse der Rolle des Entflechtungsparadigmas für das Scheitern der Bundesstaatskommission vgl. Benz (2005)
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zungsfähigkeit von Lösungsvorschlägen ausübten: Die Politiker, die allein entscheidungsberechtigt waren, konnten die Lösungsvorschläge der Experten, die nur Anhörungsrechte hatten, einfach ignorieren. 6.3 Machtkonstellationen Die Art und Weise, wie die politics das Agenda-Setting beeinflussten, ist implizit in den Akteurskonstellationen bereits angeklungen. Politisch war die Machtverteilung stark fragmentiert: der rot-grünen Bundesregierung stand eine von Landtagswahl zu Landtagswahl größer werdende schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat gegenüber, so dass die Chancen für eine doppelte Zweidrittelmehrheit, die eine Verfassungsreform erforderlich machen würde, denkbar schlecht standen. Zugleich wurde durch diese Situation des ’divided government’ die Blockademacht des Bundesrates überdeutlich, was die Wahrnehmung eines Problemdrucks wiederum verschärfte. Unter den Akteuren, die sich zum Fürsprecher einer Föderalismusreform machten, waren die süddeutschen Geberländer die Vorreiter. Ihre Motivation war eindeutig eine Neuverhandlungserwartung, die deutlich über dem Status quo liegen könnte. Diese Promotoren einer Föderalismusreform waren aber alleine nicht in der Lage, das Thema effektiv auf die politische Agenda zu bringen.19 Erst nachdem es den Ministerpräsidenten gelungen war, zumindest vordergründig eine Interessenkoalition aller Bundesländer gegen den Bund zu schmieden mit dem Ziel, die Landesparlamente zu stärken und mehr autonome Kompetenzen vom Bund zurückzugewinnen, und nachdem der Bund durch die geänderte (stärker länderfreundliche) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes unter Druck geraten war, den Ländern Konzessionen anzubieten, um die Gesetzgebungskompetenzen zu sichern, war eine abstrakte große Koalition von Akteuren gegeben, die sich - aus unterschiedlichen Interessen heraus - für eine Verfassungsreform aussprachen. Hierbei spielten sowohl allgemeine Effizienzargumente eine Rolle als auch - auf Seiten des Bundes - die Hoffnung, durch gewisse Konzessionen einen dramatischeren Bedeutungsverlust im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zu vermeiden. Alle drei möglichen Akteursinteressen kamen hier also zusammen. In der zweiten Runde der Reform nach den Wahlen 2005 wurde die Reformagenda dadurch erleichtert, dass nun auch politisch eine große Koalition gegeben war und somit in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit in greifbare Nähe gerückt war. 19
Auf der Medienagenda waren die diversen Vorstöße und Initiativen durchaus, es wurde regelmäßig darüber berichtet, aber auch ohne gesteigerte Intensität.
46
7 Fazit Deutschland als föderaler Staat verfügt über eine Verfassung, die zugleich stabil ist und relativ häufig geändert wird. Knapp die Hälfte aller Änderungen bezieht sich auf die föderale Macht- und Ressourcenverteilung, die einerseits besonders konfliktbehaftet, andererseits besonders anpassungsbedürftig ist. Um sich diesem Veränderungsmuster föderaler Verfassungsartikel analytisch zu nähern, ist die Differenzierung in alltagspolitische und verfassungspolitische Änderungen hilfreich. Zwar passieren auch alltagspolitische Änderungen die formalen Hürden der Verfassungsänderung, sie verbleiben von ihrer politischen Bedeutung her aber in der Arena der Alltagspolitik, da durch sie keine grundlegenden Rahmenregeln in Frage gestellt werden. Genau dies geschieht hingegen bei verfassungspolitischen Änderungen, die dann initiiert werden, wenn die Konflikte innerhalb des existierenden Regelwerks nicht gelöst werden können und daher diese Regeln angepasst werden müssen. Bei dieser zweiten Art von Änderungen kommt interessierten Akteuren eine zentrale Bedeutung zu, da diese Verfassungsprobleme als solche definieren und thematisieren müssen. Andernfalls gelangen sie nicht auf die Agenda. In föderalen Verfassungen hängt die Reforminitiative eng mit der Neuverhandlungserwartung der Vertragsparteien zusammen. Nur wenn diese für einige Beteiligte deutlich über dem Status quo liegt, ist es wahrscheinlich, dass eine Reform thematisiert wird. Zwar kommt interessierten Akteuren für das Agenda-Setting von Verfassungsreformen eine zentrale Bedeutung zu, jedoch bedarf es darüber hinaus des Zusammentreffens von Problemen, Lösungen und geeigneten Machtkonstellationen, damit die Akteure ein Thema effektiv auf die Agenda setzen können. Dieses Set von Bedingungen wird durch die Idee des ’policy window’ illustriert, die John Kingdon in Anlehnung an das ’garbage can model’ von Cohen, March und Olsen entwickelt hat. Es konnte gezeigt werden, dass das Modell des policy window mit seinen Komponenten sehr gut geeignet ist, um das Agenda-Setting zu einer großen föderalen Verfassungsreform zu rekonstruieren und zu erklären. Am Beispiel der deutschen Föderalismusreform Teil I (2003 bis 2006) wurde gezeigt, dass in der Tat eine abstrakte Koalition interessierter Akteure entstehen mussten, die aus unterschiedlichen Interessen heraus in der Lage waren, sich auf eine übergreifende Problemdefinition (Verflechtung) sowie deren Lösung (Entflechtung) zu einigen. Obwohl eine Reform des Föderalismus nahezu seit Jahrzehnten immer wieder thematisiert wird, und obwohl bereits in der 2. Hälfte der 1990er-Jahre einige Akteure sehr klare 47
Interessen hinsichtlich einer Reform geäußert haben, wurde das Thema erst dann breitenwirksam diskutiert, als sich das Gelegenheitsfenster öffnete und auch der Bund und die Nehmerländer im Länderfinanzausgleich ihre Interessen an einer Neuregelung entdeckten. Die Problemindikatoren häuften sich, nicht zuletzt durch die lang anhaltende Situation gegenläufiger Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, und nach dem Wettbewerbsföderalismus, der eben gerade keine Breitenwirksamkeit entwickeln konnte, wurde mit dem Entflechtungsparadigma eine konsensfähige Lösungsideologie gefunden. Eine zentrale Rolle für dieses Gelegenheitsfenster kommt dabei dem Bundesverfassungsgericht zu, das durch seine Rechtsprechung die relativen Machtpositionen und somit die Neuverhandlungserwartungen der Vertragspartner verändert hat. Der Vorteil dieses Modells gegenüber traditionellen Ansätzen zur Erklärung von Verfassungswandel besteht zum einen darin, dass die zentrale Rolle von interessierten Akteuren systematisch berücksichtigt wird, zugleich aber Raum ist für das Wechselspiel zwischen Akteuren und Institutionen. Durch seine Prozessorientierung ist das Modell zum anderen zeitsensitiv und dadurch in der Lage, günstige Konstellationen im Zeitverlauf als situative Bedingungen für Agenda-Setting zu identifizieren und zu berücksichtigen. Weitere Fallbeispiele sollten herangezogen werden, um die empirische Basis zur Überprüfung des Modells zu erweitern und die Gültigkeit der gewonnenen Erkenntnisse zu stärken. Auf der Basis des einen untersuchten Falles lässt sich aber hoffen, dass das Modell sich auch in weiteren Anwendungen als leistungsfähig erweist. 8 Literaturverzeichnis Arbeitsunterlage 2 der Bundesstaatskommission vom 05.07.05, zitiert als AU2, 2005: Bund/Länder-Arbeitsgruppe Innerstaatliche Kompetenzordnung: Bericht zur innerstaatlichen Kompetenzordnung - Bestandsaufnahme und Problembeschreibung, Stand: 17. Dezember 2002. (http://www.bundesrat.de/cln_050/nn_8364/DE/foederalismus/bun desstaatskommission/unterlagen/AU-002,templateId=raw,property=p ublicationFile.pdf/AU-002.pdf) (23.03.2007). Abromeit, Heidrun, 1992: Der verkappte Einheitsstaat. ke+Budrich.
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Verfassungspolitische Konjunkturzyklen? Überlegungen zur Wirkungsweise konstitutioneller Rigidität1 Astrid Lorenz und Wenke Seemann
1 Einleitung Nachdem die Politikwissenschaft Verfassungsänderungen lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte (Bogdanor, 1988; Benz, 1993; Busch, 1999), begegnet sie diesem Phänomen inzwischen zunehmend mit Interesse. Langsam rückt ins Bewusstsein, dass expliziter Verfassungswandel viel stärker verbreitet ist, als es die Stabilitätspostulate in den Verfassungen erwarten lassen. Auch der Anspruch, erfolgreicher und stabiler zu sein als die Nichtdemokratien, stärkte die unterschwellige Annahme konstitutioneller Konstanz. Betrachtet man aber die etablierten Demokratien mit mehr als 1 Million Einwohnern, dann wurden die 16 bis 1958 in Kraft getretenen älteren Verfassungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute durchschnittlich je 32 Mal geändert (0,56 Verfassungsänderungen pro Jahr), also im Schnitt alle zwei Jahre. Die 21 jüngeren Verfassungen weisen eine etwas niedrigere Änderungsrate von 0,33 Verfassungsänderungen pro Jahr auf, doch auch hier gehören Verfassungsänderungen offensichtlich zum politischen Alltag und sind keine „Jahrhundertereignisse“ (Tabelle 3). Angesichts der langen Forschungsabstinenz sind viele verfassungspolitische Wirkungszusammenhänge noch unklar, zumal die Befunde erster Untersuchungen variieren. Dies gilt unter anderem für Analysen zur Wirkung der Rigidität, also der in den Verfassungen selbst verankerten Entscheidungshürde, die Akteure überwinden müssen, um den Verfassungstext ändern zu können. Die prointuitive Annahme, dass eine hohe Hürde die Änderungsneigung dämpft, hält sich hartnäckig in der Literatur (z.B. Rasch 1
Dieser Aufsatz basiert auf Arbeiten am Forschungsprojekt „Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien“. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung sowie dem/r anonymen Gutachter/in des Jahrbuchs für Handlungs- und Entscheidungstheorie und Joachim Behnke für wertvolle Anregungen und Kommentare.
und Congleton, 2006). Die empirischen Untersuchungen kommen aber zu unterschiedlichen Resultaten. Während Lutz (1994) die Anzahl der verabschiedeten Verfassungsänderungen durch die Rigidität faktisch voll erklärt sieht (mit der Hinzufügung der Variable Verfassungslänge erhöhte er die Erklärungskraft nur marginal), kommt Lorenz (2005) zu dem Befund, dass die Rigidität keinen nennenswerten Einfluss auf die Häufigkeit von Verfassungsänderungen hat. Alle vorliegenden Analysen weisen methodische Probleme auf, die ihre Aussagefähigkeit und Vergleichbarkeit potenziell einschränken. Daher steht noch immer die Frage im Raum, ob und, falls ja, wie die Rigidität die Verfassungsänderungspraxis demokratischer Staaten beeinflusst. In diesem Aufsatz geben wir zunächst einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zum Zusammenhang von konstitutioneller Rigidität und der Verfassungsänderungshäufigkeit. Wir diskutieren, welche Annahmen hinter der immer wieder aufgestellten Hypothese stehen, dass die Höhe der Hürde die Änderungshäufigkeit beeinflusst, und bewerten die Qualität der verschiedenen Untersuchungsergebnisse. Danach prüfen wir den Zusammenhang für einen Zeitraum von 60 Jahren und verschiedene Rigiditätsindizes. Die Ergebnisse dieses Tests bringen uns dazu, die bisherigen Vorstellungen zur Wirkungsweise der institutionellen Änderungshürde zu überdenken. Wir konzentrieren uns im zweiten Teil dieses Beitrags daher nicht mehr darauf, nationale Unterschiede der Änderungsraten zu prognostizieren, sondern versuchen, Erkenntnisse darüber zu gewinnen,wie die Rigidität überhaupt wirkt. Wir erweitern dazu den institutionalistischen Ansatz um mikroökonomische Annahmen und gehen nun davon aus, dass sich mit jeder innerhalb eines bestimmten Zeitraumes verabschiedeten Verfassungsänderung die Kosten- und Nutzenkalkulationen der beteiligten Akteure für die jeweils folgende Änderung verändert. Die Wirkung konstitutioneller Rigidität wird nicht mehr als konstant begriffen, sondern ist von Rückkopplungseffekten bereits ratifizierter Verfassungsmodifikationen beeinflusst. Die tatsächlichen Kosten können demzufolge von den ceteris paribus erwartbaren Entscheidungskosten abweichen, da sie im Interdependenzverhältnis zur Änderungshäufigkeit stehen. Kommt dieser Wirkungszusammenhang tatsächlich zur Geltung, sollte sich für die einzelnen Staaten empirisch die Ausbildung verfassungspolitischer „Konjunkturzyklen“ feststellen lassen.
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2 Das institutionalistische Verständnis von Rigiditätseffekten 2.1 Forschungsstand Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß an konstitutioneller Rigidität und der Änderungshäufigkeit demokratischer Verfassungen ist in der politikwissenschaftlichen Literatur häufig anzutreffen und erscheint aus vielerlei Gründen plausibel (Lutz, 1994; Schultze, 1997; Kaiser, 2002; Tsebelis, 2000; Manfredi, 1997; Weaver, 2000; Lhotta, 2001). Als rechtliches, politisches und normatives Fundament demokratischer Staaten sind Verfassungen gewöhnlich durch spezifische institutionelle Barrieren vor einer allzu trendanfälligen Änderungspraxis geschützt. Das in der Verfassung selbst verankerte Änderungsverfahren hemmt, so zumeist die Überlegung der Verfassungsgeber, tagespolitikorientierte Modifikationen durch hohe Zustimmungserfordernisse. Sie sollen in Form qualifizierter Parlamentsmehrheiten und zusätzlich notwendiger Entscheidungsarenen einen breiten politischen Konsens sicherstellen. Es ist die funktionelle Erwartung und normativ intendierte Wirkung institutioneller Änderungshürden, übermäßigen Reformeifer zu bremsen. Die verfahrensrechtliche Differenzierung zwischen Verfassungsänderungen und Einfachgesetzgebung ist in allen etablierten Demokratien üblich, die nicht, wie beispielsweise Großbritannien oder Neuseeland, in der Tradition der Parlamentssouveränität stehen.2 Obwohl ein möglicher Bedarf oder ein Interesse an Änderungen am Verfassungstext mit der Festschreibung der Änderungsregeln eigentlich bereits antizipiert wird, ist das allgemeine Verfassungsverständnis letztlich davon geprägt, dass das Spannungsverhältnis von erwünschter Stabilität und notwendiger Anpassungsfähigkeit zugunsten der Verfassungsstabilität ausfällt: „A successful constitutional system would seem to be defined by [. . . ] a moderate amendment rate – one that is to be expected in the face of inevitable change. A less-than-successful constitutional system will have a high rate of constitutional replacement“ (Lutz, 1994, 357). Gerade die Beispiele USA, Australien, aber auch Japan oder Dänemark dienen in der Literatur häufig als Belege dafür, dass die normativ intendierte Wirkung hoher Änderungshürden tatsächlich zur Geltung kommt 2
Im internationalen Demokratienvergleich stellen Großbritannien mit seiner nichtkodifizierten Verfassung und Neuseeland, dessen Verfassungsänderungsprozedur sich formal nicht vom normalen Gesetzgebungsverfahren unterscheidet, eine Ausnahme dar.
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und mit höherer Rigidität eine geringere Änderungshäufigkeit von Verfassungen einhergeht. Es wird auf die hohen Zustimmungserfordernisse zurückgeführt, dass die dänische Verfassung seit ihrem Inkrafttreten bisher unverändert geblieben ist (Nannestad, 2003), in Australien zwar auf Parlamentsbeschluss 44 Referenden über konstitutionelle Modifikationen stattfanden, aber nur acht Vorlagen nachfolgend die Zustimmung einer Mehrheit der sechs Einzelstaaten erhielten (Maddex, 1996, 13), oder dass in Kanada die beiden großen Verfassungsreformvorhaben von Meech Lake und Charlottetown scheiterten (Kaiser, 2002, 304-310). Im Gegensatz dazu scheint die vergleichsweise hohe Anzahl von Verfassungsänderungen in Österreich oder Finnland mit einer gemäßigten Rigidität einherzugehen (Tabelle 3). Theoretisch untermauert wird diese Beobachtung in der Regel mit dem Verweis auf die für eine Verfassungsänderung anfallenden Entscheidungskosten, die mit der Zahl der am Änderungsverfahren beteiligten Akteure und der Höhe der Mehrheitserfordernisse zunehmen und zu unhintergehbaren Vetos führen können: „The more difficult the amendment process, the lower the amendment rate, and the easier the amendment process, the higher the amendment rate“ (Lutz, 1994, 358). So häufig dieser Zusammenhang aber in der Literatur auch erwähnt wird, – es existieren bisher nur drei international vergleichend angelegte Studien, die sich theoretisch wie empirisch mit der Wirkung der konstitutionellen Rigidität auf die Verfassungsänderungspraxis auseinandersetzen (Lutz, 1994; Lorenz, 2005; Rasch und Congleton, 2006). Die Autoren untersuchen dabei nicht nur sehr unterschiedliche Staaten in variierenden Zeiträumen, sie verwenden zudem auch verschiedenartige Rigiditätskonzepte und Quellen zur Erhebung der Verfassungsänderungspraxis. Angesichts dieser Diversität entziehen sich die darauf beruhenden, höchst unterschiedlichen Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Forschungsarbeiten einem sinnvollen Vergleich. Der aktuelle Stand der Forschung bietet infolgedessen kein stabiles Fundament, um verallgemeinerbare Aussagen zu den Effekten der institutionellen Änderungshürde auf die Änderungshäufigkeit von Verfassungen zu treffen. Ein wesentliches Ziel dieses Beitrages ist es deshalb, im Zuge einer vergleichenden Analyse der vorliegenden Studien die grundlegenden empirischen Probleme zu identifizieren und soweit wie möglich zu lösen, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, mit einer neu angelegten Untersuchung zu allgemein gültigen Aussagen zu gelangen. Der nachfolgende Vergleich konzentriert sich dazu auf die Konzepte und Operationalisierungen der verwendeten Variablen Verfassungsänderungshäufigkeit und Rigidität sowie auf die Diskussion der jeweiligen Datengrundlage. Die Annahme, dass 58
es mit zunehmender Änderungshürde schwieriger wird, die Verfassung zu ändern und deshalb die Änderungshäufigkeit sinkt, bildet für alle Autoren die grundlegende Arbeitshypothese. Die Grundfrage, welche Arten von Verfassungswandel bei der Betrachtung Verfassungsänderungspraxis demokratischer Staaten und damit zur Erfassung der anhängigen Variable berücksichtigt werden sollen, beantworten noch alle Autoren gleichermaßen. Sowohl Lutz und Lorenz als auch Rasch und Congleton (die keine eigene Erhebung durchführen, sondern auf die Daten von Lutz zurückgreifen) beschränken sich auf die Erfassung expliziter Textänderungen und lassen impliziten Wandel, wie er sich zum Beispiel durch die Entscheidungen von Verfassungsgerichten vollziehen kann, außen vor (Lutz, 1994, 357; Lorenz, 2005, 341; Rasch und Congleton, 2006, 324). Erhoben werden von Lutz und Lorenz dementsprechend alle ratifizierten Verfassungsmodifikationen, wobei die Verfassungsänderungshäufigkeit von allen Autoren als jährliche Änderungsrate gemessen wird, um die Vergleichbarkeit auch für unterschiedlich lange Zeiträume zu gewährleisten. Konsequenz dieser Vorgehensweise ist die Gleichsetzung aller Änderungen hinsichtlich ihrer Reichweite3 . Prüft man die Kohärenz der von Lutz und Lorenz verwendeten Daten für die Verfassungsänderungshäufigkeit demokratischer Staaten, so weist der niedrige Korrelationskoeffizient (0.27) trotz gleicher Operationalisierung auf erhebliche Differenzen hin (Tabelle 1).4 Eine Ursache dafür ist sicherlich die Schwierigkeit, systematische Informationen zu Verfassungsänderungen im internationalen Vergleich zu finden. Der Zugriff auf derartige Daten wird erst seit wenigen Jahren durch die zunehmende elektronische Bereitstellung von Verfassungen und Übersichten von deren Änderungen im Internet erleichtert. Zudem können die Uneinigkeit darüber, was im konkreten Fall als Verfassungsänderung oder auch als Verfassungstext angesehen wird (Lorenz, 2005, 351),5 sowie die sehr unterschiedliche Fallauswahl und 3
4
5
Nicht jede Verfassungsänderung ist politisch gleich bedeutsam oder modifiziert gleichviel Artikel. Bei der gewählten Operationalisierung geht diese Information jedoch nicht in die Untersuchung ein. Der Test wurde nur für diejenigen Staaten durchgeführt, die von beiden Autoren untersucht worden sind. Der Versuch, die Lutz’schen Änderungsdaten zu reproduzieren ist in der Mehrheit der Fälle gescheitert. Die stärksten Abweichungen der Raten sind bei Neuseeland (13.4 vs. 1.3), Portugal (6.7 vs. 0.2) und Österreich (6.3 vs. 2.1) zu verzeichnen (Tabelle 3). Als Verfassungsdokumente wurden bei unserer Erhebung für Kanada die Constitution Acts/British North America Acts 1867-1982, für Schweden die Re-
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Änderungsrate Lutz
Änderungsrate (Lutz)
Änderungsrate 1993-2002 Lorenz
Änderungsrate 1945-2004 Lorenz/Seemann
1.00 21
Änderungsrate 1993-2002 (Lorenz)
0.27 0.23 21
1.00
Änderungsrate 1945-2004 (Lorenz/Seemann)
0.21 0.36 21
0.86 0.00 37
37 1.00 37
Quelle: Lutz 1994; Lorenz 2005; eigene Erhebung
Tabelle 1: Paarweise Korrelation der verschiedenen Verfassungsänderungsraten Dauer der berücksichtigten Untersuchungsperioden Gründe für die enormen Datenabweichungen zwischen den Autoren sein.6 Lutz, Rasch und Congleton sowie Lorenz erfassen mit der „Rigidität“ als unabhängige Variable ihrer Untersuchungen im Wesentlichen die Zahl der an Verfassungsänderungen beteiligten Akteure bzw. Entscheidungsarenen und Mehrheitserfordernisse. Die „Starrheit“ oder „Rigidität“ eines Verfassungsdokuments wird demnach anhand seiner institutionellen Änderungshürde definiert. Demnach bestimmt das Verfassungsänderungsverfahren den Schwierigkeitsgrad der Verabschiedung eines jeden Verfassungs-
6
geringsformen, Successionsordningen, Tryckfrihetsförordningen und Yttrandefrihetsgrundlag, für Neuseeland der Constitution Act 1986 (1999), der Bill of Rights Act (1994), der Human Rights Act (1993), der Treaty of Waitangi (1840) und der Electoral Act (1993) betrachtet (vgl.: www.verfassungen.de). Während sich die Abweichung im neuseeländischen Fall möglicherweise auf die Berücksichtung verschiedener Verfassungstexte zurückführen lässt (Lorenz, 2005, 351), sind die Verfassungsdefinitionen der beiden anderen Staaten unstrittig, so dass nur eine stark differierende Zählweise der einzelnen Verfassungsänderungen als Erklärung für die Abweichung in Frage zu kommen scheint.
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änderungsentwurfs und bleibt in seiner Wirkung konstant.7 Da Lorenz (2005) auch Rigiditätskonzepte vergleichend untersucht, die nicht in Verbindung mit der Verfassungsänderungspraxis entwickelt worden sind (Lijphart, 1999; Anckar und Karvonen, 2002), lassen sich insgesamt fünf verschiedene Grundvarianten unterscheiden. Unterschiede zeigen sich im konkreten Aufbau der Rigiditätsindizes. Donald Lutz (1994) konstruiert seinen „index of difficulty“ anhand von 68 verschiedenen Verfahrensmerkmalen von Verfassungsänderungsprozessen. Er differenziert dabei nach einzelnen Prozessabläufen, wie Initiierung und Ratifikation, sowie nach unikameralen und bikameralen Systemen. Den einzelnen Merkmalen weist Lutz nach Mehrheitserfordernis und Anzahl der Parlamentskammern gewichtete Rigiditätswerte zu, die er aus einer Untersuchung der Verfassungen der US-Bundesstaaten (1776-1991) empirisch ableitet. Durch die Addition der Werte für jeden notwendigen Verfahrensschritt erhält man einen Indexwert, der die Rigidität der erfassten Verfassungen beschreibt (Lutz 1994: 368). Als methodisch problematisch erweist sich hier insbesondere die auf (teilweise) empirischer Ableitung beruhende Indexbildung: Berücksichtigt man die Wirkung von Verfahren bereits in dem Index, der für die Messung potenzieller Verfahrenseffekte erzeugt wird, können abhängige (Änderungshäufigkeit) und unabhängige (Änderungsverfahren) Variable nicht unabhängig von einander erfasst und gemessen werden, was zu erheblichen Ergebnisverzerrungen führen dürfte (Lorenz 2005). Arend Lijphart untersucht zwar keine Effekte der konstitutionellen Änderungshürde, entwickelt im Rahmen seiner umfassenden Analyse von Demokratien (1999) aber eine relativ einfache Klassifizierung von Verfassungen gemäß ihrer Flexibilität, die er anhand der für Änderungen vorgesehenen Mehrheitserfordernisse bestimmt. Lijphart unterscheidet zwischen zwingend notwendigen einfachen, absoluten und Zwei-Drittel-Mehrheiten, wobei er jeweils die geringste von den Akteuren zu überwindende Hürde berücksichtigt. Er nutzt dafür eine Skala von 1 für sehr flexibel bis 4 für extrem rigide Verfassungen (Lijphart, 1999, 218-223). Anckar und Karvonen (2002) bilden in ihrer Untersuchung den Rigiditätsindex, um die im internationalen Vergleich auftretende Varianz der Änderungsverfahren zu erklären. Bei ihnen stellt die Rigidität im Gegensatz zu allen anderen Untersuchungen die abhängige Variable dar. Der von ihnen konstruierte Index beruht auf einer zweidimensionalen Typologie, 7
Das gilt zumindest, solange das Verfahren nicht selbst Gegenstand einer Verfassungsänderung wird.
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Donald Lutz
Donald Lutz Arend Lijphart Anckar/ Karvonen Astrid Lorenz Durchschnittswert standard. Indizes
Arend Lijphart
Anckar/ Karvonen
Astrid Lorenz
Durchschnittswert standard. Indizes
Imputierter Faktor
1.00 22 0.53 0.01 21 0.33 0.14 22 0.6 0.00 22 0.77 0.00 22
Impu0.78 tierter 0.00 Faktor 22 Quelle: Lorenz 2005: 349
1.00 26 0.46 0.02 26 0.61 0.00 26 0.82 0.00 26
39 0.37 0.02 39 0.70 0.00 39
39 0.83 0.00 39
0.83 0.00 26
0.61 0.00 39
0.88 0.00 39
1.00
1.00
1.00 39
0.99 0.00 39
1.00 39
Tabelle 2: Paarweise Korrelation der verschiedenen Rigiditätsindizes
62
die auf der einen Seite zwischen Staaten unterscheidet, deren Verfahrensregeln nur eine parlamentarische Entscheidung und denen, die zusätzlich ein Referendum oder die Zustimmung von Gliedstaaten zur Ratifizierung von Verfassungsänderungen vorsehen. Die zweite typologische Dimension bildet die Klassifizierung der Änderungsprozeduren nach einfachen, qualifizierten und rigiden Mehrheitserfordernissen (Anckar/Karvonen 2002). Damit berücksichtigen Anckar und Karvonen zwar im Gegensatz zu Lijphart systematisch Referenden, allerdings differenzieren sie beispielsweise nicht nach Anzahl der Parlamentskammern, so dass es bei dieser Operationalisierung keine Rolle spielt, ob die notwendige Parlamentsmehrheit in einer oder zwei Arenen zustande kommen muss. Im Unterschied zu Lijphart und Anckar und Karvonen nutzt Astrid Lorenz (2005) ähnlich wie Lutz die additive Indexbildung zur Messung der Änderungshürde. Die Rigiditätswerte für die einzelnen Demokratien ergeben sich hier aus der systematischen Berücksichtigung der zur Verabschiedung erforderlichen Mehrheiten in obligatorisch beteiligten Entscheidungsarenen (nationales Parlament, Gliedstaaten, Referenden). Lorenz legt der Bewertung wie Lijphart immer die Änderungsprozedur zugrunde, welche die geringste Differenz zum normalen Gesetzgebungsverfahren aufweist, weil davon auszugehen ist, dass rationale Akteure den Weg des geringsten Widerstandes bevorzugen (Lorenz 2005: 346-347, 356-357). Rasch und Congleton (2006) konstruieren im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Verfassungsstabilität einen eigenen Index, wobei sie die den Verfassungen zugewiesenen Werte nicht publizieren. In Anlehnung an Lutz (1994) und Tsebelis (2002) setzt sich der Rigiditätswert hier aus den Mehrheitserfordernissen, der Anzahl der Vetospieler und Vetopunkte (Wahl, Referendum) zusammen. Die Tsebelis’schen Feindifferenzierungen zur Wirkungsweise von Vetostrukturen, etwa hinsichtlich des ideologischen Abstands der Vetospieler bezüglich eines Konfliktgegenstands, werden von den Autoren jedoch nicht berücksichtigt und können wohl bei Tests der angestrebten Größenordnung auch gar nicht berücksichtigt werden. So bleibt es bei einer sehr einfachen Referenz auf den Vetospieleransatz. Obwohl die Rigiditätsindizes auf verschiedenen Operationalisierungen und Messmethoden beruhen, korrelieren die jeweiligen Indexwerte auf einem sehr hohen Signifikanzniveau miteinander (Tabelle 2). Alle Indizes
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messen tendenziell dasselbe latente Konstrukt.8 Die Datenbasis der unabhängigen Variable ist demzufolge bei allen Autoren relativ einheitlich. Im Gegensatz zur grundsätzlichen Anlage der abhängigen und unabhängigen Variable unterscheiden sich die Studien hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Datenbasis erheblich. Donald Lutz (1994) testet in seiner Studie diese Hypothese anhand von 32 „true constitutional systems“, wobei er die Kriterien der Fallauswahl nicht weiter konkretisiert (Lutz 1994: 357).9 Die von ihm ausgewählten Staaten weisen keinen einheitlichen Untersuchungszeitraum auf, und die jeweils erfassten Zeitperioden variieren sowohl hinsichtlich der historischen Umstände als auch hinsichtlich der Länge sehr stark (z. B. Argentinien: 1853-1940, Chile: 1925-1970, Deutschland: 19491992, Frankreich: 1968-1992, West-Samoa: 1962-1984). Bei einer beachtlichen Streuung zwischen 15 und 203 Jahren wird durchschnittlich ein Zeitraum von 52 Jahren beobachtet (Lutz 1994: 369). Die auf der Lutz’schen Auswahl basierende Studie von Rasch und Congleton (2006) zieht nur die 19 in der Stichprobe enthaltenen OECD-Staaten zur Analyse heran, wobei sie die erfassten Zeiträume nur ausschnitthaft für einige wenige Staaten verlängern (Rasch/Congleton 2006: 334). Astrid Lorenz (2005) hingegen bezieht systematisch alle im Zeitraum von 1993 bis 2002 vollständig etablierten, friedlichen Demokratien mit mehr als 1 Millionen Einwohner in ihre Untersuchung ein (Lorenz 2005: 348).10 Um verzerrte Aussagen zu vermeiden, erscheint es gerade angesichts der relativ langen Dauer verfassungspolitischer Aushandlungsprozesse sinnvoll, wie Lutz (1994) möglichst lange Phasen verfassungspolitischer Aktivität zu beobachten. Die Länge des Untersuchungszeitraums ist aber nicht das allein entscheidende Kriterium für die Aussagekraft der Ergebnisse. Darüber hinaus sollte die Auswahl der Staaten und der zu erfassenden Zeiträume wie bei Lorenz (2005) systematisch erfolgen, um die historische Vergleichbarkeit sicherstellen und die Resultate angemessen beurteilen zu können. Während man aus Lorenz’ Arbeit Erkenntnisse für alle etablierten Demokratien in ei8
Der von Rasch und Congleton entwickelte Index konnte bei diesem Test nicht berücksichtigt werden, da die jeweiligen Werte auf Basis der Veröffentlichung nicht reproduzierbar sind. Nur die Indizes von Lutz und Anckar und Karvonen weisen mit einem Korrelationskoeffizienten von 0.33 keinen signifikanten Zusammenhang (0.14) auf (Tabelle 2). 9 „Any comparative study of the amendment process must first distinguish true constitutional systems from those that use a constitution as window dressing“ (Lutz 1994: 357). 10 siehe auch: Tabelle 3
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nem relativ kurzen, aber einheitlichen Zeitraum von zehn Jahren gewinnen kann, ist es fraglich, worauf sich analog die Ergebnisse von Lutz beziehen. Das unterschiedliche Vorgehen wirkt sich nachvollziehbarerweise erheblich auf die jeweilige Datengrundlage der abhängigen Variable aus (Tabelle 3). Die erhebliche Varianz der vorliegenden Studien hinsichtlich ihrer Fallauswahl, des von ihnen berücksichtigten Untersuchungszeitraumes, der darauf beruhenden Zahlen der Verfassungsmodifikationen und ihres Rigiditätskonzeptes schlägt sich in den Resultaten nieder; der Unterschied der jeweiligen Befunde ist eklatant. Donald Lutz ermittelt – als einziger – einen hoch signifikanten Zusammenhang zwischen der konstitutionellen Rigidität und der Verfassungsänderungsrate (Lutz 1994: 362). Astrid Lorenz wiederholt seine Berechnung mit allen verfügbaren Rigiditätsindizes und kann den von Lutz gefundenen Zusammenhang zwar prinzipiell für alle Indizes bestätigen, aber allein für die von Lutz erhobenen Änderungsraten (Lo2 renz 2005: 352-353). Hier ist der Determinationskoeffizient (Radj. ) für den Lutz’schen Index mit einem Wert von 0.93 unglaublich hoch (insbesondere für ein Regressionsmodell, das nur eine erklärende Variable berücksichtigt). Für die Verfassungsänderungspraxis im Zeitraum 1993 bis 2002 in etablierten Demokratien mit über 1 Million Einwohnern lässt sich hingegen nur Gegenteiliges behaupten: Sowohl Korrelations- als auch Regressionsanalyse weisen eindeutig darauf hin, dass kein Zusammenhang zwischen der Höhe der Änderungshürde und der Änderungshäufigkeit von Verfassungen angenommen werden kann. Das gilt wiederum für alle getesteten Indizes, wobei der Index von Anckar und Karvonen die höchsten und der derjenige von Lijphart die niedrigsten Koeffizienten produziert (Lorenz 2005: 352-353; Tabellen 4 und 5). Rasch und Congleton, deren Berechnungen im Wesentlichen auf den Änderungsraten von Lutz beruhen, bestätigen statistisch ebenfalls die Vermutung, dass mit zunehmender Anzahl von Vetospielern und Vetopunkten die Änderungsrate abnimmt, können aber keinen Effekt übergroßer Mehrheiten feststellen (Rasch/Congleton 2006: 334-335). Letztlich gehen auch die beiden Autoren nicht davon aus, dass die international auftretende Varianz der Verfassungsänderungshäufigkeit hinreichend durch die Rigidität11 erklärt werden kann (Rasch/Congleton 2006: 338).
11
Obwohl Rasch und Congleton angeben, einen eigenen Rigiditätsindex zu konstruieren, testen sie die indexbildenden Variablen, wie z.B. Referendumserfordernis oder Anzahl der Vetopunkte, einzeln (Rasch/Congleton 2006: 335).
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Angesichts dieser Ergebnisse bleibt die Frage nach dem Verhältnis von konstitutioneller Rigidität und der Neigung von Demokratien zu Verfassungsänderungen offen. Während die Rigiditätskonzepte zwar nicht gleichermaßen überzeugen, aber dennoch immerhin dasselbe Konstrukt abbilden, ist offenbar die extrem abweichende Datenbasis der Verfassungsänderungspraxis bei Lorenz und Lutz hauptverantwortlich für die unterschiedlichen Ergebnisse (Tabellen 1 und 5). 2.2 Der Einfluss der konstitutionellen Rigidität auf die Änderungshäufigkeit von Verfassungen: 1945 bis 2004 Um zu einem Befund mit größerer Aussagekraft zu gelangen, testen wir im Folgenden den Zusammenhang zwischen Rigidität und Änderungshäufigkeit für alle Indizes (außer Rasch/Congleton) in einem Untersuchungszeitraum von 60 Jahren. Wir berücksichtigen systematisch alle etablierten Demokratien mit mehr als 1 Millionen Einwohner,12 deren Verfassungsänderungen quantifizierbar sind13 und die frei von bürgerkriegsähnlichen Zuständen waren.14 Diese Auswahlkriterien führen zu einem Sample von 37 Staaten. Die Verfassungsänderungspraxis dieser Demokratien wird anhand aller expliziten Änderungen der aktuellen Verfassung zwischen 1945 und 2004 über einen Zeitraum von bis zu 60 Jahren erfasst. Mit der Nachkriegszeit ist eine Periode ausgewählt worden, die angesichts internationaler, politischer wie wirtschaftlicher Rahmenbedingungen eher einen systematischen Vergleich der unterschiedlichen Demokratien ermöglicht als ein Mix aus historischen und gegenwärtigen Einzelperioden (Tabelle 3). Für die 37 erfassten Demokratien geht jeweils die längstmögliche vergleichbare Periode demokratischer Verfassungsänderungspolitik in die Untersuchung ein. Im 12
Die Klassifizierung der Staaten als etablierte Demokratien erfolgte auf Basis von Freedom House. Alle Staaten wurden durch den Freedom-House-Index seit Erfassung des Freiheitsstatus’ 1972 über die gesamte im Datensatz erfasste Zeitperiode als Staaten mit gut ausgeprägten Bürgerrechten bzw. als „freie Demokratien“ eingestuft (Freedom House, 2007). Die 1-Millionen-Grenze soll ein Mindestmaß an politischer Komplexität gewährleisten. 13 Großbritannien fällt aufgrund dieser Bedingung heraus. 14 Dies soll verzerrende Nebeneinflüsse auf die Verfassungspolitik ausschließen. Im Unterschied zum früheren Sample (Lorenz 2005: 358) wird Papua Neuguinea aufgrund des Bürgerkriegs auf Bougainville 1989-1997 nicht bei der Länderauswahl berücksichtigt.
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Falle der Etablierung einer neuen Verfassung, wie in Deutschland (1949), Italien (1948), Dänemark (1953) oder Frankreich (1958), sind nur die Änderungen des neueren Dokuments15 erfasst. Ansonsten setzt die Zählung ab dem Zeitpunkt ein, zu dem die Staaten die oben genannten Auswahlvoraussetzungen erfüllten. Im Durchschnitt werden in diesem Sample so 37 Jahre demokratischer verfassungspolitischer Änderungsaktivität pro Staat erfasst (Tabelle 3). Aussagen, die auf Basis dieser Daten erfolgen, beziehen sich damit potenziell auf die Gesamtheit erfolgreicher verfassungspolitischer Aktivitäten demokratischer Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg. Tabelle 3 veranschaulicht die aktualisierte und erweiterte Datengrundlage der abhängigen Variablen: Die Häufigkeit expliziter Verfassungsänderungen in den Zeiträumen 1945-2004 und 1993-2002 wird jeweils als Verfassungsänderungsrate angegeben, um die Daten der einzelnen Staaten und unterschiedlichen Verfassungsänderungsraten vergleichen zu können. Vergleicht man die Daten für den erweiterten Untersuchungszeitraum mit denen für den Zeitraum 1993 bis 2002 bei Lorenz (2005), dann haben sich für fast alle Staaten (89% der Fälle) die Änderungsraten verändert. Die Änderung fiel in zwölf der 37 Staaten seit 1993 als deutliche Steigerung aus (mehr als 0,3 Unterschied zwischen der Rate im Gesamtzeitraum und im Zeitraum 1993 bis 2002). Die Änderungsraten von zwölf weiteren Staaten (Australien, Bolivien, Chile, Dänemark, Griechenland, Japan, Portugal, Schweden, Spanien, Südkorea, Uruguay, USA) weisen keine oder nur marginale (bis 0,1) Unterschiede auf. Lediglich in Norwegen liegt die Änderungsrate 1993 bis 2002 deutlich unter der für den Gesamtzeitraum. Für die zehn seit 1990 demokratisierten oder redemokratisierten Staaten (Benin, Bulgarien, Chile, Litauen, Mongolei, Namibia, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn) ist dieser Vergleich nicht sinnvoll, weil die beiden Zeiträume effektiv kaum variieren (Tabelle 3). Ein statistischer Zusammenhang von konstitutioneller Rigidität und Verfassungsänderungshäufigkeit kann mit den aktuellen Daten weder für die Änderungsrate von 1993 bis 2002 noch für die von 1945 bis 2004 nach15
Als Quellen dienen dabei die jeweiligen Verfassungen selbst sowie die OnlineDatenbank „Constitutions of the Countries of the World“ (Flanz et al., 2007). Als Verfassungsdokumente wurden für Kanada die Constitution Acts/British North America Acts1867-1982, für Schweden die Regeringsformen, Successionsordningen, Tryckfrihetsförordningen und Yttrandefrihetsgrundlag, für Neuseeland der Constitution Act 1986 (1999), der Bill of Rights Act (1994) und der Human Rights Act (1993), der Treaty of Waitangi (1840) und der Electoral Act (1993) betrachtet (vgl.: www.verfassungen.de).
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Staat
1945 -2004
Erfasster Zeitraum
1993 -2002
Erfasster Zeitraum
Lutz
Erfasster Zeitraum
Australien Belgien Benin Bolivien Botsuana Bulgarien Chile Costa Rica Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Jamaika Japan Kanada Litauen Mauritius Mongolei Namibia Neuseeland Niederlande Norwegen Österreich Polen Portugal Schweden Schweiz Slowenien Spanien Südkorea Tschechien Ungarn Urugay USA
0.02 0.78 0.00 0.09 0.38 0.07 1.00 0.79 0.00 0.91 0.87 0.36 0.07 0.33 0.38 0.29 0.00 0.38 0.54 0.59 0.15 0.07 0.50 0.41 0.67 1.30 0.57 0.21 0.90 1,53 0.29 0.04 0.00 0.67 0.87 0.20 0.10
1945-2004 1945-2004 1990-2004 1982-2004 1966-2004 1991-2004 1990-2004 1949-2004 1953-2004 1949-2004 1945-2000 1958-2004 1975-2004 1945-2004 1948-2004 1962-2004 1946-2004 1945-2004 1992-2004 1968-2004 1992-2004 1990-2004 1945-2004 1983-2004 1945-2004 1945-2004 1992-1997 1976-2004 1975-2004 1945-2000 1991-2004 1978-2004 1988-2004 1993-2004 1990-2004 1985-2004 1945-2004
0.00 1.90 0.00 0.10 0.70 0.00 1.10 1.50 0.00 1.30 2.29 0.90 0.10 0.90 0.70 0.50 0.00 0.70 0.30 0.80 0.10 0.10 1.30 0.60 0.20 2.10 0.80 0.20 1.00 2.00 0.20 0.00 0.00 0.50 1.00 0.20 0.00
1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2000 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-1997 1993-2002 1993-2002 1993-2000 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002 1993-2002
0.09 2.30 2.44 0.64 1.26 0.17 2.91 0.86 0.19 1.32 0.55 0.24 0.00 13.42 1.14 6.30 6,67 4.72 0.78 0.18 0.13
1901-1992 1973-1988 1966-1984 1925-1970 1949-1982 1953-1992 1949-1992 1919-1992 1968-1992 1975-1992 1937-1992 1946-1992 1945-1992 1947-1987 1814-1982 1975-1992 1976-1991 1974-1992 1873-1992 1968-1992 1789-1992
Durchschnitt
0.44
36.8 Jahre
0.65
9.7 Jahre
2.21
55.2 Jahre
Quelle: eigene Erhebung; Lorenz 2005; Lutz 1994
Tabelle 3: Verfassungsänderungsraten etablierter Demokratien im Vergleich 68
Rigiditätsindizes Lutz
Lijphart
Anckar/ Karvonen
Lorenz
Durchschnittswert standard. Indizes
Imputierter Faktor
Änderungsrate (Lutz)
-0.72 21
-0.41 20
-0.46 21
-0.59 21
-0.69 21
-0.70 21
Änderungsrate (1993-2002)
-0.21 21
-0.05 24
-0.44 37
-0.16 37
-0.31 37
-0.23 37
Änderungsrate (1945-2004)
-0.11 21
0.10 24
-0.42 37
-0.22 37
-0.22 37
-0.21 37
Tabelle 4: Korrelation von Änderungsrate(n) und Rigiditätsindizes gewiesen werden. Die Rigiditätsindizes von Lutz (-0.21/-0.11), Lijphart (0.05/0.10) und Lorenz (-0.16/-0.22) weisen bei der Korrelation nur minimale Koeffizienten auf. Selbst die Werte für den Durchschnitt der standardisierten Indizes (-0.31/-0.22) und den imputierten Faktor (-0.23/-0.21) sinken für beide Änderungsraten unter die Signifikanzgrenze und weisen als mathematisch ermittelte, weniger fehleranfällige Alternativen16 zu den empirisch erhobenen Daten ebenfalls eine relevante Kohärenz von der Hand. Einzig das Rigiditätsmaß von Dag Anckar und Lauri Karvonen produziert bei der Korrelation mit allen Änderungsraten Werte, die auf einen Zusammenhang der Variablen schließen lassen (Tabelle 4). Angesichts der vergleichsweise niedrigen Zusammenhangswerte zwischen dem Index von Anckar und Karvonen und allen anderen Indizes (Tabelle 2) mag die Indexkonstruktion von Rigidität als abhängige Variable diese Abweichung bedingen. Methodische Probleme der Indexkonstruktion (Lorenz 2005: 344-345) 16
Weitere Angaben und Diskussion zu diesen Methoden u.a. bei Lorenz (2005); Goldstein (1996); Little (1987).
69
Rigiditätsindizes Lutz
Lijphart
Anckar/ Karvonen
Lorenz
Durchschnittswert standard. Indizes
Imputierter Faktor
Änderungsrate (Lutz)
0.93 21
0.33 24
0.36 37
0.74 37
0.45 37
0.46 37
Änderungsrate (1993-2002)
-0.01 21
-0.04 24
-0.11 37
0.01 37
0.07 37
0.03 37
Änderungsrate (1945-2004)
-0.04 21
-0.04 24
0.10 37
-0.01 37
0.02 37
0.02 37
2 Tabelle 5: Korrigierte Determinationskoeffizienten (Radj. ) für die Regression der Rigidität auf die Verfassungsänderungsrate(n)
lassen uns zudem zu der Überzeugung gelangen, dass die anderen Indizes besser dazu geeignet sind, die Rigidität zu erfassen. Die Wiederholung der Regressionsanalyse bestätigt, dass kein spezifischer Einfluss der institutionellen Änderungshürde auf die Reformneigung demokratischer Staaten messbar ist. Alle berücksichtigten Indizes produzieren 2 Determinationskoeffizienten (Radj. ) nahe Null, die dem Modell keinerlei Erklärungskraft für die in etablierten Demokratien auftretende Varianz der Verfassungsänderungsraten bescheinigen. Nur die Regressionsmodelle für 2 den Index von Anckar und Karvonen weisen mit deutlich höheren Radj. Werten (0.11/0.10) der Rigidität wiederum eine gewisse Erklärungskraft zu (Tabelle 5). Betrachtet man allerdings die niedrigen R2adj. -Werte der Modelle für den Durchschnitt der standardisierten Indizes (0.07/0.02) und den imputierten Faktor (0.03/0.02), so lässt sich die Vermutung eines Einflusses der institutionellen Änderungshürde auf die Änderungsrate kaum halten. In der Gesamttendenz ist die Rigidität demnach kein guter Prädiktor für die deutlichen Unterschiede der Änderungshäufigkeit von Verfassungen in
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den etablierten Demokratien – weder für die Phase seit 1993 noch für den Gesamtzeitraum von 1945-2004. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der offenbar so plausible Zusammenhang gar nicht oder möglicherweise anders als institutionalistisch gedacht existiert. Dass die länderspezifischen Unterschiede der Verfassungsänderungspraxis sich nicht auf die Rigidität zurückführen lassen und höchstwahrscheinlich andere Faktoren diese empirisch messbare Varianz bedingen, muss zwar nicht bedeuten, dass die normativ intendierte Wirkung der konstitutionellen Rigidität im Einzelfall nicht doch zur Geltung kommt, aber grundsätzlich müssen wir unsere Vorstellung von der Wirkungsweise der Institution Rigidität überdenken. 3 Eine mikroökonomische Sicht auf Rigiditätseffekte 3.1 Theoretische Annahmen zu Skaleneffekten auf die verfassungspolitische Kosten-Nutzen-Kalkulation Im Folgenden entwerfen wir einen Alternativansatz zur Erklärung der Häufigkeit von Verfassungsänderungen. Dabei geht es uns nicht in erster Linie um die Prognose nationaler Unterschiede, sondern von Varianzen im Zeitverlauf einzelner Staaten, die aber später auch Rückschlüsse für die Erklärung nationaler Unterschiede zulassen könnten. Bei dem hier präsentierten Modell greifen wir auf mikroökonomische Annahmen zur Verabschiedung von Verfassungsänderungen zurück, die die Wirkung von Institutionen wie der Rigidität beeinflussen. Wir stellen eine wie auch immer geartete Wirkung der Rigidität nicht grundsätzlich in Abrede, zäumen aber im Gegensatz zu einem rein institutionalistischen Ansatz "das Pferd von hinten auf“ und nehmen an, dass die Änderungshäufigkeit selbst Rückkopplungseffekte auf die Entscheidungskosten und den Nutzen von Verfassungsänderungen erzeugt. Dies würde seinerseits dazu führen, dass Institutionen bzw. in unserem konkreten Fall die Rigidität nicht in einem solchen konstanten Verhältnis zum verfassungspolitischen Verhalten von Staaten steht, wie einige Zusammenhangsanalysen unterstellen. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Anzahl der Verfassungsänderungen (in einem bestimmten Zeitraum) sowohl abhängige als auch unabhängige Variable. Unsere Alternativüberlegungen gehen von folgenden Vorannahmen aus, die das Handeln der Akteure sowie den potenziellen Einfluss von Kontextfaktoren auf die zeitliche Anordnung von Verfassungsänderungen betreffen:
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Erstens handeln Akteure rational, wägen also Kosten und Nutzen gegeneinander ab. Zweitens liefert der permanente Wandel der Rahmenbedingungen in modernen Demokratien stetige Anreize an die Akteure, die Verfassungen zu ändern. Dies liegt daran, dass sie hochkomplexe soziale Konstrukte sind, daher jede Form von Kontextwandel potenziell bestimmte Regelungsbereiche berührt (Grundwerte, Machtfragen, Verhältnis Staat - Gesellschaft u.ä.) und damit Änderungsanreize verursacht. Daher müssen weder der Wandel der Rahmenbedingungen noch die durch ihn verursachten Änderungsanreize als Variablen zur Erklärung von Änderungshäufigkeiten berücksichtigt werden; kleinere Unterschiede gleichen sich bei der Betrachtung der Verfassungsänderungspolitik über einen längeren Zeitraum aus. Drittens gehen wir davon aus, dass auch Wahlen grundsätzlich keinen Einfluss auf den Zeitpunkt der Überwindung der Änderungsschwelle haben. Sie beeinflussen zwar die Kräftekonstellation der politischen Akteure, doch erfordern Verfassungsänderungen meist die Zustimmung der Opposition oder von Akteuren auf anderen Ebenen, so dass eine neu gewählte Regierungsmehrheit nicht ohne Weiteres in die Verfassung eingreifen kann. In einem Test für 38 etablierte Demokratien im Zeitraum von 1993 bis 2002 streuten die Verfassungsänderungen relativ gleichmäßig über die Monate einer Legislaturperiode (Lorenz, 2008). Es zeigen sich keine wahlzyklischen Muster, wie man sie beispielsweise aus der einfachen Gesetzgebung in Deutschland kennt (Schindler, 1999, 2407). Die nachfolgende Argumentation bezieht sich nun also allein auf grundsätzliche Kosten-Nutzen-Erwägungen in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Verfassungsänderungen. Zunächst betrachten wir die Kostenentwicklung. Mikroökonomisch erzeugt ein Anstieg der Produktionsmenge (q) eines Unternehmens bei ähnlichen Rahmenbedingungen einen Degressionseffekt auf die Kosten pro Stück insgesamt (c) und die Kosten der letzten produzierten Einheit (Grenzkosten c ). Dieses Phänomen, nach Karl Bücher auch als „Gesetz der Massenproduktion“ oder aber als Skaleneffekt (economies of scale) bekannt (Woll, 1984, 174), lässt sich von der auf die spezifische arbeitsteilige Massenproduktion in Großunternehmen bezogenen, rein wirtschaftlichen Perspektive abstrahieren und auf die Verfassungspolitik übertragen, wenn man ein politisches System als Unternehmen konzipiert, dessen Produktionsmenge die Anzahl der Verfassungsänderungen ist. Die politischen Akteure sind einerseits für die Produktion verantwortlich, andererseits sind sie selbst auch Konsumenten ihrer Produktion. Hierbei ist nicht relevant, inwieweit ihr Handeln am Eigenwohl oder am Gemeinwohl orientiert ist. 72
Dass das „Management“ der Unternehmen in etablierten Demokratien unter relativ stabilen Bedingungen produziert,17 und nur die Produktionsmenge variiert, ist eine weitere Voraussetzung für die Übertragbarkeit der mikroökonomischen Annahme auf die Verfassungspolitik. Geht der betriebswirtschaftliche Ansatz implizit davon aus, dass sich die Produktionsmenge auf einen bestimmten Zeitraum bezieht, da das Unternehmen kontinuierlich erzeugt, so muss dies für die Verfassungspolitik spezifisch erwähnt werden, weil trotz der relativ häufigen Verfassungsänderungen zwischen diesen auch größere Lücken auftreten können. Es lässt sich entsprechend postulieren: Werden in einem bestimmten Zeitraum mehrere Verfassungsänderungen verabschiedet, so reduzieren sich die Entscheidungskosten mit jeder Verfassungsänderung; die jeweils letzte Verfassungsänderung verursacht geringere Entscheidungskosten18 als jede vorangegangene Verfassungsänderung in dem Zeitraum. Dies korrespondiert mit üblichen Überlegungen zur Entwicklung von Transaktionskosten von Akteuren in einem bestimmten gleich bleibenden Kontext. Wie lang der betreffende Zeitraum ist, lässt sich nicht pauschal benennen; für ein Postulat mit diesem Allgemeinheitsgrad ist das auch nicht zwingend nötig. Unternehmerisch ist davon auszugehen, dass die Kosten langfristig auch bei einer ausgeweiteten Produktionsmenge wieder steigen. Als wichtigste Ursachen dafür werden die begrenzte Kapazität des Managements und die steigenden Kapitalkosten angesehen (Woll 1984: 174). Der erste Grund lässt sich auf die Verfassungspolitik übertragen, denn auch die Kapazität der Spitzenpolitik ist beschränkt. Allerdings ist wohl kaum davon auszugehen, dass die Zahl der verabschiedeten Verfassungsänderungen so sehr steigt, dass dieser Kostenanstieg tatsächlich beobachtbar wird. Die steigenden Kapitalkosten ihrerseits fallen für die Verfassungspolitik nicht ins Gewicht. Damit können wir bei den Kosten von einer einfachen Abwärtskurve ausgehen. Zusammengefasst lässt sich die Hypothese formulieren: Unabhängig davon, wie hoch die (sich aus der Rigidität, Vetostrukturen o.ä. ergebenden) absoluten Entscheidungskosten in einem politischen System sind – mit dem Anstieg der auf ähnliche Weise produzierten Entscheidungen q sinken die 17
Dies ist begründet durch die verankerten prozeduralen Vorgaben für Verfassungsänderungen und die relativ stabilen politischen Akteurskonstellationen. 18 Man könnte die Entscheidungskosten noch nach Opportunitätskosten usw. ausdifferenzieren, doch das würde das Modell wesentlich komplexer gestalten und dabei den Erklärungsgewinn nicht eindeutig steigern.
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(a) Grenzkosten
(b) Grenznutzen
Abbildung 1: Mikroökonomisches Modell der Kosten-Nutzen-Relation von Verfassungsänderungen Durchschnittskosten pro Entscheidung c sowie die Kosten für die je letzte Entscheidung c (Abbildung 1a). Im Ergebnis müssten sich institutionelle Effekte (wie solche der Rigidität) abschwächen und die Kostenkalkulation hinsichtlich künftiger Verfassungsänderungen ändern. Entsprechend kann man erwarten, dass dann, wenn einmal oder mehrfach gemeinsame Entscheidungen der Akteure auf Verfassungsänderungen geglückt sind, diese auch in Zukunft häufiger zustande kommen. Der Zusammenhang wird verstärkt durch Nebeneffekte wie eine sinkende Risikoperzeption (sollte ein Fehler unterlaufen, kann man ihn auch rückgängig machen), steigendes Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft der Mitspieler und neue Möglichkeiten für Kompromisse und Tauschhändel bei iterativen Spielen. Wir nehmen jedoch einen zweiten Zusammenhang an, der den eben geschilderten Kausalzusammenhang beeinflusst. Bei diesem werden Staaten wiederum als Unternehmen konzipiert; die politischen Akteure treten im Gegensatz zur vorherigen mikroökonomischen Annahme besonders in ihrer Rolle als Konsumenten bzw. Nutznießer ihrer eigenen Entscheidung in Erscheinung. Mit der Häufigkeit von Verfassungsänderungen ändert sich theoretisch nicht nur die Kosten-, sondern auch die Nutzenkalkulation bzw. der (wahrgenommene) Bedarf weiterer Verfassungsänderungen. Dabei ist ähnlich den Kosten zwischen dem Gesamtnutzen der Produktionsmenge und dem Grenznutzen zu unterscheiden. Während der Nutzen grundsätzlich steigt, ließ sich mikroökonomisch in Zeiten noch relativ begrenzter Märkte beobachten, dass der Nutzen der einzelnen Produktionseinheit ab einer 74
bestimmten Anzahl von Einheiten pro Zeiteinheit (q/t) wieder abnahm, bis eine Sättigung eintrat.19 Dieser Zusammenhang wird auch als Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen oder – nach Hermann Gossen – als erstes Gossensches Gesetz bezeichnet: Bei Hunger freut man sich über zwei oder drei Brötchen mehr als über ein halbes, drei Verfassungsänderungen mögen den Interessen dienlicher sein als eine, aber fünfzig Brötchen erfreuen den einzelnen Konsumenten nicht mehr als zwanzig, und hundert Verfassungsänderungen in einem bestimmten Zeitraum nicht mehr als neunzig. Zudem können negative Nebeneffekte eintreten, wie Bauchschmerzen oder unerwünschte Interdependenzen zwischen den einzelnen Verfassungsänderungen. Da typische Alternativentscheidungen mit einer Abwägung des (durch die letzte Einheit gestifteten) Grenznutzens verbunden sind und nicht mit dem Gesamtnutzen, ist dies für den einzelnen verfassungspolitischen Akteur die relevantere beider Nutzenvariablen (Woll 1984: 122). Sie entscheiden also vermutlich weniger strategisch über die Gesamtheit ihrer politischen Initiativen, sondern situationsbezogen über das je aktuelle Verfassungsänderungsvorhaben bzw. dessen Nutzen. Für unseren Gegenstand der Verfassungsänderungen lässt sich daher postulieren: Mit ansteigender Zahl von Verfassungsänderungen q in einem bestimmten Zeitraum t steigen zunächst sowohl der Gesamtnutzen als auch der Grenznutzen der politischen Akteure, doch ab einer bestimmten Anzahl pro Zeiteinheit sinkt der Nutzen der je letzten Entscheidung, also der Grenznutzen u , wieder, bis die (wahrgenommene) Bedürfnissättigung eintritt. Da Verfassungen als komplexe Gebilde viele Materien regeln, die jeweils von Änderungsanreizen infolge gewandelter Rahmenbedingungen betroffen sind, ergeben sich aus Verfassungsänderungen anders als beim oben angeführten Beispiel eines Brötchens multiple Nutzen, so dass der Grenznutzen weniger stark sinkt als mit der Anzahl konsumierter Produkte, die weniger Interessen entgegenkommen. Wann der Punkt der wahrgenommenen Bedürfnissättigung erreicht ist, lässt sich wiederum nicht pauschal für alle politischen Systeme bzw. Verfassungen bestimmen (Abbildung 1b). Betrachtet man beide Hypothesen zusammen (Abbildung 1), dann sinken zum einen mit zunehmender Entscheidungsproduktion die Stückkosten, ab einer bestimmten Anzahl aber auch der Grenznutzen. Für uns heißt das: Mit zunehmender Zahl von Verfassungsänderungen in einem bestimm19
Unter heutigen Bedingungen lässt sich der Effekte durch die Erweiterung des Marktes aushebeln.
75
Abbildung 2: Mikroökonomisches Langzeitentwicklung
Modell:
Verfassungspolitische
ten Zeitraum (q/t) sinken die tatsächlichen Entscheidungskosten für die Einigung auf die einzelne Verfassungsänderung (c), ab einer bestimmten Anzahl sinkt aber auch der Nutzen jeder weiteren Verfassungsänderung, bis eine Sättigung bzw. Bedarfsdeckung eingetreten ist. Dazwischen passiert Folgendes: Erste Verfassungsänderungen in einem Zyklus verursachen noch relativ hohe, durch die Änderungshürde beeinflusste, Entscheidungskosten, doch sinken diese dann. Dadurch wird aus Sicht der Akteure auch die Zustimmung zu Verfassungsänderungen sinnvoll, die für sich genommen einen geringeren Nutzen abwerfen; es kommt zu einer Häufung. Sobald das Verhältnis ungünstiger wird, schwächt sich der verfassungspolitische Aktivismus wieder ab, da die Akteure nur Verfassungsänderungen zustimmen, wenn der Grenznutzen die Grenzkosten übersteigt. Im Ergebnis entsteht nicht nur eine Art verfassungspolitischer Konjunkturverlauf, sondern man kann auch behaupten, dass sich die Wirkung jeder (verfassungspolitischen) Entscheidungsregel, also auch die der Rigidität, mit der zunehmenden Erfahrung einer geglückten praktischen Anwendung (der Einigung auf eine Entscheidung) abschwächt. Alle bisherigen Überlegungen beziehen sich auf einen bestimmten Zeitraum innerhalb eines Langzeitverlaufs. Spekuliert man über die Fortsetzung, dann lässt sich vermuten, dass der durch eine höhere Zahl unter ähn-
76
lichen Rahmenbedingungen erzeugter Entscheidungen entstandene Kostendämpfungseffekt nicht unbegrenzt anhält. Wenn die letzten Verfassungsänderungen beispielsweise 1950 stattfanden, dann profitieren heutige politische Akteure wohl kaum von den konkreten Kooperationserfahrungen bzw. dem Trainingseffekt und die geschaffene günstige „Aushandlungsinfrastruktur“ zerfällt wieder. Je länger die Zeitabschnitte zwischen den einzelnen Zyklen ausfallen, desto geringer ist demnach die Wahrscheinlichkeit, dass der vorherige Zyklus in Bezug auf die Kostenkalkulation nachwirkt. Hier kommen vorstrukturierende institutionelle Vorgaben wie die Rigidität wieder in absoluter Form zum Tragen, und der wahrgenommene Nutzen einer Verfassungsänderungsvorlage muss größer sein, damit Akteure ihr zustimmen. Die Kombination aus einem hohen Tempo gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Wandels, der vermehrten Wahrnehmung von Optionen, des sinkenden Verpflichtungsgefühls gegenüber Verbindlichkeiten und der steigenden Interdependenz von Entscheidungen einerseits sowie der hohen Komplexität der in Verfassungen festgeschriebenen Materien andererseits sorgt dafür, dass eine verfassungspolitische Bedarfssättigung in modernen Demokratien vermutlich nur vorübergehend eintritt.20 Aus dieser Überlegung lässt sich schlussfolgern, dass besonders dort, wo bereits in der Vergangenheit Verfassungsänderungen stattfanden, tendenziell die Abstände zwischen den Zyklen kleiner werden und die Gesamtrate der Verfassungsänderungen steigt, während in anderen Staaten die kostentreibende Wirkung der Rigidität stärker wirkt und der Verfassungswandel möglicherweise andere, informelle Ausdrucksformen findet. Den von uns erwarteten Zusammenhang veranschaulicht Abbildung 2. 3.2 Empirischer Test Um diesen Zusammenhang zu prüfen, kann man die Verabschiedung von Verfassungsänderungen in Demokratien über einen jeweils längeren Zeitraum beobachten. Dabei müssten sich verfassungspolitische „Konjunkturen“ bei einem allgemeinen Anstieg der Anzahl der Verfassungsänderungen im Gesamtzeitraum ergeben. 20
Häufig wird auch der europäischen Integration eine besondere änderungsfördernde Wirkung nachgesagt. Dies lässt sich allerdings nicht anhand expliziter Verfassungsänderungen empirisch nachweisen; die Varianz der EUMitgliedstaaten ist hier erheblich (Lorenz 2008).
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Problematisch ist dabei allerdings, dass sich die Daten weder für unterschiedliche Demokratien noch für spezifische Zeitintervalle sinnvoll aggregieren lassen. Die Gründe sind folgende: Erstens sind die Grundhäufigkeiten der Verfassungsänderungen, die sich in den oben angeführten Änderungsraten manifestieren, je nach politischem System unterschiedlich hoch. Eine bloße Addition der Verfassungsänderungen aller Staaten pro Jahr würde also zu dem Effekt führen, dass die Staaten mit einem grundsätzlich höheren Änderungsniveau die Angaben zu den Staaten mit wenigen bis mittel vielen „schlucken“ bzw. dominieren. Zweitens ist, wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert wurde, der Punkt der höchsten Steigung der Nutzenfunktion nicht universell prognostizierbar. Drittens fallen die absoluten Kosten von Verfassungsänderungen sowie die entsprechend zu erwartenden Dämpfungseffekte unterschiedlich aus. Viertens beeinflusst der konkrete Inhalt einer Verfassung vermutlich die Wahrnehmung von durch den Kontextwandel hervorgerufenen Änderungsanreizen durch die politischen Akteure. Alle vier Phänomene machen es unwahrscheinlich, dass sich identische Kurven zeigen, sich die Häufungen und Abschwünge im internationalen Vergleich ähneln. Wir können diese methodischen Probleme vorerst nicht lösen und entscheiden uns für eine vereinfachte Herangehensweise an den Test: Zunächst bilden wir anhand der empirisch messbaren nationalen Verfassungsänderungsraten drei Ländergruppen und wählen dann die für die Überprüfung des Zusammenhangs geeigneten Demokratien aus: Zur ersten Gruppe zählen wir Staaten, die sowohl im Zeitraum von 1945 bis 2004 als auch von 1993 bis 2002 eine Änderungsrate21 bis maximal 0,1 aufweisen. In die Gruppe 3 fallen alle Staaten, die in mindestens einem der beiden Untersuchungszeiträume eine Änderungsrate von nicht weniger als 1,0 aufweisen. Die übrigen Länder werden der Gruppe 2 zugerechnet (Tabelle 6). Von den Staaten der Gruppen 2 und 3 eignen sich am besten diejenigen für den Test, für die Daten über einen möglichst großen Anteil des Zeitraums 1945 bis 2004 vorliegen. Die jungen Demokratien betrachten wir daher genauso wenig wie die Änderungen an der erst 1983 in Kraft getretenen aktuellen niederländischen Verfassung und an den Verfassungen von Chile, Jamaika, Mauritius oder Portugal (Tabelle 3). Ferner entscheiden wir uns mit Blick auf das Ziel des Tests dafür, Neuseeland nicht zu berücksichtigen, da der Verfassung von allen oben genannten Autoren in ihren 21
Es werden hier beide Zeiträume herangezogen, um nicht nur die Langzeitentwicklung zu erfassen, sondern auch den aktuelle Trend zu berücksichtigen.
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Verfassungsänderungspraxis
Etablierte Demokratien
Gruppe 1 keine/wenig Verfassungsänderungen (N=11)
Australien, Benin, Bolivien, Bulgarien Dänemark, Griechenland, Japan, Namibia Spanien, Südkorea, USA
Gruppe 2 durchschnittliche Anzahl Verfassungsänderungen (N=16)
Botsuana, Frankreich, Irland, Italien, Jamaika, Kanada, Litauen, Mauritius, Mongolei, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Slowenien, Tschechien, Uruguay
Gruppe 3 viele Verfassungsänderungen (N = 10)
Belgien, Chile, Costa Rica, Deutschland, Finnland, Neuseeland, Österreich, Schweden, Schweiz, Ungarn
Tabelle 6: Klassifizierung von Demokratien nach Verfassungsänderungspraxis Rigiditätsindizes ein sehr niedriger Wert zugewiesen wird (Lorenz, 2005). Insofern wäre der Effekt der Häufigkeit auf die Ausprägung der durch die Rigidität mit beeinflussten Entscheidungskosten hier minimal. Die Staaten der Gruppe 1 eignen sich nicht für den von uns beabsichtigten Test, da die postulierten Effekte auf die verfassungspolitischen KostenNutzen-Strukturen ja erwartungsgemäß nur dann eintreten, wenn in einem bestimmten Zeitraum bereits mindestens eine leicht erhöhte Anzahl von Verfassungsänderungen stattgefunden hat. Nur dann ändert sich die tatsächliche Höhe der durch die Rigidität beeinflussten Entscheidungskosten. Für die empirische Überprüfung unserer Annahme im Zeitverlauf auftretender verfassungspolitischer Konjunkturzyklen sind auf dem beschriebenen Wege insgesamt elf verschiedene Staaten ausgewählt worden. Für jedes Land wird nun die jährliche Anzahl verabschiedeter Verfassungsänderungen auf der Zeitachse über 60 Jahre abgetragen und eine Trendkurve T als gewichtete Summe der Verfassungsänderungen mittels
79
4 2 0 1960
1970
1980
1990
0 1950
1960
1970 Jahr
Italien
Kanada
2
0 1960
2
2000
4
1950
4
Jahr
Verfassungsänderungen
1950
Verfassungsänderungen
Irland Verfassungsänderungen
Verfassungsänderungen
Frankreich 6
1970
1980
1990
2000
1980
1990
2000
1980
1990
2000
4
2
0 1950
Jahr
1960
1970 Jahr
Verfassungsänderungen
Norwegen 10 8 6 4 2 0 1950
1960
1970
1980
1990
2000
Jahr
Abbildung 3: Verfassungspolitische Konjunkturen: Ländergruppe 2
T (x) =
qx0 · w(x − x0 )
mit
1
2
w(x) = e− 2 x
x
berechnet, wobei qx0 die Anzahl der Verfassungsänderungen in einem bestimmten Jahr x0 darstellt und als Gewichtsfunktion w(x) eine skalierte Gauß’sche Glockenkurve verwendet wird. Spitzen in den Trendkurven bezeichnen somit Häufungen von Verfassungsänderungen. Abbildung 3 zeigt die Ausprägung der Verfassungsänderungspraxis für Frankreich, Irland, Italien, Kanada, Norwegen. Für alle Staaten sind Häufungen und nachfolgende Abschwünge erkennbar. Sie unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihres Ausmaßes, ihrer Dauer und spezifischen Zeitverläufe, doch beeinträchtigt dies nicht die Gültigkeit der obigen Postulate, da eine international auftretende Regelmäßigkeit ja explizit nicht unterstellt wurde. Bei der Bewertung der Abbildungen ist zu berücksichtigen, dass in Norwegen ein spezifisches Verfahren der Verfassungsänderung vorgeschrieben ist, dem gemäß eine Initiative in den ersten drei Jahren der ihrer Einbringung nachfolgenden Legislaturperiode von zwei Dritteln aller Parlamentsmitglieder verabschiedet werden muss. Es könnte sein, dass diese
80
Costa Rica Verfassungsänderungen
Verfassungsänderungen
Belgien 8 6 4 2 0 1950
1960
1970
1980
1990
8 6 4 2 0
2000
1950
1960
1970
Jahr
10 8 6 4 2 0 1960
1970
1980
1990
1980
1990
2000
4 2 0 1950
1960
1970
Schweiz Verfassungsänderungen
Verfassungsänderungen
2000
6
Österreich
4 2 0 1980 Jahr
1990
8
Jahr
6
1970
1980
10
2000
8
1960
2000
12
Jahr
1950
1990
Finnland Verfassungsänderungen
Verfassungsänderungen
Deutschland 12
1950
1980 Jahr
1990
2000
10 8 6 4 2 0 1950
1960
1970 Jahr
Abbildung 4: Verfassungspolitische Konjunkturen: Ländergruppe 3
Vorgabe den Verlauf der Verfassungsänderungspolitik ebenfalls beeinflusst, auch wenn drei Jahre nicht unbedingt stark vorstrukturieren. Die Trendkurven T zeigen für alle hier erfassten Staaten im Langzeitverlauf deutlich konjunkturelle verfassungspolitische Zyklen. Abbildung 4 zeigt im Vergleich dazu die verfassungspolitische Entwicklung jener Staaten, die aus der Gruppe der Länder mit relativ hohen Verfassungsänderungsraten ausgewählt wurden: Belgien, Costa Rica, Deutschland, Finnland, Österreich und die Schweiz. In diesen Langzeitverläufen sind Auf- und Abschwünge in der Häufigkeit von Verfassungsänderungen, hier allerdings auf deutlich höherem Niveau erkennbar, wobei für Belgien, Costa Rica und Finnland gilt, dass sich das Verfassungsänderungsverfahren jeweils über zwei Legislaturperioden erstreckt. Obwohl diese Vorgabe auch in diesen Staaten wie in Norwegen (Gruppe 2) inzwischen mit einer gewissen Routine gehandhabt wird, ist nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass sie die Einigung auf Verfassungsänderungen zeitlich beeinflusst. Auch bei Österreich und der Schweiz mit ihrem jeweils sehr hohen Grundniveau an Verfassungsänderungen sind Auf- und Abschwünge beobachtbar. Alle Demokratien der Gruppe 3 weisen über die
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Zeit klare Konjunkturverläufe auf, die nur teilweise durch bestimmte Sondersituationen erklärt werden können. So fanden in Deutschland während der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 deutlich mehr Verfassungsänderungen statt, weil es besser gelang, einen Konsens bei schwierigen Thematiken (z.B. Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassung) zu organisieren, aber dies gilt nur für diese Phase. Nach der Sondersituation der deutschen Einheit oder im Zuge der Schaffung der EU durch den Maastricht-Vertrag gab es zwar beispielsweise auch mehr Änderungen, doch handelte es sich nicht um einigungsrelevante Materien, sondern im wesentlichen um die typischen Änderungsmaterien der bundesdeutschen Verfassungspolitik (Lorenz, 2007). Aus unserer Sicht zeigt die Langzeitbeobachtung der länderspezifischen Entwicklung der Verfassungsänderungspraxis für beide Gruppen (Abbildungen 3 und 4) klar konjunkturelle Verläufe. Für die Mehrheit der hier dem Test unterzogenen etablierten Demokratien (acht von elf) lässt sich zudem die über die Zeit erwartete Zunahme der Verfassungsänderungshäufigkeit konstatieren, wobei die Trendkurven für Österreich, Finnland, Frankreich und Norwegen besonders gut den von uns entwickelten Modellzusammenhang abbilden. Im Unterschied zur Ländergruppe 2 weisen die Staaten mit hoher Verfassungsänderungsaktivität einen sehr kontinuierlichen Konjunkturverlauf auf. Die einzelnen Zyklen treten zeitlich in vergleichsweise kurzen Abständen auf, wie es die Diagramme für Österreich und die Schweiz besonders deutlich veranschaulichen. Damit bestätigt sich die Annahme, dass die Institution konstitutionelle Rigidität keinen konstanten Effekt auf die Änderungshäufigkeit von Verfassungen hat. Wie oft Entscheidungen für Verfassungsänderungen in einem bestimmten Zeitraum getroffen wurden, beeinflusst also die tatsächliche Höhe der Entscheidungskosten und die Nutzenkalkulationen der beteiligten politischen Akteure. Aus diesem Blickwinkel lässt sich auch erklären, warum in manchen Staaten mit relativ hoher Rigidität die tatsächlichen Entscheidungskosten deutlich niedriger ausfallen als die absoluten und daher (bei jeweils konstanten Änderungsanreizen) mehr Verfassungsänderungen stattfinden. 4 Resümee In der politikwissenschaftlichen Literatur hält sich die prointuitive Annahme, dass mit zunehmender konstitutioneller Rigidität die Häufigkeit von Verfassungsänderungen sinkt, obwohl die (wenigen) empirischen Untersu82
chungen diese Annahme teilweise in Frage stellen. Mit dem Ziel, diese Unklarheit aufzulösen, betrachteten und überprüften wir die Wirkungsweise konstitutioneller Rigidität aus zwei verschiedenen Perspektiven – der institutionalistischen, auf den internationalen Vergleich abstellenden, sowie aus der mikroökonomischen, den Langzeitverlauf für ausgewählte Staaten in den Blick nehmenden Perspektive. Zunächst diskutierten wir die Vorgehensweise der Autoren in ihren Studien zum Einfluss der Änderungshürde auf die nationalen Verfassungsänderungsraten. Die deutlichen Unterschiede in ihren Befunden führten wir insbesondere auf extreme Abweichungen in der jeweils zugrunde gelegten Datenbasis zurück. Um verlässliche Aussagen herbeizuführen, testeten wir den Zusammenhang erneut für 37 etablierte Demokratien und unterschiedliche Rigiditätsindizes in einem erweiterten Untersuchungszeitraum von 60 Jahren (1945 bis 2004). Wir kamen dabei zu einem eindeutigem Ergebnis: Für voll etablierte, friedliche Demokratien lässt sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Verfassungsänderungen und dem jeweils messbaren Ausmaß konstitutioneller Rigidität feststellen. In vielen Ländern mit relativ hoher Änderungshürde, wie z.B. Deutschland, die Schweiz oder Österreich, finden viele Verfassungsänderungen statt, in einigen, wie z.B. USA, Australien, Dänemark, wenige. Die Änderungshürde weist vielleicht im Einzelfall einen Erklärungsgehalt auf, die internationale Varianz kann sie aber nicht erklären. Dies veranlasste uns dazu, im zweiten Teil des Aufsatzes einen argumentativen Sprung vorzunehmen und die bisherige institutionalistische Sicht auf Rigiditätseffekte mikroökonomisch zu erweitern. Institutionen wie die Rigidität wirken danach nicht zwangsläufig gleich bleibend, sondern abhängig von der vorherigen Überwindung der Änderungsschwelle in einem bestimmten Zeitraum. Dies beeinflusst die tatsächliche Ausprägung der institutionell vorkonfigurierten Entscheidungskosten und die Wahrnehmung des Nutzens aus den Verfassungsänderungen. Diese Überlegungen unterzogen wir einem empirischen Test für elf Demokratien. Er zeigte tatsächlich länderübergreifend Konjunkturkurven unterschiedlicher Ausprägung, die die postulierten Zusammenhänge bestätigen. Die Ergebnisse lassen uns darauf schließen, dass sich die Annahme einer konstanten Wirkungsweise konstitutioneller Rigidität, wie sie den international vergleichenden Studien zugrunde liegt, nicht halten lässt. Für den ersten Teil der Untersuchung, der gemäß dem Status quo der Forschung vornehmlich daran interessiert war, nationale Unterschiede in den Verfassungsänderungsraten zu erklären, lassen diese Befunde zwei Rück83
schlüsse zu: Erstens steigen vermutlich alle Verfassungsänderungsraten tendenziell an, weil unter gegebenen Rahmenbedingungen Sättigungseffekte eher vorübergehend eintreten. Zweitens gibt es vermutlich eine Tendenz zur Perpetuierung verfassungspolitischer Grundhäufigkeiten im Vergleich zu jeweils allen anderen Demokratien: In einem Staat mit erhöhter Verfassungsrigidität, in dem selten Verfassungsänderungen stattfanden, können die im zweiten Teil des Aufsatzes beschriebenen Skaleneffekte nicht wirken, so dass es bei vergleichsweise selteneren Verfassungsänderungen bleibt. In einem Staat mit erhöhter Verfassungsrigidität, in dem es bereits häufig Verfassungsänderungen gab, sinken die Entscheidungskosten im Zyklus, gestatten die häufigere Einigung auf nützlich erscheinende Verfassungsänderungen und wirken auf den nächsten Zyklus stärker nach, weil die Abstände zwischen den Zyklen kürzer sind. Dies sind jedoch erst allererste Überlegungen in diese Richtung. Es wäre wünschenswert, über das hier betrachtete abstrakte Niveau hinaus genauer zu erklären, wie verfassungspolitische „Konjunkturen“ verlaufen, und Kosten-Nutzen-Effekte zu bestimmen, um die langfristige Entwicklung der Verfassungsänderungspolitik zu prognostizieren. Da in der Praxis Akteure sehr häufig Verfassungsänderungen zustimmen, die dem Initiator einen erheblichen, ihnen selbst aber keinen Ertrag erbringen (vgl. Lorenz, 2008), wäre beispielsweise zu prüfen, ob die verfassungspolitischen Konjunkturzyklen auf Systemebene einseitig auf die Kosten-Nutzen-Überlegungen der Initiatoren zurückzuführen sind, weil den Mitspielern im Laufe der oft länger währenden Aushandlungen systematische Fehler (biases) in der Bewertung der Vorhaben unterlaufen. 5 Literaturverzeichnis Anckar, Dag, und Lauri Karvonen, 2002: Constitutional Amendment Methods in the Democracies of the World. Aalborg, Denmark, XIIIth Nordic Political Science Congress. Benz, Arthur, 1993: Verfassungsreform als politischer Prozeß. Politikwissenschaftliche Anmerkungen zur aktuellen Revision des Grundgesetzes. Die öffentliche Verwaltung 46:881–889. Bogdanor, Vernon, 1988: Introduction. In: ders. (Hg.), Constitutions in Democratic Politics, 1–13. Aldershot: Gower.
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Verfassungsänderung trotz vieler Veto-Spieler: Föderalismusreform in der Schweiz Dietmar Braun
1 Untersuchungsgegenstand Am 28. November 2004 wurde ein neues Finanzausgleich sowie eine grundlegende Neuordnung der Kompetenzen und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen, kurz NFA, vom Volk in der Schweiz mit 64 Prozent Ja-Stimmen und nur drei Nein seitens der Kantone angenommen. Damit traten 27 Verfassungsänderungen in Kraft und wurden über 30 Gesetzesänderungen bzw. Gesetzesneuerungen vorgenommen. Zwei Jahre später folgte noch ein Ausführungsgesetz zur Neuordnung der Aufgabenverteilung sowie 2007 ein Ausführungsgesetz zur „Dotierung der Ausgleichsgefässe“, d.h. wie genau mit welchen Beträgen der Finanzausgleich für die nächsten Jahre ausgestattet wird. Ab dem 1. Januar 2008 gilt jetzt die neue Ordnung. Damit ist ein grundlegender Systemwechsel in der Organisation und Finanzierung des Schweizer Föderalismus erreicht worden, der wesentlich weiter geht als das, was Deutschland mit der ersten Föderalismusreform erreicht hat und wahrscheinlich auch mit der Föderalismusreform II erreichen wird. Die wesentlichen Punkte sind: • Eine weitgehende Entflechtung von Aufgaben; • In den Bereichen, die nach wie vor kooperativ organisiert werden, werden die Kompetenzen eindeutig nach dem Vorbild des New Public Management und der Principal-Agent Theorie organisiert (das heißt die strategischen Kompetenzen beim Bund und die Ausführungskompetenzen bei den Kantonen; es gibt ein Controlling, Verträge, eine Finanzierung nach Ergebnissen und nicht nach Kosten); • Die Verstärkung der interkantonalen Zusammenarbeit, im Falle von Nicht-Einigung zwischen den Kantonen kann der Bund die Zusammenarbeit erzwingen;
• Beim Finanz- und Lastenausgleich wird die bisherige Finanzierung über Bundessubventionen abgeschafft und der horizontale Finanzausgleich eingeführt, an dem sich allerdings auch der Bund beteiligt, dabei wird ein Ausgleich von 85% des Durchschnitts der Steuermöglichkeiten der Kantone angestrebt; • Anstelle des alten Ressourcenindex tritt ein aggregierter und standardisierter Steuerpotentialindex; • Der neue Lastenausgleich berücksichtigt auch sozio-demographische Strukturnachteile der sogenannten Zentrumskantone, gleichzeitig aber auch die strukturellen Schwierigkeiten der Bergkantone; • Ein Härteausgleich sorgt für eine Übergangsperiode und mit degressiver Wirkung für eine Milderung der Folgen des neuen Finanzausgleichs auf die Kantone. Einen Systemwechsel stellte das Ganze dar, weil der Bund im Laufe der 60er und 70er Jahre immer mehr neue Kompetenzen und durch Mitfinanzierung auch Mitbestimmungsrechte in kantonalen Angelegenheiten erhalten hatte. Die Entflechtung von Aufgaben sollte dieser „schleichenden Zentralisierung“ vorbeugen. Interkantonale Zusammenarbeit gab es zwar in Form von Konkordaten auch schon vorher: jetzt werden sie aber zur Pflicht und die betroffenen Kantone können sich einer Zusammenarbeit in diesen Bereichen nicht verweigern; die Organisation der kooperativen Politikgebiete nach dem Muster des New Public Management löst das bisherige intransparente, wenig institutionalisierte und eher ad-hoc vereinbarte Zusammenspiel von Bund und Kantonen ab, in dem Zuständigkeiten ungeklärt blieben und nach dem Bedarfsfall geregelt wurden; der neue Steuerpotentialindex soll die Manipulation von Steuern und Ausgaben erschweren; die Orientierung an einem Ausgleichsziel, das es vorher nicht gab, soll relative Sicherheit und Bestandsgarantien schaffen, ohne dass dies zu „rent-seeking“ führen sollte; der kombinierte horizontale und vertikale Finanzausgleich soll sicher stellen, dass allen Kantonen genügend Mittel bereit stehen, um ihre Aufgaben tatsächlich wahrnehmen zu können, ohne auf weitere Subventionen des Bundes angewiesen zu sein, damit ist das Ziel der „Konnektivität“ zwischen Einkünften und Ausgaben sicher gestellt; der Lastenausgleich befriedigt neuerdings auch die Ansprüche der Zentrumskantone, also vor allem der großen Städte, deren sozio-demographische Struktur ständig Sonderlasten erzeugte; und die Trennung des Lastenausgleichs vom Finanzausgleich, die vorher vermischt waren, soll Ineffizienzen im Finanzausgleich verhindern. 88
Wer das politische System der Schweiz kennt (Linder, 1999; Vatter, 2007) - Konkordanzdemokratie, funktionale Verflechtung der territorialen Ebenen - weiß, dass solche grundlegenden Systemwechsel an sich relativ unwahrscheinlich sind oder zumindest, dass erhebliche Hürden bestehen, die Verfassungsänderungen erschweren: dazu zählen natürlich das obligatorische Referendum, das in der Schweiz bei Verfassungsänderungen gilt und das es im Unterschied zu Deutschland nötig macht, sich aktiv um die Zustimmung der Bürger zu dem Gesetzesvorhaben zu bemühen; dazu zählt auch das Konkordanzverfahren, bei dem im Prinzip die wichtigsten betroffenen Akteure über das Vernehmlassungsverfahren und die parlamentarischen Verhandlungen Gehör erhalten; dazu zählt auch in der „Großen Koalition“ auf Regierungsebene die Zustimmung der vier aus unterschiedlichen Parteien stammenden Regierungsvertreter; und, last but not least, heißt es auch und vor allem die Kantone zu berücksichtigen, die über einige Einfluss- bzw. Veto-Punkte im System verfügen, über ihre Vertreter in Parteien und Parlament, über die Stellungnahmen bei der Vernehmlassung, über die Möglichkeit zur Waffe des Referendums zu greifen und vor allem über das „doppelte Mehr“, also die Erfordernis bei Verfassungsänderungen auch die Mehrheit der 26 Stände bzw. Kantone hinter sich zu haben. Ein gelungener Systemwechsel in „Governance“ und Finanzierung des Föderalismus bei gleichzeitig hochintegrativen Entscheidungsverfahren mit vielfältigen Einfluss- und Veto-Punkten macht den Fall Schweiz für eine Analyse von Bedingungen und Möglichkeiten von Verfassungsänderungen interessant. Die Ausgangsfrage ist dann auch ganz einfach: Wie hat die Schweiz es geschafft, trotz der institutionellen Hemmnisse einen solchen Systemwechsel herbeizuführen und welche allgemeinen Lehren lassen sich hieraus für eine Bestandsaufnahme von günstigen Bedingungen für Verfassungsänderungen ableiten? Allerdings impliziert der Verweis auf die Vetomacht der Akteure, dass Verfassungsänderungen im Wesentlichen davon abhängen würden, zu einem Ausgleich zwischen Verteilungsinteressen zu kommen. Dies würde es in der Tat in den meisten Fällen extrem schwierig machen, Verfassungen zu ändern. Reine Gewinnspiele werden sehr wahrscheinlich selten sein. Verfassungsverhandlungen sind aber nicht reine Tauschgeschäfte und zielen in erster Linie auch gar nicht auf Verteilungsfragen ab. Verfassungen definieren Eigentums- und Ausführungsrechte, Entscheidungs- und Verteilungsregeln. Sie beinhalten also allgemeine Regeln von langer Dauer, die dem Verteilungskampf vorgelagert sind und Ansprüche und Abläufe im Verteilungskampf strukturieren. In dieser Hinsicht garantieren sie also den Bestand des 89
Systems selbst, an dem jeder Akteur ein Interesse haben muss (siehe hierzu Buchanan und Tullock, 1962; Vanberg und Buchanan, 1989). Die Stabilität des Systems selbst ist die funktionale Voraussetzung, um Verteilungsrechte einklagen zu können. Verfassungsordnungen, die nicht auf eine solche Stabilität ausgerichtet sind, sondern Partikularinteressen Vorschub leisten, können nicht einmal im Interesse der Profiteure sein, da Destabilisierung auch Nicht-Einlösung von Verteilungsrechten bedeutet. Das Interesse an der Gültigkeit und Akzeptanzfähigkeit allgemeiner Verfassungsregeln ist also im Gesamtinteresse und damit auch im Interesse der einzelnen Akteure. Eine Diskussion über Verfassungsregeln und deren Veränderung beschwört immer auch das Interesse am Allgemeinen bei den Akteuren. Dies macht Verfassungsänderungen zu einem „Mixed-Motive-Game“: Gemeinsame Interessen an einer stabilen Ordnung müssen mit Interessen an individuellen Vorteilen vereinbart werden. Wie Zintl schon vor einiger Zeit gezeigt hat, ist der Erfolg gelingender Reformen allgemein und von Verfassungsänderungen im besonderen damit davon abhängig, inwiefern es gelingt, das allgemeine Interesse an stabilen Regeln, die dann ja auch fair sein müssen, weil sie sonst nicht akzeptanzfähig wären, so weit zu autonomisieren, dass die immer auch gegenwärtigen Verteilungsinteressen in die zweite Reihe gestellt werden oder aber nachrangig behandelt werden können (Scharpf, 1988; Zintl, 1992). Der Fall der NFA in der Schweiz ist ein Lernbeispiel dafür, wie man hierbei vorgehen kann. Der Artikel wird im Wesentlichen den einzelnen Etappen des Gesetzesprozesses folgen und dabei versuchen, im geeigneten Moment verallgemeinerungsfähige Lehren hervorzuheben, die zum Schluss noch einmal zusammengefasst werden. Zum allgemeinen Verständnis ist es wichtig, kurz die Etappen vorzustellen, die die NFA durchlaufen hat, damit die wichtigsten Entscheidungspunkte deutlich werden, die dann im Weiteren interpretierend ausgeführt werden: • Die eigentliche Diskussion über den Finanzausgleich beginnt mit einem Auftrag der „Konferenz der Finanzdirektoren“ der Kantone (FDK) an die Eidgenössische Finanzverwaltung Ende der 80er Jahre, eine Wirkungsanalyse des bisherigen Finanzausgleichs zu erstellen; • Der Bericht erscheint 1991 und führt 1992 zu einem „Orientierungsrahmen“ der Finanzdirektorenkonferenz für einzuleitende Reformschritte;
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• 1994 Eidgenössische Finanzverwaltung und die FDK geben einen Expertenbericht in Auftrag, der Lösungen zu den diagnostizierten Probleme bereit stellen soll; • 1994 Auf der Grundlage dieses Berichts (Frey et al., 1994) wird auf Bundesebene eine Projektgruppe aus Kantons- und Bundesvertretern zusammengestellt, die einen konkreten Vorschlag des Bundesrates für die Vernehmlassung vorbereiten soll; • 1996 erscheint dieser Bericht (Département fédéral des finances, 1996) und wird in die Vernehmlassung gegeben; • 1996 wird nach der Vernehmlassung die Projektgruppe umgerüstet und wesentlich erweitert. Ziel ist es, die aufgeworfenen Probleme mit interessierten Akteuren zu diskutieren, damit erneut eine Vernehmlassung stattfinden kann; • 1999/2000 Schlussbericht (Administration fédérales des finances, 2000) und zweite Vernehmlassung; • 2000 Vertiefungsstudien werden in Auftrag gegeben (Frey, 2001); • 2001 Botschaft des Bundesrates (Conseil Fédéral, 2001); • 2002-2004 Parlamentarische Beratung; • November 2004 Referendum; • 2006 Verabschiedung des Ausführungsgesetzes zur Neuordnung der Aufgaben; kein Referendum ergriffen; • 2007 Verabschiedung des Ausführungsgesetzes zum Finanzausgleich; • 1.1.2008 Inkrafttreten des Gesamtpaketes. 2 Analyse Die NFA hieß zwar seit 2001 offiziell „Neuer Finanzausgleich und Aufgabenneuordnung zwischen Bund und Kantonen“, tatsächlich aber handelte es sich hier um zwei erst einmal voneinander getrennte Dossiers. Beim Dossier Aufgabenneuordnung ging es um eine Veränderung der bestehenden Eigentums- und Ausführungsrechte in etwa sechzig unterschiedlichen Politikbereichen. Beim Dossier Finanzordnung bzw. -ausgleich mussten (Zahlungs-)Pflichten und (Teilhabe-)Rechte neu definiert werden. Die 91
rechtliche Ausgangslage in der Verfassung war hier sehr schmal. Wenn man einmal von einem Artikel zur Subventionierung des Strassenbaus absieht (Art 36, 3 in der alten Verfassung), waren es zwei Artikel, die die Finanzausgleichspraxis seit 1959 und dann nach der Revision 1981 definierten: Art. 41,5, in dem ein bestimmter Anteil der Bundeseinkommenssteuer wieder an die Kantone zurück überwiesen wurde, wobei Ausgleichsmesszahlen eine Rolle spielten, sowie Art. 42,3, in dem der Bund die Aufgabe erhielt, den Finanzausgleich zwischen den Kantonen zu regeln und er verpflichtet wurde, bei den Subventionen die finanziellen Kapazitäten und die strukturellen Nachteile der Bergkantone zu berücksichtigen. Hierzu gab es dann Ausführungsbestimmungen und einen relativ komplizierten Ressourcenindex, der bei der Verteilung der Subventionen zur Anwendung kam. Das Problem, das sich hierbei stellte, war die Kantone, die nach der alten Finanzordnung relativ erwartbare Einkünfte aus dem Finanzausgleich besaßen, auf eine neue Ordnung einzuschwören, deren konkrete Ergebnisse lange Zeit undeutlich blieben und die ganz offensichtlich von schließlich sieben Kantonen auch konkrete zusätzliche Zahlungen erforderte. Wie ist nun der Verlauf gewesen? 2.1 Der erste Versuch einer Neuordnung der Aufgaben in den 70er und 80er Jahren Die Aufgabenneuordnung kam durch einen parlamentarischen Vorstoß des Abgeordneten Binder im Jahre 1972 auf die politische Agenda, der - durchaus üblich in der Schweiz - den Bundesrat, also die Regierung, aufforderte, die bestehende Aufgabenverteilung, die wie beschrieben nach dem Kriege immer mehr in Richtung eines größeren Gewichtes des Bundes verändert worden war, zu überdenken und notfalls zu korrigieren. Der Bundesrat ist gehalten, hierauf zu reagieren. Er nahm sich hierfür aber Zeit, ließ Expertenstudien erstellen und eine Expertengruppe zu konkreten Vorschlägen arbeiten. Diese wurden 1977 den Kantonen zur Stellungnahme im Vernehmlassungsverfahren übergeben. Es interessiert an dieser Stelle nicht, welche Vorschläge dies nun genau waren. Interessant sind viel mehr die gemeinsamen und unterschiedlichen Positionen, die sich auch später noch wieder finden lassen. Ganz offensichtlich besaßen alle Akteure ein Interesse daran, den Föderalismus „wieder zu beleben“ (Freiburghaus, 2001, 13). Das bestehende System schien nicht mehr mit der ursprünglichen Konzeption eines dezentralen und vitalen Föderalismus übereinzustimmen. Damit aber sei das gute Funktionieren des Föderalismus insgesamt gefährdet. Dies
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zeigt, dass der Verweis auf die Funktionalität des Systems von Anfang an eine Rolle gespielt hat und damit auch allgemeine Regeln und Kriterien gesucht werden mussten, die halfen, eine solche Funktionalität sicher zu stellen. Dabei spielten in der Schweiz nie kontroverse Positionen wie unitarischer Föderalismus vs. dezentraler und kompetitiver Föderalismus eine Rolle (Braun, 2003). Alle Akteure, auch der Bund, waren vom grundsätzlichen Wert eines dezentralen Föderalismus überzeugt. Unterschwellig - auf der Ebene der Partikularinteressen - gab es aber Divergenzen, was die Akteure mit einer Aufgabenneuordnung für sich erreichen wollten: den Kantonen ging es um eine Stärkung ihrer Position über die autonome Verwaltung von Politikbereichen, was zumindest zum Teil eine Aufgabe der bisherigen Kompetenzen des Bundes bedeutete. Mit der einsetzenden Wirtschafts- und Finanzkrise zu Anfang der 70er Jahre war die Expansionslust des Bundes eingedämmt worden. Sein Interesse manifestierte sich jetzt vor allem darin, seine finanzielle Leistungsfähigkeit wieder zu erlangen. Dabei konnte eine Entflechtung, bei der man problematische und teure Politikbereiche an die Kantone abgab, durchaus eine Strategie sein und wurde so auch vom Bund gesehen. Das eigentliche Problem lag darin, ganz ähnlich wie es auch in Deutschland bei der Föderalismusreform I diskutiert worden war, dass der Bund zwar ein Interesse daran hatte, Aufgaben abzugeben und seine Kosten zu minimieren, dafür aber nicht unbedingt mehr finanziellen Spielraum an die Kantone geben wollte, da dies die Sparmöglichkeiten eingeschränkt hätte (ibid., S. 12). Die Kantone, oder zumindest ein großer Teil von ihnen, waren aber gerade am Transfer von zusätzlichen Ressourcen interessiert, damit sie diese Aufgaben auch wahrnehmen konnten. Es gab also einen Konflikt darüber wie genau man die Entflechtung vorantreiben sollte, aber eigentlich nicht darüber, dass eine Entflechtung insgesamt für die Funktionalität des Föderalismus die richtige Strategie sei. Man sieht an dieser Diskussion schon, dass die Aufgabenneuordnung nicht ohne eine Neuverteilung von Finanzressourcen gehen konnte. Dies wurde auch tatsächlich schon mit einbezogen. Die Finanzfragen traten aber erst an zweiter Stelle auf die Agenda. Nachdem schließlich nach der Vernehmlassung, der Einrichtung eines „Kontaktgremiums“ von Bund und Kantonen zur Vorbereitung der Botschaft, der Botschaft selbst und dem Referendum im Jahre 1981 kleinere Entflechtungsübungen akzeptiert worden waren, wurde auch der Finanzausgleich insgesamt verstärkt, um den Sorgen der Kantone entgegenzukommen.
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Insgesamt aber war das Ergebnis der neunjährigen Anstrengung mager. Freiburghaus spricht lediglich von „Klärungen der Rolle des Bundes und institutionellen Vereinfachungen“ (idem). Aufgabentrennungen wurden in 10 Politikbereichen vorgenommen, während die mögliche Liste, die vorher in den Studien erarbeitet worden war, wesentlich länger war. Dies hat sich auch nicht wesentlich verändert, wie in einer zweiten Phase versucht wurde, auch die übrigen Entflechtungsgebiete anzugehen. Die Erfolge dieses zweiten Reformpakets waren noch bescheidener. Damit war Ende der 80er Jahre zwar offiziell der Auftrag an den Bundesrat aus dem Jahre 1972 erfüllt, aber die allgemeine Zielsetzung, nämlich tatsächlich zu einer „föderativen Neuordnung“ zu kommen, wie der Bundesrat selber in seiner Botschaft formulierte, war nicht erreicht worden und auch die Partikularinteressen der Akteure waren nicht befriedigt worden: weder waren substantielle Kompetenzgewinne bei den Kantonen zu beobachten, noch konnte der Bund sich tatsächlich sichtbar entlasten. Damit haben wir es also eigentlich mit einer gescheiterten Reform zu tun, die der erfolgreichen NFA vorausging. Über die Gründe hierfür lässt sich mutmaßen: Obwohl Bund und Kantone im Kontaktgremium eng zusammen arbeiteten, war kein Vertrauensklima geschaffen worden, das die Kantone von dem Willen des Bundes überzeugt hätte, tatsächlich eine „neutrale“ und langfristig für alle Seiten akzeptable Ordnung herzustellen. Die Ressentiments gingen so weit, dass die Kantone von „Etikettenschwindel“ bei der Reform sprachen (idem, S. 13) und das ganze Reformvorhaben eigentlich nur als eine Strategie des Bundes sahen, sich zu entlasten, also sich opportunistisch zu verhalten. Der Bund selber hob dagegen die Schwierigkeiten hervor, eine Entflechtungsstrategie zu finden, die allen Seiten gleichermaßen gerecht werden würde. Die bedeutenden Unterschiede an Größe, Finanz- und Wirtschaftskraft hätten immer wieder zu Differenzen unter den Kantonen geführt. „Rücksichtnahmen verschiedenster Art“ hätten einem solchen „Vorhaben enge Grenzen gesetzt“ (idem). Dies wiederum weist auf ein gehöriges Maß an opportunistischem Verhalten der Kantone hin. Damit ist aber auch klar, dass die nötige Trennung von einerseits Prozessen zur Entwicklung allgemeiner (Verfassungs)regeln zur Entflechtung, die der Funktionalität des Systems Genüge getan hätte und andererseits der Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Interessen, nicht stattgefunden hatte - trotz der Einrichtung von Studien und einer Expertenkommission. Diese haben zwar offensichtlich zu einer Reihe rationaler Vorschläge geführt, im Kontaktgremium selber wurden diese Vorschläge aber offen-
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sichtlich bereits immer unter dem Gesichtspunkt der Verteilung diskutiert. Damit war eine Neuordnung nicht zu erreichen. 2.2 Der Reformprozess der NFA Kontext Anfang der 90er Jahre standen mehrere große Vorhaben auf dem Plan, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, die aber doch relevante Berührungspunkte mit dem Thema haben. Da ist zunächst die Modernisierung der Verwaltung zu nennen, die, wie in vielen anderen Ländern auch, stark durch die neuen Ideen des New Public Management beeinflusst war. Im Rahmen dieser Reform ging es auch, obwohl dies nicht gelang, um eine große Reorganisation der Regierungsstrukturen selbst. Relevant ist in diesem Zusammenhang nur, dass das New Public Management in dieser Zeit bereits fest verankert im Denken der Bundesadministration und zum Teil auch in den kantonalen Administrationen gewesen ist (Schedler, 1995; Mooser und Kettiger, 2004). Das andere große Dossier war die allgemeine Verfassungsreform, die seit vielen Jahren auf der politischen Agenda stand, in den 90er Jahren dann aber erfolgreich zu Ende geführt werden konnte. Im Wesentlichen ging es um eine Bereinigung der Verfassung, die seit 1848 inkrementell fortgeschrieben und gewandelt worden war. Dabei kam es aber auch zu Verschiebungen in der „Governance“ des Föderalismus. Hintergrund hierfür ist die internationale Dimension (wie Globalisierung, Zunahme von internationalen Verträgen, die Debatte um den Anschluss an die Europäische Union), die den Kantonen immer deutlicher ihre Abhängigkeit von den Entscheidungen des Bundes, der ja die Außenpolitik beherrschte, vor Augen führte (Freiburghaus, 2001). In aller Kürze lässt sich festhalten, dass diese Debatten einerseits zu einem kollektiven Schulterschluss der Kantone mit der Gründung der „Konferenz der Kantonsdirektoren“ (KdK) im Jahre 1993 führten, die seitdem eine zentrale Funktion in der Standortbestimmung, beim internen Interessenausgleich und in der Strategieentwicklung gegenüber der Bundespolitik erhielt. Andererseits erreichten die Kantone eine Änderung der Verfassung, bei der praktisch der „kooperative Föderalismus“ festgeschrieben wurde: der Bund war nun nach Maßgabe des Artikels 45 der Verfassung gehalten, die Kantone rechtzeitig und umfassend über seine Vorhaben zu informieren und ihre Stellungnahmen einzufordern, wenn deren Interessen berührt waren und die Kantone erhielten formell das Recht an der Willensbildung auf der Bundesebene mitzuwirken. Dies war eine Umstellung von „self-rule“ auf „shared rule“ 95
(Fleiner, 2002), etwas, was in Deutschland ja schon 1969 vollzogen worden war. Gleichzeitig aber wurde, und dies steht in Gegensatz zu Deutschland, die Verpflichtung des Bundes festgeschrieben, die Eigenständigkeit der Kantone zu bewahren (Art. 47). Nicht der Bund erhielt hier also mehr Rechte, sondern die Kantone bei gleichzeitiger Autonomiewahrung. Das Mitwirkungsrecht der Kantone an der Rechtsetzung des Bundes hat sich gerade im Dossier Finanzausgleich bereits manifestiert. Zur Bedeutung von Mitwirkungsrechten Die Mitwirkungsrechte sind ein ganz entscheidender Mechanismus für den Erfolg der NFA gewesen ist. Sicherlich hat die Schweiz eine lange Tradition der „Konkordanzdemokratie“. Hierin liegt ja der Unterschied zur deutschen „parlamentarischen Wettbewerbsdemokratie“ bei gleichzeitig ähnlicher funktionaler Aufgabenteilung zwischen Bund und Mitgliedsstaaten (Benz, 2002, 25). Im Unterschied zu den Parteien hielt sich aber die Integration der Kantone in das Bundesgeschäft in Grenzen. Zwar gab und gibt es die Vernehmlassung und fanden Gespräche im Rahmen der kantonalen Direktorenkonferenzen zwischen Bund und Kantonen ab. Eigentliche formale Gestaltungs-, Teilhabeund Mitwirkungsrechte gab es aber bis dahin nicht. Genau in dieser Beziehung ist die NFA eine grundlegende Änderung in der „Governance“ des Bundesstaates und nimmt bereits die Festschreibung der Mitwirkungsrechte in der späteren Verfassungsänderung vorweg. Das Ganze sollte ein Gemeinschaftsprojekt werden. Von Anfang waren die Kantone paritätisch mit einbezogen, also mit dem gleichen Veto-Potenzial wie der Bund. Der Einfluss der Kantone auf die einzelnen Berichte der Unterkommissionen zur Vorbereitung der Botschaft sowie auf die Formulierung der Botschaft ist unbestritten - im übrigen ein Novum in der eidgenössischen Geschichte. Solche Mitwirkung war allerdings auch von der Etablierung eines in sich relativ kohärenten kollektiven Akteurs in Form der KdK abhängig, die eine Wahrnehmung der Gestaltungs- und Mitwirkungsrechte erst möglich machte. Das Entscheidende war aber der Entschluss seitens der Bundesakteure, die Reorganisation des Finanzausgleichs und der Aufgabenneuordnung als ein Gemeinschaftsprojekt zu sehen, bei dem die Kantone einen gesicherten und bedeutenden Einfluss hatten. Dies hatte auch seinen funktionalen Sinn: Angesichts der großen Tragweite der Reform war es gerade aufgrund der Veto-Macht der Kantone in den direktdemokratischen Verfahren geraten, nicht nur Überzeugungsarbeit
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unter den Kantonen zu leisten, sondern sie in die Verantwortung zu ziehen. Erst dies schafft ja Verlässlichkeit und verhindert Opportunismus. Dies heißt noch nicht, dass man auch Lösungen für alle Interessen findet, aber wenn man sie findet, dann können die Akteure im Sog der Teilhabe- und Mitwirkungslogik auch nicht mehr anders als mitziehen und mitverteidigen. Durch die Einbindung werden Akteure aneinander gekettet und zwar je länger, umso stärker. Die Zeitkomponente ist hier wichtig. Je länger Akteure an der gemeinsamen Entscheidungsfindung beteiligt sind und dies unter gleichen und fairen Bedingungen geschieht, umso pfadabhängiger wird der Verlauf, weil die Freiheit der Akteure, aus dem „Geschäft“ auszusteigen, abnimmt. Die „Mit-Verantwortung“, die Zuschreibung von Verantwortung, wird umso größer, je mehr Entscheidungen die Akteure mitgetragen haben. Es entsteht ein kaskadenartiger Prozess der Einbindung in das Projekt. Die Bindung an die anderen Akteure und die gemeinsamen Ergebnisse wächst. Aus „Voice“ entsteht „Loyalität“ (Edelman, 1964). Auf diese Weise wird es auch immer leichter, Interaktionsorientierungen der Akteure zu erreichen, die nicht nur auf „Verhandlung“, sondern auf „Problemlösung“ aus sind (Scharpf, 1997). Die Bindung an die gemeinsamen Resultate, das Verständnis, das durch die fortdauernde Auseinandersetzung in den paritätisch besetzten Gremien für die anderen Positionen geweckt wird, erleichtert rationale Kompromissfindung. Obwohl man auf diese Weise sicherlich nicht Partikularinteressen ausschaltet, so wird es doch leichter gerade das, was Vanberg und Buchanan „Verfassungstheorien“ genannt haben, also kausale Überzeugungen über die Wirkungsweise von Regeln und Prozessen, zu vereinheitlichen. Lang andauernde Mitwirkungsprozesse können es schaffen, gemeinsame Interpretationen über solche Verfassungstheorien zu erzielen und damit einen wesentlichen Schritt zur Verfassungsreform vorzubereiten. Es braucht also einen Reformprozess, der allen Akteuren paritätische Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte garantiert, dabei die Orientierung an die gemeinsamen Gewinne hervorhebt und der langfristig ist und kaskadenartig verläuft. Unter diesen Bedingungen lassen sich schließlich auch Kompromisse auf der Verteilungsebene finden. Die NFA erfüllte genau diese Bedingungen. Natürlich hatte man die Kantone auch schon beim ersten Anlauf zur Entflechtung in den 70er und 80er Jahren in das Kontaktgremium eingebunden und damit den Willen demonstriert, Gestaltungsrechte abzugeben. Tatsächlich war hier aber wohl einerseits der opportunistische Anspruch des Bundes, sich über die Neuordnung zu entlasten wenig vertrauenserweckend für ein Gemeinschaftsprojekt, andererseits waren die Kantone noch nicht in 97
der Lage, als kollektiver Akteur aufzutreten, wie es dann mit Hilfe der KdK in den 90er Jahren möglich wurde. Erst unter diesen beiden Bedingungen der glaubwürdige Wille, gemeinsame Gewinne zu erzielen und die Existenz relativ homogener kollektiver Akteure - konnte die „Mitwirkungslogik“ zum Tragen kommen. Die Auslöser der Reform Obwohl der Bund weiter Interesse an einer effizienteren Mittelverwendung besaß, so waren es doch die Kantone über die Finanzdirektorenkonferenz (FDK), die zum Zeitpunkt, als der Bund die Frage der Neuordnung der Aufgaben erst einmal abschloss, aktiv in Bezug auf die Finanzordnung wurden. Bereits Ende der 80er Jahre und dann verstärkt zu Anfang der 90er Jahre als eine lange Periode des Nullwachstums in der Schweiz begann, waren die Kantone unter immer größeren finanziellen Druck geraten. Für manche Kantone war die Situation offensichtlich sogar existenzbedrohend. Zumindest war ihre Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Diese Situation war praktisch - und für den Bund wirkte die einsetzenden Wirtschaftskrise Anfang der 90er Jahre in ähnlicher Weise - der „exogene Schock“, der die Akteure zum Handeln veranlasste und - wie Katzenstein es in Bezug auf den Korporatismus kleiner Länder beschrieben hat (Katzenstein, 1984, 1985) - eine Situation schafft, in der die Akteure eher zum gemeinsamen Schulterschluss bereit sind. Wenn ganz offensichtlich alle Verlierer einer solchen Krise werden, lässt sich leichter das Interesse an der Funktionalität des Ganzen formulieren. In vielen Hinsichten wurde der bestehenden föderalen Finanzordnung bescheinigt, dass sie ganz offensichtlich nicht in der Lage sei, die Probleme aufzufangen. Es bestanden begründete, aber nie wirklich nachgewiesene Vermutungen, dass die vielen Subventionen des Bundes an die Kantone ineffizient versickerten und damit auch der Finanzausgleich seine Funktion nicht erfüllen konnte. Ein exogener Schock kann solche Ineffizienzen des Systems aufzeigen und nur dann kann ja ein Interesse der Akteure entstehen, hieran etwas zu verändern. Was aber noch fehlt, ist die Diagnose, die kausal begründet, was und warum das System falsch ist und vor allem bedarf es der Alternativen, die helfen, das System zu reformieren. Welche anderen Modelle gibt es, welche anderen Prozessregeln oder Verteilungsrechte helfen, die bestehende Ineffizienz des Modells zu beheben (siehe hierzu auch das "policy change model" von Braun und Gilardi, 2006). Diese Elemente sind wichtig, um einen Reformprozess einzuleiten: • Der exogene Schock, der zum Blick auf das System als Ganzes führt; 98
• Der begründete Nachweis, dass und warum das System nicht ausreicht; • Alternativen, wie es besser gemacht werden könnte. Alle drei Elemente spielten bei der NFA eine Rolle. Der erste Schritt war die Diagnose. Zwar gab es begründete Vermutungen darüber, dass der Finanzausgleich untauglich war, aber ohne Wirkungsanalysen und einen klaren Nachweis war es schwierig, den Bund zu einer Revision zu veranlassen. Die Initiative hierzu wurden gerade und verständlicherweise von den besonders finanzschwachen Kantonen ergriffen und solchen, die mit immer größeren Lasten zu kämpfen hatten (Freiburghaus, 2001, 17). Über die FDK wurde an die Bundesfinanzadministration die Forderung gestellt, eine solche Wirkungsanalyse zu erstellen. Darauf folgte der oben erwähnte Bericht von 1991. Die Diagnose war klar und bestätigte alle Befürchtungen: der Finanzausgleich war ineffizient und nicht in der Lage, die Disparitäten zwischen den Kantonen abzubauen und führte sogar zu perversen Effekten, die gerade die finanzstarken anstatt die finanzschwachen Kantone begünstigte. Auf dieser Grundlage erstellte eine Arbeitsgruppe der FDK ohne den Bund einen Orientierungsrahmen mit allgemeinen Leitlinien für eine grundlegende Reform. Es waren also vor allem die Kantone und hier die Finanzdirektoren, die die Initiative ergriffen. Die Durchsetzung eines „globalen Rahmens“ und von Ideen als „focal point“ Die Leitlinien im Orientierungsrahmen sind interessant. Sie beruhen alle auf dem Denken des New Public Management: Es sollte zu einem effizienten Mitteleinsatz gefunden werden, wobei klare Zielvorgaben, zielgerichtete Steuerung und Transparenz des Verfahrens zentral stehen sollten. Anhand dieses Orientierungsrahmens wird klar, dass sich Anfang der 90er Jahre das „référentiel global“(Jobert und Muller, 1987)der „Effizienz“ auf den verschiedensten Ebenen des Schweizer Staates durchzusetzen beginnt. Zukünftig lassen sich Staatsreformen, und dazu zählen auch die Reformen der intergouvernementalen Beziehungen, nicht mehr ohne einen Verweis oder Rückbezug auf diese „Idee“ der Effizienz durchführen. Er wird zu einem „frame“, einem Rahmen, der seither die kognitive Wahrnehmung aller Akteure strukturiert (siehe zum "‘framing"’ vor allem Esser, 1990;Lindenberg, 2000;Esser, 2001). Effizienz kann zu einem allgemeinen Begriff im Diskurs über Reformen werden, weil er direkt auf das System und nicht 99
auf Einzelinteressen verweist. Es geht um die rationale (ökonomische) Gestaltung von „Governance“. Gleichzeitig werden über die Verknüpfung des Begriffs mit der New Public Management Theorie kausale Zuschreibungen, Problemdefinitionen und Problemlösungen möglich. Je mehr sich also Effizienz als allgemeiner Interpretationsrahmen für die Diagnose und Problemlösung der föderalen Probleme durchsetzen kann, je mehr es sich also als Kausalmodell durchsetzt, um so mehr müssen alle Akteure ihre Sonderinteressen auch immer unter den Bezug auf diesen Begriff der Effizienz rechtfertigen. Da aber Effizienz auf die Funktionalität des Systems bezogen ist, werden damit auch die Interessen teilweise unter die funktionale Logik des Systems subsumiert. Dieses Inkraftsetzen von „Effizienz“ als Rahmen für die zukünftige Diskussion um die Föderalismusreform kann als Schlüssel zur Erklärung der Möglichkeit dieser Verfassungsreform gelten. Während Effizienz wichtig war, um Partikularinteressen an das Allgemeininteresse zu binden, so wurde ein anderer Begriff, die Subsidiarität, zu einem „focal point“(Garrett und Weingast, 1993; Weingast, 1995), der ebenfalls eine wichtige positive Rolle für die Verfassungsreform erfüllte. Subsidiarität war neben dem Ziel, den Kantonen zukünftig mehr und ausreichende Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung zu stellen, der ersten Projektgruppe im Jahre 2004 als Leitbegriff mitgegeben worden und sollte ein wichtiger Schlüsselbegriff während der ganzen Reformzeit bleiben. Subsidiarität kann tatsächlich als ein „focal point“ im Sinne Weingasts verstanden werden, weil es möglich wurde, über diesen Begriff zu Kompromissen während der Verhandlungen zu kommen. Er strukturiert die Beziehung zwischen den Akteuren im Sinne eines gegenseitigen Schutzes von Einflusssphären. Bei Respektierung dieses Prinzips kann Opportunismus verhindert und kein Akteur zum Opfer der Willkür anderer Akteure werden. Der Begriff dient also als Versicherungsmechanismus. Er macht es möglich, willkürliche Übergriffe eines Akteurs festzustellen und dementsprechend zu sanktionieren. Ambiguitäten über Handlungen werden damit reduziert und die Beziehungen zwischen Akteuren werden berechenbarer. In diesem Sinne also war Subsidiarität tatsächlich für die Verhandlungen zum Finanzausgleich wichtig: die Kantone besaßen damit das Versprechen des Bundes, von Übergriffen abzusehen und der Bund behielt das Recht, in den geeigneten Fällen seine Aufgaben wahrzunehmen. Vor allem aber konnte dieses Prinzip später auch dabei helfen zu bestimmen, welche Aufgaben an welchen Akteur übergeben werden sollten. Es konnte als allgemeines Prinzip für die Verteilung von Eigentumsrechten dienen und erleichterte damit die Koordination. 100
Effizienz - als globaler Interpretationsrahmen - und Subsidiarität - als „focal point“ - waren also zentrale Begriffe zur Koordinierung der Akteure und halfen, sich dort zu einigen, wo an sich Partikularinteressen eine Einigung schwer gemacht hätten. Trotzdem ist es nicht so, dass der globale Rahmen an sich Einheit schaffte. In diesem Fall war der zusätzliche Vorteil, dass der globale Rahmen der Effizienz eine Reform zu versprechen schien, die alle Akteure zu Gewinnern machen konnte. Effizienzgewinne kamen ja allen Seiten zugute. Der Bund konnte relativ großzügig versprechen, dass alle Kantone zum Schluss genügend Geld zur Erfüllung ihrer Aufgaben haben sollten, weil man aufgrund der Vorhersagen der Theorie meinte, zu Einsparungen und einer effizienteren Verwendung der Mittel zu kommen. Effizienz war also ein Schwert mit zwei Seiten: der Begriff konnte dazu beitragen, dass Partikularinteressen immer wieder auf das allgemeine Niveau gehoben werden konnten. Und er versprach trotzdem auf der Verteilungsebene Vorteile für alle Seiten. Damit war es dann allerdings leicht, zur Koordination beim Finanzausgleich zu kommen. Es fehlte aber noch eine genauere Kausaltheorie, die tatsächlich deutlich machen konnte, dass sich die Orientierung an der Effizienz in solchen Gewinnen niederschlagen konnte. Diese Theorie wurde dann von den Ökonomen geliefert. Es wurde ja bereits erwähnt, dass die New Public Management Theorie die kausale Theorie hinter dem Effizienzbegriff war. Tatsächlich aber ließ sich auch nahtlos die ökonomische Theorie des Föderalismus an die Effizienzvorstellungen ankoppeln. Dies ist nicht verwunderlich, da ja beide Theoriestränge im Wesentlichen im Rahmen der Public Choice Theorie entstanden sind. Die ökonomische Theorie des Föderalismus machte es aber wesentlich besser möglich als die mehr allgemein auf „Governance“ ausgerichteten Empfehlungen des New Public Management, konkret auf den Finanzausgleich einzugehen. Dieser Gesichtspunkt wird deswegen wichtig, weil nämlich nach dem Orientierungsrahmen ein Gutachten in Auftrag gegeben wurde, das vermessen sollte, wie nun konkret ein effizienteres Finanzausgleichssystems erreicht werden konnte. Vier Ökonomen übernahmen diese Aufgabe, die sich alle von der theoretischen Ausrichtung her relativ nahestanden. Und diese Ökonomen lieferten tatsächlich ein klares Modell mit Handlungsanweisungen, das Vorteile für alle versprach und in fast allen wesentlichen Zügen akzeptiert wurde und die Grundlage für die darauf folgende Projektarbeit wurde (Frey et al., 1994).
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Expertengruppen als Schlüssel für erfolgreiche Verfassungsreformen? In diesem Zusammenhang lässt sich ein weiterer Baustein für den Erfolg der NFA darstellen, nämlich die Verwendung von Expertengruppen. Nun ist die Einsetzung von Expertengruppen weder in der Schweiz noch in anderen Ländern etwas Ungewöhnliches. Wissenschaftliche Expertise wird in der Schweiz vor allem dann herangezogen, wenn besonders komplexe Materien vorliegen. Die Funktion der Experten hierbei ist, erstens, Orientierungs- und Sachwissen zur Verfügung zu stellen, das von der Politik zur Bearbeitung von Problemen genutzt werden kann und, zweitens, politische Entscheidungen zu legitimieren. Der wissenschaftliche Mantel strahlt die nötige Neutralität und Objektivität aus, deren es in der diskursiven Auseinandersetzung mit Opponenten bedarf, um zu überzeugen. Natürlich kann man - dieses Thema ist ein weites Feld und kann hier nicht auch nur annähernd behandelt werden - manipulieren. Auch die Wissenschaft ist nicht neutral und es lassen sich bei bestimmten Themen schon solche Experten auswählen, deren Kausalmodelle relativ kompatibel zu den kognitiven Vorstellungen der Politiker passen. Im Fall der NFA ist eine solche „nahestehende“ Selektion von Experten vielleicht nicht einmal aus dem Grund geschehen, um das Ergebnis zu manipulieren, sondern ganz einfach, weil sich die gesamte Diskussion um den Finanzausgleich im „Subsystem der Finanzadministration“ abspielte. Dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Dieses Subsystem war in sich relativ geschlossen und fast abgekoppelt von den anderen Reformbaustellen (Freiburghaus, 2001, 17). Hierdurch war auch der Politisierungsgrad der gesamten Diskussion lange Zeit sehr niedrig. Bis nach der ersten Vernehmlassung waren andere Ministerien praktisch nicht beteiligt. Die Diskussionen fanden eben zwischen den Finanzexperten der exekutiven Ebene statt und auch nur dort. Die Finanzadministration wandte sich aber wie selbstverständlich den Ökonomen, die ihnen vom Denken her am Nächsten standen, zu. Die Diskussion blieb ja auch vorerst noch sehr finanztechnisch, obwohl sich abzeichnete, dass eine Systemänderung vorgenommen werden musste. Auf diese Art und Weise entstand praktisch eine „epistemic community“ (Haas, 1992) von politischen und wissenschaftlichen Finanzexperten, was einer rationalen Diskussion des Themas - zusammen mit der geringen Politisierung - zuträglich war ebenso wie der Herausbildung eines relativ einheitlichen „frames“, der bis zum Schluss der Reform die gesamte Diskussion übergreifend prägen sollte. Wissenschaftliche Experten kamen auch später noch zum Zuge: zum einen wurden Experten bei den Beratungen in den Unterkommissionen des Projekts ab 1996 aufge-
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nommen, die, wie Wettstein, einer der beiden Koordinatoren des Projekts, berichtet, ganz erheblich zu einer differenzierteren Betrachtung der Probleme beigetragen haben und insgesamt die Problemlösungshaltung gefördert haben (Wettstein, 2002). Auf wissenschaftliche Experten wurde auch dann zurückgegriffen, wenn das Projekt festgefahren schien. Dies geschah zum Beispiel kurz bevor die Botschaft endgültig formuliert werden musste, im Jahre 2000 (Frey, 2001). Eine Reihe von Kantonen begannen mehr die Nachteile als die Vorteile des ganzen Vorhabens zu sehen. Dies veranlasste die Projektleitung noch einmal einen der Ökonomen aus dem Jahre 1994 zu bemühen sowie eine Studie über den neuen Ausgleichsindex in Auftrag zu geben. Auf diese Weise sollten technisch komplizierte Fragen gelöst und die Legitimität des Projekts sichergestellt werden. Die Expertise des Ökonomen war dann auch ein wichtiger Beitrag, der im Großen und Ganzen bestätigte, dass der vorliegende Vorschlag auch tatsächlich in Einklang mit den Leitlinien und dem Kausalmodell des Anfangs war. Auf diese Weise konnte auch noch einmal das zugrundeliegende Kausalmodell selbst allen Teilnehmern in Erinnerung gerufen werden. Dies war ein wichtiger Schritt, da im Verlaufe des Reformprozesses zwangsläufig immer mehr Verteilungsfragen wichtiger wurden und dementsprechend die Rückbindung an die allgemeinen Regeln reduziert wurde. Das Bemühen der erneuten Expertise war der richtige Schritt, um die Akteure wieder einzubinden. Anders als im Fall der deutschen Föderalismusreform wurde in der Schweiz der Input der Experten nicht immer in Form einer Anhörung vorgenommen, sondern gab es schriftliche Studien, die den eigentlichen Verhandlungsprozessen vorgeschaltet oder an die Seite gestellt wurden. In dieser Hinsicht konnte die wissenschaftliche Meinung also die politische Debatte vorstrukturieren und war ein selbständiger Input. Der Nexus von Finanzausgleich und Aufgabenneuordnung wird hergestellt Kehren wir zum Jahr 1994 zurück, in dem die Projektorganisation zur Vorbereitung der Botschaft gestartet wurde. Die Akteure - Bundesfinanzadministration und FDK - versuchten den parlamentarischen Prozess zur Reform des Finanzausgleichs auf zweierlei Weise zu strukturieren: Das eine war die wissenschaftliche Expertise, über die der wissenschaftliche Sachverstand einfließen sollte. Zum anderen sollte die Politik in der Projektorganisation dieses Wissen einbeziehen und gleichzeitig zu einem konkreten Vorschlag für die Vernehmlassung kommen. Diese Projektorganisation war paritätisch
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mit Vertretern von Bund und Kantonen besetzt, besaß eine Projektleitung, einen Steuerungsausschuss und vier Themengruppen. Der Projektorganisation waren klare Leitlinien anhand des Orientierungsrahmens der FDG und anhand des Expertenberichtes vorgegeben. Diese Leitlinien waren jetzt über den Expertenbericht aber weitergehend als zuvor. Der wesentliche Einfluss der vier Ökonomen bestand darin, das Projekt des Finanzausgleichs wieder mit der Aufgabenneuordnung zu verknüpfen. Anhand der ökonomischen Theorie von Dezentralisierung und Föderalismus wurde gezeigt, dass eine effiziente Finanzordnung nicht ohne eine effiziente föderale Gesamtordnung und das heißt im Klartext über eine Aufgabenneuordnung erzielt werden konnte. Die bisherige Finanzordnung sei ineffektiv, gerade weil sie zu einer „exzessiven Zentralisierung“ geführt habe, während die Lehren aus der ökonomischen Theorie weitgehend die Vorteile einer dezentralen Ordnung aufzeigen würden. Der bisherigen Verflechtung von Kompetenzen wurde das Prinzip der Konnektivität bzw. der fiskalischen Äquivalenz gegenüber gestellt, das eine Verstärkung der kantonalen Finanzkraft und gleichzeitig eine eindeutige Trennung von Aufgabenbereichen zwischen Bund und Kantonen nahe legte. Die Bundessubventionen wurden als zu detailliert, zu komplex und mit zu wenigen Kontrollen versehen betrachtet. Aus diesen Betrachtungen, die natürlich sehr viel ausführlicher waren, leiteten die Experten insgesamt eine deutliche Politik einer Optimierung der Aufgabenteilung ab, die Einrichtung eines horizontalen Finanzausgleichs und insgesamt einer Stärkung des kantonalen Finanzkraft. Damit war der Nexus von Aufgabenteilung und Finanzverteilung gelegt und blieb seitdem untrennbar miteinander verbunden. Vor allem war er nun in eine einheitliche und umfassende kausale Theorie eingespannt, in einen globalen Rahmen, der es möglich machte, eine solche komplexe Reform mit klaren Vorgaben anzugehen. Die Politik übernahm die Prinzipien dieser Analyse und machte sie zum Ausgangspunkt für die Erarbeitung der Vorschläge. Die Trennung von „Verfassungstheorie“ und „Verteilungsdiskussion“ als Erfolgsstrategie der NFA Der Bundesrat, der nun über das weitere Vorgehen entscheiden musste, wollte keinen hieb- und stichfesten Vorschlag in die Vernehmlassung geben, der bereits alle wesentlichen Elemente für die Botschaft, also den eigentlichen Gesetzesvorschlag enthielt. Man entschied sich dafür, zwei Vernehm-
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lassungen durchzuführen: in der ersten sollten die allgemeinen Grundzüge der Reform erörtert werden, aber noch keine Konkretisierungen, sprich genaue Folgen der vorgeschlagenen allgemeinen Regeln auf die einzelnen Akteure. Dies war in doppelter Hinsicht ein geschickter Schachzug: Zunächst einmal wollte der Bund es so erreichen, dass die grundsätzlichen Einwände der Gegner einer solchen Reform in die Diskussion eingebracht werden würden, die dann in der zweiten Phase der Ausarbeitung einer konkreteren Botschaft berücksichtigt werden konnten. Auf der anderen Seite war die Präsentation eines allgemeinen Regelwerks mit grundlegenden Prinzipien, das mit Hilfe ökonomischer Analysen erstellt worden war und in sich ein relativ kohärentes Ganzes darstellte, auch ein „Agenda-Setting“, eine Strategie, die kommende Diskussion weitgehend zu strukturieren. Wie ist das zu verstehen? Die Strategie des Bundesrates hielt sich eigentlich an die Lehren, die vorher schon genannt wurden: Die Fokussierung auf die allgemeinen Regeln und Prinzipien und das bewusste Unterlassen einer Konkretisierung dieser allgemeinen Regeln schafft einen „Schleier der Unwissenheit“ (Rawls, 1975), weil die Akteure, in diesem Fall also die Kantone, die möglichen Auswirkungen auf die eigene Position zwar erahnen, aber nicht wissen können. Das gleichzeitige Interesse aller Akteure an Effizienz und Stabilisierung des Systems macht dann eine rationalere, problemorientiertere Diskussion möglich als wenn bereits Verteilungsfragen behandelt werden würden. Auf dieser Ebene der allgemeinen Diskussion über die Spielregeln des Systems können die verschiedenen Akteure auch nicht einfach obstruieren, nur weil sie glauben, dass die Reform für sie nachteilig sein könnte. Man muss stattdessen allgemeine Prinzipien benennen können, die genauso allgemein sind wie die präsentierten, aber eine reale Alternative darstellen können. Wenn man dies nicht kann, hat das Projekt gute Chancen in seiner allgemeinen Ausrichtung akzeptiert zu werden. Da das Vorhaben inzwischen auch durch die Zusammenführung der Aufgaben- und der Finanzdimension hochkomplex geworden war, war es kaum zu erwarten, dass sich eine kohärente Alternative gegenüberstellen ließ. Und tatsächlich wurde diese auch nicht präsentiert. Damit war also der Schachzug richtig: der Bundesrat gebrauchte seine Definitionsmacht, um die Diskussion in dem „frame“ ablaufen zu lassen, der die Ausarbeitung der Vorschläge angeleitet hatte. Der Mangel an Alternativen führte dazu, dass die Grundlinien - bis auf Ausnahmen weitgehend akzeptiert wurden. Widerstand gab es gerade auf der Ebene von Verteilungskonsequenzen, aber nicht auf der Ebene der allgemeinen Prinzipien. 105
Über die Besetzung der „Verfassungstheorie“, die in der ersten Vernehmlassung präsentiert wurde, konnte der Bundesrat also, im Einklang mit der FDK, die Diskussion ganz wesentlich gestalten und fundamentale Opposition praktisch ausschalten. Die Einwände die kamen, waren zwar aufgrund der grundsätzlichen Vetomacht in der Direktdemokratie gefährlich genug, griffen aber nie das Projekt als Ganzes an. Die Sozialistische Partei (SP) zum Beispiel wendete sich zwar grundsätzlich gegen das Prinzip der Dezentralisierung, das den Vorschlag anleitete, aber sie konzentrierte sich auf einen Teilbereich, die Sozialpolitik, um dies zu demonstrieren und hatte vor allem kein kohärentes und umfassendes Alternativmodell zu präsentieren. Eine reine Verweigerungshaltung war aber angesichts der von den territorialen Akteuren als dringend notwendig gesehenen Reform des Finanzsystems wenig glaubwürdig. Von daher besaß die Sozialdemokratie eigentlich nie eine Chance, ihre Kritik mehrheitsfähig zu machen. Die SP versuchte zwar einen Gegenbegriff in den Diskurs einzubringen, die Solidarität, die dem Projekt fehlen würde und der problemlos als Kampfbegriff der Effizienz gegenübergestellt werden konnte. Damit war aber noch nicht dargelegt, wie denn nun die Finanzprobleme gelöst werden sollten. Damit ging es also nach der ersten Vernehmlassung für die Gegner des Projekts im Wesentlichen nur noch darum, die „Folgeschäden“ zu mildern. Die Verfassungstheorie an sich war so praktisch akzeptiert. Der „globale Rahmen“ konnte erfolgreich durchgesetzt werden und wenn auch immer wieder Verteilungsinteressen die Kompromissfindung im weiteren Verlauf schwierig machten, so konnte doch über geschickte Verhandlungsführung, die Konsistenz der Projektleitung und wissenschaftliche Expertisen die Diskussion auf diesen globalen Rahmen zurückbezogen werden und damit den Verteilungsinteressen wenigstens zum Teil der Boden entzogen werden (Larpin, 2006). Die Phase nach der ersten Vernehmlassung Trotzdem war klar, dass nun nach der ersten Vernehmlassung der Kampfplatz für Verteilungsgewinne und -verluste eröffnet werden würde, denn nun musste konkretisiert werden, wie man sich genau die Ausführung vorstellte und dabei würde auch klarer werden, wer Gewinner und wer Verlierer sein würde. Im Wesentlichen ging es hierbei um die Einbindung der reichen Kantone, die sehr wahrscheinlich zu Zahlern werden würden, um die Ausschaltung der Sozialistischen Partei, die mit den Konsequenzen des Projektes in der Sozialpolitik einen gefährlichen Nebenschauplatz eröffnet
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hatte und schließlich um die vielen Interessengruppen, die vor allem von der Neuordnung der Kompetenzen betroffen wurden. Das bekannteste Beispiel ist hier die Frage der Behindertenpolitik, die nun in die Kompetenzender Kantone überführt werden sollte. Dies rief vor allem den Behindertenverband auf die politische Bühne, der fürchtete, dass die Leistungen für die Behinderten durch die geringere Finanzkraft vieler Kantone gefährdet sein würden. Diese Frage sollte die Beteiligten lange Zeit beschäftigen. Insgesamt lief die Inszenierungsstrategie darauf hinaus, nun breiter in der Einbindung zu werden als bisher. Die Beschränkung auf Diskussionen innerhalb der Finanzexekutive musste aufgegeben werden, damit die nötigen Mehrheiten in Parlament und Volk erzielt werden konnten. In dieser Phase, von 1996 bis zur Verabschiedung der Botschaft, ging es vor allem darum, die Eliten zu überzeugen. Nach der Verabschiedung der Botschaft und der Diskussion im Parlament wurde es dann auch immer wichtiger, gezielt die Bevölkerung anzusprechen, damit dieses schwierige Dossier bekannt und verstanden werden würde. Es wurden interessante und erfolgreiche Mediatisierungsstrategien entwickelt, die hier aber außer Acht bleiben sollen. Ohne diese frühzeitige Öffentlichkeitsarbeit wäre die Verwirklichung des Projekts aber sicher schwieriger gewesen. Um erst einmal die Eliten zu überzeugen, wurde die Zusammenstellung der Projektorganisation für die Vorbereitung der zweiten Vernehmlassung geändert. Um alle Interessen in den Kantonen einzubinden, trat nun die KdK selbst an die Stelle der FDK; das Justizministerium, aber auch andere Departements wurden aktiv beim Bund einbezogen; Interessengruppenvertreter und Experten wurden in die Unterkommissionen eingeladen. Die Kantone waren auch weiter paritätisch in allen Gremien vertreten. Integration hieß also auch jetzt die Devise, nur wurde dieses Mal versucht, möglichst alle Betroffenen einzubinden. Das Scheitern des Projekts war nun in der Phase der konkreteren Ausarbeitung auch wesentlich größer. Jeder Sektor, der durch die Neuordnung der Aufgabenteilung berührt war, barg potentielle Konflikte in sich und konnte zu Widerstand führen. Entscheidend für den künftigen Erfolg war nun, dass die Projektleitung in der Lage war, eine Fragmentierung und ein Auseinanderfallen des Projekts in verschiedene Dossiers zu verhindern. Es musste also ein aktives, integratives Projektmanagement betrieben werden. Dazu gehörte es, immer wieder den Rückbezug auf das Ganze, was im Wesentlichen auf Effizienzverbesserung hieß, in Erinnerung zu rufen und die Gefahr eines Scheiterns vor Augen zu halten. Es wurde jedem klar gemacht, dass der „default“, also die Fortführung des bestehenden Systems, zu hohen Kosten für alle Seiten 107
führen würde. Alternativen standen zudem nicht zur Verfügung. Unter diesen Bedingungen konnte es sich eigentlich kein Akteur erlauben, tatsächlich eine radikale Obstruktionspolitik zu betreiben. Dies galt auch für die Kantone, die ja von der gesamten Reform besonders betroffen waren und die in sich sehr gespalten waren. Es gab zahllose Diskussionen und Gelegenheiten, die offensichtlich in eine Sackgasse führten oder einen Stillstand im Fortschreiten des Projekts verursachten. Die Furcht vor einem Scheitern dieses von den Kantonen initiierten Projekts, die Rolle der KdK und Kompensationszahlungen haben es aber insgesamt geschafft, das Schiff immer wieder voran zu treiben. Die wichtige Rolle der KdK Die Rolle der KdK war sehr wichtig. Diese hatte sich ja 1993 als kollektiver Akteur konstituiert, mit dem Ziel relativ geschlossen eine gezielte Politik gegenüber dem Bund zu führen. Für das Projekt hieß dies nun aber auch zu versuchen, die sehr unterschiedlichen Interessen der Kantone auf einen Nenner zu bringen und damit immer wieder die Zustimmung zum Projekt zu generieren. Die KdK war dafür verantwortlich, die nötige Zustimmung von 18 Kantonen für die verschiedenen Entscheidungen zustande zu bringen. Sie war aktiv beim Prozessmanagement beteiligt. Zwar konnte sie ihre Befriedungsfunktion nach innen nicht immer erfolgreich durchführen, aber zweifellos hat sie zu einer Disziplinierung des eigenen Anhangs beigetragen und zu einer positiven Einstellung der Kantone gegenüber dem Projekt insgesamt. Ihr muss damit eine ganz zentrale Funktion in der Zeit der Konkretisierung des Projekts zugebilligt werden. Kompensationszahlungen bleiben unumgänglich Kompensationszahlungen waren trotzdem immer wieder nötig. Zu Anfang versuchte der Bund sich in dieser Hinsicht noch zurückzuhalten. Auf die Dauer war aber klar, dass diese Haltung nicht durchzuhalten war. Noch in der parlamentarischen Debatte ab 2002 kam es immer wieder vor, dass man Kompromisse finden musste. So lehnten es die reichen Kantone schließlich doch ab, die vereinbarten 80% der Bundeszahlungen in den Topf für den Härteausgleich zu zahlen und verlangten eine Reduktion auf zwei Drittel der Bundesbeiträge. Man einigte sich schließlich auf 70%, wodurch die Bundeszahlungen natürlich anstiegen. Für das Gelingen des Projektes insgesamt, für seine Grundausrichtung, waren solche Auseinandersetzungen
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nur von geringer Bedeutung, aber es war nötig, die Verteilungsinteressen zu befriedigen, damit das Projekt zu einem guten Ende gebracht werden konnte. Sobald Verfassungsreformen einmal auf der Verteilungsebene angelangt sind und die Akteure sich immer bewusster werden, welche „pay-offs“ zu erwarten sind, sind Tauschgeschäfte, side-payments usw. unverzichtbar und muss hierfür Verhandlungsmasse bereit stehen. Trotzdem muss verhindert werden, dass die Akteure nur noch in Kategorien von Verteilungsvorteilen und -nachteilen denken. Es bleibt nach wie vor von großer Bedeutung, dass allen Akteuren klar gemacht wird, dass es sich hier um ein „mixedmotive game“ handelt, dass sie alle von der Effizienz des Gesamtsystems im Falle eines Gelingens profitieren. Nullsummenergebnisse sollten bei der Verteilung ganz vermieden werden können. Die Ausschaltung von Parteiopposition durch ein territoriales „Win-Win-Game“ Im Fall der Opposition der Sozialistischen Partei war dies aber nur über Umwege zu erreichen. Diese hatte mit den sozialpolitischen Fragen einen Nebenschauplatz eröffnet, der in der Logik des Projekts nur schwer befriedet werden konnte, obwohl in der parlamentarischen Diskussion zum Beispiel bei der Invalidenversicherung einige Zugeständnisse an die Sozialistische Partei gemacht werden konnten. Tatsächlich aber war das strategische Kalkül der Projektleitung zur Neutralisierung der SP als störende Kraft in der NFA ein anderes: die SP sollte durch ihr eigenes Klientel in den Kantonen eingebunden werden. Wenn man es schaffte, alle Kantone ins Boot zu holen und ihnen genügend Vorteile vor Augen zu führen, würde es die SP schwer haben, ihren eigenen Anhang unter Kontrolle zu halten. Bekanntlich spielen die kantonalen Fraktionen in der Parteienlandschaft der Schweiz ja eine wesentlich stärkere Rolle als in Deutschland. Die Rolle der Bundespartei ist damit stark von der Zustimmung der sozialistischen Parteien in den Kantonen abhängig. Diese aber konnten es sich nicht erlauben, einem Projekt die Zustimmung zu verweigern, das in vielen Fällen eindeutige Gewinne für die Finanzierungskapazitäten und die Autonomie der Kantone versprach. Damit aber war der Standpunkt der SP auf der Bundesebene geschwächt und konnte sich im Endeffekt auch nicht durchsetzen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, andere Spannungslinien als die territorialen aus diesem komplexen Verhandlungsfeld herauszuhalten. Die Konzentration auf den Territorialkonflikt ist wesentlich und dies wurde bei der
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Projektorganisation auch berücksichtigt. Die eindeutige Konzentration auf die Vertreter aus der Exekutive hat es fast bis zur Verkündung der Botschaft möglich gemacht, die Diskussion auf der territorialen Konfliktachse zu verorten und die parteipolitische Konfliktachse im Großen und Ganzen herauszuhalten. Diese Konfliktachse wurde zwar bei den parlamentarischen Diskussionen stärker, blieb aber nachrangig, da das gesamte Projekt auf der Logik der Befriedung von Territorialinteressen aufgebaut war. Der Exekutivföderalismus als Faktor für eine erfolgreiche Verfassungsreform Diese Diskussion zeigt, dass der Erfolg des Ganzen auch durch die Ausschaltung der Legislative bestimmt wurde. Am Anfang war die Reform ein Projekt der Finanzexekutive und wurde dann zwar breiter angelegt, blieb aber immer noch ein Projekt, das weitgehend zwischen Regierungsmitgliedern ausgehandelt wurde. Die bedeutende Rolle der KdK als Vertretung der Regierungsdirektoren bestätigt dies. Die Exekutive musste dann schließlich Mehrheiten im Parlament suchen, aber die gesamte Vorbereitungsphase war im Sinne der und durch die Exekutive erfolgt. Von daher konnten auch Machbarkeitsgesichtspunkte wesentlich stärker nach vorne und parteiideologische Gesichtspunkte in den Hintergrund treten. Hinzu kommt, dass der fertige Kompromiss - dies kennen wir auch aus der bundesrepublikanischen Praxis -, der mühsam genug und über lange Jahre vorbereitet zustande gekommen war, vom Parlament schließlich kaum mehr abgelehnt werden konnte. Die NFA ist in dieser Hinsicht fast ein Paradebeispiel des Exekutivföderalismus. Auf welcher Grundlage und mit welcher Hinsicht hätte sich das Parlament hinstellen und das Projekt als Ganzes hinterfragen können? Diskussionen über Einzelfragen gab es, aber die eigentliche parlamentarische Diskussion fand relativ schnell und ohne größere Konflikte statt. Dies bestätigt die Pfadabhängigkeit des Verfahrens: Auch für das Parlament kam ein Scheitern-Lassen nicht in Frage. Alternativen standen nicht zur Verfügung. Unter diesen Bedingungen hatte das Parlament eigentlich keine Chance, das ganze Projekt abzulehnen. Keine Verfassungsreform ohne eine Berücksichtigung der Kompensationslogik Abschließend sollte auch noch einmal klar gestellt werden, dass trotz der gelungenen Separierung der Erarbeitung einer „Verfassungstheorie“ und der
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Konkretisierung des Projekts auf der Verteilungsebene das gute Gelingen der NFA davon abhing, dass sich keiner der territorialen Akteure als Verlierer zu fühlen brauchte. Um dies zu erreichen, waren auch bei der NFA Kompromisse im Sinne einer Kompensationslogik nötig, die die Effizienz zum Teil in Frage stellten. Dies wurde dann auch prompt in den begleitenden Gutachten vermerkt. Die Einführung des Härteausgleichs etwa entsprach nicht den Idealvorstellungen eines effizienten Modells und auch der Lastenausgleich blieb in dieser Hinsicht umstritten. Trotzdem war es nötig gewesen, diese Kompromisse zu machen, um den nötigen Konsens herzustellen. Tatsächlich aber sind dabei die zugrunde gelegten allgemeinen Prinzipien nie in Frage gestellt worden. Und dies war das Entscheidende. Man konnte die Kohärenz des Projekts über die geschickte Nutzung von Experteneinfluss und sensibles Management retten. Dies ist der eigentliche Erfolg dieses komplexen und umfassenden Projekts, das tatsächlich einen Systemwechsel in der „Governance“ des Föderalismus und in der Finanzordnung bedeutete. Dabei hat es sicherlich auch Verlierer gegeben, die aber nicht auf der Konfliktachse der territorialen Interessen zu finden sind. Dazu zählen sicherlich die Parlamente, die nicht nur bei der Entscheidungsfindung eine nachgeordnete Rolle besaßen - und zwar sowohl auf Bundes- wie auf kantonaler Ebene - sondern auch durch einige der neuen Verfahren brüskiert wurden, so etwa durch die Einführung der interkantonalen Verträge, bei denen der Bund im Notfall ja Kantone zur Teilnahme verpflichten kann. Insgesamt ist die Rolle der Exekutive auf Kosten der Legislative durch die NFA gestärkt worden. Dies passt in die Logik der von New Public Management und Ökonomischer Theorie des Föderalismus angeleiteten Reform, die ja Legitimationsfragen unberücksichtigt lassen und Machbarkeitsfragen hervorheben. Hier gibt es also weiter Reibungspunkte (Rhinow, 2006). Gleichzeitig lässt sich aber auch erkennen, wie pfadabhängig das Gelingen des Projekts gewesen ist: Obwohl manche dieser Fragen demokratischer Legitimation und die Rolle der Parlamente schon während der parlamentarischen Diskussion angeschnitten wurden, gab es kaum eine nennenswerte Opposition der Parlamente gegen das Projekt.
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3 Lehren Welche Lehren lassen sich nun aus dem Fall Schweiz für Verfassungsreformen allgemein ziehen? (1) Es ist wichtig, „Verfassungstheorie“, also kausale Theorien über die Wirkung von allgemeinen Regeln in der Verfassung, von Verteilungsfragen zu trennen. Diese Lehre aus der „Constitutional Economics“ wurde in der Schweiz verwirklicht. Drei Bedingungen brauchte es hierfür: • es musste eine relativ kohärente und konsistente Kausaltheorie zur Verfügung stehen; • hierfür bedurfte es einer relativ homogenen Akteursgruppe, die eine solche Kausaltheorie praktisch unbeeinflusst von anderen politischen Geschäften erledigen konnte; • die Diskussion der Verfassungstheorie sollte möglichst separiert von der Diskussion über Verteilungsfragen stattfinden. Dies wurde in der Schweiz über die zwei hintereinander statt findenden Vernehmlassungen erreicht. Die Verteilungsebene lässt sich aber selbstverständlich nicht ausschalten. Diskussionen auf dieser Ebene sollten nicht nur Nullsummenlösungen vermeiden, sondern möglichst Gewinne für alle versprechen. Die Effizienz als globaler Rahmen und die Kausaltheorien um sie herum erfüllten diese Bedingung. Außerdem müssen Kompensationszahlungen, vor allem seitens des Bundes, immer möglich sein. (2) Die betroffenen Akteure sollten so weitgehend wie möglich Mitwir kungs- Teilhabe- und Gestaltungsrechte erhalten, nicht einfach nur, um späteren Widerstand bei der Abstimmung zu vermeiden, sondern vor allem um die Akteure an das Projekt zu binden, Verantwortung zu schaffen und die Herausbildung gemeinsamer Sichtweisen möglich zu machen. Mitwirkung an sich kann keine hinreichende Variable für erfolgreiche Verfassungsreform sein wie der Fall Deutschland lehrt, wo ja die Länder über den Bundesrat paritätisch in die Föderalismusreform eingespannt waren. Mitwirkung muss zusätzliche Randvariablen haben wie zum Beispiel die Existenz eines kaskadenartigen Gesetzgebungsprozesses, der die Akteure Schritt für Schritt aneinander spannt; die Existenz eines kollektiven Akteurs auf Seiten der Mitgliedstaaten, der eine gewisse Verpflichtungsfähigkeit garantieren kann; der glaubwürdige Wille aller Beteiligten, zu gemeinsamen Gewinnen zu 112
kommen und nicht nur zu individuellen Vorteilen, wie es noch beim Dossier Neuordnung in der Schweiz der Fall gewesen ist. (3) Die Komplexität der Materie ist von Bedeutung für ein gutes Gelingen von Verfassungsreformen. Dies ist keine neue Erkenntnis. Je komplizierter und technischer die Materie, umso mehr steigt der Wert wissenschaftlicher Expertisen und damit auch die Chance auf problemlösende Vorschläge und umso schwieriger wird es, umfassende Alternativen zu entwickeln. Dies schützt das gesamte Vorhaben und macht es leichter, im parlamentarischen Prozess zu bestehen. Also gerade die Verknüpfung von Finanzausgleich und Neuordnung der Aufgabenteilung, der ja über die Ökonomen ins Spiel kam, hat die notwendige Komplexität erzeugt, die nötig war, um das Projekt durchzusetzen. Gerade die Parzellierung dieser beiden Materien in der Bundesrepublik (Föderalismusreform I und II) dürfte darum als nachteilig angesehen werden. Hinzu kommt, dass sich in Deutschland auch kein übergreifendes kausales Modell abzeichnet, das die beiden Materien miteinander verknüpfen könnte. In der Schweiz ist genau dies gelungen. (4) Ideen sind von Bedeutung. Es bedarf eines globalen Rahmens, eines „frames“, der an der Funktionalität des Systems orientiert ist und dazu verwendet werden kann, das Allgemeine in der Verfassungsreform hervorzuheben. Die „Effizienz“ und die sie umgebenden Kausaltheorien von New Public Management und Ökonomischer Theorie des Föderalismus haben hierzu beigetragen. Hierüber konnten Partikularinteressen zwar nicht überwunden, aber im Diskurs doch immer wieder auf die allgemeine Ebene bezogen und so relativiert werden. Neben dem globalen Rahmen war auch die Subsidiarität als „focal point“ wichtig, als ein Versicherungsmechanismus, der glaubwürdig die Kantone vor Übergriffen des Bundes bei der Verfassungsdebatte schützen konnte. Solche „focal points“ müssen in den Verfassungsdebatten gefunden werden. (5) Die Fragmentierung der Mitgliedsstaaten sollte möglichst vermieden werden, weil dies Partikularinteressen Tür und Tor öffnet. Von daher war die Rolle der KdK als kollektiver Akteur ein ganz wichtiger Schritt für das Gelingen der Reform. Diese konnte in vielerlei Hinsicht disziplinierend und befriedend wirken. (6) Die Reduktion der Zahl der Akteure gerade in der Vorbereitung von Gesetzesvorschlägen ist wichtig. Dies demonstriert die Schweiz erst über die Entwicklung des Vorschlags für die erste Vernehmlassung, bei der das Subsystem der Finanzexekutive praktisch alleine auf sich gestellt war. Und dies zeigt auch die darauf folgende Beschränkung der Akteure auf die Exekutive. Eine solche Beschränkung der Zahl der Akteure ist wichtig, um einen 113
Grundkonsens zu schaffen und ein relativ einheitliches Projekt zu entwickeln, das daraufhin genügend Überzeugungskraft in den weiteren Diskussionen mit Einbezug aller Akteure hat. Wichtig ist außerdem, eine Kumulierung von Konfliktachsen zu vermeiden. Die weitgehende Ausschaltung der parteipolitischen Konflikte in der Diskussion hat viel zur Möglichkeit eines Ausgleichs beigetragen. (7) Partikularinteressen können vor allem dann überwunden werden, wenn das bestehende System bzw. Modell in den Augen aller Akteure desavouiert ist. Häufig bedarf es hierfür eindeutiger Diagnosen, die dies belegen können. Gleichzeitig müssen Alternativen zur Verfügung stehen, die glaubwürdig ein effizienteres System versprechen. (8) Schliesßlich ist das Projektmanagement entscheidend. Dies ist in diesem Artikel nicht ausreichend gewürdigt worden (siehe aber Larpin, 2006). Es ist aber deutlich, dass eine auf Dauer angelegte Projektleitung, die immer wieder engagiert die allgemeinen Prinzipien in die Diskussion einbringen kann, ein wichtiges Mittel für den Erfolg ist. Was lässt sich abschließend über die Ausgangshypothese sagen, dass erfolgreiche Verfassungsreformen von der Virulenz eines Interesses aller Akteure an stabilen Regeln abhängen, während Verteilungsinteressen unbedingt in die zweite Reihe gestellt werden müssen? Die oben genannten Lehren geben insgesamt eine Antwort. Sie erscheinen alle vor dem Hintergrund des Falles Schweiz für eine erfolgreiche Verfassungsreform wichtig und tragen in ihrem Zusammenspiel zu der Virulenz des „Allgemeininteresses“ in der Verfassungsdiskussion bei, ohne die Verteilungsinteressen ausschalten zu können. Auf der Grundlage eines Falles lässt sich natürlich nicht beurteilen, welche der Faktoren nun hinreichend oder notwendig sind oder welche Kombinationen von Faktoren zusammenwirken müssten (Goertz und Mahoney, 2005). Es lassen sich aber Vermutungen über den Stellenwert der einzelnen Faktoren in einem Kausalmodell anstellen: Notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Verfassungsreform wäre dann die allgemeine Desavouierung des bestehenden (Verteilungs)modells, dessen Wirkung für alle Akteure schädlich ist. Dies schafft das Interesse an Alternativen. Notwendig erscheinen dann vor allem drei Variablen: die Schaffung eines in sich kohärenten Kausalmodells, das ständig auf das Allgemeine in der Verfassungsdiskussion verweisen kann und somit zu einem ständigen Referenzpunkt in der Debatte wird; die Separierung der Diskussion in einerseits eine Debatte über die allgemeinen Verfassungsprinzipien und in eine Debatte über die konkreteren Auswirkungen dieser Prinzipien; die umfassende Einbindung aller Veto-Spieler in den Verfassungspro114
zess, der zur Loyalität führen kann. Ermöglichende Faktoren sind die hohe Komplexität des Themas; die Existenz kollektiver, in sich relativ kohärenter Akteure; die Reduktion der Zahl der Akteure, die bei der Ausarbeitung der allgemeinen Verfassungsregeln mitwirken sowie ein fähiges Projektmanagement. Diese vorläufigen Überlegungen zu einem umfassenderen Kausalmodell, das die Trennung von Verfassungsdiskussion und Verteilungsdiskussion erklärt, helfen, um in einem weiteren Schritt eine vergleichende Analyse von Verfassungsreformen in Staaten anzuleiten, die dann mit Hilfe geeigneter Methoden - wie zum Beispiel der Fuzzy-Set Analyse (Ragin, 2000)- zu mehr generalisierenden Aussagen zu führen. 4 Literaturverzeichnis Benz, Arthur, 2002: Themen, Probleme und Perspektiven der vergleichenden Föderalismusforschung. In: Arthur Benz und Gerhard Lehmbruch (Hg.), Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive., 9–52. Opladen: Westdeutscher Verlag. Braun, Dietmar, 2003: Dezentralischer und unitarischer Föderalismus. Die Schweiz und Deutschland im Vergleich. Swiss Political Science Review 9:57–89. Braun, Dietmar, und Fabrizio Gilardi, 2006: Taking ’Galton’s Problem’ seriously. Towards a theory of policy diffusion. Journal of Theoretical Politics 18:298–322. Buchanan, James M., und Gordon Tullock, 1962: The Calculus Of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy. Ann Arbor: University of Michigan Press. Conseil Fédéral, Bericht, 2001: Message concernant la Réforme de la péréquation financière et de la répartition des tâches entre la Confédération et les cantons (RPT). Bern: Conseil Fédéral. Edelman, Murray, 1964: The Symbolic Uses Of Politics. Urbana und Chicago: University of Illinois Press. Esser, Hartmut, 1990: „Habits”, „Frames” und „Rational Choice”. Die Reichweiten von Theorien der rationalen Wahl (am Beispiel der Erklärung des Befragtenverhaltens). Zeitschrift für Soziologie 19:231–247. 115
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Risiken und Nebenwirkungen von Vetospielerreferenden – Warum Chirac das Verfassungsreferendum verloren hat Katja Heeß und Christoph Hönnige
1 Einleitung Standesgemäß zum Nationalfeiertag am 14. Juli 2004 kündigte der französische Staatspräsident Jacques Chirac an, seine Landsleute in einem Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag abstimmen zu lassen. Dies war insofern überraschend, als der Ratifikationsprozess in Frankreich lediglich eine Zustimmung von 3/5 der Abgeordneten in beiden Parlamentskammern erfordert hätte. Das am 29. Mai 2005 abgehaltene Referendum ging bei einer recht hohen Beteiligung von 69,3% der Wahlberechtigten mit 54,7% der Stimmen gegen den Vertrag verloren. Zusammen mit der Ablehnung durch die niederländische Bevölkerung in einem fakultativen Referendum lediglich 2 Tage später bedeutet das französische „Non“ den Tod der neuen Verfassung: Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf dem EU-Gipfel am 17./18. Juni 2005 eine „Denkpause“ verordnet und den weiteren Ratifikationsprozess gestoppt. Doch warum hat Jacques Chirac das Referendum über die europäische Verfassung in Frankreich verloren? Handelte es sich bei der Niederlage um eine grundsätzlich europafeindliche Einstellung der Franzosen oder sind handwerkliche Fehler bei der Durchführung des Referendums dafür verantwortlich? In der Tat schien die Ausgangslage für Chirac günstig zu sein: Das Referendum nach Artikel 11 der Verfassung ist ein fakultatives Referendum, das nur der Staatspräsident mit Zustimmung der Regierung beantragen kann und auch die Entscheidungsfrage stellen darf; das Ergebnis ist dann aber bindend. Damit handelt es sich um ein typisches Vetospielerreferendum (Tsebelis 2002: 125, Hug/Tsebelis 2000: 478). Neben den strukturellen Vorzügen des Referendums spräche auch eine Analyse der Präferenzen der Bevölkerung eher für eine Zustimmung zum Verfassungsvertrag im Referendum: Die Distanz vom französischen Medianwähler zum Status Quo
war größer als die zwischen dem Medianwähler und dem Verfassungsvertrag (Hug/Schulz 2005: 346-7). Zuallerletzt war auch die Zustimmung in der Bevölkerung zur Verfassung in den Meinungsumfragen eher hoch. So befürworteten in der zweiten Hälfte 2004 im Schnitt rund 60% der Wahlberechtigten die neue Verfassung (Ipsos 2005). Dieses Paradox, die überraschende Niederlage trotz bester Voraussetzungen, zu erklären, ist die Zielsetzung dieses Papiers. Sowohl die Verteilung der Präferenzen als auch die institutionellen Eigenschaften des Referendums hätten es Chirac erlauben sollen, wie von Tsebelis und Hug (2002: 481) angenommen, als Agendasetzer seinen bevorzugten Punkt aus dem Winset zu wählen und das Referendum zu gewinnen. Unsere Hypothese ist, dass sich die Niederlage durch die Verknüpfung der eigentlichen Abstimmungsfrage über den Verfassungsvertrag mit der persönlichen Popularität von Chirac und seinem Premierminister Raffarin und ihren nationalen politischen Reformen erklären lässt. Die Einführung einer zweiten Dimension und deren schwer antizipierbare Gewichtung durch den Bürger hat wesentlichen Einfluss auf die Fähigkeit des Vetospielers, den Winset des Quasi-Medians zu schätzen und somit seine Agendasetzungsmacht optimal zu nutzen. Zur Überprüfung dieser Hypothesen geht das Papier in drei Schritten vor: Abschnitt 2 gibt eine kurze Übersicht zum Forschungsstand und verortet das französische Referendum in der Vetospielertheorie. Abschnitt 3 erläutert das theoretische Argument, und Abschnitt 4 belegt es anhand des Verfassungsreferendums. 2 Direktdemokratie in der Vetospielertheorie 2.1 Literaturübersicht Referenden: Abstimmungsverhalten und Politikergebnisse Die gängige Literatur zu Referenden verfolgt üblicherweise zwei verschiedene Ansatzpunkte. Entweder sie fokussiert eher auf die institutionelle Ausgestaltung von Referenden und die daraus resultierenden Politikergebnisse oder sie interessiert sich stärker für die Determinanten des individuellen Abstimmungsverhaltens, also die Frage, ob die Wahlberechtigten sich enthalten, für oder gegen den Vorschlag stimmen. In der ersten Gruppe finden sich üblicherweise Klassifikationen von Referenden, so. z.B. Tsebelis/Hug (2002), Tsebelis (2002), Hug (2002), Jung (2001), Möckli (1994), Hug und Sciarini (2000), Uleri (2002). Diese un-
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terteilen die Referenden nach verschiedenen Kriterien, in der einen oder anderen Form geht es dabei aber im Wesentlichen um die Fragen: Wer initiiert das Referendum? Wer stellt die Referendumsfrage? Ist das Ergebnis bindend? Andere Autoren fokussieren wiederum stärker auf die spezifischen Policy-Wirkungen von Referenden, so z.B. Wagschal und Obinger (1999), Kirchgässner et al. (1999) oder Immergut (1992). Hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens der Bürger bei Referenden werden eine ganze Reihe von Variablen untersucht, so der Einfluss von Parteizugehörigkeit bzw. -affinität (Christin et al., 2002; Sinnott, 2002; Aimer und Misser, 2002; Freire und Baum, 2003), die Frage der Informationsgewinnung durch die Bürger in den begleitenden Kampagnen (Christin et al., 2002; Bowler und Donovan, 2002; Denver, 2002) sowie der Einfluss von Eliten (Higley und McAllister, 2002; Trechsel und Sciarini, 1998). Innerhalb dieser Gruppe lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze identifizieren (Garry/Marsh/Sinnott: 2005: 204): Eine Gruppe, die davon ausgeht, dass die Wähler tatsächlich über das zur Abstimmung stehende Thema entscheiden und dort mehr oder minder rational ihre Interessen verfolgen, also diejenige Alternative wählen, die ihnen den höheren Nutzen bringt (z.B. Svensson, 2002) und eine zweite Gruppe, die argumentiert, dass es sich ähnlich wie bei Wahlen zum EU Parlament um „second order elections“ (Schmitt/Reif 1980) handelt, bei denen das eigentliche Thema nur von untergeordneter Bedeutung ist und die Wähler während der Legislaturperiode lediglich die Chance nutzen, ihre aktuellen Präferenzen über die Regierungspolitik auszudrücken (Garry/Marsh/Sinnott: 2005: 205-6). Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise Franklin/Marsh/McLaren 1994, Franklin/Eijk/Marsh 1995, Franklin 2002. Neuere Aufsätze gehen davon aus, dass sowohl das jeweilige Abstimmungsthema, als auch die Beliebtheit der Regierung eine Rolle spielen (Garry et al., 2005; Hug und Tsebelis, 2002), und zwar in Abhängigkeit der institutionellen Regeln, die das Referendum steuern. Wenn eine Regierung ein Referendum freiwillig abhält und die Entscheidung nicht bindend ist und das Thema von geringem Interesse ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der elektoralen Bestrafung durch den Wähler bei schlechten Umfragewerten. 2.2 Das Referendum nach Artikel 11 in der Vetospielertheorie Das Referendum nach Artikel 11 der französischen Verfassung Artikel 11 der französischen Verfassung erlaubt dem Präsidenten auf Vorschlag der Regierung oder auf gemeinsamen Antrag beider Kammern jedes 121
Gesetz, das die Organisation der staatlichen Institutionen zum Inhalt hat oder zur Unterzeichnung eines Vertrags, der, ohne der Verfassung zu widersprechen, sich auf die Funktionen der Institutionen auswirkt, autorisiert, einem Referendum zu unterwerfen (Möckli, 1994, 125-6). Im Gegensatz zu Art. 89 der Verfassung, der Referenden im Falle einer Verfassungsänderung ermöglicht, kann über Artikel 11 die Legislative umgangen werden. In diesem Falle findet keine Abstimmung durch diese statt, das Gesetz wird direkt dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Dies hatte zur Folge, dass Artikel 11 in der Vergangenheit auch bei Verfassungsänderungen zur Anwendung kam. (Butler und Ranney, 1994, 47ff.). Die Alternative zu einem Referendum wäre eine gemeinsame Abstimmung der „Assemblé Nationale“ und des Senats (Kleger, 2005, 126). Das Referendum nach Artikel 11 kennt im Gegensatz zu vielen anderen Referenden weder ein Beteiligungs-, noch ein Zustimmungsquorum. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen über das Ergebnis entscheidet. Auch wenn es sich bei diesem Referendum um ein Gesetzesplebiszit handelt, ist das Ergebnis doch bindend (Kempf, 1997, 50-52). Das Referendum nach Artikel 11 in der Vetospielertheorie Tsebelis und Hug entwickeln ein multidimensionales Modell für Mechanismen direkter Demokratie auf Basis der Vetospielertheorie, mit Hilfe derer es möglich ist, alle Akteure, die bei der Erzeugung von Politikergebnissen beteiligt sind, zu identifizieren. (Hug/Tsebelis 2002: 466). Die Möglichkeit eines Referendums stellt in einem politischen System einen zusätzlichen Vetospieler in Gestalt der Bevölkerung dar. Kann jedoch ein einzelner Akteur sowohl die Frage des Referendums formulieren, als auch darüber entscheiden, ob ein Referendum angesetzt wird oder nicht, so werden alle anderen Vetospieler umgangen, und die Zahl der effektiven Vetospieler verringert sich. (Hug und Tsebelis 2002: 466f). Tsebelis typologisiert Referenden danach, welche Akteure in welchem Maße die Agenda kontrollieren. Seine beiden Kriterien sind hierbei: 1. welcher Akteur kann ein Referendum ansetzen? und 2. wer bestimmt den genauen Wortlaut der Referendumsfrage? Entsprechend unterscheidet er vier verschiedene Typen: 1. „Required referendum“: Hier erfordert eine bestimmte politische Entscheidung die Zustimmung der Wähler. Die Regierung muss die Vorlage an das Wahlvolk weiterreichen; die Abstimmung bedarf also kei122
ner Initiative. Diese Form des Referendums kommt häufig bei Verfassungsänderungen zur Anwendung (Tsebelis 2002: 125). 2. „Veto player referendum“: Hier liegt die Entscheidung, ob ein Referendum stattfinden soll, bei einem der bestehenden Vetospieler. Der Vetospieler kontrolliert beide Teile der Agenda (Tsebelis 2002: 125). 3. „Popular Veto“: Hier wird die Abstimmungsfrage von einem der Vetospieler formuliert; jedoch kann das Ansetzen des Referendums auf Forderung eines anderen Akteurs hin geschehen, so z.B. durch die Bevölkerung als Ganzes oder durch eine Minderheit im Parlament. (Tsebelis 2002: 126). 4. „Popular Initiative“: Hier stammt die Vorlage nicht aus der Gesetzgebung der Vetospieler, sondern wird von einer politischen Gruppe verfasst und auf dem Wege der Unterschriftensammlung in der Bevölkerung zur Abstimmung gebracht. Hier entscheidet das Auswahlverfahren zum Agendasetzer, wie nah das Politikergebnis am Idealpunkt des angenommenen Median-Wählers ist. Wie beim „Veto player referendum“ wird auch hier der gesamte Gesetzgebungsprozess durch das Referendum ersetzt. (Tsebelis 2002: 131ff). Kontrolliert also ein Vetospieler die Referendumsagenda, so kann er dadurch die anderen Vetospieler als solche ausschalten. Somit ändern sich die Ergebnisse, die durch repräsentative Verfahren zustande kommen, wenn direktdemokratische Verfahren möglich sind (Tsebelis, 2002, 126ff). Findet jedoch ein Wettbewerb um diese statt, so werden die Präferenzen des Median-Wählers stärker berücksichtigt. Das Referendum nach Artikel 11 der Verfassung kann dabei eindeutig als Vetospielerreferendum klassifiziert werden (siehe Tsebelis, 2002, 130). Der Staatspräsident kann bei Zustimmung der Regierung das Referendum ansetzen und die Entscheidungsfrage stellen. Im semipräsidentiellen System der V. Republik kann er sich dieser Zustimmung sicher sein, so lange er nicht mit einer Cohabitation konfrontiert ist. Er kann sich dann entscheiden, ob er einen Punkt aus dem Winset der Vetospieler oder einen, der mit dem Winset des Median-Wählers übereinstimmt, vorschlagen will. Damit ist er in der Lage, den Weg der Gesetzgebung auszuwählen, auf dem er den von ihm bevorzugten Punkt erreichen will. Mithilfe eines Referendums kann er alle anderen Vetospieler umgehen: „Under complete information the referendum agenda-setter is guaranteed 123
to get his/her most preferred point from the popular winset of the status quo...“ (Hug/Tsebelis 2002: 481). So lange der Präsident über vollständige Informationen über die Präferenzen der Bevölkerung verfügt und rational genug ist, einen Punkt aus der Präferenzmenge der Bevölkerung zu wählen, ist ein Vetospielerreferendum praktisch nicht zu verlieren. Ist sein Idealpunkt Bestandteil des Winsets der Bevölkerung, kann er diesen durchsetzen, ansonsten kann er einen Punkt aus seiner eigenen Präferenzmenge wählen, der ebenfalls von der Bevölkerungsmehrheit dem Status Quo bevorzugt wird. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass Präsident Chirac den Verfassungsentwurf auf internationaler bzw. europäischer Ebene nicht alleine verfasst hat. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Vertrag Bestandteil seiner Präferenzmenge ist, da er ihm auf europäischer Ebene zugestimmt hat und somit den Weg in die nationale Politik geöffnet hat. Er bleibt auf nationaler Ebene der Vetospieler, der entscheidet, ob der Vertrag dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird oder nicht. Zwar reagierte Chirac mit der Ankündigung des Referendums auf die Forderungen seiner eigenen Partei, bzw. auf die Entscheidung des britischen Premiers Tony Blair, in Großbritannien ein Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag abzuhalten sowie auf die Tradition der französischen Verfassung (Economist, 2004), jedoch blieb die Entscheidung für das Referendum eine freiwillige Entscheidung seinerseits. 3 Mögliche Gründe für die Niederlage der Regierung bei einem Vetospielerreferendum 3.1 Das Referendum als Second Order Election Traditionellerweise wird davon ausgegangen, dass es sich bei Referenden um ein issue-vote handelt, dass also das Thema der europäischen Integration tatsächlich das eigentliche Abstimmungsthema war (z.B. Svensson 2002 für Dänemark, Denver 2002 für Wales und Schottland). Die Erklärung für die überraschende Niederlage läge dann in einer falschen Einschätzung der Präferenzen der Bevölkerung hinsichtlich des Verfassungsvertrages durch Jacques Chirac. Neben dieser klassischen Sichtweise rückt zunehmend die These in den Vordergrund, dass es sich bei Referenden grundsätzlich um eine Art Popularitätstest für die amtierende Regierung handelt, unabhängig davon, welches Thema eigentlich zur Abstimmung steht (Franklin et al., 1995, 101; Fran-
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klin et al., 1994; Franklin, 2002, 752-3). Damit handelt es sich nach Ansicht dieser Autoren um eine second order election, wie von Reif und Hermann (1980) für die Wahlen zum Europäischen Parlament argumentiert. In dieser Sichtweise stellt das Abstimmungsergebnis eines Referendums die direkte Funktion des Beliebtheitsgrades der Regierung dar. Eine auffällige Schwäche der second order Hypothese von Franklin ist jedoch, dass sie die Rationale des Wählers für sein Verhalten nicht erklärt. Im issue voting Ansatz entscheidet sich der Wähler grundsätzlich nach seinem durch die verschiedenen Entscheidungsalternativen erzeugten Nutzen, während er beim second order Ansatz lediglich seinen Willen oder Unwillen über das generelle Verhalten der Regierung ausdrückt (Garry/Marsh/Sinnott 2005: 205). Die einzige Erklärungsmöglichkeit für sein Verhalten innerhalb des Rationalwahlansatzes ist, dass es sich um einen expressive voter handelt (Mueller, 2003, 320) und er seinen Nutzen bereits durch den Wahlakt an sich maximiert. Als Alternative zu dieser Erklärung verbleibt nur eine ernsthafte kognitive Dissonanz. Was passiert nun bei einer second order Wahl theoretisch? Es findet ein Wechsel zu einer neuen politischen Dimension statt. Dabei können Themen miteinander verbunden werden bzw. von konkurrierenden Fragen überlagert werden. Dies geschieht auf Seiten der Wähler, aber auch auf Seiten der Politiker (auch des jeweiligen Agendasetzers), die neue Themen in den Wahlkampf einbringen, bzw. sie zu der eigentlichen Abstimmungsfrage in Verbindung bringen. Gemeint ist hiermit jedoch nicht die Mehrdimensionalität der Abstimmungsfrage selber, die von Tsebelis durchaus berücksichtigt wird (siehe Hug und Tsebelis, 2002, 470f.), sondern das Auftreten neuer Dimensionen, die durch die Abstimmungsfrage selber nicht berührt werden. Analoges gilt für die Cross-pressure-Situation. Hierbei handelt es sich um eine Situation, in der eine mehrdimensionale Fragestellung im Wähler unterschiedliche, entgegengesetzte Tendenzen hervorruft. Die Ursache liegt hierbei in der Zugehörigkeit des Wählers zu mehreren, teilweise auch entgegengesetzten sozialen Kräftefeldern (Berelson et al., 1986; Lazarsfeld et al., 1969, 88-101). Auch hier sind die verschiedenen Dimensionen (Tendenzen) bereits in der Fragestellung enthalten. Die oben genannte neue, von der Abstimmungsfrage unabhängige, Dimension ist hier a priori nicht impliziert. Das Modell in Abbildung 1 illustriert, welche Effekte eine zweite - innenpolitische - Dimension für das Abstimmungsergebnis haben kann. Das Modell bildet auf der vertikalen Dimension Integration-Souveränität die Position des Status Quo (sqIS ), des Medianwählers (mIS )und des Ver125
Integration
x
v
mIS
m2 Rechts
Links sqLR
sq2
mLR
ruc
sqIS
Souveränität
Abbildung 1: Referendumsentscheidung des Medianwählers in ein und zwei Dimensionen.
fassungsvertrags (v) ab. Steht nur diese Dimension zur Entscheidung, werden die Wähler den Verfassungsvertrag annehmen, da die Distanz zwischen dem Status Quo und dem Median größer ist als die zwischen Status Quo und dem Verfassungsvertrag. Spielt lediglich das issue voting eine Rolle, wäre eine Niederlage nur über instabile Präferenzen zu erklären. Auf der horizontalen Dimension ist die Einstellung des Medianwählers (mLR ) zu den Reformen der Regierung Raffarin und Chirac (ruc) abgebildet sowie die Position des Status Quo auf der Links-Rechts-Achse (sqLR ). Hier sind die Bürger offensichtlich mit den Reformen der Regierung unzufrieden und lehnen diese ab: die Distanz zwischen Medianwähler und Status Quo ist kleiner als die zwischen Medianwähler und der „neoliberalen“ Reformpolitik. Das Argument der second order election unterstellt, dass obwohl im Referendum nach den Präferenzen auf der IntegrationsSouveränitäts-Achse gefragt wird, die Bürger auf der Links-Rechts-Achse ihre Präferenz ausdrücken. Nahe liegend ist jedoch, dass die Bürger weder alleine über das zur Abstimmung gestellte Thema als issue vote entscheiden, noch dass sie alleine
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über die Popularität der Regierungspolitik auf der Links-Rechts-Achse abstimmen als second order election, sondern dass sie beide Dimensionen in ihrer Abstimmung vermischen. Spielen bei der Abstimmung beide Dimensionen eine gleich gewichtige Rolle, ist der Idealpunkt des „Medianwählers“ m2 , der Status Quo sq2 und seine Präferenzmenge kreisförmig. In diesem Beispiel würden die Bürger die zur Abstimmung stehende Alternative x ablehnen, da x nicht Bestandteil der Präferenzmenge ist. 3.2 Auswirkungen der zweiten Dimension auf das Abstimmungsverhalten der Bürger Es ist wahrscheinlich, dass die beiden Dimensionen von den Bürgern unterschiedlich gewichtet werden und die Präferenzmengen somit elliptisch und nicht kreisförmig sind (vgl. Laver und Hunt, 1992; Krehbiel, 1998). Welche Variablen das Gewicht der zweiten Dimension bei der Abstimmung beeinflussen, ist noch wenig untersucht. Hug und Sciarini (2000, 29) argumentieren, dass die Freiwilligkeit eines Referendums und die Bindewirkung des Ergebnisses die Kostenstruktur der Wähler beeinflussen. Ist das Referendum freiwillig und das Ergebnis nicht bindend, ist die Neigung zur Bestrafung einer unpopulären Regierung am größten, ist das Referendum obligatorisch und das Ergebnis bindend, ist die Neigung zur Bestrafung am geringsten. Im Fall des Referendums nach Artikel 11 ist das Referendum freiwillig, aber das Ergebnis bindend. Eine Bestrafung ist deshalb kostspielig, da die Regierung an das vom Wähler eigentlich nicht gewünschte Ergebnis gebunden ist. H 1a Auf Grund der Freiwilligkeit des Referendums ist zu erwarten, dass eine zweite Dimension eine Rolle spielt. H 1b Auf Grund der Bindewirkung des Referendums ist zu erwarten, dass eine zweite Dimension nicht die ausschlaggebende Dimension für das Verhalten von rationalen Wählern ist. Empirisch sollte sich der Effekt der second order election an sinkenden Umfragewerten nach der Verkündung des Referendumstermins und nichtthemenbezogenen Gründen der Nein-Wähler für ihre Entscheidung zeigen. Die zweite Dimension gibt dem möglichen Abstimmungsergebnis deutlich mehr Volatilität. Rational Choice institutionalistische Ansätze gehen üblicherweise von vollständigen und transitiven Präferenzen von individuellen 127
Akteuren, also auch Wählern, aus (Hinich und Munger, 1997, 27; Green und Shapiro, 1994, 14-15; Krehbiel, 1998, 262; Shepsle und Bonchek, 1997, 25-6). Aber auch wenn ein Bürger feste und vollständige Präferenzen auf beiden Dimensionen hat, ist damit seine Präferenzmenge noch nicht vorgegeben; sie hängt auch von der Gewichtung der Dimensionen zueinander ab (Krehbiel 1988: 262ff, Laver/Hunt 1992:15ff). Sind beide Dimensionen gleich gewichtig, ist sie kreisförmig, ist eine Dimension wichtiger als die andere, ist sie elliptisch. Entscheidend ist also, wie der Wähler diese Dimensionen gewichtet. Der Wähler muss sich zwischen Alternativen entscheiden, die ihm bisher nicht vertraut sind und über deren zu erwartendes Ergebnis - und damit den Nutzen für ihn - er oftmals widersprüchliche Signale erhält (Leduc 2002: 711, 717). Es fehlen im Gegensatz zu Wahlen simplifizierende Signale wie Parteien und Kandidatennamen, die der Wähler einfach interpretieren kann und Konflikte über Referenden verlaufen oftmals quer durch die Parteien (Leduc 2002: 727). Damit können sich die Gewichtung der Dimensionen und die Positionen im Laufe der Zeit verändern, z.B. durch einen Informationszuwachs, der zur Meinungsänderung führt. Ebenso können äußere Ereignisse und Entwicklungen, sowie der Wahlkampf im Vorfeld der Abstimmung die Abstimmungsentscheidung wesentlich verändern. Wie volatil die Einstellungen der Wähler im Einzelnen sind, kann von mehreren Variablen abhängig sein: Den Signalen durch die Eliten,1 konkreten Regierungshandlungen, der wirtschaftlichen Situation und dem Verlauf der Kampagne (Leduc, 2002, 714). Hinsichtlich des Eliteneinflusses zeigt sich sowohl für Australien, als auch eingeschränkt für die Schweiz, dass klare Signale der politischen Eliten einen deutlichen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Bürger haben (Higley/McAllister 2002: 859, Trechsel/Sciarini 2002: 111). Je einheitlicher sich die politische Elite äußert, desto eher wird die Wählerschaft der Empfehlung folgen. Mit intensiveren Parteibindungen durch Cleavages und klare Milieus und konkreten Wahlempfehlungen von Parteien orientieren sich die Wähler stärker an der Position ihrer Partei zur Referendumsfrage (Sinnott 2002, Aimer/Miller 2002, Freire/Baum 2003, Christin/Hug/Sciarni 2002). Verfügen die Wähler über keine Informationen oder klaren Signale von Seiten der Elite und verläuft der Streit über die Referendumsfrage quer zu den Parteilinien, scheinen die Wähler eher geneigt, dem Status Quo zuzustimmen, wie beispielsweise das Referendum über die Einführung einer 1
Zum politischen Einfluss von Eliten vgl. Zaller (1992)
128
Republik in Australien (Higley und McAllister, 2002, 859) oder das Verhalten der Schweizer Wähler zeigt (Christin/Hug/Sciarni 2002: 763-4, 770). Medienkampagnen haben ebenfalls vor allem dann Auswirkungen, wenn die Wählerschaft keine festen Positionen hat (Bowler/Donovan 2002: 788). H 2a Die Einführung einer zweiten Abstimmungsdimension führt zu einer erhöhten Volatilität der Positionen der Bürger, weil die Gewichtung der verschiedenen Dimensionen von den Signalen der Eliten und externen Ereignissen abhängig ist. Empirisch sollte sich die Volatilität an zwei Aspekten festmachen lassen: Erstens sollte die Zustimmung zum Referendum einer Schwankung unterliegen und zweitens sollte der Anteil der unentschlossenen Wähler bis zum Schluss hoch sein. Die von Franklin behauptete second order Hypothese erklärt nicht, warum die zweite Dimension plötzlich eine Rolle spielt. Unser Argument ist, dass Gegner des Referendums versucht sind, die Abstimmung über das Referendumsthema gezielt mit einer zweiten Dimension zu verbinden, die die europapolitische Mehrheit spaltet, um so das Referendumsergebnis zu verfälschen. Greifen wir wieder auf Abbildung 1 zurück: Betrachtet man die beiden Dimensionen nicht getrennt, sondern verbindet man sie in einem zweidimensionalen Modell, zeigt sich schnell das Ergebnis: Der Punkt x, der die Position des Verfassungsvertrages implizit mit der Reformpolitik verbindet, liegt nicht im Winset des zweidimensionalen Quasi-Medianwählers (m2 ) zum zweidimensionalen Status Quo (sq2 ). Obwohl die Bürger für die neue Verfassung sind, lehnen sie sie bei einer Verknüpfung mit der unbeliebten Innenpolitik von Raffarin und Chirac ab und es kommt zur Niederlage der Regierung. Diese Strategie wirkt letzten Endes wie ein killer amendment: der Gesetzesvorschlag (hier das Verfassungsreferendum) wird gekippt und der Status Quo beibehalten. H 2b Die Gegner des Referendums haben aktiv versucht, eine zweite innenpolitische Dimension in die Diskussion einzubeziehen weil sie so die europafreundliche Mehrheit aufspalten und den Status Quo beibehalten konnten. Empirisch sollte sich diese Hypothese an der Argumentationsstrategie der Verfassungsgegner festmachen lassen. Verfolgen diese eine Strategie der Aufspaltung der Mehrheit, sollten in ihrer Argumentation viele wirtschaftsund innenpolitische und weniger europapolitische Bezüge auftauchen. 129
3.3 Auswirkungen einer zweiten Ebene auf den Agendasetzungsvorteil des Vetospielers Unser Argument ist, dass der Vorteil des Agendasetzers bei direktdemokratischen Verfahren wesentlich geringer ist, als bei parlamentarischen Abstimmungen. Der Grund hierfür liegt in der „zweiten Ebene“, die das Entscheidungsverhalten der Wähler beeinflusst. Aufgrund dieser zweiten Dimension wird eine vorherige Schätzung des Winsets für die Abstimmungsfrage des „Medianwählers“ durch den Agendasetzer deutlich erschwert. Der Winset in direktdemokratischen Verfahren bestimmt sich aus den Positionen, die die Wähler in dem Abstimmungsverfahren einnehmen, nicht aus den Präferenzen, die sie hinsichtlich der Abstimmungsfrage innehaben. Diese Positionen bestehen aus den Präferenzen zur Abstimmungsfrage und den Präferenzen auf den anderen Dimensionen, die bei der Abstimmung für den einzelnen Wähler eine Rolle spielen. Dabei ist unklar - und im Laufe des Wahlkampfes wandelbar - welche Dimensionen für jeden einzelnen Wähler eine Rolle spielen und wie er die einzelnen Dimensionen zueinander gewichtet. Somit lassen sich im Ergebnis weder Form noch Größe des Winsets des angenommenen Medianwählers vom Agendasetzer antizipieren, worauf jedoch sein Agendasetzungsvorteil wesentlich basiert. 4 Das französische Referendum zur EU Verfassung am 29. Juli 2005 4.1 Das Referendum zur europäischen Verfassung als eine Second Order Entscheidung Hypothese 1 nahm an, dass die Beliebtheit der Regierung Raffarin und Chirac als second order Motiv für die Wahlentscheidung bei dem freiwillig angesetzten Referendum eine Rolle spielt. Dabei wird die Niederlage über die Unbeliebtheit der Regierung erklärt.2 Die Kostenstruktur der Wähler wird von der Bindewirkung des Referendums beeinflusst. 2
Die Überprüfung der aufgestellten Hypothesen findet mittels Aggregatdaten statt, da Individualdaten noch nicht verfügbar sind. Damit wird von aggregierten Individualdaten auf individuelles Verhalten geschlossen, was die Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses birgt (Robinson, 1990; Pickel, 2003, 206f.), ein Zusammenhang als bestätigt angesehen wird, obwohl dieser tatsächlich nicht existiert. King et al (1994: 30) sehen das Problem jedoch als nachrangig an, wenn die Beobachtungen von anderen Ebenen einen Informationsmehrwert liefern und langfristig über andere Quellen abgesichert werden.
130
Für Perrineau stellt das Referendum mit knapp 55% „Nein“-Simmen eine bisher noch nicht dagewesene Sanktion der Wähler dar, welche wesentlich national motiviert sei.(Perrineau 2005: 233f) Das Ergebnis des Referendums vom 29. Mai 2005 setzt sich für ihn aus der Antwort auf die gestellte Frage, die den europapolitischen Cleavage zum Ausdruck bringt, und die Antwort auf den politischen Kontext auf nationaler Ebene, der den Rechts-LinksCleavage zum Ausdruck bringt, zusammen (Perrineau 2005: 240). Auch Dehousse vermutet in seiner Analyse des Referendums eine second order election, die als nationale Sanktion für die politischen Eliten zu verstehen sei (Dehousse 2006: 152-154). Hier soll zunächst untersucht werden, wie das Vertrauen in die Regierung Chirac während der Referendumsphase war, welche Themen im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben, bzw. welche Themen auf Seiten der Politiker mit der Abstimmung verbunden wurden. Danach sollen die Entscheidungsgründe der Bevölkerung betrachtet werden. Popularität von Jean-Pierre Raffarin und Jacques Chirac Die Zustimmung zur Regierung war während der Kampagnephase und der Abstimmung äußerst niedrig. Während der Kampagne antworteten maximal 30% der Befragten, dass sie Vertrauen in den Premier Raffarin hätten und niemals weniger als 67%, dass sie kein Vertrauen hätten. Zum Zeitpunkt der Abstimmung hatten 75% der Befragten kein Vertrauen in die Arbeit des Premiers. Nicht viel besser war die Situation für Staatspräsident Jacques Chirac. Während der Kampagnephase konnte er zu keinem Zeitpunkt die Mehrheit der Franzosen von sich überzeugen. Sein Bestwert lag bei einer Zustimmung von 41%. Zum Zeitpunkt der Abstimmung waren seine Popularitätswerte fast so schlecht wie die des Premiers. Die Zustimmung betrug nur 24%, 74% der Befragten hatten kein Vertrauen in ihn. Neben der persönlichen Zustimmung war auch das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Regierung stark eingeschränkt. Im April 2005 waren je 90% der Wähler nicht mit der Leistung der Regierung bei der Bekämpfung der hohen Preise und der Arbeitslosigkeit zufrieden (Le Figaro 7. Mai 2005). Die Unpopularität der Regierung ist also prinzipiell in der Lage, die Niederlage beim Referendum zu erklären. Die Hypothese der second order election erscheint also plausibel.
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80%
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Anteil der Befragten
Vertrauen
50% Kein Vertrauen
40%
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Abbildung 2: Zustimmungswerte Raffarin Juli 2004 bis Juni 2005, Quelle: TNS Sofres
Zentrale Akteure Nicht allen Gruppierungen gelang es im Wahlkampf eine einheitliche Linie zu vertreten. So hatten vor allem die Referendumsbefürworter Probleme, eine innere Geschlossenheit zu erlangen (Maurer 2006:37ff). In jeweils internen Parteiabstimmungen sprachen sich die Mitglieder des PS und der Grünen (Verts) mit einer knappen Mehrheit für die Verfassung aus, jedoch stimmten die Anhänger dieser Parteien am 29. Mai entgegen der offiziellen Parteilinie mit 56% (PS) bzw. 60% (Verts) gegen den Vertragsentwurf (Maurer, 2006, 25). Diese Entwicklung deutete sich bereits im Wahlkampf an, in dem sich z.B. der ehemalige Premier- und Finanzminister des PS, Laurent Fabius, auf die Seite der Verfassungsgegner stellte und somit zum Gegenspieler des Parteivorsitzenden François Hollande wurde. Der ehemalige sozialistische Minister Jean-Luc Mélenchon organisierte sogar eine gemeinsame Wahlkampfveranstaltung mit den Kommunisten (Maurer, 2006, 37f).
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Abbildung 3: Zustimmungswerte Chirac Juli 2004 bis Juni 2005, Quelle: TNS sofre
In der Regierungspartei UMP befürworteten die Liberalen, wie Alain Juppé, Nicolas Sarkozy, Edouard Balladur und Alain Madelin, den Vertrag und vertraten damit die Mehrheit der Partei (in einem internen Referendum sprachen sich 90,8% der Mitglieder für eine Annahme des Verfassungsvertrags aus), im Gegensatz zu den „souveränistischen“ Vertretern, die durch den Vertrag die politische Entscheidungsfreiheit Frankreichs bedroht sahen (Maurer, 2006, 38). Auf Seiten der Verfassungsgegner standen als verhältnismäßig geschlossen auftretende Akteure neben den Parteien der extremen Linken (Parti Communiste) und Rechten (Front National) auch zivilgesellschaftliche Akteure, wie Attac, Interessengruppen, wie die Confédération Paysanne um José Bové, und die großen Gewerkschaften (Maurer, 2006, 30ff). Themen im Wahlkampf Die Frage des Referendums lautete: „Approuvez-vous le projet de loi qui autorise la ratification du traité établissant une Constitution pour l’Europe?“: 133
Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Vertrages über die Schaffung einer Verfassung für Europa zu? (Kleger 2005:123). Betrachtet man jedoch Analysen des Abstimmungsverhaltens, so wird deutlich, dass sowohl von Seiten der Politiker, als auch von Seiten der Bürger nicht nur über diese Frage abgestimmt wurde. Wie bereits erwähnt, versuchte Chirac das Referendum innenpolitisch zu instrumentalisieren: Er versprach sich hiervon eine Möglichkeit, die linke Opposition zu spalten sowie eine Aufbesserung seines Images und eine „...Profilierung als Staatsmann und europäischer Leader“ (Kleger, 2005, 129; Dehousse, 2006, 152). Auf Seiten der Opposition wurde die Spaltung innerhalb des PS wesentlich dadurch bedingt, dass Laurent Fabius, der frühere sozialistische Premierminister und zweite Vorsitzende des PS, in ihr eine Möglichkeit sah, sich als Gegner der europäischen Verfassung gegenüber dem Parteivorsitzenden Hollande zu profilieren. Somit wurde auch die Frage einer Kandidatur für das Präsidentenamt bei den Wahlen 2007 Bestandteil des Referendums (Kleger, 2005, 128-131; Economist, 2005d). Weitere Themen des Wahlkampfes waren die Frage nach dem Platz, den Frankreich zukünftig in der Welt einnehmen sollte, und nach der Ausrichtung der Europäischen Union. Hierzu gehörten z.B. die bereits vollzogene Osterweiterung und die noch ausstehende Aufnahme der Türkei in die EU, wobei Chirac den Einfluss dieser Frage zu verhindern versuchte, indem er ein gesondertes Referendum hierzu ankündigte (Economist, 2005c). Innenpolitisch spielten aber auch die Probleme der französischen Wirtschaft und der Arbeitslosigkeit, sowie die ablehnende Haltung gegenüber der französischen und europäischen politischen Elite eine Rolle (Economist, 2005d). Entscheidung der Wähler Welche Rolle diese Themen bei der Entscheidung der Wähler gespielt haben ergibt sich wiederum aus Meinungsumfragen des Eurobarometers und des Instituts Ipsos. Beide Institute fragten nach den Gründen, aus denen sich die Wähler für „ja“ bzw. „nein“ entschieden3 . Der Umfrage des Eurobarometers zufolge waren die beiden Hauptgründe aus denen die Wähler für die europäische Verfassung gestimmt haben mit der Notwendigkeit verbunden, die europäische Einigung weiterzuverfolgen. 3
Die teilweise unterschiedlichen - und bei Ipsos höheren - Werte sind darauf zurückzuführen, dass Ipsos mehrere Antwortmöglichkeiten vorgegeben hatte, wohingegen Flash Eurobarometer die Frage als offene Frage formuliert hatte. Mehrfachnennungen waren in beiden Fällen möglich.
134
Auf die Frage „Welche sind all die Gründe aus denen Sie bei dem Referendum mit „Ja“ gestimmt haben?“ antworteten 39% der Befragten, dass dies für einen weiteren Aufbau Europas notwendig sei und 16%, dass sie schon immer für diesen europäischen Aufbau gewesen seien. Weitere 12% der Befragten geben an, dass die Verfassung die Rolle Frankreichs in der EU und in der Welt stärken werde, und jeweils 11% stimmten für die Verfassung um die Rolle Frankreichs gegenüber den USA zu stärken bzw. für „zukünftige Generationen“ (Eurobarometer, 2005, 15). Die Umfrage des Ipsos Instituts kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Hier sind 64% der Befragten der Meinung, dass die Verfassung das Gewicht Europas gegenüber den USA und China stärken werde. 44% der Befragten halten die Verfassung für notwendig um das Funktionieren eines „Europa der 25“ zu sichern und 43% sind der Meinung, dass ein „Nein“ die Bedeutung Frankreichs in Europa schwächen würde (Ipsos, 02.06.2005). Die Gründe für die „Nein“-Stimmen sind zahlreicher und hauptsächlich mit nationalen und/ oder sozialen Themen verbunden. Dabei geraten letztere in den Vordergrund. So schreibt Perrineau, sei die Mehrheit der „Nein“Stimmen ,nationale Stimmen’ gewesen (Perrineau, 2005, 241). 31% der Befragten lehnen den Verfassungsvertrag ab, da sie der Meinung sind, dass dieser negative Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation in Frankreich haben werde und zur Umsiedlung von Unternehmen führen werde. 26% empfinden die wirtschaftliche Situation in Frankreich als derzeit zu schwach, und 19% finden die Verfassung in wirtschaftlicher Hinsicht zu liberal. 18% der Befragten geben als Grund für ihre Ablehnung des Vertrags den Wunsch an, dem Präsidenten oder politischen Parteien zu widersprechen. 16% fehlt das „soziale Europa“ im Vertrag und 12% finden den Text zu kompliziert. Noch 6% geben an, mit „Nein“ gestimmt zu haben, da sie gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sind. (Eurobarometer 2005: 17). Auch in der Ipsos-Umfrage sind die beiden am häufigsten genannten Gründe, warum die Wähler mit „Nein“ gestimmt haben, auf die wirtschaftliche Situation bezogen: 52% der Befragten sind unzufrieden mit der aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Situation in Frankreich und 40% finden die Verfassung wirtschaftlich zu liberal. Die Opposition gegen einen EUBeitritt der Türkei scheint nach dieser Umfrage eine größere Rolle gespielt zu haben: 35% geben sie als Grund für ein „Nein“ an (Ipsos 02/06/2005). Laut der Studie von Eurobarometer (Frage nach dem Hauptgrund für die Entscheidung) war für die Befürworter der Verfassung die europapolitische Dimension ausschlaggebend (52%), während die Gegner sich vor allem 135
von der ökonomischen und sozialen Situation in Frankreich beeinflusst sahen (47%). Die Meinung über den eigentlichen Text der Verfassung war nur für 20% der „Nein“-Wähler und 16% der „Ja“-Wähler entscheidend. (Eurobarometer 2005: 19) Wie stark der Einfluss der genannten Gründe für die Wahlentscheidung des Einzelnen war, ist wiederum von seiner politischen Ausrichtung abhängig. So stellen Brouard und Tiberj in ihrer Analyse fest, dass eine antieuropäische Einstellung in allen Bereichen der Wählerschaft eine Rolle gespielt hat, ihr Einfluss unter den ’Rechts-Wählern’ jedoch geringer war. Die Popularität der Regierung wiederum spielte bei den ’Links-Wählern’ eine geringere, bei dem Rest der Wähler eine große Rolle. Bei den ’LinksWählern’ wirkten sich am stärksten soziale Beweggründe auf das Abstimmungsverhalten aus; bei ’Weder-Rechts-noch-Links-Wählern’ führten soziale und nationale Beweggründe, gefolgt von einer Unzufriedenheit mit der Regierung, zum negativen Abstimmungsverhalten (Brouard und Tiberj, 2006, 264ff). Möglichkeit einer erneuten Aushandlung der Verfassung Obwohl die Freiwilligkeit des Referendums und die schlechten Umfragewerte für eine second order Bestrafung der Regierung sprechen und insbesondere auch die von den Bürgern angegebenen Gründe für die NeinStimmen, hätte die Bindewirkung des Referendums und die verbundenen politischen Konsequenzen für den Verfassungsprozess doch eher für eine begrenzte Ablehnung gesprochen. Diese Auswirkungen scheinen aber nicht allen Befragten so klar gewesen zu sein. In der Ipsos-Umfrage geben 39% der Befragten an (der dritthäufigste Grund), dass sie die Verfassung abgelehnt hätten, da dies eine erneute Verhandlung derselben ermöglichen werde. (Ipsos 02/06/2005). Diese Tendenz wird auch durch die Erhebung durch Eurobarometer bestätigt. Dieser zufolge glauben 62% der Befragten, dass die Ablehnung der Verfassung eine erneute Aushandlung derselben ermöglichen werde, um einen „sozialeren“ Text zu erreichen. Dieser Meinung sind 83% derer, die mit „Nein“ gestimmt haben, jedoch nur 30% derer, die mit „Ja“ gestimmt haben. Dafür, dass viele der Befragten an eine mögliche Neuverhandlung des Verfassungstextes glaubten, spricht ebenfalls, dass 75% von ihnen (90% der „Ja“-Wähler und 60% der „Nein“-Wähler) die Europäische Verfassung für einen weiteren Einigungsprozess für unerlässlich halten.
136
Es wird deutlich, dass neben der eigentlichen Frage des Referendums, ob die Franzosen die Annahme des vom Verfassungskonvent vorgelegten Entwurfes für eine europäische Verfassung befürworten, noch andere Fragen bei der Abstimmung eine Rolle gespielt haben. Sowohl auf Seiten der Politiker als auch auf Seiten der Wähler fand eine Vermischung der gestellten Frage mit anderen Themen statt. Dabei bewegten sich die Befürworter der Verfassung eher auf der europapolitischen Ebene, wohingegen für ihre Gegner innenpolitische Aspekte ausschlaggebend waren. Die eigentliche Frage aber, ob der Verfassungsvertrag den bestehenden Vertragstexten der Europäischen Union vorzuziehen sei, wurde nur von wenigen Wählern als solche „erkannt“ und entschieden. Hier kommt hinzu, dass nach Auffassung eines großen Teils der Wähler (insbesondere derer, die mit „Nein“ gestimmt haben) offenbar noch eine dritte Wahlmöglichkeit bestand: eine neu verhandelte und potentiell verbesserte Verfassung. 4.2 Stabilität der Wählerpositionen auf beiden Dimensionen4 Hypothese 2a ging davon aus, dass die „zweite Ebene“ durch äußere Einflüsse, wie z.B. durch ihr aktives Einbringen durch Eliten die Positionen der Wähler beeinflusst. Hier soll nachgezeichnet werden, wann und wie die „zweite Ebene“ an Bedeutung gewinnt (bzw. wieder verliert) und den „Willen“ des Wählers beeinflusst. Es zeigt sich, dass die Positionen der Bevölkerung im Vorfeld des Referendums verhältnismäßig wenig stabil und nicht vollständig waren. Indizien hierfür bieten das wechselnde Meinungsbild im Zeitverlauf, das teilweise direkte Reaktionen auf äußere Einflüsse widerspiegelt, die hohe Zahl der unentschlossenen Wähler sowie die hohe Zahl der Wähler die angab, ihre Meinung noch wechseln zu können. Im Dezember 2004 ergeben Meinungsumfragen, dass 69% der Bevölkerung für die Annahme der europäischen Verfassung stimmen wollen. Im Februar 2005 befürworten noch 63% den Vertrag. Im März jedoch sinkt die Zustimmung laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos von 4
Die Überprüfung der aufgestellten Hypothesen findet mittels Aggregatdaten statt, da Individualdaten noch nicht verfügbar sind. Damit wird von aggregierten Individualdaten auf individuelles Verhalten geschlossen, was die Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses birgt (Robinson 1990, Pickel 2003: 206f), ein Zusammenhang als bestätigt angesehen wird, obwohl dieser tatsächlich nicht existiert. King et al. (1994, 30) sehen das Problem jedoch als nachrangig an, wenn die Beobachtungen von anderen Ebenen einen Informationsmehrwert liefern und langfristig über andere Quellen abgesichert werden.
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60% der Befragten zu Beginn des Monats auf 48% (Economist, 2005a). Eine Umfrage des Instituts TNS-Sofres ergibt eine Zustimmung von 56% der befragten Franzosen am 9./10. März gegenüber 47% am 1./2. April. Dabei machen 37% (9./10. März) bzw. 33% (1./2. April) keine Angaben über ihre Abstimmungsabsichten. (TNS-Sofres Vague 7) Jedoch tendieren 2/3 der noch Unentschlossenen laut einer Ifop-Umfrage eher zu einer Annahme der Verfassung (Economist, 2005b). Aus der graphischen Darstellung der Ergebnisse der Meinungsumfragen (Abbildung 4) wird deutlich, dass der 4. März, also der Tag, an dem Chirac den endgültigen Termin der Abstimmung bekannt gibt, einen Bruch in der Entwicklung der Umfragewerte darstellt. Die bis dahin relativ stabile, leicht positive Entwicklung der Ja-Stimmen kippt und sinkt bis zum 18. März von 60% auf 48% und erreicht am 25. März mit 46% ihren vorläufigen Tiefpunkt. Insgesamt wechseln die Mehrheitsverhältnisse nach dem 4. März 2005 drei Mal (Ipsos, 23.03.2005). Diese plötzliche Veränderung in der Entwicklung der Umfragewerte deutet daraufhin, dass mit der Bekanntgabe des Abstimmungstermins weitere Politikdimensionen in die Entscheidung der Wähler mit einfließen; sie also mit der konkreten Möglichkeit an einer Abstimmung teilzunehmen nicht mehr allein ihre Meinung zum EU-Verfassungsvertrag zum Ausdruck bringen, sondern auch andere Themen berücksichtigen, die das Abstimmungsverhalten beeinflussen können. Für diese wechselnden Mehrheiten waren nach einer Analyse von Hainsworth einige äußere Ereignisse verantwortlich, so z.B. die steigenden Arbeitslosenzahlen in Frankreich und die Direktive Bolkestein der Europäischen Kommission, die als eine weitere Bedrohung der Situation auf dem Arbeitsmarkt sowie des französischen Sozialmodells gesehen wurde (Hainsworth, 2006, 103f). In diesem Zusammenhang wird EU Kommissionspräsident Barroso von einer Fernsehdebatte wieder ausgeladen. Chirac setzt sich der Kommission gegenüber erfolgreich gegen die Richtlinie ein (LeMonde, 19.03.2005). Ein Fernsehauftritt des ehemaligen sozialistischen Premierministers Jospin kann den Negativtrend in den Umfragen umkehren. Er spricht sich als „glaubwürdiger, überlegter und ernsthafter Politiker für den Konventsentwurf“ aus (Kleger 2005: 134). Anfang Mai verstärken sich wieder die Nein-Stimmen als Reaktion auf die Abschaffung des Pfingstmontags als Feiertag; eine Maßnahme, die zur Finanzierung der Sozialsysteme in Frankreich beitragen soll. Die ablehnende Haltung gegenüber der euro-
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70%
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4 März 2005: Bekanntgabe des Referendumstermins durch Jacques Chirac
10 .0 9. 20 04 24 .0 9. 20 04 08 .1 0. 20 0 22 4 .1 0. 20 0 05 4 .1 1. 20 0 19 4 .1 1. 20 04 03 .1 2. 20 04 17 .1 2. 20 04 31 .1 2. 20 04 14 .0 1. 20 05 28 .0 1. 20 05 11 .0 2. 20 05 25 .0 2. 20 05 11 .0 3. 20 05 25 .0 3. 20 05 08 .0 4. 20 05 22 .0 4. 20 05 06 .0 5. 20 05 20 .0 5. 20 05
0%
Abbildung 4: Entwicklung der Umfragewerte (Daten aus Ipsos 2005)
päischen Verfassung verfestigt sich und wird zur Grundstimmung (Kleger 2005: 134)5 . Wie bereits erwähnt ist die Zahl der noch unentschlossenen Wähler in den Umfragen sehr hoch und trägt somit zur potentiellen Unsicherheit der Abstimmungsprognosen bei. Am 9./10. März machen laut einer SofresUmfrage 37% der Befragten keine Angaben zu ihrem Stimmverhalten. Diese Zahl sinkt im Laufe der Zeit bis zum Referendum, beträgt jedoch am 23./24. Mai noch 20% (TNS-Sofres, 2005). Diesen Zahlen entsprechen auch die Ergebnisse einer Studie im Auftrag der Europäischen Kommission, durchgeführt von Flash Eurobarometer in Zusammenarbeit mit TNS-Sofres. Dieser Studie zufolge entschieden sich 20% der Wähler in den letzten Wochen vor dem Referendum, 14% innerhalb der letzten Woche und 7% am Tag des Referendums selber. Insgesamt 5
Eine detaillierte Darstellung des Verlaufs der Ergebnisse der Meinungsumfragen und der Ereignisse während des Wahlkampfes sowie der Intervention verschiedener Politiker zu Gunsten oder zu Lasten des Verfassungsvertrages findet sich in einer Analyse des CSA Instituts (CSA, 2005, 42).
139
7%
1%
29%
14%
Am Tag der Ankündigung des Referendums Ziemlich früh während der Kampagne In den letzten Wochen der Kampagne In der Woche vor dem Referendum Am Tag des Referendums Keine Angabe
20%
29%
Abbildung 5: Zeitpunkt der Wahlentscheidung Eurobarometer2005)
(Quelle:
Daten
aus
entschieden sich 70% der Wähler im Laufe der Kampagne, was darauf hindeutet, dass diese eine wesentliche Rolle für die Entscheidung spielte (Eurobarometer 2005: 11). Weiterhin ergibt sich aus den Umfragen des Sofres-Instituts, dass sich ein großer Teil der Wähler seiner Entscheidung nicht sicher war und angab, dass er seine Meinung noch einmal ändern könnte. Diese Zahl der möglichen Meinungswechsler steigt von 34% am 9./10. März auf 39% am 1./2. April und sinkt dann (ebenfalls mit Schwankungen) auf 17% am 23./24. Mai (TNS-Sofres Vague7). Man kann also zusammenfassen, dass die - aus Umfragen ersichtlichen Wählerpositionen starken Schwankungen unterlagen, insbesondere ab dem Zeitpunkt der Festlegung des definitiven Datums für das Referendum. Eine große Gruppe der Wähler entschied sich erst in den letzten Wochen der Kampagne, bzw. war sich der bereits gefällten Entscheidung, mit ja oder nein zu stimmen, nicht sicher. Die Kampagne scheint somit eine wichtige Rolle bei der Bildung der Wählerpräferenzen gespielt zu haben; teilweise lassen sich Schwankungen in den Umfrageergebnissen direkt in Verbindung zu öffentlichen Ereignissen und Auftritten von Personen setzen.
140
Einführung einer zweiten Dimension durch die Referendumsgegner Es lässt sich jedoch feststellen, dass insbesondere von Seiten der Verfassungsgegner versucht wurde soziale Belange während der Abstimmungskampagne in den Vordergrund zu stellen (Maurer, 2006, 30). Von den Sozialisten, die dem Verfassungsentwurf kritisch gegenüber standen, sowie von den Kommunisten, Gewerkschaften und Trotzkisten wurde vor allem der neoliberale Charakter des Vertragsentwurfs kritisiert und auf die innenpolitischen Aspekte des Arbeitsplatzverlustes und des Dumpings der sozialen Standards in Frankreich abgestellt. (Maurer 2006:30f) Zu den wesentlichen Argumenten der Attac-Kampagne für ein „Nein“ zum europäischen Verfassungsvertrag gehörten einerseits die Dramatisierung der Konsequenzen eines „Ja“ zum Vertrag, welches die neoliberale Politik irreversibel machen würde, sowie andererseits Anspielungen auf die negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Regierung und auf mögliche innenpolitische Konsequenzen des Abstimmungsergebnisses: so würde z.B. durch eine Ablehnung des Vertrags ein Regierungswechsel 2007 begünstigt. (Maurer 2006:34f). Obwohl Chirac sich ursprünglich von einem erfolgreichen Referendum eine Stärkung seiner innenpolitischen Position versprochen hatte (Kleger, 2005, 128f) standen bezüglich der Kampagne der Verfassungsbefürworter eher europapolitische Themen im Vordergrund: so argumentierten die Sozialisten damit, dass die Verfassung zur weiteren Demokratisierung, sowie Politisierung der EU und somit zu einem international stärkeren Gewicht dieser beitragen würde. Des Weiteren betonten sie die Übereinstimmung der formulierten sozialen Ziele mit denen des PS und betonten die Aufnahme der Grundrechtecharta als verbindliches Dokument in den Vertrag. Auf Seiten der Regierungspartei wurde der demokratische Charakter der Verfassung betont und die Chance eine größere Dynamik in die EU einzubringen um den Stillstand des Integrationsprozesses zu überwinden. Des Weiteren versprach man sich Vorteile von dem vorgesehenen Amt des EUAußenministers und eine Stärkung der wirtschaftlichen Dimension. Ein Beitritt der Türkei wurde eindeutig abgelehnt (Maurer 2006: 38f). Jedoch bezog sich die Debatte insgesamt weniger auf den Verfassungsvertrag, als auf die Europäische Integration an sich. So gelang es auch Chirac nicht, die Diskussion um den Vertragsentwurf von anderen europapolitischen Themen zu trennen. Ein Beispiel hierfür stellt die Rücknahme der Bolkestein-Richtlinie dar (Maurer, 2006, 42).
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5 Fazit und Ausblick Entgegen allen Erwartungen hat Präsident Chirac das von ihm freiwillig angesetzte Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag verloren: obwohl die Umfragen Mitte 2004 auf einen überwältigenden Sieg der Referendumsbefürworter hindeuteten. Obwohl die Franzosen den Verfassungsvertrag gegenüber dem Status Quo des alten Vertragssammelsuriums inhaltlich vorziehen (Hug und Schulz, 2005, 346-7). Und obwohl das als Vetospielerreferendum ausgestattete Gesetzesplebiszit nach Artikel 11 ihn mit vollständiger Agendakontrolle ausstattete. Damit gelang es ihm praktisch im Alleingang, das Projekt der Europäischen Verfassung mittel-, wenn nicht langfristig auf Eis zu legen. Es scheint also, dass auch ein auf den ersten Blick „unverlierbares“ Vetospielerreferendum mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen verbunden ist. Chirac konnte seinen Agendasetzervorteil nicht optimal nutzen, da eine zweite Dimension in Form der Innenpolitik (1) eine von der Regierung zumindest in ihren Ausmaßen ungeplante, erhebliche Rolle im Entscheidungsverhalten der Bevölkerung, vor allem bei den Gründen für die Nein-Stimmen, spielte. In der Perzeption der Franzosen war ihr innenpolitisch motiviertes Nein zum Verfassungsvertrag trotz Bindewirkung des Entscheids nur mit begrenzten Kosten verbunden, da die Nein-Wähler davon ausgingen, dass schlicht und einfach nachverhandelt werden würde. Diese zweite Dimension erscheint jedoch im Gegensatz zu den second order election Befürwortern nicht unerklärt auf der politischen Agenda, sondern wird (2) gezielt von den Gegnern des Verfassungsvertrages ins Spiel gebracht, weil sie bei gleichzeitig schlechten Umfragewerten der Regierung damit die Mehrheit der Verfassungsvertragsbefürworter aufspalten können. Die Umgehung der anderen Vetospieler mithilfe eines Vetospielerreferendums birgt also weit größere Risiken als erwartet und schränkt somit auch das Druckpotential eines solchen Verfahrens gegenüber den anderen Vetospielern im politischen System ein. Somit bleibt als Fazit festzuhalten, dass auch für die Regierung institutionell vorteilhaft ausgestaltete Referendumstypen in der Realität mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. 6 Literaturverzeichnis Aimer, P., und R. Misser, 2002: Partisanship and principle: Voters and the New Zealand electoral referendum of 1993. European Journal of Political Research 41:795–809. 142
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Der Einfluss der Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuss auf die deutsche Gesetzgebung1 Matthias Lehnert und Eric Linhart
1 Einleitung Der Einfluss der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf die deutsche Gesetzgebung ist in den letzten Jahren vielfach mit Hilfe räumlicher und spieltheoretischer Modelle untersucht worden (Burkhart und Manow, 2006; König und Bräuninger, 2005; Manow und Burkhart, 2004). Die Ergebnisse dieser Studien fallen unterschiedlich aus und bestätigen keineswegs durchgehend die populäre These vom Bundesrat als Blockadeinstrument der Opposition. Ungeachtet der widersprüchlichen Befunde, die diese Arbeiten präsentieren, ist ihnen gemeinsam, dass sie eine zentrale Institution des deutschen Gesetzgebungsprozesses weitgehend ignorieren: den Vermittlungsausschuss (VA). So stellen König et al. (2004, 2) fest, dass „compared to the insightful scholarly discussion on the merits of bicameralism and the effectiveness of bicameral institutions, few studies have yet analyzed the mechanism of conciliation committees to solve bicameral conflicts“. Dies ist vor allem deshalb interessant, weil dem VA landläufig eine besondere Position im deutschen Gesetzgebungsprozess eingeräumt wird. So bezeichnet etwa der langjährige Vorsitzende des VA, Friedrich Vogel, den Ausschuss als „das eigentliche verfügbare Instrument für die Mitwirkung der Bundesratsmehrheit an den machtpolitischen Auseinandersetzungen der Bundespolitik“ (Vogel, 1989, 217). Lehmbruch (2000, 164) präzisiert, dass „der Gang des Gesetzgebungsverfahrens [...] davon abhängen [könne], welche Seite die Mehrheit im Vermittlungsausschuss hat“. Die bisherigen räumlichen und spieltheoretischen Modellierungen des legislativen Entscheidungsprozesses in der Bundesrepublik Deutschland erfassen derartige Effekte jedoch nicht. 1
Wir bedanken uns bei Simone Burkhart, Thomas Bauer und der Verwaltung des Vermittlungsausschusses, die uns umfangreiche Datenbestände zur Verfügung gestellt haben. Für hilfreiche Diskussionen und Anregungen danken wir Franz Urban Pappi und dem anonymen Gutachter dieses Aufsatzes.
Es stellt sich also die Frage, wie sich die Existenz eines Vermittlungsausschusses auf die Gesetzgebung auswirkt und ob seine Berücksichtigung in legislativen Modellen deren Ergebnisse verändert. Wir möchten einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten und untersuchen, wie die Mehrheitsverhältnisse im Vermittlungsausschuss Gesetzgebungsprozesse und Gesetzesinhalte beeinflussen. Dazu rekonstruieren wir zunächst ein räumliches Standardmodell und zeigen, dass sich dessen Erweiterung um eine Vermittlungsinstanz weder auf das Gesetzgebungsverfahren noch auf dessen Ergebnis auswirkt. In einem zweiten Schritt verändern wir die Annahme des Standardmodells, dass alle Akteure nur ihren intrinsischen Policy-Nutzen maximieren. Im Anschluss an Überlegungen zu gemischten Motivationen (Bräuninger und Ganghof, 2005; Sened, 1996) gehen wir davon aus, dass die Nutzenfunktionen der beteiligten Akteure weitere Komponenten besitzen können (etwa instrumentelle Policy-Nutzenanteile). Diese Modifikation verändert das Verhalten der Akteure und die Ergebnisse des Modells: Die Mehrheitsverhältnisse im VA wirken sich nun sowohl auf den Gesetzgebungsprozess als auch auf sein Ergebnis aus. Aus unserem Modell leiten wir die Hypothese ab, dass bei gegenläufigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ein oppositionsdominierter VA seltener angerufen wird als ein von Regierungsvertretern dominierter VA. In einem dritten Schritt untersuchen wir diese Hypothese anhand von Daten zur deutschen Gesetzgebung zwischen 1972 und 1998. Die Ergebnisse bestätigen unsere Hypothese. Unser Beitrag kann nur ein erster Schritt zu einer umfassenderen Analyse des Vermittlungsausschusses und seiner Bedeutung im bikameralen System der Bundesrepublik sein. Im Schlussteil weisen wir daher auf mögliche Erweiterungen und Modifikationen hin. 2 Der Vermittlungsausschuss in der politikwissenschaftlichen Literatur Es existiert mittlerweile eine recht umfangreiche Literatur, die mithilfe des Rational-Choice-Instrumentariums das Problem der Gesetzgebungsblockade in der Bundesrepublik Deutschland analysiert. Während sich die Vorgehensweisen und auch die Ergebnisse im einzelnen unterscheiden, ist allen Beiträgen zu dieser Literatur gemeinsam, dass sie den Vermittlungsausschuss weitgehend ignorieren. So analysieren etwa König und Bräuninger (1997, 2000, siehe auch Bräuninger und König 1999) das deutsche Gesetzgebungsverfahren mithilfe von Instrumenten, die mit Blick auf die sogenannte gridlock-Problematik im US-amerikanischen System entwickelt wurden 150
(Krehbiel, 1998). König und Bräuninger geht es vor allem darum, die Gefahr einer Politikblockade und - damit zusammenhängend - die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung bei unterschiedlichen Mehrheitskonstellationen in Bundestag und Bundesrat theoretisch abzuschätzen. In keinem ihrer Modelle gehen sie dabei auf den VA ein. Das legislative Spiel findet also nur in Bundestag und Bundesrat statt, eine Vermittlungsinstanz kann nicht eingeschaltet werden. Ein ähnliches Bild bietet sich in der Analyse von Burkhart und Manow (2006), die sogenannte „Autolimitationseffekte“ zu erfassen suchen. Sie gehen davon aus, dass die Regierung ungünstige Mehrheitskonstellationen im Bundesrat bereits bei der Gesetzesinitiative antizipiert, was sich auf die Konflikthaftigkeit des Verfahrens auswirke. Auch in ihrem Modell wird die Existenz des Vermittlungsausschusses aber ignoriert. Burkhart und Manow begründen diese Vereinfachung damit, dass es ihnen nicht darum gehe, den „Prozess der wechselseitigen Positionsannäherungen zwischen Regierung, Opposition und den Ländern“ (Burkhart und Manow, 2006, 15) abzubilden. Der VA, so wird hier nahegelegt, wirke sich nur auf das Gesetzgebungsverfahren, nicht aber auf dessen Ergebnis aus. Man brauche ihn nur dann zur Kenntnis nehmen, wenn man an den Einzelheiten des Prozesses interessiert ist. Diese Nichtbeachtung des VA zeichnet die Rational-Choice-basierte Literatur zu Gesetzgebungsblockaden in Deutschland insgesamt aus (siehe dazu: Bräuninger und König, 1999; König, 2001; König et al., 2003; Manow und Burkhart, 2004). Die Autoren erwähnen den VA allenfalls am Rande, integrieren ihn aber nicht in ihre formalen Modelle. Diese weitgehende Vernachlässigung steht im Widerspruch zu den oben dargestellten allgemeinen Einschätzungen des Gremiums, ist jedoch im Rahmen der Modelle in der Tat unproblematisch, wie wir im nächsten Teilabschnitt zeigen werden. 3 Der Vermittlungsausschuss im räumlichen Standardmodell In unserem Modell konzentrieren wir uns auf die sogenannten Zustimmungsgesetze, bei denen der Bundesrat ein absolutes Vetorecht hat, und vernachlässigen die sogenannten Einspruchsgesetze. Ihnen liegt eine andere strategische Logik zugrunde, deren Analyse nicht im Rahmen dieses Beitrags erfolgen kann.
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Im Standardmodell existieren nur zwei unitarische Akteure, eine Regierung (R)2 und eine Opposition (O), die in drei Arenen - dem Bundestag, dem Bundesrat (BR) und dem Vermittlungsausschuss (VA) - über eine Veränderung des legislativen Status Quo befinden müssen. Während die Regierung im Bundestag stets über eine Mehrheit verfügt3 , variieren die Mehrheiten im Bundesrat und im VA. Der Status Quo (sq) und die Idealpunkte der beiden Akteure lassen sich in einem mehrdimensionalen Policy-Raum verorten (Abbildung 1)4 . Wir nehmen rationale Akteure mit schwachen Präferenzen an, d.h. ein Akteur stimmt jedem Gesetz zu, das ihn gegenüber dem sq infinitesimal besser stellt (Abbildung 1). Unter der Annahme eingipfliger und symmetrischer Nutzenfunktionen sind vor allem fünf Punkte des Politikraums relevant: die Idealpunkte der Regierung (r) und der Opposition (o), der Status Quo (sq) sowie die beiden Punkte innerhalb der Gewinnmenge, die jeweils den Nutzen der Regierung (r∗ ) bzw. der Opposition (o∗ ) maximieren. In dieser Akteurskonstellation findet nun folgendes Spiel statt (vgl. Abbildung 2): Im ersten Zug kann die Regierung einen Gesetzesvorschlag einbringen. Tut sie dies nicht, endet das Spiel, und der Status Quo bleibt unverändert bestehen. Bringt sie dagegen eine Gesetzesvorlage ein, findet diese aufgrund der angenommenen 2
3
4
Anders als Bräuninger und König (1999) fassen wir die Regierung als unitarischen Akteur auf, da in der Regel Koalitionsverträge das Abstimmen mit wechselnden Mehrheiten ausschließen, so dass sich die Regierung tatsächlich wie ein korporativer Akteur verhält. Wir nehmen darüber hinaus an, dass auch die Opposition ein unitarischer Akteur ist. Wir sind uns bewusst, dass dies nur für einige Perioden unproblematisch ist, die empirische Wirklichkeit ansonsten stark vereinfacht. Diese Vereinfachung halten wir für zu rechtfertigen. In einem komplexeren Modell kann die Annahme aufgegeben werden. Im Untersuchungszeitraum bestand lediglich 1982 nach dem Austritt der FDPMinister aus der Regierung Schmidt für zwei Wochen eine Minderheitsregierung. In dieser Zeit wurden lediglich ein zustimmungspflichtiges Gesetzes eingebracht sowie über zwei weitere abgestimmt. Diese spezielle Situation kann daher vernachlässigt werden. Eine weitere Minderheitsregierung unter Bundeskanzler Erhard 1966 liegt außerhalb unseres Untersuchungszeitraums (siehe dazu Abschnitt 5). Oft wird nur ein eindimensionaler Policy-Raum angenommen. Da viele Gesetze aus mehreren Komponenten bestehen und diese Mehrdimensionalität erst eine Überwindung des sq ermöglicht, halten wir ein mehrdimensionales Modell für unumgänglich. Wir illustrieren unsere Aussagen jeweils anhand eines zweidimensionalen Modells. Sie sind aber direkt auf allgemeine n-dimensionale Modellierungen übertragbar.
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Abbildung 1: Regierung, Opposition und Status Quo im mehrdimensionalen räumlichen Modell
kohäsiven Regierungsmehrheit stets die Zustimmung des Bundestages. Aus diesem Grund vernachlässigen wir das Verfahren im Bundestag, so dass im Modell sofort der Bundesrat über einen Gesetzesbeschluss befindet5 . Hier sind formal drei Fortführungen des Spiels möglich: Eine Bundesratsmehr5
Da die Regierung über eine Mehrheit im Bundestag verfügt, wird ihr Vorschlag in dieser Kammer immer angenommen. Aus diesem Grund ignorieren die meisten Beiträge das Verfahren im Bundestag. Eine Ausnahme stellt das Modell von Burkhart und Manow (2006) dar, in dem die Opposition mit ihrem Abstimmungsverhalten im Bundestag der Bundesratsmehrheit ein konfrontatives oder kooperatives Verhalten signalisieren kann. Diese Entscheidung ist aber für die Annahme des Entwurfs im Bundestag unerheblich, weshalb wir sie hier ignorieren.
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Abbildung 2: Regierung, Opposition und Status Quo im mehrdimensionalen räumlichen Modell
heit kann erstens dem Gesetz zustimmen, so dass v den sq ersetzt. Sie kann zweitens den VA anrufen, der sich dann weiter mit dem Vorschlag zu befassen hat. Drittens kann der Bundesrat den Vorschlag ablehnen, ohne den VA anzurufen. In diesem Fall aber besitzen Bundesregierung und Bundestag ihrerseits die Möglichkeit, den VA anzurufen6 . Die Handlungsalternativen 2 und 3 führen somit zum selben Resultat und werden in unserem Modell zusammengefasst. Auf diese Weise kann das legislative Spiel sparsamer modelliert werden, ohne Erkenntnisse zu verlieren. Aus Gründen der Praktikabilität bezeichnen wir diese Handlung allgemein als Anrufung des VA durch den Bundesrat. Der VA schließlich kann entweder den ursprünglichen Beschluss des Bundestages bestätigen (also v vorschlagen) oder dessen Änderung nach v empfehlen7 . Bestätigt der VA das ursprüngliche Gesetz, muss der Bundes6
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Es ist leicht ersichtlich, dass die Regierung in solchen Fällen stets einen Anreiz besitzt, den VA anzurufen, so dass eine Nicht-Anrufung, die zum sq führt, hier nicht diskutiert wird. Kommt der VA nicht zu einer Einigung, so entspricht dies einer Bestätigungsempfehlung. Der Vorschlag, das Gesetz aufzuheben, kann hier als Sonderfall
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rat erneut darüber befinden. Er ist dabei nicht an seine erste Entscheidung gebunden, kann also der unveränderten Vorlage zustimmen, so dass v den sq ersetzt. Stimmt er nicht zu, bleibt sq bestehen. Schlägt der VA dagegen die Änderung des Gesetzesbeschlusses vor, muss zunächst der Bundestag entscheiden, ob er den Einigungsvorschlag v akzeptiert oder zurückweist. Stimmt er der Abänderung zu, entscheidet anschließend der Bundesrat über die Zustimmung zum veränderten Gesetz v . Stimmt auch er zu, ersetzt v den sq, verweigert er die Zustimmung, bleibt sq erhalten. Lehnt dagegen der Bundestag das Vermittlungsergebnis ab, muss der Bundesrat erneut über den unveränderten ursprünglichen Gesetzesbeschluss v befinden. Stimmt dort eine Mehrheit dem Gesetz zu, ersetzt v den sq. Andernfalls bleibt sq unverändert. Das Verfahren, das sich in Bundestag und Bundesrat an die Vermittlung anschließt, wird in der Literatur häufig falsch oder missverständlich beschrieben. Anders als bisweilen angenommen (Döring, 2005, 134; Sieberer, 2006, 64), verfügt der VA nämlich nicht in dem Sinne über das Privileg des „letzten Angebots“ wie es Heller (2001) für Regierungen in parlamentarischen Systemen untersucht. Und auch die von König (1999) gewählte Charakterisierung des VA als „konditionaler Agenda-Setzer“ ist insofern irreführend, als der VA den Bundestag nicht vor die Entscheidung zwischen dem Einigungsvorschlag und dem Status Quo stellen kann. Der Vermittlungsausschuss ist zwar tatsächlich die letzte Instanz, die einen neuen Vorschlag formulieren kann. Auch wird über diesen Vorschlag insofern unter einer closed rule abgestimmt, als an dieser Stelle keine weiteren Änderungen und neuen Vorschläge mehr zulässig sind. Dies impliziert aber nicht, dass es sich um ein take-it-or-leave-it-Spiel handelt, bei dem die Ablehnung des Einigungsvorschlags zum Erhalt des sq führt: Hat nämlich „der Bundestag den Einigungsvorschlag abgelehnt, behandelt der Bundesrat den ursprünglichen, unveränderten Gesetzesbeschluss des Bundestages“ (Dästner, 1995, 189; so auch: Dietlein, 1989, 1578). Ist also v die vom VA vorgeschlagene Abänderung, so ist neben v selbst und dem sq auch die ursprüngliche Vorlage v weiterhin eine potenzielle Lösung des legislativen Spiels. Bei der späteren Diskussion um die backwards-induction-Lösung dieses Spielbaums wird sich zeigen, dass dieses Detail von hoher Relevanz ist. Gerade die Modellierung der Verhandlungen im VA fällt schwer, weil diese nicht-öffentlich erfolgen und sich auch aus den mit mehreren Jahren der Änderung angesehen werden, bei dem der VA empfiehlt, das Gesetz von v zu sq zu verändern. Dieser Fall ist somit als Spezialfall einer Abänderung von v in unserem Modell integriert.
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Verzögerung publizierten Protokollen nicht eindeutig rekonstruieren lassen. Es verwundert daher nicht, dass es bislang nur wenige Ansätze zur Modellierung einer solchen Vermittlungsinstanz gibt. Tsebelis und Money (1997) wählen dazu mengentheoretische Lösungskonzepte der Spieltheorie, insbesondere das uncovered set. Die Annahmen, auf denen die entsprechenden Konzepte beruhen, lassen sich jedoch nicht aus Kenntnissen über die Abläufe von Verhandlungen im Vermittlungsausschuss herleiten. Die Angemessenheit solcher Konzepte ist somit fraglich. König et al. (2004) arbeiten mit einem nicht-kooperativen Verhandlungsmodell, das an Beiträge von Rubinstein (1982) und Baron und Ferejohn (1989) anknüpft. In beiden Fällen lassen sich Punktprognosen nur dann formulieren, wenn ad hoc zusätzliche Annahmen getroffen werden, etwa über die Größe von Diskontierungsfaktoren. Außerdem ist auch bei diesem Beitrag fraglich, inwiefern seine Annahmen dem tatsächlichen Verfahren im VA entsprechen. Wir orientieren uns daher an einer wenig formalisierten Entscheidungsprozedur (vgl. McKelvey, 1986), und nehmen ein weitestgehend institutionenfreies freestyle bargaining an, dessen Ergebnisse der VA mit einfacher Mehrheit beschließt. Erhält kein Vorschlag eine einfache Mehrheit, ist der ursprüngliche Vorschlag v Ergebnis des Vermittlungsverfahrens. Bei Stimmengleichheit gilt ein Antrag als abgelehnt; Enthaltungen werden nicht mitgezählt. Auch in mehrdimensionalen Modellen ist bei zwei Spielern deren Paretomenge maximal eindimensional. Unter der Annahme, dass alle nicht pareto-optimalen Vorschläge irrelevant sind, kann die Ergebnismenge somit auf eine Dimension projiziert werden, in der bei ungerader Spieleranzahl der Medianspieler als Condorcet-Gewinner identifiziert und somit wie ein Policy-Diktator behandelt werden kann. In Abbildung 1 stellt die Strecke zwischen den Idealpunkten r und o den eindimensionalen Ergebnisraum dar. Weil der VA aber aus einer geraden Anzahl von Mitgliedern besteht, sind bei zwei korporativen Spielern R und O drei Szenarien möglich: 1. R besitzt eine Gestaltungsmehrheit im VA und ist somit der Medianspieler. 2. O besitzt eine Gestaltungsmehrheit im VA und ist somit der Medianspieler. 3. Zwischen R und O herrscht im VA ein Patt; es kommt zu keiner Einigung, und v bleibt erhalten. Da im VA ein Vermittlungsvorschlag bei Stimmengleichheit als abgelehnt gilt, braucht die Regierung eine Gestaltungsmehrheit, um einen Einigungs156
vorschlag allein mit „ihren“ Stimmen durchzusetzen. Es ist daher für unser Modell unerheblich, ob ein Patt besteht oder ob die Opposition über eine Gestaltungsmehrheit im VA verfügt. Im Folgenden fassen wir deswegen die beiden Szenarien 2 und 3 zusammen. Der Bundesrat formuliert sowohl die Entscheidung über die Anrufung des VA als auch über die Zustimmung zu einem Gesetz „pro-aktiv“: Wer ist für eine Anrufung? Wer stimmt dem Gesetz zu? Enthaltungen wirken sich also wie Nein-Stimmen aus. Aus diesem Grund verorten wir Länder, die sich enthalten, und solche, die gegen einen Gesetzentwurf stimmen, in einer gemeinsamen Kategorie. Das erwartete Abstimmungsverhalten der Landesregierungen wiederum leiten die meisten Beiträge aus der Zusammensetzung der einzelnen Landesregierungen ab. In der Regel unterscheidet man dabei drei Typen von Landesregierungen: • An den Regierungen der R-Länder ist mindestens eine Partei beteiligt, die auch der Bundesregierung angehört, und es ist keine Partei beteiligt, die sich im Bundestag in der Opposition befindet. • An den Regierungen der O-Länder ist mindestens eine Partei beteiligt, die sich im Bundestag in der Opposition befindet, und es ist keine Partei beteiligt, die der Bundesregierung angehört. • An den Regierungen der M-Länder ist sowohl mindestens eine Partei beteiligt, die der Bundesregierung angehört, als auch mindestens eine weitere Partei, die sich im Bundestag in der Opposition befindet8 . Die M-Länder vereinbaren in der Regel im Koalitionsvertrag eine sogenannte Bundesratsklausel (König und Bräuninger, 1997, 615), wonach sie sich im Bundesrat bei strittigen Fragen enthalten. Im Standardmodell wird angenommen, dass sich alle M-Länder so verhalten. Dagegen ist es den Ländern nicht möglich, mit ähnlichen Absprachen das Verhalten ihrer Vertreter im VA festzulegen. Die Mitglieder des VA sind unabhängig und an keine Weisung gebunden. Sie verhandeln nicht-öffentlich und handhaben die Teilnahme ausschussfremder Personen sehr restriktiv. Die Sitzungsprotokolle unterliegen der Geheimhaltung und werden erst in der übernächsten Legislaturperiode veröffentlicht. Namentliche Abstimmungen finden nicht statt. Es ist daher kaum möglich, das Abstimmungsverhalten der VA-Mitglieder 8
Es ist möglich, dass in den Landesregierungen „neutrale“ Parteien vertreten sind, die keine Fraktionen im Bundestag stellen. Solche Parteien spielen für die Zuordnung einer Regierung zu einem der drei Typen keine Rolle.
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zu kontrollieren und zu sanktionieren. Wir unterscheiden nun auf Grundlage dieser Überlegungen vier Konstellationen mit Bezug auf die Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und VA (Tabelle 1). Mehrheitsverhältnisse im VA Gestaltungsmehrheit der Keine Gestaltungsmehrheit Regierung der Regierung Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
Gestaltungsmehrheit der R-Länder Keine Gestaltungsmehrheit der R-Länder
Konstellation 1
Konstellation 2
Konstellation 3
Konstellation 4
Tabelle 1: Mehrheitskonstellationen in Bundesrat und Vermittlungsausschuss In Konstellation 1 und 2 verfügen die R-Länder im Bundesrat über eine Gestaltungsmehrheit, also über mindestens 50% plus eine Stimme. In diesem Fall gleichgerichteter Mehrheiten in beiden Kammern stimmt der Bundesrat dem Regierungsvorschlag immer zu. Der VA wird nicht angerufen, und die Regierung kann stets ihren Idealpunkt durchsetzen. Wir konzentrieren uns daher auf die Konstellationen 3 und 4. In beiden Konstellationen haben die R-Länder keine Gestaltungsmehrheit im Bundesrat, so dass die Regierung im Konfliktfall einen Kompromiss mit der Opposition suchen muss. In Konstellation 3 verfügt die Regierung allerdings über eine Gestaltungsmehrheit im VA, kann also einen Einigungsvorschlag allein mit „ihren“ Stimmen durchsetzen. Dies ist ihr in Konstellation 4 nicht möglich. Interessant ist nun, dass sich im räumlichen Standardmodell allein die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf das Gesetzgebungsergebnis und mithin auf die Handlungsfähigkeit der Regierung auswirken, während die Mehrheitsverhältnisse im VA keinen Einfluss haben. Die vollständig informierte Regierung folgt nämlich einer backwards-induction-Logik und antizipiert sämtliche Verfahrensschritte (vgl. Abbildung 2). Sie schlägt entweder gar keine Änderung des sq vor – wenn die Gewinnmenge quasi-leer9 ist – oder bringt eine Vorlage v = r ∗ ein10 . Bringt die Regierung kein Gesetz ein, spielen die Mehrheitsverhältnisse im VA keine Rolle: Hier ist bereits 9
Wir bezeichnen die Gewinnmenge als quasi-leer, wenn der sq selbst der einzige in ihr enthaltene Punkt ist. 10 Es bestehen mehrere Gleichgewichte mit und ohne Vermittlungsverfahren, die alle entweder zu dem Ergebnis r∗ oder zum Erhalt von sq führen. Da wir von Verhandlungskosten absehen, können wir keine Aussage darüber machen, welches Gleichgewicht resultiert.
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am ersten Knoten des Spielbaums der sq als Ergebnis festgelegt. Bringt die Regierung einen Vorschlag ein, kann der Bundesrat am zweiten Knoten des Spielbaums der Initiative zustimmen – r∗ ist somit eine mögliche Lösung des Spiels - oder den VA anrufen. Kommt es in Konstellation 3 zu einem Vermittlungsverfahren, werden die Regierungsvertreter im VA die Bestätigung des Gesetzes vorschlagen. Das auf diese Weise unveränderte Gesetz findet letztendlich eine Mehrheit im Bundesrat (Knoten 4), da r ∗ per Definition in der Gewinnmenge liegt und somit auch die Opposition gegenüber dem sq infinitesimal besserstellt. Alle Äste des Spielbaums resultieren somit in dem Ergebnis r∗ . In Konstellation 4 kann die Opposition zuvor im VA o∗ durchsetzen, was als „unechter Einigungsvorschlag“ bezeichnet wird (Dästner, 1999). Diesen Einigungsvorschlag lehnt aber die Regierungsmehrheit im Bundestag ab (Knoten 4), so dass der Bundesrat wieder über die ursprüngliche Vorlage v = r ∗ beschließen muss (Knoten 5). Auch hier gilt: Da sich r ∗ innerhalb der Präferenzmenge der Opposition befindet, stimmt der Bundesrat zu, und r∗ ersetzt den sq. Unabhängig von den Mehrheiten im VA kann die Regierung im räumlichen Standardmodell r∗ durchsetzen, wenn die R-Länder nicht über eine Gestaltungsmehrheit im Bundesrat verfügen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass alle anderen Lösungen außer r∗ (oder sq bei quasi-leerer Gewinnmenge) nicht das Resultat rationaler Strategien sein können: Jeder andere Vorschlag stellt entweder die Regierung oder die Opposition (oder beide) schlechter. Für die Regierung ist es nicht rational, einen Vorschlag einzubringen, von dem sie einen geringeren Nutzen als von r ∗ erhält, wenn sie ebenfalls r∗ durchsetzen kann; für die Opposition ist es nicht rational, einem Letztvorschlag zuzustimmen, von dem sie einen geringeren Nutzen als von r ∗ (gleich dem Nutzen von sq) erhält, wenn sie diesen Vorschlag auch verhindern kann. In den Konstellationen 1 und 2 kann die Regierung ihren Idealpunkt r realisieren, der von ihrer Bundesratsmehrheit bestätigt wird. Wie oben bereits dargestellt, macht der VA also nur in dem Sinne ein „letztes Angebot“ an die beiden Kammern, als diese den Einigungsbeschluss nur noch annehmen oder ablehnen, nicht jedoch abändern können. Entscheidend ist aber, dass erst die Ablehnung durch den Bundesrat den Fortbestand von sq bedeutet11 . Dies hat - wie hier gezeigt - zur Folge, dass die Berücksichtigung einer solchen Vermittlungsinstanz die Lösung des räum11
Anders ausgedrückt: Der reversion point des Bundestages ist bei der Abstimmung über den Einigungsvorschlag des VA die ursprüngliche Regierungsvorlage, wohingegen der reversion point bei der darauf folgenden Entscheidung des Bundesrates der Status Quo ist. Nur für den Fall, dass die Regierungs-
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lichen Standardmodells in keiner Weise verändert; der VA erweist sich innerhalb des Modells als vollkommen bedeutungslos. Unabhängig von der Mehrheitskonstellation im VA kann die Opposition im räumlichen Standardmodell dieses Gremium nicht dazu benutzen, um Gesetzesinhalte zu beeinflussen. Die Regierung macht nur Zugeständnisse in Reaktion auf die Mehrheitskonstellation im Bundesrat, wohingegen sie den VA komplett ignorieren kann. Diese Aussage widerspricht der Position, der VA habe einen bedeutenden Einfluss auf die Gesetzesinhalte und könne - entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt - von der Opposition instrumentalisiert werden. Es stellt sich die Frage, weshalb der VA vielen Beobachtern als so wichtig erscheint, und wieso er überhaupt angerufen wird. Unseres Erachtens ist dieser Widerspruch auf die (zu) große Sparsamkeit des räumlichen Standardmodells zurückzuführen, das wichtige Aspekte der Wirklichkeit nicht berücksichtigt. Wir schlagen daher im folgenden Abschnitt eine einfache Erweiterung des Modells vor, aus der sich neue Hypothesen über die Bedeutung des VA ableiten lassen. 4 Ein erweitertes legislatives Entscheidungsmodell Prinzipiell gibt es verschiedene Möglichkeiten, das räumliche Standardmodell zu modifizieren, um Aussagen über den Einfluss des Vermittlungsausschusses abzuleiten. Eine nahe liegende Strategie besteht darin, Unsicherheit und unvollständige Informationen über die Präferenzen der Akteure anzunehmen (siehe Tsebelis und Money, 1997). So ist etwa denkbar, dass die Regierung den Idealpunkt der Opposition nicht präzise im Politikraum verorten kann oder dass Landtagswahlen Unsicherheit erzeugen, da ihr unbekannter Ausgang die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss verändern kann. Unsicherheiten entstehen ebenfalls, wenn im Bundesrat neben parteilichen12 auch landesspezifische Interessen eine Rolle spielen (Manow und Burkhart, 2004). Die Lösung solcher Entscheidungssituationen unter Risiko basiert in der Regel auf exogenen Vetowahrscheinlichkeiten und löst sich damit deutlich von der Mikrofundierung und der räumlichen Logik des Standardmodells. Auch das Verhalten der Spieler im VA ist schwer rekonstruierbar, weil seine Mitglieder nicht weisungsgebunden und aufgrund der nicht-öffentlichen Verhandlungen nur vorlage außerhalb der Gewinnmenge liegt, ist sq der reversion point für beide Kammern. 12 Wie im räumlichen Standardmodell mit zwei korporativen Akteuren angenommen.
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schwer sanktionierbar sind. Man kann daher begründet annehmen, dass es der Regierung nicht immer möglich ist, das Verhalten der VA-Mitglieder richtig zu antizipieren. Dies gilt vor allem für jene Mitglieder, die von den M-Ländern entsandt werden: Kann man für die Koalition im Bundesrat noch relativ sicher annehmen, dass sie sich bei strittigen Fragen enthält, so ist dies für das VA-Mitglied einer solchen Koalition weniger eindeutig. Es kann sich „koalitionstreu“ der Stimme enthalten oder sich (relativ gefahrlos) der Linie seiner Partei anschließen. Auch diesen Aspekt könnte man erfassen, indem man unterstellt, dass Regierung und Opposition über die Position des Medianspielers im VA nur unvollständig informiert sind, also etwa nur ein Intervall angeben können, indem sich der Idealpunkt befindet. Eine andere Möglichkeit, das räumliche Standardmodell zu erweitern, besteht darin, die Nutzenfunktionen der Akteure zu modifizieren. Durch ihr Verhalten im legislativen Spiel bestimmen Parteien nicht nur ein Politikergebnis, sondern signalisieren gleichzeitig ihren Anhängern (Wählern, Mitgliedern, nahestehenden Interessengruppen u.ä.), für welche Politik sie eintreten. Das räumliche Standardmodell greift unseres Erachtens zu kurz, da es nur den ersten, intrinsischen Aspekt in der Nutzenfunktion der Akteure erfasst, aber ignoriert, dass im legislativen Spiel auch ein extrinsischinstrumenteller Aspekt existiert. Ohne die Annahme unvollständiger Informationen grundsätzlich abzulehnen, beschränken wir uns in diesem Aufsatz auf eine Erweiterung des Modells mithilfe einer modifizierten Nutzenfunktion. Damit können wir zeigen, dass die Annahme unvollständiger Informationen nicht notwendig ist, um die hier gestellte Frage zu beantworten13 . Unser Modell soll später zu13
Zudem glauben wir, dass die am Gesetzgebungsprozess beteiligten Akteure die Präferenzen der anderen Spieler recht gut erfassen, so dass die Annahme vollständiger Information trotz der oben angestellten Überlegungen nicht unrealistisch ist. Zumindest lässt sich einige anekdotische Evidenz finden, die darauf hindeutet, dass die Akteure oftmals recht gut über die Präferenzen der Gegenseite informiert sind und den weiteren Verfahrensverlauf antizipieren können. So führt etwa Holtmann mit Blick auf die Wohnungspolitik aus: „Im parteipolitisch eingerahmten Bund-Länder-Poker liegen somit die Karten weitgehend aufgedeckt auf dem Verhandlungstisch, noch bevor dieser offiziell besetzt ist“ (Holtmann, 2000, 123). Und der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder schreibt über die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformgesetze seiner Regierung: „Denn wir alle wussten, dass die Gesetzesbeschlüsse im CDUgeführten Bundesrat abgelehnt und von dort an den Vermittlungsausschuss zur Klärung überwiesen werden würden. [...] Wie zu erwarten war, wurde nach der Ableh-
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sätzlich um unvollständige Informationen erweitert werden; dies kann aber nicht in dem vorliegenden Beitrag geschehen. Um nun zu zeigen, dass der VA auch bei vollständig informierten Akteuren die Gesetzesinhalte beeinflussen kann, erweitern wir die Nutzenfunktion der Regierung, die bisher als rein intrinsisch policy-motiviert konzipiert wurde. Wir greifen dabei auf Überlegungen zurück, die Bräuninger und Ganghof (2005) zur VetospielerTheorie und Sened (1996) zu Koalitionsverhandlungen angestellt haben. Bräuninger und Ganghof nehmen an, dass Vetoakteure aufgrund strategischer Überlegungen auch solche Policy-Änderungen ablehnen können, die sie gegenüber dem sq besser stellen würden. Auf diese Weise tragen sie der Überlegung Rechnung, dass parteiliche Akteure nicht allein nach PolicyVeränderungen streben und dass der Effekt des Parteienwettbewerbs daher durch Differenzen der Akteure im Policy-Raum nur unzureichend erfasst wird. Ganghof und Bräuninger konzentrieren sich bei ihrer Analyse auf die Letztentscheidung über eine Änderung des sq, untersuchen also positionale Erwägungen der Vetospieler. Es geht ihnen um die Frage, welchen Änderungen des sq ein Vetospieler noch zustimmt, wenn er Policy-Nutzen und positionalen Nutzen miteinander verrechnet. Wir gehen davon aus, dass alle Akteure, die an einem legislativen Entscheidungsprozess beteiligt sind, ein solches Kalkül vollziehen. Ein derart erweitertes Nutzenkalkül braucht sich also nicht nur auf die Annahme oder Ablehnung eines Gesetzesvorschlags zu beziehen, sondern kann bereits bei dessen Einbringung relevant sein (?). An verschiedenen Stellen des Gesetzgebungsprozesses kann sich die Erweiterung der Nutzenkalküle somit auf den weiteren Spielverlauf und auf dessen Ergebnis auswirken. Sened (1996) führt in der Koalitionstheorie eine zweiteilige Nutzenfunktion ein, die sich additiv aus einem Ämter- und einem Policy-Nutzen zusammensetzt. Er geht davon aus, dass Parteien selten rein ämter- oder rein policy-orientiert sind, sondern stets beide Motivationen in ihr Gesamtkalkül einfließen. Unter der Annahme, dass das Verhältnis zwischen Ämter- und Policy-Orientierung von Partei zu Partei variieren kann, führt er zusätzlich nung der Gesetzesvorhaben im Bundesrat der Vermittlungsausschuss angerufen“ (Schröder, 2006, 127). Der ehemalige VA-Vorsitzende Vogel weist sogar darauf hin, „dass in Gesetzesentwürfen von vorneherein ,Handelsspannen’ mit einkalkuliert wurden, um jedenfalls noch etwas an Substanz der eigenen Politik über den Vermittlungsausschuss hinwegretten zu können“ (Vogel, 1989, 218). Diese Aussagen deuten darauf hin, dass Vermittlungsverfahren keineswegs Folge fehlgeschlagener Antizipationsversuche sind, sondern dass die beteiligten Akteure gewissermaßen „sehenden Auges“ in diese Verhandlungen gehen.
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Gewichtungsvariablen ein, die den Grad der Ämter- bzw. Policy-Motivation beschreiben. Daran anschließend nehmen wir für die am legislativen Spiel beteiligten Akteure ebenfalls eine zweiteilige Nutzenfunktion an. Zunächst erweitern wir in unserem Modell die ursprüngliche Nutzenfunktion der Regierung im räumlichen Standardmodell um eine extrinsische bzw. instrumentelle Policy-Nutzenkomponente14 , so dass der Nutzen der Regierung nicht nur von einem Politikergebnis x2 abhängt, sondern auch vom Erstvorschlag der Regierung x1 , von dem eine Signalwirkung an Mitglieder und Wähler ausgeht:15 int uR (x1 , x2 ) = αR · uext R (x1 ) + βR · uR (x2 ).
Dabei bezeichnen αR und βR analog zu Sened (1996) die Gewichte der beiden Nutzenkomponenten. Der Gesamtnutzen der Regierung uR ist die Summe der gewichteten Nutzen aus dem Politikergebnis x2 (uint R (x2 )) und 16 aus der ursprünglich eingebrachten Regierungsvorlage x1 (uext Je R (x1 )). weiter ein Agendasetzer bei seinem ursprünglichen Vorschlag von seinem Idealpunkt abweicht, desto geringer fällt die erste, instrumentelle PolicyKomponente des Nutzens aus. Man kann dies damit begründen, dass die Akteure des legislativen Spiels Parteien sind, deren legislative Entscheidungen sich auf das Verhalten ihrer Wähler und Mitglieder auswirken. Zudem sind Parteien durch Programme, Wahlversprechen und Koalitionsabsprachen in ihrer „Bewegungsfreiheit“ eingeschränkt. Jede Abweichung von diesen Festlegungen ist mit geringeren Nutzengewinnen bzw. sogar mit Nutzenverlusten verbunden. Im Modell nehmen wir an, dass diese Logik nur auf die Bundesregierung zutrifft, weil sie allein für die Öffentlichkeit sichtbar als Agendasetzer agiert und als first mover die weiteren Schritte zu antizipieren versucht. 14
Diese extrinsische, instrumentelle Policy-Nutzenkomponente ist vergleichbar wenn auch nicht völlig identisch - mit dem, was Bräuninger und Ganghof (2005) mit dem Begriff „positionaler Nutzen“ bezeichnen. Ein Ämternutzen im Sinne von Sened (1996) resultiert aus dieser Komponente allerdings bestenfalls sehr indirekt, wenn man sie mit vote-seeking-Motiven (vgl. Strøm und Müller, 1999) in Verbindung bringt. 15 Um das Modell so einfach wie möglich zu gestalten, übernehmen wir nicht das Konzept der Entbehrungskoeffizienten für Vetospieler, das Bräuninger und Ganghof (2005) vorschlagen. Diese Erweiterung würde die Hypothesen, die wir aus unserem Modell ableiten, aber nicht verändern. 16 Das räumliche Standardmodell stellt also einen Spezialfall unseres erweiterten Modells dar mit αR = 0 und βR = 1.
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Die Opposition im Bundestag unterliegt solchen Restriktionen dagegen nicht. Wissend, dass ihre Vorschläge von der Regierungsmehrheit in aller Regel abgelehnt werden, braucht sie bei der Gesetzinitiative nur ihre instrumentelle Nutzen-Komponente zu berücksichtigen. Anders verhält es sich, wenn sie – wie in den hier untersuchten Fällen – über den Bundesrat das Ergebnis des legislativen Spiels beeinflussen kann. Dann muss die Opposition auch abschätzen, wie ihre Handlungen ihren intrinsischen Policy-Nutzen beeinflussen. Im Gegensatz zur Regierung kann die Opposition kein Signal an die Wahlbevölkerung senden, indem sie aus einem unendlich großen Ergebnisraum einen beliebigen Vorschlag formuliert. Die Opposition hat lediglich die Möglichkeit, zum Vorschlag v der Regierung Stellung zu nehmen, indem sie ihn ablehnt (bzw. in den VA gibt) oder ihm zustimmt. Ihre Nutzenfunktion int uO (x1 , x2 ) = αO · uext O (x1 ) + βO · uO (x2 ),
die formal im Großen und Ganzen der Nutzenfunktion der Regierung entspricht, unterscheidet sich somit zu einem wesentlichen Teil von uR dadurch, dass das Argument x1 für die Opposition nur aus der äußerst beschränkten Menge v, sq wählbar ist. Wir nehmen sowohl für die instrumentellen als auch für die intrinsischen Policy-Nutzenanteile die lineare negative Distanzfunktion als Nutzenfunktion an. Je weiter ein Punkt vom Idealpunkt eines Akteurs entfernt ist, desto geringer ist also der Nutzen, den dieser Punkt, sei es als Vorschlag oder als Ergebnis, dem Akteur einbringt. Es gilt also für die Regierung17 uR (x1 , x2 ) = −αR ||r − x1 || − βR ||r − x2 || und für die Opposition uO (x1 , x2 ) = −αO ||o − x1 || − βO ||o − x2 ||. Die Frage, ob die Opposition einen Vorschlag bzw. ein Politikergebnis instrumentell oder intrinsisch bewertet, spielt für ihr Verhalten keine Rolle: Da sich in beiden Fällen der Nutzen auf die Distanz zu ihrem Idealpunkt o bezieht, wird sie jeden Vorschlag ablehnen, der außerhalb ihrer Präferenzmenge gegenüber dem sq liegt, während sie jedem Vorschlag innerhalb dieser Menge zustimmt. 17
Da α und β Relationen beschreiben, hinsichtlich derer eine Partei instrumentell bzw. intrinsisch policy-orientiert ist, fordern wir, dass α + β = konst. (α, β ≥ 0) gilt. Zu Normierungszwecken setzen wir α + β = 1.
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Die Regeln des legislativen Spiels bleiben gegenüber dem Standardmodell unverändert. Wir untersuchen wiederum, ob sich die Mehrheitskonstellationen aus Tabelle 1 auf die Gesetzgebung auswirken. Für die Konstellationen 1 und 2 (Tabelle 1) weichen die Aussagen unseres Modells nicht von denen des räumlichen Standardmodells ab. Die Regierung kann ihren Idealpunkt r immer durchsetzen; Vermittlungsverfahren finden nicht statt. Wir konzentrieren uns daher auf die Konstellationen 3 und 4, die sich allein durch die Mehrheitsverhältnisse im VA unterscheiden. Die backwards-induction-Lösung (BIL) des legislativen Spiels hängt in beiden Konstellationen davon ab, ob die ursprüngliche Regierungsvorlage v innerhalb der Präferenzmenge der Opposition liegt oder nicht. Um die folgende Analyse zu vereinfachen, treffen wir an dieser Stelle einige Annahmen: Bei unseren weiteren Überlegungen gehen wir davon aus, dass beide Idealpunkte r und o außerhalb der Gewinnmenge liegen (dies entspricht der in Abbildung 1 dargestellten Konstellation)18 . Des Weiteren gehen wir bei der Bestimmung der BIL von einigen Voraussetzungen aus, die wir hier zunächst axiomatisch formulieren, aber auch als nutzenmaximierende Verhaltensweisen direkt aus dem Modell herleiten können (siehe Anhang): 1. R schlägt zu Beginn des Spiels entweder seinen Idealpunkt r oder r ∗ vor. 2. Besitzt O eine Mehrheit im VA, schlägt O dort o∗ vor. 3. Besitzt R eine Mehrheit im VA, schlägt R dort r ∗ vor bzw. bestätigt r∗ , wenn dies dem ursprünglichen Vorschlag entspricht. Gegeben diese Annahmen, kann man nun zwei Strategien der Regierung unterscheiden: Erstens kann die Regierung bereits bei ihrer ersten Vorlage r ∗ vorschlagen. In diesem Fall sollte die Opposition aufgrund ihrer schwachen Präferenzen direkt den Vorschlag akzeptieren und somit sowohl den instrumentellen als auch den intrinsischen Policy-Nutzen von r∗ einstreichen (Abbildung 3). Lehnt die Opposition nämlich r ∗ im ersten Schritt ab, stimmt ihm dann aber nach dem Vermittlungsverfahren zu, so führt dies zwar zu einem 18
Für den Fall, dass der Idealpunkt der Regierung in der Präferenzmenge der Opposition liegt, fallen r∗ und r zusammen. Dieser Fall ist für uns uninteressant, da sich die Regierung hier immer mit r durchsetzen kann. Wir gehen bei der weiteren Argumentation somit davon aus, dass r von der Opposition abgelehnt wird.
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Abbildung 3: Die Regierung schlägt v = r ∗ vor
identischen intrinsischen Policy-Nutzenanteil, aber zu einer infinitesimal schlechteren instrumentellen Komponente, da zunächst eine Präferenz für den sq und gegen r ∗ signalisiert wurde19 . Entscheidend bei dieser BIL ist das Teilspiel, das mit der Entscheidung der Regierung beginnt, die vom VA abgeänderte Vorlage v zu akzeptieren oder auf v zu beharren (Knoten 4 des oberen Asts). Da r ∗ in der Präferenzmenge der Opposition liegt und diese daher r ∗ auf der letzten Stufe zustimmen wird, ist es für die Regierung rational, eine Abänderung von v = r ∗ abzulehnen. Somit entsprechen alle strategischen Äquivalente hinsichtlich des Politikergebnisses von der Einbringung bis zu diesem Punkt der ursprünglichen Regierungsvorlage v = r∗ . Die Opposition kann daher auch mit einer Gestaltungsmehrheit im VA kein Politikergebnis herbeiführen, das sie gegenüber r ∗ vorzieht und das den infinitesimal schlechteren instrumentellen Nutzenanteil bei Ablehnung der Vorlage am zweiten Knoten kompensieren könnte. Dies ist vor allem mit Blick auf die Mehrheitsverhältnisse im VA interessant, die sich bei dieser Strategie der Regierung nicht auf das Politikergebnis auswirken. Schlägt die Regierung bereits im ersten Zug r ∗ vor, so ist dies, unabhängig von der 19
Der Nutzen der Opposition bei sofortiger Zustimmung zur Vorlage im Bundesrat beträgt −||o−r∗ || = (−αO ||o−r∗ ||− βO ||o−r∗ ||) ≥ (−αO ||o− sq||−βO ||o− r∗ ||), was ihrem Nutzen entspricht, wenn sie v zunächst ablehnt und in einem späteren Schritt akzeptiert.
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Abbildung 4: Die Regierung schlägt v = r vor
Mehrheitsverhältnisse im VA, das Politikergebnis , da weder die Regierung noch die Opposition ein Gesetz durchsetzen können, das sie gegenüber r ∗ vorziehen. Zweitens kann die Regierung im ersten Zug ihren Idealpunkt r vorschlagen. In diesem Fall besitzt das legislative Spiel genau eine BIL, die zu v führt (Abbildung 4). An jedem Knoten lehnt die Opposition v ab, da ihr der sq sowohl als Signal als auch als Politikergebnis einen höheren Nutzen als r einbringt. Wissend dass sie v letztendlich nicht durchsetzen kann, muss die Regierung am vierten Knoten des oberen Asts jede Abänderung akzeptieren, die sie gegenüber dem sq besserstellt. Hier ist die Mehrheit im VA relevant: Bei einer Regierungsmehrheit wird der VA v = r ∗ , bei einer Oppositionsmehrheit v = o∗ vorschlagen. Das Ergebnis des legislativen Spiels hängt also insgesamt davon ab, a) wer eine Mehrheit im VA besitzt b) ob die Regierung r oder r ∗ als Erstvorschlag unterbreitet. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Ergebnisse des legislativen Spiels und den Nutzen, den Regierung und Opposition daraus ziehen.
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Erstvorschlag v der Regierung
r r*
Gestaltungsmehrheit der Regierung im VA? Ja (Konstellation 3) Nein (Konstellation 4) r* o* (–ȕR||r–r*||; –ĮO||o–sq||–ȕO||o–r*||) (–ȕR||r–o*||; –ĮO||o–sq||–ȕO||o–o*||) r* r* (–||r–r*||; –||o–r*||) (–||r–r*||; –||o–r*||)
Tabelle 2: Ergebnis des legislativen Spiels und Nutzen von Regierung (erster Eintrag in Klammern) und Opposition (zweiter Eintrag) Es ist zunächst festzuhalten, dass mit Blick auf den Nutzen der Opposition der Erstvorschlag der Regierung von größerer Bedeutung ist als die Mehrheitsverhältnisse im VA. Durch einen Vorschlag r∗ kann die Regierung den Spielverlauf vollständig determinieren, unabhängig davon, ob sie sich in Konstellation 3 oder 4 befindet. Nur wenn sie ihren Idealpunkt r als Erstvorschlag unterbreitet, ergibt sich ein Unterschied im Spielverlauf ab dem Knoten, an dem der VA tätig wird. Die Opposition ist in jedem der vier Felder aber stets nur ein reagierender Akteur, dessen Spielzüge jeweils vollkommen festgelegt sind, sofern er rational handelt. Die Regierung hingegen hat prinzipiell zwei echte Handlungsalternativen. Verfügt sie über eine eigene Gestaltungsmehrheit im VA (Konstellation 3), ist es für sie eine dominante Strategie, zunächst r vorzuschlagen. Die Regierung kann so den vollen instrumentellen Nutzen ausschöpfen und anschließend den situativ maximalen intrinsischen Policy-Nutzen mit r∗ erreichen. Diese dominante Strategie führt zu einer BIL, die die Anrufung des VA beinhaltet. In dieser Konstellation kann die Opposition ihren Nutzen mithilfe des VA nicht über das hinaus verbessern, was sie bereits über ihre Mehrheit im Bundesrat erreichen kann. Verfügt also die Regierung über eine Mehrheit im VA, so muss sie zwar die Vetoposition der Opposition im Bundesrat berücksichtigen, macht aber keine weitergehenden Zugeständnisse. Die Tatsache, dass die Regierung im Bundesrat nicht über eine Mehrheit verfügt, reicht für die Opposition in unserem Modell nicht aus, um den VA als Instrument der Einflussnahme zu nutzen. Verfügt die Regierung dagegen nicht über eine eigene Gestaltungsmehrheit im VA (Konstellation 4), hängt ihre Entscheidung über den Erstvorschlag vom Grad ihrer Policy-Orientierung sowie von der Lage des sq ab, der wiederum den Policy-Nutzen über o∗ und r ∗ beeinflusst. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zum räumlichen Standardmodell: Im Standard-
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modell setzt die Regierung auch bei einer oppositionellen Mehrheit im Bundesrat r∗ durch, weil sie den Einigungsvorschlag des VA ablehnen und den Bundesrat zur erneuten Abstimmung über die ursprüngliche Regierungsvorlage zwingen kann. Diese Strategie funktioniert aber nur, wenn die ursprüngliche Vorlage der Regierung innerhalb der Gewinnmenge liegt, also für die Opposition akzeptabel ist. Andernfalls zieht der Bundesrat sq vor und lässt das Gesetz scheitern. Die Regierung muss also bereits im ersten Zug r∗ vorschlagen, was sie im räumlichen Standardmodell auch tut. In unserem erweiterten Modell ist diese Strategie nun mit instrumentellen Kosten verbunden. Diese Kosten muss die Regierung allerdings mit den intrinsischen Policy-Nutzenverlusten vergleichen, die ihr entstehen, wenn sie es zu einem Vermittlungsverfahren kommen lässt. Schlägt sie nämlich einen Punkt außerhalb der Gewinnmenge vor, so kann sie nicht mehr glaubhaft damit drohen, ein Vermittlungsergebnis innerhalb der Gewinnmenge abzulehnen. Da die Regierung nicht über eine Gestaltungsmehrheit im VA verfügt, kann sie in diesem Fall r∗ nicht mehr durchsetzen. Sie muss also bereits bei der Formulierung ihrer ersten Vorlage zwischen zwei Optionen wählen: Sie kann r∗ anbieten und dieses (mit oder ohne Vermittlungsverfahren) durch den Bundestag bringen. Oder sie kann r anbieten und gegebenenfalls ein Vermittlungsergebnis im Punkt o∗ akzeptieren. Es gibt in dieser Konstellation also sowohl Fälle, bei denen die Regierung einen höheren Gesamtnutzen erreicht, indem sie direkt r ∗ vorschlägt und auch durchsetzt, als auch solche, bei denen der Gesamtnutzen höher ist, wenn sie ihren Idealpunkt r signalisiert, und dafür nur den PolicyNutzen für o∗ erhält. Dieses Ergebnis stellen wir in Abbildung 5 grafisch dar, wobei wir verschiedene Werte für die beiden Gewichtungsvariablen in der Nutzenfunktion der Regierung simulieren. Die hier gezeigten politischen Landkarten beziehen sich auf die Lage des Status Quos im Policy-Raum. Ist αR = 0, erhält die Regierung ausschließlich aus dem Politikergebnis einen Nutzen. Dies entspricht der Annahme des räumlichen Standardmodells. Bei einem oppositionsdominierten Bundesrat schlägt die Regierung nur dann ihren Idealpunkt vor, wenn sq innerhalb der Fläche I und r somit innerhalb der Gewinnmenge gegenüber dem sq liegt. Andernfalls berücksichtigt sie die Präferenzen der Opposition und bringt sofort r ∗ ein (Fläche II). Ist dagegen αR = 0, so gibt es mögliche Positionen des sq, bei denen die Regierung ihren Nutzen maximiert, indem sie ihren Idealpunkt r einbringt und nach Abschluss des Vermittlungsverfahrens ein Politikergebnis o∗ akzeptiert (Fläche III). Mit zunehmendem αR wird die Fläche III größer, so dass die Opposition häufiger den von ihr meistpräferierten Punkt 169
I
I r
I r
o II
ĮR = 0
II
r
III o
II
ĮR = 0.2
I r
III
III o
I r
o
III o
II
ĮR = 0.5
ĮR = 0.8
ĮR = 1
Abbildung 5: Rationale Erstvorschläge der Regierung in Abhängigkeit von αR und sq
innerhalb der Gewinnmenge durchsetzen kann. Eine rein instrumentell motivierte Regierung (αR = 1) schließlich orientiert sich ausschließlich an der Wirkung ihres Erstvorschlags und gar nicht am letztendlichen Politikergebnis, so dass sie unabhängig von der Lage des sq ihren Idealpunkt ohne Konzessionen an die Opposition einbringt und die Fläche II vollständig verschwindet. Es ist nicht möglich, diese Aussagen direkt zu testen, da man allenfalls die Idealpunkte der Akteure, aber nicht den Status Quo, die verschiedenen Vorschläge und das letztlich erzielte Politikergebnis empirisch so erfassen kann, wie dies zur direkten Überprüfung des Modells notwendig wäre. Vor allem aber sind die Grade α und β unbekannt, zu denen die Akteure instrumentell bzw. intrinsisch policy-motiviert sind. Wir wählen daher einen anderen Weg und leiten aus unseren Überlegungen eine Hypothese über Charakteristika des Gesetzgebungsprozesses ab. Geht man davon aus, dass die Lage des sq unabhängig von den Mehrheitskonstellationen in Bundesrat und VA ist, sollte der VA seltener angerufen werden, wenn die Regierung nicht über eine Gestaltungsmehrheit im VA verfügt als wenn dies der Fall ist. Diese Hypothese widerspricht der Intuition und der landläufigen Auffassung, die Opposition werde den VA vor allem dann in ihre Strategie einbinden, wenn die Regierung in diesem Gremium keine Mehrheit hat. Unsere Überlegungen führen aber zur entgegen gesetzten Vermutung. Dies folgt unmittelbar aus den oben vorgestellten Strategien der Regierung. In Konstellation 3 kommt es immer zu einem Vermittlungsverfahren, wenn der Idealpunkt der Regierung außerhalb der Präferenzmenge der Opposition liegt. In Konstellation 4 kann es dagegen für die Regierung rational sein, bereits mit ihrer ersten Vorlage auf die Opposition zuzugehen und r ∗ vorzuschlagen, um ein Vermittlungsverfahren zu verhindern, das zum Ergebnis o∗ führen würde. Die Regierung wird also 170
nicht immer ihren Idealpunkt vorschlagen, wenn sich dieser außerhalb der Präferenzmenge der Opposition befindet. Es handelt sich hierbei um einen Autolimitationseffekt, wie ihn auch Burkhart und Manow (2006) untersuchen, ohne allerdings die Mehrheitsverhältnisse im VA zu berücksichtigen. Mit Blick auf Mehrheitskonstellationen, bei denen im Bundesrat keine Gestaltungsmehrheit der R-Länder besteht, formulieren wir nun folgende Hypothese, die wir im nächsten Abschnitt empirisch überprüfen werden: Verfügt die Regierung nicht über eine Gestaltungsmehrheit im VA, so wird der VA seltener angerufen, als wenn im VA eine Gestaltungsmehrheit der Regierung besteht. 5 Das erweiterte legislative Entscheidungsmodell im empirischen Test Unsere Analyse erfolgt auf der Grundlage von zwei Datenbeständen: Zum einen nutzen wir einen umfangreichen Datensatz zur deutschen Gesetzgebung, den Simone Burkhart am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln erstellt hat. Aus dieser Quelle entnehmen wir Angaben zu allen 1562 Zustimmungsgesetzen, die der Bundestag zwischen der siebten und der 13. Wahlperiode (1972 bis 1998) beschlossen hat. Zum anderen verfügen wir über einen Datensatz, der die Besetzung des Vermittlungsausschusses von 1949 bis 1998 erfasst. Bislang waren die dazu notwendigen Angaben nirgendwo durchgehend dokumentiert (vgl. Dästner, 1999, 29) und mussten daher aus den Protokollen des VA entnommen werden. Damit ist es erstmals möglich, die tatsächliche Zusammensetzung dieses Gremiums und die daraus resultierenden Mehrheitsverhältnisse für jeden Zeitpunkt zu rekonstruieren. Nicht nur die Datenlage zum VA ist bislang lückenhaft gewesen. Es besteht unseres Wissens nach auch keine Festlegung, wie die Mehrheitsverhältnisse im VA zu erfassen sind. Dies ist durchaus nicht trivial, da bei einem kleinen Gremium die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse infolge von Abwesenheit und Vertretung einzelner Mitglieder relevanten Schwankungen unterworfen sein können. Wir konzentrieren uns hier auf die Mehrheitskonstellation, die bei Anwesenheit aller ordentlichen Mitglieder besteht. Es ist diese Konstellation, die die VA-Mitglieder durch ihre Geschäftspraxis der Pairing-Vereinbarungen zu stabilisieren versuchen, um Beschlüsse im VA nicht von Zufallsmehrheiten abhängig zu machen (dazu Dästner, 1995, 133).
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Bei 238 Gesetzen ist der VA angerufen worden, was einer durchschnittlichen Anrufungsquote von 15.3% entspricht. Einige Gesetze sind sogar mehrfach Gegenstand eines Vermittlungsverfahren gewesen, was aber für unsere Untersuchung irrelevant ist. Ebenso brauchen wir nicht berücksichtigen, welche der drei anrufungsberechtigten Instanzen den VA eingeschaltet hat. Da wir uns auf die Gestaltungsmehrheiten im Bundesrat konzentrieren, ist es möglich, dass sich im Bundesrat keine Mehrheit für die Anrufung des VA, aber auch keine für die Zustimmung zu dem in Rede stehenden Gesetz findet. In diesem Fall können Bundestag und Bundesregierung den VA einschalten, so dass der Bundesrat ein Vermittlungsverfahren nicht durch seinen Verzicht auf eine Anrufung verhindern kann. Wir untersuchen unsere Hypothese zunächst für alle zustimmungspflichtigen Gesetze im Datensatz und berechnen für die vier Konstellationen die jeweiligen Anrufungsquoten20 (Tabelle 3).
Keine Anrufung Anrufung N
Konstellation 1 304 (96.2%) 12 (3.8%) 316 (100%)
Konstellation 2 81 (92.0%) 7 (8.0%) 88 (100%)
Konstellation 3 510 (78.3%) 141 (21.7%) 651 (100%)
Konstellation 4 426 (84.5%) 78 (15.5%) 504 (100%)
N = 1559. In drei Fällen konnten die Mehrheitsverhältnisse im VA nicht ermittelt werden.
Tabelle 3: Anrufungsquoten für alle vom Bundestag verabschiedeten zustimmungspflichtigen Gesetze Die Befunde bestätigen unsere Hypothese: In den Konstellationen 1 und 2 treten, wie erwartet, nur sehr wenige Anrufungen auf. Unserem einfachen Modell zufolge sollten überhaupt keine Anrufungen zu beobachten sein. Dass dies dennoch der Fall ist, ist mit der komplexeren Konfliktstruktur im föderalen System der Bundesrepublik zu erklären. Wir abstrahieren in unserem Modell von möglichen föderalen Gegensätzen (zwischen Bund und 20
Dabei legen wir jeweils die Mehrheitsverhältnisse zugrunde, die bei der Einbringung einer Gesetzesvorlage bestanden. Diese Entscheidung ist zwar nicht unproblematisch, da bei der Anrufungsentscheidung nur die zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Verhältnisse entscheidend sind. In einer umfassenderen Analyse wird man für die wechselnden Mehrheiten kontrollieren müssen. Da derartige Veränderungen aber relativ selten sind, konzentrieren wir uns hier auf die Mehrheitsverhältnisse, die bei Einbringung der Vorlage bestanden.
172
Ländern oder zwischen mehreren Ländern) und konzentrieren uns auf den parteipolitischen Faktor. Fälle, in denen es in erster Linie um Bund-LänderKonflikte geht, können und sollen mit unserem Modell nicht erklärt werden. Auffällig ist, dass zwischen den Konstellationen 1 und 2 eine Prozentsatzdifferenz von 4.2 Prozentpunkten besteht. Dieser durch unser Modell nicht erklärbare Effekt ist allerdings nicht signifikant (P-Wert von von .1052). Für unsere Untersuchung entscheidend ist, dass entgegen der Intuition der VA seltener eingeschaltet wird, wenn die Opposition in diesem Gremium eine Mehrheit hat. Die Anrufungsquote liegt bei Konstellation 4 um mehr als sechs Prozentpunkte niedriger als bei Konstellation 3. Dass der Unterschied nicht größer ist, entspricht unserer Vermutung: Wie aus Abbildung 5 hervorgeht (skizzierte Flächen I und II), ist bei vielen möglichen Lagen des sq nicht zu erwarten, dass sich Gesetzgebungsverfahren und -ergebnis zwischen den beiden Konstellationen unterscheiden. Vergleicht man nur die beiden Quoten der Konstellationen 3 und 4 und behandelt die analysierten Daten wie eine Zufallsauswahl einer unbekannten Grundgesamtheit, so kann man untersuchen, ob die ermittelte Prozentsatzdifferenz signifikant ist. Die Anrufungsquote bezogen auf diese beiden Konstellationen beträgt fast 19%. Für die Nullhypothese, wonach die beiden Anrufungsquoten nicht unterschiedlich seien, ergibt sich ein z-Wert von -2.658. Der zweiseitige P-Wert liegt bei 0.008. Es ergibt sich ferner ein Phi von -0.078 (näherungsweise Signifikanz 0.008), was den vermuteten schwachen, aber signifikanten negativen Zusammenhang bestätigt. Die Nullhypothese, wonach sich die Anrufungshäufigkeit zwischen den beiden Konstellationen nicht unterscheidet, wird damit nicht angenommen. Bislang haben wir uns auf alle Zustimmungsgesetze bezogen, die der Bundestag im Untersuchungszeitraum verabschiedet hat. Wir gehen aber davon aus, dass das von uns angenommene Kalkül der Regierung insbesondere bei ihren eigenen Gesetzesentwürfen zum Tragen kommt, da die Regierung mit diesen Vorlagen am stärksten identifiziert wird. Bei einem eigenen Vorschlag fällt die instrumentelle Policy-Nutzenkomponente stärker ins Gewicht (αR ist vermutlich größer) als bei einer Vorlage aus der Mitte des Bundestages oder des Bundesrates. Der von uns angenommene Effekt sollte hier also deutlicher hervortreten als dies bei der Untersuchung aller Gesetzesvorlagen der Fall ist. Diese Vermutung bestätigt sich, wie man Tabelle 4 entnehmen kann. Bei den Gesetzesentwürfen, die die Regierung selber einbringt, beträgt die Prozentsatzdifferenz zwischen den Anrufungsquoten der beiden relevanten Konstellationen 3 und 4 9.3 Prozentpunkte. Gegenüber dem Wert für 173
Keine Anrufung Anrufung N
Konstellation 1 251 (96.5%) 9 (3.5%) 260 (100%)
Konstellation 2 66 (90,4%) 7 (9.6) 73 (100%)
Konstellation 3 420 (79.8%) 106 (20.2%) 526 (100%)
Konstellation 4 352 (89.1%) 43 (10.9%) 395 (100%)
N = 1254.
Tabelle 4: Anrufungsquoten für alle vom Bundestag verabschiedeten zustimmungspflichtigen Gesetze, die auf eine Vorlage der Regierung zurückgehen alle Gesetzesentwürfe ist also ein Anstieg der Differenz von über drei Prozentpunkten zu verzeichnen. Für die Prozentsatzdifferenz ergibt sich ein z-Wert von -3.78, der zweiseitige P-Wert liegt bei 0.000, so dass die Nullhypothese zurückgewiesen werden kann. Phi beträgt -0.125 mit einer näherungsweisen Signifikanz von 0.000. Der Zusammenhang ist wieder hoch signifikant und etwas stärker als bei der Untersuchung aller Gesetzesbeschlüsse, bleibt aber - wie erwartet - schwach. Sowohl für die Untersuchung aller Zustimmungsgesetze als auch für die Untersuchung der Regierungsvorlagen bestätigen die Ergebnisse der Analyse unsere Hypothese: Bei gegensätzlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat wird der Vermittlungsausschuss seltener angerufen, wenn die Regierung im VA über eine Gestaltungsmehrheit verfügt, als wenn dies nicht der Fall ist. Dieser Befund deutet auf ein Autolimitationsverhalten der Regierung hin: Gegeben die angenommene zweiteilige Nutzenfunktion berücksichtigt die Regierung die Policy-Position der Opposition bei der Formulierung ihrer Gesetzesvorlagen seltener, wenn sie über eine eigene Mehrheit im VA verfügt, so dass es häufiger zu einem Vermittlungsverfahren kommt. 6 Fazit Der Vermittlungsausschuss spielt in der bestehenden Literatur zu Gesetzgebungsblockaden in der Bundesrepublik kaum eine Rolle. Dies gilt vor allem für Beiträge, die mit räumlichen und spieltheoretischen Modellen arbeiten. Außerhalb dieses Forschungsstrangs wird dem VA dagegen ein großer Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess und sein Ergebnis attestiert. 174
In unserem Beitrag haben wir gezeigt, dass sich die Aussagen der bekannten räumlichen Modelle nicht verändern, wenn man den VA berücksichtigt. Wir haben dann ein Modell vorgestellt, in dem sich die Existenz eines VA sowohl auf das Gesetzgebungsverfahren als auch auf sein Ergebnis auswirkt. Auf der Grundlage zweier Datensätze zur deutschen Gesetzgebung und zu den Mehrheitsverhältnissen im VA haben wir gezeigt, dass der VA bei gegensätzlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat seltener angerufen wird, wenn die Regierung in diesem Gremium keine Mehrheit hat. Dieser Befund widerspricht der Intuition, bestätigt aber unsere Hypothese. Unser Modell kann nur ein erster Schritt zur Analyse des Vermittlungsausschusses und seiner Auswirkung auf die deutsche Gesetzgebung sein. Verschiedene Modifikationen und Erweiterungen erscheinen uns sinnvoll: Erstens kann das Modell möglicherweise weitere Beiträge zur Erklärung legislativen Entscheidens in der Bundesrepublik Deutschland leisten, wenn die starke Annahme unitarischer Akteure aufgegeben wird. Während wir hier für die Regierung, die aufgrund von Koalitionsverträgen in der Regel auf ein einheitliches Stimmverhalten festgelegt ist, weniger einen Fortschritt erwarten, scheint es uns wichtig zur Erreichung weiterer Erkenntnisse, einen oppositionsdominierten Bundesrat und die Opposition im Bundestag als kollektive statt korporative Akteure zu modellieren. Zweitens sollten weitere Prozesscharakteristika modelliert werden: So besteht insbesondere die Möglichkeit, eine Regierungsvorlage bereits im Bundestag abzuändern und so ein Vermittlungsverfahren zu umgehen. Die von Burkhart und Manow (2006, 22) aufgeworfene spannende Frage, wovon es abhängt, in welchem Stadium des Gesetzgebungsprozesses die Akteure einen Kompromiss suchen (und finden), kann unser Beitrag nicht beantworten. Drittens schließt unsere Erweiterung der Nutzenfunktionen nicht aus, dass zusätzlich unvollständige Informationen angenommen werden. Eine Kombination beider Modifikationen des Standardmodells scheint uns insbesondere mit Blick auf weitere Verfahrensdetails wie den Inhalt der Einigungsvorschläge und deren Behandlung in den beiden Kammern sinnvoll. Auch könnte man auf diese Weise erfassen, ob sich die Knappheit der Mehrheiten in Bundesrat und VA auf das Kalkül der Akteure auswirkt. Viertens ist zu überprüfen, ob weitere Komponenten der Nutzenfunktion, die wir nicht berücksichtigt haben, einen Beitrag leisten können, um unsere Modellierung des legislativen Entscheidungsprozesses zu verbessern. So ist etwa anzunehmen, dass Wähler Parteien im legislativen Prozess nicht nur mit Bezug auf Policy-Aspekte bewerten, sondern auch ihre Geschick175
lichkeit oder die Konsistenz ihres Handelns berücksichtigen. Diese Aspekte ließen sich als weitere Kostenkomponenten in das Modell integrieren. Solche Kosten könnten etwa entstehen, wenn es der Regierung nicht gelingt, den legislativen Status Quo zu verändern, oder wenn die Opposition einem Gesetz am Ende zustimmt, das sie zuvor abgelehnt hat. Erweiterungen dieser Art könnten sowohl zu einem besseren Verständnis des bislang weitgehend unbeachteten Vermittlungsausschusses beitragen als auch die Erklärungskraft der vorhandenen Modelle mit Blick auf die Politikstabilität erhöhen. 7 Anhang Die Annahmen, die wir bei dem backwards-induction-Spiel zunächst axiomatisch getroffen haben, können direkt aus der Rationalität der Spieler abgeleitet werden: 1. o∗ ist per Konstruktion der Punkt, der O’s Nutzen maximiert unter der Randbedingung, dass R dem Vorschlag zustimmt. Wenn O eine Mehrheit im VA besitzt, ist o∗ somit die einzige rationale Wahl. 2. r∗ ist per Konstruktion der Punkt, der R’s Nutzen maximiert unter der Randbedingung, dass O dem Vorschlag zustimmt. Wenn R eine Mehrheit im VA besitzt und O eine Blockade-Mehrheit im Bundesrat besitzt, ist r∗ im VA somit die einzige rationale Wahl für R. 3. Als Erstvorschlag liefert entweder r oder r ∗ der Regierung den höchsten Nutzen. Jeder andere Vorschlag innerhalb der Gewinnmenge erbringt für R per Konstruktion von r ∗ einen niedrigeren Nutzen als r ∗ ; jeder Punkt außerhalb der Gewinnmenge erbringt für R den gleichen intrinsischen Policy-Nutzen, aber einen niedrigeren instrumentellen Nutzen als r. Somit ist es rational für R, zu Beginn des Spiels entweder r oder r ∗ vorzuschlagen. Wenn wir von höheren Nutzen sprechen, meinen wir stets höher oder gleich. Somit gilt dies auch für Fälle, in denen etwa der sq in der Paretomenge liegt und o∗ , r∗ und sq zusammenfallen.
176
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Ämterschacher oder Politikmotivation? Koalitionsbildungen in Deutschland unter gleichzeitiger Berücksichtigung von zweierlei Motivationen der Parteien1 Eric Linhart
1 Einleitung Beschäftigt man sich mit Koalitionstheorien, speziell mit der Frage, welche Parteien weshalb miteinander eine Regierungskoalition bilden, werden den Parteien in der Regel zwei Motivationen unterstellt: Zum einen gehen gängige Koalitionstheorien davon aus, dass Parteien bestrebt sind, an der Regierung beteiligt zu sein und dort möglichst viele Ämter zu besetzen (Ämter-Motivation; etwa Neumann und Morgenstern, 1944; Gamson, 1961; Riker, 1962; Leiserson, 1968; Riker und Ordeshook, 1973), zum anderen wird häufig unterstellt, dass Parteien versuchen, die von ihnen signalisierten politischen Positionen mit möglichst wenigen Abweichungen durchzusetzen (Policy-Motivation; z.B. die Modelle von DeSwaan, 1973 oder Roozendaal, 1992). Problematisch an allen bisher genannten Koalitionstheorien ist die Tatsache, dass sie entweder die Ämter-Motivation der Parteien oder aber deren Policy-Motivation berücksichtigen, nicht aber beide Arten der Motivation. Unterstellt man, dass in der Realität Parteien tatsächlich sowohl ämter- als auch policy-motiviert sind, folgt daraus ebenso banal wie ernüchternd, dass alle oben zitierten Koalitionstheorien zur Erklärung der Realität unterkomplex sind. Aufbauend auf Austen-Smith und Banks (1988) formuliert Sened (1996) eine Nutzenfunktion für Parteien, die gleichzeitig die Ämter- und die Policy-Motivation während des Koalitionsbildungsprozesses berücksichtigt. Die institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigend, ist es das Ziel dieses Aufsatzes zu überprüfen, ob die gleichzeitige Berücksichtigung von 1
Mein Dank gilt Franz Urban Pappi und Susumu Shikano für äußerst fruchtbare Diskussionen sowie einem anonymen Gutachter für wertvolle Hinweise.
Ämter- und Policy-Motivation für die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich eine höhere Erklärungskraft besitzt als eine einseitige Fokussierung entweder auf Ämter- oder auf Policy-Motivation (vgl. auch bisherige Anwendungen von Linhart, 2006 und von Linhart und Shikano, 2007b). Als Untersuchungseinheiten (Fälle) dienen deutsche Koalitionsbildungen auf Bundesebene zwischen 1949 und 2002. In der Bundesrepublik Deutschland verlaufen Koalitionsverhandlungen weitgehend institutionenfrei (McKelvey, 1986). Modelle, die dieser Annahme entgegen stehen, indem sie etwa strikte Sequenzen von Vorschlagsrechten annehmen (Baron, 1991; Baron und Diermeier, 2001) oder auf einer Mitwirkung von Staatspräsidenten basieren, die den Koalitionsbildungsprozess beeinflussen (etwa Morelli, 1999) sind somit für die Analyse unangemessen. Um die tatsächlichen Gegebenheiten widerzuspiegeln, muss als institutioneller Hintergrund freies Verhandeln gewählt werden, bei dem jeder Akteur jederzeit Vorschläge unterbreiten kann. Für Deutschland kann im Wesentlichen ein zweidimensionaler Politikraum angenommen werden (Laver und Hunt, 1992; Pappi und Shikano, 2005; Linhart und Shikano, 2007a) mit einer wirtschaftspolitischen und einer gesellschaftspolitischen Dimension. Aus diesem Grund sind eindimensionale Konzepte (z.B. Axelrod, 1970) der Fragestellung nicht angemessen. Schließlich kann die Annahme widerlegt werden, dass Minister in Deutschland Policy-Diktatoren sind. Mehrere Autoren sehen für die BRD das Kabinettsprinzip deutlicher hervortreten als das Ressortprinzip (besonders deutlich etwa Müller-Rommel, 1994)2 , so dass auch Modellierungen etwa nach Laver und Shepsle (1996) diesem speziellen Fall nicht gerecht werden. Zur Erreichung des oben genannten Ziels vergleiche ich die Koalitionen, die sich tatsächlich bildeten, mit möglichen Alternativkoalitionen, die ebenfalls eine Regierungsmehrheit gehabt hätten, sich aber nicht gebildet haben. Für Regierungsparteien kann aufbauend auf der Sened-Nutzenfunktion bestimmt werden, wie hoch ihr Nutzen durch die tatsächliche Regierungskoalition war. Ferner kann abgeschätzt werden, welchen Nutzen Parteien in alternativen Koalitionen hätten erreichen können. Davon ausgehend, dass die Parteien rationale (korporative) Akteure sind, sollten die tatsächlichen Regierungskoalitionen individuell rationale und pareto-optimale Lösungen 2
„In the Federal Republic the party distribution of the key portfolios does not make a difference to overall government policy once a coalition has been formed. Although ministers in Germany maintain the autonomy of their departments, they are nevertheless bound to the coalition policy „treaty“ [...].“ (Müller-Rommel 1994: 165).
182
sein. Anders ausgedrückt: Wenn eine Koalition existiert, die die individuellen Erwartungsnutzen aller Koalitionsparteien maximiert, so entspricht diese Koalition einer Gleichgewichtslösung und sollte sich in der Realität gebildet haben - die Korrektheit der Annahmen vorausgesetzt. Anders als bei Debus (2008) sollen nicht nur ämter-orientierte und policy-orientierte Konzepte in einer parallelen aber separaten Anwendung gleichzeitig diskutiert werden, sondern schon die Analyse soll beide Motivationen ausreichend im Sinne von Sened (1996) berücksichtigen. Je nachdem, welche Nutzenfunktion der Analyse zugrundegelegt wird, befinden sich unterschiedliche Koalitionen im Gleichgewicht. Die Häufigkeit des Auftretens einer durch eine bestimmte Nutzenfunktion im Gleichgewicht eingestuften Koalition als Ergebnis des realen Koalitionsverhandlungsprozesses dient hierbei als Gütemaß der entsprechenden Nutzenfunktion bzw. der hinter ihr stehenden Theorie. Dieser Artikel ist so aufgebaut, dass ich zunächst die Datenbasis vorstelle, die meiner Analyse zugrunde liegt. Anschließend gebe ich einen kurzen Überblick über die Koalitionstheorie nach Sened (1996) und spezifiziere insbesondere die der Theorie zugrunde liegende Nutzenfunktion vor dem Hintergrund der institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland. Die eigentliche Analyse folgt anschließend in Form eines Vergleichs realer Regierungskoalitionen mit potenziellen Alternativen: Zunächst gehe ich von einer reinen Ämter-Motivation der Parteien aus, anschließend von einer reinen Policy-Motivation. In einem dritten Schritt untersuche ich, inwiefern eine gleichzeitige Berücksichtigung beider Motivationstypen die Ergebnisse der realen Koalitionsbildungsprozesse besser erklären kann als die einseitigen Analysen der ersten beiden Schritte. Den Abschluss bildet ein Vergleich der Erklärungskraft der verschiedenen untersuchten Theorien für die Bundesrepublik Deutschland. 2 Wahlen, signalisierte Positionen, Sitzverteilungen und Regierungen in der Bundesrepublik Deutschland (1949-2002) Zwischen 1949 und 2002 fanden in der Bundesrepublik Deutschland 15 Bundestagswahlen statt. Durch eine Bundestagswahl (1957) kam eine absolute Mehrheit einer Fraktion (der CDU/CSU) zustande, in einem weiteren Fall (1953) verfügte die CDU/CSU noch vor der folgenden Kanzlerwahl über eine parlamentarische absolute Mehrheit, nachdem sich die Abgeordneten der Zentrumspartei der Unionsfraktion angeschlossen hatten. Dennoch bildeten sich bisher nach Bundestagswahlen stets Koalitionsregierungen. Weiterhin gab es zwischen 1949 und 2002 vier Fälle, in denen Bundeskanzler in einer 183
laufenden Legislaturperiode in ihr Amt kamen. In zwei dieser Fälle stützten sich die Kanzler auf die gleiche Regierungskoalition wie zuvor (Erhard 1963, der Adenauer beerbte, und Schmidt 1974 als Nachfolger von Brandt), die beiden anderen Kanzlerwechsel folgten auf Wechsel von Regierungskoalitionen (Kiesinger 1966 und Kohl 1982). Tabelle 1 fasst die Sitzverteilungen zwischen 1949 und 2002 zusammen. Jahr
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002
140 131 FDP 52 Grüne . PDS . DP 17 BP 17 Z 10 KPD 15 WAV 12 DKP-DRP 6 SSW 1 GB/BHE . CDU/CSU SPD
Unabh./ Fraktl.
1
244 270 242 245 242 225 243 226 244 223 319 294 245 248 151 169 190 202 224 230 214 218 193 186 239 252 297 251 48 41 67 49 30 41 39 53 34 46 79 47 43 47 . . . . . . . . 27 42 8 49 47 55 . . . . . . . . . . 17 30 37 2 15 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 . . . . . . . . . . . . . .
.
.
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Anmerkung: Sitzstärken von 1949 bis 1987 ohne die Berliner Abgeordneten, Fraktionsstärken jeweils zum Zeitpunkt der Konstituierung des Bundestages. Tabelle 1: Sitzstärken der Fraktionen im deutschen Bundestag (1949 bis 2002) Neben den 19 oben genannten Regierungswechseln, die auf Wahlen oder auf Wechseln des Regierungschefs beruhen, spreche ich auch dann von einem Regierungswechsel, wenn sich die Koalition ändert, auf die sich eine Regierung stützt. Im Untersuchungszeitraum sind somit fünf weitere Fälle zu ergänzen: 1953 stütze sich Adenauer zunächst auf eine Koalition bestehend aus CDU/CSU, FDP, DP und GB/BHE. Nach dem Austritt des GB/BHE aus der Koalition am 23. Juli 1955 bildeten nur noch CDU/CSU, FDP und DP die Regierung. Nach dem Austritt der FDP aus der Regierungskoalition am 23. Februar 1956 trat eine Gruppe von Abgeordneten, die sogenannten Euler-Gruppe, inklusive der damaligen FDP-Bundesminister, 184
aus der FDP-Fraktion aus und fand sich später zur FVP-Fraktion zusammen, so dass sich die Regierung Adenauer zu diesem Zeitpunkt auf eine Koalition aus CDU/CSU, DP und FVP stützte. In der 1957 beginnenden Legislaturperiode bildete Bundeskanzler Adenauer zunächst eine CDU/CSUDP-Koalition bis zum 1. Juli 1960. Nachdem die DP zu diesem Zeitpunkt aus der Koalition austrat, regierte die Union anschließend alleine mit ihrer absoluten Mehrheit. In zwei weiteren Fällen gingen offiziellen Koalitionswechseln Austritte eines Koalitionspartners voraus. So trat die FDP im Oktober 1966 aus der Regierung Erhard aus, so dass die Union für gut einen Monat eine Minderheitsregierung bildete, bevor Kiesinger im Dezember 1966 eine große Koalition formte. Im September 1982 schließlich musste Kanzler Schmidt für etwa zwei Wochen eine SPD-Minderheitsregierung führen, nachdem die FDP die sozial-liberale Koalition aufgekündigt hatte und bevor Helmut Kohl sich zum Kanzler einer CDU/CSU-FDP-Regierung wählen ließ. Zählt man neue Regierungen also nach den drei Kriterien • Bundestagswahl und/oder • Kanzlerwechsel und/oder • Koalitionswechsel, so gibt es im Untersuchungszeitraum genau 24 deutsche Bundesregierungen, welche die Fälle der Analyse bilden3 . Tabelle 2 fasst die Fälle zusammen. Interessiert man sich für Ämter- und Policy-Nutzen, die für Regierungsparteien aus den gebildeten Koalitionen resultieren, sind weiterhin die Aufteilungen der Kabinettsposten unter den Regierungsparteien sowie die signalisierten Idealpositionen der im Parlament vertretenen Parteien relevant. Die Idealpositionen können direkt aus Linhart und Shikano (2007a: 13, 16f, 23f) übernommen werden; die hier ermittelten Daten entsprechen bereits exakt den hier verlangten Voraussetzungen.4 Linhart und Shika3
4
Ein weiterer Fall entsteht streng genommen, als im Zuge der Wiedervereinigung die DSU mit an der Regierung beteiligt wurde. Da unmittelbar nach der Wiedervereinigung ohnehin Neuwahlen stattfanden, kann diese übergroße Koalition als Spezialfall der deutschen Geschichte und eher symbolisch bewertet werden. Aus diesem Grund wird sie hier wie im Folgenden nicht diskutiert. Ich wähle hier die Daten, die einer Distanz-, nicht einer Richtungslogik zugrunde liegen, da auch der Policy-Teil der Sened-Nutzenfunktion und ihre Anwendung in meiner Analyse auf der Distanzlogik basiert.
185
Nr.
Beginn
Regierung
1 2
1949 1953
Adenauer I Adenauer IIa
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
1955 1956 1957 1960 1961 1963 1965 1966a 1966b 1969 1972 1974 1976 1980 1982a 1982b 1983 1987 1990 1994 1998 2002
Regierungskoalition
Legislaturperiode 1 2
CDU/CSU-FDP-DP CDU/CSU-FDP-DP -GB/BHE Adenauer IIb CDU/CSU-FDP-DP 2 Adenauer IIc CDU/CSU-DP-FVP 2 Adenauer IIIa CDU/CSU-DP 3 Adenauer IIIb CDU/CSU 3 Adenauer IV CDU/CSU-FDP 4 Erhard Ia CDU/CSU-FDP 4 Erhard Ib CDU/CSU-FDP 5 Erhard II CDU/CSU 5 Kiesinger CDU/CSU-SPD 5 Brandt I SPD-FDP 6 Brandt II SPD-FDP 7 Schmidt I SPD-FDP 7 Schmidt II SPD-FDP 8 Schmidt IIIa SPD-FDP 9 Schmidt IIIb SPD 9 Kohl I CDU/CSU-FDP 9 Kohl II CDU/CSU-FDP 10 Kohl III CDU/CSU-FDP 11 Kohl IV CDU/CSU-FDP 12 Kohl V CDU/CSU-FDP 13 Schröder I SPD-Grüne 14 Schröder II SPD-Grüne 15 W: Wahl, K: Kanzlerwechsel, C: Koalitionswechsel.
Veränderung W W, C C C W, C C W, C K W C K, C W, K, C W K W W C K, C W W W W W, K, C W
Tabelle 2: Deutsche Regierungen (1949 bis 2002) no (2007a) schätzen die Idealpositionen von Parteien auf Basis der Daten des Comparative Manifesto Projects (CMP) ab (vgl. hierzu Budge et al., 2001). Sie arbeiten zunächst heraus, dass für Deutschland zwei Hauptpolitikdimensionen von Bedeutung sind: eine wirtschaftspolitische und eine gesellschaftspolitische. Sie ordnen dann verschiedene CMP-Kategorien diesen beiden Dimensionen zu und unterteilen die CMP-Kategorien in rechte, linke und neutrale Kategorien. Mittels einer Verrechnungsmethode, die sowohl die Anzahl als auch die Häufigkeit des Auftauchens der unterschiedlichen CMP-Kategorien in den verschiedenen Wahlprogrammen berücksichtigt (Methode ,d’ bei Linhart und Shikano 2007a) und linke gegen rechte Aussage innerhalb jeder Hauptdimension neutralisiert, schätzen sie für den Zeitraum zwischen 1949 und 2002 für alle zu der entsprechenden Periode im
186
Bundestag vertretenen Parteien deren Positionen in einem zweidimensionalen Politikraum ab. Zusätzlich zu den Parteipositionen selbst geben die Autoren an, wie stark die entsprechenden Daten mit Unsicherheit behaftet sind (Konfidenzintervalle um die jeweiligen Positionen). Dies erlaubt es für meine spätere Analyse, nicht nur Aussagen über Policy-Nutzenanteile verschiedener Parteien in unterschiedlichen Koalitionen zu treffen, sondern zusätzlich die Robustheit der entsprechenden Ergebnisse zu überprüfen. Die subjektive Gewichtung (Interesse) der beiden Hauptpolitikdimensionen durch die Parteien zu dem jeweiligen Zeitpunkt kann analog von Linhart und Shikano (2007a: 16f) übernommen werden. Die Ämteraufteilungen schließlich, wie sie die Koalitionsparteien im Untersuchungszeitraum vornahmen, werden in Tabelle 3 zusammengefasst. Hierbei werden die 24 in Tabelle 2 beschriebenen Fälle gegebenenfalls in weitere Unterfälle unterteilt, wenn die Aufteilung der Kabinettsposten sich während einer Regierung änderte. Einen neuen Unterfall zähle ich dann, wenn sich das Verhältnis der Kabinettsposten unter den Koalitionspartnern ändert. Da dieses Verhältnis allein auf der Anzahl, nicht aber auf der Art der Kabinettsposten beruht, wird kein neuer Unterfall gezählt, wenn ein Minister durch einen Parteikollegen ausgetauscht wird, oder wenn die Koalitionspartner die Ministerien umverteilen, die Relation aber gleich bleibt. Die Frage, ob ein neuer Unterfall – also eine Veränderung der Anteile an Kabinettsposten innerhalb einer Regierung – aufgrund von Nachverhandlungen der Koalitionsparteien entsteht oder aus anderen Gründen, kann nicht allgemeingültig beantwortet werden. Es gibt Fälle, in denen ein neues Ministerium geschaffen (z.B. das Umweltministerium 1986 – Unterfall 19iii) oder aufgelöst (z.B. das Postministerium 1997 – Unterfall 22ii) wurde. In solchen Fällen sind Änderungen des Verhältnisses der Ämteraufteilung zwischen den Koalitionsparteien im Vergleich zu vorher unvermeidbar. In anderen Fällen gab es möglicherweise bewusste Kabinettsumbildungen, die zugunsten eines und zulasten eines anderen Koalitionspartners gingen (1956 verlor die FVP das Justizministerium ohne Ausgleich an die DP – Unterfall 4ii –; 1965 verlor die FDP das Justizministerium an die CDU – Unterfall 8ii). Gerade der Justizministerwechsel von der FVP zur DP 1956 lässt sich gut mit einer Anpassung erklären, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die FVP eine deutlich kleinere Fraktion stellte als die FDP ursprünglich gestellt hatte, als die Koalitionsverhandlungen 1953 stattfanden. Während die FDP zunächst der zweitgrößte Koalitionspartner war und daher mehr Ämter beanspruchen konnte als die kleinere DP, stellte die FVP weniger Abgeordnete als die DP, was eine Neuaufteilung der Ämter rechtfertigen 187
könnte. Tabelle 3 weist alle Fälle und Unterfälle des Untersuchungszeitraums aus. Zusätzlich zu der Anzahl der Kabinettsposten, die die Regierungsparteien jeweils stellten, ist in Klammern die Größe der jeweiligen Fraktion zum Zeitpunkt des Beginns eines neuen (Unter-)Falls angegeben. 3 Ämter- und Policy-Motivation nach Sened Zunächst ganz allgemein betrachtet, setzt sich der Nutzen einer Partei i 5 nach Sened (1996) additiv zusammen aus einem Anteil uoff , der der Ämteri Motivation von Parteien Rechnung trägt, und einem Anteil upol i (o), der von einem Politikergebnis o abhängt und die Policy-Motivation berücksichtigt: pol pol off ui (uoff i , ui (o)) = αi ui + βi ui (o).
(1)
Das Verhältnis von Ämter- und Policy-Motivation wird beschrieben durch pol das Partei-spezifische Faktorenpaar (αi , βi ), mit dem uoff in der i bzw. ui Nutzenfunktion gewichtet werden. Interessiert man sich für den Grad der Ämter- bzw. Policy-Motivation einer Partei, so ist es sinnvoll, die Summe der Gewichte zu normieren. Ferner seien ,Antimotivationen’ ausgeschlossen, so dass gilt: αi + βi = 1; αi , βi ≥ 0 für alle i. (2) uoff i kann hierbei als Anteil an Regierungsämtern (Ministerien) operationalisiert werden, upol i (o) entspricht üblicherweise der negativen (quadrierten) Distanz eines Punktes o im Politikraum zum Idealpunkt yi der Partei i. Eine Partei, die nicht an der Regierung beteiligt ist, erhält keinen Nutzen aus Regierungsämtern, wird aber andererseits auch nicht für die Regierungspolitik verantwortlich gemacht, so dass für Oppositionsparteien ui = 0 angenommen wird (Sened, 1996, im Gegensatz zu Baron und Diermeier, 2001). 3.1 Der Ämternutzen-Anteil Für reale Regierungskoalitionen ist die Verteilung der Ämter bekannt (vgl. z.B. Müller und Strøm, 2003). Für diese Koalitionen kann uoff i direkt als relative Anzahl an Kabinettsmitgliedern operationalisiert werden. Erhält Partei i in einer Koalition C ∗ genau k von K Kabinettsposten, so wird ihr Ämternutzen angenommen als ∗ uoff i (C ) = k/K. 5
off als englische Abkürzung für office.
188
(3)
Reg.Nr.
UnterKanzler fall
1 2
i
Anzahl Kabinettsposten (Fraktionsstärke) Regierungskoalition
CDU/ CSU
Adenauer
CDU/CSU-FDP-DP
Adenauer
CDU/CSU-FDP-DPGB/BHE
Adenauer
CDU/CSU-FDP-DP
Adenauer
CDU/CSU-DP-FVP
8 (140) 10 (244) 12 (244) 14 (251) 13 (251) 13 (251) 12 (253) 15 (270) 17 (271) 15 (242) 15 (241) 15 (241) 15 (241) 18 (241) 18 (245) 18 (245) 11 (245)
ii 3
i ii
4
i ii
5
Adenauer
CDU/CSU-DP
6
Adenauer
CDU/CSU
Adenauer
CDU/CSU-FDP
Erhard
CDU/CSU-FDP
9
Erhard
CDU/CSU-FDP
10
Erhard
CDU/CSU
11
Kiesinger
CDU/CSU-SPD
Brandt
SPD-FDP
13
Brandt
SPD-FDP
14
Schmidt
SPD-FDP
15
Schmidt
SPD-FDP
16
Schmidt
SPD-FDP
17
Schmidt
SPD
18
Kohl
CDU/CSU-FDP
Kohl
CDU/CSU-FDP
Kohl
CDU/CSU-FDP
7
i ii iii
8
i ii
12
i ii iii iv
19
i ii iii
20
i ii
21 22
i
Kohl
CDU/CSU-FDP
Kohl
CDU/CSU-FDP
Schröder
SPD-Grüne
ii 23
i ii
24
Schröder
SPD-Grüne
SPD
FDP
FVP
Grüne
3 (52) 4 (48) 4 (47) 4 (49) 4 (49)
2 (17) 2 (15) 2 (15) 2 (15) 2 (15) 2 (16) 3 (16) 2 (17)
4 (14) 2 (13)
5 (67)
5 (67) 5 (67) 4 (66) 5 (49)
9 (202) 12 (224) 11 (224) 12 (223) 11 (222) 13 (230) 12 (230) 12 (214) 13 (218) 13 (215)
13 (226) 13 (244) 14 (242) 15 (242) 15 (223) 16 (223) 15 (319) 15 (294) 14 (295)
DP
3 (30) 3 (27) 3 (27) 3 (26) 5 (41) 4 (41) 4 (39) 4 (53)
GB/ BHE
2 (27) 2 (27)
parteilos 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.) 1 (.)
1 (.) 1 (.)
4 (53) 3 (34) 3 (34) 3 (34) 4 (46) 4 (46) 5 (79) 3 (47) 3 (47) 12 (297) 11 (297) 11 (251)
3(47) 3 (47) 3 (55)
1 (.) 1 (.)
Tabelle 3: Regierungen, aggregierte Ämterverteilungen und Sitzstärken in Deutschland (1949 bis 2002) 189
Für hypothetische Alternativkoalitionen kann prinzipiell jede Ämterverteilung angenommen werden, allerdings ist für die Bundesrepublik auffällig, dass die Verteilung der Ämter in sehr starker Anlehnung an die relative Sitzstärke der Koalitionspartner im Parlament geschieht (vgl. Linhart et al., 2008). Da dieses Phänomen nicht oder nur sehr bedingt über Verhandlungsspiele (etwa mit Hilfe von Machtindizes oder des bargaining sets; vgl. Schofield 1978) erklärbar ist, liegt der Schluss nahe, dass die proportionale Aufteilung (Gamson, 1961) in Deutschland als allgemeine Norm akzeptiert ist, von der zu starkes Abweichen als nicht legitim angesehen wird. Maximal beobachtete Abweichungen von der Gamson-Aufteilung überschritten in Deutschland auf Bundesebene bisher nie den Wert von 20.9 Prozentpunkten (bzw. 19.3 Prozentpunkten, wenn parteilose Minister den ihnen nahestehenden Fraktionen zugeordnet werden). Sieht man von den Regierungen der ersten beiden Wahlperioden ab, in denen diese Norm möglicherweise noch nicht etabliert war, wird sogar eine Abweichung von 12.6 Prozentpunkten nicht überschritten. Aufgrund dieser empirischen Ergebnisse schließe ich auch für die hypothetischen Alternativkoalitionen Ämterverteilungen aus, die außerhalb des real vorkommenden Rahmens für Abweichungen von der Gamson-Regel liegen, um so eine realistische Vergleichsbasis zu schaffen. Der Ämternutzen einer Partei i in einer hypothetischen Koalition C wird daher abgeschätzt als uoff (4) i (C) = si /SC , wobei si für die Anzahl der Parlamentssitze von Partei i steht und SC die kumulierte Anzahl der Sitze aller Koalitionsparteien bezeichnet. 3.2 Der Policynutzen-Anteil Der Policynutzen einer Partei i mit Idealposition yi über einen Punkt o des Ergebnisraums O basiert wie oben erwähnt auf der negativen (quadrierten) Distanzfunktion. Die beiden Haupt-Politikdimensionen j = {1, 2} werden dabei mit dem Interesse xij der jeweiligen Partei i an dieser Dimension gewichtet. Um den (erwarteten) Policynutzen für i an einer Koalition C zu ermitteln, folge ich Austen-Smith und Banks (1988) bzw. Schofield und Sened (2006), die in einem mehrstufigen Spiel bei den Koalitionsverhandlungen bereits den legislativen Prozess antizipieren. Das heißt, bei gegebenem legislativem Entscheidungsprozess kann jeder Koalition C eine Wahrscheinlichkeitsfunktion πC (o) zugeordnet werden, die jedem Punkt o ∈ O die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung im legislativen Prozess zuweist.
190
Der Policynutzen-Anteil einer Partei i in einer Koalition C lässt sich somit probabilistisch als Erwartungsnutzen beschreiben über upol (C) = πC (o) · ui (o)do i o∈O
=−
πC (o) · ( o∈O
2
xij · (yij − oj )2 )do.
(5)
j=1
In bisherigen Anwendungen der Theorie gingen die Autoren so vor, dass sie ein legislatives Entscheidungsmodell zugrunde legten 6 , das den Lösungsraum auf eine Teilmenge des Ergebnisraums L ⊆ O einschränkt. Alle Punkte innerhalb dieser Lösungsmenge L werden hierbei als gleich wahrscheinliche mögliche Ergebnisse eines legislativen Prozesses gesehen; allen Punkten außerhalb von L wird eine Wahrscheinlichkeit des Eintreffens von 0 zugeordnet. Bezeichnet ||L|| die Größe (das Volumen) der Lösungsmenge, so kann (5) spezifiziert werden als upol i (C)
=−
2 ( xij · (yij − oj )2 )do/||L||.
(5)’
o∈L j=1
Diese Modellierung als Einbindung in ein mehrstufiges Spiel trägt der Tatsache Rechnung, dass auch im Fall von Koalitionsverträgen ein ausgehandelter Koalitionsvertrag keine Policy für eine komplette Legislaturperiode abdecken kann, sondern dass im Lauf des politischen Prozesses stets neue politische Issues auftauchen, mit denen sich die Parteien befassen müssen. Wissend, dass ein Koalitionsvertrag nur einen kleinen Teil der politischen Issues der folgenden Legislaturperiode abdecken kann, bemessen Parteien somit den Nutzen einer Koalition nicht in Hinblick auf einen im politischen Raum verortbaren Koalitionsvertrag, sondern antizipieren Politikergebnisse eines später folgenden legislativen Prozesses. In der Frage nach dem geeigneten Lösungskonzept L weiche ich von den in Fußnote 6 zitierten Autoren ab. In Deutschland werden wechselnde Mehrheiten üblicherweise durch Koalitionsverträge ausgeschlossen. Eine Modellierung des legislativen Prozesses über das uncovered set oder das political heart würde aber gerade implizieren, dass wechselnde Mehrheiten üblich sind, und somit der Realität des 6
Sened (1996) sowie Giannetti und Sened (2004) legen etwa das uncovered set (Shepsle und Weingast, 1984) zugrunde; Schofield und Sened (2006) verwenden das political heart (Schofield, 1985, 1993, 1996).
191
deutschen Gesetzgebungsprozesses widersprechen. Zusätzlich ist bei diesen beiden Konzepten problematisch, dass das Ergebnis des Koalitionsbildungsprozesses keinerlei Einfluss auf die späteren legislativen Entscheidungen im Parlament besitzt. Dies entspricht nur sehr bedingt dem Sinn eines zweistufigen Modells, das auf der Stufe des Koalitionsbildungsprozesses die Ergebnisse der legislativen Stufe antizipiert. Aus diesen Gründen scheint es mir angemessener, die Pareto-Menge zur Antizipation eines späteren legislativen Prozesses zugrunde zu legen. Mehr als Pareto-Suboptimalität kann unter dem oben beschriebenen Szenario nicht ausgeschlossen werden. Zudem erfüllt die Pareto-Menge die Eigenschaft, direkt vom Ergebnis C des Koalitionsbildungsprozesses abzuhängen. Bezeichnet PC die Pareto-Menge7 einer Koalition C, so kann (5)” weiter präzisiert werden als upol i (C) = −
(
2
xij · (yij − oj )2 )do/||PC ||.
(5)”
o∈PC j=1
Diese Operationalisierung hat neben ihrer theoretischen Stringenz den Vorteil, dass sich der Policynutzen-Anteil nicht nur für reale, sondern auch für jede beliebige hypothetische Koalition direkt aus den Idealpositionen der beteiligten Parteien ermitteln lässt, während etwa Koalitionsverträge nur für solche Koalitionen vorliegen, die sich tatsächlich gebildet haben, und ihre Verortung in einem politischen Raum eine zusätzliche Fehlerquelle bei der Analyse darstellt. Zusammengefasst kann die Sened-Nutzenfunktion aus (1) für die Bundesrepublik Deutschland also spezifiziert werden als pol ui (C) = ui (uoff i (C), ui (C)) 2 = αi si /SC − βi ( xij · (yij − oj )2 )do/||PC ||.
(6)
o∈PC j=1
Es bleibt anzumerken, dass der kombinierte Erwartungsnutzen einer Partei i durch eine Koalition C somit sowohl positive als auch negative Werte annehmen kann. Dies entspricht der – aus meiner Sicht realistischen 7
Um exakt zu sein: Ich verwende hier das kartesische Produkt der issue by issue Paretomengen. Bei einer Antizipation möglicher zukünftiger politischer Entscheidungen ist in der Regel nicht davon auszugehen, dass diese legislativen Entscheidungen immer beide Hauptpolitikdimensionen betreffen.
192
– Sichtweise, dass im Politikraum nah beieinander positionierte Parteien Koalitionen untereinander insgesamt positiv bewerten, während Parteien im Gegenzug eher die Opposition bevorzugen (Nutzen von 0), als mit im Politikraum weit entfernten Parteien zu koalieren8 . Ämter können diesem Politikverständnis nach somit als Seitenzahlungen aufgefasst werden, um Policy-Verluste durch Abweichen von der eigenen Idealposition auszugleichen. 4 Die Erklärungskraft rein ämter- und rein policy-orientierter Konzepte sowie einer kombinierten Theorie Vor der Anwendung einer kombinierten Nutzenfunktion, die sowohl die Ämter- als auch die Policy-Motivation der Parteien berücksichtigt, erachte ich es als sinnvoll, die Strategien rein ämter-orientierter und rein policyorientierter Akteure zu untersuchen, um einen Eindruck darüber zu gewinnen, inwiefern die beiden Motivationstypen ein Spannungsfeld für die Parteien darstellen oder kongruent verlaufen (vgl. zu diesem Vorgehen Linhart und Shikano 2007b). Gleichzeitig wird hierbei die Erklärungskraft der auf einseitigen Nutzenfunktionen basierenden Theorien gemessen. 4.1 Ämternutzen-Anteile für reale und fiktive minimale Gewinnkoalitionen Zunächst beschränke ich mich auf den Ämternutzen-Anteil der Parteien, um die Erklärungskraft einer rein ämter-orientierten Koalitionstheorie beurteilen zu können. Hierfür ermittle ich die Nutzenwerte der Regierungsparteien in realen und fiktiven Koalitionen. Wie oben beschrieben entspricht dabei der Ämternutzen dem relativen Anteil an Kabinettsposten (Formel 3) bzw. der relativen parlamentarischen Stärke einer Partei innerhalb einer Koalition (Formel 4). Die Tabellen 4 bis 7 geben einen Überblick über die Ämternutzen der im jeweiligen Bundestag vertretenen Parteien in verschiedenen Koalitionen. Die jeweilige reale Regierung wird immer berücksichtigt, bei den Alternativen beschränke ich mich auf minimal gewinnende Koalitionen. Real vorgekommene Regierungen tauchen in den Tabellen zwei mal auf, zum einen – in Analogie mit der Abschätzung für fiktive Alternativen – mit den der Gamson-Regel entsprechenden Werten, zum anderen mit den 8
Nebenbei bemerkt können so auch Minderheitsregierungen rational erklärt werden, wenn alle Mehrheitskoalitionen auf weit voneinander entfernten Parteien beruhen.
193
Nutzenwerten hinsichtlich der tatsächlichen Aufteilungen. Die realen Regierungen und Aufteilungen sind hierbei mit (∗ ) gekennzeichnet. Bei mehreren Unterfällen entspricht die Ämterverteilung der jeweils ursprünglichen Ämteraufteilung einer Regierung. Die parteilosen Kabinettsmitglieder rechne ich denjenigen Regierungsparteien zu, die für deren Berufung verantwortlich waren. Datenbasis sind die 24 in Tabelle 2 aufgeführten Regierungen des Untersuchungszeitraums. Aufgrund dessen, dass die 24 untersuchten Regierungen vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Parteiensysteme gebildet wurden, diskutiere ich verschiedene Gruppen von Fällen jeweils separat. Einen Sonderfall bildet sicherlich die erste Regierung Adenauer, die zum Zeitpunkt eines Zehn-Parteien-Systems regierte. Aus der großen Anzahl an Parteien resultiert eine noch größere Anzahl an möglichen Koalitionen. Selbst wenn man sich auf minimale Gewinnkoalitionen beschränkt, sind 26 verschiedene Varianten möglich (Tabelle 4). In den Fällen 2 bis 6 folgt eine Periode, in der sich das Viel-Parteien-System nach und nach auf ein Drei-Parteien-System reduzierte. Koalitionstheoretisch ist diese Phase vor allem dadurch charakterisiert, dass die CDU/CSU eine parlamentarische absolute Mehrheit besaß (Tabelle 5). Anschließend folgt eine relativ lange Zeit eines stabilen Drei-Parteien-Systems, ohne dass eine der Parteien eine absolute Mehrheit erringen konnte. Somit besteht die Menge an minimalen Gewinnkoalitionen jeweils aus den drei möglichen Zwei-ParteienKoalitionen (Fälle 7 bis 18, Tabelle 6). Eine inzwischen ebenso lange Periode bilden die übrigen Fälle (19 bis 24), in denen vier oder fünf Parteien im Parlament vertreten waren. Aus koalitionstheoretischer Sicht bedeutet das, dass nur noch bestimmte Zwei-Parteien-Koalitionen Gewinnkoalitionen sind – nicht mehr alle wie in der dritten Periode – und dass auch potenziell Drei-Parteien-Koalitionen minimal gewinnend sein können (Tabelle 7). Zunächst fokussiere ich auf Tabelle 4, die die Situation der ersten Legislaturperiode zeigt. Aus der Sicht einer reinen Ämter-Orientierung unter Annahme der Gamson-Regel fällt zunächst auf, dass es – mit Ausnahme der großen Koalition - für die Parteien kaum eine Rolle spielt, an welcher minimal gewinnenden Regierung sie beteiligt sind, solange sie beteiligt sind. Die Unterschiede zwischen einzelnen abgeschätzten Ämternutzen sind für die Parteien jeweils so gering, dass sie leicht in den Spielraum der Abweichung von der Proporzregel fallen. Zusätzlich muss beachtet werden, dass zwar theoretisch jede Aufteilung an Kabinettsposten möglich ist, praktisch die Anzahl der Minister aber begrenzt ist. Das heißt z.B. für die FDP, dass der Unterschied zwischen der für sie schlechtesten Koalition, an der sie beteiligt ist (zusam194
CDU/ CSU C F Dp* .6429 CS .5166 C F Dp .6699 C F Bp .6699 C F Zp .6931 C F Kp .6763 C F Wv .6863 S F Dp Bp 0 S F Dp Zp 0 S F Dp Kp 0 S F Dp Wv 0 S F Dp Dr 0 S F Bp Zp 0 S F Bp Kp 0 S F Bp Wv 0 S F Bp Dr 0 S F Zp Kp 0 S F Zp Wv 0 S F Kp Wv 0 S F Kp Dr 0 S F Wv Dr Sw 0 C Dp Bp Zp Kp Wv .6635 C Dp Bp Zp Kp Dr .6829 C Dp Bp Zp Wv Dr .6931 C Dp Bp Kp Wv Dr .6763 C Dp Bp Kp Wv Sw .6931 S Dp Bp Zp Kp Wv 0 Fall 1
SPD
FDP
DP
BP
Z
KPD
WAV
0 .4834 0 0 0 0 0 .6037 .6238 .6093 .6179 .6359 .6238 .6093 .6179 .6359 .6298 .639 .6238 .6422 .6485 0 0 0 0 0 .6485
.2143 0 .2488 .2488 .2574 .2512 .2549 .2396 .2476 .2419 .2453 .2524 .2476 .2419 .2453 .2524 .25 .2537 .2476 .2549 .2574 0 0 0 0 0 0
.1429 0 .0813 0 0 0 0 .0783 .081 .0791 .0802 .0825 0 0 0 0 0 0 0 0 0 .0806 .0829 .0842 .0821 .0842 .0842
0 0 0 .0813 0 0 0 .0783 0 0 0 0 .081 .0791 .0802 .0825 0 0 0 0 0 .0806 .0829 .0842 .0821 .0842 .0842
0 0 0 0 .0495 0 0 0 .0476 0 0 0 .0476 0 0 0 .0481 .0488 0 0 0 .0474 .0488 .0495 0 0 .0495
0 0 0 0 0 .0725 0 0 0 .0698 0 0 0 .0698 0 0 .0721 0 .0714 .0735 0 .0711 .0732 0 .0725 .0743 .0743
0 0 0 0 0 0 .0588 0 0 0 .0566 0 0 0 .0566 0 0 .0585 .0571 0 .0594 .0569 0 .0594 .058 .0594 .0594
DKPDRP 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 .0291 0 0 0 .0291 0 0 0 .0294 .0297 0 .0293 .0297 .029 0 0
SSW 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 .005 0 0 0 0 .005 0
Tabelle 4: Ämternutzen der deutschen Parteien im Hinblick auf verschiedene Koalitionen 1949 men mit SPD, DP und BP), und der besten (zusammen mit CDU/CSU und Zentrum oder zusammen mit SPD, WAV, DKP-DRP und SSW), gar nicht ins Gewicht fällt, wenn man Rundungen auf diskrete Aufteilungen berücksichtigt. Damit diese Differenz von 0.018 überhaupt relevant wird, müsste ein Kabinett aus 56 oder mehr Mitgliedern bestehen. Die übrigen Parteien weisen Differenzwerte auf ähnlichem Niveau auf, etwa die CDU/CSU von 0.0296 oder die DP von 0.0059. Einzig der Differenzwert der SPD von 0.0448 ist so hoch, dass ab einem 23-Personen-Kabinett der Unterschied nach Aufund Abrunden tatsächlich einen faktischen Unterschied im Ämternutzen er-
195
Fall 2 3 4 5 6 2 bis 6
Koalition CDU/CSU C F Dp Gb* .5789 C F Dp* .7143 C Dp Fv* .7 C Dp* .8889 C* 1 C 1
FDP .2105 .1905 0 0 0 0
DP .1053 .0952 .1 .1111 0 0
GB/BHE .1053 0 0 0 0 0
FVP 0 0 .2 0 0 0
Tabelle 5: Ämternutzen der deutschen Parteien bezogen auf die Regierungskoalitionen (Reg. 2 bis 6) geben kann. Dennoch liegt auch dieser Wert deutlich im Toleranzwert der Abweichungen um die proportionale Aufteilung. Deutlich schlechter gestellt hinsichtlich des Ämternutzens sind die beteiligten Parteien lediglich in der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Gemäß der Gamson-Regel hätten die beiden Parteien in einer großen Koalition etwa zwei bis drei Ämter9 weniger zu erwarten als in den übrigen Koalitionen. Von einer reinen Ämter-Orientierung ausgehend, könnte hier nur die große Koalition als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden; alle übrigen minimalen Gewinnkoalitionen bilden unter Berücksichtigung diskreter Rundungen Gleichgewichtslösungen und sind somit gleich wahrscheinlich. Die CDU/CSU-FDP-DP-Koalition, die sich faktisch gebildet hat, befindet sich somit im Gleichgewicht, ist aber nur eine von vielen Gleichgewichtslösungen. Eine letzte Anmerkung gilt der tatsächlichen Ämteraufteilung unter den Parteien: Für 1949 kann die allgemein verbreitete Regel, dass kleinere Parteien gegenüber einer rein proportionalen Aufteilung leicht begünstigt werden, nicht bestätigt werden. Zwar ist die Union leicht unterrepräsentiert, die FDP ist aber in stärkerem Maße unterrepräsentiert, während der DP gemäß der Proportionalregel nur etwa die Hälfte der tatsächlich erhaltenen Ämter zustehen würde. Dies mag möglicherweise dadurch erklärbar sein, dass man auch sehr kleinen Parteien in der Regierung mindestens zwei Posten anbietet. Überraschend ist dabei dennoch, dass dies nicht auf Kosten des großen Koalitionspartners geht, der für seinen Kanzlerkandidaten eine Mehrheit suchen muss, sondern vor allem auf Kosten des anderen relativ kleinen Koalitionspartners FDP. 9
Berechnung auf Grundlage der 1949 tatsächlich verteilten 14 Kabinettsposten.
196
Fall 7 CDU/CSU SPD C F* .7619 0 CS .5602 .4398 CF .7832 0 SF 0 .7393 Fall 10 C* 1 0 CS .5481 .4519 CF .8333 0 SF 0 .8048 Fall 13 S F* 0 .7222 CS .4945 .5055 CF .8459 0 SF 0 .8487 Fall 16 S F* 0 .7647 CS .509 .491 CF .81 0 SF 0 .8044
FDP Fall 8 CDU/CSU SPD .2381 C F* .75 0 0 CS .5592 .4408 .2168 C F .7825 0 .2607 S F 0 .7393 Fall 11 0 C S* .55 .45 0 CS .5481 .4519 .1667 C F .8333 0 .1952 S F 0 .8048 Fall 14 .2778 S F* 0 .75 0 CS .4945 .5055 .1541 C F .8459 0 .1513 S F 0 .8487 Fall 17 .2353 S* 0 1 0 CS .5125 .4875 .19 CF .81 0 .1956 S F 0 .8022
FDP Fall 9 CDU/CSU SPD .25 C F* .7826 0 0 CS .5481 .4519 .2175 C F .8333 0 .2607 S F 0 .8048 Fall 12 0 S F* 0 .8125 0 CS .5193 .4807 .1667 C F .8897 0 .1952 S F 0 .8819 Fall 15 .25 S F* 0 .75 0 CS .5317 .4683 .1541 C F .8617 0 .1513 S F 0 .8459 Fall 18 0 C F* .7647 0 0 CS .5125 .4875 .19 CF .81 0 .1978 S F 0 .8022
FDP .2174 0 .1667 .1952 .1875 0 .1103 .1181 .25 0 .1383 .1542 .2353 0 .19 .1978
Tabelle 6: Ämternutzen der deutschen Parteien bezogen auf die Regierungskoalitionen und mögliche Alternativkoalitionen (Reg. 7 bis 18) Im Gegensatz zur Koalitionsbildung 1949 sind die Koalitionen des zweiten Untersuchungszeitraums (vgl. Tabelle 5) durch die Ämter-Motivation der Parteien nicht erklärbar. Es handelt sich bei allen Regierungen mit Ausnahme der letzten um übergroße Koalitionen. Die CDU/CSU könnte mit ihrer absoluten Mehrheit alleine regieren, was unter Annahme einer reinen Ämternutzenfunktion eine dominante Strategie für sie darstellt. Dennoch entscheidet sie sich erst 1960 mit der Regierung Adenauer IIIb, diese dominante Strategie zu verfolgen. Erklärungen für diese Ergebnisse der jeweiligen Koalitionsbildungen können sicher gefunden werden, die Theorie der Ämternutzen-Maximierung kann hier jedoch keinen Beitrag leisten und scheitert. Die dritte Untersuchungseinheit bezieht sich wie oben erwähnt auf die Periode des Drei-Parteien-Systems ohne absolute Mehrheiten. Tabelle 6 zeigt die tatsächlichen Ämternutzen sowie die hypothetischen Nutzenwerte gemäß der Gamson-Regel. Hier ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der Regierung Adenauer I: Die große Koalition verspricht beiden beteiligten
197
Parteien einen deutlich niedrigeren Ämternutzen als eine Koalition mit der FDP, während es für die FDP im Großen und Ganzen keinen Unterschied macht, mit welcher der beiden großen Parteien sie koaliert (vgl. auch Abbildung 1 ). Relativ große Unterschiede zwischen einer CDU-geführten und einer SPD-geführten Regierung entstehen für die FDP noch in den Fällen 7 bis 11 (Werteunterschiede bis zu 0.0439). Die Entscheidung für eine Koalition mit der Union bekommt die FDP aber mit einem überproportionalen Ämternutzen (nahezu) kompensiert. In der sozialliberalen Ära (Fälle 12 bis 16) und unter der Regierung Kohl I (Fall 18) sind die Ämternutzenunterschiede für die FDP so minimal, dass hier keine Aussage getroffen werden kann, ob eine CDU/CSU-FDP-Regierung oder eine SPD-FDP-Regierung hinsichtlich der Ämter-Motivation der FDP wahrscheinlicher ist. Auffällig ist für diese Fälle aber, dass die real vorkommenden Aufteilungen die FDP deutlich gegenüber der Gamson-Regel besser stellen, mit Abweichungen von bis zu 12 Prozentpunkten (Fall 13). Sieht man von den beiden Minderheitsregierungen dieses Zeitraums ab (Fall 10 und Fall 17), die lediglich eine Übergangsphase bildeten, bis eine neue Koalition regierte, bleibt lediglich die Regierung Kiesinger erklärungsbedürftig. Hier ist vor allem in den nächsten Abschnitten zu überprüfen, inwiefern eine Policy-Motivation den niedrigen Ämternutzen der beiden großen Parteien ausgleichen kann. Für den vierten Untersuchungszeitraum (vgl. Tabelle 7) schließlich ist zunächst festzuhalten, dass sich ausschließlich minimale Gewinnkoalitionen und ausschließlich Zwei-Parteien-Koalitionen gebildet haben (obwohl hier zum Teil minimal gewinnende Drei-Parteienkoalitionen existieren). Sieht man wieder von kleineren Schwankungen im Wertebereich ab, können dieselben Feststellungen wie oben getroffen werden: Die große Koalition ist aus Sicht der Ämternutzen-Maximierung für Union und SPD eine ungünstige Variante; welche der ,kleinen’ Koalitionen sich bildet, ist für die beteiligten Parteien nahezu unerheblich, so lange sie überhaupt an der Regierung beteiligt sind. Erwähnenswert ist an dieser Stelle allerdings, dass es auch keinen Unterschied macht, ob nur zwei oder drei Parteien an einer Regierung beteiligt sind. Da in dem Untersuchungszeitraum keine großen Koalitionen gebildet wurden, befinden sich alle empirisch beobachtbaren Regierungskoalitionen im Gleichgewicht, und keiner der Fälle widerspricht der Theorie der Ämternutzen-Maximierung. Auch hier ist abschließend festzustellen, dass die jeweils kleineren Koalitionspartner bei der Ämteraufteilung überdurchschnittlich gut abschneiden: Sie erhalten zwischen 2.89 (Fall 22) und 6.52 Prozentpunkte (Fall 19) mehr Ämter als ihnen gemäß der Gamson-Regel zustehen würden. Es bleibt aber auch festzustellen, dass 198
Fall 19 C F* CS CF CG SFG Fall 21 C F* CS CF CP SFP Fall 23 S G* CS FS SG CFG
CDU/ CSU .8125 .5584 .8777 .9004 0
SPD
FDP
Grüne
PDS
Fall 20
0 .4416 0 0 .7598
.1875 0 .1223 0 .1339
0 0 0 .0996 .1063
0 0 0 0 0
.75 .5717 .8015 .9494 0
0 .4283 0 0 .7134
.25 0 .1985 0 .2358
0 0 0 0 0
0 0 0 .0506 .0507
0 .452 0 0 .7313
.8125 .548 .8735 .8634 0
0 0 .1265 0 .1284
.1875 0 0 .1366 .1403
0 0 0 0 0
C F* CS CF CG SFG Fall 22 C F* CS CF CG SFG Fall 24 S G* CS CG SG
CDU/ CSU .7895 .5452 .829 .8415 0
SPD
FDP
Grüne
PDS
0 .4548 0 0 .6788
.2105 0 .171 0 .1679
0 0 0 .1585 .1533
0 0 0 0 0
.8333 .5385 .8622 .8571 0
0 .4615 0 0 .7241
.1667 0 .1378 0 .1351
0 0 0 .1429 .1408
0 0 0 0 0
0 .497 .8185 0
.7857 .503 0 .8203
0 0 0 0
.2143 0 .1815 .1797
0 0 0 0
Tabelle 7: Ämternutzen der deutschen Parteien bezogen auf die Regierungskoalitionen und mögliche Alternativkoalitionen (Reg. 19 bis 25) diese Besserstellung der kleineren Partner sich im Vergleich zum dritten Untersuchungszeitraum stark relativiert hat. Möglicherweise ist dieser Effekt darauf zurückzuführen, dass die beiden großen Parteien nun nicht eine kleine Partei als möglichen Koalitionspartner umwerben müssen, sondern mehrere kleine potenzielle Koalitionspartner vorhanden sind, so dass nicht nur ein Wettbewerb der großen Parteien um die kleinen, sondern auch ein Wettbewerb der kleinen um die großen Parteien entsteht. Abbildung 1 verdeutlicht nochmals zusammengefasst die wichtigsten Ergebnisse dieses Teilabschnitts, indem in ihr die Ämternutzenanteile der Parteien hinsichtlich der wichtigsten (potenziellen) Koalitionen seit 1961 (Fälle 7 bis 24) gezeigt werden. Es ist deutlich erkennbar, dass sowohl die Union als auch die SPD stets deutlich höhere Ämternutzen-Werte erhalten, wenn sie keine große Koalition bilden. Hierbei spielt es keine Rolle, welche der ,kleinen’ Koalition CDU/CSU bzw. SPD bilden. Lediglich Drei-ParteienKoalitionen erbringen etwas schlechtere Werte für die großen Parteien (Fälle 19 und 20), stellen dann aber immer noch die beste Alternative für die jeweilige Partei dar. Kleine Parteien sind gemäß ihrem Ämternutzen nahe-
199
1
0 7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
uC(CF)
uC(CS)
uC(CG)
uS(SF)
uS(CS)
uS(SG)
uS(SFG)
uF(CF)
uF(SF)
uF(SFG)
uG(CG)
uG(SG)
uG(SFG)
24
Abbildung 1: Ämternutzen-Anteile ausgewählter minimaler Gewinnkoalitionen ab 1961
zu indifferent zwischen den verschiedenen möglichen Koalitionen, an denen sie beteiligt sind. Mit Blick auf die Erklärungskraft der rein ämter-orientierten Analyse kann zusammengefasst werden, dass zwei Fälle aufgrund situativer Besonderheiten nicht diskutiert wurden, da sie nicht dem regulären Koalitionsbildungsmechanismus der BRD entsprechen. Von den verbleibenden 22 Fällen können immerhin 17 (77.3%) über Ämter-Motivation erklärt werden, fünf weitere aber nicht. Dies sind vier übergroße Koalitionen aus dem zweiten Untersuchungszeitraum sowie die große Koalition unter Kiesinger. Eingeschränkt werden muss dieses Resultat allerdings insofern, als ein Fokus auf die Ämter-Orientierung die Erklärungskraft gegenüber dem Konzept der minimalen Gewinnkoalition nicht wesentlich erhöht, da sich bei Ignorieren von Minimal-Unterschieden nahezu alle minimalen Gewinnkoalitionen im Gleichgewicht befinden – lediglich die große Koalition konnte jeweils ausgeschlossen werden.
200
4.2 Policynutzen-Anteile für reale und fiktive minimale Gewinnkoalitionen Nachdem die Ämternutzen-Anteile der realen sowie fiktiver minimaler Gewinnkoalitionen untersucht wurden, wende ich mich in diesem Teilabschnitt dem Policy-Anteil der Nutzenfunktion zu wie in Formel (5)” beschrieben. Tabelle 8 gibt zunächst einen Überblick über die Policynutzen-Anteile für den ersten Untersuchungszeitraum (Fall 1). Da im Gegensatz zu der Ämterverteilung die von Linhart und Shikano (2007a) ermittelten Idealpositionen der Parteien teilweise mit hoher Unsicherheit behaftet sind (erkennbar durch die Konfidenzintervalle um die Idealpositionen), sind in der Tabelle neben dem Erwartungsnutzenwerten gemäß Formel (5)” auch Werte angegeben, die die Robustheit der Ergebnisse beschreiben. Gemäß den von Linhart und Shikano angegebenen Konfidenzintervallen wurde für jeden vorliegenden Positionswert yij eine Normalverteilung N (yij , σij ) konstruiert, deren Standardabweichung σij aus den entsprechenden Konfidenzintervallen resultiert und deren Maximum über der eigentlichen Idealposition liegt. Eine Zufallsziehung aus jeder dieser Normalverteilungen führt zu einer N neuen Positionsmatrix (yij )ij , deren Einträge im Rahmen der Unsicherheit über die eigentlichen Idealpositionen der Parteien um die ursprüngliche Positionsmatrix (yij )ij schwanken. Diesen Vorgang wiederhole ich 1000 mal und erhalte somit 1000 zusätzliche Abschätzungen der Parteipositionen, die alle im Rahmen der Unsicherheit über die tatsächlichen Idealpositionen der Parteien realistische Schätzungen darstellen. Der Policynutzen-Anteil wird an dieser Stelle nicht nur für die ursprüngliche Positionsmatrix, sondern zusätzlich für jede der 1000 anderen abgeschätzten Positionsmatrizen bestimmt. Für eine Analyse, deren Ergebnisse als robust angesehen werden sollen, fordere ich, dass alle 1000 Einzelanalysen zu denselben Ergebnissen kommen bzw. dass nur vereinzelte Ausreißer vorhanden sind. Als Robustheitsmesser benutze ich einen Wert l(i, C), der für jede Partei i angibt, wie oft der gemessene Policynutzen-Anteil hinsichtlich einer Koalition C der maximal vorkommende Wert ist unter den Koalitionen, an denen i beteiligt ist. l ist 0, wenn dies nie der Fall ist, und l ist 1, wenn dies immer der Fall ist. Je stärker sich der l-Wert einer Partei 1 annähert (und die anderen l-Werte dieser Partei entsprechend gegen 0 gehen), desto robuster ist das Ergebnis. Die l-Werte sind über verschiedene Regierungen hinweg nicht vergleichbar, da sie stark von der Zuverlässigkeit der jeweiligen Daten abhängen und mit der Größe der Unsicherheit über die Idealpositionen abnehmen. Um über die verschiedenen Fälle hinweg vergleichen zu können,
201
gebe ich zusätzlich einen Index l∗ an, bei dem jedes l durch den maximalen l-Wert einer Partei geteilt wird, so dass mindestens eine der möglichen Koalitionen immer den Maximalwert 1 erreicht. Diese Koalition ist stets diejenige, die unabhängig von Robustheitsproblemen der Analyse der Theorie der Policy-Distanzminimierung entspricht. Je größer die Differenz zwischen dem l-Wert und dem zugehörigen l∗ -Wert ist, desto stärker ist das Ergebnis mit Unsicherheit behaftet, und desto vorsichtiger ist es zu interpretieren10 . Um Tabelle 8 nicht überzustrapazieren, sind die l- und l∗ -Werte hier nur für die Regierungsparteien CDU/CSU, FDP und DP angegeben. Aus Sicht der CDU/CSU und mit dem Fokus auf Policy-Motivation sind die Koalitionen mit der FDP und entweder der WAV oder dem Zentrum anzustreben. Eine Koalition mit FDP und DP kommt für sie an dritter Stelle, etwa ähnlich stark präferiert wie eine Koalition mit der FDP und der Bayernpartei. Alle anderen Koalitionen, darunter auch die große Koalition mit der SPD, sind für die CDU/CSU deutlich weniger wünschenswert als die vier erstgenannten Optionen. Die l-Werte deuten auf eine mit starker Unsicherheit behaftete Analyse hin: Der höchste Wert liegt gerade einmal bei 0.578, der dritthöchste Wert, den wir bei der Koalition finden, die sich tatsächlich gebildet hatte, immerhin noch bei 0.152. Vorsichtig interpretiert wäre also zu erwarten, dass die Union versucht, eine Koalition mit der FDP zu bilden und zusätzlich eine der vier Parteien WAV, Zentrum, DP oder BP einzubinden, mit einer Tendenz zur WAV. Diese Koalitionspräferenz ist insofern symmetrisch, als die FDP die gleichen vier Koalitionen am stärksten präferiert, und zwar auch in gleicher Reihenfolge. Die aus der Unsicherheit über die Idealpositionen resultierende Unsicherheit über die exakten Koalitionspräferenzen ist ebenfalls in gleichem Maße zu beobachten wie bei der CDU/CSU. Aus Sicht der Deutschen Partei sind CDU/CSU und FDP die Wunschpartner für eine Regierungsbildung. Der Policynutzen dieser Konstellation ist für die DP recht deutlich der höchste unter den möglichen minimalen Gewinnkoalitionen, der l-Wert bestätigt die Aussage als relativ robust. Für die DP käme bestenfalls mit eher geringer Wahrscheinlichkeit noch eine SDP-FDP-DP-BP-Koalition in Frage, die aber von der FDP eher unerwünscht ist. Durch die Analyse der Policy-Motivation kann die Menge 10
Kritiker mögen anführen, dass man in Fällen mit hohen Unsicherheiten die Ergebnisse einer Analyse überhaupt nicht mehr interpretieren kann. Die Kritik mag für Teile der Analyse zutreffen. Dieses Vorgehen ist aber ehrlicher, als auf Robustheitstests zu verzichten und Ergebnisse zu interpretieren, die so nicht interpretierbar sind.
202
Tabelle 8: Policynutzen der deutschen Parteien im Hinblick auf verschiedene Koalitionen 1949
203
-.1784 -.1758 -.1784 -.0711 .
C Dp Bp Kp Wv Dr
C Dp Bp Kp Wv Sw
S Dp Bp Zp Kp Wv
.
S F Wv Dr Sw
C Dp Bp Zp Wv Dr
.
S F Kp Dr
C Dp Bp Zp Kp Dr
.
S F Kp Wv
-.0711
.
S F Zp Wv
C Dp Bp Zp Kp Wv
. .
.
S F Bp Wv
S F Zp Kp
.
S F Bp Kp
S F Bp Dr
. .
.
S F Dp Wv
S F Bp Zp
.
S F Dp Kp
S F Dp Dr
.
C F Wv .
-.0046
C F Kp
S F Dp Zp
-.0694
C F Zp
S F Dp Bp
-.0167 -.0069
C F Bp
-.0116
CDU/ CSU -.0854
C F Dp*
CS
Fall 1
-.133
.
.
.
.
.
-.0846
-.1004
-.1251
-.0867
-.1251
-.1252
-.1409
-.1383
-.1422
-.1027
-.1194
-.1266
-.1204
-.1455
.
.
.
.
.
-.0641
SPD
.
.
.
.
.
.
-.1449
-.1892
-.1479
-.0708
-.1479
-.1904
-.1246
-.1423
-.1258
-.1636
-.0994
-.1312
-.1001
-.129
-.0118
-.1334
-.0142
-.0683
-.0455
.
FDP
-.2008
-.1923
-.2437
-.115
-.2437
-.1923
.
.
.
.
.
.
.
.
.
-.1137
-.082
-.2225
-.0788
-.0629
.
.
.
.
-.0436
.
DP
-.394
-.3817
-.4465
-.2237
-.4465
-.3817
.
.
.
.
.
-.2038
-.1694
-.3923
-.1641
.
.
.
.
-.1519
.
.
.
-.0827
.
.
BP
-.1047
.
.
-.149
-.1313
-.1002
.
.
.
-.0186
-.0679
.
.
.
-.1255
.
.
.
-.0862
.
.
.
-.0131
.
.
.
Z
-.2373
-.245
-.2287
.
-.2287
-.245
.
-.1639
-.112
.
-.112
.
.
-.242
.
.
.
-.2037
.
.
.
-.12
.
.
.
.
KPD
-.0682
-.0586
-.1192
-.1288
.
-.0586
-.0996
.
-.0503
-.0325
.
.
-.0779
.
.
.
-.0614
.
.
.
-.0142
.
.
.
.
.
WAV
.
.
-.2782
-.1368
-.2782
.
-.1534
-.3273
.
.
.
-.1335
.
.
.
-.1337
.
.
.
.
.
.
.
.
.
DKPDRP .
.
-.1551
.
.
.
.
-.0447
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
SSW
.
0
0
0
0
0
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.578
0
.216
.051
.152
.
0
0
0
0
0
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
1
0
.3737
.0882
.2630
.
.
.
.
.
.
0
0
0
.002
0
0
0
0
0
0
.001
0
0
0
.522
0
.279
.075
.121
.
.
.
.
.
.
0
0
0
.0038
0
0
0
0
0
0
.0019
0
0
0
1
0
.5345
.1437
.2318
l(CDU/ l*(CDU/ l(FDP) l*(FDP) CSU) CSU) .003 .0052 . .
0
0
0
.023
0
0
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.021
.022
0
.039
.146
.
.
.
.
.749
.
l(DP)
0
0
0
.0307
0
0
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.0280
.0294
0
.0521
.1949
.
.
.
.
1
.
l*(DP)
von 26 minimalen Gewinnkoalitionen auf vier einigermaßen wahrscheinliche Koalitionen reduziert werden. Unter diesen vier Koalitionen befindet sich die Koalition, die sich tatsächlich bildete; sie ist aber nicht die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit. Für die zweite Zeitperiode, die die Fälle 2 bis 6 beinhaltet, gilt bei der Analyse hinsichtlich der Policy-Motivation zunächst grundsätzlich das gleiche wie bei der Analyse mit Bezug auf die Ämter-Motivation. Die CDU/CSU kann den höchsten Policynutzen (nämlich 0) erzielen, wenn sie alleine regiert. Bei der Bildung von Koalitionen muss sie Nutzenverluste bzgl. der Policynutzens hinnehmen. Die Handlungsalternative „Alleinregierung” stellt somit auch unter Policy-Gesichtspunkten eine mindestens schwach dominante Strategie für die Union dar; die Bildung der übergroßen Koalitionen kann auch in diesem Teilabschnitt nicht erklärt werden. Die Phase des stabilen Dreiparteien-Systems ohne absolute Mehrheiten zwischen 1961 und 1983 (Fälle 7 bis 18) weist deutlich geringere Unsicherheiten hinsichtlich der Koalitionspräferenzen der Parteien auf. Häufig kann mit l-Werten im Bereich zwischen 0.7 und 0.8 oder noch höher bereits mit ziemlicher Sicherheit eine Aussage getroffen werden, welche Koalition eine Partei aus Policy-Sicht präferieren sollte. Treten hier l-Werte um 0.5 auf, beruhen diese daher nicht mehr auf hohen Unsicherheiten über die Idealpositionen der Parteien, sondern darauf, dass die entsprechende Partei tatsächlich (nahezu) indifferent zwischen verschiedenen Koalitionen ist, etwa die SPD in Fall 7 oder die CDU/CSU in den Fällen 15 bis 18. Die höhere Robustheit der Daten lässt sich ferner daran erkennen, dass die l∗ -Werte höchstens für einzelne Parteien noch stark von den l-Werten abweichen (genau in den Fällen der Indifferenz), nicht aber global für alle Parteien wie in Tabelle 8 für Fall 1 zu sehen war. Die Erklärungskraft der Policy-Motivation von Parteien als Determinante der Koalitionsbildung ist für die in Tabelle 9 untersuchten Fälle hingegen sehr gering. Sieht man wieder von den beiden Minderheitsregierungen ab, die nur eine kurze Übergangsphase eines Koalitionswechsels darstellen, ist erkennbar, dass in der Hälfte der Fälle (Fall 7, 8, 9, 13 und 14) keine der Koalitionsparteien der tatsächlichen Regierung einen Anreiz hätte, diese Koalition tatsächlich zu bilden. Beide Partner hätten einen Anreiz, den Koalitionspartner zu wechseln. In nur zwei Fällen (15 und 16) entspricht die tatsächliche Koalition der obersten Präferenz beider Koalitionspartner und befindet sich im Gleichgewicht. In drei Fällen (11, 12 und 18) hat zumindest einer der Partner die reale Koalition als oberste Präferenz. Weshalb die andere Partei, die einen Anreiz zum einseitigen Abweichen besitzt, 204
Fall
Koalition
7
CS C F* SF CS C F* SF CS C F* SF C* CS CF SF C S* CF SF CS CF S F* CS CF S F* CS CF S F* CS CF S F* CS CF S F* S* CS CF SF CS C F* SF
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
CDU/ CSU -.008 -.022 . -.008 -.022 . -.016 -.023 . 0 -.016 -.023 . -.016 -.023 . -.008 -.054 . -.013 -.052 . -.013 -.052 . -.019 -.018 . -.021 -.022 . . -.021 -.022 . -.021 -.022 .
SPD
FDP
-.007 . -.006 -.007 . -.006 -.025 . -.005 . -.025 . -.005 -.025 . -.005 -.007 . -.033 -.012 . -.076 -.012 . -.076 -.013 . -.004 -.020 . -.006 0 -.020 . -.006 -.020 . -.006
. -.022 -.007 . -.022 -.007 . -.073 -.007 . . -.073 -.007 . -.073 -.007 . -.080 -.049 . -.055 -.077 . -.055 -.077 . -.022 -.003 . -.024 -.006 . . -.024 -.006 . -.024 -.006
l(CDU/ CSU) .78 .22 . .803 .197 . .808 .192 . . .793 .207 . .806 .194 . .970 .030 . .901 .099 . .902 .098 . .457 .543 . .550 .450 . . .512 .488 . .504 .496 .
l*(CDU/ CSU) 1 .282 . 1 .245 . 1 .238 . . 1 .261 . 1 .241 . 1 .031 . 1 .110 . 1 .109 . .847 1 . 1 .818 . . 1 .953 . 1 .984 .
l(SPD)
l*(SPD)
l(FDP)
l*(FDP)
.422 . .578 .404 . .596 .16 . .84 . .174 . .826 .157 . .843 .838 . .162 .96 . .04 .956 . .044 .196 . .804 .056 . .944 . .065 . .935 .059 . .941
.730 . 1 .678 . 1 .191 . 1 . .211 . 1 .186 . 1 1 . .193 1 . .042 1 . .046 .244 . 1 .059 . 1 . .070 . 1 .063 . 1
. .191 .809 . .172 .828 . .038 .962 . . .041 .959 . .04 .96 . .245 .755 . .705 .295 . .739 .261 . .105 .895 . .023 .977 . . .037 .963 . .043 .957
. .236 1 . .208 1 . .040 1 . . .043 1 . .042 1 . .325 1 . 1 .418 . 1 .353 . .117 1 . .024 1 . . .038 1 . .045 1
Tabelle 9: Policynutzen der deutschen Parteien bezogen auf die Regierungskoalitionen und mögliche Alternativkoalitionen (Reg. 7 bis 18)
205
an dieser Koalition teilnimmt, kann aus Sicht der Policy-Motivation nicht beantwortet werden. Gerade für diese Zeitperiode ist die Policy-Motivation eine äußerst schlechte Erklärungsvariable für die Ergebnisse der Koalitionsbildung in Deutschland. Ein wenig besser ist die Erklärungskraft der Policy-Motivation für die Koalitionsbildung im letzten Untersuchungszeitraum (vgl. Tabelle 10): In immerhin zwei von sechs Fällen (19 und 21) entspricht die reale Koalition einer Gleichgewichtslösung; in keinem Fall haben beide Koalitionspartner einen Anreiz zum Abweichen, d.h. mindestens eine der Parteien präferiert die tatsächliche Koalition an oberster Stelle. Dennoch stellt sich die Frage, weswegen in den Fällen 20 und 24 keine große Koalitionen und in Fall 23 keine sozial-liberale Koalition entstanden, die jeweils eine Gleichgewichtslösung dargestellt hätten. Während mit einer großzügigen Interpretation der l∗ -Werte die Entscheidung der SPD für eine rot-grüne Koalition in Fall 24 noch erklärt werden könnte, sind die anderen beiden Fälle alleine mit der Policy-Motivation der Parteien nicht erklärbar. Einen einzigartigen Fall dieser Analyse stellt Fall 22 dar, da hier keine Gleichgewichtslösung existiert: Die CDU/CSU bevorzugt eine große Koalition. Von dieser hat die SPD einen Anreiz abweichen, da sie von der Ampelkoalition einen höheren Nutzen erwartet. Die hierfür benötigte FDP zieht allerdings eine Zweierkoalition mit der Union vor. Der Kreis schließt sich mit der erwähnten Präferenz der CDU/CSU für die große Koalition gegenüber der christlichliberalen. Unter diesen Gesichtspunkten ist die tatsächliche CDU/CSUFDP-Regierung noch die wahrscheinlichste Lösung aufgrund der relativ hohen l-Werte der Union für diese Option. Aufgrund keiner global vorkommenden größeren Abweichungen zwischen den l- und den l∗ -Werten können die Ergebnisse der Analyse dieses Untersuchungszeitraums insgesamt als robust angesehen werden. Insgesamt muss der Versuch, die Koalitionsbildung in der BRD alleine über die Policy-Motivation der Parteien zu erklären, als gescheitert betrachtet werden. Die beiden Übergangs-Minderheitsregierungen außen vor gelassen, können nur sieben11 von 22 Regierungen (32%) erklärt werden; in 15 Fällen stehen theoretische Lösung und empirischer Befund im Widerspruch.
11
Dies sind die Fälle 1, 6, 15, 16, 19, 21 und 22.
206
CDU/ SPD CSU Fall 19 CS C F* CG SFG Fall 20 CS C F* CG SFG Fall 21 CS C F* CP SFP Fall 22 CS C F* CG SFG Fall 23 CS FS S G* CFG Fall 24 CS CG S G*
FDP Grüne PDS
l(CDU/ l*(CDU/ l* l(SPD) l*(SPD) l(FDP) l*(FDP) l(Grüne) l(PDS) l*(PDS) CSU) CSU) (Grüne)
-.043 -.043 . . -.030 . -.048 . -.179 . 0 -.182 . -.040 -.077 -.068
. . . .
.203 .797 0 .
.255 1 0 .
.475 . . .525
.905 . . 1
. .781 . .219
. 1 . .280
. . .003 .997
. . .003 1
. . . .
. . . .
-.012 -.011 . . -.071 . -.078 . -.095 . . -.113 . -.051 -.116 -.120
. . . .
1 0 0 .
1 0 0 .
.997 . . .003
1 . . .003
. .956 . .044
. 1 . .046
. . .603 .397
. . 1 .658
. . . .
. . . .
. . -.154 -.073
.004 .996 0 .
.004 1 0 .
.002 . . .998
.002 . . 1
. .881 . .119
. 1 . .135
. . . .
. . . .
. . .004 .996
. . .004 1
-.095 -.078 . . -.105 . -.104 . -.303 . . -.346 . -.064 -.111 -.131
. . . .
.679 .321 0 .
1 .473 0 .
.298 . . .702
.425 . . 1
. .671 . .329
. 1 . .490
. . 0 1
. . 0 1
. . . .
. . . .
-.045 -.044 . . . -.018 -.017 . . -.069 . -.082 -.226 . -.099 -.267
. . . .
1 . . 0
1 . . 0
.112 .888 0 .
.126 1 0 .
. 1 . 0
. 1 . 0
. . 1 0
. . 1 0
. . . .
. . . .
-.028 -.028 -.136 . . -.038
. . .
1 0 .
1 0 .
.767 . .233
1 . .304
. . .
. . .
. 0 1
. 0 1
. . .
. . .
-.119 -.100 . -.059 . -.057 -.136 . . . -.037 -.089
. . .
. . . .
. -.143 -.045
Tabelle 10: Policynutzen der deutschen Parteien bezogen auf die Regierungskoalitionen und mögliche Alternativkoalitionen (Reg. 19 bis 25)
207
4.3 Die Koalitionsbildung unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Ämter- und Policy-Motivation In diesem Teilabschnitt soll untersucht werden, ob die Koalitionsbildung in Deutschland besser erklärt werden kann, wenn im Sinne von Sened (1996) eine aus Ämter- und Policy-Motivation der Parteien kombinierte Nutzenfunktion angenommen wird, im Vergleich zu einer rein ämter- oder policyorientierten Analyse der vorangegangenen Teilabschnitte. Die Analyse dieses Teilabschnitts unterscheidet sich von den vorangegangenen insofern, als eine zusätzliche Variable enthalten ist, nämlich der Grad der Ämter- bzw. Policy-Orientierung der Parteien. Somit stellt sich hier nicht nur die Frage, ob diese Konzeption die Koalitionsbildung in Deutschland besser erklären kann als die vorangegangen, sondern auch für welche Grade α an ÄmterOrientierung dies zutrifft12 . Nach wie vor von Interesse sind die l- bzw. l∗ Werte der einzelnen Koalitionen, da die kombinierte Nutzenfunktion einen Policy-Anteil enthält, über den Unsicherheit herrscht. Von Interesse sind aber zusätzlich die α-Werte, für die eine Partei i durch eine Koalition C einen maximalen Nutzen erhält. Diese Spanne von α-Werten kann von Untersuchung zu Untersuchung stark variieren. So kann es Fälle geben, in denen die Ämter- und die Policy-Motivation einer Partei mit Bezug auf ihre meistpräferierte Koalition kongruent verlaufen; dann ist diese Koalition für die Partei optimal für alle α (also für das ganze Intervall [0,1]). ,Optimalität’ einer Koalition ist in solchen Fällen ein exklusives Kriterium. In anderen Fällen stehen die Ämter- und die Policy-Motivation einer Partei in einem Spannungsfeld zueinander, so dass die Frage der meistpräferierten Koalition dieser Partei vom Grad ihrer Ämter-Orientierung selbst abhängt. In diesen Fällen können verschiedene Koalitionen für diese Partei optimal sein, je nachdem, zu welchem Grad sie ämter- bzw. policy-motiviert ist; ,Optimalität’ ist dann kein exklusives Kriterium mehr. Die l- und l∗ -Werte sind hier so zu verstehen, dass es bei der jeweiligen Zufallsziehung einen α-Bereich gibt, für den die entsprechende Koalition für eine Partei optimal ist. Aufgrund der Möglichkeit der Nicht-Exklusivität summieren sich die l-Werte hier nicht parteiweise auf 1 auf. Von Interesse ist daher neben den l-Werten auch die Frage, für welche Grade an Ämter-Orientierung eine Koalition für eine Partei die optimale Lösung darstellt. Dass es – in Ab12
Durch die Normierung (Formel 2) ergeben sich die β-Werte direkt aus den α-Werten und stellen daher keine zusätzlich zu berücksichtigende Variable mit Freiheitsgrad dar. Im Folgenden werden daher nur die α-Werte diskutiert, nicht aber die unmittelbar aus ihnen resultierenden β-Werte.
208
hängigkeit von α – mehrere Koalitionen geben kann, die gemäß der Theorie einer Modelllösung entsprechen, dass die α-Werte faktisch aber fix sind und somit nur eine dieser Lösungen eine echte Lösung darstellt, kann grundsätzlich ein Problem darstellen, z.B. bei dem Versuch einer Prognose, welche Koalition sich nach einer Wahl gemäß der Sened-Theorie bildet. In diesem Aufsatz geht es jedoch darum, ex post zu überprüfen, ob mit der Senedschen Nutzenfunktion bei geeigneter Parameterwahl (αi , βi ) das reale Ergebnis erklärt werden kann. Die Nicht-Kenntnis der α-Werte stellt für diese Art der Analyse somit kein Problem dar13 . Tabelle 11 weist die Ergebnisse für fünf ausgewählte Koalitionen des Jahres 1949 aus, anhand derer die Bedeutung der einzelnen Werte näher erläutert wird. Die l-Werte sind derart zu interpretieren, dass es in 11% der Simulationen mindestens ein Paar (αCDU/CSU , βCDU/CSU ) gibt, so dass die real gebildete CDU/CSU-FDP-DP-Koalition für die Union die Koalition war, die ihren Nutzen maximierte. Für die Liberalen lassen sich entsprechende Tupel (αFDP , βFDP ) nur in 8.3% der Fälle finden; für die Deutsche Partei gibt es in jeder der Simulationen Paare (αDP , βDP ), so dass die tatsächliche Regierungskoalition den Nutzen der DP maximiert. Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass die Existenz solcher Paare kein exklusives Kriterium gegenüber anderen Koalitionen ist. So gibt es 11% der Ziehungen, für die sich Werte (αCDU/CSU , βCDU/CSU ) finden lassen, so dass {CDU/CSU, FDP, DP} den Nutzen der Union maximiert. Für genau dieselben Fälle lassen sich aber auch andere Paare (αCDU/CSU , βCDU/CSU ) finden, so dass {CDU/CSU, FDP, Z} den Nutzen der CDU/CSU maximiert. Aus diesem Grund summieren sich die l-Werte hier auch nicht akteursweise auf 1 auf wie bei rein ämter- oder policy-weisen Analysen. Die l∗ -Werte sind hier nur für die tatsächliche Regierungskoalition angegeben. Sie sind mit den l-Werten identisch, da es eine Koalition gibt ({CDU/CSU, FDP, Z}), die allen in ihr vertretenen Parteien den Maximalwert 1 zuweist und die DP ihren Maximalwert 1 in der realen Koalition erreicht. 13
Ein Problem entstünde nur dann, wenn durch den zusätzlichen Freiheitsgrad, der durch die freie Wahl von α entsteht, die Sened-Theorie prinzipiell mehr theoriekonforme Lösungen zuließe als die anderen Theorien dies tun, und daraus eine höhere Erklärungskraft resultieren würde. Da auch andere Theorien zumindest zum Teil mehrere Lösungen zulassen und beim Vergleich der Erklärungskraft der einzelnen Theorien die Anzahl theoriekonformer Lösungen bei der Bewertung später berücksichtigt werden wird, stellt dieser Aspekt kein Problem dar.
209
Fall 1
Į
Į min Med(Įmax) SDrechts
Med(Įmin)
min SDlinks
0.015
0.005
0.010
0.08
0.035
0.30
0.116
0 0.439
. 0.11
0.06 0.07 0.865
Į
Į
max SDlinks
max SDrechts
0.08
0.039
0.104
0.040
0.23
0.104
0.157
0.117
1
0
0
. 0.033
. 0.048
. 0.20
. 0.063
. 0.079
0.02 0.08 0.59
0.008 0.040 0.217
0.009 0.074 0.133
0.17 0.605 0.98
0.095 0.311 0.051
0.212 0.152 0.005
1 1 1
0.49 0.78 0.47
0.380 0.585 0.234
0.321 0.149 0.355
1 1 1
0 0 0
0 0 0
0.714 0.624 0.956
0.02 0.07 0.26
0.008 0.033 0.113
0.166 0.319 0.320
0.66 0.89 0.99
0.320 0.260 0.017
0.178 0.054 0.000
l (l*)
C F Dp* CDU/CSU FDP DP CS CDU/CSU SPD C F Bp CDU/CSU FDP BP C F Zp CDU/CSU FDP Z C F Wv CDU/CSU FDP WAV
0.11 (0.11) 0.083 (0.083) 1 (1)
Tabelle 11: Kombinierte Nutzen nach Sened bei der Regierungsbildung 1949 am Beispiel ausgewählter Koalitionen Wie oben erwähnt, sind hier nicht nur die reinen l-Werte von Bedeutung, sondern auch die Grade an Ämter- und Policy-Motivation, für die eine Koalition die optimale Lösung einer Partei darstellt. Da eine Tabelle, die für jede der 1000 Ziehungen diesen Bereich [αmin , αmax ] angegeben würde, sich über mehrere Seiten erstrecken würde, fasse ich diese Werte statistisch zusammen. Med(αmin ) gibt den Median der minimalen α-Werte über die 1000 Ziehungen hinweg an, Med(αmax ) den Median der maximalen α-Werte. Die entsprechenden β-Werte ergeben sich wieder aus Formel 2. Die Standardabweichungen (SD) nach links und rechts geben einen Eindruck davon, wie sehr die α-Bereiche der Optimalität einer Koalition über die verschiedenen Simulationen hinweg streuen.
210
Die Werte aus Tabelle 11 interpretierend, muss zunächst festgestellt werden, dass die gleichzeitige Berücksichtigung von Ämter- und PolicyMotivation bei Parteien die Koalitionsbildung für 1949 nicht besser erklären kann als eine einseitige Fokussierung auf eine der beiden Motivationstypen. Zwar bleibt eine Restwahrscheinlichkeit, dass gemäß der kombinierten Theorie die tatsächliche Koalition für Union und FDP die optimale Lösung war, die l- und l∗ -Werte sind aber geringer als unter der vereinfachten Annahme einer reinen Policy-Motivation. Mit Blick auf die αmin - und αmax -Mediane sieht man, dass die Optimalität der CDU/CSU-FDP-DPKoalition selbst in diesen Fällen nur für sehr geringe Ämter- und sehr hohe Policy-Orientierungen von Union und FDP gegeben ist. Allein für die DP stellt die reale Koalition hier eindeutig ein Optimum dar. Folgt man der Sened-Nutzenfunktion, so wäre für 1949 mit der höchsten Wahrscheinlichkeit eine Koalition aus CDU/CSU, FDP und Zentrum zu erwarten gewesen. Auch die Koalition aus Union, FDP und WAV wäre mit einer noch recht hohen Wahrscheinlichkeit und für ein recht großes Intervall an α-Werten die optimale Lösung für die involvierten Akteure. Für den zweiten Untersuchungszeitraum (Regierungen Adenauer II bis Adenauer IIIb) erübrigt sich eine formale Überprüfung der Sened-Theorie: Da die CDU/CSU die absolute Mehrheit besitzt, kann sie durch eine Alleinregierung sowohl ihren Ämternutzen maximieren, indem sie alle Ämter selbst besetzt, als auch ihren Policy-Nutzen, indem sie ihren Idealpunkt im Policy-Raum als Regierungspolitik durchsetzt. Daher – und aufgrund der Separabilität der beiden Komponenten der integrierten Nutzenfunktion – ist auch unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Policy- und ÄmterMotivation die Bildung einer Alleinregierung eine dominante Strategie für die Union. Wie bei den vorhergehenden Analysen auch entspricht also Fall 6 der Theorie, während die Fälle 2 bis 5 nicht mit ihr konform gehen. Für den dritten Untersuchungszeitraum (Fälle 7 bis 18) fasst Tabelle 12 die Ergebnisse zusammen14 . Für diesen Zeitraum gelingt es der Theorie insgesamt gut, die Ergebnisse der realen Koalitionsbildungsprozesse zu erklären. In sieben der zehn hier vorkommenden Fälle15 finden sich auch unter der Berücksichtigung von Unsicherheiten immer Paare (αi ,βi ), so dass die reale Regierungskoalition jeweils der Nutzen maximierenden Strategie aller 14
Aus Platzgründen wird hier auf die Ausweisung der Standardabweichungen verzichtet. 15 Die beiden Minderheitsregierungen (Fall 10 und 17), die nur kurze Übergänge darstellen und nicht Ergebnis eines aktiven Koalitionsbildungsprozesses sind, wieder außen vor gelassen.
211
l 7 C F* C F CS C S SF S F 11 C S* C S CF C F SF S F 14 S F* S F CS C S CF C F 18 C F* C F CS C S SF S F
Med(Įmin) Med(Įmax)
1 0.171
0.07 0.03
1 0.23
0.615 0.23
0.02 0.01
0.09 0.04
1 1
0.02 0.04
1 1
0.418 0.063
0.03 0.01
0.05 0.02
1 0.026
0.04 0.03
1 0.155
1 1
0.01 0.05
1 1
1 1
0.26 0.33
1 1
0.777 0.883
0.03 0.03
0.17 0.21
1 1
0.14 0.375
1 1
1 1
0.03 0.32
1 1
0.15 0.013
0.03 0.01
0.04 0.02
1 1
0.01 0.04
1 1
l 8 C F* C F CS C S SF S F 12 S F* S F CS C S CF C F 15 S F* S F CS C S CF C F
Med(Įmin) Med(Įmax)
1 0.177
0.07 0.03
1 0.38
0.628 0.257
0.02 0.01
0.09 0.03
1 1
0.02 0.04
1 1
1 1
0.08 0.22
1 1
0.88 0.707
0.02 0.02
0.1 0.07
1 0.213
0.11 0.34
1 0.74
1 1
0.01 0.03
1 1
0.211 0.064
0.02 0.01
0.04 0.02
1 0.093
0.03 0.07
1 0.3
l 9 / 10 C F(*) C F CS C S SF S F 13 S F* S F CS C S CF C F 16 / 17 S F(*) S F CS C S CF C F
Med(Įmin) Med(Įmax)
1 1
0.05 0.76
1 1
0.415 0.073
0.03 0.01
0.05 0.02
1 1
0.01 0.05
1 1
1 1
0.29 0.29
1 1
0.781 0.895
0.03 0.03
0.17 0.2
1 1
0.13 0.37
1 1
1 1
0.01 0.03
1 1
0.144 0.008
0.03 0.015
0.04 0.03
1 0.034
0.03 0.06
1 0.255
Tabelle 12: Kombinierte Nutzen nach Sened bei den Regierungen 7 bis 18
212
Koalitionspartner entspricht. In zwei Fällen (7 und 8) gilt dies nur für einen Koalitionspartner, nämlich für die CDU/CSU. Eine Restwahrscheinlichkeit von 17% bis 18% bleibt zwar, dass auch die FDP ihr Optimum durch die tatsächliche Koalition erreicht, ihr l-Wert von 1 für eine sozial-liberale Koalition spricht allerdings dafür, dass mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit die Theorie bei diesen beiden Fällen zurückgewiesen werden muss. Dies gilt ebenso für den Fall der großen Koalition (Fall 11), wo die l-Werte ein Gleichgewicht bei der sozial-liberalen Koalition andeuten und die Union ihre optimale Strategie bei einer Koalition mit der FDP verwirklicht sähe. Für die Union bleibt zwar noch eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit von rund 0.4, dass bei entsprechend niedrigen α-Werten die große Koalition ihren Nutzen maximiert, für die SPD ist diese Wahrscheinlichkeit aber praktisch 0. Unabhängig von den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten ist erkennbar, dass die große Koalition, wenn überhaupt, nur dann eine Kombination optimaler Strategien darstellt, wenn beide Parteien zu diesem Zeitpunkt extrem policy-orientiert sind (Med(αmax ) liegt bei .05 respektive bei .02). Eingeschränkt werden muss die hohe Erklärungskraft für den hier diskutierten Zeitraum allerdings insofern, als auch alternative Koalitionen, die sich in der Realität nicht bildeten, bei entsprechender Wahl der (αi ,βi )-Paare hohe bis maximale l-Werte erreichen, etwa in den Fällen 9, 13, 14 und 18. Von den verbleibenden sechs Fällen (ab der Regierung Kohl II) entsprechen vier vollständig der Sened-Theorie (Fall 19, 21, 22 und 24), einer (Fall 20) entspricht der Theorie bedingt, und ein Fall (23) geht nicht konform mit ihr (siehe Tabelle 13). Die im Einklang mit der Theorie stehenden Fälle brauchen an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden; es sei lediglich an dieser Stelle wieder darauf hingewiesen, dass die entsprechenden Koalitionen nicht zwangsläufig die einzigen sind, die bei geeigneter (α, β)-Wahl Gleichgewichte darstellen können, wie beispielsweise die l-Werte bei der Ampelkoalition in Fall 19 verdeutlichen. Die Bildung der ersten rot-grünen Koalition (Fall 23) widerspricht hingegen insofern den Erwartungen, als zwar die Grünen diese Koalition befürworten, die SPD aber auch unter Berücksichtigung von Unsicherheiten über Parteipositionen keinen Anreiz besitzt, eine solche Koalition einzugehen. Ihre optimale Strategie wäre eine Koalition mit der FDP – eine Konstellation, die die FDP sogar erwidern sollte, solange sie nicht nahezu ausschließlich policy-motiviert ist. Die Entscheidung der SPD zur Bildung einer rot-grünen Koalition kann also auch mit Hilfe dieser kombinierten Theorie nicht erklärt werden. Interessant ist vor allem der Fall 20: Nicht weiter diskussionswürdig ist, dass die FDP eine Koalition mit der Union anstrebt. Interessant ist 213
l 19 C F* C F CS C S CG C G SFG S F G 22 C F* C F CS C S CG C G SFG S F G
Med(Įmin) Med(Įmax)
1 1
0.04 0.21
0.62 1
0.033 0.203
0.04 0.06
0.05 0.1
1 0
0.87 .
1 .
1 1 1
0.06 0.71 0.41
1 1 1
1 1
0.12 0.39
0.89 1
0.073 0.049
0.1 0.1
0.13 0.14
0 1
. 1
. 1
1 0.295 1
0.09 0.44 0.49
1 0.82 0.99
l 20 C F* C F CS C S CG C G SFG S F G 23 S G* S G CS C S SF S F CFG C F G
Med(Įmin) Med(Įmax)
0.657 1
0.18 0.28
0.39 1
0.997 0.956
0.03 0.03
0.16 0.16
1 1
0.65 0.43
1 1
1 0.044 0.328
0.16 0.36 0.42
1 0.705 0.79
0 1
. 0.31
. 1
1 0.023
0.1 0.04
0.39 0.05
1 1
0.03 0.13
1 0.97
1 1 1
0.4 0.98 0.99
1 1 1
l 21 C F* C F CS C S CP C P SFP S F P 24 S G* S G CS C S CG C G
Med(Įmin) Med(Įmax)
0.987 1
0.08 0.19
0.27 1
0 0
. .
. .
1 0.004
0.35 0.645
1 0.96
1 1 1
0.06 0.48 0.6
1 1 1
1 1
0.05 0.18
1 1
1 0.297
0.06 0.05
0.24 0.07
1 1
0.25 0.99
1 1
Tabelle 13: Kombinierte Nutzen nach Sened bei den Regierungen 19 bis 25 aber, dass die Union trotz vergleichsweise niedriger l-Werte diese Koalition eingegangen ist. Hier finden wir einen der wenigen Fälle, die unmittelbar Aufschluss über den Grad von Ämter- und Policy-Motivationen geben könnten. Die l-Werte der Union bzgl. der großen Koalition oder einer schwarz-grünen Koalition sind zwar (nahezu) maximal, implizieren aber, dass die CDU/CSU entweder nur zu einem recht geringen Grad ämtermotiviert ist (Koalition mit der SPD) oder zu einem moderaten bis recht hohen (schwarz-grüne Koalition). Bei einem mittleren bis niedrigen Grad der Ämter-Motivation ist die Koalition mit der FDP trotz insgesamt niedrigerer l-Werte eine zu erwartende Lösung.
214
5 Die Erklärungskraft rein ämter- oder policy-orientierter Konzepte und der kombinierten Theorie im vergleichenden Überblick Insgesamt stellt sich nun die Frage, ob eine gleichzeitige Berücksichtigung der Ämter- und der Policy-Motivation deutscher Parteien bei Koalitionsverhandlungen gegenüber einseitigen Erklärungsmodellen die Realität besser erfassen kann oder nicht. Diese Frage ist insofern nicht ganz einfach zu beantworten, als die unterschiedlichen Analysen strukturell zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. So müssen etwa bei der Policy-Motivation und der kombinierten Theorie Unsicherheiten über die Positionen berücksichtigt werden, bei der reinen Ämter-Motivation nicht. Während in letzterem Fall also eindeutig ist, wann eine reale Koalition der Theorie entspricht (einfache {ja, nein}-Antwort), lässt die stetige l- bzw. l∗ -Variable Spielräume bei der Interpretation zu. Hier stellt sich die Frage, ab wann ein l- bzw. l∗ Wert als hoch genug angesehen wird, um eine Koalition als theoriekonform anzusehen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Parteien in einer Koalition unterschiedlich hohe l- und l∗ -Werte besitzen können. Das heißt, dass für manche Parteien innerhalb der Koalition die reale Koalition tatsächlich eine optimale Strategie gemäß einer Theorie darstellen kann, während das für den oder die Koalitionspartner nicht zutreffen muss. Tabelle 14 fasst die Interpretationen des vorigen Abschnitts zusammen, bei denen ich grundsätzlich eher davon ausgehe, dass im Sinne einer Gleichgewichtslösung alle Parteien einer Koalition ein Interesse an der Bildung dieser Koalition haben müssen, damit die entsprechende Koalition dem Ergebnis einer Koalitionstheorie entspricht. Aus Tabelle 14 wird ein zusätzliches Problem einer vergleichenden Bewertungsstruktur deutlich: Bei der rein ämter-orientierten Untersuchung finden sich zwar sehr viele theoriekonforme Ergebnisse, dies wird aber sehr stark relativiert dadurch, dass es insgesamt sehr viele theoriekonforme Lösungen gibt. Vergleicht man die durchschnittliche Anzahl theoriekonformer Lösungen mit der durchschnittlichen Anzahl minimaler Gewinnkoalitionen insgesamt, so ist festzustellen, dass der Fokus auf Ämter-Orientierung keinen nennenswerten Beitrag über die Theorie der Bildung minimaler Gewinnkoalitionen hinaus leisten kann, da ein Großteil der minimalen Gewinnkoalitionen dieser Theorie entspricht. Die rein policy-orientierte Analyse hingegen legt sich häufig auf eine bestimmte Koalition fest, liegt aber in ihrer Prognose dafür deutlich öfter daneben. Die kombinierte Theorie liegt hinsichtlich beider Kriterien dazwischen. An dieser Stelle stellt sich 215
Fall
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Ȉ bzw. Ø
Ämter-Motivation theoriekonform ja nein nein nein nein ja ja ja ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja 17
Anzahl konformer Lsg. 25 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3 3 2 3.05
Policy-Motivation theoriekonform (ja) nein nein nein nein ja nein nein nein nein nein nein nein ja ja nein ja nein ja (ja) nein (nein) 6.75
Anzahl konformer Lsg. 4 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ? 1 1(2) 1.26
Sened theoriekonform nein nein nein nein nein ja (nein) (nein) ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja 14
Anzahl konformer Lsg. 2 1 1 1 1 1 1(2) 1(2) 2 1 1(2) 2(3) 2(3) 1 1 2 2 2 2 1 2 2 1.57
Anzahl MWKoal.
Anzahl Koal. insg.
26 1 1 1 1 1 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 4 4 4 4 4 3 3.82
1023 63 31 63 15 15 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 15 15 15 15 31 31 31 60
Tabelle 14: Erklärungskraft und Erkenntnisgewinn verschiedener Theorien im Vergleich die Frage – deren Beantwortung zu einem gewissen Grad Ansichtssache ist – welche von zwei Theorien T1 und T2 zu bevorzugen ist, wenn T1 mehr mit ihr konforme reale Ereignisse vorweisen kann als T2 (höherer Wahrheitsgehalt), dafür aber der Erkenntnisgewinn durch T1 geringer ist, da viele mögliche Lösungen mit ihr konform gehen (niedrigerer Informationsgehalt). Ziel ist es grundsätzlich, eine Theorie zu haben, die möglichst beide Kriterien erfüllt, insofern spricht hier Einiges für die kombinierte Theorie Seneds. Die Anzahl der „Treffer“ der Sened-Theorie bleibt zwar in geringem Maß hinter der der reinen Ämter-Orientierung zurück (14 gegenüber 17), die durchschnittliche Anzahl theoriekonformer Lösungen ist dafür deutlich geringer. Ein geeignetes Maß zur Bestimmung der Angemessenheit einer Theorie unter gleichzeitiger Berücksichtung von Wahrheits- und Informati-
216
onsgehalt ist Ψ(T ) nach Pappi et al. (2005, 458). Ψ setzt die Wahrscheinlichkeit pReg n , dass eine Theorie T das tatsächliche Ergebnis erklärt, in Relation zur Gesamtzahl aller möglichen Ergebnisse An und mittelt über die einzelnen Fälle n = (1, . . . , N ): Ψ(T ) =
N Reg 1 pn (T ) − N n=1 1 − A1n
1 An
Der Tradeoff zwischen Wahrheits- und Informationsgehalt der Theorie ist in der Variablen pReg enthalten. Ψ kann hierbei als eine Art PRE-Maß n im Sinne von Herron (1999) aufgefasst werden, das angibt, zu welchem Grad die entsprechende Theorie die Erklärungskraft über eine theorieblinde zufällige Prognose hinaus erhöht. Tabelle 15 gibt einen Überblick über die Ψ-Maße einer rein ämter-orientierten, einer rein policy-orientierten und einer kombinierten Theorie im Sinne von Sened (1996). Es sind sowohl die Werte angegeben für einen Vergleich mit der Grundgesamtheit aller Koalitionen als auch für eine eingeschränkte Grundgesamtheit der minimalen Gewinnkoalitionen. Grundgesamtheit
Ämter-Motivation
Policy-Motivation
Sened
alle Koalitionen
0.257
0.153
0.306
MW-Koalitionen
0.150
-0.048
0.240
Tabelle 15: Ψ-Werte der hier überprüften Theorien Aus Tabelle 15 wird deutlich, dass alle drei hier untersuchten Theorien aus allen möglichen Koalitionen durchaus solche auswählen, die in der Realität überzufällig häufig zu finden sind. Die höchste Steigerung gegenüber einer zufälligen Prognose gelingt mit Ψ=0.306 hierbei der Theorie, die gleichzeitig Ämter- und Policy-Motivationen der Parteien berücksichtigt. Vergleichsweise am schwächsten schneidet eine rein policy-orientierte Analyse mit Ψ=0.153 ab. Geht man – wie in diesem Aufsatz implizit angenommen – davon aus, dass nur minimale Gewinnkoalitionen als Ergebnisse in Betracht kommen, so ist es sinnvoll, nicht alle möglichen Koalitionen, sondern nur alle minimalen Gewinnkoalitionen als Grundgesamtheit anzunehmen. Ψ gibt dann darüber Auskunft, inwiefern die jeweilige Theorie über die Theorie der Bildung minimaler Gewinnkoalitionen hinaus einen Erkenntnis217
gewinn besitzt. Interessanterweise erklärt die rein policy-orientierte Sichtweise aus der Menge der minimalen Gewinnkoalitionen unterdurchschnittlich16 schlecht das Zustandekommen der tatsächlichen Regierungskoalition. Eine rein ämter-orientierte Theorie erbringt hingegen einen weiteren Erkenntnisgewinn. Auch auf Basis dieser Grundgesamtheit schneidet die auf der Sened-Nutzenfunktion beruhende Analyse mit Ψ=0.240 am besten ab. Während sich der Fokus auf die Policy-Orientierung von Parteien zur Erklärung von Koalitionen auf Basis von minimalen Gewinnkoalitionen nachteilig auswirkt, erbringt die Berücksichtigung der Policy-Komponente in Ergänzung zur Ämter-Motivation einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. 6 Zusammenfassung und Ausblick Ein empirischer Vergleich anhand von Koalitionsbildungen in Deutschland auf Bundesebene zeigt, dass eine gleichzeitige Berücksichtigung von Ämterund Policy-Motivationen von Parteien die Realität besser erklären kann als eine einseitige Fokussierung auf eine der beiden Motivationstypen. Die kombinierte Theorie weist – im Gegensatz zu den mit ihr hier verglichenen Theorien – nicht nur ein ausgeglichenes Maß zwischen Wahrheitsgehalt und Informationsgehalt auf, sondern sie erreicht auch den besten Tradeoff zwischen diesen beiden Zielen. Bemerkenswert ist, dass vor allem bei den jüngeren Koalitionen (ab der Regierung Brandt I)17 die Sened-Theorie den deutschen Koalitionsbildungsprozess nahezu perfekt erklärt. Eine empirische Überprüfung dieser Theorie dient nicht nur dazu, die Theorie selbst zu testen und so die Angemessenheit der Berücksichtigung beider Motivationstypen zu bestätigen. Durch eine Analyse können auch Aussagen über die Grade getroffen werden, zu denen verschiedene Parteien ämter- bzw. policy-motiviert sind. Eingeschränkt werden muss allerdings, dass gerade in der Anfangszeit der Bundesrepublik auch die kombinierte Theorie bei der Erklärung der Ergebnisse von Koalitionsbildungsprozessen häufig versagt (Fälle 1 bis 11, vgl. Tabelle 14). Vor allem in Hinblick auf die letzten beiden Punkte sehe ich weiteren Forschungsbedarf: Über die in diesem Aufsatz hinausgehenden Analysen sind die Grade der Ämter- und Policy-Motivation der einzelnen Parteien 16 17
Im Sinne von ,schlechter als eine zufällige Auswahl’. Ab etwa diesem Zeitpunkt erreichen die Daten über Policy-Positionen ein akzeptables Unsicherheitsniveau mit eher geringen Konfidenzintervallen (vgl. Linhart und Shikano 2007a).
218
zu bestimmen. Wenn die entsprechenden Variablen αi und βi keine Unbekannten mehr darstellen, kann die Sened-Theorie für Deutschland näher spezifiziert werden. Dies nährt die Hoffnung, deren Erklärungskraft weiter zu steigern und die allgemeine Theorie zu verbessern. Zweitens sind Determinanten zu identifizieren, die neben der Ämter- und Policy-Orientierung Motivationen für (deutsche) Parteien darstellen, bestimmte Koalitionen einzugehen. Offenbar sind zusätzliche Motivationen vorhanden (etwa im Sinne von vote seeking, vgl. Strøm und Müller, 1999), die durch die Sened-Theorie nicht abgedeckt sind. Die Theorie muss zukünftig so erweitert werden, dass auch die hier (noch) nicht erklärbaren Koalitionen erklärt werden können. 7 Anhang: Parteiakronyme
Partei Akronym
C CDU/ CSU
S SPD
F FDP
G Grüne
P PDS, Linkspartei
Dp DP
Gb GB/ BHE
Fv FVP
Bp Bayernpartei
Zp Zentrum, Zentrumspartei
Kp KPD
Wv WAV
Dr DRP, DKPDRP
Sw SSW
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222
Woher wissen wir, was wir wollen? Möglichkeiten und Grenzen der Rationalisierung von Präferenzen Claudia Landwehr
1 Einleitung Präferenzen spielen in allen sozialwissenschaftlichen Theorien eine große Rolle. In den einzelnen Disziplinen kommen sie entweder als Ursache oder als Resultat von Handlungen und Ereignissen ins Spiel. Handlungstheoretische, rationalistische Ansätze beschränken sich in der Regel auf ihre Rolle als Ursache, während Fragen nach dem Ursprung von Präferenzen eher konstruktivistischen Ansätzen überlassen bleiben. Im ersteren Fall sind Präferenzen Erklärungsmodellen vollständig exogen. Ihre Entstehung gehört hier nicht zum Untersuchungsgegenstand, entscheidend ist, dass Handlungen und Entscheidungen auf ihrer Grundlage als rational beschrieben werden können. Im zweiten Fall sind Präferenzen, und Handlungsmotive generell, vollständig endogenisiert, was bedeutet, dass ihnen selbst kein Erklärungspotential mehr zukommt. Offen ist, ob Präferenzen ihrerseits nicht nur Handlungen rational motivieren, sondern auch selbst das Resultat einer rationalen Entscheidung sein können, ob sie also „rationalisierbar“ sind. Der Artikel geht der Frage nach, inwieweit sich die Bildung und Transformation von Präferenzen rationalisieren lässt. Eine Antwort hierauf ist unter anderem für Theorien der deliberativen Demokratie sowie für Lerntheorien von Bedeutung, die Bedingungen für die Entstehung „besserer“ oder „moralischerer“ Präferenzen aufzeigen wollen. Wichtig scheint hierbei, dass Präferenzen zumindest teilweise endogenisiert, also als Resultat äußerer Bedingungen betrachtet werden. Zugleich muss die Annahme einer gewissen Autonomie, also Exogenität, von Handlungsmotiven gewahrt bleiben. Andernfalls fehlt nicht nur die Grundlage für wohlfahrtstheoretische moralische Argumente, sondern es bleibt auch unklar, aus welchen Gründen sich Akteure Prozessen aussetzen sollten, die ihre Präferenzen verändern. Hierzu wird wie folgt vorgegangen: Abschnitt 2 bemüht sich um eine Klärung des Präferenzbegriffs und zeigt unterschiedliche Verwendungsweisen sowie mögliche Begriffsbestandteile und Attribute auf. Dabei wird ins-
besondere ein Unterschied zwischen einem eher in der ökonomischen Literatur gängigen rein volitivem Präferenzbegriff und einem eher politikwissenschaftlichen Begriff, in dem sich volitive mit kognitiven Aspekten vermischen, ausgemacht. Im ersteren Fall sind die Objekte einer Präferenzordnung zugängliche Weltzustände, im zweiten Fall verfügbare Handlungsoptionen oder -strategien. Diese unterschiedlichen Präferenzbegriffe werden mit der Differenzierung in grundlegende, intrinsische Präferenzen und von diesen abgeleitete extrinsische Präferenzen terminologisch erfasst. Abhängig davon, ob man sich auf intrinsische oder auf extrinsische Präferenzen bezieht, muss auch die Frage nach ihrer Entstehung und Rationalisierbarkeit unterschiedlich beantwortet werden. Abschnitt 3 befasst sich mit der Transformation extrinsischer Präferenzen, die instrumentell für die Verfolgung übergeordneter intrinsischer Präferenzen sind. Aus Sicht der ökonomischen Theorie handelt es sich hierbei weniger um eine Transformation von Präferenzen als um eine Anpassung von Erwartungen. Für viele politikwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände dagegen, so das Argument an dieser Stelle, sind extrinsische Präferenzen zentral, da Informationen über intrinsische Präferenzen entweder nicht vorhanden oder viel zu abstrakt sind. In Abschnitt 4 geht es schließlich darum, ob auch die Bildung und Transformation intrinsischer Präferenzen rationalisierbar ist. Zur Illustration wird auf ein Modell von Steedman und Krause zurückgegriffen, das für die Aggregation konkurrierender Handlungsgründe zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie Arrow für die Aggregation von individuellen zu sozialen Präferenzordnungen. Das Fazit weist auf mögliche Schlussfolgerungen für die Forschung über politische Willensbildung und für die Demokratietheorie hin. 2 Der Präferenzbegriff in den Sozialwissenschaften Der semantische Kern des Präferenzbegriffs, auf den sich Vertreter unterschiedlicher Konzeptionen einigen können sollten, ließe sich wie folgt umschreiben: Präferenzen interessieren uns, um auf die Terminologie von Donald Davidson zurückzugreifen, als mentale „pro-attitudes“, die Handlungen motivieren und damit in ihrer Beschreibung eine erklärende Funktion einnehmen können.1 Sie stellen eine komparative Evaluation dar, bilden also eine wertende Relation zwischen mindestens zwei Objekten. In diesem Sinne gibt es streng genommen keine Präferenzen, sondern nur Präferen1
Siehe Davidson (1980a,b).
224
zordnungen über zwei oder mehr Elemente. Es geht nicht darum, ob wir etwas mögen, sondern darum, ob wir es lieber mögen als etwas anderes, ebenso Verfügbares. Mit anderen Worten: das Verb „präferieren“ erfordert mindestens zwei Objekte (Fehige und Wessels, 1998, xxi-xxii). Neben dem komparativen Charakter des Präferenzbegriffs scheint die Vollständigkeit, oder Konnexität, von Präferenzordnungen Bestandteil seiner Logik und vergleichsweise unumstritten zu sein, wie Feldmans sparsame Erläuterung des Begriffs in seiner Einführung in die Wohlfahrtsökonomie deutlich macht: We suppose that there is a set of states, or alternatives, or bundles of goods, or „things“ in the world. ... The first fundamental assumption we make is that people know what they like: they know their preferences among the set of things (Feldman, 1980, 9). Verwandte Aspekte von Präferenzordnungen sind ihre Asymmetrie (ich präferiere unter gleichen Bedingungen zum gleichen Zeitpunkt nicht zugleich x über y und umgekehrt) und Transitivität (wenn ich x gegenüber y und y gegenüber z präferiere, dann auch x gegenüber z). In Bezug auf die Transitivität von Präferenzordnungen lassen sich zahlreiche Gegenbeispiele erdenken, die darauf hinweisen, dass die Verwendung des Begriffs auch für intransitive Beziehungen zwischen Elementen sinnvoll und nur das aus ihnen resultierende Verhalten gegebenenfalls irrational oder inkonsistent ist. Gleiches könnte für die Annahme der Vollständigkeit gelten. Hierbei stellt sich aber zunächst die Frage, über welche Art von Objekten („things“) eine vollständige Präferenzordnung definiert sein soll. Feldmans Erläuterung des Präferenzbegriffs lässt, wie viele andere, diese Frage offen. Zumindest aber scheint die Art der Elemente, über die eine Ordnung definiert ist, kein Bestandteil der Logik des Präferenzbegriffs zu sein, sondern ein Attribut desselben. Als solches ist es aber, wie im Folgenden gezeigt wird, für das Verständnis der Begriffsverwendung unerlässlich. 3 Objekte von Präferenzordnungen Druckman und Lupia definieren in einer der wenigen Arbeiten zur Rolle des Präferenzbegriffs in der Politikwissenschaft die Objekte von Präferenzen schlicht über ihre Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit innerhalb einer Dimension: „The objects of preference are those that a person can imagine
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as substitutable“ (Druckman und Lupia, 2000, 3). Die prinzipielle Austauschbarkeit von Optionen gibt der Präferenzrelation erst den Sinn, der sie zur Grundlage einer rationalen Entscheidung qualifiziert. Präferenzrelationen können insofern nur zwischen Objekten desselben Typs bestehen, nicht aber zwischen Objekten unterschiedlicher Typen. Insbesondere können Handlungsergebnisse bzw. der aus ihnen resultierende Nutzen nicht auf einer Ebene mit Handlungsoptionen, für die ein Akteur sich entscheiden kann, verglichen werden: Preference can be defined in such a way as to preserve its correspondence with choice, or defined as to keep it in line with welfare as seen by the person in question, but it is not in general possible to guarantee both at the same time. Something has to give place to the other (Sen 1982: 73). Die Unterscheidung zwischen einem nutzen- und einem entscheidungsorientierten Präferenzbegriff ist dahingehend von großer Bedeutung, wie die Vollständigkeit von Präferenzordnungen zu definieren ist.2 Wenn Präferenzen als Maßstab für Nutzen oder Wohlfahrt verstanden werden, beziehen sich Präferenzordnungen auf mögliche Handlungsergebnisse (d.h. Weltzustände), wenn sie als Entscheidung verstanden werden, auf verfügbare Handlungsoptionen. Dabei ist sowohl denkbar, dass eine Präferenzordnung zwar über mögliche Weltzustände, nicht aber über Handlungsoptionen, oder umgekehrt zwar über die verfügbaren Optionen, nicht aber über alle denkbaren Handlungsergebnisse, vollständig definiert ist. Bei der vollständigen Definition einer Präferenzordnung über Weltzustände handelt es sich um ein volitives Problem, bei der Definition einer von dieser abgeleiteten Präferenzordnung über Handlungsoptionen zumindest teilweise auch um ein kognitives Problem. Betrachtet man das klassische Modell rationalen Handelns, in dem sowohl Volition (desires) als auch Kognition (beliefs) eine klare Rolle haben, so bleibt unklar, wie Präferenzen in diesem Schema unterzubringen sind: Desires, also grundlegende Bedürfnisse, sind die eigentliche Ursache für Handlungen. Beliefs sind Überzeugungen oder Vermutungen darüber, ob 2
Traditionell spielt in der Politikwissenschaft der Interessenbegriff eine herausgehobene Rolle, während die Begriffe des ,Nutzens’ und der ,Präferenz’ überwiegend in der ökonomischen Literatur auftauchen. Interesse wird im Folgenden keinesfalls als synonym oder äquivalent zu Präferenzen begriffen, sondern als ein möglicher Handlungsgrund, der Präferenzen über Weltzustände motivieren kann (aber nicht muss).
226
Action Desires
Beliefs Evidence
Abbildung 1: Das Modell rationalen Handelns Quelle: Elster (1989, 31)
sich konkrete Optionen bzw. Strategien zur Erfüllung von Bedürfnissen oder Verfolgung von Zielen eignen. Präferenzen könnten nun theoretisch anstelle der desires oder anstelle des Produkts aus beliefs und desires, der Handlung oder Entscheidung zur Handlung, eingesetzt werden. Im letzteren Fall enthält der Präferenzbegriff also sowohl eine kognitive als auch eine volitive Komponente, während er sich im ersteren allein auf die volitive Komponente beschränkt. Ein rein volitiver Präferenzbegriff ist gleichbedeutend mit einem nutzenorientierten Verständnis von Präferenzen, in dem diese über mögliche Weltzustände definiert sind. Ein Beispiel für einen solchen Begriff, wie er in erster Linie in der Ökonomie gängig ist, findet sich bei Gebhard Kirchgässner, der Präferenzen als stabile Maßstäbe, anhand derer Handlungskonsequenzen beurteilt werden, verstanden wissen will: Wenn ein Individuum seine Meinung über die relative Vorteilhaftigkeit einer bestimmten Handlungsalternative deshalb ändert, weil es jetzt genauer über deren Konsequenzen Bescheid weiß, so hat das nichts mit einer Veränderung der Präferenzen zu tun, wohl aber mit einer Veränderung des Informationsstandes (Kirchgässner, 2000, 41). Rationale Handlungen werden in diesem Verständnis über die Kalkulation eines Erwartungsnutzens aus der Präferenzordnung abgeleitet. Aus den verfügbaren Handlungsoptionen wird diejenige ausgewählt, die unter Berücksichtigung sämtlicher Risiken den höchsten Nutzen erzeugt (Anand, 1995, Kap.1). Die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, so wird dabei in der Regel angenommen, erfolgt quasi automatisch durch Aktualisierung (updating) von Überzeugungen im Lichte neuer Evidenz. 227
Die mangelnde Handlungsbezogenheit eines rein volitiven Präferenzbegriffs hat andere Theoretiker dazu veranlasst, zusätzlich kognitive Aspekte zu berücksichtigen. Wie Kenneth Arrow begründet: „... the welfare judgments formed by any single individual are unconnected with action and, therefore, sterile“ (Arrow, 1963, 106).3 Vanberg und Buchanan etwa (Vanberg und Buchanan, 1994) differenzieren im Zusammenhang der Verfassungsökonomie eine ,theory’ und eine ,interest’ Komponente von Präferenzen. Für die Auswahl von Entscheidungsregeln, so ihr Argument, spielen Theorien darüber, welche Folgen diese in der Praxis haben werden, eine ebenso große Rolle wie die Interessen einzelner Akteure. Derartige Theorien lassen sich durch subjektive Wahrscheinlichkeiten allein offenbar nicht angemessen in ihr Modell integrieren, weshalb sie als zusätzliche Komponente von Präferenzen erfasst werden. Insbesondere bei der Beschäftigung mit politischer Willensbildung und Entscheidung scheint es schwieriger als bei der Analyse von Marktereignissen, Präferenzen ohne kognitive Komponente zu konstruieren. Die Wirkung politischer Entscheidungen ist in der Regel sehr mittelbar und eher langfristig, wobei der Einfluss politik-externer Faktoren schwer zu kontrollieren ist. Um die Entscheidung für spezifische Handlungsoptionen zu erklären, ist es daher oft notwendig, auf Präferenzen zu rekurrieren, die ihrerseits von abstrakteren Zielvorstellungen abgeleitet sind. So könnte die Präferenz für eine angebots- über eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik durchaus dazu dienen, die Auswahl konkreter wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu rationalisieren, obwohl sie selbst auf prinzipiell transformierbaren Annahmen über Kausalzusammenhänge beruht. Entscheidungen zwischen politischen Handlungsoptionen lassen sich also nicht oder nur sehr vermittelt durch Präferenzen über mögliche Weltzustände rationalisieren. Vielmehr beruhen sie auf Präferenzen etwa über bestimmte politische Programme, die selbst instrumentelle Optionen sind. Informationen über die übergeordneten Präferenzen, von denen solche Präferenzen über Handlungsoptionen inferentiell abgeleitet werden, sind in der Regel entweder nicht zugänglich oder viel zu abstrakt.4 Aus diesem Grund ist ein Präferenzbegriff, der Handlungsoptionen oder -strategien als Objekte von Präferenzordnungen betrachtet und sich von daher eher auf Entschei3 4
Vgl. Pattanaik (2003). Viel zu abstrakt zur Rationalisierung politischer Handlungspräferenzen sind in der Regel etwa grundlegende Präferenzen für physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung, wie Lindenberg und Frey sie unterstellen wollen (Lindenberg und Frey, 1993, 195/6).
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dungen als auf Nutzen bezieht, für viele politikwissenschaftliche Fragestellungen durchaus sinnvoll und auch verbreitet. Da abgeleitete Präferenzen über Handlungsoptionen instrumentell für übergeordnete Ziele sind, haben sie immer eine kognitive Komponente. Hierdurch können sie schwerlich als stabil und sozialen Prozessen exogen unterstellt werden, wie Cass Sunstein betont: . . . preferences are not fixed and stable, but are instead adaptive to a wide range of factors - including the context in which the preference is expressed, the existing legal rules, past consumption choices, and culture in general (Sunstein, 1990, 5). Ferejohn hebt in einem Kommentar zu Sunstein (1993) den Unterschied zwischen genuinen Präferenzen, die sich auf „echte“, fundamentale Güter bezögen, und induzierten Präferenzen, die durch Überzeugungen motiviert seien und sich auf „konstruierte Entitäten“ bezögen, hervor: „[c]hange those beliefs, and preference between things one and two will also shift“ (Sunstein, 1993, 236). Wenn die instabile, transformierbare Komponente eines solchen eher politikwissenschaftlichen Präferenzbegriffs allein die kognitive ist, dann bleibt dieser also durchaus kompatibel mit der ökonomischen Annahme, dass genuine Präferenzen sich auf alternative Weltzustände beziehen und stabil sind. Präferenzbegriffe, die sich hinsichtlich der Objekte von Präferenzordnungen (Handlungsoptionen vs. Weltzustände) und hinsichtlich ihres Bezugspunktes (Entscheidung vs. Nutzen) unterscheiden, lassen sich mit dem Begriffspaar extrinsisch / intrinsisch terminologisch fassen und konzeptionell verbinden. Intrinsische Präferenzen sind zunächst rein volitiv: hier wird etwas um seiner selbst willen und nicht als Mittel zum Zweck präferiert. Extrinsische Präferenzen leiten sich inferentiell aus intrinsischen ab und sind instrumentell für diese (Fehige und Wessels, 1998, xxv). Für Präferenzen, die sich etwa auf mögliche Policies beziehen, können nun Aussagen darüber angestrebt werden, inwieweit sie intrinsisch und inwieweit sie extrinsisch motiviert sind. Extrinsische Präferenzen lassen sich über intrinsische Präferenzen und Überzeugungen rationalisieren, so dass sie auch in erklärenden Modellen endogenisiert werden können. Der folgende Abschnitt argumentiert folglich, dass die Annahmen der Vollständigkeit und Stabilität aufgegeben werden können, um die Bildung und Transformation extrinsischer politischer Präferenzen abzubilden. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, wie mit Unvollständigkeit und Wandel intrinsischer Präfe-
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renzen, also dem volitiven Aspekt politischer Willensbildung, umzugehen ist. Ihr wird in Abschnitt 4 nachgegangen. 4 Rationalisierung extrinsischer Präferenzen Sind intrinsische Präferenzen bekannt, dann lassen sich Präferenzordnungen über Handlungsoptionen anhand von Überzeugungen rationalisieren oder umgekehrt aus extrinsischen Präferenzen über verfügbare Optionen Akteursüberzeugungen ableiten. Da Überzeugungen sich im Lichte neuer Informationen ständig wandeln, können extrinsische Präferenzen nicht als stabil unterstellt werden. Vielmehr ist ihr Wandel und ihre Anpassung an neue Sachverhalte und Erkenntnisse gerade für die Politikwissenschaft ein wichtiger und fruchtbarer Untersuchungsgegenstand. Besonders interessant ist der Fall, in dem unter Bedingungen unvollständiger Information die zur Wahl stehenden Optionen nicht erfolgreich zueinander in Beziehung gesetzt werden können, die Präferenzordnung also unvollständig bleibt und zunächst nicht handlungsmotivierend wirken kann. Aus Sicht der ökonomischen Theorie bezieht sich Unvollständigkeit in diesem Fall nur auf die Information, nicht auf Präferenzordnungen, da intrinsische Präferenzen ja stabil und vollständig definiert sind. Wenn man aber politische Programme oder Strategien als Objekte von Präferenzordnungen einsetzen möchte, müssen für diese extrinsischen Präferenzen auch Unvollständigkeit und Transformierbarkeit in Betracht gezogen werden. Unsicherheit aufgrund unvollständiger Informationen kann dabei sowohl über die Anzahl und Verfügbarkeit von Optionen bestehen als auch über die Konsequenzen ihrer Auswahl. Der Umgang mit Unsicherheit ist empirisch ein Problem rationaler Entscheidung und kann auch auf der analytischen Ebene als solches rekonstruiert werden. Die Separierung von Präferenzen in eine volitive Komponente (Nutzen) und eine kognitive Komponente (Wahrscheinlichkeit) erlaubt für Risikosituationen etwa die Kalkulation eines Erwartungsnutzens für die verfügbaren Optionen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Identifizierung von kostenminimierenden und nutzenmaximierenden Strategien. Wichtig ist aber vor allem die Frage, wie und wie lange nach weiteren Informationen gesucht werden soll, bevor auf Grundlage des aktuellen Informationsstandes eine Entscheidung gefällt wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Suche nach Informationen und ihre Verarbeitung Kosten verursachen und der durch eine Entscheidung erzielte Nutzen sich gegebenenfalls reduziert, wenn diese zu lange herausgezögert wird. Notwendig sind also Heuristiken zur Informationssuche und ihrer Be230
Lüge Wahrheit
Lüge 1,1 0,4
Wahrheit 4,0 3,3
Tabelle 1: Aufrichtigkeit als dominierte Strategie im Gefangenendilemma endigung, wie sie etwa im Rahmen des Bounded Rationality-Ansatzes vorgeschlagen werden (Gigerenzer und Selten, 2002). Ein denkbarer Ausweg aus einer Situation der Handlungs- und Entscheidungsunfähigkeit aufgrund unvollständiger extrinsicher Präferenzen besteht in einem ,information pooling’. Wenn Akteure ihre individuellen Erfahrungen und Kenntnisse wie Puzzlesteine zusammenfügen, mag sich im Ergebnis ein kohärentes Gesamtbild als gemeinsame Situationsdefinition ergeben, welche Handlungsalternativen zu den angestrebten Konsequenzen in Beziehung setzt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Verständigung über solche kausalen Zusammenhänge ist die Überwindung des klassischen Schwarzfahrerproblems oder kollektiven Gefangendilemmas: sofern Überzeugungen anderer Spieler strategisch relevant sind, besteht die dominante Strategie für jeden einzelnen Spieler darin, zu lügen oder Informationen vorzuenthalten. Wer kooperiert, also aufrichtig ist und die Wahrheit sagt, läuft in Gefahr, ausgenutzt zu werden. Allerdings können gerade unter Bedingungen von Unsicherheit und Überkomplexität strategische Überlegungen zeitweise in den Hintergrund treten. Darüber hinaus sind Informationen nicht unter allen Umständen strategisch relevant, und es können sogar Anreize zur Präsentation von guten Argumenten und Belegen bestehen, etwa in Expertenrunden. Schließlich sind Fälle denkbar, in denen eine Gruppe von Akteuren ein gemeinsames Ziel verfolgt und in der Kommunikation gemeinsam eine instrumentell rationale Problemlösung anstrebt. Die Frage nach der Unvollständigkeit und Transformation extrinsischer Präferenzen angesichts unvollständiger Information hat in der politikwissenschaftlichen Literatur bereits einige Beachtung gefunden. Otto Keck schlägt eine unorthodoxe Version der Spieltheorie vor, die die Grundannahme vollständiger Information bzw. des common prior aufgibt und den Wandel von Akteursstrategien durch neue Informationen beschreibt (Keck, 1995). An einem Beispiel der Erosion von Gemeinschaftsgütern (der Allmende) zeigt er, wie die Unkenntnis der Überweidungsproblematik auf der einen und der Spielsituation auf der anderen Seite die Auswahl von Hand231
lungsstrategien problematisch macht. Sobald durch Kommunikation eine gemeinsame Situationsdefinition erreicht und die Spielmatrix transparent sei, so Keck, könne durch Verhandlungen im Sinne der kooperativen Spieltheorie eine konsensuelle Lösung herbeigeführt werden. Kecks Argumentation ähnelt derjenigen von Peter M. Haas, der den Bedeutungszuwachs von ,epistemic communities’ darüber erklärt, dass Unsicherheit und Überkomplexität Nutzenmaximierung und Machtpolitik unmöglich machen können (Haas, 1992). Das Problem der Bildung und Transformation von Präferenzen über Handlungsalternativen bleibt in dieser Sichtweise zunächst nur ein kognitives. Sobald Sicherheit über Optionen und ihre Konsequenzen hergestellt ist, ist die Unvollständigkeit der Präferenzordnung behoben und das Entscheidungsproblem gelöst. 5 Rationalisierung intrinsischer Präferenzen Die einseitige Konzentration der Entscheidungstheorie (und ökonomischen Theorie generell) auf instrumentelle Aspekte wird etwa von John Searle kritisiert: „Decision theory ... only applies after the hard parts of the decision have already been made. ... The really hard part of practical reason is to figure out what the ends are in the first place“ (Searle, 2001, 125). Kann die Entscheidung über Ziele oder Bewertungsmaßstäbe Gegenstand einer rationalistischen Theorie sein? Soweit es bei intrinsischen Präferenzen allein um individuelle Vorlieben und Geschmäcker geht, implizieren Aussagen über deren Rationalität offensichtlich einen nicht vertretbaren Paternalismus (vgl. Nozick, 1993, 64). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Individuen sich der Herausforderung der Zielsetzung und Willensbildung nicht stellen müssten und ihr nicht durch rationale Entscheidung zu begegnen suchten. Insbesondere erscheint es fragwürdig, individuelle Handlungsmotive auf Geschmäcker zu reduzieren, über die sich nicht streiten lässt. Nozicks Argument richtet sich also allenfalls gegen bestimmte präskriptive Theorien der Präferenzbildung, nicht aber gegen Rationalisierung intrinsischer Präferenzen im Allgemeinen. Gary S. Becker hat vorgeschlagen, Präferenzen in Hinblick auf ihre Abhängigkeit von persönlichem Kapital, das durch individuelle Erfahrungen und Konsumentscheidungen gebildet wird, und sozialem Kapital, das durch das soziale Netzwerk des Individuums bestimmt wird, zu endogenisieren (Becker, 1996, Kap.1). Persönliches und soziales Kapital bedingen Präferenzen und Nutzenniveaus im Sinne von constraints (ibid. 22). Für Individuen sind demnach Präferenzen rational, die den eigenen Kapitalstock in 232
einer Weise beeinflussen, die einen höheren Nutzen generiert. Becker geht davon aus, dass Menschen über ihre Präferenzen wiederum aktiv in ihr persönliches und soziales Kapital und dadurch in ihren zukünftigen Nutzen investieren. Rational sind in diesem Sinne etwa Personen, die suchtverursachende Substanzen meiden, auf ihre Gesundheit achten und sich Pünktlichkeit am Arbeitsplatz angewöhnen (ibid. 11). Auch wenn Beckers Modell für die Analyse von Konsumentscheidungen fruchtbar sein mag, ist es für politische Entscheidungen weniger geeignet. Es berücksichtigt im Sinne John Harsanyis allein „subjektive“ Präferenzen, die sich aus dem eigenen Nutzen (sowie Kapital) ableiten. Nicht nur normativ, sondern auch empirisch betrachtet, scheint es jedoch sinnvoll, politische Präferenzen als „ethische“ Präferenzen, nämlich als individuelle soziale Wohlfahrtsfunktionen zu begreifen: [E]ach individual is supposed to have a social welfare function of his own, expressing his own individual values - in the same way as each individual has a utility function of his own, expressing his own individual taste. [...] His „ethical“ preferences (which define his social welfare function) [...] will, by definition, express what he prefers only in those possible rare moments when he forces a special impartial and impersonal attitude upon himself (Harsanyi, 1955, 315). Zwar haben auch Konsumentscheidungen Auswirkungen auf andere Menschen, für politische Entscheidungen ist dies jedoch per Definition und in besonderer Weise der Fall. Auch wenn die Berücksichtigung moralischer Werte und der Interessen anderer im Zweifel in Konflikt mit subjektiven Präferenzen steht (Harsanyi spricht ja auch davon, dass das Individuum sich ethische Präferenzen aufzwingt), scheint die umgekehrte Annahme, dass allein der individuelle Nutzen politische Präferenzen motiviert, nur begrenzt brauchbar. Ansatzpunkt für Überlegungen zum Zustandekommen von Präferenzen als Maßstab individuellen Nutzens ist häufig die Kritik am ,revealed preference’-Ansatz, der aus beobachtbaren Entscheidungen für konkrete Optionen Aussagen über Präferenzen ableiten will, die dann zur Vorhersage zukünftiger Entscheidungen dienen sollen (Vgl. Pettit, 1991; Grüne, 2007). Das Problem hierbei ist, dass der mit der Entscheidung herbeigeführte Weltzustand über zahllose Eigenschaften verfügt, wobei unklar bleibt, welche dieser Merkmale für die Entscheidung ausschlaggebend waren. Selbst wenn man Weltzustände auf Handlungsergebnisse reduziert, also nur die233
jenigen ihrer Eigenschaften in Betracht zieht, die durch die Handlung beeinflussbar sind, bleibt ihre Komplexität problematisch. Strenggenommen kann der revealed preference-Theoretiker daher nur Entscheidungen in exakt identischen Entscheidungssituationen auf der Grundlage seiner Beobachtungen prognostizieren. Dabei unterscheidet sich bereits die Wiederholung einer Entscheidungssituation unter exakt identischen äußeren Bedingungen von der Originalsituation eben darin, dass sie eine Wiederholung ist. Ein Akteur, der in der Originalsituation Option x statt y wählt, weil er den hieraus resultierenden Weltzustand vorzieht, entscheidet sich in der Wiederholungssituation möglicherweise nur deshalb für x, weil er die Konsistenz seines Entscheidungsverhaltens wahren will. Um Präferenzen inhaltlich zu spezifizieren und ihnen ein prognostisches Potential zukommen zu lassen, ist also maßgeblich, warum Weltzustände präferiert werden und nicht allein dass sie präferiert werden. Für die Entscheidung relevante Eigenschaften von Weltzuständen, also solche, die durch die Entscheidung für eine Option manipulierbar sind, motivieren die Auswahl und stellen somit Handlungsgründe dar. Handlungsgründe können auf „subjektiven“ Geschmäckern, Zielen und Interessen oder auf „ethischen“ Werten, Verpflichtungen und Konventionen beruhen. Es ist naheliegend anzunehmen, dass jeder Mensch über eine Vielzahl solcher Handlungsgründe verfügt, in deren Konkurrenz das eigentliche Entscheidungsproblem liegt. Grüne schlägt einen ceteris paribus-Ansatz zur Präferenzdefinition vor (2005).5 Eine relevante Eigenschaft p motiviert diesem zufolge die Auswahl eines Weltzustandes wp gegenüber w¬p zunächst nur insoweit wie die Weltzustände - abgesehen von p - sich maximal ähnlich sind. In einer über vier Eigenschaften definierten Welt wäre die Präferenz für w1 über w2 also auf eine ceteris paribus-Präferenz für Welten mit p über Welten ohne p zurückzuführen. Eine solche ließe sich auch im Sinne des revealed preference-Ansatzes aus der Auswahl von w1 anstelle von w2 ableiten. Eine absolute Präferenz für wip über wi¬p hingegen wäre anhand des revealed preference-Ansatzes empirisch schwer zu belegen, da eine unrealistisch große Zahl von Entscheidungen beobachtet werden müsste (Grüne 2005). Angenommen, die Eigenschaft p ist in Bezug auf einen moralischen Handlungsgrund mit kategorischer Logik, etwa das Verbot des Tötens, relevant. 5
Grüne verwirft den ceteris paribus-Ansatz jedoch im Folgenden, da er kausale Interdependenzen zwischen den Eigenschaften von Weltzuständen außer Acht läßt.
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Weltzustände
w1 w2 w3 w4 w5
Eigenschaften p q r s ¬p q r s p ¬q ¬r ¬s p ¬q r s p q ¬r ¬s
Tabelle 2: Weltzustände mit vier Eigenschaften Welten wip wären Welten, in denen die Todesstrafe verboten ist (und die also aus moralischen Gründen präferiert werden), Welten wi¬p Welten, in denen sie erlaubt ist. Die Eigenschaften q, r und s (z.B. Kriminalitätsrate, Resozialisierungskosten und Arbeitslosenquote) wären aus anderen ethischen oder aus subjektiven Gründen für die Entscheidung relevant und prinzipiell separierbar. Die Entscheidung für w3 (in der die Todesstrafe verboten ist) gegenüber w2 (in der sie erlaubt ist) würde nun erst dann die Annahme einer absoluten Präferenz für wip über wi¬p begründen, wenn ceteris paribus-Präferenzen q über ¬q, r über ¬r und s über ¬s feststünden und weitere relevante Eigenschaften ausgeschlossen werden könnten. Auch bei einer absoluten (oder kategorischen) Präferenz für wip müsste eine Präferenzrelation zwischen Weltzuständen wie w4 und w5 jedoch erst definiert werden. Nur dann, wenn p tatsächlich deren einzig relevante Eigenschaft und damit der einzige Handlungsgrund ist, kann eine vollständige Präferenzordnung über alle möglichen Weltzustände vorausgesetzt werden: jeder Zustand wip würde gegenüber jedem Zustand wi¬p vorgezogen, zwischen unterschiedlichen Weltzuständen mit bzw. ohne Eigenschaft p bestünde Indifferenz. Maßgeblich ist also nicht die Bewertung vollständiger Weltzustände, sondern die Kenntnis und Anwendung von Bewertungsmaßstäben im Sinne Kirchgässners (2000: 41, s.o.), die sich auf Eigenschaften von Weltzuständen beziehen. Es stellt sich also die Frage, wie die Vielzahl unterschiedlicher und konfligierender Handlungsgründe zu einer vollständigen Präferenzordnung über Weltzustände zu aggregieren ist. Steedman und Krause haben die Entscheidung darüber, was man eigentlich will, als internes Arrow-Problem charakterisiert (Steedman und Krause, 1986). Sie kommen zu dem Schluss, dass es für „nicht-harmonische“ Entscheider keine Aggregationsregel gibt, die in jeder Entscheidungssituation eine vollständige und transitive Präferenzordnung generieren und nicht gegen eine von Arrows Bedingungen verstoßen 235
würde. Nicht-harmonisch ist ein Entscheider, sobald er über Handlungsgründe verfügt, die im Einzelfall unterschiedliche Präferenzordnungen über alternative Weltzustände motivieren können. Dies ist etwa dann der Fall, wenn subjektive Ziele untereinander oder mit ethischen Vorstellungen im Konflikt stehen. Bei der Zielsetzung von Vollständigkeit und Transitivität müsste die aus Handlungsgründen aggregierte Präferenzordnung über Weltzustände also den von Arrow formulierten Bedingungen genügen (Arrow 1963, vgl. Feldman 1980, Kap. 10). Gegen die Non dictatorship-Bedingung (D) verstoßen Akteure, die einen einzigen Handlungsgrund für alle ihre Entscheidungen ausschlaggebend machen. Für solche eindimensionalen oder fanatischen Charaktere ist der gewählte Bewertungsmaßstab zugleich der interne Diktator (Steedman und Krause, 1986, 208).6 Gegen die Pareto-Bedingung (P) verstoßen Akteure, die Weltzustände wählen, die hinsichtlich aller Handlungsgründe ebenfalls verfügbaren Zuständen unterlegen sind; eine solche Entscheidung würde üblicherweise als irrational angesehen (ebd.). Gegen die Unrestricted domain-Bedingung (U) verstößt, wer Handlungsgründe, die eine bestimmte Präferenzordnung über Weltzustände motivieren würden, von vornherein von der Berücksichtigung ausschließt, also nicht für jede Art von Gründen offen ist. Ein solcher Akteur liefe in Gefahr, aus einem Mangel an Flexibilität irrationale Entscheidungen für suboptimale Weltzustände zu treffen (ebd.). Arrows Independence of irrelevant alternatives-Bedingung (I) schließlich ist diejenige, die in der Wohlfahrtsökonomie am häufigsten in Frage gestellt wird (Feldman, 1980, 193/4) und auch bei Steedman und Krause den einzigen - wenn auch in mancherlei Hinsicht unbefriedigenden - Ausweg aus dem Aggregationsproblem bietet. Bei der Suche nach einer individuellen Präferenzordnung, also beim internen Arrow-Problem, würde die Bedingung I folgende Anforderungen stellen: 1. Bei der Entscheidung zwischen drei Weltzuständen w1 , w2 und w3 darf die Präferenzrelation zwischen w1 und w2 sich nicht dadurch verändern, dass w3 aus dem Set von Optionen entfernt wird oder mit w4 eine weitere Alternative hinzugefügt wird. Die 6
Von der non dictatorship-Bedingung kann man wie im Original bei Arrow eine citizen sovereignity-Bedingung differenzieren, welche besagt, dass die Entscheidung nicht nur nicht durch ein einziges Mitglied der Gesellschaft (den Diktator), sondern auch nicht von außen (etwa durch eine Kolonialmacht) determiniert sein darf. Auf den internen Fall übertragen, würde dies erfordern, dass die Entscheidung nicht durch einen anderen Akteur als den Entscheidenden selbst bestimmt wird.
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Handlungsgründe, die eine Präferenzordnung w1 > w2 > w3 motivieren, dürfen also nicht interdependent sein, d.h. ob p ein Grund ist oder nicht, darf nicht davon abhängen, ob q ein Grund ist.7 2. Um die Unabhängigkeit von Präferenzrelationen von irrelevanten Alternativen zu bewahren, muss auf einen Meta-Bewertungsmaßstab (wie etwa im Borda-Verfahren) verzichtet werden. Ein solcher könnte für jeden Handlungsgrund kardinale Gewichte auf die verfügbaren Weltzustände verteilen, so dass sich aus der Addition der Gewichte eine Präferenzordnung über diese ergibt. Problematisch ist hier jedoch, dass die Gewichtung eines Weltzustandes abhängig davon wird, wie andere Weltzustände in Hinblick auf den entsprechenden Handlungsgrund gewichtet sind und Unabhängigkeit somit nicht mehr gewährleistet werden kann. Gibt man die Bedingung I auf, lässt also interdependente Präferenzrelationen und kardinale Gewichtung zu, ergibt sich eine Vielzahl möglicher Aggregationsregeln, die in jeder Entscheidungssituation eine vollständige und transitive Präferenzordnung über alternative Weltzustände generieren würden. Sofern in jeder Situation S die Anwendung jeder Regel dieselbe Präferenzordnung hervorbringen würde, wäre das Problem somit gelöst und Entscheidung zwischen möglichen Regeln irrelevant: jede ist so gut wie jede andere. Wenn unterschiedliche Aggregationsregeln jedoch unterschiedliche (wenn auch jeweils vollständige und transitive) Ordnungen generieren, wird die Entscheidung zwischen Regeln zum Problem. Der Aggregationsmechanismus wird in diesen Fällen kreativ, das heißt, dass das Ergebnis (auch) von ihm und nicht allein von den Handlungsgründen abhängt. Steedman und Krause zeigen, dass nur für harmonische Charaktere (also solche, bei denen Handlungsgründe nicht miteinander im Konflikt stehen) eine nichtkreative Aggregation möglich ist (1985: 219). In allen anderen Fällen ist auch für die Regelauswahl eine Aggregation von Gründen notwendig, die mit denselben Problemen behaftet ist - die Entscheidung endet also in einem Regress. Situationen, in denen eine vollständige Präferenzordnung notwendig aus gegebenen Handlungsgründen folgt, sind daher nicht nur selten, sondern stellen, wie Searle kritisiert, auch kein Entscheidungsproblem dar. Die Herausforderung für Akteure besteht vielmehr darin, in Konfliktsituationen eine zugleich rationale, im Sinne von auf Gründen basierende, und kreati7
Interdependenz von Handlungsgründen (wie für die angestrebte soziale Präferenzordnung Interdependenz von Präferenzordnungen) wäre die Ursache für nicht-unabhängige Präferenzrelationen zwischen alternativen Weltzuständen.
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ve, also gewissermaßen dezisionistische Entscheidung zu treffen: „If careful deliberation ... does not lead to a decision’s ’taking itself’ ... then we are led inexorably to take an active, or creative, view of the typical decisionmaker“ (Steedman / Krause 1985: 227). Der implizierte Dezisionismus ist dabei jedoch keineswegs gleichzusetzen mit einer willkürlichen oder zufälligen Entscheidung. Dass eine Entscheidung nicht zwangsläufig ist, bedeutet nicht, dass sie nicht rational oder rationalisierbar wäre. Für den Beobachter stellt sich damit nur das altbekannte Problem, anstelle von hinreichenden nur notwendige Bedingungen nennen zu können und in der Beschreibung eher verstehend als erklärend vorgehen zu müssen (Wright, 1974, Kap. IV). Was bedeutet Unvollständigkeit intrinsischer Präferenzordnungen über Weltzustände in der Praxis? Im Extremfall Handlungs- und Entscheidungsunfähigkeit, auf die unter Umständen mit willkürlichen und irrationalen Handlungen reagiert wird. In anderen Fällen kann sie gänzlich irrelevant sein. Betrachtet man die zwei wesentlichen Entscheidungsregeln, die in der Politik Anwendung finden, die Mehrheitsabstimmung und das VetoPrinzip, so ist im ersteren Fall nur die erste, im letzteren nur die letzte Stelle in der Präferenzordnung von Bedeutung. Die fehlende Definition einer Präferenzrelation zwischen den übrigen Objekten spielt für die Entscheidung keine Rolle. Dennoch ist anzunehmen, dass Akteure in der Regel Vollständigkeit von Präferenzordnungen, wenn nicht über alle möglichen, so doch über alle zugänglichen Weltzustände anstreben. Wie bei der Unvollständigkeit extrinsischer Präferenzen führt ein naheliegender Weg hierher über die Kommunikation mit anderen Akteuren. Elijah Millgram argumentiert, dass intrinsische Präferenzen (bei ihm „desires“), um inferentiell wirksam zu sein, also extrinsische Präferenzen und Handlungen zu begründen, selbst deduktiv begründet sein müssen: Since desires serve as a basis for practical inference, desires must involve backward-directed commitments, commitments to the effect, roughly, that the desire was acquired and sustained in ways that support the practical inferences to be made from it (Millgram, 1998, 16). Auch wenn Millgram, indem er subjektive Bedürfnisse und Geschmäcker von vornherein ausklammert, intrinsische Präferenzen überrationalisiert, ist seine Grundaussage überaus plausibel: Präferenzen, die wir vor uns selbst und vor anderen rechtfertigen können, wirken stärker handlungsmotivie-
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rend als solche, für die das nicht der Fall ist.8 Dies scheint insbesondere dann zu gelten, wenn eine Entscheidung weitreichende Konsequenzen für einen selbst und andere hat. Den Einfluss von Kommunikation auf intrinsische Präferenzen darzustellen setzt jedoch eine Abgrenzung zu radikal-individualistischen Akteurskonzepten voraus. Nur dann, wenn das eigene Wollen potentiell davon beeinflussbar ist, was andere glauben und wollen, macht Kommunikation über Handlungsgründe Sinn. Wenn ein Handlungsgrund im Diskurs als Argument für oder gegen die politische Verwirklichung eines Weltzustandes angeführt wird, dann impliziert der Sprecher, dass dieser geteilt wird oder prinzipiell übertragbar ist.9 Ist die Ungerechtigkeit eines möglichen Weltzustandes für mich ein Grund, diesen abzulehnen, dann gehe ich davon aus, dass sie auch für andere Akteure ein potentiell relevanter Grund ist. Zieht man diese Art der Verständigung über Handlungsziele und Bewertungsmaßstäbe in Betracht, so wird die kreative Auswahl einer Aggregationsregel für Handlungsgründe vom individuellen zum kollektiven Entscheidungsproblem. Die Funktion der Kommunikation läge dann darin, Prioritäten und einen gemeinsamen Gewichtungsmaßstab für Weltzustände durch Handlungsgründe festzulegen, welche jeder einzelne Akteur in seiner Willensbildung anwenden kann. Im Austausch mit anderen lässt sich die Auswahl einer Aggregationsregel rationalisieren und erscheint in der Folge weniger dezisionistisch. Folgendes hypothetische Beispiel mag die möglichen Auswirkungen von Kommunikation über Handlungsgründe illustrieren: Angenommen, eine Gruppe von Akteuren sucht nach einer Entscheidung darüber, welcher von vier verfügbaren Weltzuständen zu präferieren ist. Es besteht bereits ein (beachtlicher) Konsens darüber, welche Eigenschaften dieser Weltzustände für die Bewertung relevant und damit Handlungsgründe sind: p, q und r. Die verfügbaren Weltzustände sind wie folgt definiert: Bei p handelt es sich wie zuvor um einen moralischen Wert, der einer kategorischen Logik folgt: wenn p geboten ist, dann ist p unter allen Umständen geboten und motiviert damit eine absolute und nicht nur eine ceteris paribus-Präferenz für Weltzustände mit der Eigenschaft p. Wird p in 8
9
Was nicht bedeutet, dass gut zu rechtfertigende Präferenzen auch zwangsläufig rationaler sind. Schließlich ist denkbar, dass eine Präferenz zwar begründet ist, vom Subjekt aber nicht gut begründet werden kann. Dies ist meiner Ansicht eine der Kernaussagen der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas, die von Robert Brandom sehr viel klarer herausgearbeitet wird (Brandom, 1994, bes. Kap. 3+4).
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Weltzustände
w1 w2 w3 w4
Eigenschaften p ¬q r p q ¬r ¬p q r ¬p ¬q ¬r
Tabelle 3: Kategorische und ceteris-paribus Gründe der Diskussion von einem Sprecher als gemeinsamer Handlungsgrund genannt und von den Hörern anerkannt, so kommen in Folge nur noch w1 und w2 als Optionen in Betracht. Bei q und r hingegen handelt es sich um Interessensgründe, die nur ceteris paribus-Präferenzen motivieren können. Es besteht Einigkeit darüber, dass ein Zustand mit den Eigenschaften q und r gegenüber einem ohne beide Eigenschaften vorzuziehen ist, w3 also gegenüber w4 vorzuziehen wäre. Da w3 jedoch aufgrund von ¬p nicht mehr in Betracht kommt, besteht bei der Entscheidung zwischen w1 und w2 ein Konflikt zwischen den Handlungsgründen q und r. Ergebnis der Kommunikation über q und r könnte eine erneute Prioritätensetzung dahingehend sein, dass einer der Gründe im aktuellen Fall höher zu gewichten und daher ausschlaggebend sei. Sofern es sich bei q und r nicht um absolute Eigenschaften, die entweder gegeben oder nicht gegeben sind, handelt, sondern zwischen q und ¬q und r und ¬r jeweils ein Kontinuum besteht, ist auch ein Kompromiss zwischen w1 und w2 möglich (der eine bisher nicht berücksichtigte Alternative darstellen würde). Wenn weder eine konsensuelle Gewichtung von Handlungsgründen noch ein Kompromiss zwischen ihnen möglich ist, bleibt die Möglichkeit einer Mehrheitsabstimmung über w1 und w2 , deren Ergebnis dann im engeren Sinne dezisionistisch und nicht rational motiviert ist. Ein Teil der Entscheidung jedoch, die Reduzierung von vier auf zwei Handlungsoptionen, wäre Ergebnis von Kommunikation und rational motiviert. 6 Fazit Welche Relevanz haben die hier angebrachten Überlegungen zur Unvollständigkeit von Präferenzordnungen und rationalen Präferenzbildung für die Politikwissenschaft? Für viele empirische Fragestellungen ist es mit Sicherheit hinreichend, Präferenzordnungen auf der analytischen Ebene als vollständig und stabil vorauszusetzen. Wenn es allerdings darum geht, Pro240
zesse der politischen Willensbildung unter Bedingungen von Unsicherheit und Überkomplexität zu beschreiben, muss die Unvollständigkeit extrinsischer und intrinsischer Präferenzen auch konzeptionell erfasst werden. Hierzu bedarf es eines Modells der rationalen Bildung und Transformation von Präferenzen. Auf einer solchen Grundlage ließen sich etwa aus einer steuerungstheoretischen Perspektive institutionelle Kontexte und Akteurskonstellationen identifizieren, welche die Transformation von Präferenzen befördern oder behindern. Dabei sollten insbesondere Voraussetzungen für ein erfolgreiches ,information pooling’, das auf extrinsische Präferenzen wirkt, und solche für einen Austausch von Handlungsgründen, der intrinsische Präferenzen beeinflusst, auffindbar sein. Auch für die normative Demokratietheorie ist die Feststellung, dass Stabilität und Vollständigkeit von Präferenzordnungen allenfalls auf der analytischen, nicht aber auf der empirischen Ebene vorausgesetzt werden kann, von großer Bedeutung. Insbesondere der Theorie deliberativer Demokratie, die in der aktuellen demokratietheoretischen Debatte das dominante Paradigma darstellt, mangelt es dabei jedoch an einer ausgearbeiteten Theorie der Präferenzbildung und -transformation. Dabei besteht ihre Grundannahme darin, dass Präferenzen durch Kommunikation zum einen informierter werden (extrinsische Präferenzen also auf wahren Überzeugungen beruhen) und sich zum anderen in Richtung des Gemeinwohls (also von „subjektiven“ zu „ethischen“ Präferenzen) wandeln. Will die deliberative Demokratietheorie diese Annahme verteidigen und belegen, so bedarf es eines analytischen Modells von Präferenzen, im Rahmen dessen ihre Transformation systematisch nachgezeichnet und rationalisiert werden kann. Die hier gemachten Ausführungen sollen einen ersten Schritt in diese Richtung darstellen. 7 Literaturverzeichnis Anand, Paul, 1995: Foundations of Rational Choice under Risk. Oxford: Oxford University Press. Arrow, Kenneth, 1963: Social Choice and Individual Values. New Haven: Yale University Press. Becker, Gary Stanley, 1996: Accounting for Tastes. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
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Zur Rationalität von Selbstmordattentätern. Kritische Überlegungen zur Anwendung von Rational-Choice Theorien1 Joscha Legewie und Arno Simons
1 Einleitung Aus dem Blickwinkel des nutzenmaximierenden homo oeconomicus 2 erscheint die bewusste Selbsttötung aus politischen, religiösen oder ideologischen Motiven zunächst irrational: Wie kann sich ein Akteur bei einer bewussten Abwägung der Kosten- und Nutzenfaktoren zwischen Handlungsalternativen für einen Selbstmordanschlag entscheiden? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Popularität ökonomischer Handlungstheorien scheint Selbstmordterrorismus die rationale Fundierung unserer kapitalistischen Demokratien zu sprengen. Bei der Auseinandersetzung mit Selbstmordterrorismus lassen sich nun zunächst Ansätze unterscheiden, die sich auf die Organisationsebene oder die individuelle Ebene beziehen (Witte, 2005, 152f; Elster, 2005, 233; Gambetta, 2005b, ix). Erstere fragen nach den Gründen, warum Organisationen wie Al-Qaida, Hamas oder die Tamil Tigers versuchen, über Selbstmordanschläge politischen Einfluss auszuüben und nicht andere Wege einschlagen, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Eine Erklärung mit Hilfe von Rational-Choice-Theorien (RCT) erfreut sich hier großer Beliebtheit (Pape, 2003; Pape, 2005; Witte, 2005, 154ff; Bloom, 2005, 3). Auf individueller Ebene hingegen steht die Frage im Vordergrund, warum sich Individuen 1
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Wir danken Karsten Fischer für die wertvolle Betreuung unserer Arbeit, die im Wesentlichen 2006 entstand. Große Inspiration brachten auch die zahlreichen Gespräche mit Merlin Schaeffer und Jens Ambrasat vom Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Unter homo oeconomicus verstehen wir in diesem Zusammenhang das in der klassischen Ökonomie vorherrschende Modell des Menschen als einen Akteur mit stabilen und geordneten Präferenzen, der seinen eigenen, ökonomischen Nutzen auf Grundlage vollkommener Information im Rahmen gegebener Restriktionen maximiert (Esser, 1999, 236f).
für einen Anschlag entscheiden. Bislang ist die Diskussion dazu „still in its early stages and will apparently also serve as a basis for additional academic discussion in the future“(Pedahzur, 2005, 38). Die im wissenschaftlichen Bereich populären RC-Theorien scheinen hier mit ihrem umfassenden Erklärungsanspruch bezüglich der gesamten Bandbreite des menschlichen Handelns (Becker, 1993; Wolf, 2005, 15; Esser, 1999; für eine kritische Perspektive siehe Green und Shapiro, 1999) zunächst auf große Probleme zu stoßen. Das Ziel unserer Arbeit ist daher, sozusagen experimentell eine Rekonstruktion von Selbstmordattentaten auf individueller Ebene mithilfe von Rational-Choice zu entwickeln, um auf dieser Basis die Tragweite von RC-Theorien kritisch zu beleuchten. Damit verbunden ist zum einen das Interesse, das Phänomen der terroristischen Selbstmordattentate aus einer soziologischen Perspektive zu untersuchen und durch eine handlungstheoretische Fundierung auf der Mikroebene der Frage auf den Grund zu gehen, warum Selbstmordterrorismus im Vergleich zu früheren historischen Perioden eine so weit reichende Verbreitung gefunden hat. Zum anderen ist die experimentelle Suche nach einem RC-Modell von theoretischer Bedeutung, da RC-Theorien den Anspruch erheben, jegliches menschliche Handeln rekonstruieren zu können. Gerade die Auseinandersetzung mit Phänomenen, die sich auf den ersten Blick nicht mit Kosten-Nutzen-Relationen rekonstruieren lassen, bieten hier die Möglichkeit, diesen Anspruch kritisch in Frage zu stellen. Wie sichWie sich zeigen wird, führt uns diese Anwendung zu der Schlussfolgerung, dass das Projekt „RC als Großtheorie” gescheitert ist. Das Konzept des strategischen und nutzenorientierten Handelns ist jedoch in Verbindung mit RC-externen Überlegungen etwa zu Gruppendynamiken von großer theoretischer Bedeutung. Zur Auseinandersetzung mit der aufgeworfenen Fragestellung wird im ersten Abschnitt das Phänomen definiert sowie in einem historischen Abriss die Entwicklung des modernen Selbstmordterrorismus schemenhaft dargestellt. Anschließend werden wir auf bisherige Erklärungsansätze eingehen (Abschnitt 2). Im dritten Abschnitt stellen wir unser eigenes Modell vor und plausibilisieren es anhand von empirischen Beispielen. Im letzten Abschnitt wird der Bogen zu den Zielsetzungen geschlagen und auf die Bedeutung für RC-Theorien in Bezug auf deren Erklärungsanspruch und die Kombinierbarkeit mit anderen Theorien eingegangen.
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2 Zum Phänomen des terroristischen Selbstmordanschlags Im Jahre 1983 erregte die bis dahin weitgehend unbekannte Hisbollah mit verheerenden Selbstmordanschlägen weltweite Aufmerksamkeit (Ricolfi, 2005; Schweitzer, 2000; Pape, 2005, 14): Zunächst im April 1983 auf die amerikanische Botschaft in Beirut und anschließend im Oktober mit weiteren Anschlägen, die simultan das US-Marine Hauptquartier und die französische Einheit der UN-Truppe zum Ziel hatten und gemeinsam 300 Tote forderten. Im Allgemeinen wird dies als Beginn des modernen Selbstmordterrorismus mit seiner typischen Form der so genannten „lebenden Bombe“ angesehen (Pape, 2005, 11f.; Bloom, 2005, 1, 4f.). Viele Beobachter sind der Ansicht, dass die Anschläge der Hisbollah nicht nur zu weltweiter Bekanntheit verhalfen, sondern auch entscheidend zum Erreichen ihrer politischen Ziele beitrugen (Pape, 2005; Merari, 2005; Ricolfi, 2005). Motiviert von diesem ungemeinen Erfolg, nahmen sich weitere terroristische Organisationen diese Taktik zum Vorbild; zunächst im Libanon und Sri Lanka, und anschließend in den neunziger Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts in weiteren Ländern (Merari, 2005; Pape, 2003; Pape, 2005, 61-76). So begann im Jahr 1987 eine Serie von Selbstmordanschlägen der Tigers of Tamil Eelam (Tamil Tigers oder auch LTTE) gegen die politischen Führer von Sri Lanka (Bose, 1994; Hopgood, 2005; Bloom, 2005, Ch.3). Auch hier wird der erste Anschlag vom 5. Juli 1987 als Erfolg und als Auslöser für den Aufbau und die feste Institutionalisierung der Black Tigers angesehen - einer Einheit für Selbstmordattentäter (Hopgood, 2005). 1994 folgten die palästinensischen Organisationen Hamas und Islamic Jihad (Ricolfi, 2005), 1995 Al-Qaida mit ihrem ersten Anschlag auf amerikanische Militärs und 1996 die PKK - Kurdistan Workers Party (Pedahzur, 2005, 88ff). Zum Beginn des 21. Jahrhunderts breitete sich das Phänomen weiter aus. Erstmals verwendeten auch tschetschenische Kämpfer in Russland sowie Rebellen in Kaschmir Selbstmordattentate (Pape, 2005). Seinen unvergessenen Höhepunkt fand der Selbstmordterrorismus am 11. September 2001 mit den Angriffen auf Ziele in den USA, die insgesamt 3025 Todesopfer forderten (Holmes, 2005, siehe u.a.). Seitdem ist das Thema in den Mittelpunkt der weltpolitischen Agenda gerückt während die Abendnachrichten tagtäglich von neuen Anschlägen in Irak und Afghanistan berichten3 . Die historischen Vorläufer dieses modernen Selbstmordterrorismus finden sich schon bei den jüdischen Zealots im 1. Jahrhundert oder den Assassinen 3
Eine Zusammenfassung der 315 Selbstmordattentate zwischen 1980 und 2003 findet sich bei Pape (2005: 15).
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des 11. und 12. Jahrhunderts. Anhänger beider Gruppen verübten Angriffe auf ihre Feinde, bei denen eine lebende Rückkehr nah zu ausgeschlossen war (Bloom, 2005, 4ff.; Pape, 2005, 11f.; Lewis, 2003). Näher am modernen Selbstmordterrorismus waren drei russische Anarchisten, die sich am 12. August 1906 in der Villa des Premierministers Petr Stolypin mit Dynamit in die Luft sprengten (Geifman, 1995). Über den Vietnamkrieg wird von Fällen berichtet, bei denen vietnamesische Kämpfer mit Panzerfäusten bewaffnet in amerikanische Stellung rannten und dabei ihr Leben ließen (Knutsen, 1999, 230; Bragg, 2005, 138). Schließlich lässt sich als Beispiel für historische Vorläufer des modernen Selbstmordterrorismus auf die japanischen Kamikazeflieger während des zweiten Weltkrieges verweisen (Hill, 2005)4 . Im Gegensatz zu diesen historischen Vorläufern zeichnet sich der moderne Selbstmordterrorismus sowohl durch eine neue Qualität als auch Quantität aus: Qualität, da die neuen technischen Möglichkeiten nie erahnte Zerstörungskraft mit sich bringen und die Attentäter gewillt sind diese Möglichkeiten zu nutzen; Quantität, da heute eine nie dagewesene Anzahl von Anschlägen verschiedener Organisationen rund um den Globus einer eher beschränkten Verbreitung in der Vergangenheit gegenübersteht (Pape, 2005). Da Selbstmordanschläge immer in organisierter Form (Gambetta, 2005a, 260) und mit dem Hintergrund politischer Ziele auftreten (Pape, 2005), lassen sie sich als terroristische Taktik verstehen. Eine allgemeine Definition von Terrorismus als Überkategorie gestaltet sich allerdings ausgesprochen schwierig5 . Diese Schwierigkeiten spiegeln sich in der ausgesprochenen Vielfalt an vorhandenen Definitionen wieder und führen dazu, dass keine einheitliche und allgemein anerkannte Definition des Begriffs Terrorismus vorliegt (Hoffman, 2006, 50ff; Oberschall, 2004, 26; Witte, 2005, 23; Ganor, 4
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Insgesamt 3843 Piloten stürzten sich mit ihren Flugzeugen in den Tod, um die amerikanischen Wasserstreitkräfte zu schädigen. Dabei töteten sie 12.300 Soldaten und verletzten weitere 36.400 (Pape 2005: 13; Hill 2005). Zu beachten ist allerdings, dass nur ein Bruchteil der Attacken als Selbstmordanschläge geplant waren. Ein Grossteil erfolgte erst, nachdem das Flugzeug bereits schwer beschädigt und die lebende Rückkehr ungewiss war. Neben der drohenden politischen Instrumentalisierung (Le Vine, 1995) läuft die Definition von Terrorismus Gefahr, keine klare Abgrenzung zu anderen Phänomenen wie politischen Gewalttaten, gewöhnlicher Kriminalität oder Guerillakrieg zu ermöglichen (Ganor, 1998). Zudem umfasst Terrorismus eine Bandbreite von Erscheinungsformen mit einem weiten Spektrum an beteiligten Organisationen, Umständen und Motivationen (Tilly, 2004b, 11)
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1998)6 . Weder kann noch soll diese Pluralität hier überwunden werden. In Anlehnung an die Terrorismusdefinition von Hoffman (2006: 79f) erscheint es jedoch sinnvoll zu sein, fünf definitorische Merkmale herauszustreichen. Demnach ist Terrorismus (a) gewalttätig oder mit Gewalt drohend, (b) auf psychologische Wirkung jenseits der unmittelbaren Opfer ausgerichtet, (c) organisiert und nicht individuell, (d) hinsichtlich seiner Ziele politisch und schließlich (e) sub- oder nichtstaatlich. Auf dieser Basis lassen sich nun Selbstmordanschläge als spezifische Art terroristischer Anschläge charakterisieren. Wenngleich diese Taktik nur einen Bruchteil aller Terroranschläge weltweit ausmacht, sticht sie qualitativ im Vergleich zu anderen Taktiken heraus - sowohl was die politische und mediale Aufmerksamkeit als auch die zerstörerische Wirkung anbelangt7 . Für die Definition entscheidend ist, dass der Angreifer den Tod mit Sicherheit erwartet und intendiert andere Personen zu töten oder sachlichen Schaden anzurichten (Gambetta, 2005b, vii)8 . Während diese Form des Selbstmordterrorismus in den letzten Jahrhunderten eine vergleichsweise minimale Bedeutung eingenommen hat, bedienen sich seit den achtziger Jahren erstmals eine Reihe von verschiedenen Organisationen dieser Taktik. Zu nennen sind dabei vorallem Hisbollah und Hamas (zu einer ausführlichen Darstellung des Konflikt im Nahen Osten siehe Ricolfi 2005; Bloom 2005: 19-44), Tamil Tigers in Sri Lanka (siehe Bose, 1994; Hopgood, 2005; Bloom, 2005), Al-Qaida (siehe u.a. Burke, 2004; Holmes, 2005) sowie die PKK in der Türkei (Bloom, 2005, 101-119) sowie aktuell eine Vielzahl von Rebellen im Irak (Hafez, 2006, 2007).
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Schmid und Jongman (2005) veranschaulichen diesen Dissens anhand von 109 Definitionen führender Wissenschaftler. Dabei nennen 84 % von ihnen den Begriff „force“ und 65% die Bezeichnung „political“ als Bestandteil ihrer Definition, während nur 32% „intentional, planned, systematic, organized action“ als Element anführen. So handelt es sich lediglich bei 3 Prozent aller terroristischen Anschläge zwischen 1980 und 2003 um Selbstmordattentate, wobei diese geringe Zahl für 48 % der Toten verantwortlich ist (Pape 2005: 28). Einbezogen sind dabei nicht die Toten des 11. September sowie die Attentäter selbst. Damit lassen sich Selbstmordanschläge von Situationen abgrenzen, in denen der Angreifer zwar einem hohen Risiko zu sterben ausgesetzt ist, den Tod aber nicht mit absoluter Sicherheit erwartet. Auch politische Selbstmorde ohne die Tötung anderer - wie etwa Selbstverbrennungen oder Hungerstreiks (siehe zu diesem Phänomen Biggs, 2005) - fallen nicht unter das hier behandelte Phänomen.
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3 Bisherige Erklärungsansätze Neben der bereits in der Einleitung erläuterten Unterscheidung zwischen Organisationsebene und individueller Ebene (Witte 2005: 152f; Elster 2005: 233) lassen sich Erklärungsansätze zum Selbstmordterrorismus in zwei Phasen einteilen (Pape 2005: 16f): In der ersten Phase entwickelten sich mit dem Beginn des modernen Selbstmordterrorismus Anfang der achtziger Jahre zwei verschiedene Erklärungsmuster. Im wissenschaftlichen Diskurs heute einheitlich verworfen (Pape 2005: 16f; Witte 2005: 166; Elster 2005: 243; Gambetta 2005b: 261f; Pedahzur 2005: 23ff; Bloom 2005: 2f; Merari 1998), aber in der öffentlichen Debatte durchaus noch salonfähig, wurde zum einen die Ursache von Selbstmordanschlägen im islamisch-religiösen Fundamentalismus gesehen. Zum anderen wurden Selbstmordattentäter über geistige Störungen psychopathologisch erklärt. Auch diese Erklärung gilt angesichts empirischer Ergebnisse heutzutage als überholt (Victoroff, 2005; Ruby, 2002; Gordon, 2002; Salib, 2003; Elster, 2005; Gambetta, 2005a; Pedahzur, 2005; Merari, 1998; Pape, 2005)9 . Mit der zunehmenden Ausbreitung von Selbstmordanschlägen im Laufe der achtziger und neunziger Jahre entwickelten sich in einer zweiten Phase alternative Erklärungsansätze, die sich durch eine weitaus differenziertere Perspektive auszeichnen und die auf eine steigende Anzahl von empirischen Fallanalysen, Bevölkerungsumfragen und allgemeinen demografischen Daten zu den Selbstmordattentätern, den Organisationen und den Gesellschaften zurückgreifen können. Gerade die breite mediale Öffentlichkeit und das politische Interesse nach dem 11. September 2001 verschafften der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene einen ungemeinen Schub (Senechal dela Roche, 2004, 3). Verbreitet ist dabei die Erklärung des Handelns von Selbstmordattentätern durch altruistische Motive (wie bei Pape, 2005, 171; Pedahzur et al., 2003; Witte, 2005, 175ff), wobei in der Regel auf das Konzept des „altruistischen Selbstmordes“ von Emile Durkheim (2006) zurückgegriffen wird 10 . 9
Entgegen früherer Annahmen haben verschiedene Studien zu den Attentätern auch gezeigt, dass sich in Bezug auf das sozio-demographische Profil kein einheitliches Bild eines typischen Selbstmordattentäters zeichnen lässt (Krueger und Maleckova, 2003; Pape, 2005; Merari, 1998, 2004). 10 Alle drei angeführten Autoren unterscheiden sich dabei zwar in zahlreichen Punkten, berufen sich aber im Kern auf den altruistischen Selbstmord von Durkheim.
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Danach ist im Gegensatz zur gesellschaftlichen Isolation des „egoistischen Selbstmörders“, der Akteur beim altruistischen Selbstmord derart fest in eine Gesellschaft integriert, dass er sich schließlich für die Ziele der Gruppe zu opfern bereit ist. Merari (2005: 77) kritisiert an der Erklärung von Selbstmordanschlägen durch das Konzept des altruistischen Selbstmordes, dass offen bleibt, warum nicht viel mehr Menschen zu Selbstmordattentätern werden. Der Ansatz kann nicht erklären, so die Kritik, wer genau Selbstmordanschläge verübt. Neben den Erklärungsansätzen durch das Konzept des Altruismus lassen sich auch vereinzelte Ansätze mit RC-Theorien finden (Witte, 2005; Wintrobe, 2003). Daniel Witte kommt allerdings nach einer Auseinandersetzung mit zahlreichen Konzepten von RC -Theorien und deren Anwendungsversuch auf die Anschläge des 11. September zu dem Ergebnis, dass RC „nicht in der Lage [sei], den vorliegenden Sachverhalt des Selbstmordterrorismus auf der individuellen Ebene der Attentäter zu erklären“ (2005: 187). Im Gegensatz dazu erhebt Ronald Wintrobe (2003) den Anspruch, eine reine RC-Erklärung liefern zu können. Er versucht zu zeigen, wie gruppendynamische Mechanismen durch den Effekt des „solidarity multipliers“ im Extremfall dazu führen können, dass ein Individuum seine gesamte Identität gegen die der Gruppe (genauer: die des Gruppenführers) eintauscht. Selbstmordanschläge werden also zum Erreichen der Gruppenziele verübt, die durch den „solidarity multiplier“ zu eigenen Zielen geworden sind. Im Ergebnis zeigt diese Deutung Parallelen zum Konzept des altruistischen Selbstmordes, sie kommt nur in einem „RC-Gewandt“ daher. Festhalten lässt sich also, dass keiner der existierenden Ansätze bei der Rekonstruktion von Selbstmordanschlägen auf individueller Ebene den Eigennutz der Akteur in den Vordergrund stellt, sondern alle entweder direkt oder indirekt auf eine altruistische Handlungsmotivation verweisen. Nicht der Nutzen des Akteurs selbst, sondern die Wünsche und Ziele einer Gruppe werden in den Vordergrund gestellt. Offen bleibt damit weiterhin, inwieweit RC-Theorien in der Lage sind, den vorliegenden Sachverhalt plausibel rekonstruieren zu können. Ohne zwangsläufig auf altruistische Handlungen zu verweisen, lässt sich allerdings die herausragende Rolle von gruppendynamischen Prozessen herausheben, wie sie in fast allen Ansätzen betont wird (Elster, 2005; Pedahzur, 2005; Pape, 2003; Wintrobe, 2003; Witte, 2005).
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4 Prozessanalyse des Handelns von Selbstmordattentätern: Versuch einer rationalen Rekonstruktion Warum entscheiden sich Individuen zur Durchführung von Selbstmordattentaten? Im Gegensatz zu anderen modernen Ansätzen, stellen wir nicht den altruistischen Aspekt der Handlung in den Vordergrund, sondern fragen danach, wie sich ein Individuum rational - im Sinne von Eigennutz orientiert - dazu entscheiden kann, seine Handlung mit dem sicheren Tod zu bezahlen. Dies ermöglicht es uns das Analysepotential von RC-Theorien kritisch zu beleuchten. Der entscheidende Punkt für diesen Anwendungsversuch ist dabei, dass im Gegensatz zu anderen Ansätzen das Selbstmorattentat nicht als punktuelle, singuläre Entscheidung eines handelnden Akteurs, sondern nur als Kulminationspunkt einer längeren Kette von Entscheidungen begriffen wird. Wenn die Vorgeschichte der Entscheidung zur Durchführung eines Selbstmordattentates nicht oder nur partiell in die Rekonstruktion mit einbezogen wird, ist unserer Ansicht nach nicht verständlich zu machen, warum Menschen zu Selbstmordattentätern werden. Es ist vielmehr notwendig, den Weg zum Selbstmordattentäter schrittweise nachzuvollziehen und als mehrstufigen Entscheidungsprozess zu betrachten. Gerade die soziale Eingebundenheit individuellen Handelns erfordert das zeitliche „Vorher“ und „Nachher“ zu berücksichtigen. Bezogen auf unsere Fragestellung wollen wir zeigen, wie Entscheidungen eines handelnden Akteurs Veränderungen seiner Umweltbedingungen mit sich bringen, die wiederum den Ausgangspunkt für weitere Handlungsentscheidungen dieses Akteurs darstellen und sowohl seine (subjektiven) Präferenzen als auch seine Restriktionen im zeitlichen Verlauf grundlegend verändern. Diese Betrachtungsweise soll einer vollfertigen RC-Erklärung möglichst nah kommen um anschließend der Frage nach der Tragweite von RC-Theorien nachzugehen. Zu diesem Zweck gliedern wir die Theorieentwicklung in drei Teile. Zunächst entwickeln wir eine Abwandlung des struktur-individualistischen Ansatzes, der den Grundlagen unserer Rekonstruktion angepasst ist. Im Anschluss stellen wir unser Modell als dreistufiges Prozessmodell vor und erläutern den zugrunde gelegten Nutzenbegriff sowie weitere Zusatzannahmen. Abschließend werden im nächsten Abschnitt die einzelnen Schritte analysiert und ausführlich dargestellt.
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4.1 Abwandlung des struktur-individualistischen Ansatzes Eine mehrstufige Prozessanalyse lässt sich im struktur-individualistischen Ansatz durch die Aneinanderreihung von sogenannten „Coleman’schen Badewannen“ (Coleman, 1986, 1991; vgl. auch Esser, 1999)11 modellieren, wobei sich durch die Aggregation individuellen Handelns jeweils die Makrostruktur derart ändert, dass es zu einer neuen Situationslogiken im jeweils folgenden Analyseschritt kommt (Esser 1999). Unser Modell greift jedoch auf eine modifizierte Variante des struktur-individualistischen Ansatzes zurück. Uns interessiert nicht, wie sich mehrere Handlungen zu einem kollektiven Phänomen aggrigieren, sondern vielmehr, wie sich durch die Ausführung einer Handlung der Motivationshintergrund desselben Akteurs für folgende Handlungen verändert. Nach dem Beitritt in eine terroristische Organisation unterliegt der Akteure etwa anderen Rahmenbedingungen als zuvor. Um diesen Unterschied zum struktur-individualistische Modell auch begrifflich zum Ausdruck zu bringen, wollen wir den letzten Schritt im Folgenden nicht als Logik der Aggregation, sondern als Logik der Handlungsfolgen (LH) bezeichnen. 4.2 Das Prozessmodell Mit Hilfe der Abwandlung des struktur-individualistischen Modells in Bezug auf die Logik der Handlungsfolgen lassen sich die Handlungsschritte folgendermaßen modellieren: Wie aus der Abbildung ersichtlich, soll der Weg zum Selbstmordanschlag exemplarisch in drei Handlungsschritte unterteilt werden: Der erste Schritt stellt den Eintritt in eine radikale Organisation dar, der zweite ist die Bereitschaftserklärung zur Durchführung eines Selbstmordanschlags und im dritten Schritt erfolgt die Durchführung des Anschlages. Diese analytische 11
Die Grundidee des strukturell-individualistischen Ansatzes (Coleman 1986, 1991; Esser 1999: 93ff) als Metatheorie zur Mikrofundierung sozialer Phänomene besteht darin, kollektive Explananda (etwa Umweltverschmutzung) auf die aggregierten Wirkungen des Handelns von Akteuren auf der Mikroebene zurückzuführen. Die badewannenähnliche Darstellung ist erstmals bei McClelland (47ff 1961) zu finden, wurde aber wesentlich von Coleman geprägt. Sie besteht aus drei Teilen: Der Logik der Situation (LS), der Logik der Selektion (LSe) und der Logik der Aggregation (LA). Alternative Bezeichnungen sind Brückenhypothese für die LS, Handlungstheorie für die LSe undAggregationsoder Transformationsregel für die LA.
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Abbildung 1: Strukturindividualistisches Erklärungsmodell von Selbstmordattentätern
Trennung der drei Schritte sagt weder etwas über die absolute Länge, noch das quantitative Verhältnis der dazwischen liegenden Zeitintervalle aus. Im Zentrum jeder der drei Handlungsschritte steht die Handlungswahl des Akteurs auf individueller Ebene (LSe). Diese ist eingebettet in Strukturen (LS) und bringt gleichzeitig eine Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen bzw. der Umwelt mit sich (LH), die für folgende Handlungen die Möglichkeiten, Restriktionen und Präferenzen grundlegend beeinflusst. Grundsätzlich soll gezeigt werden, dass es für den Akteur rational sein kann sich in den einzelnen Schritten für den Betritt, die Bereitschaftserklärung und die Ausführung zu entscheiden. Gleichzeitig macht unser Modell aber deutlich, dass in allen drei Entscheidungssituation eben auch die Möglichkeit besteht, dass sich das Individuum gegen einen Beitritt, gegen die Bereitschaftserklärung oder gegen die Durchführung des Anschlages entscheidet12 . 4.3 Der Rationalitätsbegriff Obwohl zahlreiche Studien unter dem Label „Rational-Choice“ laufen, lässt sich längst nicht von der Rational-Choice-Theorie sprechen - angemessen erscheint es eher, die Vielzahl von Ansätzen unter dem Stichwort Theorienpluralismus innerhalb von Rational-Choice zu subsumieren (Diekmann und Voss, 2004). Zahlreiche Missverständnisse lassen sich wohl auch auf die in der Literatur häufig nicht explizite Benennung der Grundannahmen 12
Die einzelnen Analyseschritte unseres Modells lassen sich hier als Filtersystem verstehen, indem nur unter bestimmten Umweltbedingungen die jeweilige Entscheidung rational ist.
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zurückführen. Um derartigen Konflikten vorzubeugen, soll im Folgenden genauer spezifiziert werden welches Verständnis des Rationalitätsbegriffs der folgenden Analyse zugrunde liegt. Grundlegend ist zunächst die Abkehr von RC-Modellen, die von einer uneingeschränkten Nutzenmaximierung auf Basis objektiver Situationsdefinitionen ausgehen. In der Mehrzahl von soziologischen Studien kommt vielmehr das Konzept der begrenzte Rationalität (bounded rationality) zur Anwendung (Simon, 1997; 157,224 Esser, 1999). Dabei kommt es nicht auf die objektive Situationsbewertung an, sondern vielmehr darauf wie der Akteur auf Grundlage seiner begrenzten Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung und -sammlung die Situation subjektiv begreift. Die Rationalität des Akteurs ergibt sich also aus dem wahrgenommenen und erwarteten Nutzen (sowie Kosten) auf Basis der Informationen, die ihm zur Verfügung stehen. Da er also nicht voll informiert ist, sorgt ein ständiges Informationsdefizit dafür, dass der Akteur die Folgen seiner Handlungen nicht objektiv einschätzen kann und mögliche Alternativen gar nicht erst in Betracht zieht. Wie sich zeigen wird, nimmt die Organisation auf dieses Informationsdefizit aktiv Einfluss und verwendet es für ihre Zwecke. Die begrenzte Informiertheit des Akteurs legt zudem ein kurzfristiges Handeln nah, welches sich in der Diskontierung13 von zukünftigen Kosten und Nutzen zeigt. Damit ist gemeint, dass Handlungsfolgen in der Zukunft geringer bewertet werden als in der Gegenwart, wobei die Diskontierungsrate individuell variiert (Kunz, 2004, 39; Diekmann und Voss, 2004, 20; Braun, 1999, 203ff; Axelrod, 1991, 11f; Taylor, 1997, 61ff; Esser, 1999, 219ff). Hinsichtlich der Frage, was unter Nutzen zu verstehen ist, lässt sich neben dem rein an ökonomischen bzw. materiellen Werten orientierten Nutzenbegriff des homo oeconomicus auf soziale Anerkennung verweisen (vgl. etwa Chong 2000). Diese Auffassung bezieht zusätzlich soziale Anreize und sozialen Druck aus dem Gruppenkontext in die Kosten-Nutzen-Kalkulation mit ein: „Many actions are taken with an eye towards how they might affect our reputations with other group members. We care of our behaviour on our standing within our groups, since what we do today conveys information about ourselves that will affect how others act toward us in the future“ (Chong, 2000, 13f.).
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Die Diskontierungsthese ist eine verbreitete Zusatzannahme von RC-Theorien und wurde von Axelrod (1991) und Taylor (1997) geprägt
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4.4 Gruppendynamik Um der zentralen Rolle von Gruppendynamiken bei der Analyse von Selbstmordterrorismus gerecht zu werden (siehe Abschnitt II), erscheint es uns notwendig zwei Mechanismen zu den Auswirkungen von sozialen Anreizen, Sanktionen und Wahrnehmungsveränderungen im Gruppenkontext genauer zu betrachten. Der erste Mechanismus bezieht sich auf den Zusammenhang von sozialer Integration, Abgrenzungen zwischen den Gruppen und konformen Verhalten. In Anlehnung an Charles Tilly (2003) lässt sich hier auf die Bedeutung der Relationen sowohl zwischen als auch innerhalb der Gruppen verweisen14 . Besonders relevant im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung erscheint uns dabei der von Tilly im Zusammenhang mit kollektiver Gewalt beschriebene Mechanisms boundary activation: „The mechanism boundary activation [. . . ] consists of a shift in social interactions such that they increasingly (a) organize around a single us-them boundary and (b) differentiate between within-boundary and cross boundary interactions [. . . ] Hence usthem boundaries [. . . ] shift from being relatively insignificant to absolutely dominant for current interaction“ (Tilly, 2003, 21; vgl. auch Tilly, 2004a). Mit dieser zunehmenden Relevanz bestimmter Grenzen zwischen Gruppen gewinnen Geschichten die sich um die eigene Identität in Abgrenzung zur Identität der anderen Gruppe drehen an Bedeutung (Tilly 2005: 7f). Gleichzeitig verstärkt sich mit diesem Prozess die Identifikation mit der eigenen Gruppe sowie die Bindung an diese. Für den Akteur selbst rückt damit zunehmend ein Weltbild in den Vordergrund, das von den Geschichten, etwa zur Unterdrückung des eigenen Volkes und dem historischen Anrecht auf ein bestimmtes Gebiet, dominiert ist. Zugleich setzt die Gruppe gerade zur Abgrenzung von anderen Maßstäben für gruppenkonformes und 14
Tilly (2002, 2003, 2005) plädiert vor allem in seinen jüngeren Arbeiten für die Erklärung sozialer Phänomene über relationale Mechanismen und grenzt diese Herangehensweise zum einen von dispositionalen und zum anderen von System orientierten Erklärungsansätzen ab. Auch wenn es sich bei der hier vorgestellten Erklärungsstrategie keineswegs um eine relationale, sondern vielmehr dispositionale handelt, lässt sich Tillys Ansatz für die Auseinandersetzung mit den Gruppenprozessen heranziehen, Verdeutlicht wird dabei insbesondere, wie die Relationen zwischen den Gruppen und die Geschichten zu diesen Relationen die Situationswahrnehmung des Akteurs und damit seine Kosten- und Nutzen Kalkulation beeinflussen. Diese Verwendung von RC „externen” Überlegungen nimmt in unserer abschließenden Diskussion zur Tragweite von RC-Theorien einen wichtigen Stellenwert ein.
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nicht konformes Handeln. Bei abweichendem Verhalten drohen Sanktionen, von Ablehnung über Ausschluss bis hin zur physischen Gewalt. Konformes Verhalten hingegen wird auf sozialer und materieller Ebene belohnt. Daher wirkt die Angst vor Sanktionen handlungsmotivierend. In Anlehnung an Denis Chong (2000) lässt sich dieses Verhalten im Rahmen von RCT durch die Überlegungen des Akteurs zu den Folgen seiner Handlungen für künftige Interaktionen verständlich machen. Der zweite Mechanismus findet insbesondere unter hierarchisch gleichgestellten Gruppenmitgliedern statt. Der erwartete Nutzen durch gruppenkonformes Verhalten auf der einen Seite und die antizipierten Kosten bei Verstößen gegen die Gruppenlogik auf der anderen Seite können zu den von Wintrobe beschriebenen Prozessen des gegenseitigen Hochschaukelns oder Wetteiferns führen (Wintrobe, 2003, 19ff). Außerdem kann die Gruppenführung in der Interaktion zwischen Mitgliedern und Gruppenführern ihren Einfluss umso mehr geltend machen, als ihr eine hohe Kompetenz und Autorität zugeschrieben wird (Chong 2000). Einem rationalen Kalkül folgend versucht die Organisation durch aktive Beeinflussung gruppenkonformes Handeln zu festigen, die soziale Kontrolle zu erhöhen und wettbewerbsartige Prozesse zu verstärken. Eine entscheidende Rolle kommt auch der Gruppengröße zu. Da in kleinen Gruppen der Beitrag des einzelnen Akteurs zur Erreichung des gemeinsamen Zieles für alle anderen Akteure sichtbar ist, bieten sozialer Druck und soziale Anerkennung einen starken Anreiz für kollektives Handeln (Olson, 1965). Folglich kommt den beschriebenen Prozessen in kleineren Gruppen eine größere Bedeutung zu. 5 Der Weg zum Selbstmordattentat Auf Grundlage des im letzen Abschnitts vorgestellten Prozessmodells und unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Kontextbedingungen wollen wir im Folgenden die einzelnen Schritte analysieren, um zu verdeutlichen, wie es zum rationalen Selbstmordanschlag kommen kann. 5.1 Eintritt in eine radikale Organisation (Schritt I) Der Eintritt in eine radikale Gruppe kann auf verschiedene Arten erfolgen, da sich die Größe, die innere Strukturierung und die Rekrutierungsmethoden der Organisation von Fall zu Fall erheblich unterscheiden. Mit Abstand am weitesten verbreitet ist die aktive Rekrutierung durch soge257
nannte enlistment officers. Hierbei werden die Neumitglieder in aller Regel als normale Kämpfer angeworben, und es wird erst später entschieden, wer besonders gut für Selbstmordanschläge geeignet ist15 . Die Organisationen greifen dabei auf bestehende Infrastrukturen wie etwa Schulen oder religiöse Einrichtungen zurück (Oberschall, 2004, 28). Häufig ist der Akteur bereits vor dem Beitritt in Kontakt mit der Organisation (Victoroff, 2005, 13) oder verfügt über Verbindung zu ihr über Familienmitglieder oder Personen im unmittelbaren Umfeld (Post et al., 2003; Sageman, 2004). In unserem Modell stellt sich zunächst die Frage nach der Rekonstruktion der sozialen Situation in der sich der Akteur zum Zeitpunkt des Beitritts befindet, denn die Eingebundenheit in soziale Strukturen erfordert die Berücksichtigung der relevanten Umweltbedingungen (Logik der Situation). Im Einklang mit den meisten Autoren ist davon auszugehen, dass erst gewisse Umstände die Entstehung von Selbstmordterrorismus wahrscheinlich machen und die Situationsbedingungen der Attentäter maßgeblich beeinflussen (Pedahzur 2005; Pape 2005; Bloom 2005; Elster 2005; Gambetta 2005b). Insbesondere drei Bedingungen sind hier zu nennen (Pape 2005; Pedahzur 2005), die auch für die Analyse der weiteren Schritte relevant sind. Erstens muss eine terroristische Organisation der Ansicht sein, dass Selbstmordanschläge ein effektives Mittel zum Erreichen ihrer Ziele darstellen (Bloom, 2005, 1), denn moderner Selbstmordterrorismus tritt ausschließlich in organisierter Form auf (Gambetta 2005b, vgl. auch Kapitel I). Wie wir vor allem in den späteren Schritten sehen werden, ist für den Akteur entscheidend, dass die Organisation aktiven Einfluss auf seine Situationsbedingungen nimmt. Zweitens liegt meistens eine bestimmte politische Situation vor: Moderner Selbstmordterrorismus ist fast ausnahmslos mit dem Ziel der Befreiung eines selbst beanspruchten Territoriums verbunden (Pape 2005: 22)16 . Wo das Phänomen auftaucht (bzw. entsteht), lassen sich in der Regel spürbare politische Unterdrückung und ökonomische Deprivation einer leiden15
Pedahzur berichtet hier etwa von der Hisbollah, wo nur die geeignetesten Kandidaten eine Spezialausbildung bekommen. „The majority of terrorist organzations do not recruit candidates specifically for suicide missions“ (Pedahzur 2005: 165ff). 16 Dabei ist nicht die faktische Stationierung von feindlichen Truppen innerhalb des Territoriums entscheidend, sondern die Tatsache, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe die Ursache ihres Leids im Handeln einer fremden Macht sieht.
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den Bevölkerung feststellen (Kalyvas und Sánchez-Cuenca, 2005, 228). Mit der politischen Unterdrückung durch Besatzung verbunden ist oft eine unsichere politische Lage, zerstörte Infrastruktur oder Schikanierungen wie Reiseverbote oder Durchsuchungen, welche insgesamt die Lebensqualität beeinträchtigen. Dabei wird meist eine feindliche Besatzungsmacht für die Situation verantwortlich gemacht. Ausschlaggebend ist das subjektive Ohnmachtgefühl, nach dem das eigene Schicksal durch die Feindseligkeit des Gegners bestimmt wird (Kalyvas/Sánchez-Cuenca 2005: 228) und der kulturelle Einfluss der Besatzungsmacht auf die eigene Identität gefürchtet wird (Pape 2005). All diese Prozesse tragen zu dem von uns beschriebenen Mechanismus boundary activation bei, indem die Grenzen zwischen den Gruppen eine zunehmende Bedeutung einnehmen und die Unterdrückungserfahrungen Teil der Geschichten um diese Grenzen wird. Wirft man einen Blick auf die von uns untersuchten Fälle des modernen Selbstmordterrorismus (siehe Kapitel I), lassen sich diese fast ausnahmslos mit einer in diesem Sinne verstandenen Besatzung in Verbindung bringen. Der tamilische Befreiungskampf (Tamil Tigers) in Sri Lanka, die russische Besetzung Tschetscheniens (u.a. Schwarze Witwen), die Selbstmordanschläge in Israel (Hamas, früher Hisbollah) und die irakischen Rebellen sprechen hier für sich. Im indirekten Sinne lassen sich auch die Anschläge von AlQaida als Kampf für die Befreiung der arabischen Welt vom westlichen Einfluss verstehen (Pape 2005: 51ff). Beim „westlichen“ Selbstmordterrorismus stellt sich allerdings die Frage, wie es möglich ist, dass auch ohne so offensichtliche Unterdrückung wie etwa in Tschetschenien oder auch in Palestinensergebiete die Motivation zu einem Selbstmordanschlag entstehen kann. Sageman (2004: 99ff) zeigt hier am Beispiel der Attentäter vom 11. September was für eine zentrale Rolle das eigene soziale Umfeld spielt und wie die Isolation in einer kleinen Gruppe zu einer Radikalisierung der Überzeugungen führt. Auch in diesem Fall lässt sich auf den Mechanismus der boundary activation von Tilly verweisen: Mit einer zunehmenden Konzentration der Interaktionen auf die eigene Gruppe und gleichzeitiger Abgrenzung von der Aufnahmegesellschaft gewinnen die Geschichten um diese Unterschiede an Bedeutung (etwa „Besatzung“ des Heimatlandes durch westliche Truppen). Drittens ist die öffentliche Unterstützung von Selbstmordanschlägen entscheidend für den Aufbau eines Märtyrerkultes, der sowohl Anreize als auch eine Legitimationsbasis für potentielle Attentäter schafft17 . Pape (2005: 17
In einem internem Dokument unterstreicht die Führung der Hamas die Bedeutung der öffentlichen Unterstützung: „Our real power is our popularity“
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83ff) erklärt in seiner „nationalist theory of suicide terrorism“ die Entstehung öffentlicher Unterstützung von Selbstmordterrorismus: Je mehr sich ein Feindbild - eine radikale Unterscheidung zwischen „us“ und „them“ - in der Bevölkerung verfestigt, „the more it [die Bevölkerung] will seek to end the occupation at almost any price“ (Pape 2005: 96). Lernprozesse haben überdies die Effektivität friedlicher Lösungen in Frage gestellt und Gewalt als legitimes Mittel zum Erreichen der eigenen Ziele etabliert (Hoffman, 2003, 63). In einem Klima der Ausweglosigkeit werden die Organisationen als Produzenten von Heldengeschichten wahrgenommen und bieten damit Hoffnung auf Verbesserung der eigenen Lage (Pedahzur 2005: 159). Auch dieses Zweifeln an friedlichen Lösungen, die Ausweglosigkeit und die Heldengeschichten sind Teil der innerhalb der Gruppe aber auch der Bevölkerung zirkulierenden Geschichten über die eigene Identität und die Grenzen zu anderen. Die öffentliche Akzeptanz von Selbstmordterrorismus ist indes kein Graswurzelphänomen, sondern eher ein von oben bewusst eingeleiteter Prozess (Hoffman, 2006, 248; Pedahzur, 2005, 159). Um neue Mitglieder rekrutieren zu können, müssen die Organisationen für ein Klima der Zustimmung zumindest innerhalb der intendierten „Rekrutierungsbevölkerung“ sorgen. Mit entsprechender religiöser oder ethisch-nationalistischer Propaganda versuchen die Organisationen ein „ethos of self-sacrifice“ (Pedahzur 2005: 161) zu kultivieren, der die Idee des Märtyrertums beinhaltet18 . Auch wenn die Weltsicht der Akteure durch diese Kontextbedingungen beeinflusst wird, sind es doch auch individuelle Faktoren die beim Beitritt eine entscheidene Rolle spielen. Persönliche Motivationen können unter anderem individuelle Rachegelüste, Einsamkeit und das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit, aber auch der Ausweg aus einer finanziellen Krise sein (Mishal und Sela, 2000, 128) und ein Experte bestätigt: „Although Hamas has been unresponsive to all internal requests to stop its military operations, the erosion of popular backing for such action is sufficient to twist its arm to do just that“(Hroub, 2000, 250) 18 Welche Ausmaße die Heldenproduktion annehmen kann, lässt sich im Iran und in Palästina eindrucksvoll erkennen. Die Selbstmordattentäter werden dort in Liedern besungen und ihre Bilder werden in den Straßen als Poster aufgehängt. Dem ersten offiziellen Selbstmordattentäter der Hisbollah Ahmad Qasir zu Ehren wurde in Teheran sogar ein Denkmal errichtet und zu seinem Todestag findet jährlich eine große Prozession statt, bei der zahlreiche als Selbstmordattentäter verkleidete junge Leute jubelnd durch die Straßen ziehen (Pedahzur 2005: 161).
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(Wintrobe 2003; Elster 2005; Pedahzur 2005; Bloom 2005: 63f)19 . Einzelfalluntersuchungen lassen vermuten, dass oft negative persönliche Erfahrungen mit der als willkürlich angesehenen Gewalt der Besatzer als Motivations„trigger“ zu verstehen sind (Pedahzur 2005; Pape 2005: 217ff). Aus einer RC-Perspektive entscheidend ist Frage, welche Kosten-NutzenAbwägung einer Beitrittsentscheidung zugrunde liegt. Der vom Akteur erwartete Nutzen lässt sich in sozialen und ökonomischen Nutzen unterscheiden. Sozialer Nutzen drückt sich insbesondere durch die Gruppenzugehörigkeit, die damit verbundene Identifikationsmöglichkeit und das Prestige in der Bevölkerung, sowie im unmittelbaren Umkreis aus. Identifikationsmöglichkeiten spielen insofern eine wichtige Rolle, da diese gerade der Jugend unter den instabilen politischen Bedingungen mit fehlenden Alternativen (etwa von Sportvereinen) Orientierung und ein sinnerfülltes Leben bieten können. Die radikalen Organisationen sind oft die einzigen, die sich aktiv präsentieren und einen Ausweg aus der hoffnungslosen Lage suggerieren (Pedahzur 2005: 165). Die Untersuchung von Post et al. (2003) auf Basis von 35 Interviews hat gezeigt, dass die Mitglieder von terroristischen Organisationen selbst die sozialen Anreize der Gruppenzugehörigkeit als ausschlaggebenden Faktor für den Beitritt benennen20 . Weitere Einzelfalluntersuchungen bestätigen diese herausragende Rolle (Pape 2005; Pedahzur 2005; Sageman 2004). Als Nutzen auf ökonomischer Ebene kommt der oft finanzielle Vorteil für den Akteur selbst und seine Familie hinzu (Hassan, 2001; Pedahzur, 2005, 134ff). In vielen Fällen agieren radikale Organisationen wohltätig, indem sie ihre Mitglieder und deren Familien in vielerlei Hinsicht unterstützen, z.B. durch Vergabe günstiger Kredite oder Ausbildungsangeboten in eigenen Bildungseinrichtungen (Pape 2005: 188ff; Pedahzur 2005: 59, 153). Auf der Kostenseite schlägt unter Umständen eine Verfolgung durch die feindliche Besatzungsmacht zu Buche. Die Kosten eines möglichen Selbstmordanschlages fallen insofern noch nicht ins Gewicht, da sich der Akteur 19
Das seltene Phänomen der Auslandsrekrutierungen aus Ländern mit politisch stabilen Bedingungen nimmt eine gesonderte Rolle ein, denn auf diese Attentäter treffen die drei von uns genannten Kontextbedingungen nur bedingt zu (eventuell durch starke Identifikation mit der unterdrückten Bevölkerung). Obwohl gerade aus westlichen Ländern kommende Attentäter in Deutschland besondere mediale Aufmerksamkeit erzeugen, spielen sie jedoch zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle. 20 Der Dokumentarfilm Warkids (2005) von Marc Wiese veranschaulicht dies eindrucksvoll an Jugendlichen in Palästina.
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im ersten Schritt nicht darüber im Klaren ist, ob er überhaupt als Selbstmordattentäter eingesetzt wird. Allerdings können individuelle Faktoren zu anderen Kosten-Nutzen-Abwägungen führen, wenn etwa die erwarteten Kosten bei risikoaversen Individuen deutlich höher bemessen werden. Wenn es dem Individuum jedoch an Alternativen mangelt, scheint ein Beitritt also in der Logik der Selektion durchaus rational zu sein. Mit der Logik der Handlungsfolgen stellt sich schließlich die Frage, welche Konsequenzen der Beitritt für den Akteur hat, also unter welchen neuen strukturellen Bedingungen seine folgenden Handlungen zu untersuchen sind. Im Wesentlichen sind mit dem Beitritt neue soziale Bindungen und damit die oben genannten Prozesse der Gruppendynamik verbunden. Mit zunehmender Integration in die Gruppe und Konzentration von Interaktionen auf Gruppenmitglieder (boundary activation) gewinnt gruppenkonformes Handeln an Bedeutung und wird zum wahrnehmungs- und handlungsleitenden Motiv. Die Ansichten der radikalen Organisation in Form von Geschichten zu den Grenzen zwischen den Gruppen gewinnen für den Akteur zunehmend an Bedeutung was zur Radikalisierung der Einstellung des Akteurs beiträgt. Zudem kommt es zum Wetteifern und zum gegenseitigen Hochschaukeln zwischen den Gruppenmitgliedern. In vielen Organisationen ist der Beitritt mit regelrechten Initiationsritualen verbunden. Ähnlich wie in Jugendgangs oder Sekten muss das Neumitglied etwa eine Art Prüfung bestehen, um seiner Beitrittsabsicht Nachdruck zu verleihen, oder es finden gemeinsame Reisen mit den Neumitgliedern statt (Wintrobe, 2003, 8; Hamermesh und Soss, 1974, 131). Solche gemeinsamen Erlebnisse verstärken die Bindung an die Gruppe und wirken solidaritätsstiftend. Dieser Prozess wird von der Gruppenführung bewusst instrumentalisiert: Durch gemeinsame Unternehmungen wird einerseits das Bedürfnis der Mitglieder nach Gruppenzugehörigkeit und Anerkennung befriedigt und gleichzeitig die immer stärkere Bindung an die Gruppe forciert. Falls die Gruppenführung zu der Überzeugung gelangt, ein Mitglied sei besonders gut für die Rolle eines Selbstmordattentäters geeignet, wird sie mit allen Mitteln versuchen, es zu einer generellen Bereitschaftserklärung zu bewegen. 5.2 Bereitschaftserklärung zur Durchführung eines Selbstmordanschlags (Schritt II) Auch die Bereitschaftserklärung zum Anschlag nimmt empirisch verschiedene Formen an. In aller Regel tritt allerdings die Organisation mit der Frage nach der generellen Bereitschaftserklärung an ein Mitglied heran. Die
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Auswahl von Selbstmordattentätern erfolgt dabei meist nach gründlicher Abwägung und es werden selten Mitglieder gefragt, die sich in anderen Positionen als besonders geeignet erwiesen haben (Berman und Laitin, 2004). In der Logik der Situation kommen bei der Bereitschaftserklärung zum einen die gesellschaftlichen Kontextbedingungen des ersten Schrittes und zum anderen - als Konsequenz des Beitritts - die Dynamik des Gruppenkontextes zusammen (siehe erster Schritt unter LH). Ergänzend lässt sich auf die ehrenhafte „Nominierung“ durch die Gruppenführung verweisen (Pedahzur 2005: 173). Die Organisation lockt zur Bereitschaftserklärung, indem sie hierfür einen unmittelbaren und für den Akteur klar erkennbaren Nutzen in Aussicht stellt. Neben der oft materiellen Entlohnung liegt dieser Nutzen auf sozialer Ebene im enormen Zuwachs an Prestige und Ansehen und im möglichen Aufstieg innerhalb der Gruppenhierarchie (Pedahzur 2005: 129). Im Wetteifern mit den anderen Mitgliedern kommt eine Ernennung zum potenziellen Selbstmordattentäter und damit zum Märtyrer einem sozialen Aufstieg unter die glorreichen Kämpfer für die eigenen Ziele gleich (Pedahzur 2005: 137; Merari 2004, 2005). Das öffentliche Ansehen, das tatsächliche und potenzielle Märtyrer genießen, ist allgemein bekannt und wird über Poster, Songs und Straßenfeste verbreitet (Pedahzur 2005: 160). Die Identifikation mit dem Märtyrerideal bietet gerade Individuen in Krisensituationen die Möglichkeit einer Reintegration in eine Gemeinschaft und eines sinnerfüllten Lebens mit klaren Zielen (Hamermesh/Soss 1974: 137)21 . Anderseits lässt sich die Inkaufnahme des späteren Todes durch den Anschlag auf der Kostenseite anführen. Dies ist allerdings nur bedingt der Fall, denn um den Akteur zu einer Bereitschaftserklärung zu bewegen, missbraucht die Gruppenführung sein Informationsdefizit. Sie versucht einerseits, die in unbestimmter Zukunft liegenden Kosten der Durchführung herunterzuspielen und sogar als Nutzen darzustellen. Als Hauptstrategie 21
Zunehmend werden auch „gebrochene Frauen“ angeworben. Ereignisse wie Trennungen, uneheliche Kinder oder Vergewaltigungen gehen in konservativen Gesellschaften oft mit einer sozialen Isolierung einher. In Palästina und Sri Lanka sind diese Frauen für die Organisationen ideales Rekrutierungspotenzial, da ihnen die Organisationen einen Kontext ohne Diskriminierung sowie eine Aussicht auf Reintegration und auf Erreichung des gleichen Status wie Männer bieten kann (Victor, 2004; Bloom, 2005, 142ff; Zedalis, 2004). Pedahzur bestätigt diese Skrupellosigkeit der Organistionen und schreibt: „they [enlistment officers] became experts in exploiting the pain and weaknesses of people for their own political objectives“ (Pedahzur 2005: 137).
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dient hierbei der Aufbau eines Märtyrerkults zur Verherrlichung des Selbstmordterrorismus. Andererseits versucht die Organisation die Details zum Anschlag so weit wie möglich zurückzuhalten. Weder ein genaues Datum noch ein Zeitrahmen wird festgelegt; es bleibt unklar, ob alle Nominierten einen Anschlag durchführen (für die Tamil Tigers siehe Hopgood 2005). Nicht zuletzt in Hinblick auf diese Ausnutzung des Informationsdefizits ist es plausibel anzunehmen, dass der Akteur die eigentlichen Kosten der Bereitschaftserklärung – nämlich den in ungewisser Zukunft bevorstehenden Tod – diskontiert. Allerdings hängt die Diskontierungsrate auch stark vom persönlichen Charakter ab. Dementsprechend schreibt auch Wintrobe (2003, 35): „The most likely candidates for this role are those with a high discount rate. They will experience the joy of solidarity immediately (at the time of planning and committing the act); after that, who knows?“. Vor diesem Hintergrund kann es in der Logik der Selektion also durchaus rational erscheinen, sich für die Bereitschaftserklärung zu entscheiden, wenn die Konsequenzen falsch interpretiert und die Kosten diskontiert werden - der Nutzen auf sozialer und materieller Ebene tritt unmittelbar ein, während die Kosten des möglichen Todes in ungewisser Zukunft liegen. Schließlich ergibt sich als Konsequenz aus der Bereitschaftserklärung in der Logik der Handlungsfolgen ein noch engerer, meist vom Rest der Organisation isolierter, stark kontrollierter Gruppenkontext, in dem hoher sozialer Druck vorherrscht, welcher durch direkten Kontakt zur Gruppenführung verstärkt wird (Elster, 2005, 240). 5.3 Durchführung des Anschlages (Schritt III) Im dritten Schritt geht es um die Ausführung des Anschlags selbst. Hier lassen sich die Anschläge nach der Wahl der Mittel (z.B. Bombengürtel, mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge), der Zielauswahl (symbolische Ziele, wie das World Trade Center, spezielle oder wahllose menschliche Ziele) sowie anhand der Anzahl beteiligter Attentäter unterscheiden. Neben den gesellschaftlichen Kontextbedingungen, wie sie im ersten und zweiten Schritt beschrieben wurden, kommt hier in der Logik der Situation hinzu, dass sich die Organisation für einen konkreten Anschlagzeitpunkt und ein Ziel entschieden hat. Die Selbstmordzellen innerhalb terroristischer Organisationen wie Hamas oder LTTE sind in der Regel Gruppen sehr geringer Größe (Hassan 2001; Hopgood 2005: 60). Zumindest was die Planung des Anschlags angeht, leben diese Gruppen sehr abgeschieden von ihrer Außenwelt, aber untereinander eng verbunden. Wie die Auseinander-
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setzung mit Gruppendynamiken gezeigt hat, ist eine starke gegenseitige Kontrolle möglich und nicht-konformes Handeln kann schnell und effektiv sanktioniert sowie konformes Handeln belohnt werden. Hinzu kommt ein in der Regel intensiver Kontakt mit der Führung (Elster 2005: 240; Pedahzur 2005: 176). Hassan beschreibt die daraus resultierende soziale Kontrolle auf Basis von Interviews 22 folgendermaßen: „The planner keeps a close eye on the volunteers’s self-discipline“ und weiter die direkte Vorbereitung auf den Anschlag „during the week before the operation, two ,assistants’ are delegated to stay with the potential martyr at all times. They report any sign of doubt, and if the young man seems to waver, a senior trainer will arrive to bolster his resolve“ (Hassan 2001; vgl. auch Pedahzur 2005: 176). Neben diesen gruppendynamischen Prozessen kommt dem Informationsdefizit des Akteurs auf zwei Ebenen eine wichtige Bedeutung zu: Auf der einen Seite bleibt dem Attentäter unklar, wie die Organisation auf eine Verweigerung oder ein Scheitern des Anschlags reagieren würde. Hier unterscheiden sich die verschiedenen Organisationen im Hinblick auf ihre „Politik“ gegenüber den Kandidaten. Bei den Tamil Tigers (LTTE) und der PKK wird etwa über Hinrichtungen von Dissidenten zur Abschreckung berichtet (Pedahzur 2005: 174; Elster 2005: 239), während der Attentäter bei einer Verweigerung in anderen Organisationen eher mit sozialem Druck, Missbilligung oder Enttäuschung rechnen muss. Entscheidend ist aber, welche Reaktionen der Akteur bei einer Verweigerung erwartet. Von Enttäuschung über Ausschluss bis zur Hinrichtung ist aus Sicht des Akteurs alles möglich. Auf der anderen Seite herrscht eine Ungewissheit über die Reaktion der Feinde, falls er vor seinem Anschlag verhaftet werden sollte. Generell lässt sich aber von einer extremen Angst ausgehen, die insbesondere durch das Feindbild hervorgerufen wird und von den Gruppenführern durch Erzählungen über Foltermethoden verstärkt wird (Hassan 2001). Durch spezielle Praktiken wird zudem versucht, einen „point of no return“ zu kreieren (Merari 2004; Pedahzur 2005). Es handelt sich dabei um institutionalisierte Rituale, die aus Sicht der Organisationsführung ein letztes Abweichen der potenziellen Attentäter verhindern soll. Verbreitet und allgemein bekannt sind etwa inszenierte Abschiedsvideos. Einige Autoren deuten solche Rituale als Selbstbindungsmechanismen (Witte, 2005, 177ff). Der Begriff der Selbstbindung meint, dass sich ein Akteur durch eine Ent22
Die Untersuchung von Hassan basiert auf 250 Interviews, die er zwischen 1996 und 1999 im Mittleren Osten - insbesondere in Palästina - mit Überlebenden, Familien von Attentätern und Planern durchgeführt hat.
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scheidung zum Zeitpunkt t1 den Spielraum folgender Handlungsentscheidungen einschränkt. Eine bewusste Selbstbindung kann beim Handeln unter Unsicherheit durchaus rational sein, um die Komplexität der Situation zu reduzieren (Elster, 1987). Für uns entscheidend ist allerdings, dass die Organisation genau weiß, wie die Rituale wirken: Einerseits kann sich der Akteur durch das Ritual vergewissern, dass ihm die große Verehrung bevorsteht, andererseits ist eine Verweigerung des Anschlages hinterher mit noch höheren Kosten verbunden. Dies wird deutlich, wenn man die beiden Alternativen, Durchführung oder Verweigerung des tatsächlichen Anschlags, hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den Akteur vergleicht. Auf der einen Seite stehen die hohen Kosten des Todes im Fall der Durchführung des Anschlags. Verbunden mit der Durchführung ist zur Tatzeit allerdings auch die Gewissheit des späteren Prestiges, des „sinnvollen“ Märtyrertodes und (oft auf materieller Ebene) der finanziellen Belohnung der Angehörigen. Dem Attentäter ist die spätere Ehre durch die Zeremonien zugunsten früherer Attentäter bewusst. Beim Abbruch des Anschlags besteht der Nutzen darin, zunächst am Leben zu bleiben. Entscheidend ist aber, dass auch das Abbrechen des Anschlags mit sehr hohen Kosten verbunden ist, die von dem Akteur zudem nicht vollständig eingeschätzt werden können. Zum einen droht die erwartete Rache der Organisation - im schlimmsten Fall die Hinrichtung vor den Augen der anderen Mitglieder - und zum anderen drohen bei einer Verhaftung die befürchteten Foltermethoden der feindlichen Macht. Hinzu kommt der völlige Identitätsverlust, der Gesichtsverlust gegenüber den eigenen Kameraden, in der Familie und/oder der Bevölkerung. Insbesondere bei Anschlägen, die gemeinsam durchgeführt werden, steht das zweifelnde Individuum unter einem enormen psychischen Druck und die Verweigerung käme einem Verrat an den Verbündeten gleich (Pedahzur 2005: 41; Merari 2004). Dem sicheren, aber ehrenhaften Tod eines Anschlags steht aus der Sicht des Akteurs also im besten Falle ein „Leben als Verlierer“ und im schlimmsten Falle ein „Tod als Verlierer“ gegenüber. Inwieweit kann eine Entscheidung zur Durchführung hier rational sein? Unser Modell versucht zu verdeutlichen, dass sich das Individuum durch seine vorangegangenen Entscheidungen in eine quasi-auswegslose Situation im dritten Schritt gebracht hat, in der die Durchführung des Anschlages besser als jede Alternative ist. Gleichzeitig bietet die Durchführung des Anschlags unter anderem die Möglichkeit, einen ehrenvollen Beitrag zu den Zielen der eigenen Gruppe zu leisten, und lässt diese Alternative 266
aus subjektiver Sicht des Attentäters kurz vor dem Anschlag somit in einem positiven Licht erscheinen. Dabei ist irrelevant inwiefern die erwartete zukünftige Verehrung und Anerkennung auch wirklich vom Akteur erlebt wird, allein seine Erwartungen im Moment der Entscheidung fließen in seine Kalkulation ein. 6 Fazit und Ausblick Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, die auf den ersten Blick nicht-verstehbare und irrational erscheinende Handlung des Selbstmordattentates als rationale Wahlhandlung im Sinne von RC zu rekonstruieren und damit nachvollziehbar zu machen. Diese Anwendung von RC-Theorien sollte dabei deren Tragweite kritisch beleuchten. Im Folgenden soll allerdings zunächst auf mögliche Schlussfolgerungen in Bezug auf die Frage, warum Selbstmordterrorismus heute eine so weit reichende Verbreitung gefunden hat, eingegangen werden. Durch das vorgelegte Modell wird also versucht den rationalen Aspekt von Selbstmordattentaten auf individueller Ebene zu betonen, der bei bisherigen Ansätzen zu kurz gekommen ist. Damit grenzt sich das Modell von solchen Ansätzen ab, die altruistischen Motiven von Selbstmordattentätern eine entscheidende Bedeutung beimessen und beanspruchen einen blinden Fleck bisheriger Erklärungsversuchen zu beleuchten. Selbstmordattentate lassen sich eben nicht nur mit dem Verweis auf altruistische Handlungen begreifen, sondern es lässt sich durchaus eine rationale Komponente ausmachen. Die dreistufige Prozessanalyse verdeutlicht hier, wie man plausibel machen kann, dass sich ein Akteur für die Durchführung eines Selbstmordanschlages entscheidet. Dazu muss der Weg zum Selbstmordattentäter schrittweise als Kette von Entscheidungen nachvollzogen werden, die deutlich macht, wie die Folgen einer Handlung die nächste beeinflussen. Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Organisationsführung ein, die die Rationalität des Attentäters instrumentalisiert, indem sie aktiven Einfluss auf gruppendynamische Prozesse nimmt und das Informationsdefizit des Akteurs ausnutzt. Darüber hinaus ermöglicht das vorliegende Modell Antworten auf die soziologisch relevante Frage zu finden, warum sich das Phänomen in den letzen 20 Jahren zunehmend verbreitet hat. Welche strukturellen Bedingungen haben dazu geführt, dass sich immer mehr Individuen bereit erklären ihr eigenes Leben zu opfern? Die Mikrofundierung ermöglicht es entsprechende Kriterien zu benennen, die Selbstmordterrorismus wahrscheinlicher machen 267
und in Bezug auf den Einzelfall die Rolle von notwendigen aber nicht hinreichenden Bedingungen einnehmen. An erster Stelle lässt sich hier auf die zentrale Rolle von Organisationen verweisen. Mit dem großen Erfolg der ersten Anschläge von Hisbollah 1983 nahmen sich andere Organisationen diese Taktik zum Vorbild und fingen an, Individuen davon zu überzeugen entsprechende Anschläge durchzuführen. In Verbindung mit einer bestimmten politischen Lage und der öffentlichen Unterstützung vom Märtyrertum wurden strukturelle Bedingungen geschaffen, die über die Situationslogik entsprechend auf die Akteure einwirken, so dass Selbstmordanschläge wahrscheinlicher geworden sind. Im Hinblick auf die Tragweite von RC-Theorien lässt sich schließlich anmerken, dass die für eine struktur-individualistische Erklärung benötigten Brückennahmen nicht aus der RCT selbst abgeleitet werden können (Blossfeld, 1996, 184; Brüderl, 2004, 171). Erst durch sie werden aber die Merkmale der sozialen Struktur in die unabhängigen Variablen der Handlungstheorie (die konkreten Präferenzstrukturen der Akteure) übersetzt. Gerade eine subjektive Rationalität macht es notwendig, sich mit der Situationswahrnehmung des Akteurs auseinanderzusetzen. Wir greifen zur Gewinnung dieser Brückenhypothesen auf Hypothesen aus anderen Theorien zurück - z.B. nationalist theory of suicide terrorism von Pape (2005: 94) oder Tillys Mechanismus der boundary activation (Tilly 2003). Auf der positiven Seite lässt sich damit die prinzipielle Offenheit und Integrationsfähigkeit von RC demonstrieren. Bei der theoretischen Bearbeitung unseres Phänomens ist es sowohl möglich als auch nötig die verwendete RC-Variante mit anderen Ansätzen zu kombinieren. Auf der negativen Seite untergräbt diese Einsicht den universellen Anspruch der RCT als universelle Theorie. In Bezug auf die theoretische Tragweite von RCT lässt sich also schlussfolgern, dass RCT einerseits zwar eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion menschlichen Handelns einnimmt und auch praktisch Anwendung findet23 . Auch lässt sich betonen, dass das RC-Prinzip im Sinne von nutzenorientiertem oder strategischem Handeln sich weiterhin einer großen Beliebtheit erfreut. Anderseits scheint aber das RC-Projekt mit seinem umfassenden Anspruch gescheitert zu sein, jedes menschliche Handeln rational rekonstruieren zu können ohne auf theorieexterne Überlegungen zurückgreifen zu müssen. 23
Hier lässt sich auf zahlreiche Bereiche verweisen, in denen die Argumentation über den Eigennutzen von Akteuren eine wichtige Rolle spielt (Wegener und Liebig, 1995, vgl. etwa den Bereich der empirischen Gerechtigkeitsforschung).
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Autorenverzeichnis
Dr. Nathalie Behnke Projektleiterin des DFG-Projektes „Muster der Verfassungsreform von föderalen Strukturen” am Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen Prof. Dr. Dietmar Braun Professor für Politikwissenschaft insbesondere Vergleichende Politikwissenschaft am Institut d’Etudes Politiques et Internationales der Universität Lausanne Katja Heeß Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Potsdam Jprof. Dr. Christoph Hönnige Juniorprofessor für Innenpolitik und Vergleichende Regierungslehre an der TU Kaiserslautern Dr. Claudia Landwehr Schumpeter Fellow, Institut für Politikwissenschaft der GoetheUniversität Frankfurt am Main Joscha Legewie, B.A. MA-Student an der Humboldt-Universität zu Berlin 275
Matthias Lehnert Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft I der Universität Mannheim Jprof. Dr. Eric Linhart Juniorprofessor für Angewandte Politische Ökonomie am Institut für Agrarökonomie der Universität Kiel Prof. Dr. Astrid Lorenz Institut für Sozialwissenschaften, JP Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Humboldt-Universität zu Berlin Diplom Sozialwissenschaftlerin Wenke Seemann Doktorandin an der Berlin Graduate School of Social Sciences, Lehrbeauftragte am Lehrbereich Innenpolitik, Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin Arno Simons, B.A. MA-Student an der Universität Bielefeld
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