Stephan Herpertz, Martina de Zwaan, Stephan Zipfel (Hrsg.) Handbuch Essstörungen und Adipositas
Stephan Herpertz Martina de Zwaan Stephan Zipfel (Hrsg.)
Handbuch Essstörungen und Adipositas Mit 18 Abbildungen und 21 Tabellen
13
Prof. Dr. med. Stephan Herpertz
Prof. Dr. med. Stephan Zipfel
Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum LWL-Klinik Dortmund Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Marsbruchstraße 179 44287 Dortmund
Universitätsklinikum Tübingen Medizinische Klinik, Abteilung Innere Medizin VI Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Osianderstraße 5 72076 Tübingen
Prof. Dr. med. Martina de Zwaan Universitätsklinikum Erlangen Psychosomatische und psychotherapeutische Abteilung Schwabachanlage 6 91054 Erlangen
ISBN
978-3-540-76881-4
Springer Medizin Verlag Heidelberg
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2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Geleitwort Essstörungen sind keine Bagatellerkrankungen. Sie schädigen die körperliche und psychische Gesundheit nachhaltig und können sogar zum Tod führen. Die Ergebnisse der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag ft gegebenen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) sind alarmierend: Jedes fünfte ft Kind – und sogar jedes dritte Mädchen – im Alter zwischen 11 und 17 Jahren leidet unter Symptomen von Essstörungen. Krankhaft fte Essstörungen zählen inzwischen zu den häufi figsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Bundesregierung hat deshalb die Initiative „Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn“ gestartet. Die Initiative setzt auf wirksame Prävention und Aufk fklärung, um zu verhindern, dass Kinder und Erwachsene falsche und gesundheitsschädliche Körperideale entwickeln, wie sie häufig fi von der Mode- und Werbebranche propagiert werden. Eine besondere Herausforderung stellt gleichzeitig aber auch die rasche Zunahme der Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas in unserer Gesellschaft fi ft dar. Damit Essstörungen wie Magersucht, Bulimie oder die – häufi fig mit Übergewicht und Adipositas assoziierte – BingeEating-Störung gar nicht erst entstehen können, müssen Kinder mit einer ausgewogenen Ernährung und ausreichender Bewegung aufwachsen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Darüber hinaus brauchen wir aber auch sichere Verfahren zur Diagnose von Essstörungen und gezielte therapeutische Maßnahmen. Das BMBF fördert daher Forschungsprojekte zu Essstörungen und Adipositas, deren Ergebnisse in die medizinische Praxis einfließen. fl Das vorliegende Buch gibt einen umfassenden Überblick über den derzeitigen wissenschaftft lichen Kenntnisstand und aktuelle Behandlungsstrategien bei Essstörungen und Adipositas. Damit leistet es einen wichtigen Beitrag zur besseren medizinischen Versorgung der Patientinnen und Patienten.
Dr. Annette Schavan, MdB Bundesministerin für Bildung und Forschung
VII
Vorwort Kaum ein psychisches Krankheitsbild hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit ff ein so reges Interesse gefunden wie die Essstörungen. In fast allen aufl flagenstarken Zeitungen und Zeitschrift ften wird über Magersucht oder Bulimia nervosa berichtet, nahezu allen jungen Frauen in Deutschland dürften ft diese beiden Essstörungen geläufi fig sein. Über die Binge-Eating-Störung ist weniger bekannt, obwohl mehr Menschen an ihr leiden als an der Bulimia nervosa und ‒ interessanterweise ‒ fast ebenso viele Frauen wie Männer von dieser Essstörung betroffen sind. Die Adipositas ist nicht zuletzt durch ihre pandemieartige Ausbreitung in den letzten Jahrzehnten zunehmend in das Bewusstsein der Öff ffentlichkeit gerückt. Neben den körperlichen Folgeerkrankungen der Adipositas sind deren psychosoziale Konsequenzen nicht zu unterschätzen, steht sie doch in einem krassen Gegensatz zu dem herrschenden Schlankheitsideal. Bei aller Themenvielfalt Th dieser Krankheitsbilder lassen sich in den letzten Jahren zunehmend große Überschneidungen im Hinblick auf Versorgungs- und Forschungsfragen beobachten. So ist die Binge-Eating-Störung in der Regel mit Übergewicht oder Adipositas assoziiert, und die Bulimia nervosa lässt sich u. a. als gegenregulatorische Maßnahme junger Menschen, insbesondere junger Frauen, angesichts des massiven Gewichtsanstiegs in der Bevölkerung verstehen. Auch stellt sich nicht zuletzt durch die immensen Fortschritte in der Grundlagenforschung zur Gewichtsregulation zunehmend die Frage, ob Essstörungen und Adipositas u. a. Ausdruck fehlgesteuerter zentraler Steuerungsmechanismen sind, deren Determinanten neben einer genetischen Disposition psychosoziale und psychobiologische Problemfelder darstellen. Das vorliegende Handbuch stellt insofern ein Novum dar, als dass es weniger um die Darstellung spezieller z. B. psychotherapieschulenspezifi fischer Behandlungsmethoden bemüht ist, sondern um die komprimierte Darstellung aller wichtigen und aktuellen wissenschaftlich ft verankerten Aspekte der Essstörungen und der Adipositas. Auch ist es ein Anliegen der Herausgeber, den bisher eher geringen Austausch zwischen Adipositas- und Essstörungsexperten zu beleben. Das Handbuch richtet sich als Nachschlagewerk an Klinik und Praxis, aber auch zur systematischen Durchsicht an alle in der Versorgung und Forschung auf dem Gebiet der Essstörungen und der Adipositas tätige und interessierte Berufsgruppen. Geschrieben ist es auch für Berufsanfänger, die sich eingehend über die beiden Themenbereiche Th informieren möchten, aber auch für die erfahrenen Berufskollegen, die ihr Wissen vor dem Hintergrund des heutigen Wissensstandes, aber auch der dargestellten Perspektiven, reflektieren fl wollen. Es richtet sich schließlich auch an Lehrende, die den Anspruch haben, umfassend zu informieren. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihre aktive Mitgestaltung des Buches und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Springer-Verlags für ihre kompetente Unterstützung bei der Realisierung dieses neuen Handbuchs. Die Herausgeber Stephan Herpertz, Bochum Martina de Zwaan, Erlangen Stephan Zipfel, Tübingen
Im Herbst 2008
IX
Inhaltsverzeichnis Essstörungen Klassifikation der Essstörungen 1
Klassifikation fi und Diagnose: Eine historische Betrachtung . . . . . .
4
Tilmann Habermas 1.1 1.2 1.3 1.4
1.5 1.6 1.7
2
Ein wahrhaft biopsychosoziales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Adipositasdiagnose . . . . Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose. . Geschichte der Diagnose von Heißhungeranfällen und Sich-Überessen (Binge-Eating, Bulimie) . . . . . . . . . . . . Geschichte der Bulimia nervosa und ihrer Diagnose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfl flüsse der medizinischen Krankheitsbegriffe ff auf die Essstörungen . . . . . . . . Zukünftige Entwicklungen der Klassifikation fi und Diagnose . . . . . . . . .
Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel . . . . . . . .
4 4
3.3.4 3.3.5
Übermäßige Bewegung . . . . . . . . . . . Weitere kompensatorische Mechanismen
4
Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5 4.6
5
5
2.2
Wie häufi fig treten Körperbildprobleme und Diätverhalten auf, und wie hängen sie zusammen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Verändern sich die Einstellung zum Körper und das Essverhalten im Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter? . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
19 19 20 21 21 21 22 23
Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung . . . . . . . . . . . 24
7
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Martina de Zwaan und Barbara Mühlhans Atypische Essstörungen . . . . . . . . . . . Subsyndromale Essstörungen . . . . . . . Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . . . . . Purging-Disorder. . . . . . . . . . . . . . . . Night-Eating-Syndrom . . . . . . . . . . . . Andere atypische Essstörungen . . . . . .
7
6
Diagnostik von Essstörungen . . . . . . 29
9
6.1 6.2
6 6
Romuald Brunner und Franz Resch 2.1
Beate Herpertz-Dahlmann Defi finition und Klassifi fikation . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität und Diff fferenzialdiagnose Psychische Komorbidität. . . . . . . . . . Somatische Komorbidität . . . . . . . . . Differenzialdiagnose ff . . . . . . . . . . . . Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 18
6.2.1 9 6.2.2
11
3
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Erwachsenenalter. . . . . . . . . . . . 14
3.1 3.1.1
Klinische Einteilung der Anorexia nervosa Atypische Anorexia nervosa (ICD-10 F50.1). . . . . . . . . . . . . . . . . . Subtypen der Anorexia nervosa (nach ICD-10 und DSM IV) . . . . . . . . . . Klinische Einteilung der Bulimia nervosa . Atypische Bulimia nervosa (ICD-10 F50.3) Subtypen der Bulimia nervosa . . . . . . . Kompensatorische Mechanismen . . . . . Fasten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Missbrauch von Medikamenten . . . . . .
6.2.3 6.3 6.4
Ulrich Schweiger Screening nach Essstörungen. . . . . . . . Ausführliche psychologische Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung. . . . . . Suche nach körperlichen, psychologischen oder Verhaltensmerkmalen einer Essstörung . . . . . . . . Assessment der Beeinträchtigung durch gestörtes Essverhalten . . . . . . . . . . . . Operationalisierte Diagnostik. . . . . . . . Medizinische Diagnostik bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff Überlegungen Differenzialdiagnostische bei Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . .
24 24 25 26 27 28
29 30
30 31 31 33 35
Martin Teufel und Stephan Zipfel
3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
14
Epidemiologie, Ätiologie und Verlauf der Essstörungen
14 15 16 17 17 17 17 17 17
7
7.1 7.2 7.3
Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen . . . . . 38 Manfred M. Fichter Epidemiologische Grundbegriffe ff . . . . . Prävalenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 39 41
X
Inhaltsverzeichnis
8
Verlauf und Prognose der Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . 44
12.3
Stephan Zipfel, Bernd Löwe und Wolfgang Herzog 8.1 8.2 8.3
9
Ergebnisse der Verlaufsforschung . . . . . Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognostische Indikatoren für einen Rückfall und schlechten Verlauf . . . . . .
44 46 46
Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung . . . . . . . . . . . 48
13
9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5
10
Verlauf der Essstörungssymptome . . . . Remission und Genesung . . . . . . . . . . Rückfall und Chronifi fizierung . . . . . . . . Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf anderer psychischer Erkrankungen (Komorbidität) und soziale Faktoren . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Prognostische Faktoren . . . . . . . . . . . Lebensalter und Krankheitsdauer . . . . . Schweregrad der Essstörung und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitseigenschaften. . . . . . . . Merkmale der Herkunftsfamilie . . . . . .
49 49 50 50 50 50 51 51 51 51 52 52 52
Verhaltenstherapeutische Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . 54 Gaby Groß
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.2 10.3 10.4
Prädisponierende Faktoren . . . Biologische Faktoren . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . Familiäre Faktoren . . . . . . . . . Individuelle Faktoren . . . . . . . Auslösende Faktoren . . . . . . . Aufrechterhaltende Faktoren . . Das transdiagnostische Modell .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
54 54 55 55 55 56 56 56
11
Psychodynamische Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . 59
11.1
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . . . . .
14
Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Genetische Aspekte der Essstörungen
62
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.2
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . Familien- und Zwillingsstudien. . . Linkage-Analysen . . . . . . . . . . . Assoziationsstudien . . . . . . . . . . Bulimia nervosa und Binge-EatingStörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Familien- und Zwillingsstudien. . . 12.2.2 Linkage-Analysen . . . . . . . . . . . 12.2.3 Assoziationsstudien . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
62 63 63 63
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
64 64 64 64
67 69 72
Burkard Jäger 14.1 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Kulturhistorische Perspektive . . . . . . . 14.1.2 Auftretenshäufigkeit fi in verschiedenen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.3 Einfl flüsse des schlanken Körperideals . . 14.1.4 Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren . 14.2 Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Kulturhistorische Perspektive . . . . . . . 14.2.2 Auftretenshäufigkeit fi in Kulturen mit und ohne Anschluss an westliche Medieninhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Einfl flüsse des schlanken Körperideals . . 14.2.4 Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren . 14.3 Kulturelle Faktoren bei Gewichtszunahme, Adipositas und Binge-EatingStörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Die Rolle von Normen und Idealen in den Medien und der öff ffentlichen Moral . . . . 14.4 Gemeinsame Faktoren: Migration und Rollenanforderungen an Frauen . . . . . .
15
75 75 76 76 76 77 77
77 77 79
80 80 80
Körperbildstörungen . . . . . . . . . . . 82 Brunna Tuschen-Caffier ffi
15.1 15.2 15.3
15.4
Helge Frieling und Stefan Bleich
Psychosoziale Risikofaktoren . . . . . . 67
13.1 13.2 13.3
Stephan Herpertz
12
65
Corinna Jacobi und Eike Fittig
Norbert Quadflieg und Manfred Fichter 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.2
Ausblick – Genomweite Assoziationsstudien, Gen-Umwelt-Interaktionen und Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
Körperbildstörung als Diagnosekriterium für Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Konzeptionen und Defi finitionsversuche . . . . . . . . . . . . . . Körperbildstörungen als Kernsymptome von Essstörungen: Forschungszugänge und empirische Befunde . . . . . . . . . . . Befunde der Grundlagenforschung zu Körperbildstörungen: Notwendig, hilfreich oder überflüssig? fl . . . . . . . . . .
82 82
84
86
Essstörungen bei Männern. . . . . . . . 87 Barbara Mangweth-Matzek
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. 16.1 16.2 Krankheitsbeginn . . . . . . . . . . . . . . 16.2.1 Risikofaktor: Unzufriedenheit mit dem Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2.2 Weitere Risikofaktoren . . . . . . . . . . . Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . 16.3 16.4 Behandlung und Outcome . . . . . . . . 16.5 Atypische Essstörungen und BingeEating-Störung . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
87 87
. . . .
87 89 90 91
.
91
XI
Inhaltsverzeichnis
17
Essstörungen und Leistungssport . . . 93
18.4
Petra Platen 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.6 17.6.1 17.7 17.7.1 17.7.2 17.8 17.8.1 17.8.2 17.9
17.9.1 17.9.2
Körpergewicht und Körperzusammensetzung im Leistungssport . . . . . . . . . Bedeutung der Energiebilanz im Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Prädisponierende Faktoren . . . . . . . . . Pathophysiologische Mechanismen. . . . Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen des Menstruationszyklus . . . Niedrige Knochendichte . . . . . . . . . . . Gesundheitliche Konsequenzen . . . . . . Psychische und soziale Folgen . . . . . . . Screening und Diagnose . . . . . . . . . . . Screening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostisches Prozedere . . . . . . . . . . Prävention und Therapie . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement bei Athletinnen und Athleten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zum angemessenen Abnehmen Hinweise zu leistungsoptimierender Gewichtszunahme. . . . . . . . . . . . . . .
94
18.4.1
95 95 96 97 97 97 98 98 98 98 98 99 99 100 100
18.4.2
101 101 102
Psychische Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . 106 Ulrich Schweiger
18.1
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.1.6 18.2 18.3
18.3.1 18.3.2 18.3.3
Prävalenz von Komorbidität zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungen und depressive Störungen . Essstörungen und Angststörungen . . . . Essstörungen und Substanzmissbrauch . Essstörungen und sexuelle Störungen . . Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clusteranalysen zu komorbiden Störungen bei Essstörungen . . . . . . . . Abgrenzung Differenzialdiagnose ff vs. Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanismen der Interaktion zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komorbide Störungen als spezifischer fi Risikofaktor für Essstörungen . . . . . . . . Komorbide Störungen als Komplikation einer Essstörung . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsame Risikofaktoren für Essstörungen und komorbide Störungen.
18.4.4 18.4.5 18.4.6
19
110 110 110 111 111 111 111
Aff ffektive Störungen und Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . 112 Jörn von Wietersheim
19.1 19.2 19.3 19.4 19.5
20
Anorexia nervosa . . . . Bulimia nervosa . . . . . Binge-Eating-Störung. . Adipositas . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
113 113 114 115
. . . . . . . . . . . 115
Selbstverletzendes Verhalten bei essgestörten Frauen . . . . . . . . . . . 117 Detlev O. Nutzinger
Psychische Komorbidität 18
18.4.3
Besonderheiten der Therapie bei komorbiden Störungen unter Einschluss von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung bei Essstörung und depressiver Störung. . . . . . . . . . . . . . Behandlung bei Essstörung und Cluster-C-Persönlichkeitsstörung . . . . . Behandlung bei Essstörung und Cluster-B-Persönlichkeitsstörung . . . . . Behandlung bei Essstörungen und Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungen und Abhängigkeitserkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungen und sexuelle Störungen . .
20.1 20.2 20.3 20.4
20.4.1 107 107 107 107 108 108
20.4.2 20.5 20.5.1 20.5.2
Begriffsdefi ff finition . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen und Ausgestaltung selbstverletzenden Verhaltens . . . . . . . . . . . Häufig fi vergesellschaftete sowie diff fferenzialdiagnostisch auszuschießende Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere selbstverletzende Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostisch ff abzuklärende Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmaka. . . . . . . . . . . . . . . .
117 118 118
119
119 120 120 120 121
108
Biologische und medizinische Aspekte der Essstörungen
108
109 109
21
Hunger und Sättigung . . . . . . . . . . 124 Reinhard Pietrowsky
109 109
21.1 21.2
Der Prozess der Nahrungsaufnahme . . . 124 Biologische, sensorische und psychologische Faktoren von Hunger und Sättigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 21.2.1 Biologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . 125
XII
Inhaltsverzeichnis
21.2.2 Sensorische Faktoren . . . . . . . . . . . . . 126 21.2.3 Psychologische Faktoren. . . . . . . . . . . 127 21.3 Hunger- und Sättigung und die Regulation des Körpergewichts . . . . . . 128
22
Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Medizinische Aspekte und somatische Komorbidität 25
Martin Schulte-Rüther und Kerstin Konrad 22.1
Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsbias . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis. . . . . . . . . . . . 22.2 22.2.1 Implizite Lern- und Gedächtnisfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 Explizite Lern- und Gedächtnisfunktionen 22.3 Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . 22.4 Neuropsychologie und hormonelle Einfl flussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5 Neuropsychologische Befunde im Therapieverlauf . . . . . . . . . . . . . . . .
23
131 133 133 133 133 134 134
Kristian Holtkamp Neuropeptide und periphere Peptidhormone . . . . . . . . . . 23.1.1 Befunde bei den Essstörungen . 23.2 Neurotransmitter . . . . . . . . . 23.2.1 Befunde bei den Essstörungen .
24
Hans-Christoph Friederich 25.1 25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5 25.2.6 25.3
Neurohormone und Neurotransmitter 137 26
23.1
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
137 138 141 141
Bildgebende Verfahren bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Ursula Franziska Bailer
24.1 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . 24.1.1 Computertomographie und Magnetresonanztomographie . . . . . . 24.1.2 Magnetresonanzspektroskopie. . . . . . 24.1.3 Positronenemissionstomographie, Single-Photon Emission Computed Tomography. . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.4 Funktionelle Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.5 Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . 24.2 24.2.1 Computertomographie und Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . 24.2.2 Magnetresonanzspektroskopie. . . . . . 24.2.3 Positronenemissionstomographie, Single-Photon Emission Computed Tomography . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2.4 Funktionelle Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2.5 Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Binge-Eating-Störung . . . . . . . . . . .
. 144 . 144 . 144
. 145 . 145 . 146 . 148
Medizinische Komplikationen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. . . . . . . . . . . . . . . 152 Körperliche Beschwerden und Laborparameter . . . . . . . . . . . . . . Organmanifestationen . . . . . . . . . . Kardiovaskuläres System . . . . . . . . . Skelettsystem . . . . . . . . . . . . . . . . Gastrointestinaltrakt . . . . . . . . . . . Haut und Zähne . . . . . . . . . . . . . . Endokrinium . . . . . . . . . . . . . . . . Niere, Wasser- und Elektrolythaushalt Das Auff ffütterungssyndrom (Refeeding-Syndrom) . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
152 154 154 154 155 155 156 156
. . 157
Gynäkologische Aspekte bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa . . . . . . 158 Christiane Gerwing und Anette Kersting
26.1 26.2 26.3 26.3.1 26.3.2 26.4
Hormonelle Störungen . . . . . . Fertilität und Reproduktion . . . Schwangerschaft und Geburt. . Anorexia nervosa . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . Essstörungen und Mutterschaft
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
158 159 160 160 162 162
27
Essstörungen und Diabetes mellitus. . 164
27.1 27.2
Essstörungen und Typ-1-Diabetes . . . . . Diabetes und Essstörungen, eine überzufällige Koinzidenz? . . . . . . . . . . Insulindosis und Gewichtsregulation (»Insulin-Purging«). . . . . . . . . . . . . . . Verlauf der Essstörung bei Menschen mit Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose und Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus und Essstörung . .
Stephan Herpertz
27.3 27.4 27.5
. 148 . 148
164 165 166 166 166
Die Behandlung der Essstörungen
. 148
28
. 148 . 148
Prävention der Essstörungen . . . . . . 170 Andreas Karwautz und Gudrun Wagner
. 148
Arten der Prävention . . . . . . . . . . . . Die Diätgesellschaft . . . . . . . . . . . . . Zielbereiche für die Primärprävention von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Prävention . . . . . . . 28.4 28.4.1 Wirksamkeit von Primärprävention bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.1 28.2 28.3
. 170 . 170 . 171 . 172 . 172
XIII
Inhaltsverzeichnis
28.4.2 Wirksamkeit von Primärprävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen . 173 28.4.3 Wirksamkeit von Sekundärprävention . . 174 28.5 Gemeinsame Präventionsprogramme für Essstörungen und Adipositas . . . . . 174
29
Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz . . . . . . . . . 176 Beate Herpertz-Dahlmann
Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie . . . . . . . . . . . 29.2 Individuelle psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3 Einbeziehung der Familie . . . . . . . 29.3.1 Gruppenpsychoedukation für Eltern 29.3.2 Familientherapie . . . . . . . . . . . . . 29.4 Behandlung der Komorbidität und medikamentöse Therapie . . . . . . . 29.4.1 Medikamentöse Behandlung . . . . .
32
Tanja Legenbauer 32.1
32.2 32.2.1 32.2.2
29.1
30
. . . 176
32.2.3
. . . .
32.2.4
. . . .
. . . .
177 178 178 179
. . . 180 . . . 180
32.2.5
33
Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . 182 Günter Reich
30.1 30.2 30.2.1 30.2.2 30.2.3
30.2.4 30.3 30.3.1 30.3.2 30.3.3
31
193 194 195 195 196 196
197
Andere Psychotherapieverfahren bei Essstörungen: Die interpersonelle Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . 200
33.1
185
Grundlagen der interpersonellen Psychotherapie für Essstörungen . . . . 33.2 Die Essstörungsbehandlung durch die interpersonelle Psychotherapie . . . . . 33.3 Wissenschaftliche Fundierung der interpersonellen Psychotherapie. . . . . 33.3.1 Interpersonelle Psychotherapie der Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . 33.3.2 Interpersonelle Psychotherapie der Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . . . . 33.3.3 Interpersonelle Psychotherapie der Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . .
185
34
182 183 183 183
184
186 186 187
Psychodynamische Therapie . . . . . . 189
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Fokale psychodynamische Psychotherapie, operationalisierte psychodynamische Diagnostik und strukturbezogene Psychotherapie. . 31.3 Störungsspezifische fi Modifi fikationen psychodynamischer Therapie bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . 31.3.1 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . 31.3.2 Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . 31.3.3 Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . .
Allgemeine Vorgehensweise und Standardelemente in der Behandlung von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Normalisierung des Ernährungsverhaltens . . . . . . . . . . . . Kognitive Behandlungselemente . . . . . Besonderheiten in der Behandlung der Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten in der Behandlung der Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere Entwicklungen in der Behandlung von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anja Hilbert
Familiäre Einfl flüsse auf das Essverhalten und die Einstellung zum Körper . . . . . . Familiendynamik bei Essstörungen . . . . Einfl fluss familiärer Beziehungen auf die Entwicklung von Essstörungen. . . . . . . Familiäre Beziehungen bei Anorexie und Bulimie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiendynamik bei männlichen Jugendlichen und Männern mit Anorexie und Bulimie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiendynamik bei der Binge-EatingStörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familien- und Paartherapie bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen von Familientherapie bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikationen zur Familien- und Paartherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasen der Familientherapie bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wolfgang Herzog, Hans-Christoph Friederich, Beate Wild, Henning Schauenburg und Stephan Zipfel 31.1 31.2
Kognitive Verhaltenstherapie . . . . . . 193
. . . 189
34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.3 34.3.1 34.3.2
35 . . . .
. . . .
191 191 191 192
. 201 . 202 . 202 . 203 . 203
Die Pharmakotherapie der Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Martina de Zwaan und Jana Svitek
34.1 34.1.1 34.1.2 34.2 34.2.1
. . . 190
. . . .
. 200
Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . Gewichtsrestitution . . . . . . . . . . . . . Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . Reduktion der Essanfälle und der kompensatorischen Verhaltensweisen . Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . Kombination von Psychotherapie und Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzielle Therapie . . . . . . . . . . . Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . . . . Reduktion der Essanfälle . . . . . . . . . . Kombination von Psychotherapie und Medikation . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
205 205 206 206
. 206 . 208 . . . .
208 208 209 209
. 209
Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen . . . 211 Almut Zeeck
35.1
Stellenwert stationärer und tagesklinischer Behandlung. . . . . . . . . 211
XIV
Inhaltsverzeichnis
35.1.1 Gesamtbehandlungsplanung. . . . 35.1.2 Unterschiede zwischen voll- und teilstationären Programmen . . . . 35.1.3 Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.4 Elemente voll- und teilstationärer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . 35.2.1 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.2 Behandlungsvereinbarungen. . . . 35.2.3 Charakteristische Schwierigkeiten . 35.3 Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . 35.3.1 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.2 Behandlungsvereinbarungen. . . . 35.4 Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . 35.4.1 Indikationsstellung . . . . . . . . . . 35.4.2 Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
. . . . 212
38
. . . . 212 . . . . 213
38.1
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
214 214 214 215 216 216 216 216 217 217 217
Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Andreas Thiel und Thomas Paul
38.2 38.3 38.4
39
Die Möglichkeit der Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht . . . . . . . . . Psychotherapie unter Zwang . . . . . . . . Zwangsmaßnahmen behutsam einsetzen und dosieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung mit Respekt . . . . . . . . . . .
232 233 233 235
Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Thomas Paul und Andreas Thiel
39.1 39.2 39.3
Die Behandlung von Körperbildstörungen . . . . . . . . . . . 219
Begriff ffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . 237 Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung chronisch essgestörter Patientinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Silja Vocks 36.1 36.2
Erarbeitung eines Störungsmodells . . . . Modifi fikation dysfunktionaler körperbezogener Kognitionen . . . . . . . 36.3 Körperkonfrontation per Spiegel und Video . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.3.1 Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.3.2 Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.4 Expositionsübungen zur Reduktion des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . 36.5 Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.6 Befunde zur Wirksamkeit kognitivverhaltenstherapeutischer Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes . . . .
37
220
220 221 221
223
37.6.3 37.6.4 37.7 37.8 37.8.1 37.8.2 37.8.3 37.8.4 37.8.5 37.8.6
. . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . . . . . .
40
Ätiologie und Diagnostik der Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Alfred Wirth
223
Selbsthilfe bei Essstörungen. . . . . . . 226 Wozu Selbsthilfe? . . . . . . . . . . . . . Was ist Selbsthilfe?. . . . . . . . . . . . . Anleitung zur Selbsthilfe . . . . . . . . . Für wen eignet sich Selbsthilfe? . . . . Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . Reine Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . Angeleitete Selbsthilfe mit einem im deutschsprachigen Raum erprobten Selbsthilfemanual . . . . . . . . . . . . . Reicht angeleitete Selbsthilfe aus?. . . Selbsthilfe für Adoleszente . . . . . . . Binge-Eating-Störung. . . . . . . . . . . Der Einsatz moderner Medien . . . . . E-Mail und Telemedizin. . . . . . . . . . Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CD-ROM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multimedia auf CD. . . . . . . . . . . . . Websites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle Realität (VR) . . . . . . . . . . .
Klassifikation, Ätiologie und Epidemiologie der Adipositas
222
Cornelia Thiels und Martina de Zwaan 37.1 37.2 37.3 37.4 37.5 37.6 37.6.1 37.6.2
Adipositas
220
226 226 227 227 227 227 227
227 228 228 228 229 229 229 229 230 230 231
40.1 40.1.1 40.1.2 40.1.3 40.2
40.3.3 40.3.4
Ätiologie der Adipositas . . . . . . . . Erhöhte Energieaufnahme. . . . . . . Verminderter Energieverbrauch . . . Genetische Prädisposition . . . . . . . Krankheiten und Pharmaka (sekundäre Adipositas) . . . . . . . . . Krankheiten mit Adipositas . . . . . . Pharmaka mit adipogener Wirkung . Diagnostik der Adipositas . . . . . . . Anthropometrie . . . . . . . . . . . . . Technische Diagnostik zur Körperzusammensetzung . . . . . . . . . . . Diagnostik der Energieaufnahme . . Erfassung der körperlichen Aktivität
41
Epidemiologie der Adipositas . . . . . . 255
40.2.1 40.2.2 40.3 40.3.1 40.3.2
. . . .
. . . .
. . . .
246 246 247 249
. . . . .
. . . . .
. . . . .
250 250 250 251 251
. . . 251 . . . 252 . . . 253
Susanne Wiesner 41.1 41.2 41.3
Indizenz und Prävalenz der Adipositas weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Inzidenz und Prävalenz der Adipositas in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Inzidenz und Prävalenz der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
XV
Inhaltsverzeichnis
42
Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz . . . . . . . 259 Petra Warschburger
42.1
42.4 42.5
Defi finition und Verbreitung von Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Diskriminierung, Hänseleien und Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Störungen und Verhaltensauff ffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenwert der psychischen Faktoren . .
43
Genetische Aspekte der Adipositas . . 265
42.2 42.3
259 260 260 262 263
Helge Frieling, Anke Hinney und Stefan Bleich . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4 45.2.5 45.2.6 45.3
43.1 43.2 43.3 43.4 43.5 43.5.1 43.5.2 43.6 43.6.1 43.6.2
Zwillings- und Adoptionsstudien . . . Tiermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . Monogenetische Erkrankungen . . . . Linkage-Analysen . . . . . . . . . . . . . Assoziationsstudien . . . . . . . . . . . . Mögliche Kandidatengene . . . . . . . Melanokortinrezeptor 4 . . . . . . . . . Genomweite Assoziationsstudien . . . Insulinaktiviertes Gen 2 (INSIG-2) . . . Fat mass and obesity associated gene
265 266 266 266 268 268 269 269 270 270
44
Klinische Aspekte der Adipositas . . . . 271
44.1.1 44.1.2 44.1.3 44.1.4 44.2 44.2.1 44.2.2 44.2.3 44.2.4 44.2.5 44.2.6 44.2.7 44.2.8 44.2.9 44.2.10 44.2.11 44.2.12 44.2.13
45
Evaluation übergewichtiger und adipöser Patienten. . . . . . . . . . . . . . . Klinische Untersuchung . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . Komorbiditäten der Adipositas. . . . . . . Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 . Adipositas und Dyslipidämie . . . . . . . . Adipositas und Hypertonie . . . . . . . . . Adipositas und metabolisches Syndrom . Adipositas und Mortalitätsrisiko . . . . . . Adipositas und Gerinnungsstörungen . . Adipositas und Hyperurikämie . . . . . . . Adipositas und gastrointestinale Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas und pulmonale Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas und Hormonstörungen bei Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas und Hormonstörungen bei Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas und Karzinomrisiko . . . . . . . Adipositas und Erkrankungen des Bewegungsapparats . . . . . . . . . . . . .
271 271 272 272 272 273 273 273 274 274 275 276 276
277
Soziale und psychosoziale Auswirkungen der Adipositas: Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung. . . . . . . . . . . . 288
46.1
Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung bei Adipositas. . . . . . . 288 Psychosoziale Auswirkungen gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Anja Hilbert
46.2
47
Psychische Komorbidität der Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
47.1
Seelische Belastungen und Erkrankungen bei Adipositas. . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Belastungen . . . . . . . . . Psychosomatische Aspekte der Adipositas Adipositas und Depression . . . . . . . . . Pathologisches hyperkalorisches Essverhalten und Binge-Eating-Störung . Adipositas und BorderlinePersönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . Adipositas und Abhängigkeitserkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Stephan Herpertz
47.2 47.3 47.4 47.5 47.6 47.7
294 294
48.1 48.2 48.2.1 48.2.2 48.2.3
Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolisches Syndrom und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenhang von metabolischem Syndrom und Depression . . . . . . . . . . Behandlungsprinzipien. . . . . . . . . . . .
Bernd Löwe
48.3
278
48.4
Pathomechanismen . . . . . . . . . . . . . . 280 Auswirkungen einzelner Substanzen auf das Körpergewicht. . . . . . . . . . . . . . . 281
293
Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
49
Florian Lederbogen 45.1 45.2
292 292 292 293
48
278 278
Medikamentös induzierte Adipositas . 280
284
46
277 277
281 282 283 283 283 284
Komorbidität
Andreas Hamann 44.1
Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . Antiepileptika, Lithium . . . . . . . . . . . . Antidiabetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Substanzen . . . . . . . . . . . . . Umgang mit medikamentös induzierter Gewichtszunahme . . . . . . . . . . . . . .
296 297 297 298 298 298 299
Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . 303 Martina Schröter und Anil Batra
49.1
Grundlagen der Tabakabhängigkeit. . . . 303
XVI
Inhaltsverzeichnis
49.1.1 Neurobiologische Aspekte der Tabakabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . 49.1.2 Psychosoziale Aspekte der Tabakabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . 49.2 Diagnostik der Tabakabhängigkeit . . . . 49.3 Tabakabhängigkeit bei Anorexie und Bulimie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49.4 Weight concerns und Rauchverhalten . . 49.5 Tabakabstinenz und Gewichtszunahme . 49.6 Rauchen und Adipositas . . . . . . . . . . . 49.7 Behandlung der Tabakabhängigkeit . . . 49.7.1 Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 49.7.2 Motivierende Gesprächsführung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 49.8 Tabakentwöhnung bei Patientinnen mit Bulimie oder Anorexie . . . . . . . . . . . .
53 304 304 305 305 306 307 307 308 308 309 309
53.1 53.2 53.2.1 53.2.2 53.2.3 53.2.4 53.2.5 53.2.6 53.2.7 53.2.8 53.3 53.4 53.5
Die Behandlung der Adipositas
Verhaltenstherapie der Adipositas . . . 328 Andrea Benecke
54
Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . Wesentliche Bausteine der verhaltenstherapeutischen Adipositastherapie . . . Psychoedukation. . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarung von Therapiezielen . . . . . Selbstbeobachtung und Verhaltensanalysen . . . . . . . . . . . . . . Stimuluskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Umstrukturierung . . . . . . . . Stressmanagement . . . . . . . . . . . . . . Soziale Unterstützung . . . . . . . . . . . . Soziales Kompetenztraining. . . . . . . . . Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . Zusammenarbeit mit anderen relevanten Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzel- oder Gruppentherapie . . . . . . .
328 329 329 329 330 330 331 332 332 332 332 332 333
Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität . . . . . 334 Petra Platen
54.1
50
Prävention der Adipositas . . . . . . . . 312 Manfred J. Müller und Sandra Plachta-Danielzik
50.1 Stand der Wissenschaft. . . . . . . . . . 50.1.1 Ergebnisse von Präventionsstudien . . 50.1.2 Determinanten von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . 50.2 Ein theoretisches Modell . . . . . . . . . 50.3 Portfolio von Maßnahmen und Machbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 50.4 Was ist zu tun, und was können wir erwarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 312 . . 312 . . 313 . . 314 . . 315 . . 315
51
Behandlung der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz . . . . . . . . . 317
51.1 51.2 51.3 51.3.1 51.3.2 51.3.3
Indikationsstellung . . . . . . . . . . . . . Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen und Behandlungsbausteine . Schulungsprogramme . . . . . . . . . . . Andere Therapien . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Martin Wabitsch
52
. . . . .
317 319 319 319 321
. 321
Standards der Adipositasbehandlung 322 Simone Munsch und Andrea Sabrina Hartmann
52.1
Multimodulare Behandlung der Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52.1.1 Veränderung des Ernährungsverhaltens . 52.1.2 Standards in der Förderung körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52.1.3 Standards der psychologischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52.2 Behandlungssetting. . . . . . . . . . . . . . 52.3 Medikamentöse und chirurgische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322 322
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf das Körpergewicht, den Body-Mass-Index und die Körperzusammensetzung bei erwachsenen Adipösen . . . . . . . . . . . 54.2 Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf die kardiovaskuläre und metabolische Leistungsfähigkeit bei erwachsenen Adipösen . . . . . . . . . . . 54.3 Effekte ff von Sport und körperlicher Aktivität auf kardiovaskuläre und metabolische Risikofaktoren sowie auf die Gesamtmortalität bei erwachsenen Adipösen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54.4 Effekte ff von Sport und körperlicher Aktivität bei adipösen Kindern . . . . . . . 54.5 Allgemeine Empfehlungen zu körperlicher Aktivität und Gesundheit . . 54.5.1 Empfehlungen für Erwachsene zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr . . . . . . . . . 54.5.2 Empfehlungen für ältere Menschen und chronisch Kranke. . . . . . . . . . . . . . . . 54.5.3 Empfehlungen für Kinder . . . . . . . . . . 54.6 Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von erwachsenen Adipösen . 54.7 Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von adipösen Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
324 325 326 326
335
335
336 336 337 337 337 338 338
339
Medikamentöse Therapie der Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Jens Jordan
55.1 55.1.1 55.1.2 55.1.3
Orlistat . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismus . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . Arzneimittelwechselwirkungen
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
342 342 342 342
XVII
Inhaltsverzeichnis
55.1.4 55.1.5 55.2 55.2.1 55.2.2 55.2.3 55.2.4 55.2.5 55.3 55.3.1 55.3.2 55.3.3 55.3.4 55.3.5
Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . Unerwünschte Wirkungen . . . Sibutramin. . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismus . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . Arzneimittelwechselwirkungen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . Unerwünschte Wirkungen . . . Rimonabant . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismus . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . Arzneimittelwechselwirkungen Klinische Wirksamkeit . . . . . . Unerwünschte Wirkungen. . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
342 343 344 344 344 344 344 345 345 345 346 346 346 346
56
Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 348
56.1 56.2 56.2.1 56.2.2 56.2.3
Indikationsstellung . . . . . . . . . . . . . . Adipositaschirurgische Therapieformen . Restriktive Operationsverfahren . . . . . . Malabsorptive Verfahren . . . . . . . . . . . Bewertung der Operationsverfahren . . .
57
Psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie . . . . . . . . . . . . 356
Anna Maria Wolf 348 349 349 351 352
Stephan Herpertz und Martina de Zwaan 57.1 57.2 57.3 57.4
Psychisches Befinden fi und Lebensqualität nach Adipositaschirurgie. . . . . . . . . . . Adipositaschirurgie und Essstörungen . . Psychische Prädiktoren für den Gewichtsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick und Konsequenzen für die Praxis
358 358 359 360
58
Behandlung der Adipositas bei Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . 361
58.1
Lebensstiländerung als präventive Maßnahme bei unzureichender Glukosetoleranz . . . . . . . . . . . . . . . Adjuvante medikamentöse Behandlung Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 . . Gewichtsabnahme und Mortalität. . . . Kann die Adipositaschirurgie das Problem lösen? . . . . . . . . . . . . . . . .
Stephan Herpertz
58.2 58.3 58.4 58.5
59
. . . .
361 362 362 363
. 363
Modediäten und kommerzielle Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Andreas Fritsche
59.1 59.2 59.3 59.4
Anforderungen an eine Diät. . . . . Einteilung der Diäten zur Gewichtsreduktion . . . . . . . . . . Bewertung von Diätprogrammen . Individualisierte Ernähung . . . . .
. . . . 365 . . . . 366 . . . . 366 . . . . 367
60
Zusammenhang von Körpergewicht, Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität. . . . . . . . . . . . . . . . 369
60.1 60.2
Körpergewicht und Mortalität . . . . . . . 369 Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Susanne Wiesner
Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
XIX
Über die Herausgeber Univ.- Prof. Dr. med. Stephan Herpertz
Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Arzt für Innere Medizin, Psychoanalyse, Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LWL-Klinik Dortmund, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum. Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft ft für Essstörungen (DGESS), Sprecher der Arbeitsgruppe für die Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien für die Diagnostik und Therapie Th der Essstörungen der Arbeitsgemeinschaft ft der Wissenschaft ftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ft e.V. (AWMF).
Prof. Dr. med. Martina de Zwaan
Studium der Humanmedizin an der Universität Wien. Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie. Habilitation 1995 zum Thema Binge Eating Störung. Längere Forschungsaufenthalte in Minneapolis und Fargo (Prof. J.E. Mitchell). Verhaltenstherapeutin, Dozentin und Supervisorin. Seit 2003 Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Universitätsklinikums Erlangen. Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft ft für Essstörungen (DGESS).
Univ.-Prof. Dr. med. Stephan Zipfel
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Innere Medizin. Studium der Humanmedizin in Heidelberg, Frankfurt a. M. und London UK. Weiterbildung in Innere Medizin und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg und University of Sydney/Australien. Seit 2003 Ärztlicher Direktor der Abteilung Innere Medizin VI (Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) an der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen, seit 2007 Ärztlicher Direktor des Zentrums für Ernährungsmedizin Tübingen-Hohenheim (ZEM) und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft ft für Essstörungen (DGESS).
XX
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Ursula Franziska Bailer
Dr. med. Helge Frieling
Klinische Abteilung für Allgemeine Psychiatrie Universitätsklinik für Psychiatrie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
[email protected]
Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 D-91054 Erlangen
[email protected]
Prof. Dr. med. Anil Batra
Prof. Dr. med. Andreas Fritsche
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Osianderstraße 22 D-72076 Tübingen
[email protected]
Ernährungsmedizin und Prävention Medizinische Universitätsklinik IV Universität Tübingen Otfried-Müller-Straße 10 D-72076 Tübingen
[email protected]
Dr. phil. Andrea Benecke Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität Mainz – Psychologisches Institut Staudingerweg 9 D-55099 Mainz
[email protected]
Prof. Dr. med. Stefan Bleich Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 D-91054 Erlangen
[email protected]
PD Dr. med. Romuald Brunner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Blumenstraße 8 D-69115 Heidelberg
[email protected]
Dipl.-Psych. Eike Fittig Klinische Psychologie und Psychotherapie Technische Universität Dresden Chemnitzer Straße 46 D-01187 Dresden fi fi
[email protected]
Dr. med. Christiane Gerwing Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Straße 11 D-48129 Münster
[email protected]
Dr. rer. nat. Gaby Groß Abteilung Innere Medizin VI Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik Osianderstraße 5 D-72076 Tübingen
[email protected]
Prof. Dr. phil. Tilmann Habermas Institut für Psychologie Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Senckenberganlage 15 D-60054 Frankfurt
[email protected]
Prof. Dr. med. Andreas Hamann Diabetes-Klinik Bad Nauheim GmbH Ludwigstr. 37-39 D-61231 Bad Nauheim
[email protected]
Prof. Dr. med. Manfred M. Fichter Klinik Roseneck Am Roseneck 6 D-83209 Prien mfi
[email protected] fi
Dr. med. Hans-Christoph Friederich Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Thibautstraße 2 D-69115 Heidelberg
[email protected]
M. Sc. Andrea Hartmann Fachbereich Psychologie Philipps-Universität Marburg Gutenbergstraße 18 D-35032 Marburg andrea.hartmann@staff.uni-marburg.de ff
XXI
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Stephan Herpertz
Prof. Dr. med. Jens Jordan
Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie LWL-Klinik Dortmund Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum Marsbruchstraße 179 D-44287 Dortmund
[email protected]
Institut für Klinische Pharmakologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
[email protected]
Prof. Dr. med. Andreas Karwautz Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 D-52074 Aachen
[email protected]
Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien
[email protected]
PD Dr. med. Anette Kersting Prof. Dr. med. Wolfgang Herzog Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 410 D-69120 Heidelberg
[email protected]
PD Dr. rer. nat. Anja Hilbert Nachwuchsforschergruppe Adipositas Fachbereich Psychologie Philipps-Universität Marburg Gutenbergstraße 18 D-35032 Marburg hilbert@staff.uni-marburg.de ff
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Straße 11 D-48129 Münster
[email protected]
Prof. Dr. rer. nat. Kerstin Konrad Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kinder- und Jugendalters Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 D-52074 Aachen
[email protected]
PD Dr. med. Florian Lederbogen Dr. rer. nat. Anke Hinney Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Rheinische Kliniken Essen Klinik der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 D-45147 Essen
[email protected]
PD Dr. med. Kristian Holtkamp Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 D-52074 Aachen
[email protected]
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5 D-68159 Mannheim fl fl
[email protected]
Dr. rer. nat. Tanja Legenbauer Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie LWL-Klinik Dortmund Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum Marsbruchstraße 179 D-44287 Dortmund
[email protected]
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Bernd Löwe Prof. Dr. rer. biol. Corinna Jacobi Klinische Psychologie und Psychotherapie Technische Universität Dresden Chemnitzer Straße 46 D-01187 Dresden
[email protected]
Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 D-20246 Hamburg
[email protected]
PD Dr. rer. nat. Burkhard Jäger
Prof. Dr. MMag. Barbara Mangweth-Matzek
Psychosomatik und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
[email protected]
Universitätsklinik für Psychiatrie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck
[email protected]
XXII
Autorenverzeichnis
Dipl.-Psych. Barbara Mühlhans
Dipl.-Psych. Norbert Quadflieg fl
Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 D-91054 Erlangen
[email protected]
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Universität München Nußbaumstraße 7 D-80336 München Norbert.Quadfl
[email protected] fl
Prof. Dr. med. Manfred J. Müller
Prof. Dr. phil. Günter Reich
Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Abt. Humanernährung Christian-Albrechts-Universität Kiel Düsternbrooker Weg 17 D-24105 Kiel
[email protected]
Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie Georg-August-Universität Humboldtallee 38 D-37073 Göttingen
[email protected]
Prof. Dr. med. Franz Resch PD Dr. phil. Simone Munsch Abteilung für Klinische Psychologie & Psychotherapie Fakultät für Psychologie Universität Basel Missionsstrasse 62A CH-4055 Basel
[email protected]
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Blumenstraße 8 D-69115 Heidelberg
[email protected]
Prof. Dr. med. Henning Schauenburg Prof. Dr. med. Detlev O. Nutzinger Medizinisch-Psychosomatische Klinik Bad Bramstedt und Medizinische Fakultät der Universität zu Lübeck Birkenweg 10 D-24576 Bad Bramstedt
[email protected]
Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Thibautstraße 2 D-69115 Heidelberg
[email protected]
Dr. rer. nat. Thomas Paul
Dipl.-Psych. Martina Schröter
Medizinisch-Psychosomatische Klinik Bad Bramstedt Birkenweg 10 D-24567 Bad Bramstedt
[email protected]
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Osianderstraße 22 D-72076 Tübingen
[email protected]
Prof. Dr. rer. soc. Reinhard Pietrowsky
Dipl.-Psych. Martin Schulte-Rüther
Psychotherapeutische Ambulanz Heinrich-Heine-Universität Universitätsstraße 1 D-40225 Düsseldorf
[email protected]
Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kinder- und Jugendalters Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 D-52074 Aachen
[email protected]
Dr. oec. troph. Sandra Plachta-Danielzik Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Abt. Humanernährung Christian-Albrechts-Universität Kiel Düsternbrooker Weg 17 D-24105 Kiel
[email protected]
Prof. Dr. med. Ulrich Schweiger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 D-23538 Lübeck
[email protected]
Prof. Dr. med. Petra Platen Fakultät für Sportwissenschaft Sportmedizin und Sporternährung Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150 D-44801 Bochum
[email protected]
Dr. med. Jana Svitek Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 D-91054 Erlangen
[email protected]
XXIII
Autorenverzeichnis
Dr. med. Martin Teufel
Dr. med. Susanne Wiesner
Abteilung Innere Medizin VI Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik Osianderstraße 5 D-72076 Tübingen
[email protected]
Adipositas-Zentrum HELIOS-Klinikum Berlin-Buch Franz-Volhard-Centrum für Klinische Forschung am Experimental Clinical Research Center Charité Berlin Campus Buch Schwanebecker Chaussee 50 D-13125 Berlin
[email protected]
PD Dr. med. Andreas Thiel
Prof. Dr. phil. Jörn von Wietersheim
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Diakoniekrankenhaus Rotenburg (Wümme) GmbH Elise-Averdieck-Straße 17 D-27356 Rotenburg
[email protected]
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universität Ulm Am Hochstrass 8 D-89081 Ulm
[email protected]
Prof. Dr. phil. Cornelia Thiels, MPhil MRCPsych
Dr. sc. hum. Dipl.-Math. Dipl.-Psych. Beate Wild
Fachbereich Sozialwesen Fachhochschule Bielefeld Große-Kurfürsten-Straße 8 D-33615 Bielefeld
[email protected]
Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 410 D-69120 Heidelberg
[email protected]
Prof. Dr. phil. Brunna Tuschen-Caffier ffi Klinische Psychologie und Psychotherapie Albert-Ludwigs-Universität Engelbergerstraße 41 D-79106 Freiburg
[email protected]
Prof. Dr. med. Alfred Wirth Abt. Innere Medizin Teutoburger-Wald-Klinik Teutoburger-Wald-Straße 33 D-49214 Bad Rothenfelde
[email protected]
PD Dr. rer. nat. Silja Vocks Klinische Psychologie und Psychotherapie Ruhr-Universität Bochum GAFO 03/924 D-44780 Bochum
[email protected]
PD Dr. med. Anna-Maria Wolf Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstraße 9 D-89075 Ulm
[email protected]
Prof. Dr. med. Martin Wabitsch Universitätskinderklinik Prittwitzstraße 43 D-89075 Ulm
[email protected]
Mag. Grudrun Wagner Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien
[email protected]
Prof. Dr. phil. Petra Warschburger Lehrstuhl für Beratungspsychologie Institut für Psychologie Universität Potsdam Karl-Liebknecht-Straße 24/25 D-14476 Potsdam (OT Golm)
[email protected]
PD Dr. med. Almut Zeeck Abteilung Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin Universitätsklinikum Freiburg Hauptstraße 8 D-79104 Freiburg
[email protected]
Prof. Dr. med. Stephan Zipfel Abteilung Innere Medizin VI Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Tübingen, Medizinische Klinik Osianderstraße 5 D-72076 Tübingen
[email protected]
Prof. Dr. med. Martina de Zwaan Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 D-91054 Erlangen
[email protected]
XXV
Abkürzungsverzeichnis A ACE ACTH ADA AHA/NHLBI AN AP APA APTT ASH
Angiotensin-Converting-Enzym adrenokortikotropes Hormon American Diabetes Association American Heart Association/National Heart, Lung and Blood Institute Anorexia nervosa Agoraphobie American Psychiatric Association aktivierte partielle Thromboplastinzeit angeleitete Selbsthilfe
brain-derived neurotrophic factor Binge-Eating-Störung Bundes-Gesundheits-Survey bioelektrische Impedanzanalyse Body-Mass-Index Bulimia nervosa biliopancreatic diversion mit duodenal switch Borderline-Persönlichkeitsstörung
C CRH CRHR CT
kortikotropinfreisetzendes Hormon Kortikotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor Computertomographie
D DBT DEXA DGKJP
dialektische Verhaltenstherapie duale »X-ray-Absorptionsmetrie« Deutsche Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
IDCL IDF IPT
European Association for the Study of Diabetes Eating Disorder Examination Eating Disorder Examination Questionnaire Eating Disorder Inventory eating disorders not otherwise specified
Internationale Diagnosechecklisten für DSM IV und ICD-10 International Diabetes Federation interpersonelle Psychotherapie
K Kinder- und Jugend-Survey kognitive Verhaltenstherapie
L LDL low-denstiy lipoprotein LH luteinisierendens Hormon LHPA-System limbisch-hypothalamisches HypophysenNebennieren-System
M MAOI MCH MD MET MONICA MRS MRT α-MSH
Monoaminoxidasehemmer melaninkonzentrierendes Hormon major depression metabolic equivalent Monitoring of International Trends and Determinants in Cardiovascular Diseases Magnetresonanzspektroskopie Magnetresonanztomographie α-melanozytenstimulierendes Hormon
N NAFLD NCEP/ATP
E EASD EDE EDE-Q EDI EDNOS
5-Hydroxyindolessigsäure Serotonin Serotonintransporter
I
KIGGS KVT
B BDNF BES BGS BIA BMI BN BPD mit DS BPS
5-HIES 5-HT 5-HTT
NCS NICE NPY NUST
nichtalkoholische Fettleber National Cholesterol Education Program/Adult Education Panel National Comorbidity Survey National Institute for Cinical Excellence Neuropeptid Y Nationaler Untersuchungs-Survey
O F FEV fMRT FSH FTND
Fragebogen zum Essverhalten funktionelle Magnetresonanztomographie follikelstimulierendes Hormon Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit
G GAS GnRH
generalisierte Angststörung Gonadotropin-Releasing-Hormon
H HDL HOPE
high-density lipoprotein Heart Outcomes Protection Evaluation
oGTT OPD
oraler Glukosetoleranztest Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
P PAL pAVK PCOS PEG PET POMC PTBS PYY
physcial activity level periphere arterielle Verschlusskrankheit polyzystisches Ovarialsyndrom perkutane endoskopische Gastrostomie Positronenemissionstomographie Proopiomelanokortin posttraumatische Belastungsstörung Peptid YY
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
R RCT RIO RSH RYGBP
randomisierte kontrollierte Studie Rimonabant in obesity reine, nichtangeleitete Selbsthilfe Roux-en-Y gastric bypass
S SAD SCOUT SGA SH SIAB SIAD SKID SLC6A14 SNP SP SPECT SSRI SV
sagittal abdominal depth Sibutramine Cardiovascular Outcome Trial small for gestational age Selbsthilfe strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen sagittal intraabdominal diameter strukturiertes Klinisches Interview für DSM IV Aminosäuretransporter (solute carrier family 6 member 14) single-nucleotide polymorphism soziale Phobie Single-Photon Emission Computed Tomography selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer selbstverletzendes Verhalten
T T3 T4 TPZ TSH TZA
Trijodthyronin Thyroxin Thromboplastinzeit Thyreotropin trizyklische Antidepressiva
V VERA VMH VR
Verbundstudie Ernährung und Risikofaktorenanalytik ventromedialer Hypothalamus virtuelle Realität
W WGA WHO
whole-genome association scan Weltgesundheitsorganisation
Z ZNS
Zentralnervensystem
1
Essstörungen Klassifikation der Essstörungen Epidemiologie, Ätiologie und Verlauf der Essstörungen Psychische Komorbidität Biologische und medizinische Aspekte der Essstörungen Medizinische Aspekte und somatische Komorbidität Die Behandlung der Essstörungen
1
3
Klassifikation der Essstörungen 1
Klassifikation und Diagnose: Eine historische Betrachtung – 4
2
Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel – 9
3
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Erwachsenenalter – 14
4
Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter
5
Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung – 24
6
Diagnostik von Essstörungen – 29
– 19
1
1
2
Klassifikation fi und Diagnose: Eine historische Betrachtung
3
Tilmann Habermas
4
1.1
Ein wahrhaft biopsychosoziales Phänomen – 4
1.5
Geschichte der Bulimia nervosa und ihrer Diagnose – 6
5
1.2
Geschichte der Adipositasdiagnose – 4
1.6
6
1.3
Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose – 5
Einfl flüsse der medizinischen Krankheitsbegriffe ff auf die Essstörungen – 7
1.7 1.4
Geschichte der Diagnose von Heißhungeranfällen und Sich-Überessen (Binge-Eating, Bulimie) – 6
Zukünftige Entwicklungen der Klassifikation fi und Diagnose – 7
1.1
Ein wahrhaft biopsychosoziales Phänomen
1
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Essstörungen und Adipositas bezeichnen Phänomene, bei denen die Menge der aufgenommenen Nahrung bzw. das resultierende Körpergewicht als krankhaft ft gelten. Wie bei anderen psychischen Störungen werden diese Phänomene in ihrem Wesen durch ein kausales Zusammenwirken sozialer, psychischer und biologischer Bedingungen verursacht. Essen und Körperform liegen an der Schnittlinie zwischen Natur und Kultur. Deshalb spiegeln sich in der Auffassung ff von den Grenzen normalen Essens und der Körperform und in der Auffassung ff von der Natur krankhaft fter Abweichungen die je herrschenden Selbstkontrollnormen und Körperideale sowie die je herrschenden medizinischen Diskurse. Im historischen oder auch kulturellen Vergleich entgeht man ungleich leichter der Versuchung, das je aktuelle Verständnis zu hypostasieren. Essverhalten und Körperformen werden beispielsweise durch ökonomische Bedingungen beeinflusst. fl So haben erst die Industrialisierung der Nahrungsproduktion und die Mechanisierung des Transportwesens im 18. und 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die Versorgung mit Lebensmitteln für
die Bevölkerung Europas sichergestellt war. Zudem reduzierten die Abnahme körperlicher Arbeit und wiederum die Mechanisierung des Transports im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die vom Einzelnen verausgabte Energie. Die Zunahme der Verfügbarkeit von und die gleichzeitige Abnahme des Bedarfs an Nahrung befreiten zusammen mit einer Deritualisierung und Individualisierung der Nahrungsaufnahme diese von ökonomischen und biologischen Zwängen und öffneten ff sie für andere Bedürfnisse und Zwecke (Habermas 1990, 7 Kap. 2). In diesem Kapitel geht es aber nicht um die soziokulturellen Randbedingungen, sondern um die Interpretation von Variationen der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts, die wir heute als Essstörungen und Adipositas bezeichnen. Beide Krankheitsbegriff ffe entstanden im engeren Sinne im 19. Jahrhundert.
1.2
Geschichte der Adipositasdiagnose
Extremes Übergewicht beschäftigt ft die Medizin seit ihren Anfängen. In der antiken griechischen Medi-
1.3 Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose
zin fi finden sich viele Hinweise auf die Notwendigkeit der Mäßigung beim Essen und der körperlichen Ertüchtigung wie auch Überlegungen dazu, dass Übergewicht zu Krankheiten prädisponiere. Allerdings blieb die medizinische Aufmerksamkeit bis zum 19. Jahrhundert auf extremes Übergewicht beschränkt. Maßlosigkeit galt als Problem der Selbstkontrolle und Moral. Völlerei galt im Mittelalter bekanntermaßen als eine der sieben Todsünden. In der zweiten Hälft fte des 19. Jahrhunderts wurde Übergewichtigkeit zu einer immer mehr in der Öffentlichkeit ff erörterten Sorge. Gewichtskontrollprogramme und Abnehmkuren wurden kommerziell angeboten, Erfahrungsberichte, Streitschriften ft und Selbsthilfeliteratur erschienen. Die Medizin griff ff die populäre Sorge auf, indem sie mithilfe von Formeln begann, den Krankheitsbegriff ff der Adipositas von extremem Übergewicht auf mäßigere Formen des Übergewichts auszuweiten. Quételets Formel Körpergewicht in kg/(Körpergröße in m)2 wird heute als Body Mass Index (BMI) bezeichnet und wurde im 20. Jahrhundert zeitweise vom Broca-Index bzw. in den 1950er Jahren von Idealgewichtstabellen abgelöst. Diese basierten auf von Lebensversicherungsgesellschaft ften durchgeführten Befragungen. ! Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmend restriktivere fi von Übergewicht und medizinische Definition Adipositas konstatieren.
Dabei wird ein Absenken des medizinisch unbedenklichen Gewichts durch restriktivere Grenzwerte deutlich. Wie die Tabellen der Lebensversicherungen verdeutlichen, liegt ein Teil dieser Dynamik in der zeitlichen Streckung des Begriffs ff des gesundheitlichen Risikos bis hin zum Tode. Im Namen der Gesundheitsvorsorge wurden populäre Körpergewichtsnormen medizinisch legitimiert und vorangetrieben. Erst in den 1970er Jahren gab es nicht zuletzt unter dem Eindruck der grassierenden Essstörungen ein gewisses Zurückrudern von einer allzu restriktiven zu einer moderateren medizinischen Definition fi von Übergewicht (BMI > 25) und Adipositas (BMI > 30 nach der WHO).
1.3
5
1
Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose
Während die Adipositas lediglich über das zur Körpergröße in Beziehung gesetzte Körpergewicht, also rein somatisch defi finiert ist, gehört die Magersucht zu den psychischen Störungen, denn sie ist nicht nur über extremes Untergewicht (BMI < 17,5 bzw. mehr als 15 Untergewicht) definiert, fi sondern über eine spezifi fische Motivation, dieses Untergewicht auch intentional zu erreichen und halten. Dies ist die trotz des Untergewichts herrschende intensive Angst, übergewichtig zu sein oder zu werden. Dieses zentrale und differenzialdiagnostisch ff bedeutsame psychologische Kriterium geht zurück auf die frühen französischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts (Habermas 1989) und die Arbeiten Mara Selvini Palazzolis (1984) und Hilde Bruchs (1973) in den 1960er Jahren. Diese fixe Idee, trotz Untergewichts übergewichtig zu werden, motiviert zugleich Handlungsweisen, die auf die Kontrolle des Körpergewichts zielen, sowie die sonst für Untergewicht untypische Überaktivität sowie die mangelnde bzw. nur sehr partielle Krankheitseinsicht. In der Forschung zur Geschichte der Magersucht werden von den meisten angelsächsischen Autoren die heutigen psychologischen diagnostischen Kriterien abgelehnt. Sie klassifizieren fi retrospektiv entweder alle unerklärlichen Unterernährungszustände oder zumindest alle durch eingeschränkte Nahrungsaufnahme zustandekommende Unterernährung als magersüchtig. Aus der sich so ergebenden historischen Verteilung von Fällen folgern sie dann, die Magersucht habe es schon immer gegeben (z. B. Keel u. Klump 2003). Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Angst vor Übergewicht erst sehr spät Eingang in englischsprachige Quellen gefunden hat, während sie in der französischen und auch deutschen Literatur bereits im 19. Jahrhundert zu finden ist (Habermas 2005). Zum anderen hängt es mit der Überzeugung dieser Autoren zusammen, dass die Magersucht eine genetische Basis habe oder gar wesentlich somatisch verursacht sei. Dabei äußert sich das Vorliegen genetischer Einflüsse fl mitnichten in historischer Konstanz des Krankheitsbildes und seiner Auft ftretenshäufigkeit. fi Jeder Versuch, die Magersucht nur über somatische Aspekte zu definieren, fi gibt ihre
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Kapitel 1 · Klassifi fikation und Diagnose: Eine historische Betrachtung
Geschichte der Diagnose von Heißhungeranfällen g und SichÜberessen (Binge-Eating, Bulimie)
diagnostische Spezifität fi auf und macht sie kommun mit Unternährung aufgrund beispielsweise einer Depression, eines Vergift ftungswahns, von Reinlichkeitszwängen oder einer Pubertätsaskese.
1.4
! Das diagnostische Spezifikum fi der Magersucht, die fi fixe Idee, übergewichtig zu sein oder zu werden, findet sich im Zusammenhang mit durch Fasten herbeigeführtes Untergewicht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Habermas 1989).
Anfallartiges Essen großer Mengen von Nahrung ist in der Medizingeschichte seit über 2000 Jahren bekannt. Es wurde u. a. als Bulimie, fames canina, Kynorexie und Phagedena bezeichnet und galt als ätiologisch unspezifi fisches Symptom, während Polyphagie die zeitunabhängige Aufnahme großer Mengen an Nahrung bezeichnete (Ziolko u. Schrader 1985). Heißhungerattacken wurden mitunter als kompensatorische Handlungen bei drohenden Angstanfällen beschrieben. Im Zusammenhang mit der Adipositas beschrieb Stunkard (1959) nächtliches (night eating syndrome) sowie tageszeitunabhängiges anfallartiges Essen (binge eating syndrome). Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde aus den überwiegend bei Männern beschriebenen Heißhungeranfällen ein eher bei Frauen anzutreffendes Symptom.
Das trifft fft zwar nicht auf die Fallbeschreibungen des Arztes Gull (1873) und des Psychiaters Lasègue (1874) zu, die allgemein als Erfinder fi der Anorexia nervosa betrachtet werden. Gulls Fälle muten heute als diagnostisch nicht sehr eindeutig an, während Lasègue die typische Krankheitsverleugnung und Überaktivität beschrieb, noch nicht aber die idée fi fixe d’obésitéé (Charcot). Diese taucht allerdings bereits kurze Zeit später in der Literatur auf, insbesondere in aus der Salpêtrière stammenden Artikeln. Dass viele Autoren die Intentionalität des Abnehmens nicht bemerkten, wurde dadurch wesentlich gefördert, dass die Betroffenen ff ihre Angst vor Übergewicht und ihre geringe Nahrungsaufnahme verbergen, um sich Versuchen zu entziehen, sie zum Zunehmen zu bewegen. Bei historisch früheren Formen intentional selbst herbeigeführten extremen Untergewichts (Vandereycken et al. 1990) lassen sich zumindest zwei Typen unterscheiden. Asketisch-mystische Fasterinnen folgten einem Modell weiblicher Frömmigkeit und gar Heiligkeit (Heilige Katharina von Siena), bei dem die Imitatio Christi, die Versagung jeglicher körperlicher Befriedigungen und hungerinduzierte mystische Erlebnisse eine klare religiöse Bedeutung hatten ‒ das Motiv des Hungerns zielte nicht auf den Körperumfang oder -gewicht, sondern auf eine Annäherung an Gott. Ein zweiter Typus des extremen Fastens fi findet sich unter den eher hysterisch anmutenden Fastenwundern, die ohne jegliche Nahrungsaufnahme überlebten. Während der erste historische Typus psychologisch durchaus Parallelen zur Magersucht aufweist, wie das jede extreme Askese tut, unterscheidet sich der zweite Typus deutlich. So waren diese Frauen häufig gar nicht untergewichtig und jahrelang krank und bettlägerig (Habermas 1990).
! Das Symptom des anfallartigen Essens großer Mengen von Nahrung ist in der Geschichte seit langem bekannt.
1.5
Geschichte der Bulimia nervosa und ihrer Diagnose
Von der Polyphagie und der Binge-Eating-Störung (BES, binge eating syndrome) oder Bulimie als Symptom, ist die Bulimia nervosa zu unterscheiden. Neben impulsiven Heißhungeranfällen, die im nachhinein als ichfremd und ungewollt erlebt werden, zeichnet sie sich durch die Sorge aus, als Folge der Heißhungeranfälle übergewichtig zu werden, sowie durch das Praktizieren von Gegenmaßnahmen wie selbstinduziertem Erbrechen, Abusus von Laxanzien, Appetitzüglern bzw. Diuretika und schließlich ‒ mitunter exzessive ‒ körperliche Ertüchtigung. Scham ob der Heißhungeranfälle und unmittelbaren Gegenmaßnahmen führen i. d. R. zum Verheimlichen dieser Praktiken und zu sozialem Rückzug. Eine Bulimia nervosa geht meist mit Normalgewicht einher. Tritt sie kombiniert mit Untergewicht auf, wird eine Anorexia nervosa vom bulimischen Untertyp diagnostiziert, da klinisch
1.7 Zukünftige Entwicklungen der Klassifikation fi und Diagnose
gesehen das Untergewicht und die dennoch bestehende Angst vor Übergewicht mehr im Vordergrund stehen als die bulimische Symptomatik. Ein der Bulimia nervosa zeitweise ähnelnder Fall wurde 1909 von Binswanger beschrieben, die ersten wahrscheinlichen Fälle 1932 von Wulff, ff der sie dem depressiven Formenkreis zuschrieb. In den folgenden Jahrzehnten erschienen vereinzelt Fallbeschreibungen (Habermas 1989), doch erst 1979 fand die Beschreibung und Benennung als Bulimia nervosa durch Russell enormen Widerhall, zumal sie sogleich in das DSM III aufgenommen wurde. Plötzlich tauchte ein Phänomen in der öff ffentlichen und medizinischen Wahrnehmung auf, das bis dahin unbenannt geblieben und daher nicht zur Kenntnis genommen worden war.
1.6
Einflüsse fl der medizinischen Krankheitsbegriffe ff auf die Essstörungen
Die distinkt modernen Essstörungen Magersucht und Bulimia nervosa entstanden in der zweiten Hälfte ft des 19. bzw. der ersten Hälft fte des 20. Jahrhunderts. Sie zeichnen sich im Vergleich zu früheren historisch älteren Essstörungen durch die überwertige Sorge um das eigene Körpergewicht und entsprechende Praktiken aus. Die populäre Sorge um Gewichtskontrolle und die Kulturtechnik des dafür eingesetzten Diäthaltens verbreiteten sich in Europa parallel zur Entstehung der Magersucht in der zweiten Hälft fte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Einsetzen der Beschäftigung ft der Medizin mit Übergewicht als krankheitsprädisponierendem Zustand, der im Zuge des Präventionsgedankens der öffentff lichen Gesundheitspolitik selbst medizinische Aufmerksamkeit erfordert, und der auf medizinische Autorität gestützten Festlegung von Übergewichtsgrenzen erhielt die überwiegend ästhetisch motivierte Sorge selbst um moderates Übergewicht eine zusätzliche Legitimation und wahrscheinlich auch eine zusätzliche Dynamik. Diese könnte ihrerseits wiederum zu einer Verbreitung von Magersucht und Bulimie beigetragen haben. Im Zuge der Häufi figkeitszunahme der Magersucht in den 1960er und 1970er Jahren wurde diese zusehends zu einer öffentlich ff bekannten Erkrankung. Dies veränderte die Erkrankung selbst, insofern junge
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1
Frauen nun die Magersucht nicht mehr individuell je neu »erfanden«, sondern sie unbewusst oder auch bewusst nachahmen konnten. Damit wurde die für die Magersucht typische Psychodynamik, die auf Autonomie und Einmaligkeit zielte, zugleich unspezifischer, fi da es nun »Ich-auch-Magersüchtige« gab (Bruch 1973). Mit der Defi finition bulimischer Verhaltensweisen als Krankheit 1980 veränderte sich das Krankheitserleben der Betroff ffenen, da sie nun nicht mehr moralisch verantwortlich gemacht wurden für ihre »Willensschwäche« und »Perversion«, sondern als Kranke von Verantwortung entlastet waren. Zugleich veränderte sich das Krankheitsverhalten der Betroff ffenen, da sie erstmals den Anspruch auf medizinische Hilfe erhielten. Zugleich wurde aber ein Verhaltensmuster pathologisiert, das vielen noch als probates Wundermittel galt, um Genuss und gutes Aussehen miteinander zu vereinen (Habermas 1994). Sowohl Magersucht als auch Bulimie wurden durch die Verbreitung der jeweiligen Krankheitsbegriffe ff zu öff ffentlich benennbaren Phänomenen. Damit wurde es möglich, einen sekundären Krankheitsgewinn aus ihnen zu ziehen, obwohl dies eigentlich der Natur des Fastens als neurotischer Form der Selbstbehauptung in der Magersucht und der Natur der Scham- und Schuldgefühle in der Bulimie widerspricht. Spezialisierte Behandlungsstätten und Selbsthilfegruppen hatten den ungewollten Nebeneff ffekt, dass sich Gemeinschaft ften bildeten, die zwar Unterstützung anboten, aber zugleich auch dem Austauschen von Tipps zum Abnehmen und Verbergen des Abnehmens dienten. Schließlich wurde es durch die medizinischen Diagnosen der Magersucht und Bulimie möglich, sie als primäre Identitäten zu wählen und sogar, wie es auf den so genannten Pro-Ana-Websites seit einigen Jahren geschieht, zu positiven Identitäten kollektiv auszuarbeiten.
1.7
Zukünftige Entwicklungen der Klassifikation fi und Diagnose
Essstörungen und Übergewicht sind eine heterogene Gruppe von Phänomenen, da sie nur über das Körpergewicht oder zusätzlich über Handlungsweisen oder schließlich auch über Handlungsmotive,
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Kapitel 1 · Klassifi fikation und Diagnose: Eine historische Betrachtung
. Tab. 1.1. Defi finitionskriterien für Diagnosen Störung
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Soma
Handlungen
Körpergewicht
Essverhalten
Psyche Körpergewichtskontrollpraktiken
Angst vor Übergewicht
Adipositas
+++
Binge-Eating
+++ bis normal
Heißhungeranfälle
Bulimia nervosa
+ bis normal
Heißhungeranfälle
Purging (Hungern)
Ja
Magersucht
–––
(Heißhungeranfälle)
Purging (Hungern)
Ja
also Ängste, definiert fi sind. Dabei kommt es, wie aus . Tab. 1.1 ersichtlich, zu Überschneidungen. Die Abgrenzungen sind zwar nicht systematisch, erscheinen aber auch heute noch nach Maßgabe der klinischen Handlungsnotwendigkeiten einigermaßen sinnvoll. Das Hauptproblem der existierenden Klassifikation und diagnostischen Kriterien ist, dass bis fi zu über die Hälfte ft der als klinisch relevant eingeschätzten Essstörungen in keine der Kategorien passt und somit das Label EDNOS (eating disorders not otherwise specified fi ) erhält. Auch die viel diskutierte Einführung der BES als neue diagnostische Kategorie würde nur einer Minderzahl der untypischen Essstörungen einen Platz in dem nosologischen System verschaffen. ff Es handelt sich überwiegend um junge Frauen, deren Symptomatik nicht schwer wiegend genug ist, um die Diagnose der Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa zu rechtfertigen. Hier gilt es, einen Mittelweg zwischen übermäßiger Pathologisierung heutiger Jugendlicher und der Verweigerung von Hilfe bei tatsächlich vorhandenen psychischen Problemen zu fi finden. Das spräche dafür, statt die diagnostischen Kriterien einfach zu lockern, besser die Kategorie der subdiagnostischen Ausprägung einzuführen. Abgeschafft fft wird voraussichtlich das diagnostische Kriterium der Amenorrhö für die Magersucht, die unspezifi fisch und meist eine Folge des Untergewichts ist. Vorgeschlagen wurde letztens sogar, auch die Adipositas als psychische Störung anzusehen und sie als Impulskontrollstörung ähnlich der Drogenabhängigkeit zu kategorisieren mit der Begründung, dass sie wesentlich auf die mangelnde Kontrolle der Nahrungsaufnahme zurückzuführen sei und zugleich ein wesentliches psy-
chisches und gesundheitliches Problem darstelle. Auch wenn dieser Vorschlag die Definition fi der Adipositas näher an die anderen Essstörungen heranführt, hat er doch aufgrund der eher geringen psychischen Spezifi fität der Adipositas sowie der vielfältigen weiteren Faktoren, die sie beeinfl flussen, wenig Chancen auf Erfolg.
Literatur Bruch H (1973) Eating disorders. Basic Books, New York Habermas T (1989) The psychiatric history of anorexia nervosa and bulimia nervosa. Weight-concerns and bulimic symptoms in early case-reports. Int J Eat Disord 8: 259-283 Habermas T (1990) Heißhunger. Historische Bedingungen der Bulimia nervosa. Fischer, Frankfurt Habermas T (1994) Zur Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion. Fischer, Frankfurt Habermas T (2005) On the uses of history in psychiatry: diagnostic implications for anorexia nervosa. Int J Eat Disord 38: 167-182 Keel PK, Klump KL (2003) Are eating disorders culturebound syndromes? Implications for conceptualizing their etiology. Psychol Bull 129: 747–769 Selvini-Palazzoli M (1984) Magersucht. Klett-Cotta, Stuttgart (Original 1963/1974) Stunkard AJ (1959) Eating patterns and obesity. Psychiatry Quart 33: 284-295 Vandereycken W, van Deth R, Meermann R (1990) Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Biermann, Zülpich Ziolko H-U, Schrader HC (1985) Bulimie. Fortschr Neurol Psychiatr 53: 231-258
2 Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel Romuald Brunner und Franz Resch 2.1
Wie häufi fig treten Körperbildprobleme und Diätverhalten auf, und wie hängen sie zusammen? – 9
Unzufriedenheit mit der körperlichen Erscheinung, allem voran, sich zu dick zu fühlen, ist ein weit verbreitetes Phänomen, das häufig fi mit einem gestörten Essverhalten einhergeht. Versuche, die Idealnorm – häufi fig ein unrealistisches Gewicht, das vor allem durch soziokulturelle Einflüsse fl defi finiert ist – zu erreichen, führt zu Diätversuchen. Die Kombination von einem gestörten Körperbild und Diätverhalten führt nicht selten zu einer manifesten Essstörung mit anorektischen und/oder bulimischen Symptomen, insbesondere bei Jugendlichen und jungen erwachsenen Frauen, jedoch auch – wenn auch deutlich weniger häufig fi – beim männlichen Geschlecht. Erklärungsmodelle der ungleichen Geschlechtsverteilung reichen von soziokulturellen bis zu biologischen Faktoren, ohne dass es bislang eine hinreichende Erklärung für diese auch kulturübergreifenden Geschlechtsunterschiede gibt. Der Unterschied ist jedoch deutlich weniger geschlechtsspezifisch fi bei partiellen Essstörungen. Gewichtsbezogene Probleme wie Übergewicht, ein gestörtes Essverhalten sowie ungesunde gewichtskontrollierende Maßnahmen und »BingeEating« (wiederholte Episoden von Essanfällen mit Kontrollverlust) stellen vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz und der negativen Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit ein bedeutsames Problem im Gesundheitswesen dar.
2.2
Verändern sich die Einstellung zum Körper und das Essverhalten im Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter? – 11
2.1
Wie häufi fig treten Körperbildprobleme und Diätverhalten auf, und wie hängen sie zusammen?
Nach einer Übersicht von Ricciardelli und McCabe (2001) zeigen epidemiologische Untersuchungen im angloamerikanischen Sprachraum, dass 38,2‒ 49,9 der Mädchen und 12,5‒26 der Jungen versuchten, ihr Gewicht durch Diäten oder andere Methoden zu reduzieren. Die Häufi figkeit der verschiedenen Strategien zur Gewichtsreduktion wurden untersucht: 20‒49 der Mädchen (7‒8 der Jungen) ließen Mahlzeiten aus; Sport trieben 51‒ 71 der Mädchen (30‒40 der Jungen) mit der Intention, Gewicht zu reduzieren und nicht, um Fitness zu erreichen. Der Gebrauch von Diätpillen wurde bei bis zu 17 der Mädchen und 5 der Jungen angetroffen, ff der Missbrauch von Laxanzien bei ca. 2 der Mädchen und Jungen. Selbstinduziertes Erbrechen wurde bei 1‒8,3 der weiblichen Jugendlichen und bei 0,4‒1,7 der Jungen berichtet. Die Häufi figkeit eines Binge-Eating-Verhaltens gilt als nicht hinreichend untersucht; es liegen bislang nur Schätzungen vor, dass Jungen und Mädchen zwischen 7 und 33 ein solches Verhalten episodisch zeigen. Empirische Untersuchungen belegen, dass Sporttreiben mit dem Ziel der Gewichtsreduktion und nicht der Fitnessbesserung mit einem manifest gestörten Essverhalten einhergeht. Eine Sportabhängigkeit ist beschrieben worden mit Gefühlen von Depression und Schuld, wenn die Aktivität unterbrochen wird. Dieses problematische Verhal-
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Kapitel 2 · Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel
ten könnte durch die zunehmende Verbreitung von Fitnessstudios weiter gefördert werden. Zur Häufigkeit fi von Diätversuchen und Störungen des Körperbildes liegen aktuelle Daten auf der Basis von 5849 Jugendlichen (Durchschnittsalter 15,2 Jahre) vor, die im Rahmen der Heidelberger Schulstudie untersucht wurden. Bei dieser repräsentativen Untersuchung im Rhein-Neckar-Kreis wurden die Schüler der 9. Jahrgangsstufe über alle Schultypen hinweg (Förderschule bis Gymnasium) untersucht. So berichteten 48 aller befragten Mädchen, sich zu dick zu fühlen, obwohl sie normalgewichtig waren (Body-Mass-Index, BMI 17,5–24,5). Damit zeigt sich bei beinahe der Hälfte ft der Schülerinnen eine Diskrepanz zwischen dem wahrgenommenen und dem gewünschten Körperbild. Hingegen fühlten sich nur 16,7 der männlichen Jugendlichen zu dick. 15 der untergewichtigen Mädchen (BMI < 17,5) fühlten sich immer noch zu dick (1,6 Gesamtprävalenz). Das subjektiv empfundene Körperbild bestimmt insbesondere bei den Mädchen auch das Diätverhalten und nicht das objektive Gewicht. Fast alle Übergewichtigen (85,7, BMI > 24,5) wiesen Diäterfahrungen auf, aber auch ca. die Hälft fte der normalgewichtigen Mädchen hatten Diäten zur Gewichtsreduktion durchgeführt. Auch konnte die Studie nachweisen, dass die Zufriedenheit mit dem Aussehen stärker von der subjektiv empfundenen körperlichen Attraktivität abhing als vom tatsächlichen Gewicht. Generell waren nur 24 der Mädchen (im Vergleich 45 der Jungen) mit dem eigenen Aussehen zufrieden. ! Nicht das tatsächliche Gewicht, sondern die Vorstellung übergewichtig zu sein, ist für die Vulnerabilität im Hinblick auf die Entstehung eines gestörten Essverhaltens verantwortlich.
Es zeigten sich in der Heidelberger Studie auch deutliche Zusammenhänge zwischen einem negativen Körperbild und psychosozialen Faktoren (Selbstwert; Akzeptanz durch Gleichaltrige etc.). ! Die Zufriedenheit mit dem äußeren Erscheinungsbild geht mit besseren Beziehungen zu Gleichaltrigen und mit weniger sozialen und emotionalen Problemen einher.
Die Entstehung einer Unzufriedenheit mit dem körperlichen Erscheinungsbild als Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens wurde – auch empirisch – vor dem Hintergrund der soziokulturellen Theoriebildung geprüft ft. So postulierten Halliwell und Harwey (2006), dass der wahrgenommene Druck bezüglich des Aussehens, vermittelt durch Medien, Familie und Gleichaltrige, zu einer entsprechenden Internalisierung kultureller Ideale führe. Diese Internalisierung der kulturellen Ideale führte nicht nur bei Mädchen, sondern auch bei Jungen (überwiegend bei Jungen mit niedrigem Selbstwert) zu Unzufriedenheit mit der körperlichen Erscheinung mit nachfolgenden gewichtsreduzierenden Maßnahmen. ! Das Vergleichsverhalten von Jugendlichen mit Gleichaltrigen der Peergroup bezüglich des Aussehens sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen führt zur Unzufriedenheit mit dem Aussehen und ist verbunden mit einer Anfälligkeit für ein gestörtes Essverhalten.
Die Entwicklung körperlicher Unzufriedenheit und eines gestörten Essverhaltens in der Adoleszenz wird nicht nur mit der biologischen Entwicklung im Rahmen der Pubertätsentwicklung gesehen, sondern dem Umstand zugeschrieben, dass das Adoleszenzalter diejenige kritische Periode darstellt, in der die Internalisierung kultureller Ideale bezüglich der körperlichen Attraktivität gelernt wird. Empirische Studien zeigen jedoch, dass Mädchen in der Adoleszenz im Vergleich zu Jungen größeren Druck verspüren, ihr Gewicht zu regulieren, sich mehr mit den Peers vergleichen, eine höhere körperliche Unzufriedenheit sowie eine höhere Internalisierung von soziokulturellen Einstellungen bezüglich des Erscheinungsbildes sowie ein nachfolgend gestörtes Essverhalten zeigen. Selbstkonzept und Selbstwert scheinen bei Mädchen enger mit der körperlichen Attraktivität zusammenzuhängen als bei Jungen. Überraschenderweise zeigten sich bei Untersuchungen im Altersspektrum von 11–16 Jahren bei Mädchen keine altersabhängigen Unterschiede, sodass dies ein Hinweis darauf ist, dass sich schon im frühen Alter Körperbildprobleme und die assoziierten Probleme entwickeln.
2.2 Verändern sich die Einstellung zum Körper und das Essverhalten . . . ?
! Die Konfrontation mit Vorbildern von schlanken Frauen kann schon ausreichen, um bei Mädchen gewichtsreduzierende Maßnahmen einzuleiten, ohne dass sie bereits zuvor unzufrieden mit ihrem Gewicht waren.
Jungen vergleichen sich ähnlich häufig fi wie Mädchen mit ihren gleichgeschlechtlichen Peers bezüglich ihres Aussehens. Jungen möchten ebenso gut aussehen wie die attraktiven Peers, Mädchen wollen jedoch besser als ihre attraktiven Peers aussehen. Präventive Ansätze müssten daher realistische Vergleichsobjekte vermitteln, um die Jugendlichen vor der Entwicklung einer Unzufriedenheit mit ihrem Körper zu schützen. ! Die problematischen Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln sich bereits in der frühen Adoleszenz. Von daher müssen präventive Bemühungen bereits in der Vorpubertät ansetzen, bevor die Internalisierung der soziokulturellen Werte beginnt und die Körperbildprobleme sich entwickeln.
2.2
Verändern sich die Einstellung zum Körper p und das Essverhalten im Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter?
Eine Abnahme der problematischen Verhaltensweisen im weiteren Entwicklungsverlauf wurde postuliert unter der Annahme, dass Erwachsene ihren Selbstwert weniger aus körperbezogenen Variablen beziehen, sondern aus anderen stabilen Quellen. Heatherton et al. (1997) argumentierten, die Abnahme gestörten Essverhaltens verlaufe auch vor dem Hintergrund einer Änderung in den Lebenszielen und die Bedeutung der körperlichen Attraktivität verringere sich. In einer Längsschnittuntersuchung konnten Keel et al. (2007) nachweisen, dass ein gestörtes Essverhalten beim weiblichen Geschlecht von der späten Adoleszenz bis ins mittlere Lebensalter im Vergleich zum männlichen Geschlecht deutlich abnimmt. Heirat und Mutterschaft ft erscheint als starker Vorhersagefaktor für die Abnahme der Unzufriedenheit mit dem körperlichen Aussehen. Entwicklungsverläufe zei-
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2
gen aber, dass es sich nur um eine relative Abnahme handelt und Frauen im Vergleich zu Männern weiterhin ein größeres Ausmaß an Unzufriedenheit mit dem Gewicht haben, Diäten durchführen und ein gestörtes Essverhalten zeigen. Die off ffensichtliche Beziehung zwischen dem im westlichen Kulturkreis verbreiteten Schlankheitsideal, gestörtem Körperbild und gestörtem Essverhalten insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen hat zur Frage geführt, ob diese Phänomene sowie auch die manifesten Essstörungen, Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN), kulturgebundene Symptome bzw. Syndrome (culture-bound syndromes) darstellen. Obwohl zahlreiche Studien mögliche genetische Einflüsse fl in der Entstehung manifester Essstörungen nachweisen konnten, wird weiterhin die These Th eines kulturbezogenen Syndroms aufrechterhalten. Eine quantitative Metaanalyse von Keel und Klump (2003) kam zu dem Ergebnis, dass die Inzidenz der AN in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr geringfügig angestiegen ist, während die Inzidenz der BN in der zweiten Hälfte ft des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen hat. Systematische Analysen historischer Fälle der AN weisen jedoch darauf hin, dass die AN bereits vor dem Einsetzen des westlichen Schlankheitsideals bzw. Schlankheitskults häufig fi vorkam, wenn auch mit einer anders akzentuierten Phänomenologie. So waren nur selten Fälle beschrieben, die explizit eine Angst vor dem Zu-dick-Werden beinhalteten. Dieses Phänomen scheint sich spät oder unter dem Einfl fluss des westlichen Schlankheitsideals entwickelt und globalisiert zu haben. So zeigen Untersuchungen zur Prävalenz der AN in anderen Kulturen, dass viele Länder auch ohne eine Orientierung an dem westlich geprägten Kulturkreis ähnlich hohe Prävalenzzahlen der AN aufweisen. Die Prävalenz der AN in vielen westlich und nichtwestlich orientierten Kulturkreisen war jedoch nur unter dem Ausschluss des Diagnosekriteriums der »Angst, zu dick zu werden« annähernd gleich hoch. Mögliche Unterschiede in den Prävalenzraten von Essstörungen könnten jedoch auch mitbedingt sein durch eine kulturspezifische fi Phänomenologie, da sich die etablierten diagnostischen Klassifi fikationsschemata, ICD-10 und DSM IV, eher an den Entwicklungen in industrialisierten Gesellschaft ften orientieren. Eine Studie auf den FidjiInseln konnte nachweisen, dass sich das Phäno-
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Kapitel 2 · Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel
men der Angst vor dem Zu-dick-Werden als Grund zur Gewichtsabnahme erst unter dem Einfluss fl des westlichen Körperideals entwickelt hatte. Die Betonung auf das Kriterium des Sich-zu-dick-Fühlens hat scheinbar andere Motive zur Gewichtsabnahme in den Hintergrund treten lassen und zur Postulierung des Western culture-bound syndrome geführt. Keel und Klump (2003) schließen daraus, dass sich Gewichtsprobleme kulturspezifisch fi im soziokulturellen Kontext des Schlankheitsideals entwickeln, dass jedoch auch andere vielfältige Motive und Ursachen der Entwicklung der Essstörungen existieren. Untersuchungen im asiatischen Raum zeigen, dass »Gewichtssorgen« mehr in Regionen existieren, die unter einem hohen Medieneinfluss fl stehen und dass grundlegende Unterschiede im StadtLand-Verhältnis existieren. Untersuchungen zum sozialen Wandel in China legen nahe, dass durch eine Konfrontation mit dem westlichen Schlankheitsideal über den Zugang zu westlichen Medien die Entwicklung von Körperbildproblemen und Diätverhalten bei Mädchen begünstigt wurde. Im Gegensatz zur AN scheint das Auftreten ft der BN deutlich an eine Konfrontation mit dem westlichen Körperideal gebunden. Die Kulturbezogenheit könnte erklären, warum es keine BN ohne essbezogenen Probleme gibt. Während die selbstintendierten Gewichtsabnahmen in verschiedenen Kulturkreisen auft ftreten können, scheint die Entwicklung der bulimischen Symptomatik an die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und an die Konfrontation mit einem Körperbild im Kontext des westlichen Schlankheitsideals gebunden. Ein Binge-eating-/Purging-Verhalten scheint überwiegend nur normgewichtige Frauen mit »Gewichtsproblemen« zu betreffen. ff Der Kontext eines westlichen Körperideals und die Selbstwahrnehmung von Gewichtsproblemen werden zur Voraussetzung für die Entwicklung einer BN. Kulturvergleichende Studien zeigen in nichtwestlich orientierten Ländern höhere Prävalenzraten der AN als der BN. Die Konfrontation mit der westlichen Körperidealnorm, das Leben in städtischen Zentren, ein früherer Aufenthalt in westlichen Ländern und ein höherer sozioökonomischer Status stehen häufig im Kontext der Entwicklung von Essstörungen bei Mädchen bzw. jungen Frauen in nichtwestlich orientierten Gesellschaften. ft Untersuchungen an Migranten weisen auf ein culture-change syndrome
hin, d. h., vor allem junge Frauen entwickeln nach einem Wechsel in den westlichen Kulturkreis häufiger Körperbildprobleme und Essstörungen. ! Während die soziokulturellen Einfl flüsse für ein gestörtes Körperbild und ein gestörtes Essverhalten als gesichert gelten, ist dies nur sehr bedingt für die manifesten Essstörungen nachweisbar. Während für das Auftreten der BN der Einfluss fl der soziokulturellen Faktoren sehr bedeutsam ist, erscheint das Auftreten der AN vom restriktiven Typus nur sehr eingeschränkt kulturabhängig.
Fazit Körperbildprobleme sowie das Durchführen von Diäten sind ein häufiges fi Phänomen, insbesondere bei weiblichen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dieses Phänomen scheint deutlich gekoppelt an gesellschaftliche Faktoren, insbesondere die Vermittlung eines unrealistischen Schlankheitsideals. Das unterschiedliche Bedingungsgefüge erfordert eine exakte Analyse der Risikofaktoren, die auch Ansatzpunkte für präventive Strategien darstellen könnten. Da sich das Diätverhalten und das gestörte Essverhalten im Kontext einer Körperbildstörung auch ohne das Erreichen einer manifesten Essstörung im Sinne einer nosologischen Klassifi fikation gesundheitsschädlich auswirken, sollten Initiativen der primären Prävention (z. B. schulbasierte Intervention bereits in der Vorpubertät) sowie der Sekundärprävention (frühzeitiges Angebot von Hilfe durch professionelle Beratung und Therapie an betroffene ff Kinder und Jugendlichen und junge Erwachsenen) forciert werden.
Literatur Becker AE (2007) Culture and eating disorders classification. fi Int J Eat Disord 40: 11-116 Garner DM, Garfinkel fi PE (1980) Socio-cutural factors in the development of anorexia nervosa. Psychol Med 10: 647-656 Haffner ff J, Steen R, Roos J, Klett M, Resch F (2007) Jugendliche und ihr Körperempfi finden. Ergebnisse der Heidelberger Schulstudie. BZgA Forum 3: 12-18
2.2 Verändern sich die Einstellung zum Körper und das Essverhalten . . . ?
Halliwell E, Harvey M (2006) Examination of a sociocultural model of disordered eating among male and female adolescents. Br J Health Psychol 11: 235-248 Heatherton TF, Mahamedi F, Striepe M, Field AE, Keel P (1997) A 10-year longitudinal study of body weight, dieting, and eating disorder symptoms. J Abnorm Psychol 106: 117-125 Keel PK, Klump KL (2003) Are eating disorders culture-bound syndromes? Implications for conceptualizing their etiology. Psychol Bull 129: 747-769 Keel PK, Baxter MG, Heatherton TF, Joiner TE Jr (2007) A 20year longitudinal study of body weight, dieting, and eating disorder symptoms. J Abnorm Psychol 116: 422-432 Lee S (1996) Reconsidering the status of anorexia nervosa as a Western culture-bound syndrome. Soc Sci Med 42: 21-34 McCabe MP, Ricciardelli LA (2005) A prospective study of pressures from parents, peers, and the media on extreme weight change behaviors among adolescent boys and girls. Behav Res Ther 43: 653-668 Neumark-Sztainer DR, Wall MM, Haines JI, Story MT, Sherwood NE, van den Berg PA (2007) Shared risk and protective factors for overweight and disordered eating in adolescents. Am J Prev Med 33: 359-369 Ricciardelli LA, McCabe MP (2001) Children’s body image concerns and eating disturbance: a review of the literature. Clin Psychol Rev 21: 325-344 Stice E, Shaw HE (2002) Role of body dissatisfaction in the onset and maintenance of eating pathology: a synthesis of research findings. J Psychosom Res 53: 985-993 Striegel-Moore RH, Silberstein LR, Rodin J (1986) Toward an understanding of risk factors for bulimia. Am Psychol 41: 246-263
13
2
3
2
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Erwachsenenalter
3
Martin Teufel und Stephan Zipfel
4
3.1
1
5 6
3.1.1 3.1.2
Klinische Einteilung der Anorexia nervosa – 14 Atypische Anorexia nervosa (ICD-10 F50.1) – 14 Subtypen der Anorexia nervosa (nach ICD-10 und DSM IV) – 15
7
3.2
Klinische Einteilung der Bulimia nervosa – 16
8
3.2.1
Atypische Bulimia nervosa (ICD-10 F50.3) – 17 Subtypen der Bulimia nervosa
9
3.2.2
10 3.1
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
3.3
Kompensatorische Mechanismen
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
Fasten – 17 Erbrechen – 17 Missbrauch von Medikamenten – 17 Übermäßige Bewegung – 17 Weitere kompensatorische Mechanismen – 18
– 17
– 17
Klinische Einteilung der Anorexia nervosa
Der zunächst auff ffälligste Befund der Anorexia nervosa (AN) ist der reduzierte Ernährungszustand bei einem oft ft drastischen Gewichtsverlust. Patientinnen mit schwerer Anorexie zeigen einen kachektischen Ernährungszustand. Die äußerliche Erscheinung ist fahl, subkutanes Fettgewebe kann fehlen, sodass einzelne Knochen sowie Muskeln und Muskelsehnen wahrgenommen werden. Es besteht der Wunsch nach einer Gewichtsabnahme, eine Gewichtsgrenze nach unten scheint es nicht zu geben. Der Gewichtsverlust wird erreicht durch Einschränkung der Nahrungszufuhr, Erbrechen, exzessive körperliche Aktivität oder Einnahme von Abführmitteln oder Diuretika. Auff ffällig ist, dass Patientinnen den Gewichtsverlust selbst nicht adäquat wahrnehmen können und verleugnen. In Extremfällen fühlen sich Patientinnen auch im Zustand der Kachexie noch zu dick ‒ vorwiegend betroffen ff sind Bauch, Hüft ften und Oberschenkel. Diese Störung des Körperbildes ist ein diagnostisches Kriterium der AN. Im Rahmen der gestörten Körperwahrnehmung kommt es häufig fi zu bodychecking behaviour, einem Verhalten, das Patien-
tinnen oft ft erst auf Nachfrage äußern. Dabei kontrollieren sie Körperproportionen (z. B. Extremitätenumfänge, Bauchumfang), spüren Knochen zur eigenen Rückversicherung. In diesem Zusammenhang ist auch ein übermäßig häufi figes Wiegeverhalten zu beobachten. Es besteht eine große Angst vor Gewichtszunahme (Gewichtsphobie).
3.1.1 Atypische Anorexia nervosa
(ICD-10 F50.1) Bei der atypischen AN handelt es sich um eine Diagnose, die gestellt wird, wenn ein oder mehrere Kernmerkmale der AN fehlen (z. B. Amenorrhö oder signifikanter fi Gewichtsverlust). Ansonsten zeigt sich ein typisches klinisches Bild. Sind alle Kernsymptome nur leicht ausgeprägt, liegt ebenfalls eine atypische AN vor, die oft ft auch als eine anorektische Reaktion gesehen werden kann.
15
3.1 Klinische Einteilung der Anorexia nervosa
3
. Tab. 3.1. Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa ICD-10: F50.0 International Classifi fication of Diseases (WHO)
DSM IV: 307.1 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (American Psychiatric Association)
1. Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder BMI von 17,5 kg/m2 oder weniger. Bei Patientinnen in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.
A. Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten (z. B. der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts, oder das Ausbleiben einer während der Wachstumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme führt zu einem Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts).
2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: a) Vermeidung von hochkalorischen Speisen, sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: b) selbstinduziertes Erbrechen c) selbstinduziertes Abführen d) übertriebene körperliche Aktivität e) Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika
B. Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts.
3. Körperschemastörung in Form einer spezifischen fi psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tief verwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen ff legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.
C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss fl des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen Körpergewichts.
4. Endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhö und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung zur Kontrazeption.) Erhöhte Wachstumhormon- und Kortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.
D. Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer Amenorrhö, d. h. das Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen.
5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhö bei Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufi fig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.
3.1.2 Subtypen der Anorexia nervosa
(nach ICD-10 und DSM IV) Restriktiver Typus (asketische Form) Beim restriktiven Typ bestehen keine regelmäßigen Essanfälle. Das Untergewicht wird ‒ ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme ‒ durch Nahrungseinschränkung (Restriktion) erreicht.
Binge-/Purging-Typus Bei dieser Unterform kommen zu regelmäßigen Essanfällen (binge: Gelage) kompensatorische Maßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen oder der Missbrauch von Medikamenten (to purge: reinigen) hinzu.
1 2 3 4 5 6
16
Kapitel 3 · Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Erwachsenenalter
3.2
Klinische Einteilung der Bulimia nervosa
Im Gegensatz zur Anorexie, bei der mit wenigen Blicken das Hauptsymptom Untergewicht erkannt werden kann, scheinen Patientinnen mit Bulimia nervosa (BN) zunächst unauff ffällig, da sie normalgewichtig sind. Bei BN kommt es zu typischen Heißhungerattacken mit Kontrollverlust. Große Mengen an Nahrungsmitteln werden hastig geschlungen, ohne dass ein Unterbrechen möglich wäre. Anschließend erfolgt ein Kompensationsverhalten, welches den Betroff ffenen ermöglicht, das Gewicht zu halten und nicht zuzunehmen. Am häufi figsten
ist ein Erbrechen kurz nach Nahrungsaufnahme. Bei Maximalausprägungen der Symptomatik kann die gesamte Tageszeit aus Zyklen von »Essen und Erbrechen« bestehen. Dabei kommt es häufi fig auch zu finanziellen fi Schwierigkeiten und Problemen, die verbunden sind mit der Beschaffung ff von Nahrungsmitteln. Ähnlich wie bei der AN bestehen gewichtsphobische Ängste und eine Körperschemastörung. Die Erkrankung ist häufi fig von Verheimlichung und Scham geprägt. Äußerlich ist den Patientinnen oft ft allenfalls eine Schwellung der Speicheldrüsen (Glandulae parotes) anzusehen. Im Umfeld bleibt die Essstörung z. T. jahrelang unerkannt.
7 8
. Tab. 3.2. Diagnostische Kriterien der Bulimia nervosa
9
ICD-10: F50.2 International Classification of Diseases (WHO)
DSM IV: 307.51 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (American Psychiatric Association)
1. Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
A. Wiederkehrende Essanfälle 1. Ein Essanfall ist charakterisiert durch: Essensaufnahme innerhalb eines begrenzten Zeitraums (bis zu 2 Stunden); die Nahrungsmenge ist defi finitiv größer, als sie die meisten Menschen in einer vergleichbaren Zeit unter ähnlichen Umständen essen würden. 2. Ein Gefühl des Kontrollverlusts während des Essanfalls tritt auf.
2. Die Patientin versucht, dem dickmachenden Effekt ff der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer bewussten Dosisreduktion von Insulin kommen.
B. Wiederkehrendes, unangemessenes Kompensationsverhalten, um eine Gewichtszunahme zu verhindern, wie selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren oder anderer Medikation, Fasten oder exzessive sportliche Übungen.
3. Die psychopathologische Auffälligkeit ff besteht in einer krankhaften Furcht davor, dick zu werden; die Patientin setzt sich eine scharf defi finierte Gewichtsgrenze weit unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder »gesund« betrachteten Gewicht.
C. Essanfälle und unangemessene Kompensationsmechanismen treten über drei Monate im Schnitt mindestens zweimal wöchentlich auf.
4. Häufi fig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren die Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust und/ oder einer vorübergehenden Amenorrhö.
D. Figur und Körpergewicht haben übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung. fl
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Rahmen einer Anorexia nervosa auf.
17
3.3 Kompensatorische Mechanismen
3.2.1 Atypische Bulimia nervosa
3
3.3.2 Erbrechen
(ICD-10 F50.3) Bei der atypischen BN fehlen ein oder mehrere Kernmerkmale bei sonst typischem Krankheitsbild. Unter diese Diagnose fallen auch Partialsyndrome mit depressiven Symptomen.
3.2.2 Subtypen der Bulimia nervosa Lediglich DSM IV unterscheidet bei der BN die Subtypen Non-purging-Typus und Purging-Typus. Die klinische Bedeutung ist umstritten.
3.3
Kompensatorische Mechanismen
Nach Nahrungsaufnahme dient das selbstinduzierte Erbrechen dem »Loswerden« der zugeführten Kalorien. Ebenfalls wird dadurch versucht, das oft ft schnell empfundene Völle- und Blähgefühl zu mildern. Erbrechen erfolgt über selbst induziertes Auslösen des Würgereflexes, fl in manchen Fällen gelingt es auch spontan. Der Druck, aufgenommene Nahrung zu erbrechen, kann so stark sein, dass soziale Aktivitäten nicht mehr stattfinden, fi da in diesen Kontexten derartiges Verhalten nicht möglich ist.
3.3.3 Missbrauch von Medikamenten
Patientinnen mit AN und BN zeigen ähnliche Verhaltensweisen, um eine Gewichtszunahme zu verhindern bzw. um Gewicht abzunehmen. Die einzelnen Methoden und deren »Einsatzweise« fi finden heute über neue Medien (Internet-Foren und -Chats) schnell Verbreitung. Betroffene ff kommen leicht an krankheitstypische dysfunktionale Informationen und nehmen diese in ihr Verhaltensrepertoire auf. Die häufigsten fi Verhaltensweisen werden im Folgenden erläutert
Der Missbrauch von Medikamenten als kompensatorisches Verhalten betrifft fft vorwiegend Laxanzien. Aufgrund einer dadurch beschleunigten MagenDarm-Passage wird die enterale Resorption reduziert. Da es zu Gewöhnungsphänomenen kommen kann, ist häufi fig eine kontinuierliche Dosissteigerung zu beobachten, die einem Vielfachen der Tageshöchstdosis der jeweiligen Medikamente entsprechen kann. Auch der Gebrauch von abführenden und entwässernden Tees ist zu beobachten. Darüber hinaus werden Appetitzügler, Diuretika, aber auch stoffwechselaktivierende ff Substanzen (Th Thyroxin) missbraucht.
3.3.1 Fasten
3.3.4 Übermäßige Bewegung
Patientinnen verzichten phasenweise ganz auf Nahrungsaufnahme (Hungern) oder sind in ihrem Essverhalten sehr restriktiv. Häufi fig werden von Patientinnen selbst »verbotene Nahrungsmittel« definiert. fi Diese sind überwiegend hochkalorisch. »Erlaubt« sind eher niedrigkalorische, fettarme Produkte. Im Rahmen von Essanfällen werden diese selbst festgelegten Ge- und Verbote impulsartig durchbrochen, und es kann zu unkontrolliertem Konsum von ansonsten meist »verbotenen Nahrungsmitteln« kommen.
Durch übermäßige körperliche Betätigung wird versucht, vermehrt Kalorien zu verbrennen. Manche Patientinnen halten es kaum aus, längere Zeit nicht aktiv zu sein. Auf die Benutzung von Verkehrsmitteln wird mitunter bewusst verzichtet, und alle Wege werden zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Sportarten werden exzessiv betrieben. Bewegungsdrang kann zum Bewegungszwang führen und sowohl intentionale sportliche Aktivitäten als auch ein erhöhtes Maß unwillkürlicher Bewegungen umfassen.
18
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Kapitel 3 · Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Erwachsenenalter
3.3.5 Weitere kompensatorische
Mechanismen Es besteht eine Vielzahl weiterer Verhaltensweisen, die es ermöglichen, Gewicht zu verlieren bzw. eine Gewichtszunahme zu verhindern. Meistens verfolgt die Patientin das Ziel, den Stoffwechsel ff zu aktivieren. So kann es beispielsweise sein, dass Betroffene ff sich bewusst leicht kleiden, die Zimmertemperatur niedrig halten, kalt duschen oder Eiswürfel zu sich nehmen, um den Grundumsatz zu erhöhen.
Literatur American Psychiatric Association (2000) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – DSM IV-TR, 4th edn. American Psychiatric Association, Washington, DC American Psychiatric Association (2006) Practice guideline for the treatment of patients with eating disorders, 3rd edn. www.psych.org Fairburn C, Harrison P (2003) Eating disorders. Lancet 361: 407-416 Herzog W (Hrsg) (2006) Ess-Störungen. Therapeutische Umschau Bd 63, Heft 8 Weltgesundheitsorganisation WHO (2005) Internationale Klassifikation fi psychischer Störungen – klinisch diagnostische Leitlinien. Huber, Bern
4 Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter Beate Herpertz-Dahlmann 4.1
Defi finition und Klassifi fikation
– 19
4.2
Epidemiologie – 19
4.3
Symptomatik – 20
4.4
Komorbidität und Diff fferenzialdiagnose
4.4.1 4.4.2
Psychische Komorbidität – 21 Somatische Komorbidität – 21
4.1
Defi finition und Klassifi fikation
4.5
Differenzialdiagnose ff – 22
4.6
Verlauf
– 23
– 21
Die Anorexia nervosa (AN) – oder deutsch »Pubertätsmagersucht« – ist die dritthäufi figste chronische Erkrankung der weiblichen Adoleszenz. Die Klassifi fikation der kindlichen und jugendlichen AN erfolgt entsprechend den Kriterien von ICD-10 bzw. DSM IV. ICD-10 legt einen BodyMass-Index-(BMI-)Schwellenwert von 17,5 kg/m2 als Gewichtskriterium fest. Aufgrund der Altersund Geschlechtsabhängigkeit des BMI entspricht jedoch dieser in der Altersgruppe der 10- bis 12Jährigen etwa der 50. Altersperzentile, bei 13-jährigen Mädchen der 25. Altersperzentile. Ein solcher Schwellenwert erweist sich demnach für die Defifi nition präpuberaler und puberaler Formen der AN als inadäquat. ! Um die Entwicklungsabhängigkeit des Gewichtskriteriums zu berücksichtigen, hat die Deutsche Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) die 10. Altersperzentile als Gewichtsschwellenwert für die Defi finition einer AN im Kindes- und Jugendalter bestimmt.
Die Berechnung kann über das Internet (http://www. mybmi.de) erfolgen. Über diese Webseite kann auch
die Einordnung des Schweregrades der Kachexie mithilfe des BMI standard deviation score erfolgen. Auf der Basis des DSM IV wird bei der AN zwischen dem restriktiven Typus und dem Binge-/ Purging-Typus (bulimischer Typus) der AN unterschieden. Im Kindes- und Jugendalter überwiegt der restriktive Typus deutlich, er geht aber im Laufe der späteren Adoleszenz bei einem Teil der Patientinnen in den bulimischen Typus über.
4.2
Epidemiologie
Die Prävalenzrate (Punktprävalenz) der Magersucht bei 14- bis 18-Jährigen wird auf etwa 0,3‒1 geschätzt. In dieser Altersgruppe findet fi sich die höchste Inzidenz, die mit ca. 50‒70 pro 100.000 der entsprechenden Altersgruppe angegeben wird. ! In jüngsten Untersuchungen ließ sich eine Zunahme der Erkrankungsrate speziell in der Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen nachweisen.
Seit den 1950er Jahren wurde auch ein Anstieg der kindlichen AN gefunden. Vereinzelte Studien zur Prävalenz gehen davon aus, dass diese frühe Erkrankungsform bei ca. 5 aller an Magersucht Erkrank-
20
Kapitel 4 · Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter
2
ten beobachtet wird. Der Erkrankungsgipfel der Magersucht liegt bei ca. 14 Jahren. Das Geschlechterverhältnis entspricht dem des Erwachsenenalters und liegt bei 1:10‒20 (m:w).
3
4.3
1
4 5 6 7 8 9 10 11
Symptomatik
Während in der Pubertät beim männlichen Geschlecht die Gewichtszunahme primär durch eine Zunahme der Muskelmasse bedingt ist, nimmt bei Mädchen der Anteil der Fettmasse am Gesamtkörpergewicht von 17 auf 24 zu. Darüber hinaus verändert sich unter dem Einfl fluss der Sexualhormone das Fettverteilungsmuster. Postpuberale Mädchen und junge Frauen sind demnach im Vergleich zu Jungen und Kindern vor einem Abbau fettfreier Masse besser geschützt. ! Kinder verfügen über eine bedeutend geringere Fettmasse als Adoleszente und Erwachsene, sodass die somatischen Folgen des Hungerns bei der kindlichen AN häufig fi gravierend sind.
12
Während die AN bei einem geringeren Teil der Patientinnen »foudroyant« (hohe Gewichtsabnahme in sehr kurzer Zeit) verläuft, ft nimmt sie bei der Mehrzahl einen eher schleichenden Verlauf (. Übersicht:
13
Primärsymptome einer Essstörung im Kindes- und Jugendalter).
14 15 16 17 18 19 20
Primärsymptome einer Essstörung im Kindes- und Jugendalter 5 Zunehmendes Interesse für Nahrungszusammensetzung und Kaloriengehalt 5 Vermeidung oder Verweigerung von Hauptmahlzeiten 5 Beschränkung auf so genannte »gesunde« Nahrungsmittel fi Gewichtskontrollen 5 Häufige 5 Unzufriedenheit mit eigenem Aussehen und Figur 5 Ausgeprägte körperliche Hyperaktivität 5 Zunehmende Leistungsorientierung und Isolation 5 Primäre oder sekundäre Amenorrhö
Die jungen Mädchen verzichten zuerst auf Süßigkeiten, Kuchen und fettreichere Nahrungsmittel und bevorzugen stattdessen so genannte »gesunde« Nahrungsmittel wie Obst, Vollkornbrot, Gemüse und Diätkost. Viele werden Vegetarier, was sie meist mit einem Mitleid für Tiere begründen. Typisch sind Rituale beim Essen. Einige Betroffene ff zelebrieren regelrecht das Einnehmen einer Mahlzeit, dekorieren auch für geringste Speisemengen den Tisch, zünden eine Kerze an etc. ! Bei kindlichen Patientinnen führt nicht selten eine Exsikkose zur stationären Aufnahme, da diese eine Gewichtszunahme durch Flüssigkeitsaufnahme befürchten und das Trinken einstellen.
Andere befürchten eine Nahrungsmittelaufnahme, z. B. von Streichfett, durch die Haut und weigern sich, Nahrungsmittel zu berühren. Viele der jungen Patientinnen sind exzesssiv körperlich aktiv, d. h., sie betreiben Sport, um die Gewichtsabnahme zu beschleunigen. Mit zunehmender Kachexie empfinden fi die Patientinnen die Bewegungsunruhe als »Zwang«, d. h., sie müssen trotz körperlicher Erschöpfung weiterhin aktiv sein. Neuere Untersuchungen haben aufgezeigt, dass die körperliche Aktivität nicht ausschließlich kognitiver Kontrolle unterliegt, sondern auch durch hormonelle Regulationsmechanismen mitbestimmt wird. ! Je jünger die Patientinnen, desto schwerer fällt es ihnen, Zugang zu ihrem eigenen Erleben und zu ihren Ängsten im Rahmen der Erkrankung zu fi finden.
Die für die AN des späteren Jugend- und Erwachsenenalters typische Gewichtsphobie lässt sich bei präpuberalen Jugendlichen vielfach nicht eruieren. Sie erleben die Störung oft ft als eine »fremde Kraft«, ft gegen die sie sich nicht wehren können. So berichten sie, dass ihnen eine Stimme befehle, die Nahrungszufuhr zu reduzieren und keinesfalls an Gewicht zuzunehmen. Diese »innere Stimme« ist jedoch nicht mit dem Symptom »Stimmen hören« einer schizophrenen Erkrankung zu verwechseln; vielmehr nehmen die Patientinnen diese Stimme als etwas Eigenes wahr. Die Mehrzahl der jugendlichen essgestörten Patientinnen isoliert sich im
21
4.4 Komorbidität und Differenzialdiagnose ff
Verlauf der Erkrankung, vernachlässigt ihre Hobbys, viele werden ehrgeiziger und fl fleißiger in der Schule. Manche Patientinnen sprechen von einer regelrechten Arbeitssucht.
4.4
Komorbidität und Differenzialdiagnose ff
4.4.1 Psychische Komorbidität Epidemiologische Studien zeigen auf, dass subklinische Essstörungen in der Adoleszenz häufi fig mit Störungen des Selbstwertgefühls und depressiver Psychopathologie einhergehen. So konnte in der BELLA-Studie, einer Studie des Robert-Koch-Instituts an 1800 Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren, aufgezeigt werden, dass diejenigen mit einem gestörten Essverhalten signifikant fi häufiger Suizidideen und suizidales Verhalten berichteten als diejenigen ohne Essstörung (HerpertzDahlmann et al., im Druck). Ein Teil der jugendlichen AN-Patientinnen ist seit der Kindheit zurückgezogen und introvertiert. Einige geben an, dass sich die traurige Stimmungslage zu Beginn der Magersucht eher gebessert habe. Bei der Beurteilung der depressiven Verstimmung muss der Starvationseff ffekt berücksichtigt werden; in einer eigenen Studie konnte beobachtet werden, dass Patientinnen mit zusätzlicher major depressive disorderr bei Aufnahme ein signifi fikant niedrigeres Gewicht aufwiesen als diejenigen ohne Zusatzdiagnose. Anamnestisch kann bei vielen jugendlichen Patientinnen mit AN eine Trennungsangst eruiert werden. Kindliche Angststörungen mit »sozialer Überempfindlichkeit« fi gehen häufi fig in eine soziale Phobie als komorbide Störung der AN über. Mütter anorektischer Patientinnen berichteten im Vergleich zu Müttern gesunder Mädchen über ausgeprägte Schlafstörungen ihrer Töchter in der Kleinkindzeit, erhebliche Trennungsangst und über ein signifikant fi späteres Lebensalter des Kindes beim »ersten Auswärtsschlafen«. Auch komorbide Zwangserkrankungen, meist gekennzeichnet durch Ordnungs- und Sortierungszwänge, sind bei der jugendlichen Magersucht häufig, fi bei einem Fünftel liegt der Beginn der Zwangserkrankung vor dem Beginn der Magersucht in der Kindheit.
4
Fazit Da die Magersucht bei kindlichen und jugendlichen Patientinnen auf viele Eltern und Therapeuten bedrohlich wirkt, werden komorbide psychische Störungen – insbesondere Angstund Zwangserkrankungen – vielfach übersehen. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Behandlung sollte bei Aufnahme grundsätzlich auch eine Diagnostik komorbider psychischer Störungen erfolgen.
4.4.2 Somatische Komorbidität An dieser Stelle soll nur auf die für die kindliche und jugendliche Magersucht typischen Komplikationen eingegangen werden. ! Als Faustregel gilt, dass die somatischen Veränderungen bei AN umso gravierender sind, je jünger die Patientinnen sind und je ausgeprägter und rapider der Gewichtsverlust ist. Fast alle Betroffenen ff weisen einen Stillstand der pubertären Entwicklung auf.
Bei kindlichen und jugendlichen Patientinnen mit chronischem Verlauf ist das Längenwachstum beeinträchtigt. So erreichen Patientinnen mit einem schlechten Heilungsverlauf nach eigenen Ergebnissen trotz des säkularen Trends einer Größenzunahme bei den jüngeren Generationen nicht die Körpergröße ihrer Mutter. In einigen Fällen wird das Längenwachstum noch sehr spät nach Erreichen des Normalgewichts abgeschlossen; ein Aufholfh wachstum scheint aber nur möglich zu sein, wenn die Erkrankung nicht über einen zu langen Zeitraum persistiert. Neben einer Einschränkung des Längenwachstums finden fi sich bei jungen Patientinnen deutliche Hinweise auf eine Osteopenie bzw. Osteoporose, der ein verminderter Knochenaufbau bei vermehrtem Knochenabbau zugrunde liegt (. Übersicht: Risikofaktoren für eine Osteoporose).
22
1
Besondere Risikofaktoren für eine Osteoporose
2
5 Beginnende Essstörung in der Präpubertät oder Adoleszenz 5 Anhaltende Kachexie 5 Lange Dauer der Amenorrhö 5 Relative körperliche Inaktivität
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 4 · Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter
Bessert sich die Magersucht noch in der wachstumsaktiven Lebensperiode, normalisiert sich auch der Aufb fbau der Knochenstruktur. Dieser Prozess kann im Vergleich zu altersentsprechenden Mädchen um mehrere Jahre verzögert sein. Die auch bei Erwachsenen anzutreff ffende Pseudoatrophia cerebri ist u. a. von der Höhe des Gewichtsverlusts abhängig und beeinträchtigt Konzentrationsvermögen und Gedächtnis, was die Patientinnen in der Schule sehr belastet. Darüber hinaus ist bis heute nicht klar, welche Auswirkungen ein magersuchtsbedingter langfristiger Sexualhomonmangel auf das Wachstum des Gehirns hat. Bestimmte Hirnstrukturen, wie z. B. der Hippokampus, zeigen bezüglich ihres Wachstums eine deutliche Abhängigkeit vom Östrogenspiegel. Hier sind dringend Untersuchungen angezeigt, um zu überprüfen, inwieweit eine chronifizierte fi AN des Kindes- und Jugendalters mit einer langfristig veränderten Hirnstruktur und -funktion einhergeht.
14 15 16 17 18 19 20
4.5
Differenzialdiagnose ff
Je jünger das Mädchen bei Erkrankungsbeginn, umso schwieriger gestaltet sich die Diagnose. Bei präpuberalen Kindern sehen wir Essstörungssyndrome im Rahmen von Angst- und Zwangserkrankungen. Die Kinder befürchten z. B., sich zu verschlucken, versehentlich einen gefährlichen oder ekelerregenden Gegenstand (z. B. eine Fliege) zu essen oder sich durch kontaminierte Nahrungsmittel zu infizieren. fi Dies führt dazu, dass nur ganz bestimmte Nahrungsmittel, die von einer bekannten Person in einer vertrauten Umgebung (z. B. zu Hause) zubereitet werden, gegessen bzw. getrunken werden können. Andere stellen die Nahrungsaufnahme ein, weil sie befürchten, sich in
einer peinlichen Situation übergeben zu müssen. Ein solches Verhalten wird meist bei Kindern beobachtet, bei denen eine solche Angst durch entsprechende Erfahrungen getriggert wird, z. B. bei Vorliegen eines gastroösophagealen Refluxes fl oder einer anderen, mit Erbrechen verbundenen Erkrankung. Magersuchtstypische Symptome können im Rahmen von Konversionsstörungen auftreten, ft wenn die Betroff ffenen auf der Station mit magersüchtigen Patientinnen konfrontiert werden. In der Vergangenheit wurde das »Syndrom der kindlichen emotionalen Störung mit Nahrungsverweigerung« geprägt, deren Ursache ein tief greifendes emotionales Problem ist, z. B. eine schwer wiegende Beziehungsstörung zu den Eltern. Diese Nahrungsverweigerung kann in eine »globale« Verweigerungshaltung übergehen, bei der die Kinder fast alle Handlungen und Funktionen einstellen, z. B. nicht mehr sprechen, nicht mehr aufstehen und nicht für ihre körperliche Hygiene sorgen. Bei dieser Patientengruppe, die deutlich kleiner als die der anorektischen Patientinnen ist, empfiehlt fi sich ein multimodales Behandlungsprogramm einschließlich intensiver Einbeziehung der Eltern. In einigen Fällen – insbesondere bei schwer wiegenden Beziehungsstörungen – erweist sich eine außerhäusliche Unterbringung als notwendig. Die Diff fferenzialdiagnose zu somatischen Erkrankungen geht aus der folgenden . Übersicht hervor. Diff fferenzialdiagnose der Anorexia nervosa zu somatischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Crohn-Krankheit Colitis ulcerosa Zöliakie Hypothyreose Diabetes mellitus Addison-Krankheit Hypophysenvorderlappeninsuffizienz ffi Hypothalamustumoren Maligne Tumoren Nebenwirkung von Medikamenten (z. B. Amphetamine)
23
4.6 Verlauf
4.6
Verlauf
! Die Prognose der adoleszenten AN ist günstiger als die der adulten AN.
Bei der Mehrzahl der jüngsten 10-Jahres-Katamnesen bei adoleszenten Patientinnen fanden sich keine Todesfälle. Die Mortalitätsrate für gemischte Stichproben adoleszenter und erwachsener Patientinnen, beruhend auf einer Metaanalyse von 119 Studien zwischen 1953 und 1999, betrug 5,9, während sie in derselben Studie für ausschließlich adoleszente Stichproben bei 1,8 lag (Steinhausen 2002). Die Rehospitalisierungsrate in der Adoleszenz ist sehr hoch: Ein Viertel bis die Hälfte ft aller jugendlichen Patientinnnen mit AN werden mehr als einmal stationär behandelt. Risikofaktoren für eine Rehospitalisierung sind psychische Erkrankungen der Eltern (z. B. väterlicher Alkoholismus), eine Essstörung in früher Kindheit, körperliche Hyperaktivität, eine geringe Gewichtszunahme bei erster Hospitalisierung sowie – je nach Studie – ein niedriger BMI bei Aufnahme bzw. bei Entlassung. Nach Bewältigung der Essstörung leiden viele Patientinnen im Erwachsenenalter an anderen psychischen Störungen, insbesondere affekff tiven Erkrankungen, Angst- und Zwangs- sowie Persönlichkeitsstörungen. Es gibt keine eindeutigen Untersuchungsergebnisse in Bezug auf den Heilungserfolg bei kindlichen im Vergleich zu adoleszenten Patienten. Nach eigenen Ergebnissen besteht zwischen dem Heilungserfolg bei beiden Patientengruppen kein signifikanter fi Unterschied. Der Heilungserfolg bei den männlichen Jugendlichen war etwas positiver als der bei den weiblichen, allerdings lässt sich dieses letzte Ergebnis aufgrund der geringen Stichprobengröße nicht verallgemeinern. Fazit Die Mehrzahl der Patientinnen, die in ihrer Kindheit oder Adoleszenz an einer Magersucht litten, erlebt diese Erfahrung retrospektiv als gravierenden Einschnitt in ihr Leben und betont, dass ihnen die Erkrankung wesentliche Erlebnismöglichkeiten dieser Lebensperiode genommen hätte.
4
Literatur Bryant-Waugh R, Kaminski Z (1993) Eating disorders in children: an overview. In: Lask B, Bryant-Waugh R (eds) Childhood onset anorexia nervosa and related eating disorders. Lawrence Erlbaum, Mahwah, NJ, pp 17-29 DGKJP (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie), Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (Hrsg) (2007) Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindesund Jugendalter, 3. Aufl fl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Herpertz-Dahlmann B, Hebebrand J (2007) Ess-Störungen. In: Herpertz-Dahlmann B, Resch F, Schulte-Markwort M, Warnke A (Hrsg) Entwicklungspsychiatrie, 2. Aufl. fl Schattauer, Stuttgart, S 835-864 Herpertz-Dahlmann B, Müller B, Herpertz S, Heussen N, Neudörfl fl A, Hebebrand J, Remschmidt H (2001) Prospective ten-year follow-up in adolescent anorexia nervosa – course, outcome and psychiatric comorbidity. J Child Psychol Psychiatry 42: 603-612 Herpertz-Dahlmann B, Wille N, Ravens-Sieberer U, Hoelling H, Vloet T, the BELLA Study Group (2008) Disordered eating behaviour and attitudes, associated psychotherapy and health-related quality of life – results from the BELLA Study. Eur Child Adolesc Psychiatry, in press Nicholls D (2004) Feeding disorders in infancy and early childhood. In: Brewerton TD (ed) Clinical handbook of eating disorders. An integrated approach. Marcel Dekker, New York, pp 47-69 Shoebridge P, Gowers SG (2000) Parental high concern and adolescent-onset anorexia nervosa. A case-control study to investigate direction of causality. Br J Psychiatry 176: 132-137 Steinhausen HC (2002) The outcome of anorexia nervosa in the 20th century. Am J Psychiatry 159: 1284-1293 Steinhausen HC, Grigoroiu-Servanescu M, Boyadjieva S, Neumärker KJ, Winkler Metzke C (2008) Course and predictors of rehospitalization in adolescent anorexia nervosa in a multisite study. Int J Eat Disord 41: 29-36 van Son GE, van Hoeken D, Bartelds AI, van Furth EF, Hoek HW (2006) Time trends in the incidence of eating disorders: a primary care study in The Netherlands. Int J Eat Disord 39: 565-569
5
2
Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung
3
Martina de Zwaan und Barbara Mühlhans
4
5.1
Atypische Essstörungen
5
5.2
Subsyndromale Essstörungen
5.3
5.1
1
6
– 24
5.4
Purging-Disorder
5.5
Night-Eating-Syndrom – 27
Binge-Eating-Störung – 25
5.6
Andere atypische Essstörungen
Atypische Essstörungen
diese Diagnose fallen könnten. Dabei werden einerseits subsyndromale Ausprägungen der klassischen Essstörungen, andererseits neue Syndrome, wie das Kauen-Ausspucken-Syndrom oder die BingeEating-Störung (BES), für die ausformulierte Forschungskriterien vorliegen, aufgelistet (. Tab. 5.1). In Langzeitkatamnesen wird deutlich, dass Patientinnen im Verlauf der Essstörung oft ft zwischen den Essstörungsdiagnosen wechseln. Neben dem häufigen fi Übergang von einer initialen AN in eine BN (25 aller bulimischen Patientinnen) werden im Langzeitverlauf v. a. Wechsel zwischen den klassischen und den atypischen Essstörungen beschrieben.
– 24
– 26
– 28
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Der überwiegende Anteil der Patienten, die sich heute zur ambulanten Behandlung vorstellen, erfüllt nicht die vollen Kriterien einer klassischen Essstörung. Atypische oder nicht näher bezeichnete Essstörungen können daher nicht als »Restkategorie« angesehen werden, stellen sie doch bei exakter Diagnosestellung die häufi figste Essstörungskategorie dar. Sie beinhaltet eine äußerst heterogene Gruppe an Störungsbildern. Experten stimmen darin überein, dass die Anorexia nervosa (AN) und die Bulimia nervosa (BN) nur die Spitze des Eisbergs innerhalb eines weiten Essstörungsspektrums darstellen. In der Forschung werden jedoch überwiegend Patientinnen mit den Vollbildern einer Anorexie oder Bulimie untersucht. Unser Wissen über atypische oder nicht näher bezeichnete Essstörungen ist daher begrenzt. Die heutigen Diagnosesysteme kennen neben der Anorexia nervosa (F50.0) und der Bulimia nervosa (F50.2) weitere Essstörungen, im ICD-10 finfi den sich die atypische AN (F50.1), die atypische BN (F50.3), Essattacken und Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen (F50.4 und F50.5) sowie sonstige Essstörungen (F50.8) und nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9). Diese Kategorien sind nicht weiter beschrieben, und Untersucher werden aufgefordert, eigene Kriterien zu formulieren. Demgegenüber formuliert das DSM IV neben der AN und der BN nur die Restkategorie der »nicht näher bezeichneten Essstörungen« und gibt einige Beispiele an, welche Syndrome unter
! Der große Anteil atypischer Essstörungen in klinischen Gruppen und die häufi figen Übergänge zwischen den Diagnosen haben dazu geführt, dass die derzeitigen diagnostischen Kategorien kritisch hinterfragt werden und in Vorbereitung auf DSM V und ICD-11 zahlreiche alternative Klassifi fikationsmodelle diskutiert werden.
5.2
Subsyndromale Essstörungen
Als subsyndromale Essstörungen werden Störungen mit klinischer Schwere bezeichnet, die nicht alle diagnostischen Kriterien der AN oder BN erfüllen oder bei denen alle Symptome in leichterer Ausprägung vorhanden sind. Es konnte gezeigt werden, dass sich etwa Patientinnen mit AN mit erhaltener Menstruation
5
25
5.3 Binge-Eating-Störung
. Tab. 5.1. Diagnostische Kriterien der atypischen Essstörungen ICD-10 (Internationale Klassifi fikation der Krankheiten, WHO 1993)
DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, APA 1994)
F50.1: Atypische Anorexia nervosa F50.3: Atypische Bulimia nervosa F50.4: Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen F50.5: Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen F50.8: Sonstige Essstörungen F50.9: Nicht näher bezeichnete Essstörungen
307.50: Nicht näher bezeichnete Essstörungen
Folgende Beispiele werden angegeben: Untersucher, die diese Kategorien verwenden wollen, werden aufgefordert, eigene Kriterien zu formulieren. Binge-Eating-Störung wird nicht erwähnt, kann unter F50.9 kodiert werden.
1. Alle Kriterien einer Anorexia nervosa sind erfüllt, nur – regelmäßige Menstruation oder – Körpergewicht liegt noch im Normalbereich trotz erheblichem Gewichtsverust 2. Sämtliche Kriterien einer Bulimia nervosa sind erfüllt, jedoch bulimische Attacken weniger häufig fi als 2-mal pro Woche für eine Dauer von weniger als 3 Monaten 3. Selbstinduziertes Erbrechen ohne Essanfall 4. Wiederholtes Kauen und Ausspucken, ohne zu schlucken 5. Binge-Eating-Störung
(ohne Einnahme von Kontrazeptiva) oder Patientinnen, deren bulimische Symptomatik seltener als 2-mal pro Woche auftritt, ft von Patientinnen mit dem Vollbild der jeweiligen Störung weder im Ausmaß der essstörungsspezifi fischen oder allgemeinen Psychopathologie noch im Verlauf der Erkrankung und der Prognose unterscheiden. Daraus ergibt sich die Frage, ob die diagnostischen Kriterien für AN und BN zu eng gefasst wurden. Eine Untersuchung konnte zeigen, dass etwa 40 aller Patientinnen mit atypischen Essstörungen bei Lockerung der Kriterien einer AN oder BN zugeordnet werden könnten.
nommen wurden (. Übersicht: Forschungskriterien der BES). Sie fand vorerst Eingang in den Anhang, wo Störungen zusammengefasst sind, die noch weiterer Forschung bedürfen, bevor sie als eigenständige Diagnose zugelassen werden. Im ICD-10 existiert diese Diagnose nicht und kann nur als »nicht näher bezeichnete Essstörung« (F50.9) kodiert werden.
5.3
Binge-Eating-Störung
Bereits 1959 wurde von Stunkard eine Untergruppe übergewichtiger Patientinnen beschrieben, die durch wiederholte Episoden von Essanfällen ohne gegenregulatorische Maßnahmen gekennzeichnet waren. In den Fokus des wissenschaftlichen ft Interesses gelangte diese Form der Essstörung jedoch erst, nachdem 1994 die Forschungskriterien für die »Binge-Eating-Störung (BES)« als ein Beispiel für nicht näher bezeichnete Essstörungen im DSM IV aufge-
Forschungskriterien der Binge-EatingStörung nach DSM IV: 307.50 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, APA 1994) A. Wiederholte Episoden von Essanfällen. Eine Episode von Essanfällen ist durch beide der folgenden Kriterien charakterisiert: 1. Essen einer Nahrungsmenge in einem abgrenzbaren Zeitraum (z. B. in einem 2-stündigen Zeitraum), die definitiv fi größer ist, als die meisten Menschen in einem ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Umständen essen würden
6
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Kapitel 5 · Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung
1 2 3 4
B.
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C. D.
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E.
2. Das Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen während der Episode (z. B. ein Gefühl, dass man mit dem Essen nicht aufhören kann bzw. nicht kontrollieren kann, was und wieviel man isst) Die Episoden von Essanfällen treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf: 1. Wesentlich schneller essen als normal 2. Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl 3. Essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt 4. Alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst 5. Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen Es besteht deutliches Leiden wegen der Essanfälle. Die Essanfälle treten im Durchschnitt an mindesten 2 Tagen in der Woche für 6 Monate auf. Die Essanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen einher (z. B. »Purging-Verhalten«, Fasten oder exzessive körperliche Betätigung), und sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa auf.
! Als BES werden Syndrome klassifiziert, fi bei denen regelmäßige Essanfälle entsprechend der bei der BN beschriebenen Kriterien auftreten, jedoch keine kompensatorischen Maßnahmen ergriffen ff werden.
Da die Essanfälle bei Personen mit BES nicht von kompensatorischem Verhalten begleitet sind (z. B. Erbrechen, Laxanzieneinnahme), sind sie oft ft schwer abgrenzbar. Sie können sich auch als kontinuierliche, über den Tag verteilte Nahrungsaufnahme (grazing, g nibbling) g ohne feste Mahlzeiten manifestieren. Für die Diagnose ist daher nicht die Anzahl
der Essanfälle maßgeblich, sondern die Anzahl der Tage, an denen Essanfälle auft ftreten (2 Tage pro Woche für 6 Monate). Zusätzlich wird das Vorhandensein bestimmter Verhaltensweisen gefordert, die als Zeichen von beeinträchtigter Kontrolle gelten, (z. B. schnelleres Essen als normalerweise, Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl, Essen großer Mengen, ohne hungrig zu sein, allein Essen, Gefühle von Ekel, Traurigkeit oder Schuld nach dem Essen). Der wesentliche Unterschied zur BN besteht darin, dass bei der BES keine regelmäßigen, einer Gewichtszunahme entgegensteuernden Maßnahmen ergriff ffen werden. Einige Studien setzen »regelmäßig« mit einem Auftreten ft von mindestens 2-mal pro Woche gleich. Infolge der selteneren oder nicht vorhandenen Kompensationsmechanismen sind die meisten Patienten mit einer BES übergewichtig. Die Essanfälle sind bei Übergewichtigen mit BES mit 600‒3000 kcal i. d. R. kleiner als bei bulimischen Mädchen und Frauen. Sie bestehen vorrangig aus zucker- und fettreichen Nahrungsmitteln und treten im Durchschnitt an 2,5‒5 Tagen der Woche auf. Sie können sich bei der BES auch als kontinuierliche, über den Tag verteilte Nahrungsaufnahme (grazing, g nibbling) g ohne feste Mahlzeiten manifestieren. Die Essanfälle kommen v. a. am Abend und in der Nacht vor. Übergewichtige Frauen mit BES zeigen im Vergleich zu übergewichtigen Frauen ohne BES einen früheren Beginn des Übergewichts, ein höheres Gewicht und häufi figere Gewichtsschwankungen, größere Unzufriedenheit mit Gewicht und Körperform, ein geringeres Selbstwertgefühl und eine höhere psychiatrische Komorbidität. In der Überbewertung von Gewicht und Figur und dem übertriebenen Einfluss fl von Gewicht und Figur auf die Selbstbewertung und das Selbstwertgefühl ähneln sie Betroffenen ff mit BN.
5.4
Purging-Disorder
Patientinnen mit einer so genannten Purging-Disorder geben keine objektiv großen Essanfälle mit Kontrollverlust an, wie sie für die diagnostischen Kriterien einer BN zwingend gefordert werden. Sie erleben bereits normale Mahlzeiten oder Snacks als
5.5 Night-Eating-Syndrom
subjektiv zu groß, können die aufgenommene Nahrungsmenge nicht akzeptieren und wenden kompensatorische Maßnahmen an (. Übersicht: Kriterien für Purging-Disorder). Die Lebenszeitprävalenz der Purging-Disorder wird mit 1,1‒5,3 angegeben und ist damit der Häufi figkeit der BN vergleichbar. Zwischen Patientinnen mit und ohne objektive bulimische Anfälle besteht jedoch kein Unterschied im Verlauf, der Prognose, dem Ausmaß des restriktiven Essverhaltens, der Körperschemastörung oder der psychiatrischen Komorbidität, sodass das Kriterium der objektiv großen Essanfälle als Voraussetzung für die Diagnose einer BN und die Einordnung der Purging-Disorder als atypische Essstörung kritisch hinterfragt werden müssen. Vorgeschlagene Kriterien für PurgingDisorder (Keel et al. 2005) A. Wiederholte kompensatorische Maßnahmen, um das Gewicht zu regulieren nach normalen Mahlzeiten und Snacks B. Fehlen von objektiv großen Essanfällen C. Fehlen von Kontrollverlust
5.5
Night-Eating-Syndrom
Stunkard beschrieb 1955 zum ersten Mal bei 25 übergewichtigen Patientinnen ein Essverhalten, das er Night-Eating-Syndrom (NES) nannte. Die damaligen Diagnosekriterien waren: 1. die Aufnahme von mindestens 25 der täglichen Kalorienmenge nach dem Abendessen, 2. Schlaflosigkeit fl in mindestens der Hälft fte der Zeit bis mindestens Mitternacht und 3. Appetitlosigkeit morgens, wobei zum Frühstück nicht mehr als eine Tasse Kaff ffee oder Saft ft konsumiert werden durft fte. Dieses Essverhalten trat in engem Zusammenhang mit psychischem Stress auf. Bis heute wurden die Diagnosekriterien des NES immer wieder stark verändert, es wurden nicht nur bestehende Kriterien variiert, sondern auch immer wieder neue Aspekte aufgenommen oder wieder verworfen. Das Hauptkriterium des NES ist jedoch immer eine Verschiebung des zirkadianen Rhythmus der Patienten.
27
5
Ein Kriterium, dass speziell in den letzten Jahren Aufmerksamkeit fand, ist das Kriterium des »nächtlichen Essens« (nächtliches Erwachen mit Nahrungsaufnahme). In mehreren Studien konnte ein enger Zusammenhang zwischen dem NES und nächtlichem Essen gefunden werden. Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien des NES (. Übersicht: Kriterien für NES) ist das Vorliegen von abendlichem oder nächtlichem Essen als Kernkriterien des NES ausreichend für die Diagnose. Vorgeschlagene Kriterien für NightEating-Syndrom (Allison et al. 2006) A. Übermäßiges Essen abends: > 25% der täglichen Kalorienaufnahme nach dem Abendessen und/oder B. Nächtliches Erwachen mit Nahrungsaufnahme in mindestens 3 Nächten pro Woche C. Assoziierte Faktoren: – Morgendliche Appetitlosigkeit – Schlafprobleme – Depressive Verstimmungen – Stress
Eine wachsende Anzahl von Forschungsarbeiten beschäft ftigt sich mit dem Thema NES, ohne sich dabei auf eine einheitliche diagnostische Grundlage bezüglich der Kriterien des NES einigen zu können. Heute kann man auf der Grundlage der bisherigen Literatur von einem eigenen »Cluster« von Verhaltensweisen ausgehen, die zumindest den Überbegriff ff eines »Syndroms« verdienen. Schon heute gibt es Überlegungen, ob es sich beim NES eher um eine Auff ffälligkeit im Essverhalten handelt als tatsächlich um eine eigene Form der Essstörung oder ob sogar eine Aufnahme des NES in DSM V oder ICD-11 gerechtfertigt ist. Zuerst ist jedoch eine klare und verbindliche Defi finition der Kriterien vonnöten; auf dieser Basis wird in der Zukunft ft vielleicht auch eine Beantwortung weiterführender Fragen möglich sein.
1 2 3 4 5 6 7 8 9
28
Kapitel 5 · Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung
5.6
Andere atypische Essstörungen
Wie schon in 7 Kap. 1 ausgeführt, wurde überlegt, bestimmte Untergruppen Adipöser den Essstörungen zuzuordnen. Obwohl eine Infl flation psychischer Diagnosen verhindert werden sollte, gilt es zu überprüfen, ob etwa Aspekte wie ausgeprägtes emotionales Essen die Eingliederung unter den Essstörungen rechtfertigen könnten. Ein neues Gebiet der atypischen Essstörungen stellen die Essgewohnheiten nach adipositaschirurgischen Maßnahmen dar. Eine adäquate Unterscheidung von normalem und pathologischem Essverhalten nach chirurgischer Adipositastherapie ist sicherlich schwierig, sollte jedoch angesichts zunehmender Operationszahlen künftig ft mehr Beachtung finden. Eine einheitliche Defi finition auff ffälliger postoperativer Essverhaltensweisen steht bisher jedoch noch aus.
Literatur
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6 Diagnostik von Essstörungen Ulrich Schweiger 6.1
Screening nach Essstörungen – 29
6.3
Medizinische Diagnostik bei Essstörungen – 33
6.2
Ausführliche psychologische Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung – 30
6.4
6.2.1
Differenzialdiagnostische ff Überlegungen bei Essstörungen – 35
6.2.3
Suche nach körperlichen, psychologischen oder Verhaltensmerkmalen einer Essstörung – 30 Assessment der Beeinträchtigung durch gestörtes Essverhalten – 31 Operationalisierte Diagnostik – 31
6.1
Screening nach Essstörungen
6.2.2
Um den Erfolg der Behandlung einer Essstörung zu optimieren, sollen Patientinnen mit Essstörungen frühzeitig Hilfe erfahren. Patientinnen sollen nicht erst dann identifiziert fi werden, wenn sie selbst oder nahe stehende Personen mit einem Veränderungswunsch aktiv werden oder offensichtff liche Folgeschäden aufgetreten sind. Um Früherkennung zu fördern, ist die öff ffentliche Verfügbarkeit von valider Informationen über die Natur von Essstörungen und die Möglichkeiten der Behandlung von Essstörungen wichtig. Patientinnen mit Essstörungen haben häufig fi initial keine Kontakte mit Psychiatern, Psychosomatikern oder Psychotherapeuten, aber Kontakte mit anderen Ärzten wie z. B Allgemeinärzte, Zahnärzte, Gynäkologen. Deshalb ist die Wachsamkeit aller Berufsgruppen im Gesundheitswesen wichtig (. Übersicht: Mögliche Screening-Fragen zur Identifikation fi von Essstörungen). ! Jeder Arzt oder Psychologe sollte bei neuen Patientinnen an die Möglichkeit einer Essstörung denken, Größe und Gewicht bestimmen und einige Screening-Fragen stellen.
Mögliche Screening-Fragen zur Identifi fikation von Essstörungen 5 Sind Sie mit Ihrem Essverhalten zufrieden? 5 Haben Sie ein Essproblem? 5 Machen Sie sich Sorgen wegen Ihres Gewichts oder Ihrer Ernährung? fl Ihr Gewicht Ihr Selbstwertge5 Beeinflusst fühl? 5 Machen Sie sich Gedanken wegen Ihrer Figur? 5 Essen Sie heimlich? 5 Übergeben Sie sich, wenn Sie sich unangenehm voll fühlen? 5 Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal mit dem Essen nicht aufhören können?
Die Fragebögen Eating Disorder Inventoryy (EDI2), Fragebogen zum Essverhalten (FEV), Eating Disorder Examination (EDE) und SCOFF sind in deutschen Versionen erhältlich und können das Screening unterstützen. Besondere Aufmerksamkeit sollte folgenden Personengruppen zukommen (. Übersicht: Risikogruppen für die Entwicklung von Essstörungen).
30
1
Kapitel 6 · Diagnostik von Essstörungen
Risikogruppen für die Entwicklung von Essstörungen
2
5 Patientinnen mit niedrigem Körpergewicht 5 Patientinnen mit Amenorrhö oder Infertilität 5 Patientinnen mit Zahnschäden 5 Patientinnen, die mit Sorgen über ihr Gewicht in die Sprechstunde kommen, aber normalgewichtig sind 5 Übergewichtige Patientinnen, die zum Arzt kommen, weil Diäten fehlschlagen 5 Patientinnen mit gastrointestinalen Störungen, die nicht eindeutig einer anderen medizinischen Ursache zugeordnet werden können 5 Kinder mit Wachstumsverzögerung 5 Patientinnen, die im Unterhaltungsbereich, in der Mode- oder Ernährungsbranche arbeiten 5 Leistungssportlerinnen
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
6.2
Ausführliche psychologische Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung
6.2.1 Suche nach körperlichen,
psychologischen oder Verhaltensmerkmalen einer Essstörung Untergewicht oder Übergewicht
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Die Patientin sollte hierzu in Unterbekleidung und ohne Schuhe mit geeichtem Instrumentarium gewogen und gemessen werden. Die Auswertung und Bewertung der Messwerte ist anhand von geeigneten Formeln (BMI = kg/m2), Normbereichen oder altersbezogenen Perzentilkurven vorzunehmen.
Intensive gedankliche Beschäftigung mit Nahrung und nahrungsbezogenen Themen, Angst zu dick zu sein – trotz Untergewichts oder normalen Gewichts, unangemessener Einfluss fl des Körpergewichts auf das Selbstwertgefühl Die Bewertung der Angaben der Patientin erfordert Kenntnisse normativer altersbezogener Einstellungen und des kulturellen Hintergrunds der Patientin. Restriktives Essverhalten kann auch durch asketische Ideale motiviert sein, also den Gedanken, sich durch Selbstkontrolle und Verzicht spirituellen Zielen anzunähern. Differenzialdiaff gnostisch ist genuine Appetitlosigkeit im Rahmen schwerer depressiver Episoden oder körperlicher Erkrankungen zu diskutieren. ! Eine Selbstbewertung als »zu dick« ist auch bei gesunden jungen Frauen in der westlichen Welt häufi fig. Der Aspekt des Unangemessenen oder Pathologischen ergibt sich nicht alleine aus dem Vorhandensein dieser Selbstbewertung, sondern daraus, dass derartige Gedanken wesentlichen Raum einnehmen, die Betroffenen ff keine kritische Distanz dazu aufbauen können, durch diesen Gedanken das Selbstwertgefühl der Betroff ffenen erheblich vermindert oder erhebliches dysfunktionales Verhalten hierdurch unterhalten wird.
Verhalten zur Einschränkung der Kalorienzufuhr Bei Essstörungen findet fi sich typischerweise ein Bündel von zielorientierten Verhaltensweisen, die dazu dienen, die Zufuhr von Kalorien einzuschränken: 5 hochfrequentes Wiegen, um Veränderungen des Körpergewichts engmaschig zu kontrollieren, 5 Vermeidung von hochkalorischen, fetthaltigen oder kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln, 5 Auslassen von Mahlzeitbestandteilen wie Nachtisch oder ganzen Mahlzeiten, 5 Bilanzierung von Mahlzeiten durch den Erwerb von Kalorienwissen und Kalorienzählen, 5 Vermeidung von Nahrungsmitteln, deren Kaloriengehalt nicht eindeutig bestimmbar ist,
6.2 Ausführliche psychologische Diagnostik bei Verdacht auf eine Essstörung
5 5 5
5 5 5
5 5
5
wie durch andere Personen zubereitete komplexe Speisen, Verwendung von Süßstoffen, ff Fettersatzstoff ffen und Light-Produkten, Verwendung von pharmakologischen Appetitzüglern oder Nikotin zur Appetitkontrolle, Veränderungen des Mahlzeitenrhythmus, beispielsweise durch Beschränkung der Zufuhr auf eine einzige Mahlzeit pro Tag oder durch eine selbstauferlegte Struktur mit einer Vielzahl von Kleinstmahlzeiten, exzessiver Konsum von Flüssigkeiten vor Mahlzeiten, um die Nahrungsaufnahme zu begrenzen, Auswahl und Zufuhr von unattraktiven oder z. B. durch Versalzen unattraktiv gemachten Nahrungsmitteln, Nutzung von Ekelkonditionierungen, um die Zufuhr von attraktiven Nahrungsmitteln zu blockieren, z. B. die Vorstellung, Schokolade sei durch Mäusekot verunreinigt, Vermeidung von Essen in Gemeinschaft, ft um Ablenkung beim Essen oder andere soziale Einfl flüsse zu vermeiden, Nutzung von einengenden Bauchgürteln, beengender Kleidung oder Muskelanspannung, um beim Essen ein frühzeitiges Völlegefühl zu erzeugen, Nutzung von Zungenpiercings oder Selbstverletzungen im Mundraum, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren.
Gegensteuerndes Verhalten Hier handelt es sich um ein Spektrum zielorientierter Verhaltensweisen, um aufgenommene Energie oder Flüssigkeiten rasch wieder aus dem Organismus zu entfernen: 5 Erbrechen kann dabei automatisiert erfolgen, nach mechanischer Reizung des Rachenraums oder unterstützt durch chemische Substanzen, die Erbrechen fördern, wie Radix Ipecacuanae oder Salzlösungen, fl oder synthetisch herge5 Einnahme pflanzlicher stellter Laxanzien, 5 Einnahme pflanzlicher fl oder synthetisch hergestellter wassertreibender Substanzen (Diuretika) oder von Schilddrüsenhormonen (um den Grundumsatz zu erhöhen),
31
6
5 Sport und Exposition gegenüber Kälte, 5 Weglassen von Insulin bei Patientinnen mit Typ-1-Diabetes, um einen renalen Verlust von Glukose zu induzieren. Alle Maßnahmen, die Erbrechen oder Diarrhö fördern, werden als abführendes Verhalten, purging behavior, zusammengefasst.
6.2.2 Assessment der Beeinträchtigung
durch gestörtes Essverhalten Einzelne Verhaltensweisen, die bei Essstörungen auft ftreten, werden auch bei gesunden Männern und Frauen insbesondere in der Adoleszenz beobachtet (z. B. Diäten, induziertes Erbrechen, intensiver Sport zur Gewichtskontrolle). Die Bewertung von Verhaltensweisen als pathologisch kann dabei nicht ausschließlich auf Frequenzen oder Intensitäten gestützt werden. Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sich aus dem spezifischen fi Verhalten eine relevante Beeinträchtigung oder Gefährdung der körperlichen Gesundheit, der psychosozialen Funktionsfähigkeit oder ein erheblicher subjektiver Leidensdruck ergibt.
6.2.3 Operationalisierte Diagnostik Falls der Verdacht einer Essstörung nach den vorangegangenen Schritten fortbesteht, sollte formal überprüft ft werden, ob die Kriterien einer Essstörung nach einem operationalisierten Diagnosesystem wie ICD-10 oder DSM IV erfüllt werden. Hierzu werden Checklisten oder strukturierte Interviews verwendet. Um allen Frauen und Männern, die unter einer Essstörung leiden, adäquate Hilfe zukommen zu lassen, ist es wichtig, auch die diagnostischen Kategorien atypischer oder nicht näher bezeichneter Essstörungen anzuwenden. Versorgungsepidemiologische Studien zeigen, dass die aktuellen DSM- und ICD-Hauptkategorien nur etwa 40‒60 der Patientinnen mit einer klinisch bedeutsamen Essstörung erfassen.
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Kapitel 6 · Diagnostik von Essstörungen
SKID: Strukturiertes Klinisches Interview für DSM IV, Achse I und II SKID ist ein umfassendes und komplexes diagnostisches Interview zur Erfassung und Diagnostik ausgewählter psychischer Syndrome und Störungen, wie sie im Diagnostischen und Statistischen Manual für Psychische Störungen (DSM IV) auf der Achse I (akute psychische Störungen) und Achse II (Persönlichkeitsstörungen) definiert fi werden. Außerdem werden Kodierungsmöglichkeiten für die Achse III (körperliche Störungen), Achse IV (psychosoziale Beeinträchtigung) und Achse V (psychosoziales Funktionsniveau) angeboten. Reliabilität und Effi ffizienz des Interviews sind gut untersucht. Die Durchführungszeit für das SKID I liegt zwischen 80 und 120 Minuten, für das SKID II zwischen 80 und 180 Minuten. Die Anwendung des SKID setzt eine Lektüre der Handanweisung und eine Beachtung der darin enthaltenen Regeln voraus. Der besondere Wert des SKID im Rahmen der Diagnostik von Essstörungen liegt in der systematischen Erfassung der Komorbidität. Die Limitation des Vorgehens besteht darin, dass ausschließlich diagnostisch relevante Symptome erfasst werden. Nach einer Eingangsexploration zu sozialen Daten, Ausbildung und Beruf und zur derzeitigen Problematik werden Screening-Fragen gestellt. Die Fragen mit Bezug zu Essstörungen sind: 5 Kam es schon einmal vor, dass andere Menschen sagten, Sie seien zu dünn? 5 Hatten Sie jemals Essanfälle, bei denen Sie das Gefühl hatten, Ihr Essverhalten nicht mehr kontrollieren zu können? In der Sektion H werden dann die Kriterien von Essstörungen, der Subtypen und des Krankheitsstadiums erfasst: H1‒H10 Anorexia nervosa, H11‒H24 Bulimia nervosa und H24‒H38 Binge-Eating-Störung. Das Vorgehen ist durch Sprungbefehle ökonomisiert.
Internationale Diagnosechecklisten
19 20
Durch die Internationalen Diagnosechecklisten für DSM IV und ICD-10 (IDCL) besteht für die psychiatrisch-psychologische Forschung und Praxis die Möglichkeit, eine standardisierte und ökonomische Befunderhebung nach den neuen Klassifikationssystemen fi DSM IV und ICD-10 durch-
zuführen (zwei Checklistensets: IDCL für ICD10 und IDCL für DSM IV). Insbesondere bereits in standardisierten Interviews (wie dem SKID) erfahrenen Diagnostikern ermöglichen die IDCL ein noch rascheres Vorgehen. Als Störungsbereiche sind psychotische Störungen, affektive ff Störungen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Störungen durch die Einnahme psychotroper Substanzen, Essstörungen und organisch bedingte psychische Störungen berücksichtigt worden, darüber hinaus auch der Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Anhand von 32 Checklisten können damit die häufi figsten und wichtigsten Störungsbilder der Achse I (klinische Syndrome) und der Achse II (Persönlichkeitsstörungen) des DSM IV bzw. der ICD-10 valide und reliabel diagnostiziert werden. Die Test-Retest-Reliabilität ist für alle untersuchten Störungsbereiche (aff ffektive Störungen, Angststörungen, Störungen durch Konsum psychotroper Substanzen) zufriedenstellend bis sehr gut. Jede Checkliste bezieht sich auf eine Diagnose.
Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen Die dritte Revision des strukturierten Inventars für anorektische und bulimische Essstörungen (SIAB) beinhaltet ein Experteninterview (SIAB-EX) und eine Selbsteinschätzung (SIAB-S). Enthalten sind jeweils 87 Fragen, wobei ein Teil der Fragen in mehrere Teilfragen gegliedert ist. Erfasst werden Symptome von Essstörungen und assoziierten Störungen (Depression, Angst), soziale Integration, Sexualität, Ausschlussdiagnosen und Medikation. Folgende Diagnosen können erstellt werden: 5 Anorexia nervosa (AN) nach DSM IV (diffeff renziert nach Purging- und Nicht-PurgingTypus) und nach ICD-10, ff 5 Bulimia nervosa (BN) nach DSM IV (differenziert nach Purging- und Nicht-Purging-Typus) und nach ICD-10, 5 »Nicht näher bezeichnete Essstörung« nach DSM IV einschließlich Binge-Eating-Störung (BES) nach den im Anhang des DSM IV beschriebenen Kriterien und verschiedene zusätzliche Essstörungssyndrome. Anwendbar ist SIAB bei Jugendlichen und Erwachsenen im Alter von 12‒65 Jahren. Die Durchführung erfolgt durch geschulte Experten-Interviewer
33
6.3 Medizinische Diagnostik bei Essstörungen
(SIAB-EX) in 30‒60 Minuten und Selbstauskunft ft (SIAB-S) in ca. 30 Minuten. Die Auswertung erfolgt als Berechnung der Subskalen und Erstellung der Diagnosen nach vorgegebenen Anweisungen. Algorithmen und Formblätter zur Handauswertung liegen vor. Es bestehen Vergleichswerte zu 377 wegen Essstörungen behandelten Männern und Frauen und zu gesunden Frauen sowie Befunde zur konvergenten und diskriminanten Konstruktvalidität, zur Beobachterübereinstimmung (SIAB-EX), internen Konsistenz und zur Übereinstimmung von SIABEX und SIAB-S. SIAB eignet sich besonders für eine diff fferenzierte Diagnostik in Forschung und Praxis. Die Stärke des Verfahrens beruht in einer umfassenden Dokumentation mit Essstörungen assoziierter Symptome.
Eating Disorder Examination Questionnaire – Deutsche Version Das Eating Disorder Examination Questionnaire (EDE-Q) ist die Fragebogenversion des strukturierten Essstörungsinterviews Eating Disorder Examination (EDE) von Fairburn. EDE-Q dient zur Erfassung der spezifi fischen Psychopathologie von Essstörungen bei Erwachsenen und Jugendlichen und wurde entwickelt, indem die obligatorischen Fragen des EDE in eine leicht verständliche Form gebracht wurden. Die vorliegende 5. Version des EDE-Q umfasst insgesamt 28 Items. Analog zu EDE dienen 20 Items der Erfassung der spezifischen fi Essstörungspathologie, weitere sechs der Erfassung diagnostisch relevanter Kernverhaltensweisen. EDE-Q ermöglicht eine Erfassung der spezifischen fi Essstörungspathologie mit den vier Subskalen 1. restraintt (gezügeltes Essen), 2. eating concern (essensbezogene Sorgen), 3. weight concern (gewichtsbezogene Sorgen) und 4. shape concern (fi figurbezogene Sorgen). Die Restraint- und die Eating-concern-Subskala erlauben eine Erfassung von Auff ffälligkeiten im Essverhalten z. B. von gezügeltem Essverhalten oder Schuldgefühlen beim Essen. Die Shape-concern- und die Weight-concern-Subskala beschreiben Korrelate von Figur- oder Gewichtssorgen, z. B. die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Figur und Gewicht. Mit den 22 Items mit Subskalenzuordnung werden störungsspezifische fi Merkmale
6
in ihrer aktuellen Ausprägung während der letzten 28 Tage erfragt. Mithilfe von 7-stufi figen RatingSkalen sind jeweils Häufi figkeiten oder Intensitäten einzuschätzen. 6 weitere Items erheben ‒ ebenfalls für den Zeitraum der letzten 28 Tage ‒ Häufi figkeiten diagnostisch relevanter Kernverhaltensweisen: Essanfälle mit großen Nahrungsmengen oder Kontrollverlust, selbstinduziertes Erbrechen oder Laxanzienmissbrauch oder exzessiver Sport. Verständliche Defi finitionen dieser Verhaltensweisen werden vorgegeben. Die Auswertung erfolgt durch eine Berechnung von Subskalenmittelwerten für die Subskalen restraint, eating concern, weight concern und shape concern. Außerdem ist die Berechnung eines Gesamtmittelwerts möglich. Die Auswertung der Kernverhaltensitems erfolgt i. d. R. auf Einzelitemebene. Der EDE-Q verfügt über gute interne Konsistenzen und Retest-Reliabilität von Subskalen und Gesamtwert. Die konvergente und diskriminative Validität sowie Veränderungssensitivität wurden belegt. Mit einer Durchführungszeit von weniger als 15 Minuten ist der EDE-Q ein ökonomisches Verfahren. Subskalen, Gesamtwert und Kernverhaltensitems differenzieren ff zwischen essgestörten und nichtessgestörten Personen.
6.3
Medizinische Diagnostik bei Essstörungen
Die medizinische Diagnostik dient v. a. der Gefahrenabwehr durch Erkennung von Komplikationen der Essstörung, in selteneren Fällen auch der diffeff renzialdiagnostischen Abklärung.
Anthropometrie bei Essstörung Patientinnen mit Beginn einer Essstörung in der Adoleszenz bleiben häufig fi in ihrem Längenwachstum zurück. Bei einem BMI < 15 kg/m2 bei Erwachsenen sollte eine Krankenhausbehandlung erwogen werden. Ein BMI < 12 kg/m2 stellt bezüglich der Mortalität einen besonderen Gefährdungsfaktor dar.
Herzfrequenz, Blutdruck und Orthostasetest Eine Bradykardie mit einer Herzfrequenz von unter 40 pro Minute, eine Tachykardie mit einer Ruheherzfrequenz von über 110 pro Minute, ein Blut-
34
Kapitel 6 · Diagnostik von Essstörungen
4
druck von unter 90/60 mmHg, ein Abfall des Blutdrucks von mehr als 20 mmHg oder ein Anstieg der Herzfrequenz von mehr als 20 im Orthostasetest sind Gefährdungsindikatoren und sollten dazu veranlassen, die Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu überprüfen. Etwa 43 der Patientinnen mit einer AN haben eine Herzfrequenz von weniger als 60 pro Minute, etwa 17 von weniger als 50 pro Minute.
5
Körpertemperatur
1 2 3
6 7 8 9 10
Bei bis zu 22 der Patientinnen mit AN besteht eine Hypothermie mit weniger als 36,0 °C.
Thorax Bei AN besteht gehäuft ft ein Mitralklappenprolaps.
Abdomen Häufi fig bei allen Formen von Essstörungen sind Veränderungen der gastrointestinalen Motilität. Selten ist ein akutes Abdomen, beispielsweise bei akuter Magendilatation.
Blutbild Bei etwa 34 der anorektischen Patientinnen besteht eine milde Leukopenie, selten fi findet sich eine ausgeprägte Leukopenie. Eine ThromozytoTh penie besteht bei etwa 5. Hämatokrit und mittleres korpuskuläres Volumen (MCV) liegen meist im unteren Referenzbereich.
Elektrolyte Unter intensivem Erbrechen, aber auch bei Wiederernährung können rasche Veränderungen der Elektrolytkonzentrationen auftreten ft . Insbesondere bei Dehydratation kann Kalium im Serum im Referenzbereich liegen, das intrazelluläre Kalium aber erheblich vermindert sein. Etwa 20 der Patientinnen mit Essstörung weisen eine Hypokaliämie auf, etwa 7 eine Hyponatriämie und etwa 6 niedrige Konzentrationen von Kalzium. Hypophosphatämie tritt v. a. bei parenteraler Wiederernährung auf, kann aber auch Folge von hohem Kohlenhydratkonsum nach einer längeren Fastenphase sein. Ähnliche Zusammenhänge gelten auch für Hypomagnesämie.
Gefäßstatus
11 12 13 14 15
Häufi fig bei AN ist eine Akrozyanose.
Mundhöhle, Speicheldrüsen Insbesondere Patientinnen, die erbrechen, haben eine größere Häufi figkeit von Zahnschäden und Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen und Zungengrundspeicheldrüsen. Die Konzentration der Speichelamylase im Serum ist bei Patientinnen mit Essstörung in Abhängigkeit von der bulimischen Symptomatik erhöht.
Hautoberfl fläche
16 17 18 19 20
Trockene Haut, Haarverlust, Akne, Störungen der Hautpigmentierung, Gelbfärbung der Haut bei Hyperkarotinämie, Petechien, neurodermitische Veränderungen, Livedo-Vaskulitis, Intertrigo, generalisierter Juckreiz, Hautinfektionen und Striae distensae werden bei allen Formen von Essstörungen beobachtet. Bei untergewichtigen Patientinnen besteht häufi fig eine typische Lanugo-Behaarung. Patientinnen, die Erbrechen induzieren, können Schwielen am Handrücken der dominanten Hand aufweisen (Russell-Zeichen).
Blutglukose Auch bei ausgeprägter Mangelernährung ist die Blutglukose meist im unteren Referenzbereich. Im Zusammenwirken mit anderen Faktoren wie Infektionskrankheiten oder Intoxikationen können lebensbedrohliche Hypoglykämien auftreten. ft
Niere Aufgrund der verminderten Muskelmasse sind die Konzentrationen von Kreatinin bei AN typischerweise im niedrigen Referenzbereich. Chronische Hypokaliämie, insbesondere bei andauerndem Erbrechen und Laxanzienmissbrauch, kann bei einzelnen Patientinnen mit einer Essstörung zu Nierenversagen durch hypokaliämische Nephropathie führen.
Leber Etwa 12 der Patientinnen weisen erhöhte Konzentrationen von Leberenzymen auf. Eine akute schwere Schädigung der Leber kann bei AN auftreten. ft
6.4 Differenzialdiagnostische ff Überlegungen bei Essstörungen
Nebenniere Die Sekretion des Stresshormons Kortisol ist bei AN regelmäßig und bei anderen Formen von Essstörungen in Einzelfällen gesteigert.
Schilddrüse Bei AN bestehen regelmäßig, bei BN in Einzelfällen verminderte Konzentrationen von Trijodothyronin (»Low-T3-Syndrom«).
Sexualhormone Bei AN finden sich regelmäßig verminderte Konzentrationen von Östradiol, Progesteron und Luteinisierungshormon (LH). Auch die anderen Formen von Essstörungen weisen häufig fi Störungen der Sexualhormonsekretion auf.
Knochendichte Die Knochendichte ist bei AN frühzeitig erheblich vermindert.
Bildgebende Untersuchungen des Gehirns Häufi fige Befunde bei AN und BN sind Erweiterungen der äußeren und inneren Liquorräume.
6.4
Differenzialdiagnostische ff g Überlegungen bei Essstörungen
Die Diagnose einer Essstörung ist nur selten eine Ausschlussdiagnose. AN ist die häufi figste Ursache von ausgeprägtem Untergewicht in der westlichen Gesellschaft ft. Eine Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung von AN mit leichtgradigem Untergewicht zu konstitutionellen Formen von Untergewicht. Frauen mit konstitutionellem Untergewicht sind meist nur grenzwertig untergewichtig. Es fehlen die psychologischen Merkmale einer Essstörung, die endokrinen Funktionen sind unauffälff lig, es besteht insbesondere keine Amenorrhö. Eine schwierige Abgrenzung besteht zwischen BES und nicht durch eine Essstörung bedingtem Übergewicht. Hier ist zu beachten, dass die häufi figste Ursache von Übergewicht Bewegungsmangel ist und die nichtessgestörten Übergewichtigen nur Formen von Überernährung aufweisen, die nicht als Essanfälle klassifiziert fi werden können. Neurologische oder endokrinologische Erkrankungen, welche die
35
6
körperlichen und psychologischen Merkmale einer bulimischen Essstörung imitieren, sind selten. ff Bei untergewichtigen Patientinnen sind differenzialdiagnostisch zu erwägen: 5 Tumorerkrankungen (Gehirn, Magen, Pankreas, Lunge, Lymphome, Leukämie), 5 endokrinologische Erkrankungen (Diabetes, Hyperthyreose, Nebenniereninsuffizienz), ffi 5 gastrointestinale Erkrankungen (Sprue, zystische Fibrose, Ösophagusstenose, chronische Okklusion der Arteria mesenterica superior, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa), 5 infektiöse Erkrankungen (Tuberkulose, Parasitosen, systemische Pilzerkrankungen, HIV), 5 psychiatrische Erkrankungen (Depression, Angst- und Zwangsstörungen, somatoforme Störungen, Schizophrenie), 5 Drogen und Substanzmissbrauch (Polytoxikomanie, Heroin, Amphetamine). fferenzialdiBei Patientinnen mit Erbrechen sind diff agnostisch zu erwägen: 5 Tumorerkrankungen des Gehirns (insbesondere hypothalamische Tumore), 5 endokrinologische Erkrankungen (Diabetes, Schwangerschaftserbrechen), ft 5 gastrointestinale Erkrankungen (Magen- oder Duodenalulzera, chronische Pankreatitis, intestinale Parasitosen, Bindegewebsstörungen mit Beteiligung des Gastrointestinaltrakts wie Sklerodermie). Aus den genannten Erkrankungen ergibt sich allerdings nur selten ein ähnliches zeitliches Verhaltensmuster von Erbrechen wie bei einer typischen Essstörung. ff Bei Patientinnen mit Übergewicht sind differenzialdiagnostisch zu erwägen: 5 Bewegungsmangel – sitzender Lebensstil, eine große Zahl von Stunden vor einem Bildschirm ‒, ungünstige Nahrungszusammensetzung, 5 schlechte Nahrungsqualität (»Junk-Food«, zuckerhaltige Getränke, fettreiche Ernährung), 5 Konsum von Alkohol, Cannabis oder anderen appetitsteigernden Substanzen, 5 endokrine Erkrankungen (Cushing-Syndrom, Hypothyreoidismus, Insulinome),
36
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Diagnostik von Essstörungen
5 neurologische Störungen (Schädigung des medialen Hypothalamus, Kraniopharyngeom), 5 genetische Syndrome.
Literatur Fairburn CG, Cooper Z, Bohn K, O‘Connor ME, Doll HA, Palmer RL (2007) The severity and status of eating disorder NOS: implications for DSM-V. Behav Res Ther, 45: 1705-1715 Fichter M, Quadfl flieg N (1999) Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen nach ICD-10 (SIAB). Hogrefe, Göttingen Hebebrand J, Himmelmann GW, Wewetzer C et al (1996) Body weight in acute anorexia nervosa and at follow-up assessed with percentiles for the body mass index: implications of a low body weight at referral. Int J Eat Disord 19: 347-357 Hilbert A, Tuschen-Caffi ffier B (2006) Eating disorder examination - Questionnaire. Verlag für Psychotherapie, Münster Hiller W, Zaudig M, Mombour W (1997) IDCL - Internationale Diagnosen Checklisten für ICD-10 und DSM-IV. Huber, Bern Morgan JF, Reid F, Lacey JH (1999) The SCOFF questionnaire: assessment of a new screening tool for eating disorders. BMJ 319: 1467-1468 Pudel V, Westenhöfer J (1989) Fragebogen zum Essverhalten (FEV), 1. Aufl. fl Hogrefe, Göttingen Thiel A, Jacobi C, Horstmann S, Paul T, Nutzinger DO, Schüßler G (1997) Eine deutschsprachige Version des Eating Disorder Inventory EDI 2. Psychother Psychosom med Psychol 47: 365-376 Wittchen HU, Zaudig M, Fydrich T (1997) Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV (SKID). Hogrefe, Göttingen
37
Epidemiologie, Ätiologie und Verlauf der Essstörungen 7
Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen – 38
8
Verlauf und Prognose der Anorexia nervosa – 44
9
Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung – 48
10
Verhaltenstherapeutische Modellvorstellungen
11
Psychodynamische Modellvorstellungen
12
Genetische Aspekte der Essstörungen – 62
13
Psychosoziale Risikofaktoren
14
Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen – 75
15
Körperbildstörungen – 83
16
Essstörungen bei Männern
17
Essstörungen und Leistungssport
– 59
– 67
– 87 – 93
– 54
7
7
2
Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen
3
Manfred M. Fichter
4
7.1
Epidemiologische Grundbegriffe ff
5
7.2
Prävalenz
7.3
Inzidenz – 41
7.1
Epidemiologische Grundbegriffe ff
1
6
– 38
– 39
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Epidemiologie befasst sich mit der Verteilung von Krankheiten in Raum und Zeit und mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen. fl Im Folgenden werden einige wichtige Begriffe ff der Epidemiologie definiert fi und erläutert. Häufi fig interessiert sich die Epidemiologie für Häufi figkeit und Verteilung bestimmter Erkrankungen in kompletten Populationen (z. B. Bevölkerung). Da aber Kompletterhebungen in großen Populationen sehr aufwändig sind, wird häufi fig eine (oder mehrere) Stichprobe(n) gezogen, die für die zugrundeliegende Population repräsentativ sein soll. Ist die Stichprobe repräsentativ, können die ermittelten Ergebnisse auf die Population verallgemeinert werden. Um eine bestimmte Erkrankung in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu erfassen, ist es erforderlich, dass die Erkrankung genügend eindeutig definiert fi ist und dass Messinstrumente vorliegen, die diese Erkrankung reliabel und valide erfassen können. Bei einer leicht untergewichtigen Magersüchtigen, die auch auf Nachfragen ihre Erkrankung verleugnet, kann die Fallidentifikation fi schwierig werden. Weitere wichtige Begriffe ff der Epidemiologie sind Prävalenz, Inzidenz und Mortalitätsraten. Unter Prävalenz wird die Gesamtzahl der Fälle in der Bevölkerung verstanden (meist in Prozentsatz ausgedrückt). Je nach der Zeitstrecke, auf die sich die Prävalenz bezieht, spricht man von Punktprävalenz (bezogen auf einen bestimmten Zeitquer-
schnitt, z. B. heute) oder von Streckenprävalenz (bezogen auf eine Zeitstrecke, z. B. ein Jahr). So entspricht die Einjahresprävalenz der Anzahl der Fälle, die im Laufe eines Jahres aufgetreten sind. Die Lebenszeitprävalenz entspricht der Anzahl der Fälle, die im Laufe einer gesamten Lebensspanne auftreten. Da in die Prävalenzrate die Gesamtzahl der Erkrankungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder einer bestimmten Zeitstrecke eingeht, ist sie wichtig für Planungen in der Versorgung. ! Die Angabe einer Prävalenzrate macht nur Sinn in Bezug auf einen Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder eine Zeitstrecke (12-Monats-Prävalenz, Lifetime-Prävalenz).
Ein weiterer wichtiger Begriff ff ist die Inzidenzrate (Neuerkrankungsrate). Dieses ist die Anzahl der in einer definierten fi Zeitstrecke neu auft ftretenden Fälle einer bestimmten Erkrankung in der Bevölkerung. Eine übliche Einheit für die Inzidenz ist die Anzahl der Neuerkrankungen pro 100.000 Personen in der Bevölkerung pro Jahr. Die Einjahresprävalenz entspricht der Punktprävalenz zuzüglich der jährlichen Inzidenzrate. In manchen Fällen können aus der Inzidenzrate Rückschlüsse auf die Ätiologie einer Erkrankung gemacht werden. Hinsichtlich der Mortalität unterscheidet man eine crude mortality rate (CMR) und eine standardized mortality rate (SMR). CMR wird meist ausgedrückt als Prozentzahl der in einer Stichprobe verstorbenen Personen. Die standardisierte Mortalitätsrate ist die Anzahl der beobachteten Todesfäl-
39
7.2 Prävalenz
le bei Personen mit einer bestimmten Erkrankung im Vergleich zur erwarteten Todesrate in der Vergleichspopulation. Bei einem Th Thema wie Essstörungen interessiert auch die Veränderung der Prävalenz und Inzidenz und Mortalität über die Zeit. Nehmen diese Erkrankungen ab oder zu, werden die Mortalitätsraten geringer durch verbesserte Therapiemöglichkeiten? Bei der Verwendung von Prävalenzund Inzidenzzahlen aus anderen Jahrzehnten ist zu beachten, dass diese i. d. R. mit anderen Erhebungsinstrumenten und anderen diagnostischen Konzepten erfasst wurden, sodass die Zahlen oft ft nicht direkt vergleichbar sind. Nachdem Bulimia nervosa erstmals 1979 beschrieben wurde, gibt es keine epidemiologischen Studien vor dieser Zeit zu dieser Erkrankung, was nicht heißen muss, dass sie vorher
7
nicht oder nur in geringfügigem Maße bestand. Die Frage kann praktisch nicht beantwortet werden. Es gibt verschiedene Methoden, an eine möglichst repräsentative Stichprobe zu kommen (. Übersicht: Methoden zur Erhebung einer repräsentativen Stichprobe). In einigen dieser repräsentativen Bevölkerungsstichproben werden alle Personen der Stichprobe untersucht. Alternativ wird auch ein zweistufi figes Verfahren verwendet, z. B. dass in Bevölkerungsstichproben oder in Schulstichproben in der ersten Stufe ein Screening erfolgt, z. B. Erhebung von Gewicht und Größe und Ausfüllen eines hinsichtlich Essstörungen screenenden Fragebogens. In der zweiten Stufe werden dann jene Personen mit Gewichtsauff ffälligkeiten bzw. Fragebogenergebnissen oberhalb eines Cut-off ff im Screening persönlich nachuntersucht.
Methoden zur Erhebung einer repräsentativen Stichprobe 1. Unter der Annahme, dass alle Erkrankten irgendwann einen Arzt oder eine Klinik aufsuchen (was bei Essstörungen nicht wirklich gegeben ist), wurden verschiedenenorts Fallregister aufgebaut, die über viele Jahrzehnte geführt wurden. Aufgrund der Statistiken des Fallregisters können dann Angaben zu Prävalenz und Inzidenz defi finierter Erkrankungen gemacht werden. 2. In manchen Ländern, wie z. B. England, ist weitgehend jeder Bürger einem general practitionerr (GP) zugeteilt, und das Register des GP oder mehrerer zusammengelegter GP-Register wird für Berechnungen der Prävalenzund Inzidenzrate zugrundegelegt.
7.2
Prävalenz
Einen Überblick über ausgewählte wichtige Studien zur Prävalenz von Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN), Binge-Eating-Störung (BES) und nicht näher bezeichneten Essstörungen (EDNOS) gibt . Tab. 7.1. Die Prävalenzzahlen von Frauen lie-
3. In manchen Institutionen, z. B. Schule, College, sind die meisten Personen bestimmter Altersstufen zusammengefasst, sodass Kompletterhebungen einer oder mehrerer Schulen Aussagen über die Grundgesamtheit (Population) dieser Altersstufe machen können. Eine Gymnasiumsklasse wäre aber für die Grundgesamtheit nicht repräsentativ, weil die meisten Schüler der Altersgruppe nicht in ein Gymnasium gehen. Außerdem können (kranke) Schüler zum Untersuchungszeitpunkt fehlen und damit die Ergebnisse verfälschen. 4. Der wohl sauberste Weg ist es, eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe aus dem Gemeinderegister zu ziehen, was in skandinavischen Ländern und Deutschland aufgrund der Meldepflicht fl möglich ist, wenn öff ffentliches Interesse für eine Studie nachweisbar ist.
gen für Essstörungen erheblich höher als bei Männern. Der Anteil der Männer, der wegen Magersucht in Behandlung kommt, ist noch geringer, als es nach den bevölkerungsepidemiologischen Zahlen zu erwarten wäre. Essgestörte Männer suchen nicht so schnell eine Therapie deswegen auf. Wegen unterschiedlicher Stichprobengewinnung und
40
Kapitel 7 · Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen
1
. Tab. 7.1. Prävalenz von Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung bei jungen Frauen. (© M. M. Fichter)
2
Autoren
Personen
Methode
Prävalenz
Quelle
Alter (Jahre)
N
Screening
Kriterien
Gesamt
Männer
Frauen
3
Anorexia nervosa
4
Råstam et al. (1989)
Schülerinnen
15
2136
Growth Tab. + Fragebogen
DSM III DSM III-R
– –
0,09 0,00
0,47 0,23
Wittchen et al. (1998)
Bevölkerungsstichprobe (BRD)
14–24
1528
M-CIDI
DSM IV
0,10b 0,60c
0,00b 0,10c
0,30b 1,00c
Fichter et al. (2005)
Schülerinnen (Griechenland)
13–19
2920
ANIS/ SIAB-EX
DSM IV
0,30a
0,00a
0,59a
Machado et al. (2007)
Schülerinnen (Portugal)
12–23
2028
EDE-S
DSM IV
–
–
0,39
Hudson et al. (2007)
Bevölkerungsstichprobe (USA)
> 18
2980
WHO-CIDI
DSM IV
0,00b 0,60c
0,00b 0,30c
0,00b 0,90c
Keski-Rahkonen et al. (2007)
Zwillingskohorte (Finnland)
25
2881
EDI/ Kurz-SKID
DSM IV
–
–
2,20c
Garfinkel fi et al. (1995)
Bevölkerungsstichprobe (Ontario)
15–65
8116
WHO-CIDI
DSM III-R
–
0,10c
1,10c
Wittchen et al. (1998)
Bevölkerungsstichprobe (BRD)
14–24 14–24
1528 1493
M-CIDI
DSM IV
0,30b 0,90c
0,00b 0,00c
0,70b 1,70c
Fichter et al. (2005)
Schülerinnen (Griechenland)
13–19
2920
ANIS/GHQ
(DSM IV)
0,93a
0,68a
1,18a
Hudson et al. (2007)
Bevölkerungsstichprobe (USA)
> 18
2980
WHO-CIDI
DSM IV
0,30b
0,10b
0,50b
DSM IV
1,20b 2,80c
0,80b 2,00c
1,60b 3,50c
5 6 7 8 9 10 11
Bulimia nervosa
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Binge-Eating-Störung Hudson et al. (2007)
2980
Bevölkerungsstichprobe (USA)
Nicht näher bezeichnete Essstörungen (DSM IV) Fichter et al. (2005)
Schülerinnen (Griechenland)
13–19
2980
ANIS/GHQ
DSM IV
8,30
2,71
13,55
Machado et al. (2007)
Schülerinnen (Portugal)
12–23
2028
EDE-S
DSM IV
–
–
2,40
EAT Eating Attitudes Test, t EDE-S Eating Disorders Examination (Self-Rating), ANIS Anorexia Nervosa Inventory Scale, BCDS Bulimic Cognitive Distortions Scale, DIS Diagnostic Interview Schedule, CIDI Composite International Diagnostic Interview a Punktprävalenz; b 12-Monats-Prävalenz; c Lifetime-Prävalenz
7.3 Inzidenz
unterschiedlicher Erhebungsinstrumente sind die Zahlen nicht unmittelbar direkt vergleichbar. Die Punktprävalenz von Anorexia nervosa liegt für Frauen im Risikoalter zwischen 15–35 Jahren bei ca. 0,4. Lediglich die an einer finnischen fi Zwillingskohorte gewonnenen Lebenszeitprävalenzraten von Keski-Rahkonen et al. (2007) kommen zu einer deutlich höheren Zahl. ft die Punktprävalenz Für Bulimia nervosa dürfte etwa bei knapp 1 liegen (die Lebenszeitprävalenz entsprechend höher bei ca. 1,5). Die BES wird nach den DSM IV-TR-Kriterien im weiten Sinne als eine nicht näher bezeichnete Essstörung definiert, fi in einem engeren Sinne gemäß DSM IV-Appendix als Binge-Eating-Störung. Die Einjahresprävalenz der BES liegt nach den wenigen vorliegenden Ergebnissen für Frauen bei 1,6. Sie ist bei Männern (0,8) immer noch seltener als bei Frauen, aber deutlich häufi figer als die anderen genannten Essstörungen. Die wohl größte Essstörungsgruppe ist die Restgruppe der nicht näher bezeichneten Essstörungen (EDNOS). Nachdem diese am wenigsten definiert fi ist, schwanken die Prävalenzraten hier erheblich. Bei behandelten Essstörungen macht der Anteil an Patientinnen, die die Kriterien für Magersucht, BN und BES nicht erfüllen, mehr als 50 aus. Es besteht Handlungsbedarf, die große Restgruppe der nicht näher bezeichneten Essstörungen diagnostisch genauer zu untersuchen und sinnvoll zu untergliedern.
7.3
Inzidenz
Ausgewählte Ergebnisse von Inzidenzstudien zu Magersucht und BN sind in . Tab. 7.2 dargestellt. Die Stichproben wurden in Krankenhausarchiven, Fallregistern und in der britischen Studie von Currin et al. (2005) dem Patientenregister von Hausärzten gewonnen. Die Inzidenzraten sind durchweg für Fälle pro Jahr pro 100.000 Personen in der Bevölkerung dargestellt. Je höher diese Zahl, desto größer die Neuerkrankungssrate für AN bzw. BN. Die Daten von Theander (1970, 1985) reichen für AN bis 1931 zurück. Für die Zeit von 1931‒1960 zeigt sich eine klare Zunahme der behandelten Fälle (Frauen mit Anorexia nervosa in Südschweden). Ein ähnlicher Trend zeigt sich auch für die 1960er Jahre im Vergleich zu den 1970er Jahren in dem Monroe-
41
7
County-Fallregister in den USA von Jones et al. (1980) (mit Angaben auch für Männer) sowie die Züricher Studie (Milos et al. 2004). Im dänischen Fallregister von Møller-Madsen und Nystrup (1992) war die Inzidenzrate 1970 noch niedrig, 1980 und 1989 jedoch deutlich höher. Für die Züricher Studie (Milos et al. 2004) betrug in den Jahren 1956‒1958 die Inzidenzrate für 100.000 Personen-Jahre für Frauen im Alter von 12–25 Jahren 4,0. Sie stieg in den Folgejahren für die Zeitperiode 1973‒1978 auf 16,5 an und zeigte in den folgenden Jahren bis 1995 nur noch eine geringfügige Erhöhung auf 19,7 pro 100.000 Personen-Jahre. Entsprechende Inzidenzraten in England, veröffentlicht ff von Currin et al. (2005), lagen für die Jahre 1998‒2000 knapp über 20,0 pro 100.000 Personen-Jahre. Auch die Studie von Lucas et al. (1999) in Rochester/USA zeigt von 1950‒1989 eine schrittweise Zunahme der Inzidenzrate für Magersucht. Die nichtplausiblen Werte für 1935‒1949 sind möglicherweise durch methodische Artefakte bedingt. Die jüngst veröffentlichff te Arbeit von Keski-Rahkonen et al. (2007) kommt auf sehr viel höhere Werte für die Inzidenzrate für AN. Möglicherweise hängen diese hohen Inzidenzraten damit zusammen, dass sie eine Zwillingskohorte untersuchte. Durch Schwierigkeiten in der Individuation könnte bei eineiigen Zwillingen das Risiko, an einer Magersucht zu erkranken, erhöht sein. Sehr wenige Daten gibt es zur Inzidenz von Bulimia nervosa. Currin et al. (2005) berichteten für Frauen über eine Inzidenzrate für Magersucht von 12,4 pro 100.000 Personen-Jahre. Inzidenzraten für die BES und nicht näher bezeichnete Essstörung liegen nicht vor. Essstörungen in Entwicklungsländern: Aus Japan, Hongkong und Singapur liegen Ergebnisse vor, dass auch in den östlichen industrialisierten Regionen Essstörungen vergleichbar häufig fi wie in westlichen Industrienationen vorkommen. Deutlich anders ist es in Entwicklungsländern und sich entwickelnden Ländern wie Marokko, Iran, Malaysia, den Fidschi-Inseln und Mexiko, wo die Häufi figkeit von Essstörungen deutlich niedriger ist. Essstörungen bei speziellen Risikogruppen: Nach mehreren Untersuchungen leiden schwarze Frauen, die in den USA leben, obwohl sie von Seiten der Medien ähnlichem Schlankheitsdruck ausgesetzt scheinen wie weiße Frauen, extrem selten unter AN
42
Kapitel 7 · Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen
1
. Tab. 7.2. Inzidenz von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa im Jahr pro 100.000 Bevölkerung. (© M. M. Fichter)a
2
Autoren
3
Anorexia nervosa
Region
Quelle
Zeitperiode (Jahr)
Altersgruppe
Gesamt
Männer
Frauen
Theander (1970)
Südschweden
Krankenhausarchiv
1931–1940 1941–1950 1951–1960 1931–1960
Alle Alle Alle Alle
– – – –
– – – –
0,10 0,20 0,45 0,24
Jones et al. (1980)
Monroe County (USA)
Fallregister + Krankenhausarchiv
1960–1969 1970–1976
Alle Alle
0,35 0,64
0,20 0,09
0,49 1,16
Martz et al. (2001) Milos et al. (2004)
Zürich (CH)
Krankenhausarchiv
1963–1965
12–25 J.
0,55
6,76
1973–1975 1983–1985 1993–1995
12–25 J. 12–25 J. 12–25 J.
1,12 1,43 1,17
16,75 16,44 19,72
Møller-Madsen u. Nystrup (1992)
Dänemark
Fallregister
1970 1980 1989
15–24 J. 15–24 J. 15–24 J.
0,42 1,36 1,17
3,37 11,96 8,97
Currin et al. (2005)
England, Wales
Hausarzt (GP)
2000
Alle
4,70
0,70
8,60
Finnland
Zwillingsregister
Geb. 1975– 1979
–
–
270,00
12
Keski-Rahkonen et al. (2007)
13
Lucas et al. (1999)
Rochester, MN
Krankenhausarchiv
1935–1949 1950–1959 1960–1969 1970–1979 1980–1989 (1935–1989)
Alle Alle Alle Alle Alle Alle
9,10 4,30 7,00 7,90 12,00 8,30
3,40 0,80 1,20 1,40 1,20 1,50
15,00 7,60 12,80 14,50 22,90 15,00
Hausarzt (GP)
2000
Alle
6,60
0,70
12,40
4 5 6 7 8 9 10 11
14 15
Bulimia nervosa
16
Currin et al. (2005) a
England, Wales
Kumulierte Lifetime-Inzidenz
17 18 19 20
und seltener als weiße Frauen unter BN. Dagegen sind die BES und andere Formen von Heißhungerattacken bei schwarzen und weißen Frauen gleich weit verbreitet (Striegel-Moore et al. 2003). Risikopersonen sind hier jugendliche Mädchen und junge weiße Frauen in westlichen Industrieländern, die in ihrer Kindheit überangepasst waren und kein positives Selbstwertgefühl entwickeln konnten. Sie sind deshalb empfänglich für gesellschaftliche ft Normen
und geben dem Druck nach Schlankheit eher nach. Sie machen Diäten, versuchen auf andere Weise abzunehmen und können schließlich eine Essstörung entwickeln. Große Zwillingskohortenstudien in Finnland (s. oben), Schweden und Australien zeigten alle erheblich höhere Prävalenzzahlen, als es in Untersuchungen an Bevölkerungsstichproben oder Schulpopulationen der Fall war. Vieles deutet darauf, dass insbesondere eineiige Zwillinge ein
7.3 Inzidenz
erhöhtes Risiko haben, an AN zu erkranken, und dies nicht nur aus genetischen, sondern auch aus Gründen der Individuation und Selbstfindung. fi ! Es gibt Risikogruppen, die eine erhöhte Prävalenz von anorektischen bzw. bulimischen Erkrankungen aufweisen.
Es gibt spezielle Gruppen, für die aufgezeigt wurde, dass sie darüber hinausgehend ein besonders hohes Erkrankungsrisiko haben. Menschen, die exzessiv Sport oder gar Leistungssport treiben, und Menschen, die klassisches Ballett tanzen, haben vermutlich durch den größeren Fokus auf ihren Körper ein erhöhtes Risiko, an AN zu erkranken (Übersicht bei Sundgot-Borgen et al. 2003). Der Sport bzw. das Balletttanzen erfordert ein hohes Maß an körperlicher Fitness und Schlankheit und Körperkontrolle. Jockeys haben ein erhöhtes Risiko, da sie leicht bleiben wollen und nicht selten im Jugendalter bereits fasteten, um weitere Größen- und Gewichtszunahme zu verhindern. Ringer und Boxer werden in Gewichtsklassen eingeteilt und versuchen vor Wettkämpfen nicht selten, sich auf eine tiefere Gewichtsklasse herunterzuhungern, was erhöhte Essstörungsraten nach sich zieht.
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43
7
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8 1
Verlauf und Prognose der Anorexia nervosa
2
Stephan Zipfel, Bernd Löwe und Wolfgang Herzog
3
8.1
Ergebnisse der Verlaufsforschung
4
8.2
Mortalität – 46
5
8.3
Prognostische Indikatoren für einen Rückfall und schlechten Verlauf – 46
– 44
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Anorexia nervosa (AN) hat seit den frühen Kasuistiken von Richard Morton und den folgenden detaillierten Erstbeschreibungen in den Jahren 1873/74 durch den damals berühmten britischen Arzt Sir William Gull und den nicht weniger bekannten Franzosen Charles Laségue nichts von ihrer Faszination verloren. Allerdings waren sich bereits die beiden Erstbeschreiber uneinig in der Einschätzung des Verlaufs. Der Brite Gull schilderte den Verlauf für das Gros der Patienten eher optimistisch. Laségue hingegen vertrat schon damals die Meinung, dass, falls das Krankheitsbild bereits mehrere Wochen andauere, der Verlauf häufig chronisch ende. Auch heute noch ergibt sich ein zum Teil heterogenes Bild bei der Bewertung und Einschätzung des Verlaufs der AN. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die bisherigen Arbeiten über den Langzeitverlauf bei der AN häufige fi gemeinsame methodische Schwächen aufzeigen. Diese Kritikpunkte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 5 eine Verzerrung aufgrund der Vorauswahl der Stichprobe, 5 die Anwendung nichtstandardisierter diagnostischer Kriterien, 5 ein Mangel an expliziten Outcome-Kriterien, 5 ein ungenügendes Forschungsdesign oder retrospektive Arbeiten, 5 eine hohe Ablehnungsrate, 5 indirekte Nachuntersuchungsmethoden, 5 ein Mangel an ausreichender Information zwischen den Messzeitpunkten, 5 eine fehlende Berücksichtigung der bisherigen therapeutischen Interventionen.
8.1
Ergebnisse der Verlaufsforschung
In den vergangenen 100 Jahren wurden mehr als 300 Studien zum mittel- und langfristigen Verlauf der AN durchgeführt. Diese reichen von kasuistischen Einzelfallbeschreibungen bis hin zu multizentrischen Studien. Gemeinsames Charakteristikum aller Untersuchungen bei Patienten mit einer AN ist das weite Erkrankungsspektrum im Langzeitverlauf. Steinhausen (2002) fasste 119 Studien zum Verlauf der AN aus der zweiten Hälfte ft des 20. Jahrhunderts zusammen. Diese umfassten immerhin 5590 Patienten. Nur eine einzige Studie erfasste ausschließlich den Verlauf männlicher anorektischer Patienten, sonst war das Gros der Patienten, wie zu erwarten, weiblich. In dieser Übersichtsarbeit wurden die AN-Patientinnen in zwei Gruppen unterteilt: eine Gruppe war bei Erkrankungsbeginn jünger als 17 Jahre, die zweite Gruppe umfasste eine Mischgruppe aus jüngeren und älteren AN-Patientinnen. Die Katamnesedauer reichte von weniger als einem Jahr bis zu einem Maximum von 29 Jahren. Generell bemängelte der Autor das Fehlen von Kontrollbedingungen und eine ungenügende Beschreibung der therapeutischen Interventionen. Bei den überlebenden ANPatientinnen wurde der Verlauf zumeist in die folgenden drei Kategorien eingeteilt: 1. globale Einschätzung, 2. Normalisierung der Kernsymptomatik der Essstörung, 3. psychische Komorbidität.
45
8.1 Ergebnisse der Verlaufsforschung
3. Dauer der Verlaufsuntersuchung, 4. Zeitspanne, aus der die Untersuchung stammte.
5
20,8
Für die Kernsymptomatik der AN zeigte sich ein etwas günstigeres Bild mit einer Gewichtsnormalisierung bei 59,6 der AN-Patientinnen, im Mittel kam es bei 57 wieder zu einer regulären Menstruation, und 46,8 der AN-Patientinnen zeigten eine Normalisierung des Essverhaltens. Generell hatte die Gruppe der Ersterkrankten vor dem 17. Lebensjahr einen besseren Verlauf als die im Mittel ältere Vergleichsgruppe. Dieser Gruppeneffekt war in allen Verlaufskategorien nachweisbar. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass ein bereits präpubertärer Beginn der AN mit einem sehr schlechten Verlauf assoziiert ist. Wie . Abb. 8.2 zeigt, litten ungefähr ein Viertel der AN-Patientinnen auch im Krankheitsverlauf unter affektiven ff Störungen und Angststörungen. Zwangsstörungen und Substanzabusus traten auch häufig fi als weitere psychische komorbide Störungen im Verlauf auf. Addiert man alle Formen von Persönlichkeitsstörungen, eingeschätzt nach DSM III, ergibt sich in über 60 der nachuntersuchten
46,9 33,5
. Abb. 8.1. Langzeitverlauf der Anorexia nervosa. Die Prozentsätze beziehen sich auf unterschiedliche Stichprobengrößen; schwarzz Mortalität, weiß Genesung, hellgrau Besserung, dunkelgrau chronischer Verlauf. (Daten aus Steinhausen 2002)
Bezogen auf den Gesamt-Outcome ergab sich die in . Abb. 8.1 dargestelle Verteilung: Eine vergleichsweise große Anzahl an Studien setzten die Morgan-und-Russell-Kriterien ein, allerdings kamen z. T. auch andere Outcome-Parameter zum Einsatz. Aufgrund der heterogenen Stichprobengrößen bei den einzelnen Parametern summieren sich die Einzelprozentsätze nicht auf 100 auf. Die folgenden Parameter hatten einen Einfl fluss auf das Gesamtergebnis: 1. Dropout-Rate, 2. Alter bei Ersterkrankung,
70 60 50 40 30 20 10
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8
. Abb. 8.2. Psychische Komorbidität im Verlauf der Anorexia nervosa. Die Prozentsätze beziehen sich auf unterschiedliche Stichprobengrößen. (Daten aus Steinhausen 2002)
46
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 8 · Verlauf und Prognose der Anorexia nervosa
AN-Patientinnen ebenfalls eine hohe psychische Komorbidität mit begleitenden Persönlichkeitsstörungen. Steinhausen (2002) betont außerdem, dass es zu einer großen Überlappung von Essstörungspathologie und psychischer Komorbidität im Verlauf der Erkrankung kommt. Diese Untersuchung gibt allerdings keinen Hinweis auf die Richtung der Wechselbeziehung beider Faktoren. Die Ergebnisse der großen deutschen Multicenterstudie Essstörungen ergaben bei einer Nachuntersuchungsdauer von 2,5 Jahren für die AN eine vollständige Heilungsrate von 33. Fichter und Quadflieg (1999) kamen in ihrer 6-Jahres-Nachuntersuchung anorektischer Frauen auf 55,4 vollständig geheilter Patientinnen. Eine eigene Langzeitstudie mit einem Katamneseintervall von 21 Jahren ergab bei etwas mehr als 50 eine dauerhafte ft Genesung. Jeweils etwa ein weiteres Viertel der Gesamtgruppe nahm einen intermediären oder schlechten Verlauf. Allerdings konnten die Arbeitsgruppen von Herzog et al. (1997) sowie auch Strober et al. (1997) für deutsche und US-amerikanische Patientengruppen unabhängig voneinander nachweisen, dass bis zur ersten vollständigen Remission im Mittel 5‒6 Jahre vergehen.
Normalbevölkerung bedeutet das eine um den Faktor 10 erhöhte standardisierte Mortalitätsrate. Häufigste Todesursachen sind Infektionen mit letal verlaufender Sepsis, Elektrolytentgleisungen mit konsekutivem Herz-Kreislauf-Versagen sowie Suizid. Eine aktuelle Untersuchung aus Schweden konnte eine deutlich reduzierte Mortalität von zwei schwedischen Kohorten adoleszenter AN-Patientinnen der Jahrgänge 1968‒1977 und 1987‒1991 nachweisen. Die Autoren kommen zum Schluss, dass das relative Risiko zu versterben in der älteren Gruppe 3,7mal höher war als in der zeitlich jünger zurückliegenden Kohorte. Dies, obwohl die generelle Mortalität bei Menschen mit psychischen Erkrankungen in Schweden über die beiden Erhebungszeiträume gleich geblieben ist. Die Autoren folgern daraus, dass die deutliche Abnahme der Mortalität wohl das Ergebnis einer in der Zwischenzeit implementierten spezialisierten Behandlung sei.
! Die Datenlage zum Langzeitverlauf der AN lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Als gute Nachricht lässt sich vermelden, dass bei ca. der Hälfte der Patienten eine vollständige Genesung eintritt. Die schlechte Nachricht lautet allerdings, dass es bei der anderen Hälfte der Fälle zu einem chronischen Verlauf mit z. T. erheblicher Morbidität und Mortalität kommt.
8.3
Mortalität
16
8.2
17
In der oben zitierten Studie von Steinhausen (2002) verstarben insgesamt 5 der Patientinnen an den Folgen der AN. In der diff fferenzierten Auswertung zeigte sich allerdings, dass die Mortalität in den Studien mit einer Katamnesedauer von mehr als 10 Jahren auf 9,4 anstieg. In der eigenen 21-Jahres-Katamnese verstarben 16,7 der Patientinnen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren an den direkten Folgen der Magersucht. Auch im internationalen Vergleich liegen die Mortalitätsraten bei der AN zwischen 0,5‒1 pro Erkrankungsjahr. Umgerechnet auf die
18 19 20
! Anorexiepatientinnen weisen gemeinsam mit der Gruppe der Suchterkrankten die höchste Mortalitätsrate bei psychischen Erkrankungen auf.
Prognostische Indikatoren für einen Rückfall und schlechten Verlauf
Obwohl bei den meisten Patientinnen in intensivierter Behandlung eine ausreichende Gewichtsrestitution erreicht werden kann, verweisen Untersuchungen auf Rückfallraten von bis zu 42. Basierend auf unterschiedlichen Defi finitionen für einen Rückfall und eine variable Länge des Beobachtungsintervalls ergaben bisherige Studien, dass die höchste Rückfallgefahr während des ersten Jahres nach stationärer Behandlung nachzuweisen ist. Über alle bisherigen Studien gemittelt, lag die Rückfallrate bei ca. 30. Deter und Herzog (1994) berichten, dass eine kürzere Erkrankungsdauer, jüngeres Alter und eine geringere Ausprägung des Purging-Verhaltens mit einer niedrigeren Rückfallrate einhergeht. Strober und Mitarbeiter (1997) identifizierten fi anorektische Patientinnen mit Drang zu exzessivem Sport- und Bewegungsverhalten als Risikogruppe für einen Rückfall. In der Stichprobe anorektischer Patientinnen von Carter waren außer-
8.3 Prognostische Indikatoren für einen Rückfall und schlechten Verlauf
dem AN-Patientinnen mit einer Geschichte eines zurückliegenden Suizidversuchs, bereits häufigeren fi spezialisierten Behandlungen der Essstörung sowie einer vermehrten Zwangssymptomatik mit einem erhöhten Risiko für einen Rückfall behaftet ft (Carter et al. 2004). ! Bis zu 30% der AN-Patientinnen erleiden einen Rückfall im ersten Jahr nach stationärer Behandlung.
Ein Schwerpunkt von Katamneseuntersuchungen dreht sich um die Frage, inwieweit sich einzelne Risikogruppen oder Risikopatienten frühzeitig identifi fizieren lassen. Trotz der Problematik einer multifaktoriellen und komplexen Genese der AN konnten bereits einzelne Verlaufsprädiktoren identifi fiziert werden: Als Prädiktoren für einen schlechten Verlauf erwies sich ein niedriges Gewicht vor TherapieTh beginn (besonders ein BMI < 13) und bei TheraTh pieende (BMI < 15,5). Ebenfalls prädiktiv für einen schlechten Outcome waren eine lange Erkrankungsdauer vor Aufnahme der Th Therapie sowie das Vorliegen einer zusätzlichen psychischen Störung. Der bulimische Subtyp war mit einem 2,5-fach erhöhten Risiko für einen schlechten Verlauf assoziiert. Umgekehrt waren ein früher Erkrankungsbeginn, ein gutes Eltern-Kind-Verhältnis sowie eine gute soziale Integration Indikatoren für einen guten Verlauf. In einer 12-Jahres-Katamnese konnten die folgenden vier Prädiktoren 45 Varianz des Verlaufs aufk fklären; Prädiktoren für einen schlechten Verlauf waren: 1. sexuelle Probleme, 2. ausgeprägte Impulsivität, 3. lange Dauer der stationären Behandlung und 4. lange Dauer der Essstörung.
Literatur Carter JC, Blackmore E, Sutandar-Pinnock K, Woodside DB (2004) Relapse in anorexia nervosa: a survival analysis. Psychol Med 34: 671-679 Deter HC, Herzog W (1994) Anorexia nervosa in a long-term perspective – results of the Heidelberg-Mannheim Study. Psychosom Med 56: 20-27 Fichter MM, Quadfl flieg N (1999) Six-year course and outcome of anorexia nervosa. Int J Eat Disord 26: 359-385
47
8
Fichter MM, Quadfl flieg N, Hedlund S (2006) Twelve-year course and outcome predictors of anorexia nervosa. Int J Eat Disord 39: 87-100 Hebebrand J, Himmelmann GW, Herzog W et al (1997) Prediction of low body weight at long-term follow-up in acute anorexia nervosa by low body weight at referral. Am J Psychiatry 154: 566-569 Herzog W, Schellberg D, Deter HC (1997) First recovery in anorexia nervosa patients in the long-term course: a discretetime survival analysis. J Consult Clin Psychol 65: 169-177 Kächele H, Kordy H, Richard M (2001) Therapy amount and outcome of inpatient psychodynamic treatment of eating disorders in Germany: data from a multicenter study. Psychother Res 11: 239-257 Lindblad F, Lindberg L, Hjern A (2006) Improved survival in adolescent patients with anorexia nervosa: a comparison of two Swedish national cohorts of female inpatients. Am J Psychiatry 163: 1433-14U1 Nielsen S, Møller-Madsen S, Isager T, Jorgensen J, Pagsberg K, Theander S (1998) Standardized mortality in eating disorders – a quantitative summary of previously published and new evidence. J Psychosom Res 44: 413-434 Steinhausen HC (2002) The outcome of anorexia nervosa in the 20th century. Am J Psychiatry 159: 1284-1293 Strober M, Freeman R, Morrell W (1997) The long-term course of severe anorexia nervosa in adolescents: survival analysis of recovery, relapse, and outcome predictors over 10-15 years in a prospective study. Int J Eat Disord 22: 339-360 Zipfel S, Lowe B, Reas DL, Deter HC, Herzog W (2000) Longterm prognosis in anorexia nervosa: lessons from a 21year follow-up study. Lancet 355: 721-722
9 Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung Norbert Quadfl flieg und Manfred Fichter 9.1
Verlauf der Essstörungssymptome – 49
9.3
Prognostische Faktoren
9.1.1 9.1.2 9.1.3
Remission und Genesung – 49 Rückfall und Chronifi fizierung – 50 Mortalität – 50
9.3.1 9.3.2
9.2
Verlauf anderer psychischer Erkrankungen (Komorbidität) und soziale Faktoren – 50
Lebensalter und Krankheitsdauer – 51 Schweregrad der Essstörung und Behandlung – 51 Komorbidität – 52 Persönlichkeitseigenschaften – 52 Merkmale der Herkunftsfamilie – 52
9.2.1 9.2.2
Komorbidität – 50 Soziale Faktoren – 51
9.3.3 9.3.4 9.3.5
– 51
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bulimia nervosa (BN) ist als Krankheitsbild seit 1979 beschrieben, eine intensivere Erforschung des Verlaufs setzte in den letzten 20‒25 Jahren ein. Dementsprechend gibt es eine größere Anzahl von Befunden zum kurz- bis mittelfristigen, wenige jedoch zum langfristigen Verlauf der BN. Die meisten Erkenntnisse wurden an Stichproben gewonnen, die sich meist einer ambulanten, seltener einer stationären Therapie unterzogen. Nur sehr wenige Studien gewannen Daten bei Personen, die sich keiner Therapie Th ihrer Essstörung unterzogen hatten. Noch viel weniger ist zum Verlauf der BingeEating-Störung (BES) bekannt. Patientinnen und Patienten mit Essanfällen ohne unangemessene, der Gewichtszunahme entgegensteuernde Maßnahmen wurden in den früheren Fassungen der kriterienorientierten Diagnosesysteme in der Kategorie der nicht näher bezeichneten oder atypischen Essstörungen zusammen mit einer Reihe anderer untypischer Varianten von Essstörungen eingeordnet und meist von der Forschung ignoriert. Erst mit der Aufstellung provisorischer Forschungskriterien für die BES in der vierten Aufl flage des Diagnostischen und Statistischen Manuals der ame-
rikanischen Psychiatervereinigung zu Beginn der 1990er Jahre begann die Erforschung des Verlaufs der BES, womit etwas umfangreichere Befunde lediglich zum kurz- bis mittelfristigen Verlauf vorliegen können. Parallel dazu existiert in denselben diagnostischen Kriterien eine etwas weiter gefasste Defi finition von BES in den »nicht näher bezeichneten Essstörungen«. Hinsichtlich der BES ist die Datenlage noch unzureichend. Es gibt eine Reihe von Studien, welche meist übergewichtige Personen für ein Gewichtsreduktionsprogramm mit Psychotherapie gewonnen und kleine Stichproben bis zu 12 Monate nach Therapieende nachuntersucht haben, sowie je eine Studie zum 5-JahresVerlauf in der Durchschnittsbevölkerung und zum 12-Jahres-Verlauf bei stationär behandelten Patientinnen. Obwohl die BES häufi figer als andere Essstörungen auch bei Männern beobachtet wird, basieren die meisten veröffentlichten ff Untersuchungen auf Stichproben von Frauen. Zu prognostischen Faktoren bei der BES ist fast nichts bekannt. ! Die meisten Untersuchungen zu bulimischen Essstörungen beziehen sich auf Frauen.
49
9.1 Verlauf der Essstörungssymptome
Verlauf der Essstörungssymptome
9.1
tigt mit 76 Remission nach 5 Jahren diesen Trend. Trotz der sehr optimistischen Ergebnisse im ersten Jahr nach der Therapie Th der BES liegen die längerfristigen Remissionsraten bei beiden bulimischen Essstörungen in vergleichbarer Höhe.
9.1.1 Remission und Genesung Im kurzzeitigen Verlauf, welcher meist mit einer Erstmessung anlässlich einer therapeutischen Intervention verbunden ist, zeigen die Patientinnen mit BN in ca. 30‒50 der Fälle eine Remission nach 6‒12 Monaten. Remissionsraten von ca. 50 werden auch im mittelfristigen Verlauf über 2 bis mehr als 5 Jahre festgestellt, wobei die Befunde mit Werten zwischen 13 und 69 sehr stark schwanken. Der Prozentsatz remittierter Fälle korreliert mäßig (r = 0,20‒0,30) mit dem zeitlichen Abstand zur Erstmessung. Längerfristig (9‒12 Jahre) finden fi sich in mehreren Studien ca. 70 der Fälle mit BN remittiert. In der Regel sind die Verbesserungen der Symptomatik mit lang dauernder intensiver Th Therapie verbunden. Zeitliche Stabilität der Symptombesserung bei BN ist erst nach 5‒6 Jahren zu beobachten. Bei der BES fi finden sich höhere Remissionsraten im ersten Jahr nach der Th Therapie (ca. 50; Werte streuen zwischen 30 und 79 bei kleinen Stichprobenumfängen) . Zum mittel- und langfristigen Verlauf ist sehr wenig bekannt, im Wesentlichen basieren hierzu die Angaben auf einer Studie bei stationär behandelten Patientinnen. 6 Jahre nach stationärer Therapie waren 80 und 12 Jahre nach stationärer Therapie Th 70 remittiert. Eine kleine Studie aus der Durchschnittsbevölkerung bestä-
Definition Remission In der Forschung zum Verlauf von bulimischen Essstörungen wird Remission grundsätzlich als die Abwesenheit von Essanfällen und unangemessenen gegensteuernden Maßnahmen defi finiert. Wenig berücksichtigt werden kognitive Aspekte wie das ständige Kreisen der Gedanken um Essen, Nahrung, Kalorien. Eine gängige Definition fi für Remission ist die Abwesenheit einen Essstörungsdiagnose einschließlich der nicht näher bezeichneten oder atypischen Essstörungen. Bei der BES beinhaltet Remission nicht die Restitution von Normalgewicht, sondern der Begriff ff bezieht sich meist lediglich auf die Abwesenheit von Essanfällen.
Auch in remittierten Fällen bulimischer Essstörungen finden sich noch nach vielen Jahren gegenüber gesunden Kontrollen, welche nie eine Essstörung hatten, erhöhte Werte hinsichtlich Schlankheitsideal und Relevanz des Gewichts für das Selbstwertgefühl und Wohlbefinden. fi
1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 0
1
2
3
4
5
6
9
7
8
9
10 11 12 13 Jahre nach Erstmessung
. Abb. 9.1. Schematische Darstellung zur Remission von Bulimia nervosa bei Frauen. Die Kurve stellt vereinfacht einen nach dem derzeitigen Wissensstand idealisierten Verlauf der Remissionsraten bei der BN – häufig fi in Begleitung intensiver Therapie – dar
50
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 9 · Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung
9.1.2 Rückfall und Chronifizierung fi Viele Patientinnen mit BN beenden die Indexbehandlung mit weiterhin bestehenden ernsthaften ft Essstörungssymptomen. Auch längerfristig bleiben diesen Patientinnen pathologische Essmuster und kognitive Denkschemata, welche in ca. 15‒20 der Fälle auch nach mehr als 10 Jahren die Diagnose einer nicht näher bezeichneten oder atypischen Essstörung rechtfertigen. Ein Rückfall in eine erneute Phase von BN ereignet sich bei ca. 30 der Patientinnen in der Zeit bis zu 6 Jahre nach der Indexbehandlung. Die Rückfallraten sinken über die Zeit und liegen 6‒9 Jahre nach Behandlung bei ca. 20 und nach ca. 12 Jahren bei etwa 10‒15. Da die meisten Studien nur Querschnittsergebnisse berichten, lässt sich eine sinnvolle Unterscheidung zwischen einem chronischen Verlauf ohne länger dauernde Remission und konkret umrissenen Rückfallepisoden nicht vornehmen. Für die BES werden von jeweils einer Studie Rückfall- oder Chronifi fizierungsraten von 43, 14 und mehr als 11 nach einem Jahr berichtet. Nach 6‒12 Jahren leiden 6‒8 noch oder wieder unter BES. Eine nicht näher bezeichnete oder atypische Essstörung fand sich bei 27 nach einem Jahr und bei 5‒13 im langfristigen Verlauf (jeweils eine Studie).
den. Es existieren schwache Hinweise auf eine Häufing von Suiziden und tödlichen Verkehrsunfällen, die aber bei der insgesamt geringen Zahl berichteter Todesfälle keine definitive fi Aussage erlauben. Zur Mortalität der BES kann keine empirisch fundierte Aussage getroffen ff werden, einzelne Hinweise deuten auf eine mit der BN vergleichbare Mortalität hin.
Veränderung der Symptomatik zu einer anderen Essstörung Maximal 7 (zwischen 0 und 6,5) der Patientinnen mit BN entwickeln im weiteren Verlauf der Beobachtung eine Anorexia nervosa (AN), wobei ein kleiner Teil restriktive Symptomatik ohne bulimische Verhaltensweisen aufweist. Nach mehr als 10 Jahren haben ca. 1‒2 der ursprünglich wegen BN behandelten Patientinnen eine AN. Auch der Diagnosenwechsel von der BN zur BES scheint sich langfristig in dieser Größenordnung zu bewegen. Evidenz zur diagnostischen Veränderung der BES ist außerordentlich gering. Der Wechsel von der BES zur AN wird nur in sehr wenigen Einzelfällen berichtet. Eine große Studie fand über 12 Jahre keinen Diagnosewechsel von BES zu AN. Etwa 8‒10 der Patientinnen mit BES weisen langfristig eine BN auf. ! Ein diagnostischer Wechsel von BN und BES zur Magersucht kommt nur in wenigen Fällen vor.
9.1.3 Mortalität Trotz der steigenden Anzahl von Studien zum Verlauf von BN ist die Anzahl der beobachteten Fälle doch weiterhin sehr beschränkt, sodass Aussagen zur Mortalität nur begrenzt möglich sind. Die berichteten Mortalitätsraten variieren sehr. So werden nichtstandardisierte Mortalitätsraten zwischen 1,1 und 5,8 berichtet, wobei länger dauernde Studien nach 10‒12 Jahren nichtstandardisierte Mortalitätsraten von etwa 2,3, aber auch von 0,6 berichten. Auch die standardisierten Mortalitätsraten sind über die Studien hinweg sehr unterschiedlich und bewegen sich in Metaanalysen zwischen 0 und 20,8. Einbezogen werden dabei alle bekannt gewordenen Sterbefälle innerhalb des jeweiligen Nachuntersuchungszeitraums der Studie. Eine erhöhte Sterblichkeit aufgrund des bulimischen Verhaltens konnte bisher nicht nachgewiesen wer-
9.2
Verlauf anderer psychischer Erkrankungen (Komorbidität) und soziale Faktoren
9.2.1 Komorbidität Patientinnen mit BN und mit BES weisen ein hohes Maß an psychischer Komorbidität auf. Diese geht im Allgemeinen mit der Essstörungssymptomatik zurück, wobei die Ausprägung in allgemeinen Psychopathologieskalen höher als bei gesunden Kontrollpersonen bleibt. Ein kleiner Anteil an Patientinnen verfällt in chronischen Alkoholismus oder verharrt in von Angst und Vermeidung sozialer Kontakte geprägter Lebensweise.
51
9.3 Prognostische Faktoren
9
Prognostische Faktoren
9.2.2 Soziale Faktoren
9.3
Die Evidenzbasis zum Aspekt soziale Faktoren ist generell schwach. Im Allgemeinen geht mit einer Verbesserung der Essstörungssymptomatik auch eine Verbesserung in der sozialen Funktionsfähigkeit der Patientinnen einher. Langfristig weisen die Patientinnen mit BN bedeutsame Verbesserungen in der sozialen Integration, in ihrem Arbeitsvermögen, den Freizeitaktivitäten sowie in den Beziehungen mit entfernteren Verwandten und Bekannten auf, jedoch weniger ausgeprägt mit dem – soweit vorhanden – Partner, den Eltern und der engeren Familie. Einige Befunde deuten darauf hin, dass in einem erheblichen Teil der Patientinnen mit BN deutliche Einschränkungen hinsichtlich Freizeitaktivität und Freundschaft ften bestehen bleiben (52 hatten hier ein als gut eingeschätztes Ergebnis nach 6 Jahren, 22 ein mittelmäßiges und 26 ein schlechtes Ergebnis). Bezüglich eines befriedigenden Sexuallebens waren die Ergebnisse noch schlechter (40 gut, 18 mittelmäßig und 42 schlecht). Auch nach 12 Jahren weisen selbst remittierte Patientinnen mit BN noch höhere Beeinträchtigung hinsichtlich sozialer Integration und Sexualität auf als gesunde Kontrollpersonen. Dessen ungeachtet heiraten ca. 75‒80 der Patientinnen mit BN im Laufe der Beobachtungszeit der wenigen Studien, wobei nahezu die Hälfte ft dieser Ehen mit Trennung oder Scheidung endet. Die wenigen vorhandenen Daten deuten darauf hin, dass es dabei keinen Unterschied zwischen remittierten und nichtremittierten Patientinnen gibt. Zirka drei Viertel der Patientinnen mit BN werden innerhalb von 12 Jahren nach der Erstmessung mindestens einmal schwanger. Zwischen 83 und 98 der Frauen haben nach 11‒12 Jahren ihre Regelblutung. Bei der BES verbessert sich die soziale Integration frühestens 3 Jahre nach Indexbehandlung, die Sexualität bleibt häufi fig langfristig beeinträchtigt. Dies mag jedoch auch mit dem Körpergewicht zusammenhängen, fast alle Patientinnen mit BES bleiben trotz Gewichtsreduktionsprogrammen auch langfristig in der Gewichtskategorie (adipös, übergewichtig oder normalgewichtig), in der sie vor der Behandlung waren.
Für BN wurde eine große Anzahl von prognostischen Faktoren untersucht, wobei hier lediglich die wichtigsten Erwähnung fi finden. Für die BES sind prognostische Faktoren für den Verlauf fast gar nicht untersucht, im Folgenden sind lediglich Aussagen in den Abschnitten zu Schweregrad der Essstörung und Komorbidität möglich.
9.3.1 Lebensalter und Krankheitsdauer Das Lebensalter bei Beginn der Studie (meist der Beginn einer Behandlungsepisode) ist ein wenig erforschter Faktor und scheint keine Rolle für den Verlauf der BN zu spielen. Obwohl das Alter bei Beginn der BN besser untersucht ist, ist hier die Evidenz widersprüchlich und ungeklärt. Es gibt einige Andeutungen, dass ein früherer Beginn der Essstörung zu einem besseren Verlauf führen kann. Auch die Ergebnisse zur Prognose durch die Krankheitsdauer lassen keinen eindeutigen Schluss zu. Es scheint aber so, dass eine kurze Krankheitsdauer ‒ und damit eine frühe Intervention in den Krankheitsprozess ‒ zu einem besseren Verlauf der BN verhilft ft, wobei die schmale empirische Basis nochmals betont werden muss.
9.3.2 Schweregrad der Essstörung und
Behandlung BN-Patientinnen mit einem hohen Schweregrad der Essstörung, ausgedrückt in einer hohen Frequenz von Essanfällen und Erbrechen, haben eine ungünstigere Prognose. Allerdings gibt es auch hierzu Studien, welche dies nicht bestätigen. Es existieren auch keine Befunde, dass eine intensive, oft ft lang dauernde Therapie nicht erfolgreich wäre. Eine Diagnose AN in der Vorgeschichte der BN ist nicht relevant für die Prognose, allerdings ist ein geringes Körpergewicht Prädiktor für ein schlechtes Verlaufsergebnis. Stark ausgeprägte Essrituale und zwanghaft fte Beschäft ftigung mit Essen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall bei BN. Bei der BES ist Adipositas ein Prädiktor für einen ungünstigeren Verlauf.
52
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Kapitel 9 · Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung
9.3.3 Komorbidität Die empirischen Befunde zum prognostischen Beitrag von Achse-I-Komorbidität bei BN sind nicht eindeutig, jedoch lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. In einer Reihe von Studien wurden einzelne Störungsgruppen wie Depression, Substanzgebrauchsstörung (Alkohol u. a.) oder Angststörungen untersucht. Die Ergebnisse sind widersprüchlich, Evidenz für Achse-I-Komorbidität als Prädiktor eines günstigen Verlaufs der BN wurde jedoch von keiner Studie gefunden. Entweder war Depression, Substanzmissbrauch oder-abhängigkeit oder Suizidalität ein negativer oder kein Prädiktor, die Befunde zu Angststörungen beruhen auf einer noch nicht aussagekräft ftigen empirischen Basis. Fasst man die verschiedenen Störungsgruppen in einer Variablen zusammen, welche lediglich über das Vorhandensein irgendeiner AchseI-Störung eine Aussage trifft fft, lassen sich aussagekräftigere ft Prognosemodelle erstellen. In einer Studie – und damit eine schmale empirische Basis darstellend – wurde Komorbidität in diesem Sinne als starker Prädiktor eines ungünstigen Verlaufs der BN nach 2, 6 und 12 Jahren identifiziert. fi Auch für den Einfl fluss von Persönlichkeits(AchseII-)-Störungen auf den Verlauf von BN gibt es bislang nur eine sehr geringe empirische Basis. Es gibt Hinweise, dass das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder auch einer Cluster-B-Persönlichkeitsstörung (welche die Borderline-Persönlichkeitsstörung einschließt) ein negativer Prädiktor ist. Bei BES sind aus einer Studie Befunde zu Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen als Prädiktor eines ungünstigen Verlaufs bekannt. ! Psychische Komorbidität verschlechtert die Prognose bulimischer Essstörungen.
18
9.3.4 Persönlichkeitseigenschaften
19
Zwei bei BN besser untersuchte Persönlichkeitseigenschaften ft sind Selbstwertgefühl und Impulsivität. Geringes Selbstwertgefühl, insbesondere wenn es mit Perfektionismus einhergeht, ist mit einer ungünstigen Prognose verbunden. Impulsivität und impulsive Verhaltensweisen, einschließlich
20
selbstverletzendem Verhalten, sind ebenfalls Prädiktoren eines schlechten Verlaufs der BN.
9.3.5 Merkmale der Herkunftsfamilie Obwohl ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Patientin und bestimmten Merkmalen ihrer Herkunft ftsfamilie theoretisch nahe liegt, lässt sich für die BN ein solcher nicht nachweisen. So wurde das Vorhandensein von Alkoholabusus in der Herkunft ftsfamilie sowohl als positiver als auch negativer oder auch als gar kein Prädiktor für den Verlauf von BN identifiziert. fi Die Tatsache, dass ein naher Angehöriger in psychiatrischer Behandlung war, hat keinen prognostischen Wert. Auch das Vorliegen von Depression in der Herkunftsfamift lie ist entweder kein Prädiktor oder ein Prädiktor für einen schlechten Verlauf. Fasst man die wenigen Befunde zusammen, so kann man sagen, dass psychische Auffälligkeit ff bei nahen Angehörigen keine schlechte Prognose impliziert. Die begrenzte Forschung zur Rolle des Klimas in der Herkunftsfamift lie ergab bislang keine greifbaren fb Hinweise auf die Relevanz dieses Aspekts für die Prognose der BN. Dasselbe gilt für den sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie. ft Fazit 5 BN und BES weisen langfristig ein sehr ähnliches Verlaufsergebnis auf, auch wenn der kurzzeitige Verlauf der BES etwas besser ist. 5 Langfristig remittieren etwa 70% der BN und der BES. 5 Etwa 15% behalten eine behandlungsbedürftige Essstörung auch nach mehr als 10 Jahren. 5 Das Vorliegen anderer psychischer Erkrankungen verschlechtert die Prognose. 5 Soweit bekannt, unterscheidet sich der Verlauf bei Männern nicht sehr von dem bei Frauen.
9.3 Prognostische Faktoren
Literatur Fichter MM, Quadfl flieg N (2004) Twelve-year course and outcome of bulimia nervosa. Psychol Med 34: 1395-1406 Fichter MM, Quadfl flieg N (2007) Long-term stability of eating disorder diagnoses. Int J Eat Disord 40: S61-S66 Fichter MM, Quadfl flieg N, Gnutzmann A (1998) Binge eating disorder: treatment outcome over a 6-year course. J Psychosom Res 44: 385-405 Herzog DB, Dorer DJ, Keel PK et al (1999) Recovery and relapse in anorexia and bulimia nervosa: a 7.5-year followup study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 38: 829-837 Keel PK, Mitchell JE (1997) Outcome in bulimia nervosa. Am J Psychiatry 154: 313-321 Keel PK, Mitchell JE, Miller KB, Davis TL, Crow SJ (1999) Longterm outcome of bulimia nervosa. Arch Gen Psychiatry 56: 63-69 Milos G, Spindler A, Schnyder U, Fairburn CG (2005) Instability of eating disorder diagnoses: prospective study. Br J Psychiatry187: 573-578 Pope HG, Lalonde JK, Pindyck LJ et al (2006) Binge eating disorder: a stable syndrome. Am J Psychiatry 163: 2181-2183 Wilfley fl DE, Wilson GT, Agras WT (2003) The clinical signifi fiance of binge eating disorder. Int J Eat Disord 34: S96-S106
53
9
10
2
Verhaltenstherapeutische Modellvorstellungen
3
Gaby Groß
4
10.1
Prädisponierende Faktoren – 54
5
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Biologische Faktoren – 54 Soziokulturelle Faktoren – 55 Familiäre Faktoren – 55 Individuelle Faktoren – 55
1
6
10.2
Auslösende Faktoren
– 56
10.3
Aufrechterhaltende Faktoren – 56
10.4
Das transdiagnostische Modell
– 56
7 8 9 10 11 12 13 14
Es gibt eine Vielzahl von theoretischen Modellen, die versuchen, die Entstehung von Essstörungen zu erklären. Ein einheitliches, empirisch belegtes Modell zur Pathogenese und Aufrechterhaltung der Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) existiert jedoch nicht. Im Sinne eines heuristischen Konzepts liegt verhaltenstherapeutischen ätiologischen Vorstellungen ein multifaktorielles Modell zugrunde, bei dem drei wesentliche Klassen von »Ursachen« eine Rolle spielen: prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren (. Übersicht). Multifaktorielles Modell bei Essstörungen 1. Prädisponierende Faktoren 2. Auslösende Faktoren 3. Aufrechterhaltende Faktoren
15 16 17 18 19 20
10.1
Prädisponierende Faktoren
Prädisponierende oder Vulnerabilitätsfaktoren sind zeitlich überdauernde persönliche Merkmale oder Umweltbedingungen, die die Grundlage für die Entwicklung einer Essstörung darstellen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie bereits vor dem Auft ftreten der Störung über längere Zeit bestanden und möglicherweise auch nach Krankheitsbeginn weiter wirkam sind. Ihr Vorhandensein kann das Risiko erhöhen, im Laufe des Lebens an einer Essstörung zu erkranken, eine spezifische fi Kausa-
litätsannahme oder gar Vorhersage eines genauen Erkrankungszeitpunkts erlauben sie jedoch nicht. In Längs- und Querschnittsuntersuchungen wurden folgende Risikofaktoren für Essstörungen gefunden: 5 weibliches Geschlecht, 5 ethnische Zugehörigkeit (nichtasiatisch), 5 frühkindliche Ernährungs- und gastrointestinale Störungen, 5 erhöhte Sorge um Gewicht und Figur, 5 negative Selbsteinschätzung, 5 sexueller Missbrauch und andere psychisch belastende Erfahrungen sowie 5 allgemeinpsychiatrische Erkrankungen. Prädisponierende Faktoren lassen sich in vier Unterkategorien einteilen: 1. biologische, 2. soziokulturelle, 3. familiäre und 4. individuelle Faktoren.
10.1.1
Biologische Faktoren
Biologische Faktoren, die die Entstehung einer Essstörung begünstigen können, umfassen 5 genetische Faktoren, 5 neurobiologische Veränderungen (z. B. hypothalamische Dysfunktionen), 5 Veränderungen des Serotoninstoffwechsels, ff
55
10.1 Prädisponierende Faktoren
5 körperliche Faktoren (z. B. höheres Set-PointGewicht, frühe Menarche) und 5 ernährungsphysiologische Faktoren (z. B. Störungen der Hunger- und Sättigungsregulation).
10.1.2
Soziokulturelle Faktoren
Die größer werdende Diskrepanz zwischen dem in Industrieländern vorherrschenden Schlankheitsideal und den tatsächlichen Körpermaßen durchschnittlicher Frauen bildet eine weitere Grundlage für die Entstehung von Essstörungen. Dabei sind v. a. Frauen gefährdet, die aufgrund eines niedrigen Selbstwertgefühls zu einer stärkeren Internalisierung dieses Ideals neigen und versuchen, persönlich erlebte Defizite fi mithilfe einer Gewichtsreduktion zu kompensieren.
10.1.3
Familiäre Faktoren
In vielen Familien essgestörter Patientinnen fi finden sich pathologische Beziehungsmuster, wobei jedoch oft ft nur schwer beurteilt werden kann, ob diese möglicherweise sekundär, d. h. als Folge der
10
Essstörung, entstanden sind. Bedeutsame Faktoren sind hier die familiäre Regulation von Grenzen, soziale Defizite fi und die Abhängigkeit Heranwachsender von der Primärfamilie. Spezifische fi Interaktionsmuster wie Verstrickung, Rigidität, Überbehütung, Konfl fliktvermeidung und wechselnde Koalitionsbildung führen dazu, dass bei Kindern und Jugendlichen die Entwicklung einer stabilen Identität sowie von Autonomie und der Ausbildung eines positiven Selbstwertgefühls erschwert wird.
10.1.4
Individuelle Faktoren
Zu den individuellen Faktoren, die prädisponierend für eine Essstörung sein können, zählen u. a. ein niedriger Selbstwert, Perfektionismus, Impulsivität und kognitive Defizite. fi Letztere spielen in verhaltenstherapeutischen Modellvorstellungen eine besonders wichtige Rolle. Essstörungsspezifische fi dysfunktionale Grundannahmen (sog. core beliefs) begünstigen bestimmte situationsbezogene »automatische« Gedanken, die »Denkfehler« im Sinne von typischen anorektischen Kognitionen enthalten (. Tab. 10.1). In dem Zweifaktorenmodell von Connors (1996) stellt das Zusammenspiel zweier Kompo-
. Tab. 10.1. Denkfehler. (Nach Garner u. Bemis 1982) Kategorie
Automatischer Gedanke
Selektive Abstraktion Tendenz, Einzelfakten aus dem Kontext zu nehmen und überzubewerten, wobei andere, bedeutsamere Merkmale der Situation ignoriert werden
»Nur wenn ich dünn bin, bin ich etwas Besonderes.«
Übergeneralisierung Ableitung von Regeln auf der Basis eines einzigen Ereignisses
»Früher hatte ich Normalgewicht, und ich war nicht glücklich. Also weiß ich, dass ich mich auch nicht besser fühlen werde, wenn ich zunehme.«
Dichotomes/Alles-oder-nichts-Denken Zuordnung von Erfahrungen in zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien, ohne Abstufungen wahrzunehmen (»schwarz-weiß«)
»Wenn ich meinen Tagesablauf nicht bis auf die Minute plane, verläuft alles chaotisch, und ich erreiche nichts.«
Personalisierung Überschätzen des Ausmaßes, in dem Ereignisse mit der eigenen Person zu tun haben, und/oder übermäßige Übernahme von Verantwortung
»Jemand lachte, als ich an ihm vorbeiging. Sicher hat er sich über meine unmögliche Figur lustig gemacht.«
Katastrophisierung Bezeichnung eines Ereignisses ohne Grund als Katastrophe
»Wenn ich nicht ständig mein Gewicht kontrolliere, nehme ich immer weiter zu.«
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Kapitel 10 · Verhaltenstherapeutische Modellvorstellungen
nenten die Voraussetzung für die Entstehung einer Essstörung dar: 1. negatives Körperbild, übermäßige Beschäftift gung mit dem Gewicht und Diäthalten, 2. Störung der Selbstregulation mit affektiver ff Dysregulation, niedrigem Selbstwertgefühl und Bindungsunsicherheit. Beide Faktoren getrennt sind nicht spezifisch fi für Essstörungen und können einzeln auch zu einem »normalen« Diätverhalten und »normaler« Unzufriedenheit mit der eigenen Figur ohne psychische Krankheit (Komponente 1) bzw. anderen psychischen Störungen (Komponente 2) führen.
7 10.2
8 9 10 11 12 13
Auslösende Faktoren
Auslösende Faktoren umfassen die Gesamtheit der Umstände, die das Erstauft ftreten einer Essstörung hervorrufen, und bestimmen über den Zeitpunkt des Erkrankungsbeginns. Dazu gehören, ähnlich wie bei anderen psychischen Störungen, so genannte kritische Lebensereignisse wie Trennungs- und Verlusterlebnisse, neue Anforderungen, Angst vor Leistungsversagen oder körperliche Erkankungen. Die Betroffenen ff sind in diesen Situationen nicht in der Lage, den notwendigen Anpassungsanforderungen zu entsprechen. Weitere auslösende Faktoren können eine strikte Reduktionsdiät oder körperliche Aktivität sein.
10.3
Aufrechterhaltende Faktoren
Aufrechterhaltende Faktoren sind Bedingungen, die dazu beitragen, dass eine Essstörung bestehen bleibt und nicht wieder abklingt. Sie sind häufig eine Folge der zugrunde liegenden Probleme, die zur Entstehung der Essstörung geführt haben und hängen somit eng mit den prädisponierenden Faktoren zusammen. Andererseits führt das gestörte Essverhalten zu einer Vielzahl von biologischen und psychologischen Veränderungen, die zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen können, selbst wenn andere, ursprünglich an der Entstehung beteiligte Faktoren nicht mehr relevant sind. Im Sinne eines positiven Verstärkermodells führen sie zu einem Circulus vitiosus, aus dem die Betroffenen ff oft ft ohne Hilfe nicht mehr herausfi finden. Zu den aufrechterhaltenden Faktoren gehören laut Legenbauer und Vocks (2006) gezügeltes Essverhalten, defi fizitäres Coping-Verhalten und dysfunktionale kognitive Prozesse. Gezügeltes Essverhalten (restraint eating) entspricht einer selbstauferlegten Nahrungsdeprivation, die das Erreichen bzw. Halten eines Gewichts zum Ziel hat, das unterhalb des eigenen Set-Point (optimales, vermutlich biologisch determiniertes Körpergewicht) liegt. Defi fizite in der Bewältigung von Stress und Belastungssituationen stellen einen weiteren aufrechterhaltenden Faktor dar. Schließlich spielen dysfunktionale Kognitionen nicht
14 15
. Abb. 10.1. Teufelskreis der Bulimie. (Nach Jacobi et al. 2000, mit freundlicher Genehmigung)
Gezügeltes Essverhalten, „Purging-Verhalten“
16 17 18
Angst vor Gewichtszunahme
Zunahme von Hunger und Appetit
19 20 Heißhungerattacken
57
10.4 Das transdiagnostische Modell
10
Überbewertung von Gewicht und Figur und deren Kontrolle
Strenges Diäthalten; Gewichtskontrolle ohne kompensatorische Maßnahmen
Ereignisse und damit verbundene Stimmungswechsel
Merkmale von restriktivem Essverhalten und Untergewicht
Essanfälle
Selbstinduziertes Erbrechen/ Laxanzienmissbrauch . Abb. 10.2. Transdiagnostisches Modell (Fairburn 2007, mit freundlicher Genehmigung)
nur bei der Entstehung einer Essstörung, sondern auch bei deren Aufrechterhaltung eine wichtige Rolle, da sie die Handlungskompetenz einer Person beeinträchtigen. . Abb. 10.1 zeigt den Teufelskreis der Bulimie als Modell zur Aufrechterhaltung des pathologischen Essverhaltens mit Heißhungerattacken.
10.4
Das transdiagnostische Modell
In seinem so genannten »transdiagnostischen« Modell fasst Fairburn (2007) die wichtigsten Aspekte der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Sichtweise zusammenzufassen. Die Kernpathologie bei AN, BN und nicht näher bezeichneter Essstörung weisen große Ähnlichkeiten auf, und häufig »wandern« Patientinnen zwischen den verschiedenen Diagnosen hin und her. Deshalb geht Fairburn davon aus, dass die verschiedenen Essstörungen durch gemeinsame »transdiagnostische« Mechanismen aufrechterhalten werden, und fasst alle drei Störungsbilder in seinem Modell zusammen (. Abb. 10.2). In einigen Fällen (z. B. bei manchen Patientinnen mit Binge-Eating-Störung) sind nur wenige der aufrechterhaltenden Prozesse des Modells aktiv, in anderen Fällen hingegen die meisten Prozesse (z. B. bei Patientinnen mit AN vom
Purging-Typ). Die transdiagnostische Perspektive unterstreicht gleichzeitig die Aspekte, die in der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Essstörungen berücksichtigt werden sollten, und unterstützt Behandler dabei, einen adäquaten Therapieplan zu entwerfen, der auf die individuelle Psychopathologie der jeweiligen Patientin zugeschnitten ist.
Literatur Connors ME (1996) Developmental vulnerabilities for eating disorders. In: Smolak L, Levine MP, Stiegel-Moore R (eds) The developmental psychopathology of eating diosrders: implications for research, prevention, and treatment. Lawrence Erlbaum, Hillsdale, UK Fairburn CG (2007) Eating disorders: a transdiagnostic protocol. In: Barlow DH (ed) Clinical handbook of psychological disorders (4th edn). Guilford, New York Fairburn CG, Cooper Z, Shafran R (2003) Cognitive behaviour therapy for eating disorders: a »transdiagnostic« theory and treatment. Beh Res Ther 41: 509-528 Garner DM, Bemis KM (1982) A cognitive-behavioral approach to anorexia nervosa. Cogn Ther Res 6: 123-150 Jacobi C (2005) Psychosocial risk factors for eating disorders. In: Wonderlich S, Mitchell J, de Zwaan M, Steiger H (eds) Eating disorders review, part 1. Radcliffe, ff Oxford, UK Jacobi C, Thiel A, Paul T (2000) Kognitive Verhaltenstherapie bei Anorexia und Bulimia nervosa. Beltz, Weinheim Jacobi C, Hayward C, de Zwaan M, Kraemer HC, Agras WS (2004) Coming to terms with risk factors for eating disorders: application of risk terminology and suggestions for a general taxonomy. Psychol Bull 130: 19-65
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Kapitel 10 · Verhaltenstherapeutische Modellvorstellungen
Laessle RG, Wurmser H, Pirke KM (2000) Essstörungen. In: Margraf J (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie (Bd 2). Springer, Berlin Heidelberg New York, S 223-246 Legenbauer T, Vocks S (2006) Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie. Springer, Berlin Heidelberg New York Meermann R, Borgart E-J (2006) Essstörungen: Anorexie und Bulimie. Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Leitfaden für Therapeuten. Kohlhammer, Stuttgart
11 Psychodynamische Modellvorstellungen Stephan Herpertz 11.1
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik – 60
Mit der Einführung der deskriptiven Klassifikatifi onssysteme DSM III-R und DSM IV sowie ICD10 wurde das für die psychodynamisch orientierten Psychotherapien wichtige Neurosenkonzept zugunsten phänomenologisch und biologisch ausgerichteter Ätiologiekonzepte aufgegeben. Zweifelsohne tragen diese Klassifi fikationssysteme zu einer größeren diagnostischen Reliabilität bei, allerdings auf Kosten einer geringeren Validität. So geben diese Klassifikationssysteme fi keinerlei Auskunft ft über intrapsychische oder interpersonelle Konfl flikte, über das Strukturniveau oder das subjektive Krankheitserleben, was für die psychodynamisch orientierte Psychotherapie essenzielle Bausteine der Behandlung sind. Die psychodynamische Sichtweise geht über das rein Deskriptive und Bewusste hinaus und verfolgt das Ziel, die unbewussten Motive des Geschehens, zugleich auch die psychogenetischen Bedingungen, die in der Entstehungsgeschichte der Essstörung bedeutsam sind, zu verstehen. Zu der erst seit 1994 bekannten Binge-EatingStörung (BES) liegen psychodynamische Konzeptualisierungen nicht vor. Ähnlich wie bei der Magersucht ist die psychodynamische Spezifität fi der Bulimia nervosa, d. h. der Rückschluss von beobachtbaren Verhaltensweisen, die sich in Pubertät und Adoleszenz manifestieren, auf spezifische fi frühkindliche Traumata, z. B. von Nahrungsverweigerung, auf die Frustration oraler Bedürfnisse kritisch zu hinterfragen. Zumindest zum Zeitpunkt der Symptomentstehung ist ein Konflikt fl in der mittleren und späten Adoleszenz der direkten Beobachtung zugänglich. Nicht der der präödipalen Phase immanente Separations-Individuations-Konflikt, fl sondern die »zweite Loslösung und Individuation«, also der Entwicklungsschritt vom abhängigen Mitglied der Familie zum innerlich wie auch äußer-
lich autonomen Individuum, gestaltet sich konflikfl treich. Schon Hilde Bruch stellte das mangelnde Selbstvertrauen und das negative Selbstbild als Kardinalsymptome anorektischer und bulimischer Essstörungen heraus. Das »alles durchdringende Gefühl eigener Unzulänglichkeit« umschreibt die für die beiden Essstörungen Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) pathognomonischen Selbstwertprobleme, die i. d. R. ihren Ursprung in interpersonellen Problemen haben, zumindest gegenseitige Verstärkerfunktionen besitzen. Die Folge ist eine erhebliche Kränkbarkeit. Statt Klärung der zwischenmenschlichen Situation kommt es zu Beziehungsabbruch und sozialem Rückzug. Das mangelnde Selbstvertrauen und das negative Selbstbild haben eine hohe Abhängigkeit gegenüber äußeren Wertungen zur Konsequenz, wie z. B. dem Schlankheitsideal, welches über Medien, Familie und Gleichaltrige vermittelt wird. ! Moderne tiefenpsychologische Konzepte verstehen psychische Störungen wie die Essstörungen in einem interpersonellen Kontext, ausgehend von der Annahme, dass die psychosozialen und zwischenmenschlichen Erfahrungen des Patienten entscheidenden Einfluss fl auf die Behandlung haben. Dabei fokussiert die tiefenpsychologische Psychotherapie auf den der Symptomatik zugrundeliegenden Konflikt fl unter besonderer Berücksichtigung der Objektbeziehungsebene.
Entsprechend der Objektbeziehungstheorie entstehen (infantile) Konflikte fl in der Interaktion mit entwicklungspsychologisch frühen wichtigen Bezugspersonen und können sich in aktuellen Beziehungssituationen re-inszenieren. Die Symptombildung ist demnach Ausdruck einer suboptimalen
60
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Kapitel 11 · Psychodynamische Modellvorstellungen
Lösung des Konflikts. fl Der Konfl flikt ist mit erheblicher Angst und Spannung verbunden, sodass eine Möglichkeit der Spannungsabfuhr gefunden werden muss, was in die Symptomausbildung führen kann. Tiefenpsychologische Psychotherapieverfahren verfolgen u. a. das Ziel, Konfliktwiederhofl lungen in der therapeutischen Beziehung zumindest tendenziell zu ermöglichen. Grundlage dafür ist der Aufbau fb einer basalen Beziehung. Der Therapeut fühlt sich in die ihm von dem Patienten unbewusst zugewiesene Rolle ein und interveniert aus diesem Rollenverständnis heraus.
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11.1
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik
Mittels der 1996 eingeführten »operationalisierten psychodynamischen Diagnostik« (OPD) wird das Ziel verfolgt, die symptomatologisch-deskriptiv orientierte Klassifikation fi psychischer Störungen um die grundlegenden psychodynamischen Dimensionen zu erweitern. Die multiaxiale psychodynamische Diagnostik basiert auf fünf Achsen (. Übersicht).
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Die Achsen der multiaxialen psychodynamischen Diagnostik 1. Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen 2. Beziehung 3. Konflikt fl 4. Struktur« 5. Psychische und psychosomatische Störungen nach dem Kapitel V (F) der ICD-10
So werden die Essstörungen AN, BN oder BES im Sinne der kategorialen Klassifikationssysteme fi DSM und ICD auf der deskriptiven Achse fünf der OPD abgebildet. Die Beschreibung des Patienten und seiner Psyche bzw. Psychopathologie entsprechend den wichtigen psychoanalytischen Konzepten Persönlichkeitsstruktur, intrapsychischer Konflikt und Übertragung erfolgt auf den vier psychodynamischen Achsen, womit der kontinuierliche,
dimensionale Ansatz dieses mehr den Sozialwissenschaft ften entlehnten Konzepts unterstrichen wird. Bei der tiefenpsychologisch ausgerichteten Behandlung handelt es sich um eine zeitlich limitierte Behandlung, was die Beschränkung auf einen Fokus in der Therapie Th zwingend notwendig macht. Um den Fokus festlegen zu können, bedarf es einer psychodynamischen Diagnose des Konfl fliktgeschehens, das der aktuellen Störung des Patienten, etwa der Selbstwertproblematik zugrunde liegt. Der Fokus sollte auf einen unbewussten pathogenen Konfl flikt Bezug nehmen, der entsprechend der psychoanalytischen Neurosenlehre in der Kindheit und Adoleszenz entsteht und im Erwachsenenalter durch bestimmte auslösende Ereignisse re-aktualisiert wird. Gleichzeitig sollte der Fokus eine Deutung bzw. eine deutende Erklärung dieses Konflikts enthalten, die eine klinische Hypothese über den unbewussten Sinn der Symptomatik des Patienten enthält. Dabei werden die Mitteilungen des Patienten gezielt im Hinblick auf diesen Fokus aufgegriff ffen und psychodynamische Aspekte der Störung und Äußerungen des Patienten, die nicht mit dem Fokalthema zusammenhängen, selektiv vernachlässigt. Im Vordergrund stehen Konflikte, fl die in der Gegenwart und in dem alltäglichen Lebensumfeld des Patienten auft ftreten, insbesondere in seinen interpersonellen Beziehungen. ! Die Behandlung der Magersucht oder der BN ist i. d. R. eine Behandlung junger Menschen, speziell adoleszenter Mädchen oder junger Frauen, was erhebliche Behandlungsimplikationen, insbesondere für die psychodynamisch wichtigen Übertragungsprozesse zwischen Therapeut und Patientin nach sich zieht.
Die Adoleszenz bzw. das junge Erwachsenenalter stellen eine erhebliche psychosexuelle und -soziale Herausforderung dar. Die Konstituierung des Selbstbildes(-werts) ist ein kontinuierlicher Prozess, der seinen Ausgang von der frühen Kindheit nimmt, sicherlich aber in der Lebensphase der Pubertät, Adoleszenz und des frühen Erwachsenalters dem Individuum die anspruchvollsten Entwicklungsschritte abverlangt. Im Hinblick auf die eigene »private« wie auch berufliche fl Lebensgestaltung werden bedeutsame Entscheidungen gefordert, und die »erwachsene« Lebenserfahrung, dass
61
11.1 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik
jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas bedeutet oder zumindest bedeuten kann, wird in den unterschiedlichsten Lebensbereichen spürbar. Umso folgerichtiger erscheint eine therapeutische Haltung, die zwischen einer reflektierten, fl engagierten Parteilichkeit und der notwendigen Abstinenz keine unüberbrückbaren Differenzen ff sieht und die ein dynamisches Wechselspiel aus psychoedukativen und genuin psychotherapeutischen Behandlungsstrategien zulassen kann. Dazu gehört neben der empathischen Solidarisierung auch das Sprechen eines »Machtworts« im Sinne einer strukturierenden Maßnahme. Auch kann die Hilfs-Ich-Funktion des Therapeuten Th bei wichtigen Entscheidungsprozessen im Hier und Jetzt ebenso bedeutsam sein wie die Deutung und das Durcharbeiten repetitiver neurotischer, insbesondere interpersoneller Verhaltensmuster. ! Der für die Lebensphase der Adoleszenz bzw. des jungen Erwachsenenalters charakteristische Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt fl und die damit einhergehende ambivalent erlebte Vaterbzw. Mutterbeziehung fi findet sich i. d. R. in der therapeutischen Beziehung wieder und kann produktiv genutzt werden.
Gerade die unspezifischen fi Prädiktorvariablen des Psychotherapieprozesses wie Interesse, Neugierde, Engagement, Authentizität und Verlässlichkeit werden auf dem Hintergrund der Elternübertragung einer sehr kritischen Prüfung unterzogen (»Gilt mir wirklich das Interesse, ist es echt, kann ich mich auf sie oder ihn verlassen?«). ! Erhebliche Konflikte fl des Selbstwerterlebens, wie sie für essgestörte Patientinnen pathognomonisch sind, bedürfen auch einer ressourcenorientierten Psychotherapie. Weniger die Defizite fi in der bisherigen Entwicklung sind aufzugreifen, sondern die Fähigkeiten und bisher erbrachten Leistungen sind hervorzuheben.
Gleichzeitig gilt es, die Genese der Selbstwertproblematik, die i. d. R. in interpersonellen Konflikten ‒ insbesondere mit den Eltern ‒ zu suchen ist (hohe Leistungserwartungen, »Anerkennung und Zuneigung kann ich nur mittels Leistung bekommen«) herauszuarbeiten, um letztendlich
11
auch korrektive Erfahrungen machen zu können. Eine wohlwollende, die Ressourcen der Patientin fördernde (z. B. väterliche oder mütterliche) Übertragungsbeziehung bietet die Möglichkeit, positive Korrekturen im Selbstwerterleben zu machen, die dann aus der Therapie in andere Beziehungen transferiert werden können.
Literatur Arbeitskreis OPD (2006) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Huber, Bern Blos P (1967) The second individuation process of adolescence. Psychoanal Study Child 22: 162-186 Bruch H (1973) Eating disorders: obesity, anorexia nervosa, and the person within. Basic Books, New York Habermas T, Neureither U (1988) Symptomzentrierte ambulante Einzel- und Gruppentherapie der Bulimia nervosa - Programmbeschreibung und erste Ergebnisse. In: Deter H-C, Schüffel ff W (Hrsg) Gruppen mit körperlich Kranken. Springer, Berlin Heidelberg New York Herpertz S (2001) Bulimia nervosa. Psychotherapie im Dialog 2: 139-153 Köpp W, Kiesewetter S, Deter HC (2007) Zur Psychodynamik der Bulimia nervosa. Forum der Psychoanalyse 3: 266-277
12 1
Genetische Aspekte der Essstörungen
2
Helge Frieling und Stefan Bleich
3
12.1
4
12.1.1 Familien- und Zwillingsstudien – 63 12.1.2 Linkage-Analysen – 63 12.1.3 Assoziationsstudien – 63
5 6 7
12.2
Anorexia nervosa
– 62
12.3
Ausblick – Genomweite Assoziationsstudien, Gen-Umwelt-Interaktionen und Epigenetik – 65
Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung – 64
12.2.1 Familien- und Zwillingsstudien – 64 12.2.2 Linkage-Analysen – 64 12.2.3 Assoziationsstudien – 64
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
12.1
Anorexia nervosa
Obwohl über lange Jahre hinweg die Ätiologie der Essstörungen und speziell der Anorexia nervosa (AN) als überwiegend psychosozial determiniert angesehen wurde, zeigten formal- und molekulargenetische Untersuchungen der letzten Jahre (. Exkurs: Molekulargenetische Forschungsansätze), dass erblichen Einflüssen fl ebenfalls eine erhebliche Bedeutung zukommt. Die Untersuchung der Genetik komplexer Phänotypen wie der AN, die
sich in zahlreiche Subtypen, Endophänotypen und Subphänotypen zergliedern lässt, die jeweils eigene genetische Charakteristika zeigen, ist mit immensen Schwierigkeiten verbunden. Bisher lässt sich nur feststellen, dass es sich bei der AN nicht um eine monogene Erkrankung handelt, vielmehr erscheint es wahrscheinlich, dass zahlreiche genetische Varianten in unterschiedlichem Ausmaß zu der Pathologie beitragen. ! Das »Anorexie-Gen« gibt es nicht.
Definition Molekulargenetische Forschungsansätze In der Molekulargenetik werden verschiedene Ansätze zur Erforschung möglicher genetischer Einflüsse fl auf Krankheiten verwendet: Linkage-Analysen. Linkage-Analysen basieren auf großen Studien an Familien mit erkrankten Mitgliedern (i. d. R. Eltern und Geschwister der Erkankten). Dabei wird das gesamte Genom auf Variabilitäten mittels so genannter Mikrosatelliten (kurze Sequenzabschnitte) untersucht. Abweichungen von der normalen Häufigkeit fi der Transmission bestimmter Allele (i. d. R. wird jedes Allel in 50% der Fälle von den Eltern an die Kinder weitergegeben) lassen Rückschlüsse auf einen
Zusammenhang mit der Erkrankung zu. LinkageStudien sollen mögliche Kandidatengene oder zumindest chromosomale Abschnitte, die mit der Krankheit assoziiert sein könnten, identifizieren. fi Assoziationsstudien. Im Gegensatz zu den Linkage-Studien werden in Assoziationsstudien gezielt Kandidatengene auf mögliche genetische Polymorphismen hin untersucht. In der Regel erfolgt der Vergleich eines Patientenkollektivs mit einem gesunden Kontrollkollektiv. Mögliche Kandidategene werden entweder aus pathophysiologischen Überlegungen heraus ausgewählt oder aber im Vorfeld in Linkage-Studien identifiziert. fi 6
63
12.1 Anorexia nervosa
Genomweite Assoziationsstudien (wholegenome association scan – WGA). Die technische Entwicklung der letzten Jahre hat die Möglichkeiten molekulargenetischer Studien revolutioniert. Durch die Anwendung der Array-Technologie auf so genannten Chips können nun auch Assoziationsstudien genomweit durchgeführt
12.1.1
Familien- und Zwillingsstudien
Dass eine erbliche Komponente in der Ätiologie der AN eine wichtige Rolle spielt, konnte anhand von Familien- und Zwillingsuntersuchungen festgestellt werden. Verwandte ersten Grades von Patientinnen mit AN haben im Vergleich zu Individuen ohne familiäre Belastung ein etwa 10-fach erhöhtes Risiko, selbst eine AN zu entwickeln. Weiterhin ist auch das Risiko für andere Essstörungen deutlich erhöht. Zwillingsstudien quantifizieren fi den erblichen Anteil der AN auf 30‒80, wobei die aktuellsten und umfangreichsten Analysen im Bereich von 50 liegen. Auch hier spielt der erfasste Phänotyp eine wichtige Rolle. Werden neben den DSM IV-Kriterien auch subsyndromale Charakteristika von AN erfasst, erhöht sich der genetische Anteil auf etwa 75.
12.1.2
Linkage-Analysen
Für die AN wurden bisher drei große Linkage-Analysen veröffentlicht, ff mindestens eine weitere Studie steht kurz vor dem erfolgreichen Abschluss. Auch bei diesen Linkage-Studien zeigte sich die immense Bedeutung der untersuchten Phänotypen. Alle Studien konnten erst nach Einengung des untersuchten Phänotyps durch Einbeziehung bestimmter Verhaltensweisen, Einstellungen oder körperlicher Variablen (z. B. Schlankheitsdrang, nahrungsbezogene Zwangsgedanken oder BMI) signifikante fi Ergebisse erzielen. Alle Studien konnten die Bedeutung eines Locus auf dem Chromosom 1 zeigen. In diesem Bereich finden sich Gene für verschiedene serotonerge Rezeptoren, Cannabinoidrezeptoren und G-Proteine. Eine detailliertere Analyse dieses Locus (sog. fine-mappingg) steht noch aus.
12
werden. Derzeit stehen Chips zur Verfügung, die eine Million SNPs (single nucleotide polymorphisms) gleichzeitig analysieren können. Dies erlaubt die Identifi fizierung krankheitsassoziierter Genotypen. Aufgrund der komplexen biometrischen Verfahren für die Analytik sind jedoch sehr hohe Fallzahlen im 4- bis 5-stelligen Bereich notwendig.
12.1.3
Assoziationsstudien
Zahlreiche Assoziationsstudien sind für die AN bisher durchgeführt worden. Bisher ist es in den wenigsten Fälle gelungen, initiale positive Befunde unabhängig zu replizieren. Viele der bisherigen Studien wurden an sehr kleinen Kollektiven erhoben. Außerdem ist das relative Risiko für die Entwickung einer AN, das mit bestimmten Genotypen assoziiert ist, eher gering, sodass die praktische Relevanz der bisher identifizierten fi Varianten Stoff ff für Spekulationen bietet. Die bisherigen Studien konzentrieren sich v. a. auf mögliche Kandidaten aus dem serotonergen und dopaminergen Stoffwechsel ff sowie auf Hormone, die mit der Appetit- und Energieregulation assoziiert sind.
Serotonerge Gene Zahlreiche kleine Studien, deren Power nicht ausreichte, untersuchten verschiedene Serotoninrezeptoren und den Serotonintransporter. Eine ausreichene Fallzahl wiesen lediglich drei Studien auf, von denen zwei den Rezeptorsubtyp 1D (5-HT1D) und eine den Subtyp 2A (5-HT2A) untersuchten. Bezüglich des 5-HT1D-Rezeptors wurden verschiedene Polymorphismen mit restriktiver AN in Verbindung gebracht, allerdings zeigte nur ein SNP einen Zusammenhang in beiden Studien. Eine große Studie an über 1000 Probanden erbrachte eine Assoziation von zwei Polymorphismen des 5HT2A-Rezeptors ebenfalls mit restriktiver AN. Eine unabhängige Replikation steht hier aber noch aus.
Dopaminerge Gene Auch dopaminerge Zielgene sind interessante Kandidaten für eine genetische Assoziation mit AN. Bislang können aber auch für den dopaminergen Stoffwechsel ff nur wenige defi finitive Aussagen getrof-
64
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 12 · Genetische Aspekte der Essstörungen
fen werden. Im Gen für das wesentliche Enzym des oxidativen Dopaminabbaus, die CatecholaminO-Methyltransferase (COMT), sind verschiedene Polymorphismen bekannt, von denen mindestens einer (COMT 158 Val- > Met) funktionelle Relevanz hat. Nach ersten kleineren Studien, die eine mögliche Assoziation dieses Polymorphismus mit AN nahe gelegt hatten, konnte nun an einer großen Studie mit verschiedenen Teilstudien kein Effekt ff der Variante nachgewiesen werden. Viel versprechende Hinweise aus ausreichend großen Studien existieren aber für die Dopaminrezeptorsubtypen 2 (DRD2) und 4 (DRD4). Allerdings steht in beiden Fällen eine unabhägige Replikation der Ergebnisse aus.
Appetitregulierende Hormone
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Verschiedenste Hormone, die in die Appetitregulierung involviert sind, wurden als Kandidatengene für AN untersucht. Neben einigen wenigen klaren Negativergebnissen ‒ wie z. B. für das Leptingen oder das Gen für den Leptinrezeptor, das Ghrelingen oder das Gen für den Hypocretinrezeptor 1 ‒ wurden auch hier die meisten Studien an zu kleinen Kollektiven durchgeführt oder konnten nicht repliziert werden. Einzig Polymorphismen im Gen des Opioidrezeptorsubytpen δ1 zeigten in drei unterschiedlichen Studien eine klare Assoziation mit restriktiver AN).
Andere Kandidatengene Brain-derived neurotrophic factorr (BDNF) ist ein wichtiger Botenstoff ff für zerebrale Platizitätsprozesse wie Lern- und Gedächtnisfunktionen und scheint eine Rolle in der Pathophysiologie verschiedener psychischer Erkrankungen zu spielen. BDNF hat appetitmindernde und das Körpergewicht senkende Effekte. ff In zwei großen europäischen Studien konnte eine Assoziation zwischen einem Polymorphismus des BDNF-Gens (BDNF 66 Val- > Met) und restriktiver AN gefunden werden, ein Befund, der sich auch metaanalytisch erhärten ließ. Einschränkend muss zu diesem Polymorphismus erwähnt werden, dass Assoziationen mit verschiedenen psychischen Erkrankungen, z. B. Schizophrenie, gefunden werden konnten. Inwieweit hier also ein spezifi fisches Krankheitsgen für AN entdeckt wurde, bleibt fraglich.
Fazit Bisher können allenfalls die Serotoninrezeptorsubtypen 5-HT1D und 5-HT2A, der Opioidrezeptorsubtyp δ1 sowie BDNF als einigermaßen gesicherte Kandidatengene betrachtet werden. Unklar ist die Spezifität fi dieser Genotypen für die AN. Verschiedene andere Genotypen, z. B. des COMT-Gens, sind nicht mit der Erkrankung assoziiert.
12.2
Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung
12.2.1
Familien- und Zwillingsstudien
Ebenso wie bei der AN schwanken die Angaben für das genetische Risiko für Bulimia nervosa (BN) und Binge-Eating-Störung (BES) zwischen den Studien erheblich. Für BN werden Werte zwischen 28 und 83 angegeben, eine Studie für BES beziffert ff den erblichen Anteil am Phänotyp auf 41.
12.2.2
Linkage-Analysen
Verschiedene Linkage-Analysen zur BN wurden in den letzten Jahren veröffentlicht, ff die sich allerdings zum größten Teil auf dieselbe Studienpopulation beziehen. Je nach gewählter Analysemethode konnten bis zu vier Loci identifi fiziert werden, der robusteste Zusammenhang besteht mit dem Chromosom 10p. Spezifische fi Linkage-Analysen für BES wurden bisher nicht veröff ffentlicht.
12.2.3
Assoziationsstudien
Bislang gibt es für BN und BES zwar diverse Assoziationsstudien, allerdings wurden auch hier die wenigsten Studien an ausreichend großen Kollektiven durchgeführt. Nur in wenigen Fällen konnten initial positive Befunde repliziert werden. Unter den am häufigsten fi untersuchten Genen finden sich der Serotonintransporter (5-HTTLPR), Serotoninrezeptoren (v. a. 5-HT2A, 5-HT2C) und Dopaminrezeptoren (DRD2). Ebenfalls wurde eine Assoziation
12.3 Ausblick
mit dem Polymorphismus BDNF 66 Val- > Met mit bulimischen Verhaltensweisen berichtet, allerdings scheiterte auch für diesen Zusammenhang eine unabhängige Replikation. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen Binge-Eating und dem Melanokortin-4-Rezeptorgen, das auch mit Adipositas assoziiert zu sein scheint (7 Kap. 43). Etwas günstiger erscheint die Datenlage, wenn Subphänotypen oder krankheitsspezifische fi Traits betrachtet werden: Beispielsweise wurden in verschiedenen Studien vermehrte Aff ffektinstabilität, Impulsivität, Borderline-Persönlichkeitszüge und harm avoidance bei Patientinnen mit BN gefunden, die das kurze Allel (s-Allel) des 5-HTTLPR trugen. Andere Studien zeigten einen Zusammenhang zwischen vermehrter Impulsivität und dem 5-HT2AGen bei BN.
12.3
Ausblick – Genomweite Assoziationsstudien, GenUmwelt-Interaktionen und Epigenetik
Die bisherigen Erfahrungen mit komplexen Erkrankungen wie AN und BN zeigen, dass das herkömmliche Vorgehen, einzelne Kandidatengene in mittelgroßen Studienkollektiven zu untersuchen, nicht zum Erfolg führt. Andererseits ist der Weg von der Identifikation fi einer chromosomalen Region, die mit der Erkrankung zusammenhängt, bis zur Aufk fklärung der beteiligten Gene sehr lang und in vielen Fällen nicht möglich gewesen. Eine Abhilfe für dieses Dilemma könnten genomweite Assoziationsstudien sein, bei denen bis zu einer Million SNPs gleichzeitig untersucht werden können. Für die Untersuchung von AN, BN und BES sind allerdings internationale Kooperationen notwendig, um die dafür erforderlichen Fallzahlen zu erreichen. Gleichzeitig ist eine sehr klare Definitifi on der zu untersuchenden Phänotypen notwendig. Quantitativ messbare Endophänotypen könnten die Aussagekraft ft solcher Studien darüber hinaus erweitern. Studien aus verschiedenen Bereichen psychischer Erkrankungen konnten außerdem in den letzten Jahren die immense Bedeutung sogenannter Gen-Umwelt-Interaktionen zeigen. In vielen Fällen entpuppen sich Risikogene erst unter ganz
65
12
bestimmten Umweltbedingungen als solche, während sie unter anderen Umstäden entweder harmlos sind oder sogar protektive Eigenschaften ft besitzen. Zum Beispiel konnte gezeigt werden, dass Träger des weniger aktiven s-Allels des 5-HTTLPR nach Stressbelastung ein erhöhtes Risiko haben, depressiv zu werden. Menschen, die frühkindlich Traumatisierungen erlitten haben, hatten ein deutlich erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Depression, wenn bei ihnen dieselbe Variante (5HTTLPR s) homozygot vorlag. In einer aktuellen Arbeit konnte gezeigt werden, dass Patientinnen mit BN, die sowohl die s-Variante von 5-HTTLPR trugen als auch schweren kindlichen Missbrauch erlebt hatten, stärkeres sensation seekingg angaben und eine unsicherere Bindungsfähigkeit entwickelt hatten. Bisher gibt es aber kaum Studien, die der spezifischen fi Rolle von Gen-Umwelt-Interaktionen im Rahmen von Essstörungen nachgehen, obwohl sich gerade die Fehl- und/oder Mangelernährung für einen solchen Zusammenhang anbieten würde. Molekulargenetische Analysen auf der Basis der Sequenzinformation können nur ein statisches Bild bieten. Die genetische Regulation ist aber ein höchst dynamischer Prozess, der plastisch auf Veränderungen reagieren und so auch bestimmte ungünstigere Genotypen kompensieren kann. Wesentlich für diese Dynamik sind die so genannten epigenetischen Mechanismen, die die Aktivität einzelner Gene über einen längeren Zeitraum kontrollieren. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um DNAMethylierung in Promotorbereichen von Genen und Modifi fikationen von Histonproteinen, die die Chromatinstruktur beeinflussen fl und Mikro-RNASpezies, die die Aktivität von Genen auch nach der Transkription regulieren können. Gerade die DNA-Methylierung ist durch nutritive Faktoren stark beeinflussbar, fl sodass es nicht verwundert, dass Veränderungen der globalen DNA-Methylierung bei Patientinnen mit AN gefunden werden konnten. Allerdings wurden auch spezifische fi Veränderungen im Sinne einer vermehrten Methylierung einzelner Gen-Promotoren für AN und BN beschrieben. Bisher handelt es sich allerdings noch um einzelne, nicht replizierte Befunde, die auch nur im Querschnitt vorliegen. Epigenetischen Mechanismen könnte aber durchaus eine entscheidende Rolle für die Vermittlung und Integration von Vul-
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Kapitel 12 · Genetische Aspekte der Essstörungen
nerabilität, auslösenden und aufrechterhaltenden Krankheitsfaktoren zukommen. Fazit Die Untersuchung genetischer Aspekte von Essstörungen steckt im Vergleich zu anderen Erkrankungen immer noch in den Kinderschuhen. In den nächsten Jahren könnten aber deutliche Fortschritte durch genomweite Assoziationsstudien, die Berücksichtigung von Gen-Umwelt-Interaktionen und epigenetische Mechanismen erzielt werden.
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Literatur Bulik CM, Slof-Op’t Landt MC, van Furth EF, Sullivan PF (2007) The genetics of anorexia nervosa. Annu Rev Nutr 27: 263-75 Frieling H, Gozner A, Römer KD et al (2007) Global DNA hypomethylation and DNA hypermethylation of the alpha synuclein promoter in females with anorexia nervosa. Mol Psychiatry 12: 229-30 Hinney A, Friedel S, Remschmidt H, Hebebrand J (2004) Genetic risk factors in eating disorders. Am J Pharmacogenomics 4: 209-23 Steiger H, Bruce KR (2007) Phenotypes, endophenotypes, and genotypes in bulimia spectrum eating disorders. Can J Psychiatry 52: 220-227 Steiger H, Richardson J, Joober R et al (2007) The 5HTTLPR polymorphism, prior maltreatment and dramatic-erratic personality manifestations in women with bulimic syndromes. J Psychiatry Neurosci 32: 354-62 Treasure JL (2007) Getting beneath the phenotype of anorexia nervosa: the search for viable endophenotypes and genotypes. Can J Psychiatry 52: 212-219
13 Psychosoziale Risikofaktoren Corinna Jacobi und Eike Fittig 13.1
Anorexia nervosa
– 67
13.2
Bulimia nervosa
13.3
Binge-Eating-Störung – 72
– 69
In den letzten 20 Jahren ist die Anzahl der Studien zu Risikofaktoren rapide angestiegen. Dabei wurde der Begriff ff »Risikofaktor« infl flationär und inkonsistent genutzt, was nicht zuletzt auf das Fehlen eindeutiger Definitionen fi zurückzuführen ist. Vorschläge für klarere Definitionen fi wurden in den zurückliegenden Jahren von H. Kraemer und Mitarbeitern erstellt und sind mittlerweile allgemein anerkannt. Da die entsprechende Defi finition für den Begriff ff Risikofaktor auch diesem Kapitel zugrunde liegt, soll zunächst der Begriff ff eingeführt werden. ! Ein Risikofaktor ist die messbare Charakteristik einer Person in einer spezifi fischen Population, der (a) einem Ereignis (z. B. Krankheitsbeginn) vorausgeht und (b) das Eintrittsrisiko des Ereignisses erhöht. Risikofaktoren, die wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit nicht veränderlich sind, werden als feste Marker bezeichnet. Kann bei einem Faktor die zeitliche Abfolge nicht durch längsschnittliche Untersuchungen oder per Definition fi (ethnische Zugehörigkeit, Alter) nachgewiesen werden, spricht man von einem Korrelat bzw. einem retrospektiven Korrelat, falls der betreff ffende Faktor in Studien mit querschnittlichem Design retrospektiv erfasst wurde.
Im Folgenden werden die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu psychosozialen Risikofaktoren und retrospektiven Korrelaten für Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN) und Binge-EatingStörung (BES) wiedergegeben.
13.1
Anorexia nervosa
Sowohl für klinische als auch nichtklinische Stichproben belegen zahlreiche Arbeiten, dass AN und BN deutlich häufi figer bei Frauen auft ftreten. Die Prävalenzen von Essstörungen sind bei Frauen dabei etwa um den Faktor 10 erhöht. Da weibliches Geschlecht auch für zahlreiche andere psychische Störungen als Risikofaktor gilt, wird es als nichtspezifischer fi Marker klassifi fiziert. Obwohl Essstörungen traditionell vorwiegend als Problem in kaukasischen Ethnizitäten angesehen werden, zeigt eine Überblicksarbeit, dass erhöhte oder ebenso hohe Raten von Essstörungen auch bei native Americans und Angehörigen hispanischer Ethnizität festgestellt werden konnten. Niedrigere Prävalenzen fanden sich hingegen bei Angehörigen afroamerikanischer oder asiatischer Ethnizität. Nichtasiatische Ethnizität kann daher als Marker sowohl für AN als auch BN klassifiziert fi werden. Die höchste Inzidenz von Essstörungen wird in zahlreichen Untersuchungen von der Adoleszenz bis zum frühen Erwachsenenalter berichtet, sodass diese zeitliche Periode als variabler Risikofaktor bezeichnet werden kann. Auf der Basis von drei Arbeiten, in denen mithilfe von Krankenhausregistern die Häufi figkeiten von Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt retrospektiv untersucht wurden, konnte ein vermehrtes Auftreten ft von Frühgeburten, Geburtstraumen, Zephalhämatomen, Präeklampsien und Herzproblemen der Neugeborenen festgestellt werden. Diese Faktoren können als spezifische fi feste Marker für AN und BN klassifi fiziert werden. Zudem konnte in einer weiteren Studie ein höherer Anteil
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Kapitel 13 · Psychosoziale Risikofaktoren
an Geburten zwischen April und Juli im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen ermittelt werden. In zwei längsschnittlichen Studien wurde die Rolle früher Ess- und Fütterungsprobleme untersucht. Auf Grundlage dieser Arbeiten können wählerisches Essverhalten, anorektische Symptome in der Kindheit, Schwierigkeiten beim Füttern sowie Konfl flikte und Kämpfe um das Essen als Risikofaktoren für AN klassifi fiziert werden, welche bereits in der frühsten Kindheit relevant sind. Die Beziehung zwischen Diäthalten, einem negativen Körperbild sowie ständigen Sorgen über Figur und Gewicht und der Wahrscheinlichkeit, an einer Essstörung zu erkranken, ist im Kontext ätiologischer Theorien für Essstörungen einer der am häufi figsten diskutierten Zusammenhänge. Zwar existiert eine ganze Reihe von Arbeiten, die in querschnittlichem Design (teilweise auch retrospektiv erfasst) Belege für diese Assoziation bei AN finfi den konnten, allerdings erfüllen die meisten Patientinnen in längsschnittlichen Untersuchungen die Diagnose einer BN. So liegt bis zum jetzigen Zeitpunkt lediglich eine Arbeit vor, die auf der Grundlage eines längsschnittlichen Untersuchungsdesigns einen Zusammenhang zwischen erhöhten Werten eines Messinstruments für anorektische Symptome in der Kindheit und AN bzw. AN-Symptomen berichtet. Zudem wird vermehrt die Rolle einer Kulturanpassung (Akkulturation) bei der Entstehung einer Essstörung diskutiert. Der Einfluss fl dieses Faktors auf die Entstehung einer AN wurde in einer querschnittlichen Arbeit, in der Akkulturation retrospektiv erfasst wurde, bestätigt. Große Aufmerksamkeit kommt im Kontext der Ätiologie von Essstörungen auch der Rolle von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend zu. So konnte in mehreren querschnittlichen Untersuchungen sexueller Missbrauch als retrospektives Korrelat identifi fiziert werden. Allerdings hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt lediglich eine längsschnittliche Arbeit mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt, in der nur eine Patientin mit AN identifiziert fi werden konnte. Dem Bindungsstil, Familienklima sowie der Interaktion der Familienmitglieder wird in Ätiologiemodellen für Essstörungen, insbesondere aus historischer Perspektive, eine große Bedeutung zugeschrieben. Im Großteil der Untersuchungen beurteilen anorektische und bulimische Patientinnen verschiedene Aspekte ihrer Familienstruk-
tur (Interaktion, Zusammenhalt, Kommunikation, Emotionalität, Bindung usw.) als gestörter, konfliktbehaft fteter, pathologischer oder dysfunktional im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Da die Diagnose einer AN in keiner der längsschnittlichen Untersuchungen, in welcher diese Variablen erfasst wurden, als Outcome erhoben wurde, existiert zum jetzigen Zeitpunkt keine Evidenz dafür, dass diese Variablen Risikofaktoren für die Entstehung einer AN darstellen. Ein stark überbehütetender Erziehungsstil wurde in einer querschnittlichen Arbeit bei Patientinnen mit AN im Vorfeld der Störung angegeben, sodass dieser Faktor zumindest als retrospektives Korrelat bezeichnet werden kann. Ebenso wird postuliert, dass Adoptiv- oder Pfl flegekinder ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Essstörung aufweisen. Eine Untersuchung, welche die Rolle dieses Faktors in einem schwedischen Krankenhausregister untersuchte, konnte bestätigen, dass eine Adoption oder Pfl flegeunterbringung ein Risikofaktor für die Entstehung einer AN darstellt. Eine bedeutende Anzahl an Untersuchungen beschäft ftigt sich zudem mit der Rolle familiärer Psychopathologie bei der Entstehung einer AN. Deutliche Evidenz ist v. a. für die Rolle von Essstörungen (AN und BN), affektiven ff Störungen, Angststörungen (Panikstörung, generalisierte Angststörung, Zwangsstörung) sowie einer zwanghaften ft Persönlichkeitsstörung vorhanden. Allerdings kann auch hier keine der Arbeiten einen Beleg für die klare zeitliche Abfolge dieser Faktoren erbringen. Familiäre Psychopathologie kann demnach aktuell ebenfalls lediglich als (retrospektives) Korrelat bezeichnet werden. Auch der Psychopathologie bzw. dem Vorhandensein anderer psychischer Störungen der Probandinnen selbst wird sowohl in ätiologischen Theorien als auch in wissenschaft ftlichen Untersuchungen eine bedeutende Rolle zugeschrieben. So existieren zum jetzigen Zeitpunkt acht längsschnittliche Arbeiten, in denen generelle psychische Morbidität, Psychopathologie oder negative Emotionalität als potenzielle Risikofaktoren untersucht wurden. Jedoch konnte in lediglich einer dieser längsschnittlichen Arbeiten eine Patientin mit AN identifi fiziert werden, sodass die eigene Psychopathologie derzeit eher als Korrelat bezeichnet werden muss. Dass eine körperdysmorphe Störung, eine in der Kindheit beginnende zwanghafte ft Persönlichkeits-, Zwangs- und Angststörung als potenzielle Risiko-
69
13.2 Bulimia nervosa
faktoren angesehen werden könnten, legen Befunde aus querschnittlichen Studien nahe, in denen ein Einfl fluss dieser retrospektiv erfassten Faktoren demonstriert werden konnte. Einem geringen Selbstwert, einem negativen ffektivität« wird ebenfalls Selbstkonzept bzw. »Ineff ein Einfluss fl bei der Entstehung einer AN zugeschrieben. In Querschnittuntersuchungen konnten diese Annahmen auch konsistent bestätigt werden. Jedoch blieb auch für diesen potenziellen Risikofaktor die Evidenz aus längsschnittlichen Untersuchungen aus, sodass ein negativer Selbstwert ebenfalls lediglich als (retrospektives) Korrelat bezeichnet werden kann. Perfektionismus stellt v. a. aus klinischem Blickwinkel einen stark mit AN assoziierten Faktor dar. So zeigen Patientinnen mit AN häufi fig rigide, stereotype, ritualisierte oder perfektionistische Verhaltensweisen. Aus biopsychologischer Perspektive wurden perfektionistische Personencharakteristika v. a. mit Veränderungen des Serotoninhaushalts in Verbindung gebracht. Eine Reihe querschnittlicher Untersuchungen bestätigt, dass Perfektionismus bei remittierten ANPatientinnen erhöht ist und somit als retrospektives Korrelat bezeichnet werden kann. In einer neueren längsschnittlichen Arbeit ließen sich zudem erhöhte Neurotizismuswerte als Risikofaktor für die Entstehung einer AN klassifizieren. fi Ob Berufsgruppen (Models, Schauspieler) und verschiedene Sportler (z. B. Balletttänzerinnen, Turner, Jockeys, Skispringer), bei denen die Bedeutung der Figur sowie ein niedriges Gewicht überbetont wird, als Hochrisikogruppen für die Entstehung einer Essstörung angesehen werden können, wird bereits seit über 20 Jahren diskutiert. Obwohl bei Elitesportlern essstörungsrelevante Symptome und Verhaltensweisen häufi fig beobachtet werden können, liegen die Prävalenzen von vollsyndromalen Essstörungen (AN und BN) gewöhnlich nicht über denen von Kontrollgruppen. Zahlreiche querschnittliche Untersuchungen beschäft ftigen sich zudem mit der Rolle von überhöhter sportlicher Aktivität bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Essstörung. Lediglich eine Untersuchung erfasst das Ausmaß an sportlicher Aktivität retrospektiv vor dem Beginn der Essstörung. In dieser Untersuchung berichteten anorektische und bulimische Patientinnen eine höhere sportliche Aktivität als gesunde Kontrollpersonen.
13
Psychosoziale Risikofaktoren und retrospektive Korrelate für eine Anorexia nervosa (retrospektive Korrelate sind kursiv wiedergegeben) Geburt 5 Weibliches Geschlecht 5 Nichtasiatische Ethnizität 5 Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt Kindheit 5 Alter (Adoleszenz bis frühes Erwachsenenalter) 5 Gesundheitliche Probleme 5 Wählerisches Essverhalten, anorektische Symptome in der Kindheit fl 5 Schwierigkeiten beim Füttern, Konflikte und Kämpfe um das Essen flegeerziehung 5 Adoption oder Pfl 5 Schlafprobleme 5 Überbehüteter Erziehungsstil 5 Kindliche Schlafstörung 5 Kindliche Angststörung 5 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung 5 Sexueller Missbrauch 5 Hohes Maß an Einsamkeit und Schüchternheit Jugend 5 Übermäßige Sorgen über Figur und Gewicht/Diäthalten 5 Neurotizismus 5 Akkulturation 5 Übertriebenes Sporttreiben 5 Körperdysmorphe Störung, Zwangsstörung 5 Ein höheres Niveau an risikobehafteten persönlichen, diätbezogenen und Umgebungsfaktoren (z. B. Sportarten und Berufsgruppen; negativer Selbstwert; Perfektionismus)
13.2
Bulimia nervosa
Die Rollen von Geschlecht, Ethnizität und Alter wurden bereits in 7 13.1 bei den Risikofaktoren für AN dargestellt. So können weibliches Geschlecht sowie nichtasiatische Ethnizität als feste Marker und das Alter zwischen Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter als variabler Risikofaktor für
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Kapitel 13 · Psychosoziale Risikofaktoren
BN bezeichnet werden. In zwei querschnittlichen Untersuchungen wurde zudem ein frühes Eintreten fiziert. der Pubertät als fester Marker für BN klassifi Die Rolle früher Ess- und Fütterungsprobleme wurde auch im Kontext der Entstehung einer BN untersucht. Drei längsschnittliche Untersuchungen liefern empirische Belege dafür, dass Pica, eine zu geringe Nahrungsaufnahme sowie gesundheitliche Probleme der Kleinkinder ‒ ebenso wie im Zusammenhang mit der Entstehung einer AN ‒ als Risikofaktoren für die Entwicklung einer BN angesehen werden können. Wie im Kontext der Entstehung einer AN werden dem Diäthalten, einem negativen Körperbild sowie übermäßigen Sorgen über Figur und Gewicht auch bei der Entstehung einer BN große Bedeutung zugeschrieben. Konnte bei AN dieser Zusammenhang lediglich in querschnittlichen Untersuchungen empirisch bestätigt werden, so liegen für BN hierfür 14 längsschnittliche Untersuchungen vor. Die Ergebnisse dieser Arbeiten unterstreichen die Rolle dieses Faktors deutlich, sodass Sorgen über das Gewicht und die Figur ebenfalls als Risikofaktor bezeichnet werden können. In querschnittlichen Untersuchungen konnte zudem ein Zusammenhang von retrospektiv erfasster Akkulturation und der Entstehung einer BN demonstriert werden. Wie bereits in 7 13.1 angesprochen, existiert eine Vielzahl von Arbeiten, welche die Rolff le von Psychopathologie oder negativer Affektivität bei der Entstehung von Essstörungen untersuchen. Obwohl die Mehrheit dieser Untersuchungen nur ein querschnittliches Design aufweist, existieren auch einige längsschnittliche Arbeiten. In diesen Untersuchungen konnte ein Einfl fluss genereller Psychopathologie, negativer Affektivität ff (z. B. suizidale Gedanken) sowie einem Angst-Depressions-Messinstrument dokumentiert werden, sodass vorausgehende Psychopathologie auf Basis dieser Untersuchungen als Risikofaktor für die Entstehung einer BN klassifiziert fi werden kann. Allerdings muss angemerkt werden, dass das Verhältnis längsschnittlicher Studien, die einen Einfluss fl der genannten Faktoren fi finden, im Vergleich zu den Studien, die keinen Einfluss fl dieser Faktoren identifi fizieren konnten, ausgeglichen ist. Als weitere retrospektive Korrelate können eine Störung mit Überängstlichkeit sowie Übergewicht während der Kindheit und eine soziale Phobie im Vorfeld der
BN angesehen werden. Die familiäre Psychopathologie ist im Großteil der querschnittlichen Untersuchungen gegenüber der elterlichen Psychopathologie gesunder Kontrollprobanden ebenfalls erhöht. So zeigt sich bei den Eltern von Patientinnen mit BN ein vermehrtes Auft ftreten von Essstörungen, aff ffektiven Störungen, Substanzstörungen und Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (z. B. Borderline-Störungen) im Vergleich zu den Eltern gesunder Kontrollpersonen. Unglücklicherweise ist auch hier die zeitliche Abfolge in keiner dieser Untersuchungen hinlänglich belegt. Da auch keine Evidenz aus längsschnittlichen Untersuchungen vorliegt, kann familiäre Psychopathologie nicht als Risikofaktor bezeichnet werden. Allerdings existieren einige querschnittliche Arbeiten, in denen familiäre Probleme wie Alkoholismus, Depression, Drogenmissbrauch sowie Adipositas retrospektiv erfasst wurden und daher als retrospektive Korrelate klassifi fiziert werden können. Sexueller Missbrauch, vor allem während der Kindheit, wurde in vielen Studien und Übersichtsartikeln als Risikofaktor für die Entstehung einer BN diskutiert. In querschnittlichen Arbeiten werden dabei konsistent höhere Raten von sexuellem Missbrauch für Patientinnen mit BN im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen berichtet. In der einzigen Längsschnittuntersuchung hierzu konnte in einer großen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der Einfluss fl von negativen Lebensereignissen (inklusive sexuellem Missbrauch) und physischer Vernachlässigung belegt werden. Auf Basis dieser Untersuchung kann sexueller Missbrauch als Risikofaktor für die Entstehung einer BN klassififi ziert werden. Konsistent zu Befunden aus AN-Risikofaktoruntersuchungen zu Bindungsstil, Familienklima sowie der Interaktion der Familienmitglieder, beschreiben Patientinnen mit BN in querschnittlichen Untersuchungen verschiedene Aspekte ihrer Familienstruktur gestörter als gesunde Kontrollprobanden. Hierbei sollten besonders negative Kommentare über Gewicht, Figur und Essen hervorgehoben werden. In einer längsschnittlichen Arbeit konnte zudem der Einfl fluss verschiedener Familienvariablen wie unbefriedigende familiäre Interaktion oder zu geringe Zuneigung der Eltern demonstriert werden, sodass einer gestörten Familieninteraktion auf Grundlage dieser Arbeit die Rolle eines Risikofaktors zukommt.
13.2 Bulimia nervosa
Im Gegensatz zu Risikofaktorstudien bei AN existiert eine Reihe längsschnittlicher Untersuchungen, die den Einfluss fl von geringem Selbstff wert und negativem Selbstkonzept bzw. »Ineffektivität« auf die Entstehung einer BN untersuchen. Ein Großteil dieser Studien berichtet, dass diese Faktoren die Wahrscheinlichkeit einer BN erhöhen. Diese Faktoren können daher als Risikofaktoren bezeichnet werden. Die Rolle von Perfektionismus bei der Entstehung einer BN wurde in vier längsschnittlichen Untersuchungen analysiert. Keine dieser Arbeiten konnte einen Einfl fluss von Perfektionismus über die Zeit hinweg belegen. Probandinnen, die höhere Neurotizismuswerte berichteten, wiesen in einer anderen längsschnittlichen Arbeit ebenfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, an einer BN zu erkranken. Eine längsschnittliche Studie, in welcher der Einfl fluss verschiedener Berufsgruppen oder Sportarten auf die Entstehung einer BN untersucht wurde, liegt bisher nicht vor.
71
Eine Reihe weiterer Faktoren konnte in verschiedenen längsschnittlichen Arbeiten als Risikofaktoren für die Entstehung einer BN klassififi ziert werden. So konnte in einer Studie der Einfluss fl der beiden Youth-Self-Report-Subskalen »aggressiv« und »unbeliebt« sowie des Alkoholkonsums innerhalb der letzten 30 Tage auf die Entstehung einer BN belegt werden. In einer längsschnittlichen Arbeit, in der die Rolle von Impulsivität untersucht wurde, ließ sich zwar kein Einfluss fl von Impulsivität auf die Entstehung einer BN demonstrieren, wohl aber zeigte sich ein Einfluss fl von verhaltensbezogenen Korrelaten wie Delinquenz oder Sunstanzmissbrauch. In einer weiteren Untersuchung wurden vermeidendes Coping sowie geringe soziale Unterstützung als Risikofaktoren für BN klassifiziert. Schließlich konnte in einer Studie die Rolle eines vermehrten Auft ftretens kritischer Lebensereignisse im Vorfeld der BN als Risikofaktor demonstriert werden.
Psychosoziale Risikofaktoren und retrospektive Korrelate für eine Bulimia nervosa (retrospektive Korrelate sind kursiv wiedergegeben) Geburt 5 Weibliches Geschlecht 5 Nichtasiatische Ethnizität 5 Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt (Frühgeburten, Geburtstraumen, Zephalhämatome, Präeklampsien und Herzprobleme der Neugeborenen) 5 Geburten zwischen April und Juli Kindheit 5 Gesundheitliche Probleme 5 Angst – Depression 5 Sexueller Missbrauch, physische Vernachlässigung 5 Pica, Schwierigkeiten beim Füttern 5 Störung mit Überängstlichkeit 5 Kindliche Schlafstörung 5 Adipositas Jugend 5 Frühes Eintreten der Pubertät 5 Sorgen über das Gewicht und die Figur, Diäthalten
13
5 Negative Emotionalität, generelle Psychopathologie ff 5 Geringer Selbstwert, Ineffektivität 5 Ungünstige Interaktionsformen in der Familie 5 Akoholkonsum 5 Youth-Self-Report »aggressiv«, »unbeliebt« 5 Hohe Neurotizismuswerte 5 Geringe interozeptive Wahrnehmung 5 Negative Lebensereignisse 5 Vermeidendes Coping 5 Geringe soziale Unterstützung 5 Akkulturation 5 Sexueller Missbrauch, ungünstige Lebensereignisse 5 Ein höheres Niveau an risikobehafteten persönlichen, diätbezogenen und Umgebungsfaktoren (höhere sportliche Aktivität, ungünstiges Familienerleben, elterliche Alkoholabhängigkeit, Depression, Drogenabhängigkeit; elterliche Adipositas; negative Kommentare über Gewicht und Figur) 5 Soziale Phobie 5 Prodromalsymptome
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13.3
Kapitel 13 · Psychosoziale Risikofaktoren
Binge-Eating-Störung
Da eine BES keine eigenständige Diagnose darstellt, wohl aber einen bedeutenden Teil der »nicht näher bezeichneten Essstörungen«, ist die Anzahl an Untersuchungen, die die expliziten Forschungskriterien für die Diagnose einer BES nutzen, eher gering. Der Outcome längsschnittlicher Risikofaktoruntersuchungen stellt häufi fig eine Vermischung von bulimischen und Binge-Eating-Syndromen dar, sodass angenommen werden kann, dass eine Reihe der Faktoren, welche in dem vorausgehenden Absatz als Risikofaktoren für die Entstehung einer BN vorgestellt wurden, auch bei der Entstehung einer BES relevant sein dürften ft . Im Folgenden werden daher nur die Ergebnisse längsschnittlicher und querschnittlicher Arbeiten vorgestellt, bei denen sichergestellt werden kann, dass als Outcome explizit die Forschungskriterien für BES genutzt wurden. So konnten in einer der Arbeiten sexueller Missbrauch oder physische Vernachlässigung (erhoben über ein zentrales Register oder über Interviews der Mütter) als Risikofaktor für die Entstehung einer Essstörung (BES und BN) identifiziert fi werden. Der Einfluss fl eines geringen Selbstwerts, hoher körperbezogener Sorgen sowie vermeidenden Copings auf die Entstehung einer BES konnte ebenfalls in einer längsschnittlichen Studie dokumentiert werden. Von den 28 Probandinnen, die eine Essstörung entwickelten, erfüllten dabei 13 die Forschungskriterien einer BES. Ein Faktor, welcher Sorgen über Gewicht, Figur und Essen sowie sozialen Druck, schlank zu sein beinhaltet, konnte in einer weiteren längsschnittlichen Studie signifikant fi die Entstehung einer Essstörung vorhersagen. Weiterhin ließ sich in dieser Arbeit auch der Einfluss fl einer Zunahme an negativen Lebensereignissen im Vorfeld der Erkrankung feststellen. Da in dieser Arbeit sowohl BN- als auch BES-Patientinnen identifiziert fi wurden, können diese genannten Faktoren ebenfalls als Risikofaktoren für die Entstehung einer BES bezeichnet werden.
Neben diesen drei längsschnittlichen Studien existieren ebenfalls drei Arbeiten, in denen potenzielle Risikofaktoren für die Entstehung einer BES retrospektiv erfasst wurden. In der ersten Untersuchung konnten für Patientinnen mit BES im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen erhöhte Werte bzw. Häufi figkeiten für ein negatives Selbstkonzept, major depression, schwieriges Sozialverhalten, selbstverletzendes Verhalten, elterliche Kritik, hohe Erwartungen, geringe Zuneigung, geringes elterliches Engagement sowie geringe mütterliche Fürsorge und hohe Überbehütung festgestellt wer-
den. Zusätzlich berichteten Patientinnen mit BES höhere Prävalenzen von sexuellem Missbrauch, wiederholtem physischen Missbrauch, Einschüchterung innerhalb der Familie (Bullying), negativen Kommentaren und Sticheleien über Figur, Gewicht und Essen. Dabei erscheinen geringes elterliches Engagement, negative Kommentare über Figur, Gewicht und Essen sowie kindliche Adipositas als spezifische retrospektive Korrelate für die Entstehung fi einer BES. In der zweiten Studie wurden Frauen mit BES mit adipösen und nichtadipösen Frauen ohne Essstörung hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Eltern verglichen. Dabei berichteten Frauen, welche die Diagnose einer BES erfüllten von mehr väterlicher Vernachlässigung und Ablehnung als nichtadipöse Frauen. Väterliche Vernachlässigung und Ablehnung können daher als retrospektive Korrelate bezeichnet werden. Die Häufi figkeiten von retrospektiv erfasstem sexuellem und physischem Missbrauch, Einschüchterung und Diskriminierung aufgrund der ethischen Zugehörigkeit wurden in der dritten Studie bei Frauen mit BES, gesunden und psychisch erkrankten Kontrollprobanden verglichen. Zwar berichteten Frauen mit BES höhere Prävalenzen von sexuellem und physischem Missbrauch, Mobbing von Gleichaltrigen und Diskriminierung als gesunde Kontrollpersonen, allerdings unterschieden sich die Frauen mit BES lediglich hinsichtlich Diskriminierung von den Kontrollpersonen mit anderen psychischen Störungen.
13.3 Binge-Eating-Störung
73
Psychosoziale Risikofaktoren und retrospektive Korrelate für eine Binge-Eating-Störung (retrospektive Korrelate sind kursiv wiedergegeben) Kindheit 5 Sexueller Missbrauch, physische Vernachlässigung 5 Wahrgenommene Vernachlässigung und Ablehnung durch Eltern 5 Adipositas während der Kindheit Jugend 5 Diäthalten 5 Geringer Selbstwert 5 Sorgen über Gewicht, Figur und Essen, sozialer Druck, schlank zu sein 5 Negative Lebensereignisse 5 Vermeidendes Coping
5 Geringe soziale Unterstützung 5 Sexueller Missbrauch, wiederholter physischer Missbrauch 5 Ein höheres Niveau an risikobehafteten persönlichen, diätbezogenen und Umgebungsfaktoren (z. B. negativer Selbstwert; major depression; schwieriges Sozialverhalten; selbstverletzendes Verhalten; elterliche Kritik, hohe Erwartungen, minimale Zuneigung, geringes elterliches Engagement sowie geringe mütterliche Fürsorge und hohe Überhütung) 5 Mobbing innerhalb der Familie und von Gleichaltrigen, Diskriminierung, negative Kommentare und Sticheleien über Figur, Gewicht und Essen
Fazit Obwohl zum jetzigen Zeitpunkt zahlreiche Untersuchungen zu Risikofaktoren bei Essstörungen vorliegen, müssen einige Einschränkungen aufgeführt werden: So ist erstens die Mehrzahl der so genannten Risikostudien in querschnittlichen Designs angelegt, sodass die Ergebnisse aus diesen Untersuchungen lediglich als Korrelate interpretiert werden können. Obwohl die meisten der längsschnittlichen Untersuchungen mit großen Stichprobenumfängen durchgeführt wurden, ist weiterhin die Anzahl der identifi fizierten Probandinnen mit Essstörungen zu gering, um allgemein gültige Aussagen über die Bedeutung der identifizierten Faktoren treff ffen zu können. Daher ist die Replikation vieler Ergebnisse unbedingt notwendig. Die Evidenz aus längsschnittlichen Untersuchungen ist deutlich besser für BN und BES als für AN, was nicht zuletzt auf die geringe Prävalenz der AN zurückzuführen ist. Schließlich werden in den längsschnittlichen Untersuchungen größtenteils sowohl die verschiedenen Diagnosen als auch vollsyndromale und partielle Störungen vermischt. In vielen Arbeiten werden zudem nur Essstörungen als Outcome erfasst, sodass die Spezifität fi vieler Risikofaktoren fraglich ist. So existiert
beispielsweise eine Reihe längsschnittlicher Arbeiten, die demonstrieren, dass eine vorauslaufende Psychopathologie auch als Risikofaktor für die Entstehung aff ffektiver Störungen relevant ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass weibliches Geschlecht, Sorgen über Figur und Gewicht sowie ein negativer Selbstwert sowohl die potentesten als auch die am besten bestätigten psychosozialen Risikofaktoren für die Entstehung einer Essstörung darstellen. Da einige der hier vorgestellten Risikofaktoren lediglich auf dem Hintergrund einer Studie klassifiziert fi wurden, sind sie replikationsbedürftig. Ebenso bedürfen die retrospektiven Korrelate einer weiteren Überprüfung im Rahmen zukünftiger Längsschnittstudien. Auf der Basis der vorliegenden Ergebnisse können derzeit kaum Aussagen über die Interaktion der verschieden Risikofaktoren getroffen ff werden. Dieser Aspekt sollte in zukünftigen Risikofaktoruntersuchungen stärkere Beachtung fi finden. Zudem erscheint es angebracht, den kausalen Einfluss der vorgestellten Risikofaktoren auf die Entfl stehung von Essstörungen in randomisierten und kontrollierten Präventions- und Interventionsstudien zu prüfen.
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Kapitel 13 · Psychosoziale Risikofaktoren
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14 Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen Burkard Jäger 14.1
Anorexia nervosa
– 75
14.1.1 Kulturhistorische Perspektive – 75 14.1.2 Auftretenshäufigkeit fi in verschiedenen Kulturen – 76 14.1.3 Einfl flüsse des schlanken Körperideals – 76 14.1.4 Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren – 76
14.3
14.3.1 Die Rolle von Normen und Idealen in den Medien und der öff ffentlichen Moral – 80
14.4 14.2
Bulimia nervosa
Kulturelle Faktoren bei Gewichtszunahme, Adipositas und Binge-EatingStörung – 80
– 77
Gemeinsame Faktoren: Migration und Rollenanforderungen an Frauen – 80
14.2.1 Kulturhistorische Perspektive – 77 14.2.2 Auftretenshäufigkeit fi in Kulturen mit und ohne Anschluss an westliche Medieninhalte – 77 14.2.3 Einfl flüsse des schlanken Körperideals – 77 14.2.4 Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren – 79
Das Auftreten ft von Essstörungen variiert erheblich zwischen verschiedenen soziokulturellen Gruppen sowie unter historischer Perspektive. Es fi finden sich sowohl Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen als auch Unterschiede zwischen unterschiedlichen Kulturen und zwischen sozialen Schichten in der sonst gleichen kulturellräumlichen Umgebung. Ein Einfluss fl des soziokulturellen Umfeldes besteht auch unabhängig von genetischen Einflüssen fl oder einer defi fizitären oder schädlichen kindlichen Erziehungssituation. Den wichtigsten Aspekt dieser kulturellen Faktoren scheint der westlich geprägte, gesellschaftliche ft Druck zum Schlanksein darzustellen; Einflüsse fl von Seiten der Medien wie durch die soziale Umgebung (Peers und Familie) gelten als gesichert. Die Bedeutung der verschiedenen soziokulturellen Merkmale ist allerdings für die unterschiedlichen Diagnosen unterschiedlich ausgeprägt. ! Während man lange Zeit Essstörungen überwiegend als Erkrankungen westlicher Industrienationen angesehen hat, weisen jüngere Untersuchungen auf deren weltweite Verbreitung hin. Insbesondere Länder, die sich mehr oder weniger rasant an westliche Werte anpassen,
scheinen eine besondere Vulnerabilität für Essstörungen aufzuweisen.
14.1
Anorexia nervosa
14.1.1
Kulturhistorische Perspektive
Einzelfälle off ffenkundiger anorektischer Erkrankungen, die jedoch noch nicht als solche bezeichnet wurden, werden spätestens seit der mittelalterlichen Geschichtsschreibung berichtet. Der Umstand, fast ohne Nahrung auszukommen, wurde zumeist als Umsetzung des christlich-klerikalen Ideals der frommen Askese erklärt. Als prototypisch gilt der Fall der Catarina von Siena (um 1347‒1380), einer Patronin des Dominikanerordens und zeitweisen Beraterin von Papst Gregor XI. Ihre Popularität und ihren späteren politischen Einfluss fl verdankte sie einer angeblichen prophetischen Gabe und ihrem strengen Fasten, das in der Adoleszenz begann und bis zu ihrem dadurch mitbedingten Tod andauerte. Die sich durch eine solche »Leistung« bietende Anerkennung konnte eine Karriere als Nonne oder sogar als »Heilige« begründen und damit eine Loslösung von der Familie unterstützen ‒ ein Rollen-
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Kapitel 14 · Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen
angebot, welches heute in dieser Form nicht mehr existiert. Ab etwa dem 16. Jahrhundert bis kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts wurden offenff kundig anorektische Patientinnen unter dem diagnostischen Begriff ff der Chlorose (»Bleichsucht«) subsumiert. Die Fälle der Anorektikerinnen aus dem Mittelalter und der beginnenden Neuzeit beinhalten bereits das Merkmal der Vorbildfunktion bzw. »sozialen Ansteckung«, wie wir es auch bei heutigen Manifestationsformen von Essstörungen kennen. In den klinischen Bildern ‒ oder in der Darstellung ‒ fehlt aber regelhaft ft das Merkmal eines überwertigen Schlankheitswunsches, welches erst etwa mit Beginn des letzten Jahrhunderts beschrieben wurde.
14.1.2
Auftretenshäufigkeit fi in verschiedenen Kulturen
Hilde Bruch ging noch davon aus, dass die Magersucht bei Farbigen im Gegensatz zu Weißen praktisch nicht auftritt. ft Diese Position ist heute zumindest bei Farbigen in westlich orientierten Ländern nicht mehr haltbar. Die Prävalenzraten für Farbige sind niedriger als bei kaukasischstämmigen Patienten, aber off ffenbar im Steigen begriff ffen. Fälle anorektischer Erkrankungen werden aus allen Kulturen und allen religiösen Gruppen berichtet, wobei aber die wenigen validen Untersuchungen zu soziokulturellen Veränderungen eine Zunahme insbesondere in den Schwellenländern verzeichnen. Auch für die Anorexie fi findet sich ein Unterschied zwischen »westlichen« und anderen Ländern mit einer Prävalenzrate für Anorexia nervosa (AN) zwischen 0,1 und 5,7 in westlichen Ländern gegenüber einer Rate von 0,002‒0,9 in nichtwestlichen Ländern. Letztere Angaben sind aber noch vorsichtiger zu interpretieren als die Prävalenzangaben für die USA oder West-Europa, da ihnen sehr unterschiedliche Falldefi finitionen und Untersuchungsstichproben zugrunde liegen (7 Kap. 7).
14.1.3
Einfl flüsse des schlanken Körperideals
Der Wunsch, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, steht bei der anorektischen Erkrankung nicht im Vordergrund; der Krankheitswert liegt auf einer intrapsychischen oder interpersonellen Ebene und ist nicht mit einem Konformitätswunsch verbunden. Aufgrund des Fehlens dieses Merkmals in den historischen Berichten und in asiatischen Ländern wurde auch diskutiert, ob die Angst vor Körperfett ein zusätzliches Merkmal neben den gängigen Kriterien der AN darstellt. Dennoch verlaufen die genannten Steigerungen in der Prävalenz der Erkrankung häufi fig parallel zur Industrialisierung und zur Übernahme westlicher Schönheitsideale. ! Die Anorexie ist nicht an den Schlankheitswunsch gebunden, wird aber durch diesen unterstützt und legitimiert. Sie kann auch durch modebewusste Diätversuche getriggert werden, löst sich jedoch im weiteren Verlauf von einer Orientierung an den gesellschaftlichen Idealen deutlich ab.
14.1.4
Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren
Im Gegensatz zu den früheren Annahmen, die Magersucht trete bevorzugt in höheren sozioökonomischen Klassen auf, ließ sich diese Annahme in späteren Arbeiten nur noch selten replizieren. Es ist anzunehmen, dass Mädchen und Jugendliche mit Anorexie und einer Herkunft ft aus wohlhabenden und gebildeten Elternhäusern stärker auffallen, da Mädchen dieser gesellschaftlichen ft Gruppe bei anderen psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen seltener sind. Als »Anorexia athletica« werden anorektische Erkrankungen vor dem Hintergrund von Sportarten genannt, bei denen ein geringes Gewicht einen Wettbewerbsvorteil verspricht, wie z. B. Turnen, Ballett und Ausdauersportarten und bei Männern zusätzlich das Skispringen«.
77
14.2 Bulimia nervosa
14.2
Bulimia nervosa
14.2.1
Kulturhistorische Perspektive
Bereits die Herkunft ft des Begriff ffs aus dem Griechischen und die Übersetzung als »Ochsenhunger« suggeriert eine historische Wurzel. Hedonistisch geprägte, bulimische Rituale mit Fressgelagen und anschließendem, absichtlich herbeigeführtem Erbrechen sind z. B. aus dem vorchristlichen Ägypten, aus Griechenland und dem Römischen Reich bekannt; diesen fehlt aber das Merkmal des Einsatzes dieser Praktiken als Mittel der Gewichtskontrolle. Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden seltene Fallberichte über unstillbaren Hunger beschrieben, die häufig fi aber einen psychiatrischen oder neurologischen Hintergrund hatten und nicht von absichtlichem Erbrechen oder einer anderen Maßnahme der Regulation der Energieaufnahme gefolgt waren. Trotz anfänglicher gegenteiliger Spekulationen geht man daher heute davon aus, dass sich das Syndrom der Bulimie im Gegensatz zur Anorexie tatsächlich erst seit ca. den 1950er Jahren in nennenswerter Häufi figkeit ausgebildet hat. Die erste umfassende Beschreibung stammt bekanntermaßen von 1979, die erste Anerkennung als Krankheitsentität erfolgte im Jahr 1980. Es stellt sich die Frage, ob die Anerkennung als Erkrankung als iatrogener Faktor zur epidemischen Verbreitung beigetragen hat.
14.2.2
Auftretenshäufigkeit fi in Kulturen mit und ohne Anschluss an westliche Medieninhalte
Viel deutlicher als bei der Anorexie gibt es bei der Bulimie eine Häufung der Erkrankung in Ländern und Kulturen unter dem Einfl fluss eines westlich geprägten Schönheitsideals mit der herausragenden Bedeutung des Merkmals der Schlankheit. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren bulimische Essstörungen in anderen als kulturell-westlich geprägten Ländern unbekannt, dagegen wurden für die USA Prävalenzzahlen in der Risikopopulation von bis
14
zu 20 geschätzt. Soweit Naturgesellschaften ft ohne wesentlichen westlichen Einfl fluss überhaupt noch auffi ffindbar sind, ist dort eine weitgehende Abstinenz vom Ideal der Schlankheit nachweisbar: Peruanische Indianer, denen man weibliche Silhouetten von Model-Proportionen vorlegte, beurteilen deren Gesundheitszustand als »fast tot«. In westlichen Kulturen werden Auftretenshäufi ft figkeiten von 0,3‒7,3 berichtet, in nichtwestlichen Ländern von 0,46‒3,2. Eine Fülle von Untersuchungen existiert zur Einstellung gegenüber Schlankheit und zur Häufigkeit von Bulimia nervosa (BN) bei Amerikanern schwarzer vs. kaukasischer Herkunft ft. Einerseits werden wiederholt Unterschiede in Richtung eines ausgeprägteren Schlankheitswunsches bei Weißen gefunden, andererseits holen die Prävalenzzahlen in der schwarzen Bevölkerungsgruppe stark auf.
14.2.3
Einfl flüsse des schlanken Körperideals
Bei der BN besteht eine ausgesprochene Überbetonung des Schlankheitsideals. Es gibt kaum eine Patientin mit einer bulimischen Erkrankung, die nicht eine über Jahre währende Karriere mehr oder weniger frustraner Versuche der Gewichtskontrolle und -abnahme aufweist. Dieser in unserer Gesellschaft ft ubiquitäre Wunsch wiederum ist nicht denkbar ohne die breite und aggressive Vermarktung eines schlanken Ideals, insbesondere für Frauen. Eine herausragende Rolle bei der Verbreitung und Vermarktung eines schlanken Körperideals spielen die Druck- und Filmmedien mit der vorherrschenden Produktion ästhetisch-optimistischer Lebensentwürfe und Vorlagen für individuelle Identifikationsfi fi figuren. ! Die kausale Verknüpfung zwischen der Rezeption überschlanker Models und der Ausbildung bulimischer Symptomatik kann als gesichert angenommen werden.
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Kapitel 14 · Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen
Definition Barbies ältere Schwester Es gibt eine Fülle von Untersuchungen zu der Frage, seit wann der schlanke Körper idealisiert und als unangefochtenes Modell akzeptiert wird. Während das anorektische Model »Twiggy« (ca. 1966–1971) noch einen bestaunten Sonderfall darstellte, konnten verschiedene Autoren zeigen, dass nicht nur die in Modezeitschriften und Männermagazinen abgebildeten Körper v. a. gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre immer schlanker wurden, sondern – in Verbindung mit der ansteigenden Prävalenz der Adipositas – immer weiter vom realistischen Körperbild der altersgematchten weiblichen Population abwichen. Andererseits ist auch die Barbiepuppe der Firma Mattell mit ihren klar anorektischen Körperproportionen bereits 1962 auf den Markt gekommen und ihre ältere, aus Deutschland stammende Schwester (und Patentvorbild) »Lilli« (. Abb. 14.1) sogar schon 1955, d. h. zu Zeiten beginnender prosperierender Nachkriegswirtschaft und einer damals begrüßten, wieder makronährstoff ffreichen Kochkultur.
. Abb. 14.1. »Lilli«, Schwester und Patentvorbild der Barbiepuppe. (© Thomas Goldschmidt, Badisches Landesmuseum Karlsruhe, mit freundlicher Genehmigung)
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Normalgewichtige Frauen, die um die Kontrolle ihres Gewichts bemüht sind, zeigen nach der Rezeption von TV-Spots mit schlanken Models eine ausgeprägtere depressive Stimmung; die gleiche Subgruppe von Frauen schätzt idealisierte Models und Schauspielerinnen nochmals schlanker ein, als sie wirklich sind. Becker et al. (2002) konnten Einstellungen und Verhaltensweisen vor und nach Einführung des Fernsehens in einer Region der FidschiInseln untersuchen. Es fand sich ein markanter Anstieg von Diätversuchen, EAT-26-Scores und selbstinduziertem Erbrechen zur Gewichtskontrolle. Dennoch können Medien und Werbung nicht per se ein Interesse daran haben, ein randständiges oder sogar abgelehntes Schönheitsideal zu promoten, sondern sie werden sich immer an bereits modische Ideale anhängen ‒ letztlich aber natürlich dazu beitragen, diese zu verfestigen. Genauso bedeutsam wie die Massenmedien ist aber die Gruppe der Peers, d. h. der gleichgeschlecht-
lichen und etwa gleichaltrigen Jugendlichen, sowie das Modell der Eltern. Über einen ausgeprägten sozialen Vergleich innerhalb der Peers werden in westlich orientierten Ländern das Schlankheitsideal und auch das Symptomverhalten transportiert. Auch der elterliche Einfl fluss auf die Entwicklung einer Essstörung ist nicht zu unterschätzen. Die eigene Unzufriedenheit über das Gewicht und rigide Gewichtsregulationsmaßnahmen prädisponieren zu einem falschen Modelllernen, insbesondere wenn gleichzeitig die Gewichtsentwicklung der Kinder kritisiert wird. . Abb. 14.2 zeigt Körperselbsteinschätzung und Schlankheitswunsch in 14 nationalen und ethnischen Gruppen von studentischen, weiblichen Populationen (n = 2468) im empirischen Relativ einer Silhouettenskala. Nach wie vor umstritten ist die Rolle der Männer. Einerseits dürfen in einer immer noch männlich dominierten Gesellschaft ft die meisten Entschei-
14.2 Bulimia nervosa
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14
. Abb. 14.2. Körperselbsteinschätzung und Schlankheitswunsch in 14 nationalen und ethnischen Gruppen von studentischen, weiblichen Populationen (n = 2468) im empirischen Relativ einer Silhouettenskala. Dargestellt sind die gemittelten Ergebnisse zur Einschätzung, wie die Probandin sich aktuell sieht (schwarze Ovale) und wie sie in der Körpersilhouette aussehen möchte (weiße Ovale). Zusätzlich ist die Einschätzung einer »attraktiven« weiblichen Silhouette durch Männer der gleichen Kultur (N = 1757) dargestellt (weiße Dreiecke) sowie der durchschnittliche BMI des Samples (weiße Rechtecke). Die Differenz ff aus »aktueller« und »idealer« Selbsteinschätzung wird als »Schlankheitswunsch« (grau schraf-
fierte Felder) r berechnet. Es finden sich markante, dem Grad der Orientierung an westliche Kultur folgende Unterschiede [F(df = 13) = 15,1; p < 0,001] im Schlankheitswunsch mit besonders extremen Ausprägungen in den europäischen Mittelmeerländern. Nur in Südafrika sind die extremen Schlankheitswünsche auch durch einen erhöhten BMI sowohl bei weißen als auch bei schwarzen Probandinnen zu erklären. Erwartungskonform bilden sich in Zentralafrika und Indien kaum Schlankheitswünsche bzw. in Ghana sogar »negative« Schlankheitswünsche ab, die im Übergang begriffenen ff Gesellschaften in Tunesien und im Iran nehmen eine Mittelstellung ein (Jäger et al. 2002)
dungen über Engagements von Models oder die Besetzung von Filmrollen als männlich geprägt angesehen werden, aber Untersuchungen zum Körperbild zeigen z. B. immer wieder, dass die weibliche Idealfigur fi aus Männersicht weniger schlank ist als aus Frauensicht! Als Erklärung bietet sich an, dass der schlanke Körper, neben der Komponente der gesellschaft ftlichen Vorteile, eine eigene, inhärente Attraktivität und ein innewohnendes »Heilversprechen« zu haben scheint.
figer Einfl flüsse interpretiert werden: Einerseits ist ein niedriger sozioökonomischer Status relativ gesichert mit einem erhöhten Risiko von Übergewicht verknüpft ft, welches seinerseits pathogen in Richtung Bulimie wirkt. Höherer sozioökonomischer Status ist andererseits mit überwertigen Schlankheitsidealen positiv korreliert, die ihrerseits begünstigend auf eine Bulimie wirken. In diesem Sinne verdienen eher die Mediatorvariablen Aufmerksamkeit als der sozioökonomische Status bzw. das Bildungsniveau der Eltern selbst. Schließlich bilden in westeuropäischen Ländern sowohl Tänzerinnen als auch Ausübende von Gewichtsklasssesportarten oder Sportarten mit einem klaren Vorteil bei niedrigem Gewicht Subkulturen mit einer erhöhten Auft ftretenswahrscheinlichkeit für Bulimie.
14.2.4
Weitere soziokulturelle Einfl flussfaktoren
Die Ergebnisse zum Einfluss fl des sozioökonomischen Statuts auf die Entstehung einer Bulimie sind bei einer Vielzahl von Studien unterschiedlicher Güte extrem heterogen. Dies kann mit einiger Vorsicht als das Ergebnis verschiedener gegenläu-
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1
14.3
Kulturelle Faktoren bei Gewichtszunahme, Adipositas und BingeEating-Störung
14.3.1
Die Rolle von Normen und Idealen in den Medien und der öff ffentlichen Moral
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Kapitel 14 · Soziokulturelle Aspekte der Essstörungen
Das Risiko, ein erhöhtes Körpergewicht anzunehmen, ist in westlichen Ländern deutlich erhöht und bildet, neben der Voraussetzung für eine sich entwickelnde Adipositas, auch ein Risiko für die Binge-Eating-Störung (BES) und auch für die Bulimie. Neben dem großen Einfluss fl einer genetischen Prädisposition ist v. a. das kulturspezifi fische Überangebot kaloriendichter Nahrung in Verbindung mit Bewegungsmangel für die epidemische Gewichtszunahme verantwortlich. Der durchschnittliche TV-Konsum pro Tag ist deutlich positiv mit erhöhtem Köpergewicht assoziiert. Anders als bei der Anorexie und Bulimie wird ein voluminöses Körperideal wenigstens seit 50 Jahren nicht aktiv beworben und nicht mit positiven Werten konnotiert ‒ im Gegenteil beschränkt sich die Rolle der Medien hier zumeist darauf, die Machbarkeit einer substanziellen Gewichtsabnahme zu betonen und die populären, negativen Assoziationen mit Adipositas zu repetieren. ! Das Ausmaß der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Übergewicht ist umfassend und selbst kaum durch Konventionen oder Tabus limitiert.
Das Merkmal Übergewicht steht in einem Bedeutungskontext mit Merkmalen wie träge, faul, haltlos, undiszipliniert und dumm. Sozialpsychologische Experimente zeigen, dass Übergewichtige in unseren westlich geprägten Kulturen z. B. weniger verdienen, seltener einen Arbeitsplatz erhalten, seltener als Mieter akzeptiert werden und höhere Gefängnisstrafen erhalten. Schon Kindergartenkinder ziehen eine zerlumpte Puppe einer dicken vor und sprechen dem Körpergewicht eine hohe Bedeutung für die soziale Position zu – und bei Kindern sind diese assimilierten Einstellungen besonders wenig durch Primär- oder soziale Sekundärtugenden abgemildert. Auch Angehörige der Gesundheitsdisziplinen tragen oft ft zur Perpetuierung der
entsprechenden Vorurteile bei, und Lehrer beurteilen Schulaufsätze von dicken Kindern ‒ im Rahmen eines kontrollierten Experiments ‒ schlechter als die von normgewichtigen Kindern. Während die negativen körperlichen Langzeitfolgen der Adipositas oft ft erst nach einer Krankheitsdauer von 10‒ 20 Jahren einsetzen, setzt die psychische Ausgrenzung und Stigmatisierung aber bereits mit dem Auft ftreten ein! Bestenfalls in ausgesuchten sozialen Nischen ‒ männliche Spitzenpolitiker, männliche Wirtschaft ftsführer ‒ ist noch ein Residuum der aus dem Mittelalter tradierten Assoziation »gewichtig = mächtig = erfolgreich« verblieben.
14.4
Gemeinsame Faktoren: Migration und Rollenanforderungen an Frauen
Ungeachtet der ethnischen Herkunft ft oder der kulturellen Umgebung zeigt sich immer, dass Migration, d. h. der Wechsel des kulturellen Kontexts, einen eigenständigen Risikofaktor darstellt, was eher für anorektische denn für bulimische Erkrankungen gilt. Griechische Adoleszente haben in Deutschland ein höheres Risiko, magersüchtig zu werden, als die gleiche Altersgruppe in Griechenland ‒ ca. 15 Jahre später hatten sich die Raten aber einander angeglichen. Nur wenige Daten liegen für die osteuropäischen Länder vor: Für Ungarn wurden besonders hohe Prävalenzzahlen in der Zeit des politischen Umbruchs festgestellt, in der DDR folgten die Prävalenzzahlen dem politischen und sozialen Wandel. Sowohl der Schlankheitswunsch als auch die Bedeutung der Migration wird im Rahmen feministischer Erklärungen mit der Tatsache der nach wie vor hohen Geschlechtsspezifität fi von Essstörungen sowie einer geschlechtsspezifischen fi Sozialisation verbunden. Eher feministische Th Thesen der 1970er und 1980er Jahre, dass Essgestörte besonders feminin im Sinne einer passiv-abhängigen Haltung seien, konnten empirisch dahingehend präzisiert werden, dass sich diese besonders stark an den herrschenden Idealvorstellungen orientieren und ein stärker ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung haben. Migrationsbewegungen wiederum sind häufi fig ‒ mehr als für Männer ‒ mit
14.4 Gemeinsame Faktoren: Migration und Rollenanforderungen an Frauen
besonders starken Veränderungen der Frauenrolle verbunden, die insbesondere eine Erweiterung der Rollenerwartungen (the conflict fl between pressure to conform vs. pressure to compete) beinhaltet. Transkulturelle Untersuchungen konnten nachweisen, dass bei Angehörigen fremder Kulturen keineswegs weniger häufi fig Essstörungen auft ftreten, sondern ‒ wenn es sich um Migranten der 2. oder 3. Generation im fremden Land handelt ‒ eher sogar
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eine höhere Prävalenz von Essstörungen nachzuweisen war. Die Meinungen, ob diese dann unter besonderer Beachtung der Herkunftskultur ft behandelt werden sollten, gehen auseinander. Fachberatungsstellen neigen eher dazu, diese unter Wahrung allgemein gültiger, fachpsychotherapeutischer Standards der Beachtung des Kontexts in den gleichen Settings wie Deutsche zu behandeln.
Fazit Die Häufi figkeit von Essstörungen ist eng mit soziokulturellen Faktoren verbunden, wobei dem ursprünglich westlichen Schlankheitsideal eine herausragende Rolle zukommt. In diesem Fall kann aufgrund einer Vielzahl von Befunden auch aus Längsschnitt- und experimentellen Untersuchungen von einem kausal zu interpretierenden Einfl fluss ausgegangen werden. Der deutlichste Effekt dieser auch über Massenmedien verbreiteten Ideale ist für die Bulimie festzustellen, demgegenüber ist das Auftreten der Anorexie nicht an einen verbreiteten Schlankheitswunsch gebunden, wird off ffenbar aber durch diesen ebenfalls verstärkt. Die Erforschung dieser Zusammenhänge wird allerdings durch die typischen Probleme von interkulturellen Untersuchungen, wie die Kontrolle semantischer Faktoren in verschiedenen Sprachen, der Vergleichbarkeit von Bildungsniveaus aus
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unterschiedlichen Bildungssystemen etc. erschwert. Für andere soziokulturelle Einflüsse, fl wie z. B. den sozioökonomischen Status, liegen weit weniger eindeutige Ergebnisse vor. Die Beschäftigung mit kulturellen Normen weist aber auch auf eine ethische Dimension dieser Frage hin. Akzeptiert man – mit den oben gemachten Einschränkungen – den krankheitsfördernden Einfluss eines uniformen Schlankheitsideals, wäre eifl ne politische Antwort ähnlich den nationalen Initiativen des Verbots der Abbildung anorektischer Models zu bedenken. Überzeugungen und Normen können verändert werden, wie das Beispiel der Vermarktung ökologischer Grundüberzeugungen zeigt. Prinzipiell sollte dies auch bezüglich der schlankheitsbezogenen Wertschätzung fremder und eigener Körper möglich sein.
Jäger B, Ruggiero G-M, Edlund B et al (2002) Body dissatisfaction and its interrelations with other risk factors for bulimia nervosa in 12 countries. Psychother Psychosom 71: 54-61 Makino M, Tsuboi K, Dennerstein L (2004) Prevalence of eating disorders: a comparison of western and non-western communities. Medscape Gen Med 6: 49 Miller MN, Pumariega AJ (2001) Culture and eating disorders: a historical and cross-cultural review. Psychiatry 64: 93-110 Yu DW, Shepard GH (1998) Is beauty in the eye of the beholder? Nature 396: 321-322
15 1
Körperbildstörungen
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Brunna Tuschen-Caffier ffi
3
15.1
Körperbildstörung als Diagnosekriterium für Essstörungen – 82
15.2
Theoretische Konzeptionen und Defi finitionsversuche – 82
15.3
Körperbildstörungen als Kernsymptome von Essstörungen: Forschungszugänge und empirische Befunde – 84
15.4
Befunde der Grundlagenforschung zu Körperbildstörungen: Notwendig, hilfreich oder überfl flüssig? – 86
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Körperbildstörung als Diagnosekriterium für Essstörungen
Körperbildprobleme sind ein zentrales Symptom der Essstörungen Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN). So stellt die Körperbildstörung nach dem derzeit gültigen Klassifikationssysfi tem (DSM IV-TR) der American Psychiatric Association für AN und BN ein notwendiges Diagnosekriterium dar. Unter einer Körperbildstörung werden entsprechend der DSM-Klassifikation fi bei der AN ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme, Störungen in der Wahrnehmung der Figur/des Gewichts, ein übertriebener Einfluss fl des Gewichts/ der Figur auf die Selbstbewertung und die Leugnung des Schweregrades des niedrigen Körpergewichts verstanden. Demgegenüber beschränkt sich die Defi finition einer Körperbildstörung bei der BN darauf, dass das Körpergewicht/die Figur übermäßigen Einfluss fl auf die Selbstbewertung hat. Bezüglich der Symptome der Körperbildstörung ergibt sich für das in Deutschland im klinischpsychologischen Anwendungskontext gebräuchlichere Klassifikationssystem fi (ICD; Internationale Klassifi fikation psychischer Störungen) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine gegenüber dem DSM eingeschränktere Definition. fi Es werden sowohl bei der AN als auch bei der BN lediglich die Wahrnehmungsverzerrung sowie die Angst davor, zu dick zu werden, genannt, nicht jedoch der übermäßige Einfl fluss von Gewicht und Figur auf die Selbstbewertung.
Das klinische Bild der Binge-Eating-Störung (BES) als spezifi fischem Subtypus der nicht näher bezeichneten Essstörungen (EDNOS, seit 1994 Bestandteil der Forschungskriterien des DSM) beinhaltet wiederholte Essanfälle, denen in Abgrenzung zur BN i. d. R. keine kompensatorischen Maßnahmen folgen, die mit einem bedeutsamen subjektiven Leiden und verschiedenen Verhaltensindikatoren eines Kontrollverlusts (z. B. übermäßig schnelles Essen) einhergehen müssen. Bisher ist in den (Forschungs-)Kriterien zur Diagnose einer BES (entsprechend dem DSM IV-TR) die Körperbildstörung nicht als Diagnosekriterium vorgesehen. Allerdings sprechen bereits zahlreiche Befunde dafür, dass auch im Rahmen der BES die Relevanz einer Körperbildstörung gegeben ist. Erste Anhaltspunkte für eine mögliche Entsprechung klinisch-manifester Körperbildstörungen bei der BES bieten Untersuchungen, die sowohl bei der BES als auch bei der BN ausgeprägte Sorgen um Figur und Gewicht fanden bzw. bei denen sich keine Unterschiede zwischen Patientinnen mit der Diagnose einer BES im Vergleich zu Patientinnen mit der Diagnose einer BN im Hinblick auf Symptome einer kognitiv-affektiven ff Körperbildstörung fanden.
15.2
Theoretische Konzeptionen und Defi finitionsversuche
In der Forschungsliteratur zum Körperbild und zu Körperbildproblemen finden fi sich zahlreiche Bezeichnungen und Definitionen fi einer Körper-
15.2 Theoretische Konzeptionen und Definitionsversuche fi
bildstörung (z. B. Körperschemastörung, Körperunzufriedenheit). Als allgemein anerkannt gilt die multidimensionale Konzeptualisierung einer Körperbildstörung durch 5 eine perzeptive Komponente, ff bzw. kognitiv-evaluative 5 eine kognitiv-affektive Komponente und 5 eine verhaltensbezogene Komponente des Körperbildes. Die perzeptive Komponente beschreibt in den bisher durchgeführten einschlägigen Studien den Aspekt der Wahrnehmungsgenauigkeit. Demnach sollte sich eine Körperwahrnehmungsstörung im klinisch-psychologischen Kontext als Überschätzung der Maße des Körpers bzw. der Maße von Körperteilen äußern. Allerdings ist die bisherige Auffassung einer perzeptiven Körperbildstörung im Sinne einer ungenauen bzw. fehlerhaften ft visuellen Körperbreiteneinschätzung nach Ansicht der Autorin zu eng und letztlich nicht zielführend. So sind neben der perzeptiven Komponente (Wahrnehmungskomponente) einer Körperbildstörung auch andere kognitive Prozesse, wie z. B. die Aufmerksamkeitsverteilung (z. B. Zuwendung vs. Abwendung) gegenüber dem eigenen Körper (z. B. Blickbewegungen bei der Körperbetrachtung im Spiegel) oder auch Gedächtnisprozesse für die Charakterisierung einer Körperbildstörung notwendig. In welchem Ausmaß diese kognitiven Prozesse die Wahrnehmung des eigenen Körpers vermitteln und ob sie willentlich bzw. unwillentlich ablaufen, ist bisher noch weitgehend unerforscht. Negative Gefühle (z. B. Ekel, Ablehnung) gegenüber dem Körper und entsprechende dysfunktionale Gedanken und Bewertungen bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes beziehen sich auf ff bzw. kognitiv-evaluative Komdie kognitiv-affektive ponente einer Körperbildstörung. In der einschlägigen Forschungsliteratur zu diesem Aspekt einer Körperbildstörung wurden bisher zumeist Befunde berichtet, die auf der Befragung der Betroffenen ff basieren. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Betroffenen ff über kognitiv-aff ffektive bzw. kognitiv-evaluative Aspekte der Körperbildstörung durch Selbstreflexion fl Auskunft ft geben können. Dies trifft fft aber nur dann zu, wenn die entsprechenden Prozesse tatsächlich bewusstseinsfähig sind, was beim Forschungsstand als nicht sicher gelten kann. Ins-
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15
besondere stellt sich die Frage, ob auch unwillentlich ablaufende kognitiv-aff ffektive bzw. kognitivevaluative Aspekte durch Selbstauskünfte ft immer erfasst werden können. Dies gilt auch für die verhaltensbezogene Komponente. Zum einen kann sich die verhaltensbezogene Komponente einer Körperbildstörung in Form von willentlich gesteuertem Vermeidungsverhalten manifestieren, indem die Betroffenen ff z. B. negativ bewertete Körperzonen durch das Tragen weiter Kleidung zu kaschieren versuchen. Die verhaltensbezogene Komponente kann sich aber auch darin zeigen, dass die Betrachtung des eigenen Körpers möglichst vermieden wird, und dieses Vermeidungsverhalten kann wiederum bewusst und willentlich sein (z. B. keine Spiegel in der Wohnung haben) oder auch mehr oder weniger unwillentlich ablaufen (z. B. Blickzuwendung bzw. -abwendung gegenüber dem eigenen Körper). Des Weiteren kann sich ein Körperbildproblem auf der Verhaltensebene auch in entgegengesetzter Richtung als übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Körper bzw. der Figur äußern. Auch hier können die Verhaltensweisen in unterschiedlichem Ausmaß der bewussten Steuerung unterliegen (z. B. mehrmaliges Wiegen pro Tag; body checkingg, d. h. häufiges Überprüfen relevanter Körperteile; lange Verweildauer bei der Betrachtung von Körperzonen). fi im ! Körperbildstörungen: Ein Definitionsversuch Kontext von Informationsverarbeitungstheorien Zusammenfassend sind Körperbildstörungen nach Ansicht der Autorin zu konzeptualisieren als ff Störungen, die sich in 5 kognitiv-affektive verschiedenen Phasen der körperbezogenen Informationsverarbeitung manifestieren können (z. B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, schlussfolgerndes Denken), 5 in unterschiedlichem Ausmaß unwillentlich bzw. willentlich gesteuert ablaufen und ff (z. B. 5 mit ausgeprägten negativen Affekten Angst, Ekel, Abscheu) sowie entsprechenden Verhaltenstendenzen (z. B. Vermeidungsverhalten) einhergehen können. Die in der Literatur häufi fig zu findende Unterteilung in perzeptive vs. kognitive Aspekte einer Körperbildstörung ist insofern irreführend, als Wahrnehmungsprozesse (Perzeption) auch ein
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1 2
Kapitel 15 · Körperbildstörungen
Aspekt eines kognitiven Prozesses sind. Die hier eingeführte Defi finition einer Körperbildstörung mit Blick auf verschiedene Phasen der körperbezogenen Informationsverarbeitung überwindet diese konzeptuelle Unschärfe.
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15.3
Körperbildstörungen als Kernsymptome von Essstörungen: Forschungszugänge und empirische Befunde
Bisher hat sich die Forschung zu Körperbildstörungen im Bereich der Essstörungen v. a. auf den Aspekt der visuellen Körperbreiteneinschätzung bzw. auf die Erforschung von Verzerrungen in der Körperwahrnehmung konzentriert. Hierzu wurden verschiedene Verfahren entwickelt und eingesetzt (z. B. Videoverzerrtechnik, Image Marking Procedure). Im Rahmen einer Metaanalyse konnte erwartungsgemäß gezeigt werden, dass Patientinnen mit der Diagnose einer Essstörung deutlich häufi figer Wahrnehmungsverzerrungen zeigen als gesunde Kontrollpersonen. Kontrollbedingungen zur Einschätzung neutraler Objekte machten deutlich, dass die gefundenen Unterschiede in der perzeptiven Komponente der Körperbildstörung (i. S. der visuellen Körperbreiteneinschätzung) kein allgemeines sensorisch-perzeptives Defizit fi bei Patientinnen mit Essstörungen widerspiegeln, sondern sich speziell im Hinblick auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers zeigen. Gruppenunterschiede zwischen Personen mit einer Essstörung und Personen ohne Diagnose einer psychischen Störung waren allerdings insbesondere im Hinblick auf die Körff perunzufriedenheit – im Sinne des kognitiv-affektiven bzw. evaluativen Aspektes einer Körperbildstörung ‒ ausgeprägt. Es könnte demnach sein, dass der kognitiv-affektive ff bzw. evaluative Aspekt der Körperbildstörung im Hinblick auf die klinische Relevanz eine Vorrangstellung gegenüber der perzeptiven Komponente (i. S. einer visuellen Körperbreiteneinschätzung) einnimmt. Darauf deuten auch Th Therapiestudien hin, in denen sich Patientinnen mit BN und AN weder vor noch nach der Therapie bezüglich der Einschätzung ihres KörpeTh rumfangs unterscheiden. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass gewisse Einstellungsmaße (z. B. Unzu-
friedenheit mit der Figur) nicht durchgängig zwischen klinischen Gruppen und gesunden Kontrollgruppen differenzieren, ff u. a. weil die Unzufriedenheit mit der Figur bei weiblichen, normalgesunden Stichproben ebenso weit verbreitet sein kann wie in klinischen Gruppen. Dies gilt insbesondere für Fragebogenstudien, während in experimentellen Untersuchungen z. T. deutliche Gruppenunterschiede zwischen Frauen mit einer Essstörung und normalgesunden Frauen im Hinblick auf körperbezogene Gedanken und Affekte ff gefunden wurden. Experimentalpsychologische Methoden könnten daher u. U. sensitiver für den Nachweis einiger der in Frage stehenden Unterschiede in der Körperwahrnehmung bzw. in der Verarbeitung körperbezogener Informationen sein als Selbstberichtsverfahren. Folgerichtig konzentriert sich in neuerer Zeit die Forschung zu Körperbildstörungen verstärkt auf experimentalpsychologische Untersuchungsmethoden, die Verhaltensmaße direkt erfassen können, indem z. B. selektive Aufmerksamkeitsprozesse gegenüber dem Körper und den damit einhergehenden Gefühlen (z. B. Angst, Ekel) untersucht werden. So hat sich bei Untersuchungen zur experimentellen Figurexposition, die zum einen als Videoexposition und zum anderen als geleitete Imaginationsaufgabe durchgeführt wurde, u. a. gezeigt, dass insbesondere anhand einer Videoexposition gegenüber dem Körper, die weniger Vermeidungsverhalten zu erlauben scheint als eine imaginationsgestützte Exposition ausgeprägte, negativ getönte affektive ff Reaktionen evoziert werden. Interessanterweise hat sich aber auch gezeigt, dass Patientinnen mit der Diagnose einer BN für die Beschreibung von so genannten Problemzonen (Bauch, Hüfte, ft Po) weniger Zeit brauchten als die Frauen der Kontrollgruppe, die keine Diagnose einer Essstörung aufwiesen. Die auff ffällig geringere Verweildauer der klinischen Gruppe bei diesen so genannten Problemzonen kann als ein Indiz dafür aufgefasst werden, dass die Patientinnen mit BN trotz der sehr direktiven Exposition gegenüber ihrem Körper subtile Formen der Vermeidung gezeigt haben, wenn sie mit ihren als wenig attraktiv erlebten Körperzonen konfrontiert wurden. Demzufolge könnte Vermeidungsverhalten ein wichtiger Mechanismus für die Aufrechterhaltung von klinisch relevanten Körperbildstörungen sein, was wiederum wichtige
15.3 Körperbildstörungen als Kernsymptome von Essstörungen . . .
Implikationen für die Psychotherapie von Körperbildstörungen hätte. Allerdings sind beim derzeitigen Forschungsstand die Mechanismen der Aufrechterhaltung und Veränderung von klinisch relevanten Körperbildstörungen noch weitgehend unbekannt. Vor dem Hintergrund der Defi finition von Körperbildstörungen als Störung in verschiedenen Phasen der körperbezogenen Informationsverarbeitung (s. oben) liegt es nahe, in der zukünftigen ft Forschung mehr Gewicht auf die Erforschung verschiedener Aspekte der körperbezogenen Informationsverarbeitung (z. B. Aufmerksamkeitsprozesse, implizite evaluative Prozesse) zu legen. Dementsprechend wurde in der eigenen Arbeitsgruppe kürzlich eine Studie an Patientinnen mit der Diagnose einer AN oder BN im Vergleich zu normalgesunden Frauen im Hinblick auf die visuelle Aufmerksamkeit während einer diagnostischen Ganzkörperexposition durchgeführt. Während der Körperexposition in einem standardisierten Bekleidungsset wurde u. a. kontinuierlich das Blickbewegungsmuster der Untersuchungsteilnehmerinnen anhand eines Blickbewegungsmessgeräts (Eyetracker) gemessen. Es zeigte sich u. a., dass beide klinischen Gruppen (AN, BN) häufi figer und länger auf jene Körperzone schauten, mit der sie besonders unzufrieden waren bzw. die sie subjektiv als wenig attraktiv erlebten. Bei den Frauen der gesunden Kontrollgruppe zeigte sich dagegen ein ausgewogenes Informationsverarbeitungsmuster: Sie schauten gleich häufi fig und gleich lange auf jene Körperzone, mit der sie sehr zufrieden bzw. unzufrieden waren. Alle Patientinnen nahmen vor Beginn einer stationären Therapie Th an der Studie teil, sodass in einer weiteren, derzeit laufenden Studie erfasst wird, ob sich nach einer Psychotherapie eine Veränderung im Blickmuster bei der Körperexposition zeigt. Die bisher erhobenen Befunde stehen im Einklang mit einer weiteren Blickbewegungsstudie, in der eine andere Methode (Konfrontation mit Selbst- und Fremdbildern anhand von Fotos) an einer Stichprobe von Frauen mit Symptomen von Essstörungen eingesetzt wurde. Beide Studien geben Hinweise darauf, dass u. a. ein bestimmtes Blickbewegungsmuster (Vigilanz gegenüber Körperzonen, die als unattraktiv bewertet werden) an der Aufrechterhaltung von Körperbildstörungen mitverantwortlich sein könnte.
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15
Andererseits gibt es auch Hinweise darauf, dass Vermeidungsverhalten ein wichtiger aufrechterhaltender Faktor von Körperbildstörungen sein könnte: So zeigen aktuelle Befunde, dass sowohl die Vigilanz (body checking) g als auch Vermeidungsverhalten (body avoidance) bei Patientinnen mit AN und BN deutlich ausgeprägt sind und sich in ihrer Häufi figkeit und Ausprägung signifi fikant von entsprechenden Manifestationen bei nichtklinischen Personengruppen unterscheiden. Der Vergleich des eigenen Körpers mit dem von anderen, das Berühren des Bauches und der Oberschenkel sowie deren Inspektion im Spiegel wurden von Patientinnen mit Essstörungen als die häufi figsten Kontrollverhaltensweisen genannt, hingegen stand bei möglichem Kontrollverhalten der nichtklinischen Stichprobe das Gesicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Vermeidungsverhalten, das 57 der Essgestörten berichteten (am häufigsten fi das Vermeiden des Wiegens), gaben hingegen nur wenige der Kontrollpersonen an. Die deutliche Korrelation von Vermeidungs- und Kontrollverhaltensweisen mit der übermäßigen Bewertung von Figur und Gewicht konnte bei Patientinnen mit mit AN und BN sowie Patientinnen mit einer BES nachgewiesen werden. Als Arbeitshypothese kann demnach festgehalten werden, dass sowohl die Vigilanz (z. B. einseitig auf negativ evaluierte Körperzonen ausgerichtet sein) als auch die Vermeidung von körperbezogenen Informationen ggf. in verschiedenen Phasen der Informationsverarbeitung zur Aufrechterhaltung klinisch relevanter Körperbildstörungen beitragen. ! Körperbildstörungen: Empirische Befunde zu Mechanismen der Aufrechterhaltung Beim derzeitigen Stand der Forschung ist noch weitgehend ungeklärt, welche psychischen Mechanismen an der Aufrechterhaltung klinisch bedeutsamer Körperbildstörungen bei Essstörungen beteiligt sind. Im Sinne der Definition fi einer Körperbildstörung als Störung in verschiedenen Phasen der körperbezogenen Informationsverarbeitung erscheint es lohnend, Prozesse der Informationsverarbeitung, wie z. B. die visuelle Aufmerksamkeitszu- bzw. -abwendung von körperbezogenen Informationen, näher zu untersuchen. Möglicherweise sind sowohl die Vigilanz (in frühen Phasen der Informations-
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Kapitel 15 · Körperbildstörungen
verarbeitung) als auch Vermeidungsverhalten (z. B. in späteren Phasen der Informationsverarbeitung) als bedeutsame Mechanismen der Aufrechterhaltung klinisch bedeutsamer Körperbildstörungen aufzufassen. Derartiges Wissen aus der Grundlagenforschung hat wichtige Implikationen für die Psychotherapie von Körperbildstörungen.
15.4
Befunde der Grundlagenforschung zu Körperbildstörungen: Notwendig, hilfreich oder überflüssig? fl
Abschließend stellt sich die Frage, welchen Beitrag Befunde der Grundlagenforschung zur Optimierung von Körperbildtherapien leisten können. Versteht man evidenzbasierte Psychotherapie nicht nur als empirische Fundierung der eingesetzten Interventionstrategien, sondern auch im Sinne einer empirischen Fundierung ätiologischer Modelle, dann bildet die evidenzbasierte Erforschung der aufrechterhaltenden Mechanismen von Körperbildstörungen die notwendige Basis, um maßgeschneiderte Interventionsprinzipien zur Veränderung von Körperbildstörungen ableiten zu können. Mit Blick auf die oben berichteten Erkenntnisse über Blickbewegungsmuster von Patientinnen mit Essstörungen bei der Konfrontation mit ihrem Körper stellt sich z. B. die Frage, ob eine Körperbildexposition die richtige Form der Veränderung von jenen Blickmustern sein kann, die zu einer ungünstigen Form der körperbezogenen Informationsverarbeitung beitragen (z. B. Hinwendung der Aufmerksamkeit auf nichtakzeptierte Körperbereiche). Bei einer falsch verstandenen Körperbildexposition könnte es ggf. sogar zu einer Verschlimmerung bzw. Verfestigung der Körperbildproblematik kommen, wenn nämlich die Exposition ohne jegliche therapeutische Anleitung, eben lediglich als Sich-vor-den-Spiegel-Stellen verstanden wird. In diesem Fall könnte sich das unausgewogene körperbezogene Blickmuster weiter verfestigen. Wenn dagegen die Exposition als geleitete Exposition durchgeführt wird, bei der der Th Therapeut bzw. die Therapeutin die Aufgabe hat, durch gezielte Fragen und Vorgaben die Aufmerksamkeit
der Patientinnen sowohl auf akzeptierte bzw. wenig akzeptierte Körperzonen zu lenken, so kann gerade durch ein solches Vorgehen eine ausgewogene körperbezogene Informationsverarbeitung aufgebaut werden. Das Beispiel zeigt allerdings bereits, dass sich die Wirksamkeit der Körperexposition wohl kaum auf Löschung qua Habituation reduzieren lässt. Vermutlich werden gerade durch die systematische Lenkung der Aufmerksamkeit auf akzeptierte und wenig akzeptierte Körperzonen Informationsverarbeitungsprozesse angestoßen, die zu einer ausgewogeneren Körperwahrnehmung und bewertung beitragen. Der Frage nach den Wirkmechanismen der Körpertherapie sollte nach Ansicht der Verfasserin zukünft ftig in der Forschung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
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16 Essstörungen bei Männern Barbara Mangweth-Matzek 16.1
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa – 87
16.2
Krankheitsbeginn – 87
16.2.1 Risikofaktor: Unzufriedenheit mit dem Körper – 87 16.2.2 Weitere Risikofaktoren – 89
16.1
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
Obwohl Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) als typische Frauenerkrankungen gelten, beziehen sich erste historische Beschreibungen auf männliche. Definition Der Londoner Arzt Richard Morton beschrieb 1689 den drastischen Gewichtsverlust bei einem 16-Jährigen als »nervous consumption caused by sadness and anxious cares«. 1764 publizierte Robert Whytt einen Fallbericht über einen 14-Jährigen mit Anorexia nervosa, beschrieben als »nervous atrophy (…) that proceeded from an unnatural or morbid state of the nerves, of the stomach, and intestines …«. Robert Willan folgte 1790 mit einer weiteren Publikation mit dem Titel A Remarkable Case of Abstinence, in der er den Tod eines jungen englischen Mannes darstellte, der 78 Tage fastete.
Klinische sowie epidemiologische Studien bestätigen ein Geschlechterverhältnis in der Häufigkeit fi von AN bzw. BN von Frauen zu Männern von 10:1 bzw. 4:1. Die Erklärung dieser Geschlechterdivergenz ist nach wie vor eine wissenschaftliche ft Herausforderung und mit folgenden Fragen verbunden: 5 Wie lässt sich dieses Missverhältnis der Geschlechter erklären?
16.3
Krankheitsverlauf
– 90
16.4
Behandlung und Outcome
16.5
Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung – 91
– 91
5 Welche Männer entwickeln eine Essstörung, und wie unterscheiden sie sich von essgestörten Frauen und nichtessgestörten Männern? 5 Zeigen Männer auch neue Formen von Essstörungen? Da es sich bei Essstörungen um ein multifaktorielles Geschehen handelt und Ursachen sowie Mechanismen bislang nur teilweise verstanden werden, können auch die inzwischen zahlreichen Studien zu Essstörungen bei Männern die gestellten Fragen nicht beantworten. Hauptursache sind die zu kleinen Stichproben und die Anzahl der Fallberichte. Es besteht jedoch Übereinstimmung, dass Essstörungen bei Männern sowie bei Frauen kulturgebundene Syndrome sind, die in Kulturen vorkommen, in denen das Ideal der Schlankheit vorherrscht.
16.2
Krankheitsbeginn
16.2.1
Risikofaktor: Unzufriedenheit mit dem Körper
Es gibt inzwischen klar identifizierte fi Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken als Risikofaktoren in der Entstehung einer Essstörung diskutiert werden. An oberster Stelle der psychologischen und verhaltensspezifischen fi Faktoren werden »Diäten« und »restriktives Essverhalten« genannt, welche meist mit niedrigem Selbstwertgefühl und
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Kapitel 16 · Essstörungen bei Männern
schwacher interozeptiver Wahrnehmung assoziiert sind (. Übersicht). Risikofaktor: Unzufriedenheit mit dem Körper 5 Körperunzufriedenheit als Auslöser für den Wunsch nach Körperveränderung 5 Wunsch nach Gewichts(=Fettkörper)abna hme, Gewichts(=Muskelmasse)zunahme 5 Mittel: Sport und restriktives Essen
AN und BN beginnen in der Adoleszenz. Obwohl junge Männer die ersten Symptome dieser Essstörungen einige Jahre später zeigen als junge Frauen, ist auch bei ihnen häufig fi die Pubertät im Entstehungsprozess der Erkrankung involviert. Vor Beginn der Geschlechtsreife unterscheiden sich Mädchen und Jungen bezüglich ihres Körperbaus kaum. In der Pubertät zeigt der männliche Körper vermehrten Muskelzuwachs, während der Körper von Mädchen deutlich an Körperfett gewinnt (Körperfett bei Jungen ca. 14, bei Mädchen ca. 24). Dies führt häufig fi zu Körperunzufriedenheit und im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (familiären, biologischen, individuellen) oft ft zu erstem Diätverhalten. Diese wesentliche geschlechtsspezifische fi Unterscheidung der Körperentwicklung bei Jungen wird als ein möglicher protektiver Faktor für die Entstehung von Essstörungen diskutiert und dient als ein Erklärungsfaktor für die niedrigen Raten von Essstörungen bei Männern. Obwohl Schönheitsideale und Aussehen lange mit dem weiblichen Geschlecht in Zusammenhang gebracht wurden, zeigen sich in den letzten Jahrzehnten deutliche Veränderungen. Während Mädchen nach wie vor das Ziel des Schlankseins und des Gewichtsverlusts anstreben, wünschen sich zunehmend mehr junge Knaben und männliche Jugendliche einen athletischen, muskulösen Körper. Ergebnisse der Massachuttes Youth Risk Behavior Surveyy zeigen, dass mehr als die Hälft fte der männlichen Jugendlichen versucht, das Körpergewicht und das Aussehen zu verändern: 36,4 versuchten, Gewicht (Muskelmasse) zuzunehmen und 22 versuchten, Gewicht (Fettmasse) zu verlieren, während in der Mädchengruppe zehnmal so viele
abnehmen wie zunehmen wollten. Jungen betreiben Sport, um zuzunehmen bzw. ihren Muskelmasseanteil zu erhöhen, Mädchen betreiben Sport, um abzunehmen bzw. ihren Körperfettgehalt zu reduzieren. Das Mittel der Diät bzw. des restriktiven Essens wird vorwiegend von Mädchen angewendet, unabhängig von ihrem Gewicht. Beginnen Jungen eine Diät oder reduzieren ihre Nahrungsaufnahme, so ist dies meist Folge realen Übergewichts, d. h. eines BMI > 25. Hiermit unterscheiden sie sich wesentlich von Mädchen und jungen Frauen, die eine Essstörung entwickeln. Die Unzufriedenheit mit dem Körper, die von Peergruppen und Medien zusätzlich geschürt wird, ist meist Auslöser für den Beginn einer Diät. Medien aller Art tragen dazu bei, dass sich normalgewichtige Kinder und Jugendliche beider Geschlechter als übergewichtig, unmuskulös oder »nicht passend« empfi finden. Die Folge ist, dass sie schon sehr früh ihren Körper verändern wollen und durch restriktive Ernährung den sensiblen Bereich des Hunger-Sättigungs-Mechanismus manipulieren. Die Tatsache, dass übergewichtige oder adipöse Kinder und Jugendliche aus gesundheitlichen Gründen ihr Gewicht kontrollieren und regulieren müssen, führt dazu, dass in der heutigen Zeit ein Großteil junger Menschen schon in der zweiten Lebensdekade ihrem Körper gegenüber negativ eingestellt ist und diesen verändern will. Männer kontrollieren ihr Essverhalten nicht nur anders, sondern auch aus anderen Gründen als Frauen. Diäten bei Männern sind nicht nur meist auf ein konkretes Gewichtsziel, sondern mit einer bestimmten Absicht verbunden: 5 um Spott bezüglich des Dickseins zu stoppen, 5 um sportliche Leistungssteigerung zu erreichen, 5 um Erkrankungen zu vermeiden und 5 um homosexuelle Beziehungen zu verbessern. Bei Frauen wird hingegen das kontrollierte Essen meist zu einer Lebenshaltung. ! Unzufriedenheit mit dem Körper und der Figur führt zu ersten Diätversuchen und folglich einem gestörten Essverhalten bei jungen Männern wie Frauen. Männer beginnen ihre Nahrungsrestriktion jedoch meist bei realem Übergewicht (BMI > 25).
89
16.2 Krankheitsbeginn
16.2.2
Weitere Risikofaktoren
Die Risikofaktorenforschung fasst 30 Faktoren aus 6 Großbereichen zusammen, die für die Entstehung von Essstörungen bei Frauen und Männern mitbestimmend sind: 1. generelle und soziale Faktoren, 2. Familienfaktoren, 3. Entwicklungsfaktoren, 4. widrige Lebenserfahrungen, 5. psychologische und verhaltensspezifische fi Faktoren und 6. biologische Faktoren. Männerspezifi fische Aspekte stehen bei den nachfolgenden Risikofaktoren im Vordergrund (. Übersicht) . Weitere Risikofaktoren 5 Sexualität: Homo- bzw. bisexuelle Orientierung 5 Berufe und Sportarten, bei denen der Körper, das Gewicht, die Figur und/oder die Leistung im Mittelpunkt stehen 5 Sexueller Kindesmissbrauch: kein spezifischer Risikofaktor für Essstörungen bei Männern; zeigt niedrigere Raten als bei betroffenen ff Frauen, aber deutlich höhere Raten als bei nichtessgestörten Männern
Sexualität Obwohl die sexuelle Orientierung bei Männern mit einer Essstörung lange kontrovers diskutiert wurde, gibt es zunehmend mehr Studienergebnisse, die eine klare Assoziation zwischen Homobzw. Bisexualität und gestörtem Essverhalten darstellen. Essgestörte Männer zeigen deutlich höhere Prävalenzen von Homo- bzw. Bisexualität (10‒ 42) verglichen mit Raten der Allgemeinbevölkerung (5‒10). Umgekehrt wurden bei homosexuellen Männern höhere Prävalenzraten an Essstörungen festgestellt (2,1) als bei heterosexuellen Männern (0,3). Soziokulturell kann dieses Phänomen folgendermaßen erklärt werden: Homo- und bisexuelle Männer betrachten, ähnlich wie Frauen, ihren Körper als sexuelles Objekt, deshalb stehen Gewicht, Figur, Kleidung, Kosmetik, Essverhalten
16
mehr im Vordergrund als bei heterosexuellen Männern. Auch wenn sexuelle Orientierung als spezifischer Risikofaktor für Essstörungen bei Männern fi diskutiert wird, so verschiebt sich neuerdings der Schwerpunkt der Diskussion in Richtung sexueller Identität (Männlichkeit vs. Weiblichkeit).
Beruf Berufe, in denen der Körper, die Figur, das Gewicht, das Aussehen sowie die körperliche Leistung eine wesentliche Rolle spielen, sind häufi figer mit gestörtem Essverhalten und Essstörungen assoziiert als andere Berufsgruppen. Es gibt hier kaum geschlechtsspezifische fi Unterschiede, da der Beruf des Tänzers, des Models, des Flugbegleiters sowohl für Frauen wie Männer einen schlanken (dünnen) Körper vorsieht. In allen diesen Tätigkeitsbereichen wird der Körper in einer klaren Idealform defi finiert und vorgegeben, die ohne die Mittel des Fastens, des Erbrechens, des Diuretika- bzw. Laxanzienmissbrauchs, des Extremsports oft ft nicht erreichbar ist.
Sport Obwohl Sport grundsätzlich gesund ist, gibt es zunehmend pathologische Formen, bei denen Zwanghaftigkeit ft und ein immer höheres Leistungsziel im Vordergrund stehen. Im Kontext von Frauen wurde viel über das Phänomen der «athletischen Triade« publiziert, einer Kombination von medizinischen Störungen, bestehend aus: 5 gestörtem Essverhalten, 5 menstrueller Dysfunktion und 5 Osteoporose. Dies betrifft fft v. a. den Leistungssport (z. B. Laufen, Schwimmen, Klettern, Leichtathletik). Obwohl eine große Anzahl von Männern Leistungssport betreibt, ist bei ihnen kein derartiges Syndrom beschrieben. Ringkampf, Bodybuilding, Sportreiten, Skispringen sind Sportarten, die hauptsächlich von Männern ausgeführt werden und häufi fig mit einem gestörten Essverhalten einhergehen. Studienergebnisse zeigen, dass über 70 von High-SchoolRingkämpfern mindestens eine schädliche Methode des Abnehmens anwenden und 40 vor dem Wettkampf Heißhungeranfälle haben. Pope et al. beschrieben 1993 bei 8 der untersuchten männ-
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Kapitel 16 · Essstörungen bei Männern
lichen Bodybuilder ein neues Phänomen gestörten Körperbildes bzw. Essverhaltens, das er ursprünglich reverse anorexia nervosa und dann muscle dysmorphia nannte. Obwohl diese Männer entsprechend dem Bodybuilderstatus überdimensionale Muskulatur haben, empfinden fi sie sich als schmächtig und unmuskulös. Mittelpunkt ihres Alltags ist regelmäßiges intensives Training, übermäßiges Essen und Anabolikakonsum mit dem Ziel, ihren Idealkörper zu erreichen. Dies ist vergleichbar, nur »umgekehrt« mit dem Phänomen der klassischen Anorexie.
Sexueller Kindesmissbrauch Essgestörte Männer zeigen deutlich höhere Raten an sexuellem Missbrauch während der Kindheit als nichtessgestörte Männer. Trotzdem scheint dieser generelle Risikofaktor für psychische Erkrankungen (u. a. Essstörungen) frauenspezifisch fi zu sein, da Frauen nicht nur höhere Prävalenzraten, sondern auch schwerere Formen von sexuellem Missbrauch aufzeigen als essgestörte Männer. ! Essstörungen bei Männern sind Erkrankungen mit multikausaler Pathogenese. Die hier erwähnten Risikofaktoren wirken im Kontext anderer (biologischer, kultureller, individueller, situativer) Faktoren. Zudem sind einige Risikofaktoren wie z. B. »Beruf« oder »Sport« nicht nur Auslöser, sondern oft auch Stabilisatoren für bereits bestehende Symptome gestörten Essverhaltens.
16.3
Krankheitsverlauf
16 Krankheitsverlauf
17 18 19 20
5 Klinische Symptome der AN und BN zeigen keine geschlechtsspezifischen fi Unterschiede 5 Hohe Prävalenzraten von Komorbidität, v. a. aff ffektive Erkrankungen und Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit
Lange wurden anorektische Männer in ihrem Krankheitsbild verkannt oder als schizophren diagnostiziert, da Magersucht ausschließlich mit Frauen assoziiert wurde und die diagnostischen Kriterien (v. a. DSM) das Bestehen einer dreimonatigen Amenorrhö voraussetzten. Die Körperbildstörung des Sich-zu-dick-Fühlens wurde somit im Kontext von wahnhaftem ft Verhalten eingeordnet. Heute wird das Kriterium der Amenorrhö als Epiphänomen für extremes Untergewicht gesehen, dementsprechend hat die ICD-10 die Geschlechtsspezifität fi des Kriteriums eliminiert und durch das »Vorhandensein von endokrinen Störungen« ausgetauscht. Haben sich die anorektischen bzw. bulimischen Symptome manifestiert, so zeigen sie keine geschlechtsspezifischen fi Unterschiede. Die Gewichtsphobie, die Angst vor dem Essen und die psychische Einengung stehen im Vordergrund. Entsprechend der körperlichen Regression bei der AN verschwinden meist sexuelle Phantasien und Aktivitäten. Betroffene ff leben oft ft beziehungslos und asexuell. Medizinisch zeigen Patienten die gleichen medizinischen Befunde wie Patientinnen: z. B. Kachexie, trockene Haut, Lanugobehaarung, Petechien, Akrozyanose, Hypothermie, Bradykardie, Hypotension, Osteopenie bzw. Osteporose, Hirnatrophie bei Anorexie; z. B. Arrhythmie, Sialadenose, Zahnschäden, Obstipation bei Bulimie. Essgestörte Männer zeigen im Verlauf ihrer Erkrankung nicht nur schwere medizinische Symptome, sondern auch hohe Raten (60‒80) an psychiatrischer Komorbidität, welche v. a. durch affekff tive Störungen, Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit bestimmt wird. Zusätzlich zeigen betroffene ff Männer verglichen mit nichtessgestörten Kontrollprobanden hohe Prävalenzraten von Angststörungen, Psychosen, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen. Es ist bislang unklar ob diese zusätzlichen psychiatrischen Erkrankungen vor, während oder nach der Essstörung entstehen.
91
16.5 Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung
16.4
Behandlung und Outcome
Behandlung und Outcome 5 Behandlung Die Behandlung der Essstörung ist geschlechtsunspezifisch: fi Gewichtsrehabilitation, Strukturierung und Stabilisierung des Essverhaltens in Kombination mit Psychotherapie Pharmakologische und psychotherapeutische Mitbehandlung der Komorbiditäten 5 Verlauf Unzureichende und kontroverse Datenlage: ähnlicher bis besserer Verlauf als bei essgestörten Frauen
! Langzeituntersuchungen der ursprünglich schon sehr kleinen Stichproben erweisen sich als äußerst schwierig und stellen die Selektion der untersuchten Probanden in den Vordergrund. Ergebnisse sind deshalb unter Berücksichtigung dieser Limitationen zu betrachten.
Zum einen beschreiben Studien den Essstörungsverlauf bei Männern ähnlich wie bei betroff ffenen Frauen, zum anderen zeigen Studien einen eher besseren Verlauf der essgestörten Patienten. Dies wird mit den bereits erwähnten protektiven Faktoren bei Männern begründet: Gelingt essgestörten Patienten der Schritt zur Therapie, so können sie oft ft schnell wieder die Inhalte ihres gesundes Lebens fortsetzen.
16.5 Die geschlechtsspezifische fi Zuschreibung von Essstörungen gilt als wesentlicher Grund der geringen Behandlungswilligkeit essgestörter Männer. Wie bei anorektischen und bulimischen Frauen zeigen auch betroff ffene Männer eine deutliche Behandlungsverzögerung, d. h., zwischen dem Auftreten ft der ersten Symptome und dem Zeitpunkt der Inanspruchnahme von professioneller Hilfe liegen meist Monate bzw. Jahre. Die ambulante bzw. stationäre Behandlung basiert für beide Geschlechter auf den gleichen Prinzipien. So wie essgestörte Frauen meist eine Therapeutin präferieren, so wird diese GeschlechtsTh gleichheit auch für den Therapeuten Th des männlichen Patienten empfohlen. Das Kriterium des Zielgewichts bei anorektischen Patienten ist die Rückkehr der Libido bzw. der sexuellen Funktion (= Normalisierung des Testosteronwerts), auch wenn dieser Parameter nicht so stabil wie das Einsetzen der Menstruation als Genesungszeichen bei Frauen ist. Die Datenlage zum Outcome bei essgestörten Männern ist nicht nur kontrovers, sondern auch unzureichend.
16
Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung
Diese Kategorie der atypischen Essstörung (7 Kap. 5) ist in den neuerlichen Blickpunkt getreten, nachdem Wissenschaft fter zeigen konnten, dass ein Großteil (50‒70) der Patientinnen und Patienten, die die Essstörungsambulanzen aufsuchen, nicht das Vollbild einer AN bzw. BN aufweisen, sondern die Kriterien für atypische Essstörungen (inklusive der Binge-Eating-Störung, BES) erfüllen. Auff ffallend ist, dass der Anteil von Männern in dieser Essstörungskategorie deutlich höher ist als in den beiden »typischen« Essstörungskategorien. Wissenschaftliche ft Studien hatten bislang ihren Fokus auf AN und BN und erst seit kurzem auch auf die BES gelegt. Somit gibt es bis dato wenige groß angelegte Studien, die die atypischen Essstörungen (ohne BES) klinisch und epidemiologisch genauer untersucht haben. Wie bereits erwähnt ist die BES die bestbeschriebene Kategorie in dieser Diagnoseklasse mit einem Geschlechterverhältnis Frauen zu Männern von etwa 3:2. Auch hier zeigen betroffene ff Männer ein den Frauen vergleichbares klinisches Bild.
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Kapitel 16 · Essstörungen bei Männern
Fazit AN und BN sind seltene Erkrankungen bei Männern. Treten sie jedoch auf, so zeigen sie klinisch die gleiche Symptomatik und einen ähnlichen Verlauf wie betroff ffene Frauen. Auffallend sind ein prämorbides Übergewicht und ein hoher Anteil an homo- bzw. bisexueller Orientierung. Die starke weibliche Assoziation von gestörtem Essverhalten führt dazu, dass männliche Betroffene ff nicht nur ihre Symptomatik häufig fi verkennen, sondern diese auch verleugnen und folglich nicht in Behandlung gehen. Von professioneller Seite resultiert diese Dominanz des weiblichen Geschlechts bei Essstörungen häufig fi in Fehldiagnosen bzw. Nichterkennen der Symptome. Für die BES als atypische Essstörung zeigt sich ein deutlich höherer Anteil an Männern.
9 Literatur
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Striegel-Moore RH, Garvin V, Dohm FA, Rosenheck RA (1999) Psychiatric comorbidity of eating disorder in men: a national study of hospitalized veterans. Int J Eat Disord 25: 399-404
17 Essstörungen und Leistungssport Petra Platen 17.1
17.2
Körpergewicht und Körperzusammensetzung im Leistungssport – 94
17.7
Screening und Diagnose
17.7.1 Screening – 98 17.7.2 Diagnostisches Prozedere
Bedeutung der Energiebilanz im Leistungssport – 95
17.8
17.3
Epidemiologie – 95
17.8.1 Prävention – 100 17.8.2 Therapie – 100
17.4
Prädisponierende Faktoren – 96
17.9
17.5
Pathophysiologische Mechanismen – 97
17.5.1 Essstörungen – 97 17.5.2 Störungen des Menstruationszyklus – 97 17.5.3 Niedrige Knochendichte – 98
17.6
Gesundheitliche Konsequenzen
Prävention und Therapie
– 98 – 99
– 99
Leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement bei Athletinnen und Athleten – 101
17.9.1 Hinweise zum angemessenen Abnehmen – 101 17.9.2 Hinweise zu leistungsoptimierender Gewichtszunahme – 102
– 98
17.6.1 Psychische und soziale Folgen – 98
Aufgrund der enormen Bedeutung von körperlicher Aktivität für die Gesundheit sollten alle Menschen regelmäßig körperlich aktiv sein und/oder Sport treiben. Manchmal kann sportliche Aktivität jedoch mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko assoziiert sein. Hierzu gehört eine nicht bedarfsangepasste, unterkalorische Ernährung, die die gesamte Bandbreite von Störungen des Essverhaltens bis hin zu klassischen Essstörungen betreffen ff kann. Eine hypokalorische Ernährung kann wiederum mit Störungen des reproduktiven Systems und Knochendemineralisation assoziiert sein. Bei Sportlerinnen wird diese Symptomentrias auch als »Triade der Sport treibenden Frau« bezeichnet. Auch bei männlichen Athleten wurden Störungen des Essverhaltens und des reproduktiven Systems beschrieben. Wegen der höheren Prävalenz wird der Fokus auf die weibliche Athletin gelegt.
Definition Triade der Sport treibenden Frau und des Sport treibenden Mannes Unter der »Triade der Sport treibenden Frau« versteht man eine Symptomentrias aus chronisch zu geringer Energiezufuhr mit der Nahrung, Störungen des Menstruationszyklus und Osteoporose. Auch wenn aufgrund der geringeren Prävalenz nur wenig Literatur zu männlichen Athleten vorliegt, zeigen die entsprechenden Publikationen, dass ein chronisches Kaloriendefizit fi auch bei männlichen Athleten zu Störungen des reproduktiven Systems und Knochendemineralisation führen kann.
Der Leistungssport stellt einen besonderen gesellschaftlichen ft Bereich dar. Der Druck auf Athletinnen und Athleten, die Leistungsfähigkeit zu steigern, einer ästhetischen Norm zu entsprechen oder eine niedrigere Gewichtsklasse zu erreichen, ist
94
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Kapitel 17 · Essstörungen und Leistungssport
hier sehr hoch. So kann ein Nichterreichen einer bestimmten Gewichtsklasse zum Ausschluss aus dem Team oder zum Verbot der Wettkampfteilnahft me führen. Dies wiederum kann zu Veränderungen im Essverhalten führen, die krankhaft fte Züge annehmen und sich bis hin zu klassischen Essstörungen entwickeln können.
4 17.1
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Körpergewicht und Körperzusammensetzung im Leistungssport
Das Körpergewicht und die Körperzusammensetzung sind zwei der vielen Faktoren, die die Leistungsfähigkeit beeinflussen fl können. Das Körpergewicht hat u. a. Einfluss fl auf die maximale Laufgeschwindigkeit, Ausdauer und Kraft, ft die Körperzusammensetzung auf Ästhetik und Wendigkeit. Ein optimales Kraft-Last-Verhältnis ft bestimmt in vielen Sportarten die Leistung. Da sich der Körperfettanteil negativ auf das Kraft-Last-Verhältnis ft auswirkt, streben viele Sportlerinnen und Sportler einen möglichst niedrigen Körperfettanteil an. Ein zu geringer Körperfettanteil hat jedoch wiederum negative gesundheitliche Effekte ff und kann auch zu einer Verschlechterung der Leistungsfähigkeit führen. Außerdem ist er nicht der einzige leistungsrelevante Parameter, und allein aus einem niedrigen Körperfettwert leitet sich nicht automatisch eine hohe Leistung ab. In einigen Sportarten ist der Druck, ein bestimmtes Körpergewicht und/oder einen möglichst geringen Körperfettanteil zu erreichen und damit möglicherweise auch negative gesundheitliche Konsequenzen zu erleiden, besonders hoch. So sind in Gewichtsklassesportarten wie Ringen, Judo oder Leichtgewichtsrudern Athletinnen und Athleten entweder zu einer Gewichtszunahme oder -abnahme gezwungen, wenn sie in der für sie vermeintlich optimalen Gewichtsklasse starten sollen. In ästhetischen Sportarten wie Tanzen, Gymnastik und Eiskunstlaufen müssen Sportlerinnen eine schlanke Statur aufweisen, um erfolgreich zu sein, und sie entwickeln häufig fi ein Diätverhalten, auch wenn ihre aktuelle Körperhöhen-Gewichts-Relation aus gesundheitlicher und Leistungssicht optimal zu sein scheint. In manchen Ausdauersportarten wie z. B. dem Langstreckenlauf muss das Körper-
gewicht getragen werden, sodass hier nur schmal gebaute Sportlerinnen und Sportler erfolgreich sein können. Auch hier wird häufi fig durch Diäten versucht, überflüssige fl Körpermasse zu verlieren. Unter ausgeprägtem Diätverhalten geht jedoch sowohl Körperfett als auch Muskelmasse verloren, sodass sich die Leistungsfähigkeit sogar verschlechtern kann. ! Ein optimales Wettkampfgewicht und eine optimale Körperzusammensetzung sollten individuell festgelegt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Sportlerinnen und Sportler sowohl gesund sind als auch ihre individuelle maximale Leistungsfähigkeit erreichen können.
Strategien zur Körpergewichtskontrolle für Athletinnen und Athleten sowie die betreuenden Personen 5 Setzen Sie realistische Ziele für Gewicht und Körperzusammensetzung: Fragen Sie: Welches maximale Gewicht wäre akzeptabel? Was war das letzte Gewicht, ohne dass Diät gehalten wurde? Wie wurde das Zielgewicht erreicht? Mit welchem Gewicht bestand die höchste Leistungsfähigkeit? 5 Legen Sie großen Wert auf gesundes Verhalten, einschließlich guten Stressmanagements und gesunder Ernährungsgewohnheiten. 5 Dokumentieren Sie Fortschritte, z. B. bezüglich Leistungszunahme, Energiebilanz, Verletzungsprophylaxe, Normalisierung des Menstruationszyklus und allgemeinem Wohlbefinden. fi 5 Athletinnen und Athleten benötigen Unterstützung in dem Bestreben, Lebensstiländerungen für sich selbst vorzunehmen und nicht für ihren Sport, ihre Trainer, ihr sportliches Umfeld oder um irgendetwas zu beweisen.
95
17.3 Epidemiologie
17.2
Bedeutung der Energiebilanz im Leistungssport
Im Folgenden soll der Fokus gesetzt werden auf das Spektrum zwischen optimaler Energiezufuhr für die Ausübung einer leistungssportlichen Tätigkeit und zu geringer Energiezufuhr mit oder ohne klinische Essstörung. Auf die Problematik einer positiven Energiebilanz wird an anderer Stelle eingegangen (7 Kap. 54). Die Verfügbarkeit von Energie wird in diesem Zusammenhang definiert fi als die Diff fferenz zwischen der Energieaufnahme und dem Energieverbrauch durch körperliches Training und stellt die Menge an Energie dar, die dem Organismus für andere Körperfunktionen zur Verfügung steht. Wenn die Verfügbarkeit von Energie zu gering wird, kommt es zu Sparmaßnahmen des Organismus, z. B. im Zellstoff ffwechsel, in der Thermoregulation und der Reproduktion. Dies führt partiell und zeitweise zum Ausgleich des Energiedefizifi ts und gewährleistet das Überleben, beeinträchtigt jedoch die Gesundheit. Einige Sportlerinnen reduzieren ihre Verfügbarkeit von Energie, indem sie den Energieverbrauch durch körperliches Training stärker erhöhen als die Energiezufuhr mit der Nahrung. Andere Athletinnen reduzieren ihre energetische Verfügbarkeit, indem sie die Energiezufuhr stärker reduzieren als den Energieverbrauch durch Sport. Wieder andere verwenden bestimmte Formen des Essverhaltens, wie Fasten, Binge-Eating (wiederholte Essattacken ohne Erbrechen) oder PurgingMethoden wie Verwendung von Abführmitteln, Diuretika oder Brechmitteln. Eine weitere Gruppe weist klinische Formen von Essstörungen auf, die nicht selten von anderen psychischen Erkrankungen begleitet werden. Zu den vorliegenden Essstörungen gehören die Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa und, wenn nicht alle Kriterien für diese beiden Formen zutreffen, die nicht anders spezifizierten fi Essstörungen (EDNOS).
17
Definition Die Verbindung der drei einzelnen Krankheitsbilder der Triade der Sport treibenden Frau Zu geringe energetische Verfügbarkeit (mit oder ohne Essstörungen), Amenorrhö und Osteoporose, jeweils alleine oder in Kombination, haben bedeutsame gesundheitliche Konsequenzen für die betroff ffenen Sportlerinnen. Daher sollten eine effektive ff Prävention, eine möglichst frühzeitige Diagnose und eine konsequente Therapie angestrebt werden. Jeder der drei voll ausgebildeten klinischen Zustände ist als das Ende eines Spektrums von untereinander verknüpften Bedingungen zwischen völliger Gesundheit und Krankheit aufzufassen. Für jeden Menschen kann sich jeder der drei Zustände mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entlang den verschiedenen Spektren bewegen, entsprechend der aktuellen Ernährungssituation und dem Trainingsverhalten. Ein nur mäßiges oder erst seit kurzer Zeit bestehendes Kaloriendefizit fi kann subklinische Formen von Störungen des Menstruationszyklus wie anovulatorische Zyklen oder Lutealinsuffi ffizienzen auslösen oder nur geringe hormonelle Veränderungen. Die Energiebilanz kann von Tag zu Tag variieren, aber Veränderungen des Menstruationszyklus mit chronischen Abnahmen der Östrogenspiegel zeigen sich eventuell erst nach einem oder mehreren Monaten. Effekte ff auf die Knochendichte sind möglicherweise erst nach einem Jahr oder später nachweisbar.
17.3
Epidemiologie
Die Prävalenz der einzelnen Komponenten der Triade der Sport treibenden Frau variiert erheblich in den vorliegenden Studien. Angaben über die Häufigkeit einer möglicherweise latent vorliegenden chronischen negativen Kalorienbilanz fehlen völlig. Große, gut konzipierte epidemiologische Untersuchungen geben die Häufigkeit fi von Störungen des
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Kapitel 17 · Essstörungen und Leistungssport
Essverhaltens bzw. Essstörungen bei Sportlerinnen in sog. Risikosportarten (. Übersicht) mit 25–31 gegenüber 6–9 bei untrainierten Vergleichsgruppen an. So fand eine Studie in Sportarten, bei denen ein schlanker Habitus angestrebt wird, wie z. B. in Ausdauersportarten, ästhetischen Sportarten, Gewichtsklassesportarten und sog. »Anti-Gravitationssportarten« wie Hochsprung und Klettern, Störungen des Essverhaltens bei 31 gegenüber 6 in einer nichttrainierenden Vergleichsgruppe von Frauen. Eine weitere große Studie fand bei 25 der Sportlerinnen in Ausdauer- und ästhetischen Sportarten sowie in Gewichtsklassesportarten klinisch relevante Essstörungen gegenüber 9 bei nicht trainierenden Frauen. Die einzige größere Studie bei männlichen Athleten ergab bei 2 der Sportler aus Sportarten mit einem hohen Druck für einen schlanken Habitus Essstörungen im Verglich zu 0 nicht trainierender Kontrollen. Bedeutsam ist, dass weder bei männlichen noch bei weiblichen Athleten aus »Nichtrisikosportarten« wie Ballsportarten, technischen Disziplinen und Kraft ftsportarten ein erhöhtes Risiko für Essstörungen gegenüber nicht trainierenden Kontrollen gefunden wurde. ! Bei denjenigen Sportarten, bei denen ein hoher Druck für einen schlanken Habitus besteht, ist von einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Störungen des Essverhaltens bis hin zu klinisch manifesten Essstörungen auszugehen. In anderen Sportarten besteht hierfür kein erhöhtes Risiko.
Risikosportarten 5 Sportarten mit hohem ästhetischem Charakter; diese Gruppe kann in drei weitere Bereiche unterteilt werden: 1. Sportarten, bei denen Leistung und Ästhetik z. T. subjektiv beurteilt werden Beispiele: Eiskunstlaufen, Tanzen, rhythmische Sportgymnastik, Kunstturnen, Synchronschwimmen 2. Sportarten, bei denen ein kindlicher Habitus aus biomechanischer Sicht Vorteile bringt Beispiele: Kunstturnen, rhythmische Sportgymnastik 3. Sportarten, bei denen körperbetonte Kleidung getragen wird Beispiel: Kunstturnen, Wasserspringen 5 Ausdauersportarten, bei denen das Körpergewicht getragen werden muss Beispiele: Triathlon, Langstreckenlauf 5 Gewichtsklassesportarten Beispiele: Ringen, Judo, Rudern, Boxen, Pferderennsport (Jockeys) 5 Weitere Sportarten, bei denen das Gewicht die Leistung beeinflusst fl (»Anti-Gravitationssportarten«) Beispiele: Skispringen, Klettern, Hochsprung
17.4
Prädisponierende Faktoren
Es gibt Bedingungen oder prädisponierende Faktoren, die speziell bei Sportlerinnen und Sportlern die Entstehung einer Essstörung begünstigen oder auslösen können (. Übersicht).
97
17.5 Pathophysiologische Mechanismen
17.5
Pathophysiologische Mechanismen
17.5.1
Essstörungen
Prädisponierende Faktoren für die Entstehung einer Essstörung 5 Sportarten mit einem hohen Druck für einen schlanken Habitus (Risikosportarten, s. oben) 5 Angestrebtes hohes Leistungsniveau fluss von Trainern, Betreuern und son5 Einfl stigen wichtigen Bezugspersonen aus dem leistungssportlichen Umfeld 5 Druck von außen, das Gewicht zu reduzieren 5 Fehlende Unterstützung beim Abnehmen fi und niedriges 5 Mangelhafte Qualifikation Ausbildungsniveau der Trainer 5 Unbedachte negative Äußerungen von Personen aus dem leistungssportlichen Umfeld (z. B. Trainer) zur Figur 5 Persönlichkeitsfaktoren 5 Diätieren und gewichtsregulierendes Verhalten bereits in jungen Jahren 5 Bei Frauen: Beginn des Trainings vor der Menarche 5 Psychisch belastende Ereignisse, wie eine Erkrankung, der Wechsel oder Verlust des Trainers, Probleme in der Schule oder im Umfeld, Gewalterlebnisse und sexuelle Übergriffe ff fi und/oder Appetitverlust 5 Kaloriendefizit durch Steigerung des Trainingsvolumens 5 Notwendigkeit zur Gewichtsabnahme und Gewichtsschwankungen 5 Bevorzugte Wahl einer Sportart durch Risikopersonen 5 Training trotz Verletzungen/Übertraining
Ein Diätverhalten scheint ein wichtiger Eintritt in Richtung Entwicklung einer manifesten Essstörung zu sein. Auffällige ff Störungen des Essverhaltens führen überproportional häufi fig zu klinisch manifesten Essstörungen, sodass deren Vorliegen im präventiven Sinne unbedingt beobachtet werden sollte.
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Eine spezifi fische Ursache für die Entstehung von Essstörungen im Leistungssport ist nicht bekannt. Vielmehr ist von der Interaktion mehrerer der Risikofaktoren (s. oben) auszugehen. Aus pathophysiologischer Sicht erscheint es bedeutsam, dass eine negative Energiebilanz, die durch eine alleinige Nahrungsrestriktion (Diätverhalten) erreicht wird, ein Hungergefühl auslöst, während dies durch vermehrte körperliche Aktivität nicht entsteht. Es existiert scheinbar kein interner »Fühler« für die Anpassung der Nahrungsenergiezufuhr an einen trainingsbedingt erhöhten Energieverbrauch. Außerdem scheinen zu erreichende Energiedefi fizite bei Nahrungsrestriktion größer zu sein, wenn ein hoher Kohlenhydratanteil in der Ernährung besteht, wie dies für Sportlerinnen und Sportler typisch ist.
17.5.2
Störungen des Menstruationszyklus
Störungen des Menstruationszyklus in Zusammenhang mit zu geringer Kalorienzufuhr werden durch Alterationen des Gonadotropin-ReleasingHormon(GnRH)-Pulsgebers auf hypothalamischer Ebene ausgelöst und zählen zu den sog. funktionellen Zyklusstörungen. Es scheint eine »Schwelle« der energetischen Verfügbarkeit zu geben, unter der es zu signifikanten fi Alterationen der GnRH- bzw. der nachgeschalteten hypophysären Pulse des luteinisierenden Hormons (LH) kommt. Diese Schwelle liegt bei etwa 25‒30 kcal/kg fettfreier Masse Energie pro Tag, die nach Abzug des trainingsbedingten Energieverbrauchs dem Organismus noch zur Verfügung steht. Dies entspricht etwa dem Ruheumsatz eines gesunden Menschen. Eine zu geringe energetische Verfügbarkeit kann unabhängig davon, ob sie in Zusammen-
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Kapitel 17 · Essstörungen und Leistungssport
hang mit einer Störung des Essverhaltens, mit einer manifesten Essstörung oder mit hohem Energieverbrauch durch Leistungstraining bei nichtadäquater Ernährung auft ftritt, zu Veränderungen metabolischer Hormone und Substrate führen. Diese wiederum dienen als metabolische Signale an den GnRH-sezernierenden Neuronen. Ob hier bei Leistungssport treibenden Frauen besondere Mechanismen wirksam sind, ist unklar.
17.5.3
Niedrige Knochendichte
Sportlerinnen mit einer funktionellen Amenorrhö weisen ein pathologisches Knochen-Remodeling auf. Sowohl die Knochenneubildung ist supprimiert als auch der Knochenabbau gesteigert. Durch eine antiresorptive medikamentöse Th Therapie konnte bei betroffenen ff Sportlerinnen bisher keine Normalisierung der Knochendichte erreicht werden. Dies liegt wahrscheinlich an weiteren relevanten Faktoren wie ein insgesamt mehr oder weniger stark ausgeprägtes Kaloriendefizit. fi In einer prospektiven Studie mit Sportlerinnen kam es bereits durch eine nur 5-tägige Kalorienrestriktion auf eine energetische Verfügbarkeit von unter 30 kcal/ kg fettfreier Körpermasse pro Tag zu einer Zunahme der Knochenresorption und zu einer Abnahme der Neubildung. Die Resorptionszunahme ist wahrscheinlich ein Effekt ff der erniedrigten Östradiolkonzentrationen, die Abnahme der Knochenneubildung ein Eff ffekt von Veränderungen von Insulin, T3 (Trijodthyronin) und IGF-1 (insulin-like growth factorr 1) oder auch anderer Hormone wie Kortisol und Leptin.
17.6
Gesundheitliche Konsequenzen
! Essstörungen im Sport sowie Teilaspekte davon führen zu unterschiedlichen gesundheitlichen Konsequenzen. Je nach Ausprägung und Dauer der Essstörung können erhebliche gesundheitliche Schäden auftreten (7 Kap. 25).
17.6.1
Psychische und soziale Folgen
Essstörungen haben tief greifende psychische und soziale Folgen, sie verschlechtern nachhaltig die Lebensqualität der Betroffenen. ff Essgestörte verlieren immer mehr ihre Lebensfreude, ihr Selbstbewusstsein sinkt, und ihr Interesse an der Umwelt nimmt ab. Über 5 der Sportlerinnen mit Essstörungen berichten über Selbstmordabsichten. Der permanente Stress, den die Betroffenen ff für sich erleben, und die Angst vor der Entdeckung des essgestörten Verhaltens (insbesondere bei Bulimie) führen dazu, dass sie häufi figer gereizt sind und sich mehr und mehr zurückziehen. Gleichzeitig nehmen die Konzentrationsfähigkeit, die allgemeine Leistungsfähigkeit und auch das Interesse an Sexualität ab. Die Übertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn (u. a. durch Serotoninmangel) kann sich verändern und somit die Stimmung negativ beeinfl flussen. Schwere Depressionen und Angststörungen können die Folge sein. Im Leistungssport führen Essstörungen zu einer weiteren Steigerung des ohnehin hohen emotionalen Drucks, unter dem die Athletinnen und Athleten nicht nur bei Wettkämpfen stehen. So sind Lehrgänge, Trainingslager und Wettkämpfe aus der Sicht der bulimischen Sportlerinnen besonders belastend, denn hier haben sie kaum Möglichkeiten zum Alleinsein und damit zum heimlichen Erbrechen. Sportlerinnen mit anorektischen Tendenzen können ihre sehr geringe Nahrungszufuhr kaum verbergen. Die Folge sind depressive Verarbeitungsstörungen, Antriebsarmut, Schlafstörungen und in der Konsequenz weiterer Leistungsverlust und eine Verschlimmerung der Essstörung.
17.7
Screening und Diagnose
17.7.1
Screening
Das Screening nach Störungen des Essverhaltens und nach klinisch manifesten Essstörungen bei Leistungssportlerinnen setzt sowohl das Bewusstsein für die Kontinuität des Erkrankungsspektrums zwischen nur geringfügig auff ffälligem Verhalten und schwerem klinischem Erscheinungsbild sowie das Verständnis für die pathophysiologischen Zusam-
99
17.8 Prävention und Therapie
menhänge zwischen den drei Komponenten der Triade der Sport treibenden Frau voraus. Idealerweise sollte sowohl bei der ersten sportmedizinischen Untersuchung vor Aufnahme des leistungssportlichen Trainings (Sporteingangsuntersuchung) sowie bei der jährlichen Kaderuntersuchung nach dem Vorliegen von Störungen des Essverhaltens oder manifesten Essstörungen gescreent werden. Ferner sollte auch dann konkret auf Störungen des Essverhaltens oder Essstörungen untersucht werden, wenn Sportlerinnen mit gesundheitlichen Problemen, die in Zusammenhang mit Essstörungen stehen könnten, wie z. B. Amenorrhö, Stressfrakturen oder wiederholte Verletzungen oder Erkrankungen, auff ffällig werden. Beim Screening sollte ein standardisiertes Instrument zum Einsatz kommen, wie z. B. der Eating Disorder Inventoryy (EDI). Bei auff ffälligen Werten auf den einzelnen Subskalen sollte im persönlichen Gespräch gezielt nach dem Essverhalten sowie nach Auff ffälligkeiten in Zusammenhang mit den anderen Komponenten der Triade gefragt werden. Auch wenn Essstörungen gehäuft ft in den o. g. Risikosportarten auftreten, ft können sie dennoch in jeder anderen Sportart auch vorhanden sein. Daher sollte ein entsprechendes Screening beim ersten geringen Verdacht veranlasst werden.
17.7.2
Diagnostisches Prozedere
Anamnese Die Anamneseerhebung sollte Angaben zur Nahrungszufuhr, zum Diätverhalten, zu Gewichtsschwankungen und zum trainingsbedingten Kalorienverbrauch beinhalten. Ferner sollte die Menstruationsanamnese erhoben und bei Auff ffälligkeiten eine (sport-)gynäkologische Untersuchung veranlasst werden. Es ist gezielt nach Faktoren zu fragen, die auf eine geringe Knochendichte hinweisen können, wie z. B. aufgetretene Stressfrakturen. Wenn Störungen des Essverhaltens vermutet werden, sollte eine weitere psychosomatische oder psychologische Abklärung zum Ausschluss bzw. zur Diagnose einer klinisch manifesten Essstörung erfolgen. Die Untersuchung richtet sich nach den üblichen Standards für nicht Leistungssport treibende Menschen.
17
Bei der körperlichen Untersuchung der Sportlerin sollte auf Zeichen geachtet werden, die auf eine Essstörung hinweisen können. Hierzu gehören: 5 Bradykardie (ein typischer Befund bei gesunden Ausdauersportlerinnen und -sportlern), 5 orthostatische Dysregulation, 5 kalte, bläuliche Hände und Füße, 5 Lanugobehaarung und 5 vergrößerte Speicheldrüsen.
Knochendichtemessung Die Knochendichte sollte gemessen werden bei Vorliegen einer Störung des Essverhaltens bzw. einer klinisch manifesten Essstörung, wenn eine Stressfraktur aufgetreten ist, oder bei Störungen des Menstruationszyklus, die länger als 6 Monate andauern. Die Messmethodik der Wahl ist eine DXA-Messung. Die Diagnose einer niedrigen Knochendichte wird anhand des niedrigsten Z-Scores der Wirbelkörper (pa-Aufnahme) oder der Hüftregion ft (Femurhals oder Hüfte ft gesamt) gestellt. Zu beachten ist, dass die Streuung der Knochendichtewerte bei amenorrhoischen Sportlerinnen erheblich ist und auch von Sportart zu Sportart und zwischen den verschiedenen Skelettabschnitten sehr schwanken kann. Bei Sportlerinnen und Sportlern kann die Knochendichte am Radius normal sein, an der Wirbelsäule oder der Hüft ftregion jedoch pathologisch erniedrigt.
17.8
Prävention und Therapie
! Aufgrund der Interaktion der drei Komponenten der Triade der Sport treibenden Frau setzen effektive ff Prävention und Therapie ein funktionierendes Team aus Sportmedizinern/Sportgynäkologen, Ernährungsberatern und Sportpsychologen voraus. In dieses Team sollten auch die Trainer, Eltern und weitere Personen aus dem persönlichen Umfeld der Sportlerinnen einbezogen werden.
Die Sterberate an den Folgen einer ausgeprägten Magersucht ist auch für (ehemalige) Leistungssportlerinnen und Leistungssportler erhöht. Darüber hinaus führen Störungen des Essverhaltens bzw. manifeste Essstörungen und damit assoziierte Störungen des Menstruationszyklus auch bei Sport-
100
1 2 3
Kapitel 17 · Essstörungen und Leistungssport
lerinnen zu überwiegend irreversiblen Abnahmen der Knochendichte mit den entsprechenden langfristigen gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Athletinnen. Aus diesen Gründen sollten insbesondere in den Risikosportarten konsequente präventive und eff ffektive therapeutische Maßnahmen zum Einsatz kommen.
! Die Stabilisierung der Persönlichkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Prävention gegen die Entwicklung von Essstörungen. Bei Unsicherheiten und Problemen sollten sich die Athletinnen und Athleten sowie ihre Eltern und Menschen aus ihrem Umfeld an Experten aus dem Bereich der Sportpsychologie wenden.
4 17.8.1
Prävention
17.8.2
Therapie
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Im modernen Leistungssport zählen vor allem Siege. Athletinnen und Athleten entwickeln hieraus das Gefühl, nur soviel Mensch zu sein, wie sie auch Leistung bringen. Allzu oft ft wird den Sportlerinnen und Sportlern vermittelt, oder es wird von ihnen selbst so empfunden, dass sie als Person nicht interessieren. Bezüglich der Prävention von Essstörungen muss das stärkste Anliegen daher darin bestehen, Athletinnen und Athleten zu einer reifen, autonomen und selbstbewussten Persönlichkeit zu verhelfen oder ihnen Hilfen anzubieten, dass sie sich in diesem Sinne entwickeln können. Sie müssen davor bewahrt werden, dass sie sich selbst ausschließlich über ihre Leistung und ihre Erfolge definieren, fi und sie dürfen es auch nicht zulassen, dass andere dies tun. Sportlerinnen und Sportler sollten die Chance haben, sich zu selbstbewussten Frauen und Männern zu entwickeln. Dazu sollten sie in der Lage sein, ihre eigenen Fähigkeiten optimal zu entwickeln, aber auch realistisch einschätzen zu können sowie ihre Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren. Sie sollten ferner ihre eigenen Ziele und Bedürfnisse entwickeln und umsetzen sowie Kritik annehmen können. Mit einer so entwickelten Persönlichkeit sind sie gerüstet, sich adäquat gegen »unsachgemäße« Kritik, wie z. B. zu kritische Anmerkungen zu ihrer Figur, zu wehren. Athletinnen und Athleten sollten der Leistung und dem Erfolg durchaus einen angemessenen Stellenwert beimessen und dies als einen Teil der Qualitäten, die sie als Person auszeichnen, begreifen. Sie sollten lernen, offen ff ihre Gefühle zu zeigen und zu artikulieren. Ebenso sollten sie kooperativ in einer Gemeinschaft ft tätig sein können, denn der Leistungssport fi findet immer in einer Gemeinschaft ft statt.
Übergeordnete Ziele für Sportlerinnen mit Störungen des Essverhaltens oder manifesten Essstörungen sind die Normalisierung des Ernährungsstatus, die Normalisierung des Essverhaltens und die Veränderung des Denkmusters, das zu der Essstörung führt oder diese unterhält. Je jünger die Athletin, umso stärker ist die Familie in die TheraTh pie einzubeziehen. Bei amenorrhoischen Sportlerinnen führt eine Zunahme des Körpergewichts zu Anstiegen der Knochendichte von etwa 5 pro Jahr. Bei Frauen mit Anorexia nervosa konnte in einigen Studien eine Zunahme der Knochendichte von 2‒3 pro Jahr unter Zunahme des Körpergewichts nachgewiesen werden. ! Bei betroff ffenen Sportlerinnen sollte als wichtigste Maßnahme zur Normalisierung des Menstruationszyklus und zur Zunahme der Knochendichte je nach Compliance der Athletin eine Modifikation fi der Ernährung mit Erhöhung der Kalorienzufuhr und/oder eine Reduktion des trainingsbedingten Kalorienverbrauchs angestrebt werden.
Eine Ernährungsberatung sollte neben der Optimierung der Energiebilanz auf eine ausreichende Zufuhr von Kalzium (1000–1300 g/Tag), Vitamin D (400–800 IU/Tag) und Vitamin K (60–90 μg/Tag) abzielen. Eventuell ist eine Substitution erforderlich. ! Klinisch manifeste Essstörungen sind bei Athletinnen nach denselben medizinischen und psychotherapeutischen Standards zu behandeln wie bei Nichtsportlerinnen.
17.9 Leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement bei Athletinnen und Athleten
Eine von einer manifesten Essstörung betroffene ff Sportlerin sollte nur dann ihr Training weiterführen und an Wettkämpfen teilnehmen, wenn sie minimale Anforderungen erfüllt. Hierzu gehört eine gute Compliance verbunden mit einer engmaschigen Kontrolle. Sie muss grundsätzlich die Bahandlung über das Training und die Wettkampfteilnahme stellen und sie muss ggf. bereit sein, ihr Training bezüglich der Art, Dauer und Intensität zu modifi fizieren. Sollte dies nicht gelingen, muss die Leistungssportlerin vom Training und der Wettkampft fteilnahme ausgeschlossen werden, sie sollte aber weiterhin unter therapeutischer Kontrolle bleiben. Die medikamentöse Therapie von Athletinnen mit klinisch manifester Essstörung umfasst das Spektrum der auch für Nichtsportlerinnen eingesetzten Medikamente, insbesondere die Gruppe der Antidepressiva. Gegebenenfalls sind beim Einsatz von Medikamenten aktuelle Doping-Regularien zu beachten. Keine medikamentöse Maßnahme konnte bisher eine komplette Normalisierung der Knochendichte bei Sportlerinnen mit hypothalamischer Amenorrhö oder bei Frauen mit Anorexia nervosa erbringen. Dies gilt insbesondere auch für eine Hormonersatztherapie oder orale Kontrazeptiva. Bei Athletinnen, die älter als 16 Jahre alt sind, die eine Abnahme der Knochendichte aufweisen und bei denen trotz allgemeiner Behandlungsversuche eine Amenorrhö bestehen bleibt, kann eine orale Kontrazeption eingesetzt werden, in der Hoff ffnung, hierdurch eine weitere Abnahme der Knochendichte zu verhindern. Bisphosphonate sollten bei jungen Athletinnen mit hypothalamischer Amenorrhö nicht zum Einsatz kommen.
17.9
Leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement bei Athletinnen und Athleten
Im Leistungssport kommt es oft ft vor, dass eine Sportlerin bzw. ein Sportler an Körpergewicht aboder zunehmen möchte, um den Ansprüchen in der betriebenen Sportart gerecht zu werden und eine möglichst optimale Leistung zu erbringen (s. oben). In beiden Fällen sollten die Gewichtsveränderungen längerfristig während der Wettkampf-
101
17
pause oder in der Saisonvorbereitung erfolgen, also bevor Wettkämpfe stattfinden. fi
17.9.1
Hinweise zum angemessenen Abnehmen
Eine Abnahme des Körpergewichts tritt immer dann ein, wenn mehr Kalorien verbraucht als mit der Nahrung zugefügt werden. Sowohl die Höhe des Kalorienmangels als auch die Zusammensetzung der Nahrung, insbesondere Menge und Qualität an zugeführtem Eiweiß, bestimmen, ob (fast) ausschließlich Kohlenhydrat- und Fettdepots oder auch Körpereiweiße (Muskelmasse) angegriffen ff werden. Um eine möglichst hohe Leistungsfähigkeit zu erhalten, ist es bei einer Reduktion des Körpergewichts im Leistungssport von großer Bedeutung, dass möglichst nur der Körperfettanteil reduziert wird, die Muskelmasse jedoch erhalten bleibt. Jeder Kalorienmangel führt im Sport allerdings zu einer Abnahme der Glykogenspeicher in der Leber und der Muskulatur. Das bedeutet, dass für ein körperliches Training nur eine sehr geringe Menge an Kohlenhydraten zur Verfügung steht. Intensive Belastungen, bei denen v. a. Kohlenhydrate verstoff ffwechselt werden, können demnach nur eine begrenzte Zeit durchgehalten werden. Die Leistungsfähigkeit in vielen Sportarten ist also eingeschränkt. Unmittelbar vor einem Wettkampf sollte demnach keine Diät gemacht werden. Eine zu schnelle Gewichtsabnahme bzw. eine zu starke Einschränkung der Nahrungsenergie über mehrere Tage und Wochen geht immer auch mit einem deutlichen Muskelmassenverlust einher. Daher sollte die Gewichtsabnahme idealerweise nicht mehr als 500 g pro Woche betragen. Von großer Bedeutung ist es, die Flüssigkeits-/ Wasserzufuhr während einer Diät hoch zu halten. Es sollte soviel getrunken werden, dass der Urin hellgelb und klar ist. Eine dunkelgelbe oder gar bräunliche Urinfarbe ist ein deutliches Zeichen für eine zu geringe Trinkmenge. Die Gesamttrinkmenge hängt vom Trainingsumfang und den Umgebungsbedingungen ab. Eine Einschränkung der Wasserzufuhr führt nur sehr kurzfristig zu einer Abnahme des Körpergewichts, die jedoch im Sport zu schweren gesundheitlichen Problemen bis hin
102
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Essstörungen und Leistungssport
zu Überhitzung, Ohnmacht und Tod führen kann und daher nicht durchgeführt werden sollte. Ferner ist zu beachten, dass der im Sport bestehende Mehrbedarf an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen während einer Diät ausreichend gedeckt wird, um gesundheitliche Probleme zu vermeiden. Dies ist häufig fi nur durch eine zusätzliche Substitution z. B. mit einem guten Multivitamin-/ Multimineralpräparat zu erreichen. Für ein vernünft ftiges Abnehmen sollten konkrete Hinweise beachtet werden (. Übersicht). Hinweise für vernünftiges Abnehmen 5 Größere Gewichtsschwankungen vermeiden; abnehmen in der Saisonvorbereitung, nicht während der Wettkampfphase; mit reduzierter Leistungsfähigkeit während der Diätphase rechnen 5 Nicht mehr als 500 g proWoche abnehmen, also das Kaloriendefi fizit nicht zu groß wählen 5 Gesamtkalorienzufuhr v. a. durch Reduktion der Fettzufuhr verringern, 15% der Gesamtenergiemenge aus Fetten jedoch nicht unterschreiten; hochwertige Fette wählen (einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren, enthalten in Meeresfisch, fi Olivenöl, Rapsöl) 5 Eiweißzufuhr von 1,2 g/kg Körpergewicht nicht unterschreiten; hochwertiges Eiweiß wählen (Fisch, fettarmes Fleisch, Geflügel, fl Vollkornmüsli, fettarme Milch und Milchprodukte, Eier, Sojaprodukte, Bohnengemüse etc.) 5 Mindestens 5 Portionen Gemüse und Obst pro Tag essen 5 Sehr viel trinken, v. a. magnesiumhaltiges Wasser (> 150 mg/l), mit Kalzium angereicherte Obstsäfte; die Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr ist kein geeignetes Mittel zur Gewichtsabnahme! 5 Bei längerer Diätphase (länger als eine Woche) ein Multivitamin/Multimineralstoff ffpräparat einnehmen
17.9.2
Hinweise zu leistungsoptimierender Gewichtszunahme
Eine Zunahme an Körpergewicht kann durch die zusätzliche Zufuhr von Energieträgern in der Ernährung (etwa 500–1000 kcal/Tag) erreicht werden. Die Eiweißmenge sollte hierbei etwa 1,5– 1,8 g/kg Körpergewicht betragen. Die Zufuhr von Eiweißpräparaten ist bei einer ausgewogenen Mischkost nicht erforderlich. Die Zusammensetzung der Ernährung sollte ansonsten den allgemeinen Empfehlungen für eine gesunde Ernährung im Sport genügen, also etwa 25 der Energie aus Fett und 60 aus Kohlenhydraten aufweisen. Die erhöhte Nahrungszufuhr muss mit einem zusätzlichen Kraft fttraining bzw. kraft ftbetonten Training kombiniert werden, damit tatsächlich auch mehr Muskelgewebe aufgebaut wird und die Energieträger nicht in Fettgewebe eingelagert werden. Die Geschwindigkeit, mit der eine Körpergewichtszunahme erreicht werden kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, wie der genetischen Veranlagung, dem Überschuss an zugeführter Energie, der Anzahl der Ruhe- und Erholungstage sowie auch von der Art, Dauer und Intensität des Trainings. Fazit Eine zu geringe Energiezufuhr mit der Nahrung und/oder ein zu hoher Energieverbrauch durch leistungssportliches Training mit oder ohne klinisch manifeste Essstörung, eine hypothalamische Amenorrhö und pathologisch erniedrigte Knochendichtewerte haben, jeweils für sich alleine oder in Kombination miteinander, erhebliche gesundheitliche Konsequenzen für die betroffenen ff Athletinnen. Daher sollten neben der weiteren Bewusstmachung für die Problematik v. a. in den Risikosportarten konsequent sowohl präventive als auch therapeutische Maßnahmen eingesetzt werden. Nur so können die Sportlerinnen den optimalen gesundheitlichen Nutzen aus ihren sportlichen Aktivitäten ziehen.
17.9 Leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement bei Athletinnen und Athleten
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17
105
Psychische Komorbidität 18
Psychische Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen – 106
19
Affektive Störungen und Angststörungen – 112
20
Selbstverletzendes Verhalten bei essgestörten Frauen – 117
18
18
2
Psychische Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen
3
Ulrich Schweiger
4
18.1
1
5 6 7 8 9 10 11 12 13
Prävalenz von Komorbidität zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen – 107
18.1.1 Essstörungen und depressive Störungen – 107 18.1.2 Essstörungen und Angststörungen – 107 18.1.3 Essstörungen und Substanzmissbrauch – 107 18.1.4 Essstörungen und sexuelle Störungen – 108 18.1.5 Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen – 108 18.1.6 Clusteranalysen zu komorbiden Störungen bei Essstörungen – 108
18.2
Abgrenzung Diff fferenzialdiagnose vs. Komorbidität – 108
18.3
Mechanismen der Interaktion zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen – 109
18.3.2 Komorbide Störungen als Komplikation einer Essstörung – 109 18.3.3 Gemeinsame Risikofaktoren für Essstörungen und komorbide Störungen – 109
18.4
Besonderheiten der Therapie bei komorbiden Störungen unter Einschluss von Essstörungen – 110
18.4.1 Behandlung bei Essstörung und depressiver Störung – 110 18.4.2 Behandlung bei Essstörung und Cluster-CPersönlichkeitsstörung – 110 18.4.3 Behandlung bei Essstörung und Cluster-BPersönlichkeitsstörung – 111 18.4.4 Behandlung bei Essstörungen und Angststörungen – 111 18.4.5 Essstörungen und Abhängigkeitserkrankungen – 111 18.4.6 Essstörungen und sexuelle Störungen – 111
18.3.1 Komorbide Störungen als spezifischer fi Risikofaktor für Essstörungen – 109
14 15 16 17 18 19 20
Psychische Störungen können als isolierte, einzelne Erkrankungen beobachtet werden, sie können aber auch zusammen mit anderen psychischen oder medizinischen Erkrankungen auftreten ft (Komorbidität). Traditionelle europäische Klassifikationssyfi steme haben versucht, die Erkrankung und Symptomatologie einer Person in einer ‒ möglichst ätiologisch begründeten ‒ Hauptdiagnose zusammenzufassen. Das deskriptive, an operationalisierten Kriterien orientierte amerikanische DSM-System lässt dagegen eine Vielzahl von gleichzeitigen (komorbiden) Diagnosen psychischer Störungen zu. ! Komorbide Erkrankungen sind keine seltenen Ausnahmen.
So wurden in der National Comorbidity Survey (NCS) bei 52 der Teilnehmer keine, bei 21 eine, bei 13 zwei und bei 14 der Teilnehmer drei oder mehr psychische Störungen diagnostiziert. Bei diesen letzten 14 konzentrierten sich mehr als die Hälfte ft aller Lifetime-Diagnosen der Gesamtpopulation, und es war hier der größte Teil der schweren Störungen zu finden. fi Auch in der NCSReplikationsstudie wurde der Zusammenhang zwischen Komorbidität und Krankheitsschwere bestätigt. Während bei den Patienten mit nur einer psychischen Störung 22 als ernsthaft ft krank eingestuft ft wurden, waren es bei drei oder mehr Diagnosen 50. Dieser Befund steht in Einklang mit der Beobachtung, dass komorbide Patienten im Bereich der
107
stationären Behandlung in vielen Behandlungszentren die große Mehrheit ausmachen. Komorbidität wirkt sich erheblich auf die Behandlung und Therapieplanung aus. Grundsätzlich gilt die Evidenzbasierung von Th Therapieverfahren nur für die jeweils in den entsprechenden kontrollierten Studien definierten fi Populationen. Sowohl in der pharmakotherapeutischen Forschung als auch in den meisten Psychotherapiestudien wurden in der Vergangenheit komorbide Patienten ausgeschlossen. Demnach lassen sich streng genommen die Schlussfolgerungen aus solchen Studien nicht auf komorbide Populationen übertragen. ! Wenn eine Psychotherapie X bei (monomorbiden) Patientinnen mit einer Essstörung in mehreren kontrollierten Studien als wirksam befunden wird, dann lassen sich die Schlussfolgerungen zur Wirksamkeit dieser Behandlung nicht zwangsläufig fi auch auf Patientinnen ausdehnen, die an einer Essstörung plus einer major depression oder einer Abhängigkeitserkrankung leiden.
Die Schwierigkeit, eine Evidenzbasierung der Behandlung für die komorbiden Gruppen zu finfi den, besteht in der großen Zahl der möglichen Permutationen in der Kombination psychischer Störungen. In der Replikation der NCS wurden beispielsweise 19 Diagnosen erhoben, was bereits eine erhebliche Reduktion der über 300 möglichen Diagnosen im DSM darstellt. Bereits aus diesen 19 Diagnosen ergeben sich 524.288 mögliche Permutationen, von denen in der Studie tatsächlich 433 beobachtet wurden.
18.1
Prävalenz von Komorbidität zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen
18.1.1
Essstörungen und depressive Störungen
Zwischen 31 und 97 der Patientinnen mit einer Essstörung erfüllen die Lebenszeitdiagnose einer major depression oder einer Dysthymie. Bereits
18
subklinische Essstörungsformen sind mit einem erhöhten Risiko einer Komorbidität mit depressiven Störungen behaftet ft . Die Punktprävalenz depressiver Störungen ist höher, wenn eine akute Essstörungssymptomatik besteht. In Langzeitstudien weisen Patientinnen, die nicht mehr die Kriterien einer Essstörung erfüllen, auch eine geringere Häufigkeit fi von depressiven Störungen auf. Die Prävalenz komorbider depressiver Störungen ist höher bei bulimischen Essstörungen und bei Patientinnen, die eine Essstörung und eine Persönlichkeitsstörung aufweisen. In der zeitlichen Entwicklung geht die Essstörung der depressiven Störung meist voraus.
18.1.2
Essstörungen und Angststörungen
Etwa 35‒70 aller Patientinnen mit einer Essstörung haben auch eine oder mehrere Angststörungen. Weiterhin zeigt sich als ein mit einer Angststörung assoziierter Persönlichkeitszug häufig fi ausgeprägter Perfektionismus. Auf diagnostischer Ebene besteht am häufi figsten die Lebenszeitdiagnose einer Zwangsstörung (etwa 40) oder einer sozialen Phobie (etwa 20), während die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, etwa 15) und die Panikstörung (etwa 10) seltener vorkommen. Die PTBS ist bei Patientinnen mit bulimischer Symptomatik etwas häufiger. fi Einige Studien finden die Zwangsstörung häufi figer bei Patientinnen mit restriktiver Anorexia nervosa (AN). Die Zwangsstörung und die soziale Phobie gehen in der zeitlichen Abfolge der Essstörung häufi fig voraus, während sich die PTBS und die Panikstörung bei einer Mehrheit erst im weiteren Verlauf der Erkrankung entwickeln. Die Symptombelastung durch Angst und Perfektionismus ist während der aktiven Essstörung am höchsten, aber auch nach der Remission der Essstörung in einem erhöhten Bereich.
18.1.3
Essstörungen und Substanzmissbrauch
Die Prävalenz von komorbidem Substanzmissbrauch ist in Abhängigkeit von der untersuchten Population sehr unterschiedlich. Etwa 3‒52 aller
108
Kapitel 18 · Psychische Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen
5
Patientinnen mit einer Essstörung leiden an Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit. Am seltensten betroff ffen sind Patientinnen mit einer restriktiven AN, am häufi figsten Patientinnen mit einer Bulimia nervosa (BN) ohne Vorgeschichte einer AN. Patientinnen mit der Kombination Essstörung und Substanzmissbrauch weisen auch mit größerer Häufi figkeit weitere psychische Störungen auf der Achse I und Persönlichkeitsstörungen auf. Die primäre Erkrankung ist häufiger fi die Essstörung als der Substanzmissbrauch.
6
18.1.4
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7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Essstörungen und sexuelle Störungen
Zur Komorbidität mit sexuellen Störungen liegen keine Studien vor, die auf diagnostischen Interviews basieren. Eine Mehrheit von untergewichtigen Patientinnen mit AN beschreibt sexuelle Funktionsstörungen. Während einer anorektischen Phase verschlechtert sich das psychosexuelle Funktionsniveau meist erheblich. Patientinnen mit BN ziehen sich von sexuellen Aktivitäten zurück, wenn sie sich als zu dick und unattraktiv bewerten, ansonsten sind sie in ihrem psychosexuellen Funktionsniveau von Vergleichsgruppen nicht zu unterscheiden.
18.1.5
Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen
Etwa 20‒80 der Patientinnen mit einer Essstörung erfüllen auch die Kriterien einer oder mehrerer Persönlichkeitsstörungen. Die häufigsten fi Persönlichkeitsstörungen sind die vermeidend-selbstunsichere, die zwanghafte ft und die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Patientinnen mit einer Persönlichkeitsstörung haben ein erheblich erhöhtes Risiko, gestörtes Essverhalten zu entwickeln. Die Intensität der Persönlichkeitsstörungssymptomatik nimmt ab, wenn es zu einer Remission der Essstörung kommt. Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung ist mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit der Remission einer Essstörung verbunden. Zur Komorbidität mit Essstörungen aus der Betrachtungsrichtung einer anderen psychischen Störung in Richtung Essstörung liegen v. a. Zahlen zur BPS vor. Hier leiden 50‒70 zusätzlich an einer Essstö-
rung. Auch Patientinnen mit einer Cluster-C-Persönlichkeitsstörung leiden überzufällig komorbid an einer Essstörung.
18.1.6
Clusteranalysen zu komorbiden Störungen bei Essstörungen
Clusteranalysen bei Gruppen von essgestörten Patientinnen führen zu einer Einteilung in drei Gruppen, von denen die größte Gruppe durch die Abwesenheit wesentlicher Komorbidität gekennzeichnet ist. Die zweite Gruppe lässt sich am ehesten durch die Komorbidität mit einer Cluster-C-Persönlichkeitsstörung charakterisieren. Bei ihr besteht eine Funktionseinschränkung mittlerer Ausprägung. Die am stärksten kranke Gruppe lässt sich durch die Komorbidität mit einer BPS beschreiben.
18.2
Abgrenzung Differenzialdiagnose ff vs. Komorbidität
Bei der Diff fferenzialdiagnostik von Essstörungen ist zu beachten, dass fast alle Diagnosegruppen psychischer Störungen mit Veränderungen des Essverhaltens verbunden sein können. Um die Diagnose einer Essstörung zu stellen, muss eine Auff ffälligkeit des Essverhaltens im Zentrum einer psychischen Störung stehen und einen wesentlichen Anteil der durch eine psychische Störung hervorgerufenen Einschränkung der psychosozialen Leistungsfähigkeit erklären sowie sich nicht völlig aus der Symptomatik der anderen Störung heraus ableiten lassen. Bei einer typischen depressiven Episode mit Appetitmangel und Gewichtsverlust wird nicht automatisch eine Essstörung diagnostiziert. Wenn aber bei der betroff ffenen Patientin eine intensive Kopplung zwischen niedrigem Gewicht und Selbstwertgefühl erkennbar ist und schon im Vorfeld der depressiven Episode ein intensives Diätverhalten bestand, müssen beide Diagnosen in Erwägung gezogen werden. Depressive Störungen können auch zu erheblichen Gewichtssteigerungen (atypische Depression) führen. Demenzielle Syndrome können mit erheblichem Gewichtsverlust verbunden sein. Cannabismissbrauch führt regelmäßig zu Essanfällen. Miss-
109
brauch von Kokain, Amphetaminen oder Opiaten kann dagegen zu restriktivem Essverhalten und Untergewicht führen. Bei Schizophrenie kann nahrungsbezogener Wahn, beispielsweise Vergiftungsft wahn, massive Gewichtsverluste nach sich ziehen. Nahrungsbezogene Zwangshandlungen oder spezifische Phobien können einen erheblichen Einfl fi fluss auf Ernährung und Körpergewicht haben. Patientinnen mit Zwangsstörungen weisen im Mittel ein niedrigeres Körpergewicht auf als Vergleichsgruppen.
18.3
Mechanismen der Interaktion zwischen Essstörungen und anderen psychischen Störungen
18.3.1
Komorbide Störungen als spezifischer fi Risikofaktor für Essstörungen
Substanzbezogene Störungen, depressive Störungen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen können das Risiko für die Entwicklung einer Essstörung erhöhen. ! Vor allem substanzbezogene Störungen oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung können zu einer Labilisierung der Verhaltenskontrolle führen und damit insbesondere bulimische Symptomatik begünstigen.
Die mit depressiven Störungen assoziierte Appetitlosigkeit kann sich in einem bestimmten Kontext durch operante Lernprozesse verselbstständigen. Bulimisches Essverhalten kann eine ausgeprägte Reduktion von Angst und Anspannung herbeiführen. Restriktives Essverhalten kann durch die resultierende Aufmerksamkeitsfokussierung auf nahrungsbezogene Themen Th intrusive Gedankeninhalte antagonisieren und so in einer erheblichen Reduktion von subjektivem Leiden resultieren. Erfolgreiche Kontrolle über das Essverhalten kann weiterhin zu einer wesentlichen Stütze von durch andere Erkrankungen beeinträchtigtem Selbstvertrauen werden. Diese kurzfristig günstigen, die Anspannung und subjektives Leiden reduzierenden Effekte ff können im Sinne eines Lernprozesses zu einer
18
negativen Verstärkung von essgestörtem Verhalten führen.
18.3.2
Komorbide Störungen als Komplikation einer Essstörung
Aufgrund der mit Essstörungen verbundenen Heimlichkeit und des hohen Zeit- und Geldaufwands kann eine Essstörung langfristig zu einer Zunahme von unangenehmen interpersonellen Erfahrungen, Misserfolgserlebnissen, finanziellen fi Notlagen und zu einem Rückgang sozialer Unterstützung führen. Chronische Essstörungen führen häufig fi dazu, dass die Patientinnen von der Teilnahme am Leben der Gleichaltrigen ausgeschlossen sind und dadurch automatisch Defizite fi in sozialer Kompetenz erwerben. Dies wiederum sind wichtige Bedingungen für die Entwicklung komorbider psychischer Störungen, insbesondere von depressiven Störungen und Angststörungen. Weiterhin ist es wahrscheinlich, dass neurochemische Mechanismen für komorbide Störungen eine wichtige Rolle spielen. Kontinuierliche oder intermittierende Mangelernährung, die für alle Formen von Essstörungen charakteristisch ist, greift ft in eine Vielzahl von Neurotransmitter- und Neuropeptidsystemen ein. Besonders gut beschrieben sind Veränderungen im serotonergen, im noradrenergen sowie im limbisch-hypothalamischen Hypophysen-Nebennieren-System (LHPA-System), dem Stresshormon- und dem Allokationssystem. An vielen Stellen im neuroendokrinen System gibt es eine Überlappung zwischen Systemen, die Nahrungszufuhr und Allokation von metabolischer Energie zum Gehirn und den verschiedenen Organfunktionen regelt, und Systemen, die für die Regulation von Stimmung und Befinden fi verantwortlich sind.
18.3.3
Gemeinsame Risikofaktoren für Essstörungen und komorbide Störungen
Veränderungen im serotonergen System können sowohl Dysregulation von Essverhalten und Stimmung sowie zwanghaftes ft oder selbstunsicheres Verhalten begünstigen. Ebenso könnten zugrun-
110
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Psychische Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen
de liegende psychologische Variablen wie beispielsweise Neurotizismus, Perfektionismus, Störungen der Interozeption oder niedriges Selbstvertrauen das Risiko für ein ganzes Spektrum psychischer Störungen erhöhen. Bei diesem Spektrum-Modell geht man davon aus, dass verschiedene psychische Störungen Ausdruck quantitativer Variationen bei identischer Ätiologie und Pathophysiologie darstellen (Pathoplastie). Das Modell wird durch Befunde einer gemeinsamen genetischen Transmission von Essstörungen und Angststörungen gestützt. ! Verschiedene genetische oder psychologische Variablen können gemeinsame Risikofaktoren sowohl für die Entwicklung von Essstörungen wie auch von komorbiden Störungen darstellen.
18.4
Besonderheiten der Therapie bei komorbiden Störungen unter Einschluss von Essstörungen
Es gibt bisher nur wenige Studien, die den Einfluss fl von Komorbidität auf den Therapieprozess Th bei Essstörungen systematisch berücksichtigen. Komorbide Störungen scheinen das Ausmaß der Symptomreduktion bei einer indikationsspezifischen fi Essstörungsbehandlung nicht systematisch zu beeinflussen. Komorbide Patientinnen zeigen aber ein fl erhöhtes Ausmaß allgemeiner Symptombelastung und psychosozialer Beeinträchtigung, das durch indikationsspezifi fische Behandlungen zwar reduziert wird, aber im Vergleich zu nichtkomorbiden Populationen auf erhöhtem Niveau verbleibt. Insgesamt ergibt sich hieraus nach Th Therapie ein erheblich schlechteres psychosoziales Funktionsniveau in den komorbiden Populationen. Auf der Ebene der Therapieplanung sind verschiedene Vorgehensweisen denkbar, um mit dem Problem von Komorbidität umzugehen. Eine nahe liegende Möglichkeit ist die Addition von TherapieTh verfahren. Patientinnen mit Essstörung und einer Cluster-C-Persönlichkeitsstörung erhalten beispielsweise eine essstörungsspezifische fi Behandlung, die durch ein Selbstsicherheitstraining und kognitive Interventionen ergänzt wird. Eine Alternative ist die Konzentration auf einen strategisch wichtigen gemeinsamen Risikofaktor. In diesem
Fall könnte beispielsweise die Überwindung von Perfektionismus im Zentrum der therapeutischen Anstrengungen stehen. Zur Hierarchisierung von Therapiezielen gibt es die pragmatische Überlegung, dass Verhaltensweisen, welche die TheraTh pie gefährden, Lernprozesse behindern oder die Umsetzung anderer Therapieelemente gefährden, zuerst adressiert werden sollten. Beispielsweise würde einer komorbiden Abhängigkeit mit Benzodiazepinen eine hohe Priorität zugesprochen werden, da diese Substanzgruppe geeignet ist, Lernprozesse erheblich zu verlangsamen.
18.4.1
Behandlung bei Essstörung und depressiver Störung
Die depressive Störung begründet häufig fi entscheidend die Therapiemotivation Th . Die klinische Erfahrung zeigt, dass eine Überwindung der depressiven Symptomatik ohne Normalisierung des Essverhaltens nicht wahrscheinlich ist. Lernprozesse als Grundlage kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen und psychopharmakologische Interventionen mit Antidepressiva werden durch eine Mangelernährungssituation potenziell gestört. Als Erklärung für diese Blockade der therapeutischen Wirkung können die ausgeprägte Inanspruchnahme der mentalen Aktivität durch Gedanken an Nahrung sowie mangelernährungsbedingte neurochemische Veränderungen angeführt werden. Interventionen für Patientinnen mit der Kombination Essstörung und depressive Störung sollten immer Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens mit kognitiven, pharmakologischen und weiteren antidepressiven Strategien verbinden.
18.4.2
Behandlung bei Essstörung und Cluster-CPersönlichkeitsstörung
Viele Behandlungsprogramme beinhalten Elemente, die auf Perfektionismus und Selbstunsicherheit gerichtet sind. Sie haben insbesondere soziales Kompetenztraining als Standardelement.
111
18.4.3
Behandlung bei Essstörung und Cluster-BPersönlichkeitsstörung
Diese Gruppe stellt eine besondere Problemgruppe dar, da sie sich schlecht in Programme einfügt, die überwiegend auf die Bedürfnisse von Patientinnen mit Essstörung und Cluster-C-Persönlichkeitsstörung ausgerichtet sind. Erste Behandlungsansätze für diese Patientengruppe nutzen eine Kombination von Elementen aus der dialektischen Verhaltenstherapie (DBT) und von Elementen aus klassischen Ansätzen störungsspezifischer fi Behandlung von Essstörungen.
18
lt es sich, entsprechende, auf Substanzmissbrauch ausgerichtete Interventionen in die ambulante oder stationäre Essstörungsbehandlung zu integrieren.
18.4.6
Essstörungen und sexuelle Störungen
Systematische Studien liegen nicht vor. Einzelfallstudien beschreiben ausgeprägte Schwierigkeiten in der Umsetzung klassischer sexualtherapeutischer Konzepte in der Zielgruppe von Frauen mit Essstörungen. Normalisierung des Gewichts führt zu einer Zunahme des sexuellen Antriebs.
Literatur 18.4.4
Behandlung bei Essstörungen und Angststörungen
Zur Behandlung von komorbid auftretender ft Panikstörung mit Agoraphobie, sozialer Phobie und spezifischen fi Phobien gelten ähnliche Prinzipien, wie bereits für die komorbide Cluster-C-Persönlichkeitsstörung dargestellt. Im Vordergrund stehen der zusätzliche Einsatz von Expositionsverfahren und das Training sozialer Kompetenz. Die Kombination einer Essstörung mit einer Zwangsstörung stellt eine besondere Problemsituation dar. Erforderlich ist eine spezifische fi Psychoedukation, spezifisch auf die Zwangsstörung zugeschnittene zusätzfi liche Elemente von kognitiver Therapie Th und Exposition sowie Interventionen, die den Umgang mit Perfektionismus verbessern können.
18.4.5
Essstörungen und Abhängigkeitserkrankungen
Abstinenz von Substanzgebrauch stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen und für die Verbesserung der Verhaltenskontrolle bei Patientinnen mit Essstörungen dar. Programme, die spezifisch fi auf die Bedürfnisse von Patientinnen mit dieser Komorbidität zugeschnitten sind, sind nicht publiziert. Bei hoher Krankheitsschwere der Abhängigkeitserkrankung ist als erste Maßnahme eine abstinenzorientierte Therapie in einer entsprechenden Fachklinik empfehlenswert. Ansonsten empfiehfi
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19 1
Affektive ff Störungen und Angststörungen
2
Jörn von Wietersheim
3
19.1
Anorexia nervosa
4
19.2
Bulimia nervosa – 113
5
19.3
Binge-Eating-Störung – 114
– 113
19.4
Adipositas
– 115
19.5
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen – 115
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Im Bereich psychischer Erkrankungen sind Komorbiditäten, d. h. das gleichzeitige Vorhandensein von mehreren psychischen Störungen, relativ häufi fig. Hier treff ffen dann die Diagnosekriterien von mehreren Störungen gleichzeitig zu. Aus den Daten des Bundes-Gesundheits-Survey 1998 (Wittchen u. Jacobi 2001) ist zu ersehen, dass 52 der diagnostizierten Fälle nur eine Störung aufwiesen, während 48 die Kriterien von zwei und mehr Störungen gleichzeitig erfüllten. Diese recht hohen Komorbiditäten führen zu Diskussionen, inwieweit die beschreibenden Diagnoseschemata wie ICD10 bzw. DSM IV wirklich unabhängige Diagnosen erfassen. Aufgrund der genannten Daten ist zu erwarten, dass auch bei den Essstörungen gehäuft ft Komorbiditäten vorliegen. Zur Untersuchung von Komorbiditäten können unterschiedliche methodische Ansätze gewählt werden. So werden Querschnitt-, Längsschnittund Familienstudien unterschieden. Jeder dieser Ansätze bietet Vor- und Nachteile. Am häufigsten wird die Querschnittstudie angewendet mit der Frage, ob gleichzeitig unterschiedliche Krankheitsbilder vorliegen oder früher vorgelegen haben. Längsschnittstudien bieten dagegen die Möglichkeit zu verfolgen, wie Störungen auch einander ablösen können. In familienbezogenen Untersuchungen kann geprüft ft werden, inwieweit Störungen in Familien gehäuft ft vorkommen. Berücksichtigt werden muss auch, nach welchen Verfahren das Vorhandensein einer Diagnose bestimmt wird. Oft ft geschieht dies mit klinischen oder halbstandardisierten Interviews, manchmal wird die Diagnose auch nur auf der Basis von Fragebögen, die die Patienten ausgefüllt haben, gestellt. Wis-
senschaftlich ft genauer sind die voll standardisierten Interviews (z. B. SKID, Strukturiertes Klinisches Interview für DSM IV) zur Erfassung der Diagnose. Weiterhin ist zu berücksichtigen, welche Stichprobe untersucht wurde. Studien an behandlungssuchenden Patienten oder Patienten in Behandlung bringen oft ft andere Ergebnisse als Untersuchungen in der Bevölkerung. Die Patienten in Behandlung sind meist etwas stärker erkrankt (Berkson’s bias). Auf der anderen Seite ist es oft ft schwierig, solche bevölkerungsbezogenen Untersuchungen durchzuführen. Ältere Patienten zeigen höhere Raten an Komorbidität als jüngere. Ebenso kann auch die Region, in der die Untersuchungen durchgeführt wurden, eine Rolle spielen. Ein weiteres Problem ist die Frage einer Kontroll- oder Vergleichsgruppe. So wäre zu untersuchen, wie häufi fig eine andere Diagnose, z. B. eine Depression, in der Allgemeinbevölkerung vorkommt, um dann zu prüfen, ob Patienten mit Essstörungen eine höhere Rate von Depressionen aufweisen, als von der Allgemeinbevölkerung her zu erwarten wäre. Eine besondere Bedeutung hat der Begriff ff der sog. Lebenszeitdiagnose. Damit ist gemeint, dass zumindest einmal im Leben die Kriterien für die diagnostizierte Störung vorgelegen haben. Dieses Kapitel bezieht sich auf die Komorbiditäten von Essstörungen und Adipositas mit affekff tiven Störungen und Angststörungen. Zu den affekff tiven Störungen zählen insbesondere die Depressionen in ihren verschiedenen Ausprägungen (depressive Episoden, rezidivierende depressive Störung, Dysthymie) . Auch bei den Angststörungen gibt es verschiedene Formen (Phobien, generalisierte Angststörung, Panikstörung). In einer Vielzahl von
Untersuchungen sind Komorbiditäten bei Essstörungen erfasst worden.
19.1
19
113
19.2 Bulimia nervosa
Anorexia nervosa
Depression (major depression nach DSM IV) ist die häufi figste komorbide Störung bei Patientinnen mit Anorexia nervosa (AN), die meisten Studien berichten eine mittlere lebenszeitbezogene Komorbidität von ca. 50‒70. Weitere 35‒40 der anorektischen Patientinnen haben in der Vorgeschichte leichtere depressive Episoden (minor depression) oder eine Dysthymie. Angesichts der hohen Rate von Depressionen stellt sich die Frage, ob es sich wirklich um getrennte Störungsbilder handelt oder ob z. B. eine Depression auch eine Folge der Unterernährung sein kann. Andererseits traten Depressionen auch schon vor Beginn der anorektischen Symptomatik auf. Vermutlich liegt hier eine komplexe Wechselwirkung vor und keine einseitige Verursachung in die eine oder andere Richtung. Bipolare Störungen (manisch-depressive Störungen) scheinen bei anorektischen Patientinnen eher selten zu sein, die Häufi figkeit dürft fte unter 10 liegen. Angststörungen kommen jedoch sehr häufi fig bei anorektischen Patientinnen vor. Berichtet wird eine auf die Lebenszeit bezogene Komorbiditätsrate von ca. 65, wobei
die soziale Phobie und die Zwangsstörung am häufigsten sind. Bei Besserung oder Heilung der anorektischen Symptomatik reduzieren sich oft ft auch die komorbiden Symptome. In . Tab. 19.1 sind einige neuere Studien zur Komorbidität bei AN dargestellt. Diese zeigen Komorbiditäten (Lebenszeit) mit Depressionen zwischen 40 und 80 und mit Angststörungen zwischen 20 und 60. Komorbiditäten mit Zwangsstörungen sind deutlich seltener, liegen aber mit 20‒30 auf einem ingesamt hohen Niveau. Es zeigte sich hinsichtlich der Komorbiditäten kein Unterschied zwischen Patientinnen mit restriktiver und mit bulimischer AN. Insgesamt bestätigen diese neueren Studien die oben berichteten Zahlen.
Bulimia nervosa
19.2
Auch die Bulimia nervosa (BN) zeigt hohe Komorbididtätsraten mit affektiven ff und Angststörungen. So wird die Lebenszeitprävalenz von komorbiden aff ffektiven Störungen bei der Bulimie mit Raten zwischen 50 und 80 angegeben. Depressionen (major depression) liegen dabei zwischen 40 und 60. In einer gemeindebezogenen Querschnittuntersuchung fanden sich bei 38 der bulimischen Patientinnen Hinweise darauf, dass sie im Verlauf
. Tab. 19.1. Komorbidität bei Anorexia nervosa (Lebenszeitdiagnosen) Studie
Rekrutierung
N AN
Depression
Angststörung
Zwangsstörung
Vergleich mit KG
ZonnevylleBender et al. (2004)
Stationäre adoleszente Patientinnen
48
40,9% MD 43% Dysthymie
26% SP 28% GAS 15% spez. Phobie
8,5%
–
Kaye et al. (2004)
Patientinnen aus verschiedenen Zentren
92
Nicht erfasst
22% SP 13% GAS
35%
–
Godart et al. (2004)
Stationäre und ambulante Patientinnen, restriktiver Typus
111
44% MD
49% GAS 31% SP 14% AP
17%
–
Godart et al. (2004)
Binge-/ Purging-Typus
55
49% MD
46% GAS 33% SP 20% AP
22%
–
N AN N Anzahl Anorexiepatientinnen, KG Kontrollgruppe, MD major depression, SP P soziale Phobie, GAS generalisierte Angststörung, AP P Agoraphobie
114
1
Kapitel 19 · Aff ffektive Störungen und Angststörungen
. Tab. 19.2. Komorbidität bei Bulimia nervosa (Lebenszeitdiagnosen) Studie
Rekrutierung
N BN
Depression
Angststörung
Zwangsstörung
Vergleich mit KG
Godart et al. (2004)
Stationäre und ambulante Patientinnen
86
31% MD
33% GAS 29% SP
–
Mehr Depression und Angst
Kaye et al. (2004)
Patientinnen aus verschiedenen Zentren
282
Nicht erfasst
16% SP 8% GAS
40%
–
Spindler u. Milos (2004)
Patientinnen mit Behandlungswunsch
126
53% MD
50%
–
–
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
N BN Anzahl Bulimipatientinnen, KG Kontrollgruppe, MD major depression, SP P soziale Phobie, GAS generalisierte Angststörung
ihres Lebens mindestens einmal eine Depression gehabt hatten; dies war dreimal höher als die Rate bei Patienten ohne psychische Diagnose. Auch bei der Bulimie stellt sich die Frage, ob die Depression direkt zum Störungsbild gehört, ob sie eine begleitende Erkrankung ist oder aber auch ob die Bulimie eine Form der Depression darstellen könnte. In einer Untersuchung zeigte sich, dass bei 60 der Bulimiepatientinnen die affektive ff Störung bereits vor Beginn der Bulimie vorhanden war, bei 34 folgte sie dem Auftreten ft der Bulimie, und bei 5 war der Beginn gleichzeitig mit dem der Bulimie. Ebenfalls finden sich bei der BN hohe Raten von komorbiden Angststörungen; berichtet werden Raten von 40‒60. Eine Studie konnte zeigen, dass die Komorbiditäten von Angststörungen bei unterschiedlichen Essstörungen (AN und BN) etwa gleich hoch sind. Meist tritt zuerst die Angststörung auf, erst später folgt die Essstörung. Die am häufi figsten vorkommende Angststörung ist die soziale Phobie. In . Tab. 19.2 werden einige neuere Studien zur Komorbidität der BN zusammenfassend dargestellt. Hiernach sind komorbide Depressionen und Ängste etwa gleich häufi fig. Interessant ist auch eine relativ hohe Rate von Zwangsstörungen in der Gruppe von bulimischen Patientinnen. Vermutlich bestehen trotz den zur BN gehörenden Kontrollverlusten (im Essanfall) bei einigen Patientinnen auch zwanghaft-kontrollierende ft Anteile.
19.3
Binge-Eating-Störung
Auch bei der Binge-Eating-Störung (BES) sind Komorbiditäten häufig fi (. Tab. 19.3). Insbesondere finden sich Komorbiditäten mit der Depression (major depression, Raten zwischen 50 und 60) und mit Angststörungen (zwischen 20 und 50). Zwangsstörungen treten nicht gehäuft ft auf. Im Vergleich mit gesunden Kontrollpersonen zeigen die Patienten mit BES wesentlich häufi figer Depressionen und Angststörungen. Insgesamt sind die Komorbiditätsraten bei dieser noch weniger beforschten Erkrankung ähnlich hoch wie bei den schon besser beforschten Störungen AN und BN. ! Die Essstörungen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung gehen mit etwa der gleichen Zahl von Komorbiditäten, v. a. Depressionen und Angststörungen, einher. Bei etwa 50% der Patienten ist mit solchen Komorbiditäten zu rechnen.
Es bleibt zu überlegen, ob v. a. die Bulimie und die BES, die im Gegensatz zur Anorexie erst relativ spät als eigenständige Störungsbilder beschrieben wurden, auch als »moderne« Ausdrucksformen von Depressionen oder Angststörungen gesehen werden könnten. Durch veränderte soziokulturelle Faktoren (Verbreitung von Medien, verstärktes Schlankheitsideal) könnte es zu diesen neuen psychischen Ausdrucksformen gekommen sein.
19
115
19.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
. Tab. 19.3. Komorbidität bei Binge-Eating-Störung (Lebenszeitdiagnosen) Studie
Rekrutierung
N BES
Depression
Angststörung
Zwangsstörung
Vergleich mit KG
Yanovski et al. (1993)
Übergewichtige mit Therapiewunsch
43
51% MD 16% Dysthymie
19%
2%
Mehr Depression, mehr Angst
Bulik et al. (2002)
Bevölkerungsstudie, weibl. Zwillinge, BMI > 30
59
48% MD
49%
–
Mehr Depression, mehr Angst
Wilfley fl et al. (2000)
BES-Patienten in Behandlung
162
58% MD
29%
1
–
Telch u. Stice (1998)
Bevölkerungsstichprobe, freiwillig
61
49% MD 7% Dysthymie
22%
0
Mehr Depression, mehr Angst
Specker et al. (1994)
Übergewichtige mit Therapiewunsch
43
47% MD 7% Dysthymie
12%
0
Mehr Depression
Yanovski et al. (1993)
Übergewichtige mit Therapiewunsch
43
51% MD 16% Dysthymie
19%
2%
Mehr Depression, mehr Angst
BES Binge-Eating-Störung, N BES Anzahl BES-Patienten, KG Kontrollgruppe, MD major depression]
19.4
Adipositas
Die Adipositas geht häufi fig mit psychosozialen Belastungen und Problemen einher. Vergleiche von Adipösen mit Nichtadipösen in der Allgemeinbevölkerung führten zu etwas unterschiedlichen Ergebnissen, die von den untersuchten Stichproben (Alter, Geschlecht, BMI, Behandlungswunsch) abhängig sind. Neuere Untersuchungen konnten jedoch mehrheitlich einen positiven Zusammenhang zwischen Übergewicht und Adipositas und der Häufigkeit psychischer Störungen in der Bevölkerung bestätigen, wobei aff ffektive Störungen und Angststörungen im Vordergrund stehen. Dieser Zusammenhang scheint bei Frauen stärker ausgeprägt zu sein als bei Männern und nimmt mit zunehmendem Übergewicht/Adipositas zu. Adipöse Patienten, die mit dem Ziel einer Gewichtsreduktion in eine Behandlung kommen, zeigen eine deutlich höhere psychische Komorbidität als adipöse und normalgewichtige Probanden in der Bevölkerung.
19.5
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Komorbiditäten mit aff ffektiven Störungen, v. a. mit Depression, und mit Angststörungen sind häufig fi bei Patienten mit Essstörungen. Im klinischen Alltag ist davon auszugehen, dass mehr als die Hälfte ft der Patienten die Kriterien einer weiteren psychischen Diagnose aktuell erfüllt bzw. früher erfüllt hat. Dabei sind am ehesten Depressionen und Angststörungen zu erwarten. Je nach aktueller Ausprägung dieser zusätzlichen Symptome sind die psychotherapeutischen oder medikamentösen Behandlungen darauf abzustimmen. Im Verlauf einer Behandlung sollte darauf geachtet werden, dass Symptome sich verändern und verschieben können, z. B. sich Essstörungssymptome reduzieren, dafür aber depressive Symptome verstärken können. Die Diskussion, ob es sich bei der Trias Essstörungen, Depression und Angststörung wirklich um unterschiedliche Störungsbilder handelt oder ob sie vielmehr Ausdruck einer gemeinsamen, zugrunde liegenden Störung sind, sollte weiter geführt werden.
116
1 2 3
Kapitel 19 · Aff ffektive Störungen und Angststörungen
Fazit Komorbiditäten, v. a. Depressionen und Angststörungen, sind häufi fig bei Essstörungen. Je nach Ausprägung sind die psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlungen darauf abzustimmen.
4 Literatur
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
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20 Selbstverletzendes Verhalten bei essgestörten Frauen Detlev O. Nutzinger 20.1
Begriffsdefi ff finition
20.2
Epidemiologie – 118
20.3
– 117
Formen und Ausgestaltung selbstverletzenden Verhaltens
20.4
– 118
Häufi fig vergesellschaftete sowie differenzialdiagnostisch ff auszuschießende Erkrankungen
– 119
20.4.1 Borderline-Persönlichkeitsstörung und andere selbstverletzende Verhaltensweisen – 119 20.4.2 Differenzialdiagnostisch ff abzuklärende Erkrankungen – 120
20.5
Behandlung
– 120
20.5.1 Psychotherapie – 120 20.5.2 Psychopharmaka – 121
20.1
Begriffsdefi ff finition
Selbstverletzendes Verhalten (SV) bei essgestörten Frauen ist außerhalb der Fachwelt eine wenig bekannte und bezüglich der Vorkommenshäufigfi keit weitgehend unterschätzte Verhaltensauff ffälligkeit. In der Literatur werden die Begriffe ff selbstschädigendes und selbstverletzendes Verhalten oft ft synonym verwendet, obwohl sie unterschiedliche Verhaltensweisen beschreiben. Auch die in den Studien verwendeten Definitionen fi weisen z. T. beträchtliche Unterschiede auf, wobei in einem sehr weit gefassten Verständnis von selbstschädigendem Verhalten auch gesundheitsschädigende Verhaltensweisen wie exzessives Rauchen oder Missbrauch von Alkohol ebenso mit eingeschlossen werden wie suizidale Handlungen. Eine weit gefasste Definitifi on von Selbstschädigung würde bei Patientinnen mit einer Essstörung das gestörte Essverhalten mit einschließen, da das dadurch bedingte massive Unter- oder Übergewicht mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht. Zusätzlich setzen viele an einer Essstörung Erkrankte oft ft gleich mehrere gefährliche Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ein, wie Laxanzien oder Diuretika, deren missbräuchliche Verwendung gravierende und nicht selten lebensbedrohliche Folgen
haben kann. In einem als feministisch bezeichneten Ansatz werden Selbstverletzung und Selbstschädigung bei Essgestörten in einem engen Zusammenhang mit Traumaerfahrungen und als krankheitsimmanente Merkmale von Essstörungen gesehen. Es gibt aber gute Gründe, selbstverletzendes Verhalten als eine gesonderte Verhaltensauff ffälligkeit anzusehen und sowohl von den mit der Gewichtsreduktion in Zusammenhang stehenden Maßnahmen wie auch von Suizidversuchen abzugrenzen. Schwere selbstverstümmelnde Verletzungen wie das Ausstechen der Augen, Kastration oder Amputation von Gliedmaßen sollten nicht mit eingeschlossen werden; diese treten meist im Rahmen von Psychosen auf. Ebenfalls nicht einzubeziehen sind artifi fizielle Störungen wie das MünchhausenSyndrom sowie soziokulturell akzeptierte Formen von SV wie das Anbringen von Körperschmuck oder religiöse rituelle Handlungen. ! Selbstverletzendes Verhalten wird wie folgt definiert: fi Unter der Bezeichnung »selbstverletzendes Verhalten« werden selbst zugefügte, soziokulturell nicht akzeptierte körperliche Verletzungen ohne Tötungsabsicht verstanden.
118
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
20.2
Kapitel 20 · Selbstverletzendes Verhalten bei essgestörten Frauen
Epidemiologie
Die meisten Studien bei Essstörungen beschäftigen ft sich mit dem Thema Th Selbstverletzung im Zusammenhang mit Suizidrisiko und früheren Suizidversuchen, einem insbesondere bei Patientinnen mit Bulimie häufi figen Problem. Soweit diese Studien Angaben über SV enthalten, sind diese meist wenig diff fferenziert und nur global beschreibend, und sie enthalten insbesondere keine Diff fferenzierung zwischen Selbstverletzungen im Zusammenhang mit Suizidversuchen und solchen ohne suizidale Absicht. Ein weiters Manko vieler Studien ist die fehlende Benennung der komorbiden Störungen, wobei insbesondere das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung das Risiko sowohl für SV wie für suizidale Handlungen deutlich erhöht. Dass bei Frauen mit einer Bulimia nervosa (BN) über schädigende Verhaltensweisen zum Zweck der Gewichtsregulation hinaus auch körperliche Selbstverletzungen im Sinne von Schneiden, Schlagen oder Verbrennen nicht selten sind, ist erfahrenen Th Therapeuten wohl bekannt und durch mehrere Untersuchungen belegt. Gemittelt über 5 Studien, in denen insgesamt 574 ambulant behandelte bulimische Patientinnen untersucht wurden, betrug die Vorkommenshäufigkeit fi für SV 25. In zwei Studien wird bei 260 untersuchten, stationär behandelten Patientinnen mit Bulimie ein ebenso hohes Vorkommen ‒ nämlich 25 ‒ berichtet; in einer eigenen Studie wurde bei 137 stationär behandelten Bulimiepatientinnen mit 34 eine wesentlich höhere Belastung gefunden. Ein höheres Vorkommen von SV bei stationär behandelten Bulimiepatientinnen ist auch deshalb anzunehmen, weil die Vorkommenshäufi figkeit für Suizidversuche in dieser Gruppe bei 39 liegt und sich hierbei ein deutlicher Unterschied zu ambulant behandelten Bulimiepatientinnen (22) ergibt. Zur Vorkommenhäufi figkeit von SV bei Patientinnen mit Anorexia nervosa (AN) liegen nur wenige Studien vor: Zwei Studien berichten, dass ambulant behandelte Patientinnen mit AN in 22 SV angaben. Über stationär behandelte Patientinnen mit AN berichtet lediglich eine Studie, in der SV von 34 der 119 Patientinnen angegeben wurde. Auch zeigte sich ein deutlich höheres Vorkommen bei Patientinnen mit AN vom bulimischen Subtyp
(42) im Vergleich zu 25 der Betroffenen ff mit AN vom restriktiven Subtyp. Zu SV bei Patientinnen mit Binge-Eating-Störung liegen bisher keine Studien vor. Aus klinischer Erfahrung ist aber davon auszugehen, dass das Problemverhalten in dieser Gruppe von Betroffenen ff in vergleichbarer Häufi figkeit wie bei anderen Essstörungen vorkommt. Diese Annahme erscheint auch deshalb plausibel, weil in einer Untersuchung von stationär behandelten Essgestörten bei Patientinnen mit einer nicht näher bezeichneten Essstörung eine höhere Belastung mit SV als bei Patientinnen mit AN oder BN gefunden wurde. ! Selbstverletzendes Verhalten ist ein häufiges fi Problemverhalten bei essgestörten Frauen: jede vierte Patientin ist davon betroff ffen.
20.3
Formen und Ausgestaltung selbstverletzenden Verhaltens
Die häufigsten fi Formen von SV sind ritzen, kratzen oder Schnittverletzungen sowie schlagen, Haare ausreißen und verbrennen der Haut mit Zigaretten. Die Verletzungen sind in vielen Fällen oberflächfl lich, nicht selten aber auch schwerwiegend, wobei eine erforderliche medizinische Versorgung häufi fig unterbleibt und das Abheilen von Wunden durch Manipulation oder neuerliche Verletzung bewusst verzögert oder verhindert wird. Die am häufi figsten betroff ffenen Körperregionen sind Unterarme und Hände, seltener Gesicht und Beine, in etwa 10 der Fälle erfolgen Verletzungen im Genitalbereich. Jede zweite Betroff ffene berichtet, dass die Selbstverletzungen keinen Schmerz verursachen. Die meisten schätzen ihre Verletzung als leicht ein und geben an, dass sie sich nach dem SV besser fühlen. Als häufigste fi Gründe für SV werden genannt: 5 Wut und Spannung abbauen, 5 körperlichen statt seelischen Schmerz spüren, aber auch 5 sich bestrafen oder 5 Gedanken abstoppen. Die verschiedenen Formen von SV, die betroffenen ff Regionen, die Häufi figkeit, episodisches vs. nichtepisodisches Autreten und der Schweregrad der Ver-
20.4 . . . differenzialdiagnostisch ff auszuschießende Erkrankungen
letzungen sind von verschiedenen Autoren als Kriterien für Klassifikationsversuche fi ebenso herangezogen worden wie entwicklungspsychologische und psychobiologische Variablen. So kann beispielsweise unterschieden werden zwischen zwanghaftem und impulsivem SV: 5 Zwanghaftes ft SV wie z. B. Haare ausreißen kann als habituell und als eine sich wiederholende Handlung aus einem ich-dystonen Drang heraus gesehen werden, die erst nach Überwindung eines inneren Widerstands durchgeführt wird. 5 Impulsives SV wie das Setzen von Schnittverletzungen erfolgt als Einzelhandlung, wird stärker von Ereignissen ausgelöst und trifft fft nur auf einen geringen inneren Widerstand. Aus klinisch-praktischer Sicht helfen diese Klassifikationsversuche fi aber wenig weiter. Hilfreicher für das Verständnis von SV ist die Berücksichtigung und Analyse der funktionellen Zusammenhänge. So hat SV meist einen kommunikativen Aspekt, wenn es etwa als Ausdruck für seelische Not eingesetzt wird, oder eine Funktion als problemlösendes Verhalten, wenn es beispielsweise zum Abbau von innerer Anspannung dient. SV kann auch zur Unterbrechung von unangenehmen Gedanken oder Erinnerungen sowie zur Beendigung von dissoziativen Symptomen eingesetzt werden. Der spannungsreduzierende, entlastende Effekt ff ist meist nur von kurzer Dauer, und i. d. R. treten nachfolgend Schuld- und Versagensgefühle auf. Oft ft werden auch Scham und Angst vor Ablehnung angegeben, und ein Entdecktwerden des sozial nicht akzeptierten Verhaltens wird befürchtet. Von großer praktischer Bedeutung ist auch die diagnostische Abklärung und Behandlung von zugrunde liegenden psychischen und organischen Erkrankungen.
119
20.4
Häufi fig vergesellschaftete sowie diff fferenzialdiagnostisch auszuschießende Erkrankungen
20.4.1
BorderlinePersönlichkeitsstörung und andere selbstverletzende Verhaltensweisen
20
Eine beträchtliche Anzahl von Patientinnen mit einer Essstörung leidet zusätzlich an einer Persönlichkeitsstörung vom emotional-instabilen Typ (Borderline-Persönlichkeitsstörung, BPS), und umgekehrt weisen in einzelnen Studien Patientinnen mit einer BPS in über 50 eine Essstörung auf. Patientinnen mit einer komorbiden BPS haben ein höheres Risiko für weitere psychische Erkankungen und sind schwerer beeinträchtigt, wobei sich dies über den Essstörungsbereich hinaus meist in allen psychopathologischen Parametern zeigt; auch weisen diese Patientinnen eine höhere Belastung durch Traumata sowie erhöhte Werte für Impulsivität und dissoziatives Verhalten auf. Letzteres trifft fft insbesondere für die Gruppe der »multi-impulsiven Bulimiepatientinnen« bzw. für Essgestörte mit einer sog. »multi-impulsiven Persönlichkeitsstörung« zu, in der viele Betroffene ff auch Alkoholund Drogenmissbrauch, Promiskuität, Diebstahlsdelikte und gehäufte ft Suizidversuche aufweisen. Patientinnen mit einer BPS geben verglichen mit essgestörten Patientinnen ohne BPS deutlich öfter ft SV an, und die Selbstverletzungen sind schwerer und erfolgen häufiger. fi Der oft ft benannte enge Zusammenhang zwischen SV, BPS und Traumaerfahrungen muss aus Sicht der zwischenzeitlich vorliegenden Daten etwas relativiert werden; so weisen gerade im Bereich der Essstörungen auch Patientinnen ohne BPS oder Traumata in der Vorgeschichte SV auf, und mögliche ursächliche Zusammenhänge sind zurzeit noch weitgehend unklar. Die Abklärung einer komorbiden BPS ist für die Therapie wichtig und sollte daher bei Patientinnen mit SV gezielt erfolgen; meist ist bei diesen Patientinnen eine vorrangige Behandlung der BPS erforderlich, und die Behandlung der Essstörung kann erst nachfolgend und in weiter gesteckten Zeiträumen durchgeführt werden.
120
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
20.4.2
Kapitel 20 · Selbstverletzendes Verhalten bei essgestörten Frauen
Differenzialdiagnostisch ff abzuklärende Erkrankungen
SV kann unabhängig von einer Essstörung im Rahmen verschiedener Erkrankungen auftreten ft . Explizit benannt wird SV in der ICD-10 als typisches Krankheitsmerkmal aber lediglich bei der bereits beprochenen BPS sowie bei den stereotypen Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter, die meist mit einer Intelligenzminderung einhergehen; als häufi figste Formen des SV werden dort »wiederholtes Kopfanschlagen, Ins-Gesicht-schlagen, Indie-Augen-bohren sowie Beißen in Hände, Lippen oder andere Körperteile« genannt. Einige Formen des SV weisen Gemeinsamkeiten mit Zwangsstörungen auf; so werden die in der ICD-10 den Impulskotrollstörungen zugeordnete Trichtillomanie sowie das wiederholte Aufk fkratzen der Haut im Gesicht auch als Zwangsspektrumstörungen diskutiert. Dissoziative Phänomene und Störungen der Impulskontrolle sollten auch auf einer dimensionalen Ebene beachtet werden, wobei Patientinnen mit SV in beiden Bereichen häufi fig erhöhte Werte aufweisen. Klinisch bedeutsam ist auch die Abklärung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), deren Vorliegen ebenso wie das einer BPS einer gezielten therapeutischen Beachtung bedarf. Frühkindliche Traumata und insbesondere sexuelle Missbrauchserfahrungen finden fi sich bei Patientinnen mit SV deutlich häufi figer und sind bei BN mit einem erheblich höheren Risiko für Suizid sowie Alkohol und Drogenmissbrauch verbunden. SV tritt aber auch bei Patientinnen ohne Traumaerfahrungen auf, sodass deren Bedeutung als ursächlicher Faktor kontrovers diskutiert wird. Bei dem Münchausen-Syndrom können Art und Aussehen der Verletzungen durchaus vergleichbar imponieren – wie z. B. nicht abheilende Wunden oder Traumata durch Schlagen mit Extremitäten oder dem Kopf gegen die Wand, Injektionen von verunreinigenden Substanzen unter die Haut. Die Selbstverletzungen bei Patienten mit artifiziellen fi Störungen werden aber i. d. R. als behandlungsbedürftiges Krankheitszeichen präsentiert, sie dienen als Eintrittskarte zu medizinischer Versorgung und als Begründung für die eigene Behandlungsbedürftigft keit; jede Form von Eigenbeteiligung an der Verletzung wird hartnäckig verleugnet. Im Rahmen von
Psychosen auftretende ft SV sind selten oberfl flächlich am Körper zugefügte Verletzungen; es handelt sich häufig fi um singuläre, aber besonders schwer wiegende Ereignisse, die Formen der Selbstverstümmelung darstellen, wie das Ausstechen der Augen oder Kastration. Sie sind meist nur aus dem Zusammenhang mit produktiven Symptomen wie Wahnideen, Halluzinationen oder Bedrohungserlebnissen zu verstehen. Auch im Rahmen von schweren Depressionen kann es neben parasuizidalen Handlungen zu gezielten Selbstverletzungen kommen, z. B. als Bestrafung im Zusammenhang mit Schuldgefühlen. Essgestörte Patientinnen mit SV leiden darüber hinaus häufig fi an einer behandlungsbedürftigen ft Depression sowie an Angststörungen. ! Bei essgestörten Patientinnen mit Selbstverletzungen sollte v. a. an eine begleitende BPS sowie an parasuizidale Handlungen im Rahmen einer Depression oder eines Sustanzmissbrauchs gedacht werden.
20.5
Behandlung
20.5.1
Psychotherapie
Bei essgestörten Selbstverletzern sind eine Vielzahl von psychotherapeutischen Verfahren eingesetzt worden; am häufi figsten genannt werden: 5 dialektisch-behaviorale Therapie, 5 kognitive Verhaltenstherapie, 5 psychodynamische Th Therapie, 5 interpersonelle Therapie, 5 Verhaltensmodifi fikation, 5 Familientherapie. Die meisten Interventionen wurden nicht für Essgestörte mit SV entwickelt, sondern für Patienten mit einer BPS oder einer geistigen Behinderung. Über Behandlungsergebnisse liegen nur wenige empirische Daten vor. Ohne dass auf die verschiedenen Therapieverfahren näher eingegangen werden kann, sollen im Folgenden einige für die TheraTh pie wichtige Elemente genannt werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung von SV ist ein Verständnis der i. d. R. komplexen Gesamtproblematik. Ziel der unterschiedlichen psychotherapeutischen Interventionen ist es,
121
20.5 Behandlung
den Betroff ffenen zu helfen, das dysfunktionale Verhalten zu unterbinden und schrittweise durch adäquatere Bewältigungsstrategien zu ersetzen. Dabei erfordert eine auf die individuelle Problemsituation ausgerichtete therapeutische Intervention genaue Kenntnisse über die Art und Häufi figkeit des SV, den situativen Kontext, den emotionalen Zustand und mit dem Verhalten verknüpft fte kognitive Prozesse. In einer so genannten funktionalen Analyse werden über situative Auslöser hinaus auch dysfunktionale kognitive und emotionale Prozesse erfasst, die im Zusammenhang mit dem SV auftreten. ft Einbezogen werden auch die Konsequenzen, die mit dem SV verbunden sind. Von Nock und Prinstein (2004) wurde ein Modell entwickelt, in dem die Konsequenzen von SV entlang zweier dichotomer Dimensionen erfasst werden können: SV zur Reduktion von negativen emotionalen Zuständen (wie Reduktion von Anspannung, Angst oder Traurigkeit) kann als negative Verstärkung gesehen werden oder aber als positive Verstärkung, wenn ein erwünschter Zustand wie z. B. »sich selbst wieder spüren« erzielt wird. Beide Möglichkeiten der Verstärkung sind nicht nur auf die eigene Person bezogen, sondern auch in einen sozialen Kontext übertragbar, wobei SV als negative Verstärkung in Form von Vermeidung unangenehmer Situationen (Auseinandersetzungen mit anderen Personen) eingesetzt werden kann und als positive Verstärkung in Form von »Aufmerksamkeit oder Zuwendung erhalten«. Derartige Modelle sind hilfreich, um Motivation, Funktion und Bedeutung des SV individuell beurteilen und therapeutische Hilfestellungen darauf abstimmen zu können. Wenn über die Wirksamkeit der einzelnen psychotherapeutischen Verfahren zur Beeinflussung fl von SV bisher wenige Daten vorliegen, so sollte dies nicht mit den Therapieergebnissen mit Bezug auf die Essstörung Th gleichgesetzt werden; die dazu vorliegenden Daten weisen vielmehr darauf hin, dass essgestörte Patientinnen mit SV hinsichtlich der Essstörung keine schlechteren Behandlungergebnisse erzielen als jene ohne SV. ! Ziel psychotherapeutischer Interventionen ist es, den Betroffenen ff zu helfen, das dysfunktionale Verhalten zu unterbinden und schrittweise durch adäquatere Bewältigungsstrategien zu ersetzen.
20.5.2
20
Psychopharmaka
Angesichts der komplexen Störungsproblematik verwundert es nicht, dass eine spezifische fi Behandlung von SV mithilfe von Psychopharmaka nach heutigem Stand der Forschung nicht möglich ist. Eingesetzt wurden Antidepressiva (Serotoninwiederaufnahmehemmer, Monoaminoxidasehemmer, dual wirksame Antidepressiva), Antikonvulsiva, Lithium, Antipsychotika, Lithium sowie Opiatrezeptorantagonisten. Für keines der Medikamente liegen derzeit empirische Belege für eine gesicherte Wirksamkeit bei SV vor. Die fehlenden Wirksamkeitsnachweise müssen unter dem Aspekt einer Nutzen-Risiko-Abwägung bei der Wahl und Dauer einer medikamentösen Behandlung mitbedacht werden. Der Einsatz von Psychopharmaka ist i. d. R. nur in Kombination mit psychotherapeutischen Interventionen sinnvoll; häufi fig ist dies nur kurzzeitig im Rahmen von Kriseninterventionen erforderlich. Um den erwünschten sedierenden und spannungslösenden Effekt ff zu erzielen, eignen sich in erster Linie atypische Antipsychotika oder Antipsychotika mit niedriger antipsychotischer Wirksamkeit. Für eine länger dauernde, begleitende psychopharmakologische Behandlung sind Serotoninwiederaufnahmehemmer die beste Wahl, zumal hier auch ein positver Effekt ff auf die häufig fi mit dem SV assoziierte bulimische Symptomatik bei Essstörungen zu erwarten ist. ! Der Einsatz von Psychopharmaka bei essgestörten Patientinnen mit begleitendem SV ist i. d. R. nur in Kombination mit psychotherapeutischen Interventionen sinnvoll.
Literatur Claes L, Vandereycken W (2007) Self-injurious behavior: diffeff rential diagnosis and functional differentiation. ff Compr Psychiatry 48: 137–144 Fichter MM, Quadfl flieg N, Rief W (1994) Course of multi-impulsive bulimia. Psychol Med 24: 591–604 Levitt JD, Sansone RA, Cohn L (eds) (2004) Self-harm behavior and eating disorders. Brunner-Routledge, New York Nock MK, Prinstein MJ (2004) A functional approach to the assessment of self-mutilative behavior. J Consult Clin Psychol 72: 885–890 Paul T, Schroeter K, Dahme B, Nutzinger DO (2002) Self-injurious behavior in women with eating disorders. Am J Psychiatry 159: 408–411
123
Biologische und medizinische Aspekte der Essstörungen 21
Hunger und Sättigung
– 124
22
Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen
23
Neurohormone und Neurotransmitter
24
Bildgebende Verfahren bei Essstörungen
– 137 – 143
– 130
21
21 21
Hunger und Sättigung
22
Reinhard Pietrowsky
23
21.1
Der Prozess der Nahrungsaufnahme
– 124
24 21.2
25 26
Biologische, sensorische und psychologische Faktoren von Hunger und Sättigung – 125
21.2.2 Sensorische Faktoren – 126 21.2.3 Psychologische Faktoren – 127
21.3
Hunger- und Sättigung und die Regulation des Körpergewichts
– 128
21.2.1 Biologische Faktoren – 125
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Unter biologischen Gesichtspunkten wird die Nahrungsaufnahme durch Hunger und Sättigung gesteuert. Hunger führt über die Initiierung von entsprechenden, die Nahrungsaufnahme vorbereitenden appetitiven Verhaltensweisen schließlich zur Nahrungsaufnahme. Diese bewirkt die Aktivierung von Sättigungsprozessen, die zu einer Beendigung der Nahrungsaufnahme und zu einer Phase der Sattheit führen. Neben diesen eher kurzfristig wirksamen Regulationsprozessen steuern langfristige Regulationsprozesse über Hunger und Sättigung die Aufrechterhaltung oder Erreichung eines bestimmten Körpergewichts. Obwohl die Nahrungsaufnahme somit eine basale biologische Tätigkeit ist, wird ihre Regulation nicht allein nur durch physiologische, metabolische und sensorische Faktoren gesteuert, sondern auch durch eine Vielzahl von psychischen Prozessen. So finden fi sich bereits im Tierreich zahlreiche Beispiele für die soziale Steuerung der Nahrungsaufnahme. Beim Menschen ist die Beeinflussbarfl keit der Nahrungsaufnahme durch psychologische und soziale Faktoren noch deutlich stärker ausgeprägt. Dies trifft fft neben dem gesunden, ungestörten Essverhalten in besonderem Maße für das gestörte Essverhalten zu.
21.1
Der Prozess der Nahrungsaufnahme
Die Nahrungsaufnahme lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen, von denen jede mit bestimmten
biologischen bzw. psychologischen Aspekten der Sättigung verbunden ist: 1. die zephale, 2. die gastrale und 3. die intestinale Phase. In der zephalen Phase besteht noch kein direkter Kontakt der Nahrung mit den Verdauungsorganen. Sensorische Reize, die von der Nahrung ausgehen (optische, olfaktorische, gustatorische, eventuell akustische) bewirkten über das Zentralnervensystem (ZNS) eine Vorbereitung des Körpers für die Nahrungsverwertung. Die Bedeutung der zephalen Phase wird dadurch unterstrichen, dass z. B. allein der Anblick, der Geruch oder die Erwartung von Nahrung bereits 50 der maximal möglichen Magensäuresekretion bewirken. Neben einer gesteigerten Sekretion von Magensäure kommt es während der zephalen Phase v. a. zu einer vermehrten Freisetzung von Gastrin und Somatostatin aus dem Magen. Zudem ist eine gesteigerte Ausschüttung von Insulin zu beobachten. Die nervösen und endokrinen Mechanismen, die in der zephalen Phase angestoßen werden, führen einerseits zu einem gesteigerten Hungerempfinden, fi andererseits werden auch schon in dieser Phase endokrine Mechanismen angeregt, die zu einer zentralnervös bedingten Sättigung führen. Das heißt, es kommt eine bestimmte Zeit nach Beginn der Nahrungsaufnahme zur Beendigung derselben, auch wenn das physiologische Ungleichgewicht, das durch die Nahrungsdeprivation entstand, noch nicht wieder ausgeglichen ist.
21.2 Biologische, sensorische und psychologische Faktoren von Hunger und Sättigung
Die gastrale Phase, die durch die Anwesenheit von Nahrungsbestandteilen im Magen gekennzeichnet wird, ist normalerweise durch die zephale Phase überlagert, da zentrale Funktionen durch diese vorausgehende Phase bereits aktiviert sind. Während der gastralen Phase kommt es zur weiteren Magensäuresekretion. Die Magendehnung bewirkt auch eine verminderte Empfindlichkeit fi des ZNS für Geruchs- und Geschmacksreize. Während der intestinalen Phase, d. h. der Anwesenheit von Nahrung im Darm, kommt es zu einer Freisetzung verschiedener Peptide aus der Darmschleimhaut, z. B. von Cholezystokinin (CCK), Neurotensin und Somatostatin. Diese Hormone erfüllen wesentliche Funktionen bei der Nahrungsverwertung und sind zugleich wichtige periphere Sättigungssignale (s. unten). Die Anwesenheit kleiner Nahrungsmengen im Darm führt zur Sättigung. Dieser Eff ffekt ist unabhängig von der Magendehnung. Er wird neuronal und humoral vermittelt, wobei CCK als wesentlicher humoraler Faktor in Betracht kommt. Der sättigende Effekt ff von CCK ist von einer vorausgehenden zephalen Stimulation abhängig. ! Der Prozess der Nahrungsaufnahme löst, beginnend bereits mit dem ersten sensorischen Kontakt mit der Nahrung, eine Kaskade von biologischen und psychologischen Prozessen aus. Diese führen zur Beendigung der Nahrungsaufnahme (Sättigung) und einer Zeit ohne Hunger und ohne erneute Nahrungsaufnahme (Sattheit).
21.2
Biologische, sensorische und psychologische Faktoren von Hunger und Sättigung
21.2.1
Biologische Faktoren
Biologische Faktoren, die auf Hunger und Sättigung Einfl fluss nehmen, finden sich sowohl in der Peripherie als auch im ZNS. Periphere Faktoren sind der Füllungszustand des Magens, die Menge der Nahrungsmakrobestandteile im Blut und hormonelle Regulationsprozesse, die ihren Ursprung im Gastrointestinaltrakt haben. Zentrale Einflussfakfl
125
21
toren sind hormonelle und zentralvernöse Regulationsprozesse, die vom Gehirn ausgehen, und die zentralnervöse Steuerung des Körpergewichts. Vermutlich spielen alle diese Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von Hunger und Sattheit, ohne dass einer dieser Faktoren in der Lage wäre, Essverhalten allein zu erklären. Der Füllungszustand des Magens scheint ein wesentlicher Faktor für das Auftreten ft von Hunger zu sein. Jedoch konnte gezeigt werden, dass Signale aus dem Magen nicht notwendig für die Entstehung der Hungerempfi findung sind, da auch bei einer Magenresektion Hungergefühle beschrieben werden. Das Absinken der Makrobestandteile der Nahrung (Glukose, Fett, Proteine) im Blut unter einen bestimmten Spiegel gilt ebenfalls als ein zentraler Indikator für die Auslösung einer Hungerempfindung, fi und entsprechend gibt es glukostatische, lipostatische und aminostatische Th Theorien des Hungers, die jeweils den Spiegel des entsprechenden Nahrungsbestandteils als zentral für die Auslösung von Hunger und Nahrungsaufnahme ansehen (Pietrowsky et al. 1988). Diese TheoTh rien können jedoch nicht erklären, warum teilweise trotz hoher Spiegel der jeweiligen Substanzen weiterhin Hunger besteht. Von besonderer Wichtigkeit für die Regulation von Hunger und Sättigung sind periphere hormonelle Regulationsprozesse. Darunter werden Hormone verstanden, die durch die Nahrungsaufnahme im Verdauungstrakt freigesetzt werden und im Gehirn als Sättigungssignale wirken. Das wichtigste dieser Hormone ist CCK, das durch die Aufnahme von Nahrung, besonders von Fett, aber auch bereits schon in der zephalen Phase, aus dem Darm freigesetzt wird. Am Beispiel von CCK soll ein Mechanismus der peripher-hormonellen Sättigungsregulation dargestellt werden. CCK erfüllt wichtige Funktionen für die Fettverdauung. Zugleich aber gelangen Information über die Höhe des CCK-Spiegels im Blut über CCK-Rezeptoren an Vagusafferenzen ff in das Gehirn, wie auch das im Blut zirkulierende CCK über sog. zirkumventrikuläre Organe die Blut-Hirn-Schranke überwinden und selbst in das Gehirn gelangen kann. Im Gehirn induziert CCK über zahlreiche sich dort befindliche fi CCK-Rezeptoren bzw. über die durch CCK ausgelöste Vagusstimulation Sättigungsprozesse, die letztlich dazu führen, dass die Nahrungsaufnahme beendet wird.
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Kapitel 21 · Hunger und Sättigung
Diese Sättigungsprozesse bestehen sowohl in einem reduzierten Hungergefühl als auch in psychologischen Veränderungen wie einer reduzierten Aufmerksamkeit und einer verminderten Appetenz für Nahrungsreize. Der sättigende Effekt ff von CCK scheint von der Stimulation mit Nahrungsreizen (zephale Phase) abhängig zu sein. Neben Hormonen aus dem Gastrointestinaltrakt, die eine zentralnervöse Sättigung induzieren können (CCK Somatostatin, glucagon-like peptide 1, Peptid YY), können auch Hormone aus den Fettzellen des Körpers (Leptin) und der Bauchspeicheldrüse (Insulin, Amylin) eine zentralnervös vermittelte Sättigung auslösen. Leptin, Insulin und Amylin werden analog der Menge von Körperfett freigesetzt und bewirken eine verminderte Nahrungsaufnahme. Damit erfüllen sie die Funktion einer Regulation des Körpergewichts (s. unten). Zudem interagieren Insulin, Leptin und CCK synergistisch in dem Sinne, dass der sättigende Effekt ff von CCK bei hohen Insulin- oder Leptinspiegeln deutlicher ausgeprägt ist (Drazen u. Woods 2003). Die zentralnervöse Hunger- und Sättigungsgregulation beschreibt jene Strukturen und Prozesse im Gehirn, in denen die entsprechenden motivationalen Empfindungen fi (Hunger, Sattheit) und die dazugehörenden homöostatischen Verhaltensweisen (Nahrungsaufnahme oder Nahrungsbeendigung) ausgelöst werden. Auslöser können sensorische Ereignisse (z. B. der Anblick von Nahrung) oder die Freisetzung der genannten Sättigungshormone sein. Die sog. Zwei-Zentren-Theorie Th nimmt an, dass die hypothalamischen Areale des lateralen Hypothalamus (LH) und des ventromedialen Hypothalamus (VMH) für die Entstehung des Hungers und der Sattheit verantwortlich sind. So gilt der der LH als Hungerzentrum, weil seine Aktivierung zu einer vermehrten Nahrungsaufnahme führt, während der VMH als Sättigungszentrum angesehen wird, weil seine Aktivierung eine Beendigung der Nahrungsaufnahme auslöst (Pietrowsky et al. 1988). Es kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass der LH unter einem tonisch inhibierenden Einfl fluss des VMH steht. In letzter Zeit wurden weitere Kerngebiete des Hypothalamus als wichtig für die Steuerung der Nahrungsaufnahme erkannt. Dies sind insbesondere der Nucleus arcuatus (infundibularis) und der Nucleus paraventricularis. In diesen Kernen scheint die Verarbeitung der
Informationen aus dem Fettgewebe bzw. der Pankreas stattzufi finden (Woods et al. 2000). Die Bedeutung des Hypothalamus für die Hunger- und Sättigungsregulation konnte auch durch bildgebende Studien bestätigt werden. So findet fi sich im hungrigen (gegenüber dem gesättigten Zustand) ein vermehrter regionaler zerebraler Blutfluss fl im Hypothalamus. Darüber hinaus waren unter Hunger aber auch andere Hirnregionen mehr aktiviert: insulärer Kortex, anteriores Zingulum, Hippokampus, Thalamus, Th Nucleus caudatus und Zerebellum (Tataranni et al. 1999). Unter Sättigung war v. a. der präfrontale Kortex mehr aktiviert als unter Hunger. Während die Aktivierung des insulären Kortex unter Hunger vermutlich emotionale und gastrointestinale Reaktionen des Hungers anzeigt, ist die Aktivierung des präfrontalen Kortex unter Sättigung möglicherweise Ausdruck von Gedächtnisprozessen, wie sie im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme erfolgen (z. B. Enkodierung des Orts der Nahrungsfindung). fi
21.2.2
Sensorische Faktoren
Sensorische Faktoren spielen für die Nahrungsaufnahme und für Hunger und Sättigung eine wesentliche Rolle. Sie nehmen eine Zwischenstellung zwischen biologischen und psychologischen Faktoren der Hunger- und Sättigungsregulation ein, da sie mit beiden interagieren. Sensorische Merkmale der Nahrung wie Geschmack, Geruch, Aussehen etc. führen dazu, dass Nahrung als schmackhafter ft oder weniger schmackhaft ft wahrgenommen wird. Die Schmackhaft ftigkeit von Nahrung, als Summe ihrer sensorischen Merkmale, steht in direktem Zusammenhang mit der hypothalamischen Kontrolle der Nahrungsaufnahme. So führt eine Läsion des LH, also des Hungerzentrums, zum Einstellen der Nahrungsaufnahme, die von der Schmackhaftigkeit der dargebotenen Nahrung abhängig ist. Je schmackhafter ft die Nahrung ist, desto schwächer ist der durch die LH-Läsion entstandene Appetitverlust, d. h., sehr schmackhafte ft Nahrung wird trotzdem verzehrt, während sensorisch wenig ansprechende Nahrung nicht aufgenommen wird (Pietrowsky 1990). Aber auch nach Zerstörung des VMH, also des Sättigungszentrums, bei der es zu exzessivem Über-
21.2 Biologische, sensorische und psychologische Faktoren von Hunger und Sättigung
fressen kommt, fressen die Tiere dann besonders viel, wenn die Nahrung besonders schmackhaft ft ist. Dies findet fi seinen Niederschlag in der cephalic phase hypothesis, die besagt, dass die Hyperphagie nach Läsion des VMH unter starker sensorischer Kontrolle steht. Refl flektorische Reaktionen der zephalen Phase der Nahrungsaufnahme, wie z. B. Speichelfluss fl oder die Sekretion von Insulin, sind dieser Theorie gemäß im VMH-Syndrom übermäßig stark ausgeprägt. Eine VMH-Läsion führt also dieser Hypothese entsprechend nicht zu einem generellen Fehlen von Sattheit, sondern zu einer verstärkten Nahrungsaufnahme nach Konfrontation mit (schmackhaften) ft Nahrungsmitteln. Neben ihrem Einfluss fl auf konditionierte Prozesse der Nahrungsaufnahme hat die sensorische Qualität von Nahrung auch eine wichtige Funktion für ihren Verstärkungswert. In den Arbeiten von Rolls und Mitarbeitern konnte gezeigt werden, dass die von der Nahrung ausgehenden sensorischen Reize zu einer Erregungssteigerung von hypothalamischen Neuronen führen, die im Zusammenhang mit dem Belohnungswert der Nahrung stehen (Rolls 1975, 1985). Sensorische Reize, die von der Nahrung ausgehen, haben somit als diskriminative Hinweisreize einen belohnenden Charakter. Es konnte ferner gezeigt werden, dass der belohnende Effekt ff der Nahrung auch an vormals neutrale Stimuli diff fferenziell konditioniert werden kann. Grundsätzlich wird mehr von einer Speise gegessen, je schmackhafter ft sie ist. Die Eff ffekte schmackhaft fter Nahrung auf Hunger oder Sättigung sind jedoch nicht trivial. So kann schmackhaft fte Nahrung sowohl dazu führen, dass Personen sich nach ihrem Verzehr hungriger fühlen als nach dem Verzehr weniger schmackhaft fter Nahrung, als auch, dass schmackhafte ft Nahrung satter macht als eine energieäquivalente Menge weniger schmackhaft fter Nahrung (Sørensen et al. 2003).
21.2.3
Psychologische Faktoren
Psychologische Faktoren, die Hunger und Sättigung konstituieren, sind im Wesentlichen emotionale und kognitive Prozesse. Daneben haben soziale Faktoren, die über psychologische Attributionsprozesse vermittelt werden, ebenfalls Einfluss fl auf Hunger und Sättigung. Diese kognitiven und emo-
127
21
tionalen Faktoren können als psychologische Korrelate des Hungers oder der Sättigung angesehen werden, die dazu geeignet sind, die entsprechende Bedürfnisbefriedigung zu erleichtern. Kognitive Faktoren, die Einfluss fl auf Hunger und Sättigung nehmen, sind v. a. die selektive Aufmerksamkeit für Nahrungsreize (und daraus resultierend eine intensivere Verarbeitung dieser Reize) und eine erhöhte kognitive Fixierung auf Nahrungsreize, die sich in einer vermehrten gedanklichen Beschäftigung ft mit Nahrungsreizen niederschlägt. Eine erhöhte selektive Aufmerksamkeit für Nahrungsreize ist ein zentrales Merkmal des Hungers und eine wesentliche psychische Komponente desselben. Sie führt dazu, dass Nahrungsreize schneller erkannt oder entdeckt werden. Auch werden mehrdeutige Reize eher als nahrungsbezogen eingeschätzt. Sättigung führt entsprechend dazu, dass die selektive Aufmerksamkeit zurückgeht und Nahrungsreize keinen Bearbeitungsvorteil gegenüber anderen Reizen besitzen. Eine solche Reduktion der selektiven Aufmerksamkeit für Nahrungsreize ist ein spezifisches fi Charakteristikum der durch sättigende Hormone induzierten Sättigung (Pietrowsky 1990). Viele dieser kognitiven Prozesse finfi den präattentiv statt, sind also nicht der bewussten Erfahrung zugänglich. Die vermehrte gedankliche Beschäftigung ft mit Nahrungsreizen ist Ausdruck einer tonisch erhöhten Aktivierung der entsprechenden Gedächtnisnetzwerke unter Hunger, die semantische und v. a. episodische Inhalte zu Essen, Nahrung, Fasten etc. konstituieren. Da bei vielen Essgestörten zudem eine starke kognitive Fixierung auf den eigenen Körper und das Aussehen besteht, kann davon ausgegangen werden, dass bei diesen Personen die mentalen Repräsentationen der Figur und des Köpers assoziativ mitaktiviert sind. Mithilfe experimentalpsychologischer Paradigmen (z. B. emotionaler Stroop-Test, Dot-Probe-Paradigma) lassen sich die kognitiven Aspekte von Hunger und Sättigung genau quantifi fizieren. Störungen dieser kognitiven Merkmale von Hunger und Sättigung sind ein typisches Merkmal bei essgestörten Patienten und mit großer Wahrscheinlichkeit für die Entstehung oder Aufrechterhaltung der Essstörung mitverantwortlich. So zeichnen sich Essgestörte durch den fehlenden Rückgang der kognitiven Fixierung auf Nahrungsreize nach Nahrungsaufnahme aus.
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Kapitel 21 · Hunger und Sättigung
Ähnlich wie die kognitiven Merkmale von Hunger und Sättigung, so können auch emotionale Faktoren wie die appetitive Bewertung von Nahrungsreizen als Ausdruck der Aktivierung entsprechender Gedächtnisstrukturen verstanden werden. Hunger geht einher mit einer bedürfnisspezifischen fi Aktivierung positiv-valenter Aspekte dieser Gedächtnisstrukturen. Unter Sättigung geht diese zurück und kann in eine negativ-valente Bewertung umschlagen, d. h., Nahrungsmittel werden als aversiv empfunden. Die emotionale Bewertung nahrungsbezogener Reize ist ein wichtiger Aspekt von Hunger und Sättigung, der seinerseits auch wieder die kognitive Verarbeitung nahrungsrelevanter Reize beeinflusst. fl Wichtig ist, dass der Zusammenhang zwischen Hunger und Sättigung auf der einen Seite und deren kognitiven und emotionalen Merkmalen auf der anderen Seite nicht eindirektional ist, sondern dass diese kognitiven und emotionalen Merkmale das Ausmaß von Hunger und Sättigung mitkonstituieren. Soziale Faktoren, wie etwa soziale Normen, soziale Vergleichsprozesse und kulturelle Einflüsfl se, können, neben ihrem direkten Einfluss fl auf das Ernährungsverhalten, auch indirekt über Attributionsprozesse Hunger und Sattheit beeinflussen fl . Wenn auch psychologische Faktoren direkt Hunger
und Sättigung zu beeinflussen fl vermögen, so wirken sie sich auf die anderen Einflussfaktoren fl des Essverhaltens noch stärker aus als in ihrer direkten Wirkung auf Hunger und Sättigung (Pietrowsky 2006).
21.3
Hunger- und Sättigung und die Regulation des Körpergewichts
Im Hypothalamus werden die humoralen Signale, die den Fettgehalt und damit das Körpergewicht anzeigen, in die Kontrolle des Sättigungs- und Ernährungsverhaltens einbezogen. Im Nucleus arcuatus und im Nucleus paraventricularis erfolgt eine Verarbeitung dieser Informationen unter Beteiligung lokaler Peptide, die letztlich darin resultiert, dass Hunger oder Sattheit induziert wird, um langfristig das Körpergewicht stabil zu halten. Bei einem zu geringen Körpergewicht wird also Hunger generiert, der über vermehrte Nahrungsaufnahme zu einer Erhöhung des Körpergewichts führt. Bei einem zu hohen Körpergewicht werden Sättigungsprozesse angestoßen, die über reduzierte Nahrungsaufnahme zu einer Absenkung des Körpergewichts führen (. Exkurs).
32 Definition
33 34 35 36 37 38 39 40
Die hypothalamische Kontrolle des Körpergewichts im Detail Im Einzelnen sind in diesen sehr komplexen Kontrollvorgängen zwei Systeme involviert: 5 das Leptin-NPY-System und 5 das POMC-System. Neuropeptid Y (NPY) ist ein Peptid, dessen Freisetzung im Hypothalamus die Nahrungsaufnahme erhöht. Die Freisetzung von NPY steht unter der Kontrolle von Leptin. Niedrige Leptinspiegel (reduziertes Körpergewicht) führen über entsprechende Rezeptoren im Nucleus arcuatus zu einer vermehrten Sekretion von NPY, und das führt zu mehr Hunger und damit zu einer vermehrten Nahrungsaufnahme. Bei Übergewicht und erhöhten Leptin- oder Insulinspiegeln kommt es zu einer Abschwächung der NPY-Sekretion und einer verminderten Nahrungsaufnahme. Proopiomelanokortin (POMC) ist der Vorläufer vieler Peptidhormone und der Opioide
(z. B. adrenokortikotropes Hormon ACTH, α-melanozytenstimulierendes Hormon α-MSH, β-Endorphin) und wird im Nucleus arcuatus gebildet. α-MSH hat den gegenteiligen Effekt ff von NPY, es unterdrückt also die Nahrungsaufnahme. Ein natürlicher Antagonist von α-MSH ist das Agouti-relatedPeptid (AgRP), welches die Nahrungsaufnahme erhöht. α-MSH und AgRP wirken über Melanokortinrezeptoren im Nucleus paraventricularis. Reduziertes Körpergewicht, vermittelt über reduzierte Leptinspiegel, führt somit zu einer Aktivierung beider Systeme. Über eine vermehrte Freisetzung von NPY und AgRP und die Hemmung von α-MSH kommt es zu vermehrter Nahrungsaufnahme, während Übergewicht über eine Hemmung der NPY-Freisetzung und eine Aktivierung α-MSH-ergen Aktivität zu verminderter Nahrungsaufnahme führt.
21.3 Hunger- und Sättigung und die Regulation des Körpergewichts
Die Kontrollprozesse in Nucleus arcuatus und Nucleus paraventricularis üben ihren Einfl fluss auf Nahrungsaufnahme über die oben beschriebenen hypothalamischen Kerngebiete des LH und VMH aus. Resultiert aus diesen Prozessen ein Signal zu verminderter Nahrungsaufnahme, so aktiviert dieses den VMH; resultiert ein Signal zu vermehrter Nahrungsaufnahme, so aktiviert dieses den LH. Entscheidend ist, dass sowohl LH als auch VMH Hunger oder Sättigung über eine Modulation der Sättigungssignale aus dem peripheren humoralen Sättigungssystem bewerkstelligen. Eine Aktivierung des VMH führt zu einer Verstärkung der Sättigungssignale, eine Aktivierung des LH zu einer Abschwächung der humoralen Sättigungssignale. Diese Modulation scheint im Nucleus tractus solitarius des Hirnstamms stattzufinden, fi wohin die peripheren Sättigungssignale über afferente ff Nerven projizieren (Drazen u. Woods 2003).
129
21
Somit ergibt sich ein geschlossener Regelkreis: Humorale Sättigungssignale (z. B. CCK) regulieren kurzfristig die aufgenommene Nahrungsmenge. Der aktuelle Ernährungszustand bestimmt über Leptin und Insulin in einem hypothalamischen Kontrollsystem ein übergeordnetes Ziel zu vermehrter oder verminderter Nahrungsaufnahme, und dieses moduliert die Wirkung der humoralen Sättigungssignale. Über die kumulierte Wirkung verstärkter oder abgeschwächter Sättigungssignale kommt es langfristig zu einer Veränderung des Körpergewichts. Da die Effekte ff der Sättigungssignale nicht nur physiologischer, sondern auch psychologischer Art sind, moduliert der aktuelle Ernährungszustand über Leptin und Insulin somit auch die kognitiven und emotionalen Korrelate von Hunger und Sattheit.
Fazit Hunger und Sättigung sind zwar eine basale Determinante des Essverhaltens, aber beim Menschen doch nur ein Aspekt von vielen, die das Essverhalten steuern. Letztlich sind Hunger und Sättigung psychologische Konstrukte, die über entsprechende Verhaltensweisen operationalisiert werden. Im einfachsten Fall geschieht dies über die Nahrungsaufnahme. Werden jedoch vermittelnde psychologische Prozesse mitberücksichtigt, ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild. Hunger und Sattheit haben auch eine motivationalemotionale Komponente, die sich sowohl in dem Wunsch zu essen bzw. nicht zu essen als auch in
Literatur Drazen DL, Woods SC (2003) Peripheral signals in the control of satiety and hunger. Curr Opin Nutr Metabol Care 6: 621-629 Pietrowsky R (1990) Regulation von Hunger und Sättigung durch Cholecystokinin. Profil, fi München Pietrowsky R (2006) Ernährung. In: Renneberg B, Hammelstein P (Hrsg). Gesundheitspsychologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 173-194 Pietrowsky R, Born J, Fehm HL (1988) Endokrine und neurokrine Regulation des Appetit- und Sättigungsverhaltens. Verhaltensmod Verhaltensmed 9: 243-274 Rolls ET (1975) The brain and reward. Pergamon, Oxford, UK
der emotionalen und kognitiven Bewertung von Nahrungsreizen und der daraus folgenden kognitiven Verarbeitung von Nahrungsreizen niederschlägt. Schließlich können diese kognitiven Verarbeitungsprozesse nicht nur als Folge, sondern als essenzielle Konstituenten von Hunger und Sättigung angesehen werden. Diese psychologischen Prozesse können so bedeutsam werden, dass sie – wie im Fall der Essstörungen – die biologischen Hunger- oder Sättigungssignale überlagern und zu krankhaftem Fasten oder Überessen führen.
Rolls ET (1985) The neurophysiology of feeding. In: Sandler M, Silverstone T (eds) Psychopharmacology and food. Oxford University Press, Oxford, UK, pp 1-16 Sørensen LB, Møller P, Flint A, Martens M, Raben A (2003) Effect of sensory perception of foods on appetite and food intake: a review on studies on humans. Int J Obesity 27: 1152-1166 Tataranni PA, Gautier J-F, Chen K et al (1999) Neuroanatomical correlates of hunger and satiation in humans using positron emission tomography. Proc Natl Acad Sci USA 96: 4569-4574 Woods SC, Schwartz MW, Baskin DG, Seeley RJ (2000) Food intake and the regulation of body weight. Annu Rev Psychol 51: 255-277
22
22
Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen
23
Martin Schulte-Rüther und Kerstin Konrad
24
22.1
21
25 26 27
22.2
Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsbias Lernen und Gedächtnis
22.3
Exekutive Funktionen
– 133
22.4
Neuropsychologie und hormonelle Einflussfaktoren fl – 134
22.5
Neuropsychologische Befunde im Therapieverlauf – 134
– 131 – 133
22.2.1 Implizite Lern- und Gedächtnisfunktionen – 133 22.2.2 Explizite Lern- und Gedächtnisfunktionen – 133
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Das Denken von Patientinnen mit Anorexia nervosa im akuten Zustand der Starvation erscheint i. d. R. stark eingeengt und starr. Psychotherapeutische Maßnahmen sind in dieser Phase deshalb z. T. nur schwer möglich oder wenig effektiv. ff Umso erstaunlicher ist es, dass ein Großteil der Patientinnen es dennoch schafft fft, relativ stabile schulischberufliche fl Leistungen aufrechtzuerhalten. Seit mehreren Jahren beschäft ftigen sich neuropsychologische Studien mit der Frage, ob bei Patientinnen mit Essstörungen kognitive Defizite fi vorliegen, ob diese starvationsbedingt und reversibel sind oder ein Trait-Merkmal der Erkrankung darstellen. Frühe Studien verwendeten ein breites Spektrum neuropsychologischer Testverfahren, die zur allgemeinen Charakterisierung kognitiver Leistungseinbußen geeignet sind. Da die verwendeten Tests jedoch oft ft nicht sehr sensitiv für die Erkennung auch subtiler kognitiver Einbußen sind, ist es relativ schwierig, die Ergebnisse solcher Studien miteinander zu vergleichen und in Einklang zu bringen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass verschiedene Studien recht unterschiedliche Patientengruppen untersucht haben, die hinsichtlich des Schweregrades, der relevanten Diagnosekriterien und eventuell vorhandener Komorbiditäten deutlich voneinander abweichen können. Entsprechend uneinheitlich sind die Befunde, die zwar in einzelnen Studien spezifische fi Probleme in bestimmten Funktionsbereichen aufzeigen, aber insgesamt eher
auf unspezifische fi Defi fizite im Bereich der Aufmerksamkeit (z. B. durch größere Ablenkbarkeit) und psychomotorischer Verarbeitungsgeschwindigkeit hinzuweisen scheinen. Jüngere Studien hingegen fokussieren zunehmend auch auf spezifischere fi Funktionen und machen daher eine hypothesengeleitete Analyse auch subtilerer neuropsychologischer Defi fizite möglich. Viele Studien fi finden bei essgestörten Patientinnen Hinweise auf strukturelle Hirnveränderungen und Änderungen im Hirnstoffwechsel, ff v. a. im Zustand akuter Starvation. Diese Auffälligkeiten ff sind auch nach Gewichtsrehabilitation und langfristiger Gewichtsstabilisierung nur teilweise reversibel (7 Kap. 24). ! Da strukturelle und funktionelle Hirnveränderungen auch nach Gewichtsrehabilitation und langfristiger Gewichtsstabilisierung nur teilweise reversibel sind, ist noch off ffen, ob neurobiologische und neuropsychologische Auffälligff keiten Konsequenzen der Erkrankung sind oder bereits prämorbid auftreten.
Der genaue Zusammenhang zwischen neurobiologischen Markern und neuropsychologischen Leistungseinbußen ist ebenfalls noch kaum untersucht. Es gibt Studien, die signifikante, fi aber schwache Korrelationen zwischen strukturellen Veränderungen und kognitiven Einbußen berich-
131
22.1 Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsbias
ten, in anderen Studien konnten diese Ergebnisse jedoch nicht repliziert werden. Die Mehrzahl aller Patientinnen mit Essstörung weisen im Verlauf der Erkrankung auch Symptome einer depressiven oder dysthymen Störung auf. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass insbesondere Patientinnen mit Anorexie Symptome einer generalisierten Angststörung oder einer Zwangsstörung zeigen. Man könnte daher vermuten, dass berichtete neuropsychologische Auff ffälligkeiten nicht spezifi fisch bei Patientinnen mit Essstörungen auftreten, ft sondern zumindest teilweise auf die komorbide Symptomatik zurückzuführen sind. Dies gilt umso mehr, da die Patientengruppen bei einer Vielzahl von Studien nicht ausreichend für komorbide Erkrankungen kontrolliert sind. In Bezug auf die depressive Sympotmatik findet sich allerdings in den meisten Studien, die explizit für Komorbiditäten kontrollieren, keine Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der depressiven Symptome und der Leistung bei neuropsychologischen Aufgaben. Auch das Angstniveau zum Zeitpunkt der Untersuchung scheint sich nicht negativ auf die Leistung auszuwirken. Hinweise gibt es allerdings für eine Korrelation zwischen neuropsychologischen Testleistungen und dispositioneller Ängstlichkeit. Aus nahe liegenden Gründen existiert nur sehr wenig Literatur zu der Frage, inwieweit längerfristige Mangelernährung per se zu neuropsychologischen Auff ffälligkeiten führen kann. Kurzfristige Nahrungsdeprivation (bis zu 24 Stunden) bei nichtessgestörten Probandinnen scheint keine negativen Auswirkungen zu haben. Auch längerfrisitige Deprivation (bis zu 24 Wochen) hat nur minimalen und vollständig reversiblen Einfluss fl auf die kognitiven Fähigkeiten (Minnesota Starvation Experiment, Keys et al. 1950). Im Folgenden werden die einzelnen Befunde für verschiedene Funktionsbereiche dargestellt. Die Ausführungen beziehen sich weitestgehend auf Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN), da für diese Störungsbilder eine Reihe von Studien vorliegt.
22.1
22
Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsbias
Aufmerksamkeitsleistungen können in verschiedene Teilaspekte untergliedert werden, wie z. B. Intensitätsaspekte (Daueraufmerksamkeit, Vigilanz, Alertness) und selektive Aspekte (fokussierte und geteilte Aufmerksamkeit). Eine Zusammenfassung der Studien ergibt ein wenig robustes Befundmuster. Obwohl einige Studien Defizite fi in der Daueraufmerksamkeit und bei einfachen Reaktionszeitaufgaben bei essgestörten Patientinnen berichteten, konnten diese Defizite fi in anderen Studien nicht repliziert werden. Dies gilt ebenfalls für Untersuchungen der selektiven Aufmerksamkeit. ! In den letzten Jahren wurde die Hypothese aufgestellt, bei Patientinnen mit Essstörungen sei insbesondere die Fähigkeit reduziert, selektiv und flexibel fl auf angstauslösende Reize zu reagieren. Dieses Phänomen wird in der Forschung als kognitiver Bias bezeichnet, und mehrere Essstörungsmodelle gehen heute davon aus, dass solche Prozesse, wie z. B. selektive Aufmerksamkeit auf bestimmte »Problemzonen«, die Gewichtsphobie verstärken und so zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen.
Ein Aufmerksamkeitsbias für figur- und essensbezogene Reize wurde in mehreren Studien mit dem emotionalen Stroop-Task an anorektischen und bulimischen Patientinnen bestätigt (Übersicht in Dobson u. Dozois 2004). Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass ein selektiver Aufmerksamkeitsbias auch durch Hungern bei gesunden Probandinnen ausgelöst werden kann. Eine neuere interessante Untersuchung zur Spezifität fi dieses Defizits fi (Shafran et al. (2007) sei im Folgenden ausführlicher dargestellt (. Exkurs, . Abb. 22.1 und 22.2).
132
21 22 23 24 25 26 27
Kapitel 22 · Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen
Definition Studie von Shafran et al. (2007): Dot-Probe-Paradigma In dieser Studie wurde die selektive Informationsverarbeitung bei Patientinnen mit Essstörungen sowie bei Kontrollprobandinnen mit hoher Ängstlichkeit und mit wenig, mittelgradiger und hoher Besorgnis um die eigene Figur untersucht. Bei dieser Aufgabe müssen die Probandinnen die Mitte des Bildschirms fi fixieren, während in der Peripherie gleichzeitig zwei Bilder für eine kurze Zeit präsentiert werden (s. unten). Direkt im Anschluss erscheint anstelle eines der Bilder ein Kreuz, und die Probandinnen sollen per Tastendruck entscheiden, wo sie das Kreuz gesehen haben. Gemessen werden die Reaktionszeiten,
und man erwartet, dass – wenn ein Aufmerksamkeitsbias vorliegt – die Probandinnen schneller auf Kreuze reagieren sollten, die an der Stelle der angstauslösenden Stimuli erscheinen. Es fand sich ein stärkerer attentional bias bei den Patientinnen mit einer klinisch relevanten Essstörung. Dieser war auch stärker als bei Probandinnen mit hoher Ängstlichkeit und bei Probandinnen mit hoher Besorgnis um die eigene Figur, d. h., dass die Veränderungen der selektiven Informationsverarbeitung nicht durch die Beschäftigung mit essensbezogenen Themen oder allgemeiner Psychopathologie erklärt werden konnten.
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. Essensbezogene Reize: positive (links), negative (Mitte) und neutrale Stimuli (rechts). (Aus Shafran et al. 2007, reprinted with permission of Wiley-Liss, Inc., a subsidiary of John Wiley & Sohns, Inc.)
35 36 37 38 39 40
. Abb. 22.2. Figurbezogene Reize: positive (links), negative (Mitte) und neutrale Stimuli (rechts). (Aus Shafran et al. 2007, reprinted with permission of Wiley-Liss, Inc., a subsidiary of John Wiley & Sohns, Inc.)
133
22.3 Exekutive Funktionen
22.2
Lernen und Gedächtnis
22.2.1
Implizite Lern- und Gedächtnisfunktionen
Obwohl nur sehr wenige Studien implizites Lernen bei Patientinnen mit Essstörungen untersuchen, weisen dennoch einige Befunde auf Defizite fi in diesem Bereich hin. Strupp et al. (1986) berichten z. B., dass Patientinnen mit Anorexie ebenso gut oder besser als gesunde Kontrollprobandinnen bei bewusst ausgeführten Lernaufgaben abschneiden. Sie erreichen aber weniger gute Ergebnisse, wenn Aufgaben implizites Lernen beinhalten. Außerdem zeigen Patientinnen mit Essstörungen schlechtere Leistungen bei der Wiedergabe von Sequenzen, die länger sind als die unmittelbare Gedächtnisspanne, sich aber in regelmäßigen Abständen wiederholen. Dies äußert sich sowohl bei Zahlensequenzen (Hebb’s Digit Recurring Sequences) als auch bei visuell-räumlichen Sequenzen (Corsi’s Block Tapping Task). Weitere Hinweise ergeben sich aus Studien, die den Iowa Gambling Testt verwenden (7 22.3), bei dem die Leistung stark durch das implizite Lernen von Belohnungskontigenzen bestimmt wird. Murphy et al (2002, 2004) verwendeten ein Paradigma des konditionierten Assoziationslernens von Wörtern und willkürlichen geometrischen Formen (conditionalassociative learning), g das ebenfalls implizite Lernvorgänge beinhaltet. Patientinnen mit Anorexie (nicht jedoch Patientinnen mit Bulimie) zeigten hier Defizite, fi wenn emotional neutrale Zielwörter verwendet wurden. Hingegen bestand bei der Verwendung von krankheitsspezifischen fi Zielwörtern (z. B. aus dem Bereich hochkalorischer Lebensmittel) dieser Effekt ff nicht mehr. Interessanterweise findet fi sich das gleiche Muster auch bei Patienten mit Zwangsstörung. Befunde zum Verlauf impliziter Lern- und Gedächtnisfunktionen während der Gewichtsrehabilitation oder im LangzeitFollow-up liegen nicht vor.
22.2.2
Explizite Lern- und Gedächtnisfunktionen
Mehrere Studien diskutieren Defizite fi im Bereich des Arbeitsgedächtnisses. Nach Baddeley lässt sich
22
das Arbeitsgedächtnis unterteilen in die drei Komponenten 5 visuell-räumlicher Kurzzeitspeicher (visuo-spatial sketch pad), 5 phonologischer Kurzzeitspeicher ((phonological loop) und 5 exekutive Kontrolle. Im Hinblick auf Leistungen des unmittelbaren Kurzzeitspeichers im visuell-räumlichen oder verbalen Bereich lassen sich in den meisten Studien keine Defizite fi nachweisen, vereinzelt werden schlechtere Leistungen bei akut untergewichtigen Patientinnen eher im visuell-räumlichen als im verbalen Kurzzeitgedächtnis gefunden. Für die zentrale exekutive Komponente des Arbeitsgedächtnisses scheinen sich konsistentere Beeinträchtigungen zu zeigen, was sich gut in Einklang bringen lässt mit den Befunden zur Aufmerksamkeit und zu exekutiven Funktionen. So zeigen sich bei Gedächtnisaufgaben mit höherer Komplexität (z. B. Dual Span Memory Task) oder steigenden Anforderungen an die Lernleistung schlechtere Ergebnisse im Vergleich zu gesunden Kontrollprobandinnen. In mehreren Studien konnte für die unmittelbare und verzögerte Wiedergabe von umfangreicherem verbalem Material (wie z. B. längere Zahlenreihen, Wortlisten, Sachtexte oder Geschichten) schlechtere Gedächtnisleistungen nachgewiesen werden. Defizite fi lassen sich auch bei der verzögerten Wiedergabe von gelerntem Material fi finden. Dies dürft fte allerdings eher auf die Probleme bei der Akquisition als auf eine stärkere Tendenz zum Vergessen zurückzuführen sein. ! Schlechtere Leistungen bei Gedächtnisaufgaben scheinen insgesamt nicht durch spezifische fi Defi fizite bei Enkodierung, Speicherung oder Abruf aus dem Gedächtnis bedingt zu sein, sondern lassen sich wahrscheinlich eher durch Probleme bei Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung erklären.
22.3
Exekutive Funktionen
»Exekutive Funktionen« ermöglichen flexible fl Handlungssteuerung und Selbstregulation. Sie bezeichnen kognitive Funktionen zur Steuerung
134
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Kapitel 22 · Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen
und Koordination von mentalen Prozessen, die der Erreichung von defi finierten, übergeordneten Zielen dienen. Sehr gut untersucht bei Essstörungen sind Paradigmen zur Messung kognitiver Flexibilität, d. h. der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Aufgaben, kognitiven Operationen oder Regelmustern hin und her zu wechseln und flexibel fl zu koordinieren (set shifting ft g). Die aktuelle Studienlage zum set shift ftingg bei Patientinnen mit Essstörungen, die sich insbesondere auf den Trail Making Test, den Wisconsin Card Sorting Testt und den Haptic Illusion Task stützt, lässt auf Defizite fi bei essgestörten Patientinnen schließen, mit konsistenten Effektstärken ff für die jeweiligen Testverfahren. Die stärksten Effekte ff zeigten der Haptic Illusion Task und der Wisconsin Card Sorting Test. Die meisten vorliegenden Studien haben Patientinnen mit Anorexie untersucht, die wenigen Studien, die auch für Patientinnen mit Bulimie durchgeführt wurden, berichten ähnliche Ergebnisse auch für diese Patientengruppe. Patientinnen, deren Gewicht sich stabilisiert hat oder die keine Sympomte einer Essstörung mehr aufweisen, zeigen zwar meist eine leichte Verbesserung, allerdings weisen die Befunde dennoch in die Richtung eines persistierenden Defizits fi bei Set-shift fting-Aufgaben. Es konnte sogar gezeigt werden, dass sich Defizite fi auch bei gesunden Geschwistern von essgestörten Patientinnen finden fi lassen. In zwei Studien wurden Anorexiepatientinnen mit dem Iowa Gambling Task untersucht. Bei diesem Paradigma lernen gesunde Kontrollprobandinnen typischerweise nach einigen Durchgängen, Entscheidungen zu treffen, ff die einen relativ geringen unmittelbaren Gewinn bei niedrigem Risiko versprechen. Außerdem vermeiden sie Entscheidungen, die zwar einen hohen kurzfristigen Gewinn versprechen, aber auf lange Sicht eher Verlust einbringen. Anorexiepatientinnen zeigten hier nach mehreren Durchgängen keine Verbesserung der Leistung. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Aufgabe nicht nur die Fähigkeit zur vorausschauenden Entscheidungsfi findung, sondern auch implizites Lernen von Belohnungskontingenzen erfordert. Für eine Gruppe von klinisch remittierten Patientinnen wurden bei der gleichen Aufgabe keine Auff ffälligkeiten nachgewiesen. Weitere Studien fanden Auffälligkeiten ff für die exekutive Komponente des Arbeitsgedächtnisses und bei Aufgaben zur Inhibition von vorherr-
schenden Antworttendenzen ((prepotent response tendencies). Auch gibt es Hinweise, dass Anorexiepatientinnen eine stärkere Tendenz zu perseverierenden Antworten beim Use of Common Objects Task aufweisen, auch wenn für das Ausmaß depressiver Symptomatik kontrolliert wird. Ein weiterer modulierender Faktor in dieser Studie war das Ausmaß der dispositionellen Zwanghaftigkeit. ft
22.4
Neuropsychologie und hormonelle Einfl flussfaktoren
Eine mögliche Erklärung für die heterogenen neuropsychologischen Befunde bei Essstörungen könnten Unterschiede in neuroendokrinen Veränderungen darstellen. Erste Studien sind deshalb dem Zusammenhang zwischen neurohormonellen und kognitiven Veränderungen bei anorektischen Patientinnen nachgegangen. Dabei wurde bislang insbesondere der Einfl fluss von Östrogenen, Kortisol, Allopregananolon und Dehydroepiandrosteron sowie in tierexpimerimetellen Studien der Einfluss von Neuropeptiden (Ghrelin, Leptin, Pepfl tid YY) untersucht. Erste Befunde sprechen für interessante Zusammenhänge zwischen Lern- und Gedächtnisprozessen und dem Steroid- und Neuropeptidniveau, was die wesentliche Bedeutung von Neurosteroiden für hippokampale Funktionen bestätigt. In Übereinstimmung hiermit haben auch jüngere Bildgebungsstudien zeigen können, dass möglicherweise die Normalisierung hormoneller Faktoren einen besseren Prädiktor für die Normalisierung von Auff ffälligkeiten in der Hirnstruktur bei essgestörten Patientinnen darstellt als die Gewichtsrehabilitation selbst.
22.5
Neuropsychologische Befunde im Therapieverlauf
Es liegen einige längsschnittliche Studien vor, bei denen neuropsychologische Daten nicht nur in der akuten Krankheitsphase erhoben wurden. Allerdings variiert die Festlegung eines zweiten Untersuchungszeitpunkts nach erfolgreicher Therapie je nach Studie erheblich, sodass die Vergleichbarkeit der Ergebnisse nicht gewährleistet ist. Einige Stu-
135
22.5 Neuropsychologische Befunde im Therapieverlauf
dien finden keinerlei oder nur schwache unspezifische fi Verbesserungen über alle untersuchten Funktionsbereiche hinweg und dabei vereinzelt sogar Verschlechterungen bei bestimmten Testergebnissen. Eine Reihe von Studien berichtet jedoch Verbesserungen nach erfolgreicher Gewichtsrehabilitation, v. a. bei Aufgaben zur Aufmerksamkeitsleistung. Persistierende Defi fizite zeigen sich v. a. im Bereich der kognitiven Flexibilität (z. B. set shifting). g Querschnittstudien finden ähnliche Ergebnisse, häufi fig werden leicht bessere neuropsychologische Leistungen bei klinisch remittierten Patientinnen im Vergleich zu akuten Patientinnen berichtet; oft ft lassen sich aber auch bei dieser Gruppe noch Unterschiede im Vergleich zu gesunden Kontrollen nachweisen. Definition Können neuropsychologische Leistungen den Verlauf der Essstörung vorhersagen? Meist finden sich keine direkten Korrelationen zwischen dem neuropsychologischen Funktionsniveau und dem Gewichtsverlauf. In entsprechenden Untersuchungen ließen sich aufgrund neuropsychologischer Testergebnisse keine konsistenten verlässlichen Prädiktoren für den Therapieerfolg nach einer definierten fi Zeitspanne (meist defi finiert als erfolgreiche Gewichtsrehabilitation) bzw. Entlassung aus der Klinik identifi fizieren. Es gibt Hinweise, dass die Patientinnen, die noch bei Entlassung konsistente neuropsychologische Defi fizite in mehreren Bereichen aufweisen, überzufällig häufig fi wieder rückfällig werden. Ein Befund, dass die Leistungen beim Test »Zahlenspanne« einen hohen Prädiktionswert für die Gewichtszunahme im Therapieverlauf besitzen, konnte bisher nicht repliziert werden. Eine andere aktuelle Studie konnte eine stärkere Gewichtszunahme im Therapieverlauf bei solchen Patientinnen zeigen, die zu Beginn der Behandlung gute Leistungen beim Iowa Gambling Taskk zeigen (7 22.3) .
Fazit Allgemein lässt sich anhand der bisher in der Literatur vorliegenden Befunde zusammenfassen, dass sich nur geringfügige Unterschiede im allgemeinen kognitiven Funktionsniveau bei Patientinnen mit Essstörungen im Vergleich zu gesunden Kontrollen zeigen lassen. Dennoch konnten in zahlreichen Studien (insbesondere im Bereich Aufmerksamkeit und kognitive Flexibilität) konsistent subtile Funktionsbeeinträchtigungen gefunden werden, die teilweise auch nach der Gewichtsrehabilitation weiterhin nachweisbar sind. Ungeklärt ist jedoch, ob solche persistenten Funktionsbeeinträchtigungen Hinweise auf Trait-Merkmale sind, d. h. Ausdruck prämorbider Beeinträchtigungen, die für Pathogenese und Verlauf der Essstörung von Bedeutung sind, oder ob die gefundenen neuropsychologischen Defizite vornehmlich State-Merkmale kennzeichnen, die als Konsequenz der Erkrankung auftreten und mehr oder weniger reversibel sind. Um dazu in zukünftigen Studien gesicherte Aussagen machen zu können, sind longitudinale Studien erforderlich, die neuropsychologische Parameter in Kombination mit biologischen Markern und Persönlichkeitsfaktoren im akuten Stadium, nach erfolgreicher Gewichtsrehabilitation und im Langzeit-Followup untersuchen. Viele der bisher vorliegenden Studien sind sehr heterogen hinsichtlich der Zusammensetzung der untersuchten Patientenpopulation und verwenden oft relativ breit angelegte neuropsychologische Screenings. Sinnvoller ist die Verwendung spezifischer, sensitiver Testverfahren in Verbindung mit einem großen Stichprobenumfang, um subtile neuropsychologischen Defizite fi von Patientinnen mit Essstörungen hinreichend abbilden zu können.
22
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Kapitel 22 · Neuropsychologische Befunde bei Essstörungen
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23 Neurohormone und Neurotransmitter Kristian Holtkamp 23.1
Neuropeptide und periphere Peptidhormone – 137
23.1.1 Befunde bei Essstörungen
Neurotransmitter
– 141
23.2.1 Befunde bei Essstörungen – 141
– 138
Nach dem bisherigen Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass die meisten bei Essstörungen beschriebenen Veränderungen von Neurohormonen und Neurotransmittern sekundären physiologischen Anpassungsvorgängen an eine veränderte Nahrungsaufnahme entsprechen (State-Marker). Allerdings weist eine zunehmende Zahl von Studien darauf hin, dass zentrale und periphere Auswirkungen der veränderten Energiezufuhr zur Aufrechterhaltung des pathologischen Essverhaltens beitragen können.
23.1
23.2
Neuropeptide und periphere Peptidhormone
Die neuronalen Regelkreise der Appetitregulation beinhalten komplizierte und häufi fig redundante Systeme mit Wechselwirkungen peripherer (z. B. gustatorische und aff fferente vagale Stimulation sowie Sekretion von gastrointestinalen und anderen Peptiden) und zentraler Mechanismen. Der wichtigste anatomische Locus der Gewichtsregulation ist der Hypothalamus, insbesondere der Nucleus arcuatus. Die Möglichkeiten zur In-vivo-Untersuchung zentralnervöser Mechanismen der Gewichtsregulation
beim Menschen sind limitiert. Die im Folgenden geschilderten Erkenntnisse beruhen daher überwiegend auf Ergebnissen tierexperimenteller Studien. Zahlreiche Neuropeptide sind an der Regulation der Nahrungsaufnahme beteiligt (. Tab. 23.1). Die peripheren Peptidhormone Leptin (anorexigen) und Ghrelin (orexigen) stellen wichtige, gegensätzlich wirkende, systemische Mediatoren in der neurobiologischen Regulation der Nahrungsaufnahme und Energiehomöostase dar. Leptin wird überwiegend im weißen Fettgewebe, in den Adipozyten, gebildet und pulsatil sezerniert. Die Höhe des Serum-Leptinspiegels ist abhängig von der Körperfettmasse und der Energiezufuhr (positive Korrelation). Ghrelin wird hauptsächlich in enteroendokrinen Zellen des Magens, aber auch im übrigen Magen-Darm-Trakt synthetisiert. Im Fastenzustand korrelieren Ghrelinspiegel negativ mit dem BMI und der Körperfettmasse. Die Ghrelinspiegel und in geringerem Maße auch die Leptinspiegel unterliegen einem vermutlich von der Nahrungszufuhr abhängigen, zirkadianen Rhythmus. Vor den Mahlzeiten steigt die Ghrelinkonzentration steil an und fällt zum Ende der Nahrungsaufnahme wieder ab. Dieses deutet auf eine Rolle von Ghrelin zur Initiierung von Mahlzeiten hin.
. Tab. 23.1. Wichtige zentrale und periphere Neuropeptide der Gewichtsregulation Neuropeptide der Gewichtsregulation Anorexigen
Orexigen
Zentral
Melanozytenstimulierendes Hormon (α-MSH) Kortikotropinfreisetzendes Hormon (CRH)
Neuropeptid Y (NPY) Agouti-related-Peptid (ArGP) Melaninkonzentrierendes Hormon (MCH)
Peripher
Leptin Peptid YY
Ghrelin
138
Kapitel 23 · Neurohormone und Neurotransmitter
Nahrungsaufnahme
21 22
Hypothalamus
23
Orexin
MCH
α-MSH
NPY
24
CRH
Nucleus arcuatus Lateraler Hypothalamus
25
NPY/ ArGP
POMC/CART
Neurone
Neurone
. Vereinfachte Darstellung der neuroendokrinen Regulationsmechanismen der Gewichtsregulation während des Fastenzustands; gestrichelte Linien: hemmende Einfl flüsse, Fettdruck: appetitsteigernde Wirkung
Paraventrikulärer Nucleus
26 27 28
Glukose
Leptin
Ghrelin
Peptid YY N. vagus
29
Blut
Weißes Dünndarm
Fettgewebe
Magen
30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Fasten
! Der wichtigste anatomische Locus der Gewichtsregulation ist der Hypothalamus.
Leptin bewirkt wahrscheinlich eine Deaktivierung von NPY-/AgRP-Neuronen und eine Aktivierung von Proopiomelanokortin-/Cocaine-amphetamine-regulated-transcript-Neuronen (POMC/ CART-Neurone) mit der Folge einer Reduktion der hochpotenten orexigenen Neuropeptide NPY und AgRP und einer Erhöhung des anorexigenen α-MSH. Neben dem anorexigenen Effekt ff initiiert Leptin auch eine Steigerung des Energieverbrauchs, der Thermogenese und der Lipolyse. Ghrelin bindet wahrscheinlich über GH-sekretagoge Rezeptoren ebenfalls an NPY-/AgRP- sowie an POMC/CART-Neurone im Nucleus arcuatus. Im Gegensatz zu Leptin erhöht Ghrelin die Sekretion der orexigenen Neuropeptide NPY und AgRP und hemmt POMC-/CART-Neurone. Im Fastenzustand sind steigende Ghrelin- zusammen mit fallenden Leptinspiegeln wahrscheinlich entscheidend für die zentrale Induktion des Hungergefühls.
Die exakte physiologische Wirkung des in den endokrinen L-Zellen des distalen Dünndarms und im Kolon gebildeten Hormons Peptid YY (PYY) ist Gegenstand intensiver Forschung. Die PYY-Serumspiegel steigen postprandial steil an und bleiben für mehrere Stunden erhöht. Dieses legt nahe, dass der mahlzeitenbezogene PYY-Anstieg ein kurzfristig wirksames Sättigungssignal darstellt. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass eine intraventrikuläre Injektion von PYY bei der Ratte zu einer Stimulation der Nahrungsaufnahme führt.
23.1.1
Befunde bei Essstörungen
Die wichtigsten Befunde zu Veränderungen von Neuropeptiden bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) sind in . Tab. 23.2 zusammengefasst.
139
23.1 Neuropeptide und periphere Peptidhormone
23
. Tab. 23.2. Neuroendokrinologische Veränderungen bei AN und BN während der akuten Erkrankungsphase
Systemische Peptidhormone
AN
BN
Kommentar
Leptin i.S. Leptin i.S. direkt nach Gewichtsrehabilitation Leptin i.L. Löslicher Leptinrezeptor
relativ zum BMI
n ()
Während Gewichtsrehabilitation frühzeitige Normalisierung des Leptins i.S. in Abhängigkeit von der Gewichtszunahme; Hyperleptinämie evtl. Risikofaktor für erneute Gewichtsabnahme
Ghrelin i.S. Ghrelin postprandial
n
(ausbleibender Abfall)
PYY i.S. im Fastenzustand PYY i.S. postprandial
n
n (ausbleibender Anstieg)
Bedeutung bei AN unklar Bei BN könnte eine ausbleibende anorexigene (PYY; CCK) und eine protrahierte orexigene Stimulation (Ghrelin) Essanfälle begünstigen
n oder (ausbleibender Anstieg) Cholezystokinin i.S. postprandial
Neuropeptide
NPY i.L.
n
Opiatsystem
β-Endorphin i.L. β-Endorphin in T-Lymphozyten: restriktive AN Binge-/Purging-AN
n
Dopaminerges System
Dopaminmetabolit i.L.
n ()
Noradrenerges System
Noradrenalin i.S. Noradrenalin i.L.
akut: n geheilt: akut:
Bedeutung im Hinblick auf Essstörung unklar. Verminderte noradrenerge Aktivität auch bei erhöhter Depressivität
5-HIES i.L.
akut: geheilt:
akut: n geheilt:
Regionale 5-HT1A-Rezeptorbindung
akut: n– geheilt:
akut: geheilt:
Regionale 5-HT2A-Rezeptorbindung
akut: n– geheilt:
akut: n geheilt:
Anhaltende Auffälligkeiten ff bei geheilter AN und BN als Hinweis auf gemeinsame, intrinsische Vulnerabilität im Bereich des Serotoninsystems
Noradrenalinmetabolite i.U.
Serotonerges System
Die pathophysiologische Bedeutung dieser Befunde ist nicht klar. Eine verminderte zentrale Opiataktivität könnte zur Inhibition der Nahrungsaufnahme beitragen Die pathophysiologische Bedeutung dieser Befunde ist nicht klar
erhöht, erniedrigt, n normal, i.L. im Liquor, i.S. im Serum PYY Peptid YY, CCK K Cholezystokinin, 5-HIES 5-Hydroxyindolessigsäure, 5-HTT Serotonin Befunde bei ehemaligen Patientinnen mit überwundener Essstörung sind besonders gekennzeichnet (geheilt).
140
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Kapitel 23 · Neurohormone und Neurotransmitter
Leptin Das anorexigen wirkende Leptin spielt eine wichtige Rolle in der hypothalamischen Steuerung der Gewichtsregulation. Unbehandelte AN-Patientinnen im Akutzustand der Erkrankung weisen aufgrund des verminderten Körperfettgehalts und der geringen Nahrungszufuhr erniedrigte LeptinSerum- und Liquorspiegel auf. Während der stationären Behandlung steigen die Leptinspiegel in Abhängigkeit vom prämorbiden Gewicht und der Geschwindigkeit der Gewichtszunahme bei Patientinnen mit AN an und sind am Zielgewicht bei einem Teil der Patientinnen im Verhältnis zum BMI und der Körperfettmasse deutlich erhöht. Ein steiler Leptinanstieg könnte zu Schwierigkeiten bei der weiteren Gewichtszunahme führen, und hohe Leptinspiegel bei Entlassung aus stationärer Behandlung scheinen einen Risikofaktor für eine erneute kurzfristige Gewichtsabnahme darzustellen. ! Ein steiler Anstieg der Leptinwerte während der Gewichtsrehabilitation könnte zu Schwierigkeiten mit der Aufrechterhaltung des Zielgewichts führen.
Bei 50‒80 der AN-Patientinnen und einem Teil der BN-Patientinnen tritt im Verlauf des akuten Erkrankungsstadiums exzessive körperliche Aktivität auf. Als ein biologisches Modell erhöhter körperlicher Aktivität während des Fastenzustands gilt die semistarvationsinduzierte Hyperaktivität von Ratten. Diese Verhaltensänderung von Ratten unter Nahrungsrestriktion scheint durch das fastenbedingte Absinken des Leptinspiegels vermittelt zu werden. Die Verabreichung von rekombinantem Leptin bei Ratten führt zu einer kompletten Unterdrückung der starvationsinduzierten Hyperaktivität. Bei anorektischen Patientinnen korreliert im Akutstadium der Erkrankung ein niedriger Leptinspiegel mit einem hohen Maß an exzessiver körperlicher Bewegung und körperlicher Unruhe. Dieses legt nahe, dass auch bei Patientinnen mit Essstörungen ein erniedrigter Leptinspiegel an der Entstehung einer erhöhten körperlichen Aktivität beteiligt sein könnte. Die Mehrzahl der Patientinnen mit BN weist im Akutzustand der Erkrankung normale Leptinwerte auf. Einige Patientinnen hingegen zeigen trotz normalem BMI verringerte Leptinkonzentra-
tionen. Ein Teil der Patientinnen weist auch nach Überwindung der BN niedrige Leptinwerte auf. Unklar ist weiterhin, ob hierbei ein Zusammenhang zu einem hohen prämorbiden Gewicht und einer Tendenz zur Gewichtszunahme besteht.
Ghrelin Die im Akutzustand der AN präprandial erhöhten Ghrelinwerte (orexigene Stimulation) normalisieren sich unter der Gewichtsrehabilitation. Bisher ist nicht klar, ob AN-Patientinnen im kachektischen Zustand eine Ghrelinresistenz aufweisen. Im Gegensatz zu normalgewichtigen Kontrollpersonen gaben anorektische Patientinnen keine Steigerung des Appetits nach Ghrelinapplikation an. Auf der anderen Seite wurden keine Unterschiede im postprandialen Abfall der Ghrelinspiegel im Verlauf der Gewichtszunahme anorektischer Patientinnen gefunden. Die Suppression der mahlzeitenbezogenen Ghrelinsekretion scheint bei anorektischen Patientinnen somit nicht durch die Nahrungsrestriktion und das Untergewicht vermindert zu sein. Patientinnen mit BN im Akutzustand der Erkrankung weisen normale oder erhöhte präprandiale Ghrelinspiegel auf. Der ausbleibende Abfall der Ghrelinspiegel bulimischer Patientinnen im Verlauf der Mahlzeiten weist auf eine gestörte Ghrelinsekretion im Magen-Darm-Trakt hin, die über eine anhaltende orexigene Stimulation das Auftreft ten von Essanfällen begünstigen könnte.
Peptid YY Untersuchungen zum PYY bei Patientinnen mit AN ergaben inkonsistente Ergebnisse. So wurden bisher sowohl erhöhte PYY-Konzentrationen im Akutstadium der AN als auch normale PYYSpiegel beschrieben. Ebenso kontrovers werden die Ergebnisse nach kurzfristiger und langfristiger Gewichtsrehabilitation diskutiert. Die Frage, ob erhöhten PYY-Konzentrationen (anorexigene Stimulation) eine pathophysiologische Bedeutung bei der AN zukommen, muss weiter untersucht werden. Akut erkrankte Patientinnen mit BN zeigen präprandial normale PYY-Konzentrationen, allerdings wurde ein verminderter Anstieg der PYYSpiegel bulimischer Patientinnen im Verlauf der Mahlzeiten beschrieben. Ähnlich dem Ghrelinsy-
141
23.2 Neurotransmitter
stem scheint die PYY-Sekretion im Magen-DarmTrakt bei akuter BN gestört zu sein und könnte über eine anhaltende orexigene Stimulation das Auftreft ten von Essanfällen begünstigen.
23
(Trait-Marker). Zunehmend gesicherte Erkenntnisse liegen diesbezüglich lediglich für das Serotoninsystem vor.
Serotonin 23.2
Neurotransmitter
Neben den Neuropeptiden sind die monoaminergen Neurotransmitter (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin) sowie Opiate an der Regulation der Nahrungsaufnahme beteiligt). Eine medikamentöse Erhöhung des intrasynaptischen 5-HT (Serotonin) oder eine direkte Aktivierung von 5-HT-Rezeptoren bewirkt eine Verringerung der Nahrungsaufnahme, wohingegen eine Minderung der serotonergen Neurotransmission mit einer gesteigerten Nahrungsaufnahme und Gewichtszunahme verbunden zu sein scheint. Im Gegensatz zu 5-HT bewirkt die zentrale Gabe von Noradrenalin über die Stimulation α-adrenerger Rezeptoren im paraventrikulären Hypothalamus eine gesteigerte Nahrungsaufnahme. Daneben scheint auch ein β-adrenerges sättigungsaktivierendes System im Bereich der pernifokalen Region des Hypothalamus zu existieren. Somit stimuliert oder inhibiert Noradrenalin in Abhängigkeit vom Stimulationsort die Nahrungsaufnahme. Die Applikation geringer Dosen von Dopamin regt die Nahrungsaufnahme an, wohingegen höhere Dosen anorexigene Wirkungen besitzen. Die Verabreichung von Opiatantagonisten führt zu einem beschleunigten Einsetzen des Sättigungsgefühls während der Mahlzeiten sowie zu einer Verminderung der hedonistischen Wertigkeit der Nahrungsaufnahme. Im Gegensatz hierzu bedingt die Applikation von Opiaten eine gesteigerte Nahrungszufuhr.
23.2.1
Befunde bei Essstörungen
Die wichtigsten Befunde zu Veränderungen von Neurotransmittern bei der AN und BN sind in . Tab. 23.1 zusammengefasst. Nur wenige Studien haben bisher untersucht, inwieweit Auff ffälligkeiten in Neurotransmittersystemen nach Überwindung der AN und BN persistieren. Störungen, die nach Remission der Erkrankung fortbestehen, könnten einer intrinsischen Vulnerabilität entsprechen
Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen wurden bei gewichtsrehabilitierten AN- und gesundeten BN-Patientinnen erhöhte Konzentrationen des 5-HT-Metaboliten 5-Hydroyindolessigsäure (HIES) im Liquor gemessen. PET-Untersuchungen ergaben zudem eine verminderte regionale 5-HT2ARezeptorbindung bei ehemals essgestörten Patientinnen. Diese Befunde könnten auf eine DownRegulation von 5-HT2A-Rezeptoren bei gesteigerter Serotoninaktivität hindeuten. Verminderte 5-HIESKonzentrationen im Liquor wurden, unabhängig von diagnostischen Grenzen, mit impulsiven, nicht geplanten aggressiven Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, erhöhte 5-HIES-Liquorspiegel hingegen mit einer gesteigerten Erwartung negativer Konsequenzen. Auch Temperamentsfaktoren wie Konfl fliktvermeidung, Verhaltensinhibition sowie Angst-, Zwangs- und depressive Störungen werden mit dem Serotoninsystem assoziiert. Bei Patientinnen, die in der Adoleszenz anorektische Symptome entwickelten, wurden bereits im Kindesalter die beiden Temperamentsfaktoren negativer Aff ffekt (depressive Stimmungslage) und Persistenz (Fähigkeit, bei einer Sache zu bleiben, aber auch rigide Verhaltensweisen) beschrieben. Ehemalige AN- und ein Teil von BN-Patientinnen zeichnen sich durch Zwanghaft ftigkeit, Perfektionismus und negativen Affekt ff aus. Verhaltensweisen, die bei anorektischen Patientinnen prämorbid und nach Überwindung der Essstörung beschrieben werden, scheinen denen ähnlich, die mit einem erhöhten 5-HIES-Liquorspiegel in Verbindung gebracht werden. Allerdings werden bei bulimischen Patientinnen auch impulsive Verhaltensweisen sowie Übergänge in Borderline-Persönlichkeitsstörungen gefunden, sodass möglicherweise unterschiedliche Subgruppen in Betracht gezogen werden müssen. In Übereinstimmung mit einem dysfunktionalen serotonergen Neurotransmittersystem stehen Befunde zur pharmakologischen Wirksamkeit von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei den Essstörungen. Empirisch gut belegt ist die Wirkung der SSRI bei der Reduktion von Ess-Brech-Anfällen bei der BN. Demgegen-
142
Kapitel 23 · Neurohormone und Neurotransmitter
21
über ist der Nutzen von SSRI im Rahmen der Rückfallprophylaxe der AN nicht gesichert.
22
Dopamin
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Die Ergebnisse zum Dopaminmetabolismus bei den Essstörungen sind uneinheitlich. Theoretisch Th könnte, ähnlich der Wirkung von Amphetaminen, eine gesteigerte zentrale dopaminerge Aktivität zu einer vermindertern Nahrungsaufnahme beitragen. Bei der AN wurden im Akutzustand aber entweder normale oder verringerte Werte des Dopaminmetaboliten Homovanillinmandelsäure gefunden, welche sich mit Gewichtsrehabilitation normalisierten. Es ist daher davon auszugehen, dass Veränderungen im dopaminergen System eher einer Folge und nicht einer Ursache der Essstörung entsprechen.
Noradrenalin Untersuchungen zum Noradrenalin ergaben normale oder verminderte Liquorspiegel bei der AN, wohingegen im Serum erhöhte Noradrenalinwerte gemessen wurden. Bei gewichtsrehabilitierten AN-Patientinnen fanden sich erniedrigte Noradrenalinspiegel in Liquor. Da eine Beziehung zwischen einer verminderten noradrenergen Aktivität und depressiven Symptomen besteht, könnten die Befunde einer verminderten noradrenergen Aktivität bei der AN auch durch anhaltende depressive Symptome erklärt werden.
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24 Bildgebende Verfahren bei Essstörungen Ursula Franziska Bailer 24.1
Anorexia nervosa
– 144
24.1.1 Computertomographie und Magnetresonanztomographie – 144 24.1.2 Magnetresonanzspektroskopie – 144 24.1.3 Positronenemissionstomographie, SinglePhoton Emission Computed Tomography – 145 24.1.4 Funktionelle Magnetresonanztomographie – 145 24.1.5 Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET – 146
24.2
24.3
Der Einsatz von modernen neuroradiologischen bzw. nuklearmedizinischen Untersuchungsmethoden in der Erforschung der Pathophysiologie von Essstörungen hat innerhalb des letzten Jahrzehnts einen zunehmenden Stellenwert erhalten. Es gibt mittlerweile zahlreiche Hinweise, dass Veränderungen im zentralnervösen Serotonin- und Dopaminstoff ffwechsel in der Pathogenese von Essstörungen eine Rolle spielen könnten. Diese Hinweise stammen allerdings v. a. aus Untersuchungen, die sich indirekter Methoden zur Charakterisierung zentralvervöser Neuotransmission bedienen, wie z. B. der Bestimmung der Konzentration von bestimmten Neurotransmittern bzw. von deren Abbauprodukten im Liquor oder der hormonellen Antwort auf bestimmte pharmakologische Stimulationstests. ! Bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns machen es möglich, sowohl die regionale Gehirnaktivität zu messen als auch die Funktion von Neurorezeptoren in vivo zu untersuchen und in weiterer Folge neuronale Regelkreise zu identifi fizieren, die zu essstörungsspezifi fischen Symptomen wie restriktives Essverhalten, Körperschemastörung, binge-purging etc. beitragen.
Bulimia nervosa – 148
24.2.1 Computertomographie und Magnetresonanztomographie – 148 24.2.2 Magnetresonanzspektroskopie – 148 24.2.3 Positronenemissionstomographie, Single-Photon Emission Computed Tomography – 148 24.2.4 Funktionelle Magnetresonanztomographie – 148 24.2.5 Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET – 148
Binge-Eating-Störung (Störung mit Essanfällen) – 148
Eine Reihe von Untersuchungsmethoden steht hierzu zur Verfügung. Strukturelle Untersuchungsmethoden wie Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) geben allgemein Auskunft ft über strukturelle Abweichungen des Gehirns, z. B. hinsichtlich des Volumens einzelner Gehirnregionen. Die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) erlaubt es, den Gehirnmetabolismus zu untersuchen, indem spezielle Metabolite identifi fiziert und quantifi fiziert werden können. Die Positronenemissionstomographie (PET), die Single-Photon Emission Computed Tomography (SPECT) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) erlaubt Aussagen über Veränderungen in der regionalen zerebralen Durchblutung oder im Glukosemetabolismus. Diese Untersuchungen können je nach Fragestellung entweder mit oder ohne Aktivierung durchgeführt werden, d. h. mit oder ohne einen spezifischen fi Provokationstest. Die Funktion von Neurotransmitterrezeptoren und -transportern kann mithilfe von SPECT und PET und entsprechenden spezifischen fi Radioliganden (sog. Tracer) untersucht werden.
144
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Kapitel 24 · Bildgebende Verfahren bei Essstörungen
24.1
Anorexia nervosa
24.1.1
Computertomographie und Magnetresonanztomographie
Aus CT- und MRT-Untersuchungen ist bekannt, dass Patientinnen mit Anorexia nervosa (AN) im erkrankten Zustand erweiterte Sulci und Ventrikel und ein vermindertes Gehirnvolumen haben. Es bleibt allerdings unklar, ob diese Abweichungen im erkrankten Zustand Veränderungen der weißen oder der grauen Substanz oder des extrazellulären Raums zuzuordnen sind. Des Weiteren ist nicht gesichert, ob es sich hier um generalisierte Veränderungen im Gehirn handelt oder ob es regionale Unterschiede gibt. Eine Untersuchung bei 13 jugendlichen anorektischen Patientinnen erbrachte eine generelle Reduktion der grauen und weißen Substanz und ein erhöhtes Liquorvolumen im Vergleich zu gesunden Kontrollen, während eine andere Untersuchung ein diffus ff erhöhtes Liquorvolumen fand, bei einer frontal und parietal betonten Reduktion der weißen, aber im Vergleich zu gesunden Kontrollen weitgehend unveränderten grauen Substanz. Die Veränderungen scheinen mit Normalisierung des Gewichts, v. a. für die weiße Substanz, wieder rückläufi fig zu sein. Ob diese Veränderungen jedoch komplett reversibel sind, ist noch nicht vollkommen geklärt. Es scheint allerdings nach länger bestehendem Normalgewicht (> 1 Jahr), normalisiertem Essverhalten, regulärem Menstruationszyklus zu einer kompletten Remission der Atrophie zu kommen, wie in einer neueren Studie gezeigt werden konnte. Der bei AN bekannte Hyperkortisolismus könnte eine Rolle in der Ätiologie der Atrophie spielen, da eine positive Korrelation von freiem Kortisol im Urin mit dem Liquorvolumen sowie eine inverse Korrelation mit dem Volumen der grauen Substanz gefunden wurde.
Fazit Die gefundenen strukturellen Veränderungen scheinen eher unspezifisch fi zu sein, zumindest konnte sich in den bisherigen Untersuchungen kein Zusammenhang mit neuropsychologischen Variablen wie Ängstlichkeit, Depressivität, Aufmerksamkeit oder Gedächtnis finden. Ebenso scheint die im erkrankten Zustand bestehende Atrophie im Rahmen einer längeren Remission und Gewichtsnormalisierung vollkommen reversibel zu sein.
24.1.2
Magnetresonanzspektroskopie
Die MRS gibt Auskunft ft über eine mögliche Nervenzellschädigung, indem Metabolite wie Cholin enthaltende Substanzen, N N-Acetylaspartat (NAA), Kreatin und Phosphokreatin, Glutamat/Glutamin und Myo-Inositol bestimmt werden. Bei jugendlichen Anorexiepatientinnen wurden erhöhte Cholin enthaltende Substanzen im Verhältnis zu Kreatin gefunden, während das Verhältnis NAA:Cholin in der okzipitalen weißen Substanz erniedrigt war. Diese Veränderungen, die im Sinne eines gestörten Zellmembranumsatzes interpretiert werden können, waren nach Gesundung der Patientinnen reversibel. Zwei andere Studien ergaben einerseits reduzierte Werte für Phospholipide in frontalen und okzipitalen Regionen, die wiederum positiv mit dem Body-Mass-Index (BMI) korrelierten, andererseits eine positive Korrelation zwischen dem reduzierten Myo-Inositol in der frontalen weißen Substanz und dem BMI. Reduzierte Werte für NAA und Kreatin im dorsolateralen präfrontalen Kortex scheinen mit einer, v. a. für NAA zutreffenden, verminderten Aufmerksamkeitsleistung bei diesen Patientinnen einherzugehen.
145
24.1 Anorexia nervosa
24.1.3
Positronenemissionstomographie, SinglePhoton Emission Computed Tomography
Ohne Aktivierung Der Großteil der Studien verwendete SPECT zur Messung der zerebralen Durchblutung. Hier konnte eine Hypoperfusion im Temporallappen bei 13 von insgesamt 15 untersuchten Patientinnen mit AN gefunden werden, die weiter bestand, nachdem die Patientinnen an Gewicht zugenommen hatten. In einem Fallbericht von zwei Patientinnen mit AN zeigte sich eine bilaterale Hypoperfusion in frontalen, temporalen und parietalen Regionen, die sich nach dreimonatiger Remission der Essstörung zurückbildete. Ebenfalls eine Hypoperfusion im medialen präfrontalen Kortex, im anterioren Zingulum, in der Inselregion sowie im temporoparietalen, okzipitalen und orbitofrontalen Kortex konnte von anderen Studien mit vergleichsweise größeren Fallzahlen bestätigt werden. Lediglich eine Studie fand bisher eine Hyperperfusion im Th Thalamus und im Bereich der Amygdala und des Hippokampus. Es gibt bisher nur eine PET-Studie zur Darstellung des zerebralen Blutfl flusses bei erkrankten AN-Patientinnen. In dieser Studie konnte im Gegensatz zu den SPECT-Studien kein signifikanter fi Unterschied zu gesunden Kontrollen festgestellt werden, weder im Sinne einer Hypo- noch einer Hyperperfusion in den oben erwähnten Regionen. Inwieweit die in den bisher durchgeführten SPECT-Studien gefundene Hypoperfusion in verschiedenen Regionen auch eine Folge von methodischen Unterschieden ist, muss weiter geklärt werden. Verlaufsuntersuchungen, die Patientinnen im untergewichtigen Zustand und nach stattgehabter Gewichtszunahme eingeschlossen hatten, zeigten generell eine Zunahme der Perfusion im dorsolateralen und medialen präfrontalen Kortex und mit Einschränkungen im anterioren Zingulum. Eine völlige Normalisierung scheint ebenfalls nach länger andauernder Remission der Essstörung (> 1 Jahr) einzutreten, ähnlich der Untersuchung bezüglich zerebraler Atrophie. Eine Reihe von Untersuchungen mittels PET widmete sich dem Glukosemetabolismus bei ANPatientinnen und fand einen frontalen und parietalen Hypometabolismus im erkrankten Zustand, der
24
sich nach stattgehabter Gewichtszunahme normalisierte. Fazit In bisherigen Untersuchungen zu zerebraler Durchblutung und Glukosemetabolismus wurden bei AN im erkrankten Zustand v. a. Veränderungen im Sinne einer Hypoperfusion bzw. eines Hypometabolismus in frontalen, temporalen und parietalen Regionen gefunden. Eine Normalisierung nach stattgehabter Gewichtszunahme scheint einzutreten. Kleine Fallzahlen, fehlende Unterteilung in die Subtypen der AN (restriktiver vs. bulimischer Typ) sowie methodische Unterschiede machen eine abschließende Beurteilung insbesondere für den erkrankten Zustand schwierig.
Mit Aktivierung Es gibt nur wenige PET- oder SPECT-Studien, die einen Provokationstest verwendeten, um die neuronale Aktivität zu untersuchen. Der Verzehr von Kuchen brachte bei AN-Patientinnen im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine erhöhte Gehirnaktivität in frontalen, parietalen, temporalen und okkzipitalen Regionen. Das alleinige Betrachten von Nahrung zeigte bei AN-Patientinnen vom bulimischen Typus eine erhöhte Aktivität rechts parietal und präfrontal im Vergleich zu gesunden Kontrollen und AN-Patientinnen vom restriktiven Typus. In einer PET Untersuchung führte die Betrachtung von hochkalorischen Nahrungsmitteln zu größerer temporookzipitaler Aktivierung im Vergleich zur Betrachtung von niederkalorischer Nahrung.
24.1.4
Funktionelle Magnetresonanztomographie
Auch mithilfe der fMRT wurden Untersuchungen durchgeführt, bei denen das Betrachten von Nahrungsmitteln als Stimulus eingesetzt wurde. Das Betrachten von Bildern hochkalorischer Nahrungsmittel provozierte bei AN-Patientinnen Angst und führte auch zu einer Aktivierung im linken mesiotemporalen Kortex, in der linken Inselregion und in beiden anterioren Zinguli. Eine verminderte neuronale Aktivität in der Inselregion auf einen
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Kapitel 24 · Bildgebende Verfahren bei Essstörungen
Geschmacksstimulus hin (Saccharose vs. Wasser) deutet hier ebenfalls auf eine Veränderung in der Geschmackswahrnehmung bei diesen Patientinnen hin. Weitere Studien haben gezeigt, dass das Betrachten von Nahrungsmitteln bei Patientinnen mit AN, verglichen mit gesunden Kontrollen, zu einer höheren Aktivierung im linken medialen orbitofrontalen Kortex und im anterioren Zingulum führt, aber zu einer geringeren Aktivierung im lateralen präfrontalen Kortex, im inferioren Parietallappen und im Kleinhirn. Dieses Phänomen trifft fft sowohl für Patientinnen im erkrankten als auch im remittierten Zustand zu und deutet damit auf ein vom Erkrankungszustand unabhängiges Merkmal hin. Die erhöhte Aktivierung auf störungsspezifi fische Reize im medialen präfrontalen Kortex und im anterioren Zingulum zeigt Parallelen zu Zwangs- und Abhängigkeitserkrankungen, sodass dieses Phänomen am ehesten dem zwanghaften ft Verhalten dieser Erkrankungen zuzuordnen ist. Körperschemastörungen spielen in der Pathophysiologie von Essstörungen eine wichtige Rolle, sodass sich auch bildgebende Verfahren mittels fMRT dieser Thematik gewidmet haben. So zeigte bei Patientinnen mit AN das Betrachten des eigenen, aber durch entsprechende Techniken digital verzerrten Körpers eine vermehrte Aktivierung in Regionen, die dem frontalen visuellen System und dem Aufmerksamkeitsnetzwerk (Brodmann-Areal 9) sowie dem inferioren Parietallappen zuzuordnen sind, während das Betrachten von entsprechend verzerrten Körpern anderer Personen zu keiner solchen spezifischen fi Aktivierung führte. Im Vergleich hierzu zeigten gesunde Kontrollen in dieser Versuchsdurchführung keine entsprechende Differenzierung. ff Hier scheinen also Patientinnen mit AN im Vergleich zu gesunden Kontrollen ein unterschiedliches visuell-räumliches Verarbeiten von Reizen zu haben. Eine weitere Studie zur Untersuchung des Belohnungssystems konnte zeigen, dass remittierte Patientinnen vom restriktiven Typus der AN im Vergleich zu gesunden Kontrollen Schwierigkeiten haben, zwischen positivem und negativem Feedback zu differenzieren ff und darüber hinaus die emotionale Bedeutung eines Stimulus wahrzunehmen. Vielmehr scheinen die Patientinnen eine erhöhte Aktivität in Gehirnarealen zu haben, die mit Planung und Konsequenzen assoziiert sind.
Fazit Es ist schwierig, die verschiedenen fMRT-Untersuchungen bei AN zu vergleichen, da sich die Studien sowohl hinsichtlich der Methodik der Bildgebung als auch hinsichtlich des verwendeten Stimulus unterscheiden und auch die Fallzahlen relativ gering sind. Dennoch scheinen sich gesunde Kontrollen und AN-Patientinnen v. a. in der Aktivität im temporalen Kortex und im Zingulum zu unterscheiden. Diese Regionen sind maßgeblich in der Regulation von Emotionen und Angst beteiligt. Inwieweit diese Veränderungen spezifisch fi für AN sind, muss weiter gekärt werden, da ähliche Veränderungen auch bei Zwangserkrankungen gefunden wurden. Auch die Aktivität im parietalen Kortex scheint eine Region zu sein, die Patientinnen mit AN von gesunden Kontrollen unterscheidet und damit eine mögliche Erklärung für die veränderte Körperwahrnehmung darstellt.
24.1.5
Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET
Die Verwendung von spezifischen fi Radioliganden in Verbindung mit SPECT oder PET ermöglicht es, serotonerge bzw. dopaminerge Rezeptoren im Gehirn darzustellen und in weiterer Folge ein besseres Verständnis für die Neurotransmitteraktivität und deren Beziehung zu menschlichem Verhalten zu entwickeln. Für das serotonerge System existieren mehrere Radioliganden, und der am häufigsten untersuchte Rezeptor ist der Serotonin(5HT)2A-Rezeptor, ein postsynaptischer Rezeptor, der sowohl in die Regulation von Nahrungsaufnahme, Stimmung und Angst involviert ist als auch bei der Wirkung von Antidepressiva eine Rolle spielt. Hier konnte gezeigt werden, dass Patientinnen sowohl im erkrankten Zustand als auch nach Remission eine erniedrigte 5-HT2A-Rezeptorbindung aufweisen. Remittierte AN-Patientinnen vom bulimischen Typus zeigen hier im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine reduzierte Bindung im subgenualen Zingulum sowie im parietalen und okzipitalen Kortex. Remittierte Patientinnen vom
147
24.1 Anorexia nervosa
24
. Tab. 24.1. Rezeptor- und Transporterbindungspotenzial bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa in Remission im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. (Aus Kaye 2008, © Elsevier, mit freundlicher Genehmigung) AN
AN-BN
BN
Untersuchte Region
Medialer orbitofrontaler Kortex, subgenuales Zingulum, medialer temporaler Kortex
5-HT1A-BP
–
5-HT2A-BP
–
Untersuchte Region
Anteriores ventrales Striatum
5-HTT-BP
–
D2/D3-BP
–
BP Rezeptor- und Transporterbindungspotenzial, 5-HTT1A Serotonin1A-Rezeptor, 5-HTT2A Serotonin2A-Rezeptor, 5-HTT Serotonintransporter, D2/D3 Dopamin-D2/D3-Rezeptor AN N restriktiver Typus der Anorexia nervosa, AN-BN N bulimischer Typus der Anorexia nervosa, BN N Bulimia nervosa erhöht; reduziert, – unverändert
restriktiven Typus zeigen eine zusätzliche reduzierte Bindung im mesiotemporalen Kortex. Ein weiterer Serotoninrezeptor ist der 5-HT1ARezeptor, ein prä- und postsynaptischer Rezeptor, der ebenfalls in der Regulation von Angst, Stimmung, Impulsivität und Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle spielt und eine maßgebliche Funktion in der Wirkung von Antidepressiva ausübt. Hier konnte gefunden werden, dass remittierte AN-Patientinnen vom bulimischen Typus eine im Vergleich zu gesunden Kontrollen signifikant fi erhöhte 5-HT1A-Bindung in frontalen, präfrontalen, temporalen und parietalen Regionen sowie im supraund prägenualen Zingulum und in den dorsalen Raphekernen aufweisen. Remittierte AN-Patientinnen vom restriktiven Typus unterschieden sich in der 5-HT1A-Bindung hingegen statistisch nicht signifk fkant von gesunden Kontrollen. Im erkrankten Zustand ist die 5-HT1A-Rezeptorbindung sowohl prä- als auch postsynaptisch noch deutlicher ausgeprägt. Dies könnte eine mögliche Ursache für das bekanntlich fehlende Ansprechen der AN auf z. B. selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) im erkrankten Zustand sein, da hier eine für die Wirkung von SSRI maßgebliche Down-Regulation der 5-HT1A-Rezeptoren nicht in ausreichendem Maß möglich sein könnte. Remittierte AN-Patientinnen vom restriktiven Typus zeigten eine erhöhte Serotonintransporter(5HTT)-Bindung, während remittierte AN-Patientinnen vom bulimischen Typus eine erniedrigte
5-HTT-Bindung aufwiesen. Bezüglich der dopaminergen D2-/D3-Bindung wiesen nur remittierte AN-Patientinnen vom restriktiven Typus im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine erhöhte D2-/ D3-Bindung im anterioren ventralen Striatum auf (. Tab. 24.1). Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass gewisse Merkmale, die häufi fig bei Patientinnen mit Essstörungen zu fi finden sind, wie z. B. harm avoidance (ein Maß für Ängstlichkeit) oder der Drang, dünn zu sein, mit diesen oben erwähnten neuronalen Veränderungen korrelieren. Fazit Es ist anzunehmen, dass die gefundenen Veränderungen eine komplexe Dysregulation dieser neuronalen Schaltkreise widerspiegeln und weniger die exakte Ätiologie darstellen. Die bisherigen Untersuchungen zeigen allerdings eine serotonerge und dopaminerge Dysregulation in Gehirnregionen, die dem limbischen System zuzuordnen sind. Im Allgemeinen scheinen diese Veränderungen sowohl im erkrankten als auch im remittierten Zustand vorhanden zu sein. Das jeweilige 5-HT-Rezeptorbindungsmuster unterscheidet sich bei den unterschiedlichen Essstörungssubtypen im remittierten Zustand (. Tab. 24.1), sodass es möglich erscheint, dass sich hinter jedem Essstörungssubtyp eine eigene Pathophysiologie 6
148
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Kapitel 24 · Bildgebende Verfahren bei Essstörungen
verbirgt. Ähnliche Bindungsmuster (d. h. erhöhte 5-HT1A- und reduzierte 5-HT2A-Bindung) wurden auch in anderen Gehirnarealen – also in temporalen, zingulären und parietalen Gehirnregionen – gefunden und deuten damit auf eine Verteilung auch jenseits des limbischen Systems hin.
24.2
Bulimia nervosa
24.2.1
Computertomographie und Magnetresonanztomographie
27 28 29 30 31
Einige wenige Studien haben hypophysäre Veränderungen, Hirnatropie und Erweiterung der Liquorräume gefunden. Ein Rückschluss auf Ätiologie oder Auswirkung dieser Veränderungen ist jedoch kaum möglich, da diese Veränderungen wohl maßgeblich den kurzfristigen Schwankungen der Nahrungsaufnahme unterliegen.
24.2.2
32 33 34
Magnetresonanzspektroskopie
24.2.3
37 38 39 40
Mit Aktivierung Vor einer Mahlzeit zeigten BN-Patientinnen eine größere rechts(inferior)-frontale und links-temporale Durchblutung im Vergleich zu gesunden Kontrollen, aber eine ähnliche Aktivierung nach der Testmahlzeit.
24.2.4
Positronenemissionstomographie, SinglePhoton Emission Computed Tomography
Funktionelle Magnetresonanztomographie
In einer fMRT-Studie mit einem Geschmacksstimulus (Glukose vs. künstlicher Speichel als Kontrollsubstanz) zeigten remittierte BN-Patientinnen im Vergleich zu gesunden Kontrollen eine verminderte Aktivierung im anterioren Zingulum. Da diese Region eine Rolle in der Antizipation von möglicher Belohnung spielt, könnte die verminderte Aktivierung ein Zeichen einer verminderten Antizipation von Belohnung bei BN-Patientinnen sein und sie daher vulnerabel für das sog. Überessen machen.
24.2.5 Hier zeigte sich in einer gemischten Gruppe von AN und BN-Patientinnen eine präfrontale Verminderung von Myo-Inositol und lipidhaltigen Substanzen. Ob diese Veränderungen jedoch für die Bulimie spezifisch fi waren, bleibt unklar.
35 36
en gezeigt werden, dass sich die regionale zerebrale Durchblutung wieder normalisierte.
Neurotransmitterstudien mittels SPECT und PET
Während sich die 5-HT2A-Bindung sowohl im remittierten als auch im erkrankten Zustand nicht von gesunden Kontrollen unterscheidet, konnte nachgewiesen werden, dass die 5-HT1A-Bindung in beiden Fällen erhöht ist. Die Funktion des Serotonintransporters scheint im erkrankten Zustand vermindert zu sein, sie zeigt jedoch im remittierten Zustand keine Veränderung im Vergleich zu gesunden Kontrollen (. Tab. 24.1).
Ohne Aktivierung Im erkrankten Zustand konnte ein global reduzierter Blutfluss fl mittels PET gefunden werden, wobei ein signifi fikanter Unterschied zu gesunden Kontrollen im parietalen Kortex auftrat ft . Depressive Symptome korrelierten in einer anderen Studie mit dem regionalen Blutfluss fl im linken anterolateralen präfrontalen Kortex. Nach Remission der Erkrankung konnte in zwei Studi-
24.3
Binge-Eating-Störung (Störung mit Essanfällen)
Die Zahl der Studien in dieser Erkrankungsgruppe ist minimal. Bisher konnnte eine Lateralisierung des Blutflusses fl (rechts > links) gefunden werden bei Stimulation mit einem visuellen Stimulus (Nahrung). Ebenfalls scheint die Serotonintransporter-
24.3 Binge-Eating-Störung (Störung mit Essanfällen)
aktivität im erkrankten Zustand, ähnlich zur Bulimie, reduziert zu sein. Fazit Es gibt derzeit deutliche, in vielen Bereichen auch ausreichend replizierte Hinweise auf eine gestörte Hirnfunktion bei Essstörungen. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Veränderungen der Hirnfunktion v. a. in frontalen, temporalen, zingulären und parietalen Regionen im erkrankten Zustand zu fi finden sind, aber häufi fig nach Remission der Erkrankung persistieren. Hier stellt sich die Frage, ob die Veränderungen, die man im remittierten Zustand findet, gewissermaßen eine »Narbe« darstellen, die durch die chronische Fehl- und Unterernährung oder andere Faktoren im erkrankten Zustand verursacht wurde. Dies kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, und solche Fragen lassen sich mittels Querschnittstudien nicht ausreichend beantworten. Allerdings zeigen die Ergebnisse aus Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren deutliche Beziehungen zu Verhaltensweisen, wie z. B. Ängstlichkeit, von denen man weiß, dass sie bereits prämorbid bestanden hatten und nach Remission der Erkrankung persistieren. Bildgebende Verfahren zur Darstellung der Gehirnfunktion bei Essstörungen ermöglichen es, das Wissen über mögliche zugrunde liegende pathophysiolgische Zusammenhänge zu erweitern und auch in weiterer Folge entsprechende Hypothesen zu testen.
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149
24
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151
Medizinische Aspekte und somatische Komorbidität 25
Medizinische Komplikationen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa – 152
26
Gynäkologische Aspekte bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa – 158
27
Essstörungen und Diabetes mellitus
– 164
25
25
22
Medizinische Komplikationen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
23
Hans-Christoph Friederich
24
25.1
Körperliche Beschwerden und Laborparameter – 152
25
25.2
Organmanifestationen
21
26
25.2.4 Haut und Zähne – 155 25.2.5 Endokrinium – 155 25.2.6 Niere, Wasser- und Elektrolythaushalt
– 156
– 153
25.2.1 Kardiovaskuläres System – 153 25.2.2 Skelettsystem – 154 25.2.3 Gastrointestinaltrakt – 154
25.3
Medizinische Komplikationen der beiden Essstörungen Anorexia (AN) und Bulimia nervosa (BN) ergeben sich zum einen aus den Maßnahmen zur Gewichtsregulation wie selbstinduziertes Erbrechen oder auch Laxanzien- und Diuretikamissbrauch sowie dem v. a. bei AN-Patientinnen vorliegenden massiven Untergewicht. Ferner stellen Komplikationen in der Auffütterungsphase ff von schwer kachektischen Patientinnen (BMI < 14 kg/m2) ein medizinisches Problem dar (Refeeding-Syndrom), auf das am Ende dieses Kapitels gesondert eingegangen wird. Schwer wiegende medizinische Komplikationen mit Todesfolge sind häufi figer bei Patientinnen mit AN als mit BN anzutreffen. ff In einem Beobachtungszeitraum von 21 Jahren nach initial stationärer Behandlung betrug die Mortalitätsrate der AN-Patientinnen 16. Die häufi figsten medizinischen Todesursachen in dieser Langzeituntersuchung waren Infektionen (Pneumonie, Sepsis) sowie kardiovaskuläre Komplikationen aufgrund von Dehydratation und Elektrolytverschiebungen. AN-Patientinnen vom Purging-Typus weisen eine ungünstigere Gesamtprognose auf als AN-Patientinnen vom restriktiven Typus.
25.1
Das Auff ffütterungssyndrom (Refeeding-Syndrom) – 156
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
! Die AN zählt zu den häufigsten fi Todesursachen junger Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren.
Körperliche Beschwerden und Laborparameter
Charakteristisch für essgestörte Patientinnen in der Anfangsphase der Erkrankung ist eine mangelnde bis fehlende Krankheitseinsicht. Die ersten Kontakte mit Behandlern finden fi daher häufi figer aufgrund von körperlichen Folgeerscheinungen statt als aufgrund der Essstörung selbst. Medizinern kommt daher eine wichtige Funktion in der Früherkennung und Planung des weiteren Behandlungsprozederes bei Patientinnen mit Essstörungen zu. Das Spektrum der berichteten körperlichen Beschwerden ist sehr groß. . Tab. 25.1 fasst die am häufigsten fi genannten Symptome und Beschwerden von AN- und BN-Patientinnen zusammen. ! Essgestörte Patientinnen suchen aufgrund von körperlichen Beschwerden i. d. R. zunächst Allgemeinmediziner, Internisten, Gynäkologen, Orthopäden und Zahnärzte auf; dabei wird häufig versucht, die Essstörung zu verheimlichen. fi
Laborchemisch zeigen sich bei Patientinnen mit einer Anorexie zahlreiche Veränderungen. Diese umfassen u. a. 5 Störungen der Blutbildung im Knochenmark (z. B. Anämie, Leukopenie mit relativer Lymphozytose), 5 Enzymanstieg verschiedener Organe (z. B. Transaminasen, Speichelamylase),
25
153
25.1 Körperliche Beschwerden und Laborparameter
. Tab. 25.1. Häufi fige körperliche Beschwerden essgestörter Patientinnen Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
Schwindel, Kollapsneigung, Akrozyanose
+
–
Kälteempfindlichkeit, fi Hypothermie
+
–
Abdominelle Beschwerden, Obstipation
+
+
Sodbrennen, Schmerzen im Rachenbereich
+*
+
Parotisschwellung
+*
+
Amenorrhö, Fertilitätsstörung
+
(+)
Apathie, Konzentrationsstörung
+
+
Muskelschwäche, Muskelkrämpfe
+
(+)
Skelettschmerzen bei Belastung
+
–
Zahnschäden, Hypersensitivität der Zähne
+*
+
Trockene Haut, Hyperpigmentation
+
(+)
Lanugobehaarung, Haarausfall
+
–
Schlafstörung mit Früherwachen
+
–
+ häufig, fi (+) selten, * nur bei Erbrechen
5 Verschiebung der Elektrolyte (z. B. Hypokaliämie, Hypophosphatämie) sowie 5 multiple hormonelle Veränderungen. Die laborchemischen Veränderungen sind unspezifisch, fi geben jedoch Auskunft ft über den Schweregrad und das medizinische Risiko des Starvationsprozesses bzw. des Purging-Verhaltens. Besonders gefährdet sind essgestörte Patientinnen durch rasch auft ftretende Elektrolytveränderungen. Durch das Purging-Verhalten mit selbstinduziertem Erbrechen kommt es zu einem Kalium- und Chloridverlust. Die missbräuchliche Einnahme von Diuretika und Laxanzien zur Gewichtsregulation kann durch Kaliumverluste über Niere und Darm eine Hypokaliämie zusätzlich verkomplizieren. Ferner besteht bei AN-Patientinnen ein erhöhtes Risiko für das Auft ftreten einer Hypomagnesiämie. Die genannten Elektrolytveränderungen können zu schwer wiegenden Komplikationen führen wie Herzrhythmusstörungen, verminderte Darmmotilität, Niereninsuffi ffizienz und zerebrale Krampfanfälle. Nicht selten substituieren essgestörte Patientinnen Elektrolyte und Vitamine ohne ärztliche Absprache, sodass bei fehlenden Elektrolytverän-
derungen ein laborchemisch wirksames PurgingVerhalten nicht ausgeschlossen werden kann. Ein weiterer laborchemischer Hinweis für häufi figes Erbrechen ist eine Hyperamylasämie (Speichelamylase) bzw. eine beidseitige Parotisschwellung. Sofern eine Hypokaliämie auf eine Kaliumsubstitution nicht anspricht, sollte der Magnesiumspiegel überprüft ft werden. Eine Hypomagnesiämie kann den Anstieg von Kalium trotz Substitution verhindern. ! Ein besonderes Risiko für das Auftreten einer schweren Hyokaliämie besteht durch das Zusammenwirken von Erbrechen und gleichzeitigem Missbrauch von Diuretika und/oder Laxanzien.
Infekte und Entzündungen werden bei untergewichtigen, essgestörten Patientinnen häufi fig spät erkannt. Ursächlich hierfür ist, dass AN-Patientinnen in der Mehrzahl nicht die zu erwartenden Infektzeichen wie febrile Temperaturen, Tachykardie und erhöhte Entzündungsparameter zeigen. In der Beurteilung der Infektzeichen und -parameter sollte daher darauf geachtet werden, dass AN-Pati-
154
21 22
Kapitel 25 · Medizinische Komplikationen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
entinnen häufi fig einen verminderten Anstieg der genannten Parameter zeigen, ausgehend von niedrigen Ausgangswerten.
Organmanifestationen
23
25.2
24 25
Im Folgenden wird auf medizinische Komplikationen an den einzelnen Organsystemen näher eingegangen. Die starvationsbedingten Veränderungen können an allen Organen auftreten. ft
26
25.2.1
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Kardiovaskuläres System
Eine Gewichtsabnahme führt unabhängig von einer Essstörung als physiologischer Adaptationsprozess an ein vermindertes Energieangebot zur Sinusbradykardie, zur Abnahme des Schlagvolumens sowie zum Abfall des systolischen und diastolischen Blutdrucks. Aufgrund der Hypovolämie kann es beim raschen Lagewechsel aus dem Liegen zum Stehen zu einer orthostatischen Hypotension bis hin zum Kollaps kommen. Neben diesen funktionellen Veränderungen sind als schwer wiegende kardiovaskuläre Komplikationen mit Todesfolge in erster Linie das Auft ftreten von Herzrhythmusstörungen sowie die Herzmuskelatrophie zu nennen. Die Abnahme der Muskelmasse der Ventrikel ist proportional größer als die Abnahme des Körpergewichts. Dies hängt möglicherweise mit einer reduzierten linksventrikulären Nachlast (arterielle Hypotonie) sowie der reduzierten Herzfrequenz zusammen. Von der Atrophie des Herzmuskels sind auch die Zellen des Reizleitungssystems betroff ffen. Hierdurch kommt es zu einer Repolarisationsstörung der Ventrikel, die im EKG sich als verlängerte QT-Zeit (frequenzkorrigiert) und vergrößerte QT-Dispersion (Differenz ff zwischen der minimalen und maximalen QT-Zeit in einem 12-KanalEKG) messen lässt. Ferner weisen chronische ANPatientinnen eine veränderte autonome kardiale Funktion mit verminderter Herzfrequenzvariabilität auf. Sowohl eine verlängerte QT-Zeit als auch eine verminderte Herzfrequenzvariabilität gelten als Risikofaktoren für das Auft ftreten von Herzrhythmussstörungen sowie eines plötzlichen Herztods. Zusätzlich können Elektrolytveränderungen, wie sie bei Essgestörten häufi fig beobachtet werden
(z. B. Hypokaliämie), das Risiko für das Auftreten ft von letalen Herzrhythmusstörungen erhöhen. ! Bei Patientinnen mit einer AN sollten Medikamente, die die QT-Zeit des Herzens verlängern (z. B. trizyklische Antidepressiva) nicht oder nur unter engmaschiger EKG-Kontrolle verabreicht werden. Ferner sollte beim Vorliegen einer verlängerten QT-Zeit auf eine regelmäßige Kontrolle der Elektrolyte (Kalium, Kalzium, Magnesium) geachtet werden.
Echokardiographisch und auskultatorisch lässt sich bei ca. 60 der AN-Patientinnen ein Mitralklappenprolaps nachweisen. Dieser geht i. d. R. nicht mit einer Mitralklappeninsuffizienz ffi einher und hat somit keinen Krankheitswert.
25.2.2
Skelettsystem
Eine wichtige, bei chronischem Verlauf irreversible medizinische Komplikation für AN- und untergewichtige BN-Patientinnen stellen die verminderte Knochendichte und Osteoporose dar. Die Pubertät ist eine sensible Phase des Knochenaufbaus, fb in der die maximale Knochenmasse (Spitzenknochenmasse) erreicht wird. Durch den Beginn der AN typischerweise um die Pubertät kommt es zu einem verminderten Knochenanbau und einer geringeren Spitzenknochenmasse. Mehr als die Hälfte ft der Jugendlichen mit einer AN weisen eine Osteopenie und ein Viertel eine Osteoporose auf. Bei chronischem Verlauf der Erkrankung über 11 Jahre zeigen 44 der Betroffenen ff einen osteoporotischen Knochen. Bevorzugt befallen sind trabekuläre Knochen im Bereich des Oberschenkels und der Lendenwirbelsäule. Bei Leistungssportlern (z. B. Balletttänzern) kann es durch die Erkrankung und erhebliche körperliche Beanspruchungen bereits in jungen Jahren zu pathologischen Frakturen und Stressfrakturen kommen. Im Übrigen weisen Betroff ffene mit mehrjähriger AN besonders im späteren Leben ein um das 3- bis 7-fach erhöhtes Frakturrisiko auf. Die Mechanismen, die zu einer verminderten Knochenmasse bei AN-Patientinnen führen, sind komplex. Im Gegensatz zur postmenopausalen Osteoporose, in der simultan sowohl die
155
25.2 Organmanifestationen
Knochenresorption als auch der Knochenanbau gesteigert sind (High-turnover-Osteoporose), zeigen AN-Patientinnen eine Low-turnover-Situation mit vermindertem Knochenanbau und gesteigerter Resorption. Somit kann ein Östrogenmangel, der ursächlich für die postmenopausale Osteoporose ist, die Knochenstoffwechselsituation ff der AN-Patientinnen nicht alleine erklären. Derzeit wird davon ausgegangen, dass es sich um ein Zusammenwirken von zahlreichen Faktoren handelt, wie Untergewicht, hormonelle Faktoren wie verminderte Spiegel für Östrogen, insulin-like growth factorr (IGF-1), Leptin und Th Thyroxin (freies T3), Mangelernährung (Kalzium, Vitamin D) und metabolische Azidose (Folge des Fastens). Die einzige Behandlung, die sich bisher als effektiv ff erwiesen hat, ist eine rasche Gewichtszunahme und die Normalisierung des Essverhaltens. Die Substitution von Kalzium, Vitamin D und Vitamin K2 (Menachinon) können unterstützend wirken, insbesondere in der frühen Auffütterungsphaff se. Die Applikation von Östrogen-Gestagen-Präparaten sollte Patientinnen vorbehalten bleiben, bei denen nach Gewichtsrestitution die Regelblutung ausbleibt. Sie ist jedoch kontraindiziert vor dem Abschluss des Längenwachstums, da sie zu einem vorzeitigen Schluss der Epiphysenfugen führen kann. Andere Präparate wie IGF-1, Dihydroepiandrosteron (DHEA) und Bisphosphonate werden bisher lediglich im Rahmen von Studien verabreicht und geprüft. ft
25.2.3
Gastrointestinaltrakt
Patientinnen mit Essstörungen berichten regelmäßig über abdominale Schmerzen, Übelkeit, Völlegefühl und Verstopfung. Untersuchungen der gastrointestinalen Motilität bestätigen eine verzögerte Magenentleerung für feste Nahrung sowie eine verlangsamte Kolontransitzeit und Defäkationsstörungen für Patientinnen mit einer Anorexie. Bisherige Untersuchungen zur Motilität weisen darauf hin, dass durch eine regelmäßige Nahrungsaufnahme sowie Gewichtsrestitution eine Normalisierung der Motilitätsfunktion bei ehemaligen AN-Patientinnen beobachtet werden kann. Neben der Nahrungsrestriktion kann die Motilitätsstörung zusätzlich verstärkt werden durch Elektrolytverschie-
25
bungen sowie den Missbrauch von Laxanzien. Dies kann in Einzelfällen zu schwerer Verstopfung bis hin zu einem paralytischen Ileus führen. Ferner kommt es bei bulimischen Patientinnen durch das regelmäßig selbstinduzierte Erbrechen häufig fi zu säurebedingten Entzündungen sowie Verletzungen der Speiseröhre (z. B. Barrett-Ösophagus: Zylinderepithelmetaplasie, aus der sich nach Jahren ein Barrett-Karzinom entwickeln kann; MalloryWeiss-Läsion: Einriss der Schleimhaut im Bereich des gastroösophagealen Übergangs). Eine seltene, jedoch lebensbedrohliche Komplikation bei Patientinnen mit Heißhungeranfällen und Erbrechen ist eine Magendehnung mit Gewebsnekrose bzw. Magenruptur.
25.2.4
Haut und Zähne
Bei Patientinnen mit Essstörungen ist eine Reihe von Hautveränderungen zu beobachten. In der Folge der Starvation und der Mangelernährung werden regelmäßig eine Xerosis (trockene Haut durch verminderte Talgproduktion), häufi fig assoziiert mit einer Hyperpigmentation und Pruritus, Lanugobehaarung (verminderte Aktivität des 5-α-Reduktase-Enzymsystems), Haarausfall (vermehrt telogene Haare), Akne, Akrozyanose, Purpura (ThromboTh zytopenie), Stomatitis (Vitaminmangel), Dekubitus und Nageldystrophie beobachtet. Ferner weisen AN-Patientinnen eine deutlich verzögerte Wundheilung auf, die auf eine Schilddrüsenunterfunktion sowie Zinkmangel zurückgeführt wird. Patientinnen mit einer Bulimie zeigen ebenfalls häufi fig trockene Haut (Xerosis) sowie eine vermehrte Neigung zu Akne. Eine charakteristische Hautläsion als Folge des selbstinduzierten Erbrechens ist das Russell-Zeichen. Hierbei handelt es sich um eine Kallusbildung über den Fingergrundgelenken (v. a. am Zeigefi finger), die sich aufgrund wiederholter Läsionen beim Einführen der Finger in den Hals an den scharfk fkantigen, säurearrodierten Schneidezähnen entwickelt. Essgestörte Patientinnen mit einer komorbiden Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen des Weiteren selbstverletzendes Verhalten mit Schädigungen der Haut durch Ritzen, Schneiden oder Verbrennungen.
156
21 22 23 24 25 26 27 28 29
Kapitel 25 · Medizinische Komplikationen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
Ferner berichten Patientinnen mit regelmäßigem Erbrechen über eine Hypersensitivität der Zähne bei heißen, kalten und sauren Nahrungsmitteln. Diese ist bedingt durch freiliegendes Dentin bei fortgeschrittenen Erosionen der Zahnhartsubstanz. Die wiederholte Säureeinwirkung führt zu einer dauerhaften ft Schädigung von Zahnschmelz und Dentin mit einer Bisshöhenminderung. Die Patientinnen sollten eingehend über Ursachen, Entstehung und Prävention der Zahnschäden informiert werden. Nach dem Erbrechen ist eine bestmögliche Neutralisation des sauren Mageninhalts anzustreben. Ferner sollten erosive und säurehaltige Nahrungsmittel gemieden werden. ! Innerhalb der ersten Stunde nach selbstinduziertem Erbrechen sollte keine mechanische Mundhygiene (Zähneputzen) erfolgen, da hierdurch das Fortschreiten der säurebedingten Zahnerosionen gefördert wird.
30
25.2.5
31
Die Magersucht ist mit zahlreichen hormonellen Veränderungen vergesellschaftet ft (7 Kap. 23). Die Veränderungen sind gewichtsabhängig und zeigen in der Mehrzahl eine komplette Reversibilität nach Gewichtsrestitution. Patientinnen mit einer AN zeigen erhöhte Kortisolspiegel sowie eine verminderte Supprimierbarkeit der Kortisolfreisetzung im Dexamethason-Hemmtest. Die Kortisolerhöhung führt nicht zu den typischen Zeichen eines »Cushing-Syndroms«. Mit Blick auf die gonadotropen Hormone kommt es im Rahmen des Untergewichts zu einer verminderten Ausschüttung des Gonadotropin-Releasinghormons (GnRH) des Hypothalamus und somit zu einer reduzieren Bildung von Sexualhormonen in den Ovarien bzw. Hoden. Die Amenorrhö zählt zu den Kernsymptomen der AN. BN-Patientinnen zeigen besonders dann Unregelmäßigkeiten bzw. ein Fehlen der Regelblutung, wenn sie ein niedriges Gewicht haben. Aus diesem Grund sollte bei Amenorrhö oder menstruellen Unregelmäßigkeiten zunächst eine Gewichtsnormalisierung angestrebt werden (7 Kap. 26). Ferner zeigen anorektische Patientinnen typischerweise ein Low-T3-Syndrom mit niedrigem Trijodthyronin (T3), jedoch normalem Thyroxin (T4) und
32 33 34 35 36 37 38 39 40
Endokrinium
Thyreotropin (TSH). Bei dieser Laborkonstellation vermutet man eine gestörte periphere Konversion von T4 nach T3, die nicht durch Hormonsubstitution (z. B. L-Thyroxin) Th behandelt werden sollte.
25.2.6
Niere, Wasser- und Elektrolythaushalt
Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts können zu schwer wiegenden Komplikationen führen. Eine Subgruppe von essgestörten Patientinnen schränkt nicht nur die Nahrung, sondern auch die getrunkene Flüssigkeitsmenge erheblich ein. Das Aufnehmen von Flüssigkeit führt bei diesen Patientinnen zu einem unangenehmen Völlegefühl und wird daher vermieden. Durch das Ausscheiden osmotisch wirksamer Ketonkörper (v. a. ANPatientinnen), das selbstinduzierte Erbrechen oder auch den Missbrauch von Diuretika wird das Exsikkoserisiko weiter erhöht. Elektrolytveränderungen wie eine Hypokaliämie mit metabolischer Alkalose sind hinweisend auf Erbrechen oder Missbrauch von Diuretika, während eine Hypokaliämie mit metabolischer Azidose einen Missbrauch von Laxanzien anzeigt. Patientinnen mit Purging-Verhalten sind nicht selten gut adaptiert an deutlich erniedrigte Kaliumspiegel. Weitere Elektrolytveränderungen, die häufig beobachtet werden können, sind Hyponatriämie, Hypokalzämie, Hypomagnesiämie und Hypophosphatämie (v. a. in der Auff ffütterungsphase). Eine schwer wiegende Komplikation dieser Elektrolytveränderungen sowie der Exsikkose ist die Entwicklung einer hypokaliämischen Nephropathie bis hin zur terminalen Niereninsuffi ffizienz. Des Weiteren kommt es durch den gestörten Wasserund Elektrolythaushalt gehäuft ft zum Auft ftreten von Nierensteinen. ! Der Kreatininspiegel bei Patientinnen mit einer AN ist aufgrund der verminderten Muskelmasse erniedrigt. Daher kann eine fortgeschrittene Niereninsuffi ffizienz vorliegen, ohne dass erhöhte Kreatininspiegel nachweisbar sind. Zur Beurteilung der Nierenfunktion sollte die KreatininClearance bestimmt werden.
157
25.3 Das Auffütterungssyndrom ff (Refeeding-Syndrom)
25.3
Das Auff ffütterungssyndrom (Refeeding-Syndrom)
Unter diesem Syndrom werden Symptome und Veränderungen verstanden, die bei extrem untergewichtigen Patientinnen (BMI < 14kg/m2) bei Wiederaufnahme einer regelmäßigen Ernährung entstehen können. Die Symptome können sehr variabel sein und reichen von Herzinsuffi ffizienz über neurologische Symptome bis zum Auftreten ft schwerer Infekte. Am häufigsten fi berichten Patientinnen mit einem Refeeding-Syndrom über Ödeme sowie Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparats. Durch die metabolische Umstellung während der Auffütterungsphase ff kommt es zu einem gesteigerten Nährstoffb ffbedarf mit dramatischen Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen vom Extrazellulär- in den Intrazellulärraum. In der Folge ergibt sich ein ausgeprägter Abfall von Kalium und Phosphat im Serum. Ferner tritt aufgrund fehlender Glykogenspeicher in der frühen Phase der Nahrungswiederaufnahme häufig fi eine postprandiale Hypoglykämie (ca. 1–2 Stunden nach der Mahlzeit) auf. Fast regelmäßig kommt es zu einer harmlosen Ödembildung im Bereich der Fußknöchel beidseits, die sich im Verlauf spontan zurückbildet und mit wenigen Ausnahmen nicht kardial verursacht ist. Ferner können in dieser Aufb fbau- bzw. Regenerationsphase latente Nährstoffdefi ff fizite aufgrund des erhöhten Bedarfs klinisch bedeutsam werden. In seltenen Fällen kann es bei schwerer starvationsbedingter Herzmuskelatrophie durch die veränderte Hämodynamik in der frühen Phase der Auffütterung zum Auft ftreten einer Herzinsuffi ffizienz mit Lungenödem kommen. Aus diesem Grund sollte die Nahrungsaufnahme langsam begonnen werden und auf ein engmaschiges laborchemisches Monitoring der Elektrolyte, des Blutdrucks sowie der Herzfrequenz geachtet werden. Auf eine ausreichende Phosphataufnahme über die Nahrung ist in dieser Phase ganz besonders zu achten.
25
Fazit Die genannten medizinischen Komplikationen verdeutlichen die dringende Notwendigkeit von regelmäßigen somatischen Verlaufsuntersuchungen essgestörter Patientinnen zur Beurteilung des medizinischen Risikos (mindestens alle 2 Monate).
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26 Gynäkologische Aspekte bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Christiane Gerwing und Anette Kersting 26.1 26.2
Hormonelle Störungen – 158
26.3
Fertilität und Reproduktion – 159
26.3.1 Anorexia nervosa – 160 26.3.2 Bulimia nervosa – 162
26.4
! Anorexia nervosa und Bulimia nervosa betreffen überwiegend Frauen in einer Lebensphase möglicher Reproduktion und dauern meist über Jahre an. Häufi fige Fragestellungen in der Diagnostik, Beratung und Behandlung der Patientinnen betreffen ff daher Zyklusstörungen, Empfängnisfähigkeit, einen bestehenden Kinderwunsch oder Aspekte der Schwangerschaft und Mutterschaft.
26.1
Hormonelle Störungen
Die umfassende endokrine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse wurde als wichtiges Symptom der Anorexia nervosa (AN) in die diagnostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM IV aufgenommen. Sie manifestiert sich bei Frauen häufi fig in einer primären oder sekundären Amenorrhö (. Exkurs: Defifinition) . ! Obwohl Patientinnen mit Bulimia nervosa (BN) meist ein im Normalbereich liegendes Körpergewicht aufweisen, finden sich Zyklusstörungen bei etwa 50% der Betroffenen. ff Eine Amenorrhö liegt bei etwa 5% vor.
Nach heutigen Erkenntnissen sind die Störungen des Menstruationszyklus Folge der Fehl- und Mangelernährung bei AN und BN. Sie können auch ohne massiven Gewichtsverlust auftreten ft und auch nach erfolgter Gewichtszunahme persistieren.
Schwangerschaft und Geburt
– 160
Essstörungen und Mutterschaft – 162
Definition Unter primärer Amenorrhö wird das Ausbleiben der ersten Regelblutung nach dem Erreichen des Menarchenalters verstanden. Eine sekundäre Amenorrhö liegt vor, wenn die vorhandene Menstruation länger als drei Monate ausbleibt. Der Begriff ff zentrale Amenorrhö wird verwandt, wenn hypothalamisch-hypophysäre Störungen innerhalb des hormonellen Regelkreises im Vordergrund stehen. Diese kann weiter nach hypothalamischer und hypophysärer Ursache unterteilt werden.
Bei primärer Amenorrhö kann die Menarche durch körperliche, ernährungsbedingte und psychische Faktoren gestört werden. So verzögert ein Gewichtsverlust von 10‒15 des normalen Körpergewichts die pubertäre Entwicklung und die Menarche. Auch das Längenwachstum und die Brustentwicklung von AN-Betroffenen ff können gestört sein. Im Allgemeinen sind diese Entwicklungsverzögerungen reversibel, jedoch können sie in schweren Fällen auch persistieren. Auch bei der sekundären Amenorrhö ist meist ein Gewichtsverlust von 10‒15 des Normalgewichts verursachend, jedoch geht bei 20 der anorektischen Patientinnen die Amenorrhö der Gewichtsabnahme voraus. Es wird vermutet, dass dieses Phänomen auf ein Zusammenspiel von psychischen Belastungen, übermäßiger körperlicher
159
26.2 Fertilität und Reproduktion
Aktivität und gewichtskontrollierenden Maßnahmen zurückgeführt werden kann. Eine andere Hypothese lautet, dass ein individuelles »Sollgewicht« (Set-Point) für die Aufrechterhaltung der Menstruation erforderlich ist und dass dieses bei entsprechender Disposition einer Patientin bereits im Normalgewichtsbereich unterschritten sein kann. Neben einem Ausbleiben der Regelblutung werden bei AN auch andere Menstruationsstörungen wie eine verlängerte Follikelphase und eine gestörte Lutealphase beobachtet. Aus biologischer Sicht erscheint es durchaus sinnvoll, dass die reproduktiven Funktionen bei nicht ausreichender Nahrungszufuhr vermindert oder eingestellt werden, da eine erfolgreiche Fortpfl flanzung Nahrungsreserven erfordert. Der endokrinologische Pathomechanismus der Amenorrhö bei AN und BN scheint vornehmlich in einer hypothalamischen Dysfunktion mit Hemmung der Pulsationen der Ausschüttung von LHRH (Luteinisierungshormon-Releasinghormon) sowie einer qualitativen Störung der Gonadotropine FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon) zu bestehen (. Exkurs: Der ovarielle Regelkreis). Definition Der ovarielle Regelkreis Der Hypothalamus beginnt mit Einsetzen der Pubertät, die Adenohypophyse (Hypophysenvorderlappen) über das Luteinisierungshormon-Releasinghormon (LHRH), auch Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) genannt, regulatorisch zu beeinfl flussen. Die Abgabe von LHRH erfolgt nicht kontinuierlich, sondern in Form von Pulsationen mit einer Frequenz von etwa 90 Minuten. LHRH stimuliert so in der Hypophyse die Bildung und Freisetzung der Gonadotropine FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon). Diese bewirken am Ovar Follikelreifung, Ovulation und Gelbkörperbildung.
Untersuchungen zeigen, dass schon kurzzeitiges Fasten zu einem präpubertären Sekretionsmuster der Gonadotropine, besonders LH, führen kann. Die Frequenz der Gonadotropinpulsationen ist dann zu niedrig, um im Ovar die Follikelreifung
26
und -selektion bis hin zur Ovulation zu gewährleisten. Bei Frauen mit einer durch extreme körperliche Belastung oder durch Untergewicht verursachten hypothalamischen Amenorrhö fanden sich erniedrigte Spiegel von LH, Östradiol und Leptin. Wurde Leptin mithilfe von Injektionen in den Normalbereich angehoben, so führte dies zu einem Anstieg der Frequenz von LH-Pulsationen. Das 1994 entdeckte, von Lipozyten sezernierte Hormon Leptin spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse im Starvationszustand. Bei akuter AN ist es i. d. R. als Folge der Gewichtsabnahme erniedrigt, jedoch kann es bei Gewichtszunahme innerhalb kurzer Zeit ansteigen. Aktuelle Studien zur Rolle des Leptins im weiblichen Zyklus weisen darauf hin, dass dieses Protein Signalcharakter für die Einleitung der Pubertät hat. Zudem scheint dem Leptin eine Verbindungsfunktion zwischen Ernährungsstatus und weiblichem Zyklus zuzukommen. Endokrine Störungen bei Anorexia nervosa 5 Verminderte pulsatile Ausschüttung von LHRH 5 Schwache Response von LH auf LHRH 5 Erniedrigte Konzentration von Gonadotropinen und Östradiol sowie Testosteron 5 Verminderter Feedback-Eff ffekt von Östrogen auf die Hypophyse 5 Im Ovar fehlende Follikelreifung und -selektion, Anovulation 5 Erniedrigter Leptinspiegel
26.2
Fertilität und Reproduktion
Die Erkrankungen AN und BN betreffen ff insbesondere die Altersgruppe der 15- bis 35-jährigen Frauen und kommen hier mit einer Punktprävalenz von 1 (AN) bzw. 1‒3 (BN) vor. Die betroffenen ff Frauen befi finden sich somit inmitten des Reproduktionsalters. Die beschriebenen hormonellen Störungen reduzieren jedoch die Fertilität. So führen Störungen der Follikel- und der Lutealphase zu einer verringerten Empfängnisrate und einer erhöhten Rate von Spontanaborten.
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Kapitel 26 · Gynäkologische Aspekte bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
Bei akuter AN liegt i. d. R. eine ovarielle Funktionsstörung mit Anovulation und Infertilität vor. Die meisten Patientinnen mit restriktiver Anorexie sind in dieser Erkrankungsphase zudem nicht sexuell aktiv. Dies kann sowohl auf die mangelnde Akzeptanz des eigenen Körpers und das verminderte Selbstwertgefühl als auch auf Libidoverlust durch erniedrigte Spiegel der Sexualhormone zurückzuführen sein. Das Wiedereinsetzen der Menstruation hängt von der Normalisierung der Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse ab, auf die wiederum der Leptinspiegel einen wichtigen Einfluss hat. Zur Normalisierung sind der Wiederauffl bau eines angemessenen Essverhaltens und eine Gewichtsrestitution erforderlich. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass bei der Mehrzahl der anorektischen Patientinnen binnen 6‒12 Monaten nach Erreichen von 90 ihres Normalgewichts die Regelblutung wieder einsetzt. Bei etwa 15‒30 der Patientinnen bleibt die Amenorrhö jedoch trotz der Gewichtszunahme bestehen. Gründe hierfür können fortbestehende abnorme Essgewohnheiten oder zugrunde liegende psychische Probleme sein. Auch die Dauer der Essstörung ist für das Ausbleiben der Menstruation von Bedeutung: Je länger die Erkrankung besteht, desto höher ist das Risiko einer persistierenden Amenorrhö. Bei anhaltender Amenorrhö besteht Infertilität. Studien ergaben jedoch überwiegend, dass die Betroff ffenen keinen Wunsch haben, schwanger zu werden. Häufig fi wird allerdings Sorge bezüglich eines möglichen späteren Kinderwunschs geäußert. Die Mehrzahl der Frauen, deren Menstruation mit dem Überwinden der AN wieder eingesetzt hat und die ein normales Körpergewicht und Essverhalten haben, können auf natürlichem Wege empfangen und einen bestehenden Kinderwunsch erfüllen. Frauen mit persistierender Amenorrhö können mithilfe einer Stimulationstherapie zur Induktion der Ovulation eine Schwangerschaft ft erreichen. Hierzu können pulsatil verabreichtes GnRH oder Gonadotropine eingesetzt werden. Eine Untersuchung an 66 kanadischen Frauen, die wegen Infertilität eine Klinik für Reproduktionsmedizin aufsuchten, ergab bei 8 die Diagnose einer AN oder BN (Stewart et al. 1990). Wurden
atypische Essstörungen nach DSM IV (eating disorders not otherwise specified fi , EDNOS) mit einbezogen, so zeigte sich bei 17 der Frauen eine Essstörung. Unter den ungewollt kinderlosen Frauen, bei denen eine Oligomenorrhö oder Amenorrhö bestand, lag dieser Anteil sogar bei 58. Keine der Frauen berichtete von sich aus über ein gestörtes Essverhalten. Die Mehrzahl dieser Frauen konnte nach Normalisierung des Essverhaltens und nach Gewichtsrestitution auf natürlichem Wege empfangen. Es wurde daher empfohlen, dass vor jeder anderen Untersuchung bei Infertilität eine Befragung zu Ernährungsgewohnheiten und Essverhalten sowie eine Gewichtsmessung erfolgen sollten. Auch eine Langzeitstudie über 10‒15 Jahre an 173 Patientinnen mit BN zeigte keine gegenüber der Normalbevölkerung erhöhte Infertilitätsrate. ! Obwohl AN und BN in der akuten Krankheitsphase häufi fig mit Zyklusstörungen, anovulatorischen Zyklen und Infertilität einhergehen, scheint die spätere Empfängnisfähigkeit nicht wesentlich herabgesetzt zu sein.
26.3
Schwangerschaft und Geburt
! Glücklicherweise können auch Frauen mit Essstörungen unkomplizierte Schwangerschaften und gesunde Babys haben. Jedoch fi finden sich bei AN und BN im Vergleich zu Gesunden erhöhte Raten zahlreicher Schwangerschaftskomplikationen.
26.3.1
Anorexia nervosa
Unter dem Vollbild einer AN tritt nur selten eine Schwangerschaft ft auf. Jedoch kann es während einer Behandlung mit Gewichtsnormalisierung schon in den ersten ovulatorischen Zyklen zur Empfängnis kommen. Die Auswirkungen einer Schwangerschaft ft auf die Essstörung variieren stark. Bei einigen Frauen kommt es zu einer Symptomreduktion, bei anderen zu einem Rückfall in die Erkrankung. Im Allgemeinen können Frauen nach erfolgreicher Anorexiebehandlung unkomplizierte Schwangerschaft ften erleben. Bestehen allerdings die Symptome
26.3 Schwangerschaft und Geburt
der AN fort oder verschlimmern sie sich unter der Schwangerschaft, ft so treten gehäuft ft körperliche und psychische Komplikationen auf. Mögliche Schwangerschaftskomplikationen bei Anorexia nervosa 5 Unzureichende Gewichtszunahme der Frau in der Schwangerschaft fi Anämie bei der Schwangeren 5 Häufigere fi Hyperemesis gravidarum (. Ex5 Häufigere kurs) 5 Intrauterine Wachstumsretardierung beim Fetus (small for gestational age) 5 Erhöhte Abort- und Missbildungsrate 5 Erhöhtes Risiko der Frühgeburtlichkeit 5 Erhöhung der Frequenz operativer Entbindungen finden des Neugeborenen 5 Schlechteres Befi (niedrigerer Apgar-Score) 5 Höhere perinatale Morbidität und Mortalität 5 Höheres Risiko einer postpartalen Depression der Mutter 5 Häufigere fi Stillprobleme
Definition Hyperemesis gravidarum Als Hyperemesis gravidarum wird ein während der Schwangerschaft auftretendes, persistierendes, nicht selbstinduziertes Erbrechen mit einer Frequenz von mehr als 5-mal pro Tag bezeichnet, das die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme der Betroff ffenen gefährdet und zu einer Gewichtsabnahme von mehr als 5% führt. Die Inzidenz liegt bei 0,5–2%. Die Ätiologie ist noch weitgehend ungeklärt; diskutiert werden körperliche Anpassungsvorgänge an die Schwangerschaft sowie psychische Faktoren. Die Erkrankung kann mit Stoff ffwechselstörungen, Dehydratation und Elektrolytentgleisung einhergehen und dann auch lebensbedrohlich sein. Einer frühestmöglichen Erkennung und Behandlung, die in schweren Fällen stationär erfolgen muss, kommt deshalb besondere Bedeutung zu.
161
26
Kommt es unter Fehlernährung der Mutter zu einem Ernährungsdefi fizit des Fetus, so sind die Neugeborenen zu klein oder untergewichtig bezogen auf ihr Reifealter. Die international gebräuchliche medizinische Bezeichnung hierfür ist small for gestational age (SGA). Ein Zusammenhang zwischen unzureichender Gewichtszunahme der Mutter und niedrigem Geburtsgewicht des Babys gilt als erwiesen. SGA-Kinder können über lange Zeit Entwicklungsschwierigkeiten aufweisen. Die perinatale Mortalitätsrate von Kindern anorektischer Mütter war in Studien gegenüber der Rate in der Allgemeinbevölkerung 6-fach erhöht. Bezüglich der Frühgeburtlichkeit und des Fehlgeburtrisikos zeigte sich eine Erhöhung um das 2-Fache. In einer schwedischen Studie an 49 Frauen mit anorektischen und bulimischen Essstörungen in der Vorgeschichte, die während ihrer ersten Schwangerschaft ft begleitet wurden, erkrankten diese Frauen deutlich häufiger fi an Hyperemesis gravidarum als gesunde Schwangere (Kouba et al. 2005). Die essgestörten Schwangeren litten häufig fi an Anämie und erreichten oft ft die empfohlene Gewichtszunahme von 11,5‒16 kg in der Schwangerschaft ft nicht, insbesondere bei früherer oder aktueller AN. Die Babys der Mütter mit AN erreichten ein signifikant fi geringeres Geburtsgewicht als die Kinder gesunder Mütter. Sowohl bei AN als auch bei BN wiesen die Neugeborenen einen kleineren Kopfumfang auf. Schwangere Patientinnen mit AN sollten, im Anschluss an die eventuelle Behandlung somatischer Komplikationen, während der Therapiephase zur Gewichtsrestitution und zum Wiederaufbau fb eines angemessenen Essverhaltens stationär psychotherapeutisch behandelt werden. Es sollten heimatnahe Einrichtungen mit ausgewiesener Erfahrung in der Behandlung von Essstörungen bevorzugt werden. Zur Gewichtsrehabilitation sollte ein Therapievertrag mit Festlegung der wöchentlichen Mindestgewichtszunahme geschlossen werden. Hierbei ist die erforderliche zusätzliche Gewichtszunahme in der Schwangerschaft ft zu berücksichtigen.
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26.3.2
Kapitel 26 · Gynäkologische Aspekte bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa
Bulimia nervosa
Auch bei Erkrankung an BN zeigten Studien eine erhöhte fetale Fehlbildungsrate. Diese wird einerseits auf den häufigen fi Abusus von Laxanzien und Diuretika zurückgeführt, andererseits auf das erhöhte Auftreten ft von Alkohol- und Drogenmissbrauch in dieser Patientinnengruppe. Die Gewichtsentwicklung während der Schwangerschaft ft unterlag bei BN breiten Schwankungen und reichte von exzessiver über normale bis hin zu nicht ausreichender Gewichtszunahme. Bei vielen Patientinnen verringert sich die bulimische Symptomatik während der Schwangerschaft ft und in der ersten Zeit nach der Geburt, da die Betroff ffenen zum Wohle des Babys auf eine gesunde Ernährung achten. Jedoch kann es unter den körperlichen und psychischen Belastungen der Schwangerschaft ft auch zu einer Verschlechterung der Erkrankung kommen. Die veränderte Regulation von Appetit und Sättigung, das Wachstum von Bauch und Brüsten und die Gewichtszunahme können Frauen mit Essstörungen besonders belasten. Zudem findet fi bei Erstgebärenden in der Schwangerschaft ft häufi fig eine emotionale Auseinandersetzung mit der anstehenden Übernahme der Mutterrolle statt. In Studien finden sich bei Frauen mit BN geringere Geburtsgewichte der Neugeborenen und häufigere Kaiserschnittentbindungen als bei gesunden Frauen. Auch das Risiko einer postpartalen Depression ist wesentlich erhöht. Tritt bei einer Patientin mit bekannter Essstörung gehäuft ftes Erbrechen während der Schwangerschaft ft auf, so ist die Diff fferenzialdiagnose zwischen einer Intensivierung der Essstörungssymptomatik und einer Hyperemesis gravidarum schwierig. Diese Erkrankung der Frühschwangerschaft ft kommt zudem bei essgestörten Frauen etwa 10-mal häufiger vor als bei Gesunden. Als schwierig erweist sich auch die Behandlung von Patientinnen mit nicht remittierter bulimischer Symptomatik während der Schwangerschaft. ft Professionelle Helfer können hier Gefühle von Hilfl flosigkeit, Wut und Frustration entwickeln. In dieser Situation ist es besonders wichtig, sich im Behandlungsteam die krankheitsbedingte Unfähigkeit der Betroff ffenen, die Sicherheit des Ungeborenen zu gewährleisten, bewusst zu machen, um die
Behandlung zugewandt und konsequent weiterführen zu können. Zudem sollten Therapieelemente zur Motivationsförderung eingesetzt werden. Im Rahmen der regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen schwangerer Frauen sollten Hinweise auf Essstörungen beachtet werden. Eine zu geringe oder exzessive Gewichtszunahme besonders im zweiten Trimenon, eine Hyperemesis gravidarum sowie das Vorliegen einer Essstörung in der Vorgeschichte können Anzeichen für eine AN oder BN sein. Wegen der negativen Auswirkungen einer Fehl- und Mangelernährung auf die Schwangerschaft ft wird Frauen mit Essstörungen empfohlen, eine geplante Schwangerschaft ft auf die Zeit nach erfolgreicher Behandlung oder zumindest Teilremission der Erkrankung zu verschieben. Bei schon bestehender oder dennoch auft ftretender Schwangerschaft ft muss eine engmaschige medizinische Betreuung erfolgen. Fazit Generell sollten Schwangerschaften bei Frauen mit Essstörungen oder mit der Vorgeschichte einer solchen Erkrankung als Risikoschwangerschaften betrachtet werden. Die Patientinnen sollten sowohl während als auch nach der Schwangerschaft engmaschig überwacht werden, um den bestmöglichen gesundheitlichen Zustand von Mutter und Kind zu gewährleisten.
26.4
Essstörungen und Mutterschaft
In der Literatur wird häufig fi über eine gestörte Interaktion zwischen essgestörten Müttern und ihren Kindern berichtet. Erhöhte Irritierbarkeit der Mütter sowie das Unvermögen, während der Essattacken auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, sind Beispiele für sich ergebende Schwierigkeiten. Untersuchungen ergaben Hinweise darauf, dass an Bulimie leidende Mütter das Wohlbefi finden ihrer Kleinkinder durch eine negative emotionale Atmosphäre sowie intrusiveres und kontrollierenderes
26.4 Essstörungen und Mutterschaft
Verhalten sowohl beim Essen als auch beim Spielen beeinflussen fl können. In einer Longitudinalstudie an 33 erstgeborenen Kindern essgestörter Mütter hatte keines der Kinder im Alter von 10 Jahren eine Essstörung entwickelt, jedoch fanden sich im Vergleich zu Kindern gesunder Mütter häufiger fi Anzeichen eines belasteten Verhältnisses zur Ernährung. So zeigten die Kinder altersunverhältnismäßige Selbstbeschränkung im Umgang mit Essen und Sorgen bezüglich ihrer Figur und ihres Gewichts. Bei der Entwicklung dieser Auff ffälligkeiten ist es von Belang, wie lange das Kind die Essstörung der Mutter miterlebte. So scheint es, dass Kinder umso wahrscheinlicher dysfunktionale Gewohnheiten und Einstellungen bezüglich des Essens entwickeln, je länger sie diese miterleben. Als Ursache wird eine Modellfunktion der Mutter für ihr Kind angenommen.
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163
26
27 Essstörungen und Diabetes mellitus Stephan Herpertz 27.1
Essstörungen und Typ-1-Diabetes – 164
27.4
Verlauf der Essstörung bei Menschen mit Diabetes mellitus – 166
27.2
Diabetes und Essstörungen, eine überzufällige Koinzidenz? – 165
27.5
27.3
Insulindosis und Gewichtsregulation (»Insulin-Purging«) – 166
Diagnose und Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus und Essstörung – 166
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass bei ca. 8 der deutschen Bevölkerung ein Diabetes mellitus vorliegt, wobei 90 davon an einem Diabetes mellitus Typ 2 leiden. Jenseits des 55. Lebensjahres sind 16 der Menschen betroffen. ff Der Diabetes reduziert häufi fig die Lebensqualität für die Betroffenen, und er verkürzt die Lebenserwartung um ca. 10 Jahre. Die Entwicklung von mikrovaskulären, v. a. aber makrovaskulären Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall sind für die deutlich verkürzte Lebenserwartung verantwortlich. Während der Typ-1-Diabetes, gekennzeichnet durch Untergang der β-Zellen der Bauchspeicheldrüse und konsekutiven absoluten Insulinmangel, seinen Manifestationsgipfel vornehmlich in der Pubertät und frühen Adoleszenz hat, stellt der Typ-2-Diabetes als Folge einer Insulinresistenz vornehmlich bei Adipositas eine Erkrankung der Lebensmitte bzw. zweiten Lebenshälfte ft dar. Aufgrund der deutlichen Zunahme adipöser Kinder wird auch in dieser Altersgruppe zunehmend eine Insulinresistenz beobachtet. Der Krankheitsverlauf wird wesentlich durch den Lebensstil und das Krankheitsverhalten der Patienten bestimmt. Das Behandlungsmanagement bedarf einer lebenslangen Planung und Kontrolle nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern der ganzen Lebensgestaltung. Die Behandlung erfordert ein hohes Maß an Motivation und Selbstmanagement vonseiten der Patienten, die eine sehr aufwändige Therapie Th in ihr Leben zu integrieren und viele Einschränkungen im Alltag in Kauf zu
nehmen haben. Hinzu kommt die Notwendigkeit mehrfach täglicher Blutglukoseselbstkontrollen zumindest bei Patienten mit Typ-1-Diabetes.
27.1
Essstörungen und Typ-1Diabetes
Im Hinblick auf den Erkrankungsgipfel fällt die Koinzidenz von Magersucht und Bulimia nervosa (BN) mit Diabetes mellitus Typ 1 auf, wobei die Frage einer überzufällig häufigen fi Komorbidität von Essstörungen, insbesondere der BN, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen ist. Die folgenden Th Thesen zur Pathogenese der Komorbidität von Diabetes mellitus und Essstörungen werden diskutiert: Patienten mit Diabetes mellitus führen ihre Therapie im Alltag eigenverantwortlich durch. So kann die lebenslange Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln, Gewichtsregulation und körperlicher Aktivität, die notwendig ist, um eine normnahe Stoffwechseleinstellung ff zu erreichen, letztendlich die Entwicklung einer Essstörung bahnen. Bei fast allen Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ 1 beginnt die Anorexia nervosa (AN) oder die BN nach der Manifestation des Diabetes mellitus. Nach Diagnosestellung nehmen viele Patientinnen durch Rehydratation an Gewicht zu. So zeigte eine Untersuchung an 32 jungen Patientinnen direkt nach Diagnose des Diabetes mellitus und erneut ein Jahr später eine Zunahme der Essstörungssymptome. Die Gewichtszunahme betrug
27.2 Diabetes und Essstörungen, eine überzufällige Koinzidenz?
durchschnittlich fast 7 kg. Das Gewicht lag bei allen Patientinnen über dem Wunschgewicht. Interessanterweise hatte sich bei den meisten Patientinnen ein gestörtes Körperschema entwickelt, welches als eines der Kernsymptome der Essstörungen gilt. Die Essstörung stellt die individuelle Antwort auf den Stress einer chronischen Erkrankung mit unangemessenen Bewältigungsstrategien dar. Insbesondere bei jungen essgestörten Frauen wurden depressive Symptome und insbesondere Gefühle der Insuffi ffizienz beschrieben. Die Essstörung stellt das Endglied einer neurotischen Fehlentwicklung dar, die vor der Diagnose des Diabetes noch kompensiert werden konnte, allerdings durch die Krankheitsbelastungen exazerbiert. Insbesondere im Hinblick auf das Manifestationsalter des juvenilen Diabetes mellitus und der Essstörungen AN und BN muss die Bedeutung familiärer Faktoren herausgestellt werden. Es liegt nahe, dass die Diagnose eines Diabetes mellitus eines Kindes oder Jugendlichen die Familienstruktur (-dynamik) i. d. R. verändert und z. B. Kontrollmechanismen innerhalb einer Familie verstärken und zu einer mangelhaften ft Autonomieentwicklung und Unselbstständigkeit beitragen kann, die für viele Patientinnen mit Essstörung – insbesondere anorektische Patientinnen – charakteristisch ist. Patienten mit insulinpfl flichtigem Diabetes mellitus Typ 2 weisen nicht selten ein höheres Gewicht als Normalpersonen auf, wozu der anabole Effekt ff des Insulins beiträgt. Ein flexibles fl Essverhalten zur Gewichtsstabilisierung wie bei Gesunden kann auch bei variabler Handhabung der Insulindosis die Gefahr einer Hypoglykämie nie ganz ausschließen. Aus der psychobiologischen Forschung ist die regulative Bedeutung bestimmter Neurotransmitter für das Essverhalten bekannt. So hat Serotonin eine sättigende Funktion. Typtophan als Serotoninvorstufe unterliegt an der Blut-Hirn-Schranke einem kompetitiven Transportmechanismus mit den verzweigtkettigen Aminosäuren, deren Serumkonzentration wieder von der Insulinausschüttung abhängt. Insulinmangel hat demnach eine Reduktion des zentral verfügbaren Tryptophans und Serotonins zur Folge, woraus wiederum ein vermindertes Sättigungsverhalten resultiert.
27.2
165
27
Diabetes und Essstörungen, eine überzufällige Koinzidenz?
Die AN ist eine seltene Krankheit, sodass die Koinzidenz eines Diabetes mellitus Typ 1 mit dieser Essstörung nicht häufi fig auft ftritt. Die Angaben zur Prävalenz der BN bei Patientinnen mit Typ-1-Diabetes schwanken in der neueren Literatur zwischen 0,0 und 3,5, wobei sich die unterschiedlichen Prävalenzangaben u. a. auf unterschiedliche Untersuchungsinstrumente und -populationen zurückführen lassen. ! Interviewbasierte Studien kommen zu dem Schluss, dass die AN bei Frauen mit Diabetes mellitus Typ 1 gegenüber stoffwechselgesunden ff Frauen nicht häufi figer vorkommt, wohl aber die BN, die nicht näher bezeichneten Essstörungen wie auch gestörtes Essverhalten.
Mehr als 80 aller Menschen mit Typ-2-Diabetes sind übergewichtig. Zur Überwindung der Insulinresistenz bei Typ-2-Diabetes werden v. a. Gewichtsreduktion und entsprechendes Diätverhalten empfohlen. Die Beobachtung, dass lang währendes Diätverhalten i. S. eines gezügelten Essverhaltens u. U. zu Kontrollverlusten bei der Nahrungsaufnahme (»Essanfall«) und schließlich zur BN oder Binge-Eating-Störung (BES) führen kann, und die Tatsache, dass nur 5‒13 aller Menschen in der Lage sind, dauerhaft ft ihr reduziertes Gewicht zu halten, lässt auf eine mögliche Verbindung zwischen Typ2-Diabetes und Essstörungen, insbesondere der BES, schließen. ! Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes, der i. d. R. der Essstörung vorausgeht, ist bei der Hälfte der Patienten mit Typ-2-Diabetes der Beginn der Essstörung vor Diagnosestellung des Diabetes zu beobachten.
Auch wenn die monokausale Denkweise, dass die BES Ursache von Übergewicht und Adipositas sei, mittlerweile revidiert werden musste, so zeichnen sich doch adipöse Menschen mit BES im Vergleich zu nichtessgestörten adipösen Menschen durch ein höheres Gewicht aus. Von daher wirkt sich die Diagnose einer BES bei Menschen mit Typ-2-Diabe-
166
21 22
Kapitel 27 · Essstörungen und Diabetes mellitus
tes aggravierend auf den Gewichtsverlauf und die Insulinresistenz aus. Die Vermutung einer überzufälligen Koinzidenz von Essstörungen, insbesondere BES und Diabetes mellitus Typ 2, konnte in der Literatur bisher nicht bestätigt werden.
23 24
27.3
Insulindosis und Gewichtsregulation (»Insulin-Purging«)
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Unter »Erbrechen über die Niere« (»InsulinPurging«) wird die bewusste Reduktion insbesondere der abendlichen Insulindosis zwecks Gewichtsreduktion verstanden. ! Insbesondere bei jungen Frauen mit Typ-1-Diabetes ist »Insulin-Purging« weniger Ausdruck einer unzureichenden Compliance als vielmehr einer Essstörung mit weit reichenden Konsequenzen für eine adäquate Behandlung.
Die Prävalenz der bewussten Insulinreduktion scheint mit steigendem Alter zuzunehmen. So war »Insulin-Purging« bei Kindern und Adoleszenten im Alter zwischen 9 und 14 Jahren nur bei 2 zu beobachten, die Prävalenz stieg bei weiblichen Teenagern auf 14 und auf 34 bei erwachsenen Frauen.
27.4
Verlauf der Essstörung bei Menschen mit Diabetes mellitus
Zahlreiche Querschnittsuntersuchungen konnten nachweisen, dass sowohl Essstörungen als auch gestörtes Essverhalten eine deutliche Verschlechterung der Stoff ffwechseleinstellung zur Folge haben und häufiger fi zu diabetischen Folgeerkrankungen führen. Selbst gestörtes Essverhalten, welches nicht alle Kriterien einer Essstörung erfüllt, wie z. B. Insulin-Purging, Diätverhalten oder selbstinduziertes Erbrechen, geht häufig fi mit einer unzureichenden Stoff ffwechseleinstellung und einem hohen Risiko für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie einher.
27.5
Diagnose und Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus und Essstörung
In Anbetracht des erheblichen Gesundheitsrisikos bei Komorbidität von Essstörungen und Diabetes mellitus wird z. Z. ein routinemäßiges Screening von Essstörungen oder gestörtem Essverhalten bei adoleszenten Mädchen und jungen Frauen mit Diabetes mellitus als ausgewiesene Risikopopulation empfohlen. Die Abklärung einer Essstörung erscheint ebenso sinnvoll bei Patientinnen mit einer schlechten Stoff ffwechsellage ohne Hinweis auf eine somatische Genese, z. B. autonome Neuropathie. Nur wenige Therapiestudien zu essgestörten Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ 1 wurden bisher durchgeführt, sodass auf eine empirisch gesicherte Datenlage nicht zurückgegriffen ff werden kann. Psychoedukative Behandlungsansätze erwiesen sich als nicht ausreichend. Abgeleitet von den Erfahrungen mit anorektischen Patientinnen ohne Diabetes mellitus ist eine stationäre Psychotherapie insbesondere bei komorbiden Patientinnen mit Magersucht und Diabetes mellitus indiziert. Bei der BN ist davon auszugehen, dass eine ambulante fachpsychotherapeutische Behandlung i. d. R. ausreichend ist. Bei chronifi fiziertem Verlauf und Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ist allerdings eine stationäre Psychotherapie in Erwägung zu ziehen, ebenso bei »Insulin-Purging«, da diese für Typ-1-Diabetiker charakteristische gegenregulatorische Maßnahme i. d. R. mit einer schlechten Stoffwechselkontrolle ff einhergeht und nicht selten Ausdruck eines selbstschädigenden Verhaltens ist. Für den Erfolg einer Psychotherapie ist das Verstehen der Lebenssituation des Patienten im Allgemeinen und des Patienten mit Diabetes mellitus im Besonderen notwendig. Dazu gehören auch Kenntnisse der Stoff ffwechselkrankheit, seines Therapieregimes und dessen mögliche Zusammenhänge mit dem Essverhalten/Essstörung (z. B. Hypoglykämie, körperliche Aktivität etc.). Essgestörte Patienten mit Typ-2-Diabetes sind überwiegend übergewichtig oder adipös und leiden i. d. R. an einer BES, sodass Überlegungen zu allen drei Krankheitsentitäten in die Behandlung einfließen fl müssen. Von daher ist ein multimodales Behandlungskonzept sinnvoll, dessen integrale Bestandteile eine Psychotherapie und ein Gewichts-
27.5 Diagnose und Behandlung von Patienten mit Diabetes mellitus und Essstörung
management darstellen. Bei Patienten mit BES hat initial die Normalisierung des Essverhaltens gegenüber einem eher restriktiven Diätverhalten Vorrang, um dem Circulus vitiosus von Diäten (Kontrollverhalten) und Kontrollverlust (»Essanfall«) entgegenzuwirken.
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167
27
169
Die Behandlung der Essstörungen 28
Prävention der Essstörungen – 170
29
Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz – 176
30
Familientherapie
31
Psychodynamische Therapie
32
Kognitive Verhaltenstherapie
33
Andere Psychotherapieverfahren bei Essstörungen: Die interpersonelle Psychotherapie – 200
34
Die Pharmakotherapie der Essstörungen
35
Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen
– 182 – 189 – 193
– 205
– 211
36
Die Behandlung von Körperbildstörungen
– 219
37
Selbsthilfe bei Essstörungen
38
Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa – 232
39
Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen
– 226
– 237
28
28 Prävention der Essstörungen Andreas Karwautz und Gudrun Wagner 28.4.2 Wirksamkeit von Primärprävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – 173 28.4.3 Wirksamkeit von Sekundärprävention – 174
28.1
Arten der Prävention – 170
28.2
Die Diätgesellschaft
28.3
Zielbereiche für die Primärprävention von Essstörungen – 171
28.4
– 170
Wirksamkeit von Prävention
28.5
Gemeinsame Präventionsprogramme für Essstörungen und Adipositas – 174
– 172
28.4.1 Wirksamkeit von Primärprävention bei Kindern – 172
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28.1
Arten der Prävention
Die klassische Einteilung von Prävention differenff ziert zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Neuere Defi finitionen unterteilen in Begriff ffe der universellen, selektiven und indizierten Prävention. Primäre Prävention hat zum Ziel, die Entstehung von Essstörungen und deren Neuerkrankungen zu verhindern, Risikofaktoren vorzubeugen und protektive Faktoren zu fördern. Maßnahmen der Primärprävention sind an gesunde Personen ohne Essstörungssymptome gerichtet. Das Ziel der Sekundärprävention besteht in Früherkennung und Intervention, um ein Fortschreiten der Erkrankung und die Entwicklung einer voll ausgeprägten Störung zu verhindern. Maßnahmen der Sekundärprävention setzen an bereits bestehenden Risikofaktoren an und zielen darauf ab, diese zu reduzieren. Als Tertiärprävention wird die Vermeidung einer Verschlechterung eines voll ausgeprägten klinischen Krankheitsbildes bezeichnet. Sie umfasst Maßnahmen zur Rehabilitation und Rückfallprophlyaxe. Während sich der Begriff ff universelle Prävention auf Maßnahmen für breite Bevölkerungsgruppen bezieht, fokussieren selektive Präventionsprogramme auf asymptomatische Risikopopulationen. Indizierte Präventionsprogramme zielen auf Hochrisikogruppen ab, die subklinische Symptome oder eindeutige Risikofaktoren aufwei-
sen. Diese Einteilung spiegelt ein Kontinuum zwischen Primär- und Sekundärprävention wider.
28.2
Die Diätgesellschaft
Dünn zu sein stellt v. a. bei Mädchen und Frauen eine bedeutende Komponente von Attraktivität in unserer heutigen Gesellschaft ft dar. Dieses Faktum spiegelt sich im Diäthalten bei Mädchen und jungen Frauen: Vor der Pubertät (8‒12 Jahre) zeigt sich die Präferenz eines dünneren Idealbildes bei ca. 50 der Jugendlichen, trotz Normalgewicht besteht bei fast 30 der Wunsch, dünner zu sein. Je nach Studie haben 25–63 von Jugendlichen ab 13 Jahren Erfahrungen mit gewichtsreduzierenden Diäten, bereits ein Drittel der weiblichen und ein Fünftel der männlichen Jugendlichen zeigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren ein pathologisches Essverhalten im Sinne eines erhöhten Risikos für die Ausbildung einer vollen Essstörung. Im Zuge der Zunahme an Fettgewebe in der pubertären Entwicklung steigt die Unzufriedenheit mit der Figur und damit das Risiko für ein gestörtes Essverhalten.
28.3 Zielbereiche für die Primärprävention von Essstörungen
28.3
Zielbereiche für die Primärprävention von Essstörungen
Die Möglichkeiten der Einflussnahme fl auf soziokulturelle Botschaften ft im Sinne von proaktiven Strategien in den Medien bestehen in der Aufnahme einer größeren Bandbreite an verschiedenen Körperformen. Hauptbotschaft ft soll nicht sein, dass »Dünnsein« generell schlecht ist, aber dass eine größere Bandbreite an Figur und Gestalt wünschenswert ist. Individualität und Selbstakzeptanz im Gegensatz zu Konformität zu einem Schlankheitsideal soll betont werden. Ansatzweise wurden derartige Ziele über die Erstellung von Richtlinien durch die Academy for Eating Disorders 2006 für Modelagenturen und die Modeindustrie verwirklicht (www. oeges.or.at/download/charta_vollversion). Ein zweiter, reaktiver Ansatz zielt auf eine kritische Auseinandersetzung mit Botschaften ft ab, die über Modemagazine vermittelt werden. Diese kann im Rahmen von Gesundheitsprogrammen an Schulen vermittelt werden. Kritisiert wurde in Review-Arbeiten zur Prävention von Essstörungen der Fokus der bestehenden Präventionsprogramme auf die individuelle Ebene, weil es ein adaptatives Verhalten an schädlichen Umweltbedingungen darstellt. Als zielführender wird der Einbezug einer sozialen Komponente auf Makroebene, nämlich der zusätzlichen Veränderungen von Umweltbedingungen, beschrieben. ! Interaktion von Medien als externer Einflussfakfl tor und persönlicher Vulnerabilität als interner Faktor sind wichtige Zielbereiche für primäre Prävention.
Das salutogene Modell von Primärprävention fokussiert nicht auf eine Störung/Krankheit allein, sondern bezieht sich auf Gesundheitsförderung im Allgemeinen, die in der Erziehungspolitik und im Schulsystem verankert sein soll. Primärprävention in diesem Sinne beinhaltet die Stärkung von persönlichen Ressourcen wie Selbstwert, Selbstbehauptung, Coping-Strategien, Stressmanagement, Pubertät und ihre entwicklungsbedingten Stressoren.
171
28
! Anstatt eintägige Informationsveranstaltungen zum Thema Essstörungen an Schulen abzuhalten, wird empfohlen, längerfristige Interventionsprogramme für Eltern, Lehrer und Schüler anzubieten, die auf die Stärkung persönlicher Ressourcen abzielen und so vor Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen schützen.
Dass jemand sein Verhalten ändert, basiert auf einem kumulativen Eff ffekt von erhöhtem Bewusstsein, besserem Verständnis, über Überzeugungen, Einstellungen und Selbstwirksamkeit. Gesundheitsfördernde Maßnahmen sollen die in der folgenden . Übersicht zusammengefassten Punkte beinhalten. Gesundheitsfördernde Maßnahmen 5 Zugang zu eigenen Gefühlen erhöhen 5 Gesundes Stressmanagement und Coping-Strategien fördern 5 Selbstwert und Selbstvertrauen erhöhen 5 Ausgeglichenheit zwischen Autonomie und Abhängigkeit von Familienmitgliedern und der Peergroup schaffen ff 5 Eigene Bedürfnisse und Gefühle ausdrücken 5 Ehrgeiz und Perfektionismus reduzieren 5 Positive Körpererfahrung erhöhen 5 Selbstwert durch andere Faktoren als Gewicht und physische Erscheinung aufbauen fl 5 Kritische Sichtweise gegenüber oberflächlichen soziokulturellen Idealen vermitteln 5 Gesunde Essgewohnheiten vermitteln
Um Änderungen auf Verhaltensebene im Ernährungsbereich zu erzielen, wird eine Interventionszeit von mindestens 5 Jahren empfohlen. Körperliche Veränderungen in der Pubertät, die bei Mädchen auch mit einer Zunahme von Körperfett verbunden sind, können zu körperlicher Unzufriedenheit und folglich zum Diäthalten führen. Daher sollte die Vermittlung von Informationen über die Normalität dieser körperlichen Veränderungen ein weiterer Zielbereich in der Primärprävention von Essstörungen sein. Während Informa-
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Kapitel 28 · Prävention der Essstörungen
tionsvermittlung über normale Pubertätsentwicklung als Präventionsmaßnahme geeignet scheint,
sind es nicht primär Informationen über Essstörungen in der Primärprävention, weil diese eher zu Imitationsverhalten führen können. Die Vermittlung von Informationen zu »gesunder Ernährung« durch Experten ist ebenso problematisch, weil es zu einer Überbeschäft ftigung mit dem Essen kommen kann, was ebenso als Risikofaktor für Essstörungen bekannt ist. In der Sekundärprävention hingegen sind Informationen über Essstörungen für Lehrer und Personen in Gesundheitsberufen eine Grundvoraussetzung. In der Sekundär- und Tertiärprävention finfi den »neue Medien« wie Internet, E-mail und SMS häufi fig Anwendung, z. B. Chatroom und E-Mail für Beratung und Informationsvermittlung im Projekt des Heidelberger Mädchenhauses e.V. oder SMSbasierte Nachbetreuung von Psychotherapiepatientinnen mit Bulimie.
30
28.4
31
36
Stice et al. (2007) evaluierten in einer Metaanalyse 51 Präventionsprogramme und fanden, dass selektive Programme für Risikogruppen größere Interventionseff ffekte brachten als universelle Programme. Größere Eff ffekte zeigten sich bei älteren (über 15 Jahre) Jugendlichen im Vergleich zu jüngeren, bei interaktiven vs. didaktischen Programmen, die von außenstehenden Essstörungsexperten im Vergleich zu Lehrern durchgeführt wurden. Universelle Psychoeduktionsprogramme zeigten geringere Effekte. ff Programme, die Körperakzeptanz und die Induktion von Dissonanz zum Inhalt hatten, führten zu größeren Effekten. ff
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28.4.1
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Wirksamkeit von Prävention
Wirksamkeit von Primärprävention bei Kindern
Die meisten Primärpräventionsmaßnahmen fi finden für Kinder und Jugendliche im Grund- und Mittelschulalter bis 14 Jahre statt. In diesem Alter sind problematisches Essverhalten und problematische Einstellung zum Essen kaum vorhanden. Präventionsstudien sollten nach Piran (2005) sechs Kriterien erfüllen (. Übersicht).
Präventionsstudien: Kriterien nach Piran (2005) 1. Vorhandensein einer theoretischen Rationale, die dem Präventionsansatz zugrunde liegt mit Risiko- und Schutzfaktoren, auf die das Programm abzielt 2. Vorhandensein einer Kontrollgruppe neben einer oder mehreren Interventionsgruppen 3. Ausreichend große Stichproben und Zufallzuteilung zu Intervention- und Kontrollgruppe 4. Verwendung von standardisierten Verfahren, die dazu geeignet sind, Veränderungen festzustellen (Problem von Decken- bzw. Floor-Eff ffekten) 5. Dokumentation von Programmteilnahme, Trainings der Trainer und Implementierungsstrategien 6. Follow-up von mindestens einem Jahr, besser von 2–5 Jahren
In der Analyse von Piran (2005) erfüllte keines von 21 untersuchten Programmen alle diese Kriterien, nur 11 erfüllten das Kriterium der Zufallszuteilung. Während Veränderungen im Wissenstand in fast allen Studien gefunden wurden, waren Veränderungen hinsichtlich Einstellung und auf Verhaltensebene schwerer zu erreichen. Alle Programme, die darauf abzielten, Wissen hinsichtlich gesunder Ernährung und Bewegung, naturgemäße Unterschiede in Gewicht und Figur und Entwicklung in der Pubertät zu vermitteln, erreichten bedeutsame Wissensveränderungen. Dieses Wissen führte allerdings nicht notwendigerweise zu Einstellungsund Verhaltensänderungen. Einstellungsveränderungen wurden in 62 der Studien gefunden. Diese Einstellungsveränderungen wurden eher hinsichtlich des internalisierten Schlankheitsbildes erreicht als hinsichtlich der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und konnten in weniger als der Hälfte ft der Studien auch im Follow-up nach 3 bzw. 6 Monaten aufrechterhalten werden. Veränderungen auf der Verhaltensebene, wie weniger Diäten oder das Auslassen von Mahlzeiten, wurden in weniger als einem Drittel der Studien erreicht und konnten in
173
28.4 Wirksamkeit von Prävention
weniger als einem Fünft ftel der Studien längerfristig aufrecht erhalten werden. Erhebliche Unterschiede in den Bereichen der Intervention, den zugrunde liegenden theoretischen Modellen, Präventionszielen und Zielgruppen wurden in den Studien erkennbar. Während einige Programme ausschließlich auf der individuellen Ebene und an den individuellen Fertigkeiten der Kinder ansetzten, schlossen andere Programme das soziale Umfeld wie Peer-Normen, Eltern und Lehrer mit ein. Aus der Perspektive des öffentlichen ff Gesundheitswesens sind in der Präventionsarbeit koordinierte Interventionen auf verschiedenen Ebenen zu leisten: 5 auf der Makroebene in der Sozialpolitik, 5 im Mikrobereich auf kommunaler Ebene wie z. B. in den Schulen, 5 auf individueller Ebene. Neben den individuellen Faktoren sind stets auch soziale Kontextbedingungen mit einzubeziehen. ! Programme, die systemische Interventionen inkludieren, wie Veränderungen in den PeerNormen hinsichtlich z. B. gewichtsbezogenem Hänseln oder Aufklärungsarbeit bei Lehreren im Bereich Essstörungen, haben sich als wirksam erwiesen.
Die durchgeführten Präventionsprogramme basieren auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen wie 5 der sozialkognitiven Theorie Th von Bandura, 5 kognitiv-behavioralen Theorien, Th 5 dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell oder 5 der kritischen Sozialtheorie. Viele Programme beinhalten Elemente aus mehreren dieser Th Theorien. Ein Vergleich dieser Ansätze ist bis dato nicht möglich, da jedes Programm positive Ergebnisse erzielte. Ziele solcher InterventionsproDefinierte fi gramme reichen von der Vermittlung von Fertigkeiten gegenüber sozialem Druck hinsichtlich Aussehen und bestehenden Schlankheitsidealen, Reduktion einer Überbewertung von Aussehen und Schlankheitsidealen, maladaptiven Glaubenssätzen, negativer Körperbewertung, Erhöhung eines posi-
28
tiven Selbstwerts, Vermittlung von Coping-Strategien bis zu sozialen Netzwerken, in denen Körpergewicht und Figur keine Rolle spielen. Ein weiteres Ziel ist die kritische Auseinandersetzung mit medialen Botschaften ft und Informationen darüber, wie Individuen durch Werbung und Kultur beeinflusst fl werden. ! Während die theoretischen Grundlagen wenig Einfl fluss auf das Ergebnis haben, scheint der Vermittlungsmodus der Intervention eine entscheidende Rolle zu spielen: Interaktive Formate haben positivere Effekte ff auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen als rein didaktische Formate.
Fazit Für die Primärprävention bei Kindern lassen sich bisher mäßige Erfolge verzeichnen, Ergebnisse der bisherigen Forschung betonen die Wichtigkeit der Interventionen sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene, die unterschiedliche theoretische Modelle und interaktive Vermittlung berücksichtigen.
28.4.2
Wirksamkeit von Primärprävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Es gibt nur wenige Studien zur Primärprävention bei Essstörungen in dieser Altersklasse; diese lassen daher nicht auf gültige Trends schließen. Psychoedukative Maßnahmen in diesem Altersbereich über die Gefahr von Diäten und Vorteile eines gesunden Lebensstils können Diäthalten reduzieren, obwohl sie keine Einstellungsveränderungen im Bereich der körperlichen Unzufriedenheit bewirken. Vier Studien an Studentengruppen zeigen, dass eine kurze psychoedukative Intervention über gesunden Lebensstil positive Effekte ff auf Verhaltensebene bewirkt, ohne Einstellungen zu verändern.
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28.4.3
Kapitel 28 · Prävention der Essstörungen
Wirksamkeit von Sekundärprävention
Zielgruppe aller vorliegenden Studien sind mit einer Ausnahme Universitätsstudentinnen mit Gewichts- und Figursorgen. 13 Studien beinhalten 15 verschiedene Programme im Vergleich zu Kontrollgruppen und liefern großteils gute Ergebnisse. In fast allen Studien konnten Einstellungsveränderungen nachgewiesen werden, die in etwa zwei Drittel der Studien im Follow-up-Zeitraum von 1‒ 3 Monaten aufrechterhalten werden konnten. In etwas mehr als der Hälft fte der Studien wurden Verhaltensänderungen gefunden, die in 40 der Studien aufrechterhalten werden konnten. Die Gründe für die im Vergleich zur Primärprävention besseren Ergebnisse liegen vielleicht in einer höheren Motivation und Belastung von Studentinnen, die sich für derartige Programme melden. Andere Gründe könnten in der Tendenz zur Norm liegen oder in der Tatsache, dass der individuelle Ansatz bei Universitätsstudentinnen, die im Vergleich zu Jüngeren ein ausgeprägteres kritisches Denkvermögen haben, besser greift ft als bei Kindern, die mehr dem sozialen Umfeld verhaftet ft sind. Letztlich lassen jedoch die kurzen Zeiträume zwischen Intervention und Nachuntersuchung nur eingeschränkte Schlussfolgerungen über den Nutzen von Sekundärprogrammen zu. Untersuchungen zu den theoretischen Positionen, die den Programmen zugrunde liegen und zu positiven Einstellungs- und Verhaltensänderungen führten, zeigen, dass eine Integration von sozialkognitiver Theorie, dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell und kritischer Sozialtheorie am wirksamsten ist. So zeigte sich eine Kombination aus kognitiver Intervention, Selbstbehauptungstraining und kulturellen Reflexionen fl als besonders wirkungsvoll. Celio et al. (2000) kombinierten in einem multimodalen Zugang via Internet und Face-to-face-Kontakten psychedukative Elemente über gesunde Gewichtsregulation mit kognitiven Elementen zur Stressbewältigung und negativen Gedanken sowie einen feministischen Zugang zur kritischen Reflexion fl von körperbezogenen Themen. Th Stice et al. (2000) entwickelten das so genannte kognitive Dissonanzprogramm, in dem die Teilnehmer ein Programm für Schülerinnen entwickelten, das die Internalisierung des Schlankheitsideals verhindern sollte. Inhaltlich
zielt dieses Programm auf die Entwicklung von kritischem Denken, Selbstbehauptung und Änderung von internalisierten Kognitionen ab. Fazit Ingesamt zeigen sich sowohl die bisher durchgeführten Primär- als auch die Sekundärinterventionen als wirksam. Für die Zukunft sind im Bereich der Primärprävention neben den individuellen Ansätzen ebenso systemische Veränderungen erforderlich, die längere Nachuntersuchungszeiträume erforderlich machen. Angesichts einer allgemeinen Gesundheitsförderung im Jugendalter sollten Präventionsprogramme auf breiterer Ebene entwickelt werden, die auf universelle protektive Faktoren und Risikofaktoren im Jugendalter abzielen und somit auch andere Bereiche wie Substanzmissbrauch und Adipositas abdecken.
28.5
Gemeinsame Präventionsprogramme für Essstörungen und Adipositas
Für einen integrierten Präventionsansatz für Adipositas und Essstörungen sprechen das häufi fig gleichzeitige Auft ftreten von Übergewicht und ungesunden kompensatorischen gewichtsreduzierenden Maßnahmen (wie Fasten, Mahlzeiten auslassen, Rauchen, Erbrechen, Laxanzien- oder Diuretikaabusus, Einnahme von Appetitzüglern oder Nahrungsmittelsurrrogaten) sowie ein möglicher Symptomwechsel von z. B. von Adipositas zu Bulimia nervosa (40 der Frauen mit Bulimia nervosa waren in der Kindheit übergewichtig) (Fairburn et al. 1997). Außerdem sprechen auch praktische Überlegungen in der Realisierbarkeit von Interventionsprogrammen und zeitliche Rahmenbedingungen in der Schule für gesundheitsbezogene integrierte Präventionsprogramme von Adipositas und Essstörungen. Dennoch erscheinen Ziele in der Adipositas- und Essstörungsprävention z. T. widersprüchlich: Verhaltensweisen, die integraler Bestandteil in Gewichtsreduktionsprogrammen sind, wie Auf-
28.5 Gemeinsame Präventionsprogramme für Essstörungen und Adipositas
zeichnungen zu Mahlzeiten, Nahrungsmittelreduktion, Gewicht und Aktivitäten, gelten im Essstörungsbereich als pathologisch. Trotz der scheinbaren Widersprüche in der Behandlung gibt es eine Reihe von gemeinsamen Zielen wie z. B. die Einnahme von regelmäßigen Mahlzeiten (um Binge-Eating zu vermeiden), Beachten von Körpersignalen wie Hunger- und Sättigungsgefühl (und Vermeiden von Überessen aufgrund von »emotionalem Hunger« oder externem Angebot) sowie Freude an körperlicher Aktivität (verhindert zuviel und zu wenig Sport). Wesentlich in einem gemeinsamen Präventionsansatz ist die Vermittlung von Botschaften, ft die an die Öff ffentlichkeit gehen und für ein breites Spektrum von gewichtsbezogenen Störungen geeignet sind. So stellt sich etwa die Frage, ob die Wichtigkeit des Beachtens von Körpersignalen wie Hunger und Sättigung betont werden soll (wie das im Essstörungsbereich der Fall ist) oder vielmehr die Portionsgrößen (wie im Adipositasbereich). Ein Programm (New Moves), das Elemente aus dem Präventionsbereich von Essstörungen in ein Adipositaspräventionsprogramm integriert, beinhaltet drei Ziele (. Übersicht). Ziele des Programms New Moves 1. Selbstakzeptanz von jugendlichen Mädchen in einer Gesellschaft mit dominierenden Schlankheitsidealen 2. Unterstüzung der Mädchen bei der Vermeidung von ungesunden Verhaltensweisen zur Gewichtsreduktion 3. Veränderungen im Essverhalten und körperlicher Aktivität, um körperliche Gesundheit zu verbessern und das Gewicht zu halten
Fazit Es gibt praktische und konzeptionelle Gründe für den Gebrauch eines integrierten Präventionsansatzes für Essstörungen und Adipositas. Veränderungen im persönlichen und sozialen Umfeld sind dafür notwendig. Maßnahmen im Umweltbereich und psychoedukativen Bereich sollen einander ergänzen.
175
28
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22
Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz
23
Beate Herpertz-Dahlmann
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29.1
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25 26
29.2
Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie – 176 Individuelle psychotherapeutische Behandlung – 177
29.3
Einbeziehung der Familie
– 178
29.3.1 Gruppenpsychoedukation für Eltern 29.3.2 Familientherapie – 179
29.4
– 178
Behandlung der Komorbidität und medikamentöse Therapie – 180
29.4.1 Medikamentöse Behandlung – 180
27 28 29 30 31 32 33 34
Für die Behandlung der kindlichen und adoleszenten Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) liegen mit Ausnahme der Familientherapie fast keine kontrollierten Studien vor. Die Mehrzahl der Empfehlungen beruht auf Expertenmeinungen und/oder klinischen Erfahrungen. Trotz der fehlenden Evidenzkriterien hat die Verbesserung der Behandlung – insbesondere die der Gewichtsrehabilitation – zu einer Senkung von Morbidität und Mortalität bei der adoleszenten AN in den letzten 10 Jahren geführt. Die Therapie Th der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz ist multimodal und besteht im Wesentlichen aus vier Bausteinen (. Übersicht).
35
Therapie der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz
36
1. Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie 2. Individuelle psychotherapeutische Behandlung 3. Einbeziehung der Familie 4. Behandlung der Komorbidität und ggf. medikamentöse Behandlung (in erster Linie bei BN)
37 38 39 40
29.1
Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie
Zu Beginn der Behandlung von AN und BN stehen Ernährungsanamnese und -protokoll. Der Ernährungsberater (oder Therapeut) Th dokumentiert auf der Station die tägliche Nahrungsmenge und die Essgewohnheiten. Ambulante Patientinnen sollten ein Ernährungstagebuch führen, in das sie über einen Zeitraum von 1‒2 Wochen die jeweils verzehrten Nahrungsmittel und -mengen eintragen, ggf. auch Zeitpunkt und situative Besonderheiten des selbstinduzierten Erbrechens. Auf der Basis des Ernährungsprotokolls wird ein Essensplan erstellt, der je nach Grad der Starvation 5‒6 Mahlzeiten umfasst (je niedriger das Körpergewicht, desto häufigere Mahlzeiten). Während Diätprodukte keinen Platz auf dem Essensplan haben, sollen so genannte »verbotene« (z. B. hochkalorische bzw. süße) Speisen integriert werden, um die Wahrscheinlichkeit von Essattacken, v. a. bei bulimischen Patientinnen, zu reduzieren. Im stationären Rahmen empfiehfi lt sich manchmal ein so genanntes »Modellessen«, bei dem die Patientin mit einem erfahrenen Betreuer die Mahlzeit einnimmt, um wieder ein normales Essverhalten zu erlernen. Bei der BN muss der Patientin der Zusammenhang von restriktivem Essen und Essattacken erklärt werden, darüber hinaus die Notwendigkeit von Zwischenmahlzeiten zur Prävention des Heißhungergefühls.
177
29.2 Individuelle psychotherapeutische Behandlung
Fast alle Leitlinien defi finieren als Zielgewicht das Gewicht, bei dem die Menstruation wieder einsetzt. Diese Empfehlung kann für prämenarchale Patientinnen nicht umgesetzt werden. Bei postmenarchalen Patientinnen liegt vielfach ein längerer Zeitraum zwischen Gewichtsstabilisierung und Wiedereintreten der Menstruation. Fazit Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie hat die 25. alterspezifische fi BMI-Perzentile als Zielgewicht empfohlen.
29.2
29
Individuelle psychotherapeutische Behandlung
Die Einzelpsychotherapie bei adoleszenter AN und BN erfolgt meist auf der Basis eines kognitiv-behavioralen Störungsmodells. Als ersten Schritt ermutigen wir die Patientin in Anlehnung an die Idee von U. Schmidt und J. Treasure, zwei Briefe an die Essstörung zu schreiben. Im ersten kann die Patientin die Vorteile, die sie in der Essstörung sieht, auflifl sten; er beginnt mit der Anrede: Liebste Magersucht/Bulimie, Du bist meine beste Freundin, weil …
Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass es nicht immer sinnvoll ist, dieses Zielgewicht gleich zu Beginn der Behandlung mit der Patientin zu besprechen, da ihr das Erreichen dieses Gewichts als unüberwindbare Hürde erscheinen kann. Vielmehr werden von Patientin und Therapeut erste Gewichtsstufen im Rahmen einer »Gewichtstreppe« festgelegt, bei der bestimmte Gewichtsmarken mit »Verstärkern« verbunden sind, z. B. Teilnahme an Außenaktivitäten, Besuch der Klinikschule, Wochenendbesuche zu Hause etc. Die Leitlinien sehen im stationären Rahmen eine wöchentliche Gewichtszunahme von 500‒ 1000 g vor, bei ambulanten Patientinnen ca. 300 g pro Woche. Die Gewichtszunahme sollte langsam und kontinuierlich erfolgen, um biologische Gegenregulationsmechanismen (Leptinanstieg!) zu vermeiden. Darüber hinaus soll die Patientin ausreichend Zeit haben, sich mit ihren veränderten Körperformen auseinanderzusetzen. Die Ernährungsberatung erfolgt individuell und in der Gruppe. Es hat sich gezeigt, dass adoleszente Patientinnen zwar gut über den Kaloriengehalt einzelner Nahrungsmittel, jedoch nicht über die Zusammensetzung einer gesunden Ernährung informiert sind. Aus diesem Grund klären wir unsere Patientinnen sowohl über notwendige Nahrungsbestandteile (quantitativ und qualitativ) als auch über körperliche und psychische Starvationsfolgen auf.
Im zweiten Brief werden die Nachteile der Erkrankung aufgeführt; er hat die Anrede: Böse Magersucht, Du bist meine ärgste Feindin, weil …
Dieses Vorgehen hilft ft, einen ersten Zugang zu der Patientin zu fi finden, weil die Essstörung nicht nur sanktioniert wird, wie es die Patientin von ihren Angehörigen bereits kennt, sondern die für sie wichtigen Motive angehört werden. In weiteren therapeutischen Schritten lernt die Patientin, fixierten Denkschemata bezüglich Figur und ihre fi Gewicht zu überprüfen (kompetent sein, »interessant sein« wird gleichgesetzt mit dünn sein etc.). Tief verwurzelt sind Ideen der eigenen Unfähigkeit (»Ich bin nichts wert«). Es bedarf oft ft vieler Sitzungen, in denen die Patientin überlegen kann, welche ihrer Eigenschaften ft sie an sich mag und welche anderen an ihr gefallen. Hier hilft ft ein gruppentherapeutisches Setting, in dem die anderen Teilnehmerinnen rückmelden können, was sie an der Patientin schätzen. Wenn es ihr besser geht, werden manchmal Freundinnen bzw. Freunde der Patientin zu gemeinsamen Gesprächen eingeladen, um eine Auseinandersetzung mit der Realität zu ermöglichen. Im Rahmen von solchen Gruppengesprächen erfährt die Patientin, dass kritische Äußerungen von ihr oder anderen Gesprächsteilnehmern nicht zu dem von ihr befürchteten Beziehungsabbruch führen. In einem weiteren Schritt wird mit der Jugendlichen überlegt, wie sie ihrem Wunsch nach Beachtung und Zuwendung, der sich vielfach in der
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Kapitel 29 · Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz
Magersucht ausdrückt, Ausdruck verleihen kann. Bei jüngeren Patientinnen zeigt sich oft ft eine ausgeprägte Geschwisterrivalität, verbunden mit der Sorge, dass mit einem normalen Gewicht auch die Beachtung der Eltern verloren geht. Hier muss die Patientin lernen, ihre Anliegen durch Formulierung eigener Vorstellungen, Beharrlichkeit bei der Durchsetzung eigener Wünsche sowie Zugehen auf andere durchzusetzen. Neben kognitiv-behavioralen Strategien spielen v. a. unterstützende Elemente in der Therapie von Jugendlichen und Kindern eine bedeutsame Rolle. Entsprechend einer Studie von McIntosh et al. (2005) zum so genannten specialist supportive clinical management, in die auch 17-Jährige einbezogen waren, wird die Patientin unterstützt, nicht vorzeitig aufzugeben und an ihrem Ziel, die Krankheit zu überwinden, festzuhalten. Dieser Aspekt tritt umso stärker in den Vordergrund, je jünger die Patientin ist. Kindliche Patientinnen mit AN erleben ihre Erkrankung vielfach als »böse Macht«, der sie hilflos ausgesetzt sind. Sie weisen eine geringe Introspektionsfähigkeit auf und sind nicht in der Lage, ein individuelles Krankheitskonzept zur Entstehung und Bewältigung ihrer Störung zu entwickeln. Zudem leiden viele von ihnen unter starkem Heimweh. Hier sollte der Th Therapeut eine empathische Rolle einnehmen und die Patientin darin bestärken, gesund werden zu wollen und zu können. Manchmal sind tägliche Gespräche angezeigt, um die oft ft sehr belastete und depressive Patientin zu ermutigen.
29.3
Einbeziehung der Familie
Im Folgenden sollen sowohl psychoedukative Gruppen für Eltern als auch familientherapeutische Interventionen im engeren Sinne dargestellt werden.
38 29.3.1
39 40
Gruppenpsychoedukation für Eltern
In jüngerer Zeit entstanden mehrere Projekte zur Psychoedukation von Eltern essgestörter Patientinnen (z. B. Zucker et al. 2006).
! Ursache der Entwicklung von Psychoedukationsprojekten war die Erkenntnis, dass viele Eltern, insbesondere die Mütter, die Essstörung ihrer Töchter schuldhaft erleben. Eine »Rationalisierung« des Krankheitsbildes, z. B. durch Verständnis der medizinischen Folgen des Starvationsprozesses, kann Gefühle des Versagens und der Resignation bei den Angehörigen mildern.
Das Alltagsleben einer Familie, auch das der Geschwister, wird durch die Essstörung eines Kindes erheblich beeinträchtigt. Die gemeinsamen Mahlzeiten werden durch heft ftige Konfl flikte gestört, die Eltern eignen sich »detektivische« Strategien an, um Hinweise auf Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch ihrer Tochter zu finden, und die Geschwister erhalten nicht mehr die für sie notwendige Aufmerksamkeit der Eltern. Ein hohes Maß an kritischen Kommentaren durch Familienmitglieder (sog. expressed emotions concept) geht mit einer schlechteren Prognose der Essstörung einher. Im Rahmen der Psychoedukationsgruppe sollen die Eltern lernen, sich von ihrer »Verursacherrolle« zu lösen, die Verhaltensweisen ihrer Tochter besser zu verstehen und kotherapeutische Aufgaben zu übernehmen. Weiterhin soll das Behandlungskonzept der Klinik oder der Th Therapeuten für die Angehörigen transparent gemacht werden. In 5‒6 Sitzungen wird das notwendige Wissen an 5‒ 6 Elternpaare vermittelt (. Übersicht: Gruppenedukation für Eltern). Sie erhalten u. a. Informationsblätter, auf denen die Inhalte der einzelnen Therapiebausteine zusammengefasst werden. Gruppenedukation für Eltern – Programm der Sitzungen 1. Termin: 5 Information zur Symptomatik (einschließlich körperliche Komplikationen), Epidemiologie, Ätiologie und Komorbidität der AN 2. Termin: 5 Entsprechende Informationen zur BN 5 Stationäres und ambulantes Behandlungskonzept von AN und BN 6
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29.3 Einbeziehung der Familie
5 Indikationen und Ziele der stationären Behandlung bei AN und BN 3. Termin: 5 Ernährungsberatung (durch Ökotrophologin) 4. Termin: 5 Weitere Ziele der ambulanten und stationären Behandlung 5 Vorbereitung der Entlassung 5 Familienessen auf der Station 5 Wochenendbesuch zu Hause 5 Essen mit der Familie zu Hause und bei gemeinsamen Aktivitäten 5. Termin: 5 Weiterbehandlung nach Entlassung 5 Tagesklinik 5 Ambulante Therapie 5 Jugendhilfemaßnahmen 5 Wiederaufnahmekriterien ffene Fragen und Anregungen der Eltern 5 Off
Die Mehrzahl der Eltern beurteilt eine solche Gruppenpsychoedukation als sehr hilfreich.
29.3.2
Familientherapie
Die Familientherapie ist die einzige Form der Psychotherapie bei adoleszenter AN oder BN, für die kontrollierte Studien vorliegen. Ausgangspunkt war die Studie von Russell et al. einschließlich einer 5-Jahres-Katamnese, in der gezeigt wurde, dass eine familientherapeutische Behandlung bei jungen, nicht chronisch kranken AN-Patientinnen in Bezug auf Körpergewicht, Wiedereinsetzen der Menstruation sowie psychosexuelle Funktionen wirksamer als eine einzeltherapeutische Behandlung war. Dieses Ergebnis konnte in weiteren, z. T. auch stärker verhaltenstherapeutisch orientierten (vs. »systemisch« ausgerichteten) Studien bestätigt werden. Aufbauend fb auf den o. g. Arbeiten wurde von Eisler und Mitarbeitern (2007) eine familientherapeutische Intervention entwickelt, bei der die Eltern zu Beginn der Behandlung die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme der Tochter übernehmen. Die Autoren verglichen die Behandlung von Familien »als Ganzes« mit der getrennten Th The-
29
rapie von Eltern und Tochter. Bei beiden TheraTh piearten zeigte sich eine deutliche Verbesserung in Bezug auf Ernährung und psychologische Veränderungen. Die symptomatischen Veränderungen waren bei der getrennt durchgeführten Familientherapie stärker ausgeprägt als bei der gemeinsamen Therapie, während bei letzterer die psychischen Veränderungen wie Verbesserung der Stimmung, Zwanghaftigkeit, ft subjektive Einschätzung der Essstörungssymptomatik deutlicher waren. In Familien mit einem hohen Maß an mütterlicher Kritik bezüglich des Verhaltens der Patientin erwies sich eine getrennt durchgeführte Familientherapie als effektiver. ff Dieses Ergebnis bestätigte sich auch noch 5 Jahre später, da diese Patienten nach Abschluss der Behandlung eine geringere Gewichtszunahme aufwiesen als die übrigen Studienteilnehmer. Ein randomisierter Vergleich von klassischer Familientherapie (jede Familie wird von einem Th Therapeuten betreut) und Familiengruppen-Psychoedukation zeigte keinen Unterschied im Behandlungserfolg auf. Auch die Dauer der Behandlung scheint keinen bedeutenden Einfl fluss auf den Heilungserfolg zu nehmen. Mit Ausnahme schwer kranker AN-Patientinnen, die zusätzlich an einer Zwangsstörung litten, zeigte eine Behandlungsdauer von 12 Monaten keinen besseren Heilungserfolg als eine Dauer von 6 Monaten. fi in ähnlicher ! Kinder unter 14 Jahren profitieren Weise von familientherapeutischen Maßnahmen wie Adoleszente.
Fazit Die Familientherapie ist bei der adoleszenten AN der Individualtherapie überlegen. Dabei scheint es nur eine sekundäre Rolle zu spielen, welche Form der familienorientierten Intervention angewendet wird. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass die Patientinnen in den o. g. angloamerikanischen Studien mit ambulantem Setting fast alle ein deutlich höheres Gewicht zu Behandlungsbeginn aufwiesen als die in Deutschland in einem stationären Setting behandelten Patientinnen.
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Kapitel 29 · Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz
Für die adoleszente BN liegen zwei kontrollierte Studien zur Familientherapie vor. In einer Studie wurde die Familientherapie nach dem Russell-Konzept mit einer therapeutisch geleiteten, manual-basierten kognitiv-behavioralen Anleitung zur Selbsthilfe verglichen. Beide Behandlungsformen waren wirksam. Allerdings wies die mithilfe der Verhaltenstherapie zur Selbsthilfe angeleitete Gruppe bei Behandlungsende nach 6 Monaten eine signififi kant stärkere Reduktion von Essanfällen auf als die familientherapeutisch behandelte Gruppe. Nach 12 Monaten war diese Differenz ff nicht mehr nachweisbar. Die Akzeptanz bei den Jugendlichen war bei dem therapeutisch geleiteten Selbsthilfesetting höher als für die Familientherapie, und die behandlungsbedingten Kosten waren geringer. In einer weiteren Studie wurde eine individuelle supportive Psychotherapie mit Familientherapie verglichen. Nach Abschluss der Behandlung sowie nach 6 Monaten Follow-up zeigte die Familientherapie einen größeren Heilungserfolg in Bezug auf die Reduktion von Heißhungeranfällen und »Purging«. Auch weitere Symptome der Essstörung (Diät halten, Beschäft ftigung mit Figur und Gewicht, niedriges Selbstwertgefühl) besserten sich unter der familientherapeutischen Behandlung deutlich. Fazit Die Familientherapie zeigt bei adoleszenter BN eine hohe Effi ffizienz; allerdings müssen weitere therapievergleichende Studien für eine endgültige Beurteilung abgewartet werden.
35 36 37 38 39 40
29.4
Behandlung der Komorbidität und medikamentöse Therapie
! Aufgrund des hohen Risikos für Angsterkrankungen bei essgestörten Patientinnen hat sich ein soziales Kompetenztraining im Rahmen der stationären Behandlung als hilfreich erwiesen.
Da das Risiko für Angsterkrankungen bei adoleszenten Essstörungen im Querschnitt und im Längsschnitt hoch ist, führen wir bei Patientinnen, die Symptome einer sozialen Phobie aufweisen, ein
soziales Kompetenztraining durch, jedoch bei AN erst nach Erreichen der 10. BMI-Altersperzentile. Das soziale Kompetenztraining zur Behandlung komorbider sozialphobischer Störungen bei AN und BN bezieht sich sowohl auf essensabhängige als auch auf essensunabhängige Situationen, d. h., sowohl auf Restaurant- und Mensabesuche und Essen mit Gleichaltrigen als auch auf Besuche einer Jugend-Disco, selbständiges Bus fahren, Eröffnen ff eines Kontos etc. Wir halten die Behandlung der sozialen Phobie für sehr wichtig, da eine mangelnde Autonomie der Patientin einem Rückfall in die Krankenrolle Vorschub leistet. Eine komorbide Zwangserkrankung ist ebenfalls behandlungsbedürftig ft . Bei der AN empfi fiehlt sich auch hier zuerst das Erreichen eines »gesünderen« Körpergewichts, z. B. der 10. BMI-Altersperzentile. Als Methode der Wahl ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung, ggf. in Verbindung mit metakognitiver Th Therapie, in schwereren Fällen auch der Einsatz von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) nach Gewichtsrehabilitation anzusehen.
29.4.1
Medikamentöse Behandlung
Anorexia nervosa Antidepressiva Weder trizyklische Antidepressiva noch Lithium zeigten einen Effekt ff bei adoleszenten AN-Patientinnen. SSRI sind im Stadium der Starvation nicht wirksam. Eine rückfallprophylaktische Wirkung konnte in neueren Studien, in die auch adoleszente Patientinnen eingeschlossen waren, ebenfalls nicht nachgewiesen werden. SSRI zeigten auch keinen signifikanten fi Eff ffekt auf eine komorbide depressive Symptomatik oder auf die Essstörungssymptomatik selbst.
Antipsychotika Konventionelle Antipsychotika weisen keine signifikante Wirkung bei der Therapie der AN auf. Eine fi Behandlung mit Th Thioridazin ist aufgrund des erhöhten Risikos kardialer Nebenwirkungen, insbesondere bei Störungen des Kaliumstoffwechsels, ff nicht zu empfehlen. Erste offene ff Untersuchungen mit atypischen Antipsychotika, insbesondere Olanzapin, Risperidon und Quetiapin, zeigten einen positiven
29.4 Behandlung der Komorbidität und medikamentöse Therapie
Effekt, ff den die eigene klinische Erfahrung für einige Patientinnen, aber nicht für die Mehrzahl, bestätigen kann. Manchmal ist der sedierende Effekt ff von Olanzapin bei ausgeprägter körperlicher Hyperaktivität zu Beginn der Behandlung hilfreich. In einer kontrollierten Studie zu Olanzapin bei magersüchtigen Erwachsenen konnte kein Gewichtsunterschied zwischen der Plazebo- und der Verumgruppe nach Therapieende Th gefunden werden. Fazit Es ergeben sich bisher keine ausreichenden Hinweise für die Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung bei AN.
Bulimia nervosa ! Bei der BN haben sich SSRI zur Reduktion der Essattacken bei adoleszenten Patientinnen als wirksam erwiesen.
Die Dosierung von SSRI erfolgt wie bei Erwachsenen in einer Tagesmenge, die etwa der Dosis bei der Behandlung von Zwangserkrankungen entspricht (z. B. 60‒80 mg Fluoxetin oder 100‒150 mg Fluvoxamin) . Fazit Es sind dringend weitere Anstrengungen erforderlich, wirksame Behandlungsmethoden für adoleszente Essstörungen zu finden. fi Die hohe Rate an Rehospitalisationen behindert die persönliche, soziale und berufliche fl Entwicklung der Jugendlichen und erhöht ihrerseits im Sinne eines Circulus vitiosus die Rückfallwahrscheinlichkeit.
Literatur Brambilla F, Garcia CS, Fassino S et al (2007) Olanzapine therapy in anorexia nervosa: psychobiological effects. ff Int Clin Psychopharmacol 22: 197-204 Bulik CM, Berkman ND, Brownley KA, Sedway JA, Lohr KN (2007) Anorexia nervosa treatment: a systemic review of randomized controlled tritals. Int J Eat Disord 40: 310-320 Eisler I, Simic M, Russell GF, Dare C (2007) A randomised controlled treatment trial of two forms of family therapy
181
29
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30 21
Familientherapie
22
Günter Reich
23
30.1
Familiäre Einfl flüsse auf das Essverhalten und die Einstellung zum Körper – 182
30.2.4 Familiendynamik bei der Binge-EatingStörung – 185
30.2
Familiendynamik bei Essstörungen – 183
30.3
24 25 26 27 28
30.2.1 Einfl fluss familiärer Beziehungen auf die Entwicklung von Essstörungen – 183 30.2.2 Familiäre Beziehungen bei Anorexie und Bulimie – 183 30.2.3 Familiendynamik bei männlichen Jugendlichen und Männern mit Anorexie und Bulimie – 184
Familien- und Paartherapie bei Essstörungen – 185
30.3.1 Formen von Familientherapie bei Essstörungen – 186 30.3.2 Indikationen zur Familien- und Paartherapie – 186 30.3.3 Phasen der Familientherapie bei Essstörungen – 187
29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Essstörungen wurden bereits früh in einem engen Zusammenhang mit familiären Beziehungen gesehen, insbesondere die Anorexia nervosa (AN). Auch wenn Essstörungen durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren (genetisch, soziokulturell, Persönlichkeit) bedingt sind, mindert das die Bedeutung von Familien- und Paarbeziehungen nicht. Familiäre und auch Paarbeziehungen können Essstörungen wesentlich verursachen, die anderen genannten Einflüsse fl wesentlich verstärken oder diese abschwächen und bei deren Bewältigung helfen. Essstörungen haben oft ft einen wesentlichen Einfl fluss auf Familien- und Partnerbeziehungen, fördern Spannungen und Konflikte fl und blockieren Lösungen. Familiäre Einflüsse fl wirken sich auf direkte und auf indirekte Weise auf die Entstehung von Essstörungen aus. Der direkte Einfluss fl findet über den Umgang mit Essen, Gewicht und Aussehen statt, der indirekte über das Selbstwert-, Selbstwirksamkeits- und Autonomiegefühl, das durch die familiären Beziehungen und deren Verarbeitung geprägt ist. ! In der Familientherapie wird die Entwicklung einer Essstörung als Systemprozess gesehen, wobei nicht nur die Beziehungen der Patientinnen zu ihren Müttern, sondern auch die zu
Vätern und Geschwistern eine bedeutende Rolle spielen. Die Essstörung erscheint in diesem Ansatz als ein Versuch zur Lösung interpersoneller Konflikte. fl Der systemorientierte Ansatz verbessert die Behandlungsmöglichkeiten von Essstörungen insbesondere bei Jugendlichen erheblich.
30.1
Familiäre Einfl flüsse auf das Essverhalten und die Einstellung zum Körper
Klinische Beobachtungen und quantitative Studien belegen die vielfältigen Einflüsse fl der Familie auf die Einstellung zum Essen, zum eigenen Körper und auf das Essverhalten selbst. Diese finden fi durch direkte Stellungnahmen und das Modellverhalten der wichtigen Beziehungspersonen statt und betreff ffen folgende Bereiche: 5 Ähnlichkeit in der Einstellung zu Nahrungsmitteln, insbesondere bezüglich der Sauberkeit, eventueller Ekelgefühle und der Lebensmittelpräferenzen, 5 übermäßige Beschäftigung ft mit Gewicht und Essen, 5 Betonung und Verstärkung der Bedeutung von Aussehen und Figur,
183
30.2 Familiendynamik bei Essstörungen
ft ver5 ausgeprägte Körperunzufriedenheit, oft bunden mit starker Orientierung auf soziales Ansehen und Leistung, 5 Schlankheitsdruck, ausgeprägtes Diätverhalten und andere exzessive Versuche, Essen und Gewicht zu kontrollieren, 5 gestörte Einstellung zum Essen und »gezügeltes Essverhalten«, 5 früher Beginn von Diäten bei Müttern Essgestörter, 5 Wahrnehmung des Gewichts der Töchter durch die Mütter und Diff fferenzen zwischen der Einschätzung der Mütter und der Töchter bezüglich der Attraktivität der Töchter, 5 kritische und abwertende Kommentare zu Figur, Gewicht, 5 Einsatz von Essen als Mittel gegen Langeweile und negative Gefühle, 5 manifeste Essstörungen und Übergewicht in den Familien, insbesondere bei Bulimie.
weniger als die von Vergleichsgruppen. Sie üben mehr Kontrolle aus bzw. binden dann, wenn eigentlich die Autonomie ermutigt werden sollte. Auf der anderen Seite bieten sie wenig Zusammenhalt, wenn dieser benötigt wird. 5 Kommunikation: Hier zeigen sich ebenfalls deutliche Probleme; Eltern setzen die Probleme ihrer Kinder in ihrer Bedeutung herab oder sind unwillig, sie wahrzunehmen. Der Gefühlsausdruck ist ebenfalls oft ft gestört. Hierbei allerdings muss sowohl auf der klinischen als auch auf der empirischen Ebene zwischen Anorexie, Bulimie und Binge-Eating-Störung (BES) unterschieden werden. Zudem sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Essstörungen bei Mädchen und jungen Frauen zu denen bei Jungen und jungen Männern zu beachten.
30.2.2 30.2
Familiendynamik bei Essstörungen
30.2.1
Einfl fluss familiärer Beziehungen auf die Entwicklung von Essstörungen
Der Zusammenhang zwischen familiären Beziehungen und Essstörungen kann inzwischen als empirisch gesichert gelten. Dies gilt für 5 Beziehungen insgesamt: Werden Familien als wenig funktional erlebt, werden auch Atmosphäre und Stellenwert gemeinsamer Mahlzeiten negativ gesehen. Beides wiederum hängt eng mit einer Störbarkeit des Essverhaltens und einem negativen Körperbild der Jugendlichen, insbesondere bei Mädchen, zusammen. 5 Organisation und den Zusammenhalt: Familien Essgestörter sind oft ft schlechter organisiert als die von Vergleichsgruppen. Der Zusammenhalt ist ebenfalls beeinträchtigt. Diese Probleme verstärken in der Adoleszenz Unsicherheiten der Jugendlichen bezüglich ihres Selbstwertgefühls und ihrer Autonomie. 5 Ablösung: Essstörungen gehen mit Ablösungsproblemen einher. Familien essgestörter Patientinnen ermutigen deren Unabhängigkeit
30
Familiäre Beziehungen bei Anorexie und Bulimie
In klinischen Beobachtungen werden Familien anorektischer Patientinnen als eng zusammenhaltend mit verwischten Generationengrenzen, Konflikte und Veränderungen vermeidend und aff ffektiv gedämpft ft beschrieben, wobei eventuell ein asketisches Ideal über mehrere Generationen weitergegeben wird und die Patientin ein prekäres Gleichgewicht in der Elternbeziehung stabilisiert. Familien bulimischer Patientinnen werden demgegenüber als impulsiver, konflikthaft fl fter, off ffener entwertend, weniger gebunden und nicht selten zu Substanzmissbrauch neigend beschrieben, beide als leistungs- und außenorientiert. Um derartige Beobachtungen gebildete klinische Typologien hielten quantitativ-empirischen Überprüfungen nur mit erheblichen Einschränkungen stand. Familien anorektischer Patientinnen haben erhebliche Probleme mit interpersonellen Grenzen, vermeiden stärker Konfl flikte als nichtessgestörte und bulimische bzw. normale Vergleichsfamilien und haben stärkere Probleme mit der Ablösung der Patientinnen von der Familie. Sie zeigen mehr Rigidität und Überfürsorglichkeit sowie eine höhere Leistungsorientierung und einen stär-
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Kapitel 30 · Familientherapie
keren Perfektionismus als die von nichtessgestörten Jugendlichen. Anorektikerinnen sind dabei höheren Erwartungen ihrer Eltern ausgesetzt als ihre gesunden Geschwister. Familien von Anorektikerinnen zeigen eine geringere Selbstbestimmtheit bei Müttern, Vätern und Patientinnen als die einer normalen Vergleichsgruppe. Es fi finden sich gehäuft ft soziophobische und zwanghaft fte Züge. Dies unterscheidet sie von Familien von Bulimikerinnen. Der Bindungsstil zeigt sich oft ft als unsichervermeidend. Auch nach der Beseitigung der Anorexie erleben ehemalige Patientinnen die Familienbeziehungen als komplizierter und weniger befriedigend als nichtessgestörte Probandinnen. Krankheits- bzw. Besserungsverlauf und die Qualität der familiären Beziehungen hängen zusammen. Familien bulimischer Patientinnen unterscheiden sich in empirischen Studien von Familien anorektischer Patientinnen sowie von normalen und nichtessgestörten Vergleichsgruppen durch ein schlechteres allgemeines Funktionieren. Es finden fi sich höhere Raten depressiver Erkrankungen als bei anorektischen Patientinnen sowie anderen psychiatrischen und normalen Kontrollgruppen. Das Familienleben ist stärker durch offene ff Konfl flikte bestimmt als bei anorektischen Patientinnen und anderen Vergleichsgruppen. Der Affektausdruck ff ist heftiger ft als bei Familien anorektischer Patientinnen. Dort sind die Eltern überfürsorglicher. Es finden sich mehr Indiff fferenz, Mangel an Fürsorge, Antipathie und körperliche Misshandlungen in Familien bulimischer Patientinnen als in denen von Anorektikerinnen, die sich in dieser Hinsicht kaum von Familien nichtgestörter Probandinnen unterscheiden. Familien anorektischer Patientinnen zeigen einen größeren Zusammenhalt als die von Bulimikerinnen, bei denen z. T. eine geringere Kohäsion gefunden wurde als in nichtessgestörten und normalen Vergleichsgruppen. Auch die eheliche Dyade scheint in den Familien bulimischer Patientinnen stärker gestört als in den genannten Vergleichsgruppen, insbesondere stärker als bei restriktiven Anorektikerinnen. Gegenüber normalen Vergleichsgruppen, auch gegenüber Anorektikerinnen, erscheint die emotionale Resonanz in den Familien bulimischer Patientinnen beeinträchtigt. Die Impulskontrolle scheint gestörter zu sein als bei anorektischen Patientinnen und normalen Kontrollgruppen. Es finden fi sich häufi figer Suchter-
krankungen und Substanzmissbrauch als bei normalen und psychiatrischen Kontrollgruppen sowie bei Angehörigen anorektischer Patientinnen. Familien von Anorektikerinnen und Bulimikerinnen unterscheidet eine starke Leistungsorientierung gleichermaßen von Vergleichsgruppen. Insgesamt zeigt sich in Familien von Anorektikerinnen eine Tendenz zu einem kontrollierten, affektiv ff zurückgenommenen Familienstil. Diese erscheinen als »konsensus-sensitiv«. Bei Familien von Bulimikerinnen zeigen sich ein impulsiv-konflikthaft fl fter Stil und eine affektive ff Instabilität. Diese erscheinen zudem als »distanz-sensitiv«. Das gemeinsame Auft ftreten einer voll ausgeprägten Anorexie und einer ebensolchen Bulimie deutet auf eine schwere Störung hin. Dementsprechend ähneln Familien bulimischer Anorektikerinnen in den meisten Untersuchungen denen von Bulimikerinnen: Sie zeigen ein stärker beeinträchtigtes allgemeines Funktionieren, mehr Konflikte fl und negative Gefühle als Anorektikerinnen. Bei diesen Patientinnen der »Mischgruppe« sind weitere Studien zur Familieninteraktion nötig, die die jeweilige Ausprägung und Schwere der bulimischen und anorektischen Symptomatik sowie die Komorbidität mitberücksichtigen.
30.2.3
Familiendynamik bei männlichen Jugendlichen und Männern mit Anorexie und Bulimie
Familien anorektischer Patienten zeigen Häufungen von Essstörungen, insbesondere anorektischer Art, und anderer psychiatrischer Erkrankungen. Die oberfl flächlich betrachtet normal funktionierenden Familien entmutigen Autonomieschritte. Die späteren Patienten erscheinen als eng an ihre Mütter gebunden und von diesen kontrolliert. Von Seiten der Väter besteht zu ihnen eine ablehnende oder abwertende Beziehung, sodass sie sich nicht von der Mutter lösen und mit dem Vater identifi fizieren können, zumal die Mütter die Väter oft ft off ffen oder verdeckt ablehnen. Auch bei Bulimikern findet sich eine enge, ambivalente Mutterbindung und eine ablehnende oder distanzierte Beziehung des Vaters zu den späteren Patienten. Bei beiden Krankheitsbildern soll dementsprechend die sexuelle Kerni-
185
30.3 Familien- und Paartherapie bei Essstörungen
dentität gestört sein. Die Patienten haben Schwierigkeiten, sich als ein sexuell begehrendes Wesen zu erleben.
30.2.4
Familiendynamik bei der Binge-Eating-Störung
Familien von Patienten mit BES zeigen weniger Zusammenhalt und Zuwendung, gleichzeitig mehr Kontrolle und Konfl flikte, weniger Expressivität und Unabhängigkeit sowie weniger Anreiz zu aktiver Gestaltung freier Zeit und zu intellektuell-kultureller Orientierung als die von Gesunden. Die Patienten werden in der Familie häufi figer wegen ihres Aussehens und ihres Gewichts kriti-
30.3
30
siert als Kontrollpersonen. Die emotionale Zuwendung erscheint als gestörter, und es gibt häufi figer sexuelle und körperliche Missbrauchserfahrungen sowie häufi figer Essstörungen und Alkoholprobleme bei den Eltern. Der mögliche Einfluss fl von Missbrauch und Misshandlung bei der BES bedarf weiterer Klärung. Insbesondere die Befunde von Felitti (2002, nach Reich 2005) legen nahe, dass deren Einfluss fl bei Adipositas und Übergewicht möglicherweise unterschätzt wurde. Auf Männer bezogene Untersuchungen und Beobachtungen zur Familie bei BES liegen bisher nicht vor. Emotionaler Missbrauch scheint hier bei Männern und Frauen gleichermaßen mit erhöhter Körperunzufriedenheit und Depressivität sowie vermindertem Selbstwertgefühl einherzugehen.
Familien- und Paartherapie bei Essstörungen
Definition Familie und Familientherapie Unter dem Begriff ff Familientherapie werden psychotherapeutische Methoden zusammengefasst, die in der Theorienbildung und Behandlungsmethodik am interpersonellen Kontext der Patienten ansetzen. Hierfür kann folgende Definition fi zugrunde gelegt werden: Familientherapie ist ein psychotherapeutischer Ansatz mit dem Ziel, Interaktionen zwischen einem Paar, in einer Kernfamilie, in einer erweiterten Familie oder zwischen einer Familie und anderen interpersonellen Systemen zu verändern und dadurch Probleme einzelner Familienmitglieder, Probleme von
! Familien- und Paartherapie zielt darauf ab, die Beziehungen im interpersonellen System so zu verändern, dass 5 die Essstörung als Lösungsversuch für die hier bestehenden Konflikte fl und Schwierigkeiten nicht mehr notwendig ist, 5 die Essstörung aufrechterhaltende dysfunktionale Interaktionen minimiert werden und 5 die Beeinträchtigung der Beziehungen durch die Essstörung reduziert wird.
Familiensubsystemen oder der Gesamtfamilie zu lindern. (Wynne 1988) Familie wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein Mehrpersonensystem, dessen Mitglieder dauerhaft zusammenleben in Intimität, Privatheit und mit gemeinsamer Geschichte und Zukunftsvorstellungen. Das Familiensystem umfasst dabei i. d. R. zwei Generationen der leiblichen, Adoptiv-, Pfl flege- oder Stiefeltern und der leiblichen, Adoptiv- , Pfl flege- oder Stiefkinder sowie Paare und Partnerschaften. (AWMF-Leitlinien Paar- und Familientherapie, Version 2.0, 2002)
Veränderungen in der Familiendynamik führen zu positiven Veränderungen bei den Patientinnen und gehen mit einer verbesserten Prognose einher. Dies gilt insbesondere für die Anorexie bei Jugendlichen, aber auch bei erwachsenen Patientinnen mit chronifizierter fi Anorexie, und wurde in geringerem Maße auch für die Bulimie gezeigt. Bei Anorexien mit schlechtem Ausgang verändern sich die Familie und die enge Bindung an die Familie oft ft nicht. Polarisierungen zwischen Patientinnen und Eltern sowie elterliche Kritik und Abwertung gegenüber
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Kapitel 30 · Familientherapie
den Patientinnen tragen ebenfalls zu einer schlechten Prognose bei. Zur Paartherapie bei Essstörungen liegen bisher keine nennenswerten Untersuchungen vor. Weitere Forschung über TherapieTh effekte ff in der Familienbehandlung, insbesondere bei bulimischen Patientinnen, und die jeweils konkrete Wahl des Settings bzw. des Zeitpunkts sowie die Reihenfolge der Einbeziehung der Familie ist erforderlich.
30.3.1
Formen von Familientherapie bei Essstörungen
Bei Essstörungen wurden und werden folgende Formen der Familientherapie eingesetzt (. Übersicht).
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Formen der Familientherapie 5 Psychodynamische bzw. psychoanalytische Familientherapie, die die familiären Beziehungsmuster bearbeitet, oft in der Mehrgenerationenperspektive 5 Strukturelle Familientherapie, die dysfunktionale Interaktionen, die das Symptom aufrechterhalten, verändert, insbesondere, indem die Elternkoalition gestärkt, die Patientin aus der Verstrickung mit den Eltern herausgelöst und die Vermeidung von Konflikten fl und deren Lösung aufgebrochen wird 5 Systemische Familientherapie, die mithilfe von zirkulären und anderen Fragetechniken die Beziehungsbedeutung der Symptomatik erarbeitet und mit Techniken wie der Symptomverschreibung Veränderungen initiiert
Alle Formen der Familientherapie bemühen sich um ein Arbeitsbündnis mit allen Familienmitgliedern. Schuldzuweisungen an Familienmitglieder (Eltern, Patientin, Geschwister, Großeltern) werden vermieden. Diese »klassischen« Formen der Familientherapie werden heute z. T. erheblich modifiziert. fi Am Anfang der Therapie Th steht oft ft die medizinische Aufklärung fk von Patientin und Angehörigen über die Erkrankung, eine Aufk fklärung über mögliche psychologische Zusammenhänge und den Umgang mit der Essstörung im Beziehungssystem. Dabei wird in einigen dieser Therapien, Th z. B. in der verhaltenstherapeutisch orientierten Familientherapie (behavioral family systems therapy) darauf hingearbeitet, dass bei Anorexien die Eltern wieder die Kontrolle über das Essverhalten der Patientin bekommen. In der Multi-Familientherapie werden entweder im tagesklinischen oder ambulanten Setting mehrere Familien mit essgestörten Jugendlichen zusammengefasst. Die Vorteile dieses Settings liegen in der Minimierung von Isolation und Stigmatisierung für die Familien, dem Lernen von anderen betroff ffenen Familien und der Aktivierung von wechselseitiger Unterstützung.
30.3.2
Indikationen zur Familien- und Paartherapie
Bei essgestörten Patientinnen ist aus klinischer Perspektive die Einbeziehung der Familie oder Partners unter folgenden Umständen notwendig und hilfreich (. Übersicht).
187
30.3 Familien- und Paartherapie bei Essstörungen
30.3.3 Indikationen zur Familien- und Paartherapie 5 Es erscheinen Schwierigkeiten der Verselbstständigungsphase und hiermit einhergehende Identitätsprobleme, bedingt durch familiäre, oft mehrgenerationale Bindungs- und Loyalitätsmuster. 5 Essen, Essrituale sowie Gewichts- und Aussehensfragen haben in der Familie oder der Paarbeziehung eine besondere emotionale Besetzung eventuell über mehrere Generationen erfahren. 5 Die Patientin und ihre Familie bzw. ihr Partner sind in konfl flikthafte Interaktionsmuster um das gestörte Essverhalten herum verstrickt und haben sich hier festgefahren. 5 Die Grenzen zwischen den Generationen werden zu durchlässig gehalten, und die Patientinnen übernehmen im familiären System Funktionen, die eigentlich ihre Eltern ausfüllen müssten, z. B. als Elternoder Partnerersatz. 5 Eingefahrene Interaktionsmuster, z. B. materielle Verwöhnung bereits Erwachsener, behindern die Übernahme von Selbstverantwortung und Kompetenz. 5 Die Familie oder der Partner fühlen sich durch Veränderungen und Individuationsschritte der Patientin bedroht und »steuern gegen«. 5 Relevante Informationen zum Verständnis der Konfl flikte und Übertragungsmuster der Patientinnen fehlen, sodass diese nicht verstanden werden können (z. B. aufgrund von Familiengeheimnissen). ff 5 Die Patientinnen selbst möchten offene Fragen mit ihrer Ursprungsfamilie klären. 5 Die stationäre Aufnahme oder die Entlassung aus dieser steht bevor.
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Phasen der Familientherapie bei Essstörungen
Nach dem Göttinger Modell (Cierpka u. Reich 2001) erfolgt die Familientherapie bei Essstörungen in drei Phasen (. Übersicht). Phasen der Familientherapie 1. In der Stabilisierungsphase geht es darum, einen Zugang zum Familiensystem zu finden und das Essverhalten zu stabilisieren. Bei der Anorexie heißt dies, dass ein weiterer Gewichtsverlust gestoppt und eine Gewichtszunahme eingeleitet werden muss. Hierzu sind manchmal begleitende Einzelgespräche erforderlich. Bei den oft älteren Bulimikerinnen beginnt die Behandlung nicht selten mit Einzelgesprächen, wobei die Familie dann, nach Bearbeitung der »Pseudo-Autonomie« hinzugezogen wird. Hier geht es v. a. darum, einen festen Essrhythmus zu etablieren und der Patientin zu einer zunehmenden Kontrolle über das Essverhalten zu verhelfen. 2. In der Konfl fliktbearbeitungsphase werden die wesentlichen familiären Konflikte fl durchgearbeitet, insbesondere die mehrgenerationalen Verstrickungen und die bisher tabuisierten Entwicklungen in der Familie. Nicht selten werden in dieser Phase Paargespräche mit den Eltern zur Klärung von deren Beziehung notwendig. Während in Familien anorektischer Patientinnen oft eher die Ablösung der Patientinnen gefördert werden muss, geht es in Familien bulimischer Patientinnen häufig darum, die emotionale Resonanz unter den Familienmitgliedern zu fördern und den Dialog so zu unterstützen, dass dieser nicht zu impulshaft ausgetragen wird und Konfl flikte geklärt werden können. 3. In der Reifungsphase geht es darum, die Veränderungen im Essverhalten und in den familiären Beziehungen zu festigen, die Autonomie der Patientinnen, aber auch der Familien zu fördern.
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Kapitel 30 · Familientherapie
Literatur AWMF (2002) Leitlinien Paar- und Familientherapie. 051/025. www.leitlinien.net Berkman MD, Lohr KN, Bulik CM (2007) Outcomes of eating disorders: a systematic review of the literature. Int J Eat Disord 40: 293-309 Cierpka M, Reich G (2001) Die familientherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie. In: Reich G, Cierpka M (Hrsg) Psychotherapie der Essstörungen, 2. Aufl. fl Thieme, Stuttgart, S 128-155 Eisler I, Simic M, Russel GFM, Dare C (2007) A randomized controlled treatment trial of two forms of family therapy in adolescent anorexia nervosa: a five-year follow-up. J Child Psychol Psychiatry 48: 551-560 Reich G (2003a) Familientherapie der Essstörungen. Hogrefe, Göttingen Reich G (2003b) Familienbeziehungen bulimischer Patientinnen. Eine Vergleichs-Studie zu Patientinnen mit Anorexia nervosa und einer nicht-essgestörten Kontrollgruppe. Asanger, Heidelberg Reich G (2005) Familienbeziehungen und Familientherapie bei Essstörungen. Praxis Kinderpsychol Kinderpsychiatr 54: 318-336 Reich G, Rutz U (2007) Paarbeziehung und Sexualität bei Anorexie und Bulimie. Familiendynamik 32: 17-40 Schmidt U, Lee S, Beecham J et al (2007) A randomized controlled trial of family therapy and cognitive behavior therapy guided self-care for adolescents with bulimia nervosa and related disorders. Am J Psychiatry 164: 591-598 Vandereycken W, Kog E, Vanderlinden J (eds) (1989) The family approach to eating disorders. Assessment and treatment of anorexia nervosa and bulimia. PMA Publishing, New York Wynne LC (ed) (1988) The state of the art in family therapy research. Controversies and recommendations. Family Process Press, New York
31 Psychodynamische Therapie Wolfgang Herzog, Hans-Christoph Friederich, Beate Wild, Henning Schauenburg und Stephan Zipfel
31.1
Grundlagen – 189
31.3
31.2
Fokale psychodynamische Psychotherapie, operationalisierte psychodynamische Diagnostik und strukturbezogene Psychotherapie – 190
31.3.1 Anorexia nervosa – 191 31.3.2 Bulimia nervosa – 191 31.3.3 Binge-Eating-Störung – 192
31.1
Grundlagen
Psychodynamischer Diagnostik und Therapie liegt eine Theorie des Konzepts von Persönlichkeit einschließlich der Persönlichkeitsentwicklung und einer darauf bezogenen Krankheitslehre zugrunde. Wie in 7 Kap. 11 dargelegt, reicht der psychodynamische Theorieansatz damit über die rein phänomenologische Beschreibung von psychischen Störungen hinaus, auf der aktuelle Klassifi fikationssysteme psychischer Krankheiten beruhen. Die Perspektive der Persönlichkeit und eine essenzielle Berücksichtigung dieser Perspektive in der Defi finition von Behandlungszielen und Interventionstechniken sind in der psychodynamischen Therapie von zentraler Bedeutung. Gerade in der Th Therapie von Essstörungen ist diese Sichtweise folTh genreich und ganz und gar nicht selbstverständlich: Woran soll z. B. der »Schweregrad« einer Essstörung und dann in der Folge der Behandlungserfolg bestimmt werden: Ist eine bulimische Patientin, die häufi figer erbricht, »kränker« als eine Patientin mit niedrigerer Frequenz des Erbrechens? Aus psychodynamischer Sicht wird immer eine Veränderung der Persönlichkeit angestrebt. Symptomverhalten kann kurzfristig erheblich variieren und eignet sich nicht zur alleinigen Beurteilung. Umgekehrt ist der kritische Einwand berechtigt, dass die Betonung der Wichtigkeit der Arbeit an der Persönlichkeit nicht dazu führen darf, die Esssymptome zu ignorieren – wie dies früher durchaus vorkommen konnte, da dies den primären Kon-
Störungsspezifische fi Modifi fikationen psychodynamischer Therapie bei Essstörungen – 191
takt zur Patientin erschwert und mit weniger guten Therapieerfolgen einhergeht. Die Erarbeitung der subjektiven »Bedeutung« von Symptomen ist also ein zentrales Anliegen psychodynamischer Therapie. Th Der Hinweischarakter des Symptoms, die (meist unbewussten) psychischen, biographischen und sozialen Zusammenhänge, die das Symptom in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und auch in seinen absurden und selbstschädigenden Aspekten intrapsychisch zur »besseren Alternative« im Vergleich zu den unangenehmen Gefühlen werden lassen, die ohne das Symptomverhalten auftreten ft würden, weisen den Weg zu therapeutischen Alternativen. Es geht in der psychodynamischen Therapie Th also um die Erarbeitung einer individuell gültigen »Hermeneutik« der Symptomatik, und diese wird im Beziehungsraum von Patient und Therapeut Th möglich. Hier können alte verletzende Beziehungsspuren dechiffriert ff und neue, korrigierende emotionale Erfahrungen gemacht werden. Die lebendige therapeutische Beziehung wird zur Conditio sine qua non, zum Entwicklungsraum für den therapeutischen Prozess. ! Psychodynamische Therapie strebt neben einer symptomatischen Besserung immer auch eine Änderung der Persönlichkeit an.
Wenn auch bestimmte Entwicklungsthemen, wie z. B. die Autonomieentwicklung, einen großen Raum in psychodynamischen Therapien essge-
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Kapitel 31 · Psychodynamische Therapie
störter Patientinnen einnehmen, so gibt es doch keine überzeugenden Belege einer Spezifität fi von Persönlichkeitskonstellationen, die zwingend zur Entstehung von Essstörungen führen. In diesem Punkt unterscheiden sich die Essstörungen nicht von anderen psychosomatischen Störungen. Abschließend sei betont, dass sich die Bedürfnisse psychosomatischer Patienten selten an Möglichkeiten und Grenzen von Therapieschulen Th orientieren. Wenn für die psychodynamische Behandlung die Wichtigkeit der Perspektive der Persönlichkeit hervorgehoben wurde, so schließt dies die Berücksichtigung anderer relevanter Perspektiven nicht aus: Somatische Starvationsfolgen, maladaptive familiäre Muster oder auch durch die essstörungsspezifische fi Symptomatik oder selbstschädigendes Verhalten entstehende, sich selbst (suchthaft ft) unterhaltende Symptomschleifen sind Beispiele für solche Perspektiven, die zeitweise ganz im Vordergrund stehen können und müssen und eine störungsspezifi fische Ergänzung allgemeiner psychodynamischer Techniken erfordern.
31.2
Fokale psychodynamische Psychotherapie, operationalisierte psychodynamische Diagnostik und strukturbezogene Psychotherapie
Aus pragmatischen Gründen fanden und fi finden Evaluationen psychodynamischer Psychotherapien bei Essstörungen vorwiegend bei fokalen TherapieTh konzepten statt. Als Grundlage für eine Fokusbildung bietet sich die operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD) in ihrer manualisierten Form OPD-2 an mit ihren Achsen: 5 Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, 5 Beziehung, 5 Konflikt, fl 5 Struktur, 5 psychische und psychosomatische Störungen. Zur Fokusbildung ist ein ausführliches diagnostisches OPD-Interview erforderlich.
! Als Fokusse gelten diejenigen Merkmale des OPD-Befundes, die die Störung mitverursachen und aufrechterhalten und deshalb für die Psychodynamik des Krankheitsbildes eine bestimmende Rolle spielen. Damit verbunden ist die Annahme, dass sich hinsichtlich dieser Fokusse etwas verändern muss, wenn ein substanzieller therapeutischer Fortschritt erreicht werden soll.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen v. a. Fokusse der Beziehungs- und Strukturachse. Ziel ist es, ungünstige Beziehungsgestaltungen und Beeinträchtigungen des Strukturniveaus zu erkennen und in der Therapieplanung Th zu berücksichtigen (Schauenburg et al. 2007, Manual Fokale Psychodynamische Psychotherapie bei Anorexia nervosa. Unveröff ffentlichtes Manuskript, Heidelberg). Rudolf (2006) hat die Notwendigkeit herausgearbeitet, eine Typologie struktureller Störungen bei der psychodynamischen Th Therapieplanung zu berücksichtigen. Dieser Ansatz hat für alle Essstörungen Gültigkeit. Das Strukturniveau wird in 6 Stufen klassifi fiziert (. Übersicht). Typologie struktureller Störungen 5 Stufe 1: gut integriert, neurotischer Konflikt 5 Stufe 2: gut bis mäßig integriert, neurotischer Konfl flikt mit strukturellen Ausfällen, z.B. somatoforme Störungen 5 Stufe 3: mäßig integriert, Bewältigung struktureller Störung durch Charakterabwehr, z. B. narzisstische Persönlichkeitsstörung 5 Stufe 4: mäßig bis gering integriert, Bewältigung struktureller Störung durch symptomwertiges Verhalten, z. B. Spielsucht 5 Stufe 5: gering integriert, z. B. BorderlinePersönlichkeitsstörung 5 Stufe 6: desintegriert, z. B. dissoziale Persönlichkeitsstörung
Für die Störungen und dann in der Folge für die Therapieplanung ergibt sich daraus, dass mit steigender Stufe strukturelle Störungen eine zunehmende Bedeutung und klassische Persönlichkeits-
31.3 Störungsspezifische fi Modifi fikationen psychodynamischer Therapie . . .
konfl flikte eine abnehmende Bedeutung haben. Anorektische Patientinnen z. B. wären hier häufig auf Stufe 3‒4 zu klassifi fizieren, Patientinnen mit Bulimie und Persönlichkeitsstörung auf Stufe 4‒5. Die psychodynamische Th Therapieplanung ist unter Berücksichtigung des strukturellen Störungsanteils anzulegen.
31.3
Störungsspezifische fi Modifikationen fi psychodynamischer Therapie bei Essstörungen
31.3.1
Anorexia nervosa
Die empirische Basis von Anorexie-Th Therapieevaluationen ist weiterhin verbesserungswürdig. Dies gilt sowohl für kurzzeitige Therapieeff Th ffekte als auch im Langzeitverlauf. Die meisten Empfehlungen haben den Evidenzgrad von Expertenempfehlungen. Es konnten jedoch Wirksamkeitsnachweise für psychodynamische Psychotherapien bei Anorexia nervosa erbracht werden. Dabei wurde die Notwendigkeit eines klar defifi nierten Rahmens der ambulanten Th Therapien immer wieder betont: Ärztliches Monitoring und SettingAspekte wie Häufigkeit fi der Sitzungen, Gewichtskontrolle, Gewichtsuntergrenzen, orientierende Familiengespräche bedürfen einer explitziten Vereinbarung. Schors und Huber (2003) formulierten pointiert und aus psychodynamischer Sicht ungewöhnlich symptomorientiert: Die Normalisierung des Essverhaltens ist nicht alles, aber ohne diese ist alles nichts.
Auch das i. d. R. höchstens mäßig integrierte Strukturniveau macht störungsspezifische fi Ergänzungen der psychodynamischen Standardtherapie erforderlich. Wenn die Kontrolle des Essverhaltens und die Fähigkeit des Hungerns die »Lösung« der intrapsychischen Probleme ist, die durch in der Pubertät reaktivierte frühkindliche Erfahrungen von Hilfl flosigkeit entstehen (s. unten), dann ist die zum Krankheitsbild gehörende Verleugnung der Patientinnen nur folgerichtig. Ein ausgeprägt passiv-abstinenter Interventionsstil führt hier schnell zu Th Thera-
191
31
pieabbrüchen: Die Patientin muss ja erst noch für die Therapie gewonnen werden. Es empfi fiehlt sich zumindest in der Initialphase der Th Therapie, um die Patientin zu »werben«, indem die aktuellen beziehungsdynamischen Folgen des auf die Nahrungsaufnahme bezogenen anorektischen Verhaltens immer wieder sehr konkret benannt und damit die »mafiöse« fi Geschlossenheit des »Systems der Anorexie« spürbar wird. Der »anorektische Lebensstil« führt ja zur Vermeidung altersentsprechender Aktivitäten und zur Isolation. Schneider (2003) griff ff das Borissche Konzept der »Wunschlosigkeit« anorektischer Patientinnen auf und leitete daraus die Notwendigkeit einer Zweiphasigkeit der Therapie ab. Darin wird das klassische konfl fliktorientierte Vorgehen erst nach einer ersten Annäherungsphase möglich, in der die Patientin eine Beziehung zum Therapeuten etabliert. Während früher hinsichtlich der ätiologischen psychodynamischen Konzepte überwiegend triebtheoretische Positionen vertreten wurden, stehen heute objekttheoretische Hypothesen im Vordergrund: Vor dem Hintergrund früher Erfahrungen von erlebter mangelnder Verlässlichkeit wichtiger Beziehungspersonen und der daraus folgenden Hilflosigkeit fl wird häufi fig ein zentraler Fokus im Ringen um Autonomie gesehen. Altersspezifische fi Entwicklungsschritte bei der Loslösung von der Herkunftsfamilie ft lösen hochgradige Verunsicherungen aus. Um neuen Überwältigungserfahrungen zu entgehen, kann die in der Anorexie erfolgreich praktizierte Kontrolle von Hunger und Gewicht zu einem »sicheren« Mechanismus der Selbstbehauptung werden. Das Beziehungsmuster einer einsamen, distanzierten Beziehungsgestaltung wurde mit einem unsicher vermeidenden Bindungsverhalten in Zusammenhang gebracht (Ward et al. 2000). Vermutlich wird dieses Bindungsmuster durch ein kontrollierendes und eher distanziertes Interaktionsangebot der primären Bezugspersonen beeinflusst fl .
31.3.2
Bulimia nervosa
In der Th Therapie der Bulimie haben sich psychodynamische Behandlungen als wirksam erwiesen. Die Gruppe der Patientinnen mit Bulimia nervosa ist hinsichtlich ihrer psychodiagnostischen
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Kapitel 31 · Psychodynamische Therapie
Klassifi fikation (z. B. Strukturniveau) sehr heterogen: Das Spektrum reicht von leichten, vorübergehenden Störungen mit geringer Psychopathologie bis zu schwersten Persönlichkeitsstörungen, bei denen die bulimische Symptomatik nur ein Symptom neben vielen anderen (z. B. Substanzmittelabusus, Selbstverletzungen, posttraumatische Belastungsstörung) ist. Die Indikation zur psychodynamischen Th Therapie ist gegeben, wenn Selbsthilfemaßnahmen oder symptomorientierte Kurzzeittherapien nicht greifen. Wenn auch das Vollbild einer Borderline-Persönlichkeit (gering integrierte strukturelle Störung nach OPD – Stufe 5) bei weniger als 20 der Patientinnen vorliegt, ist das Strukturniveau bei Bulimiepatientinnen nicht selten als mäßig bis gering (Stufe 4) einzuschätzen. Rudolf (2006) sprach in diesem Zusammenhang von der Bewältigung struktureller Störungen durch symptomwertiges Verhalten. In der Behandlung geht es dann um eine therapeutische Haltung, die die Entwicklung struktureller Fähigkeiten (z. B. interaktive Fähigkeiten, Impulskontrolle etc.) fördert. Falls sich die Esssymptomatik suchtartig verselbstständigt hat, können »Verträge« dazu beitragen, wieder die Kontrolle über das Esssverhalten zu bekommen. Multimodale Therapieansätze ‒ ambulant, z. B. als psychodynamische Gruppe mit vorgeschalteter individueller Symptomkontrolle, oder im Rahmen einer stationären Psychotherapie ‒ stellen hier weitere Alternativen dar.
31.3.3
Binge-Eating-Störung
Auch in der Behandlung der Binge-Eating-Störung (BES) haben sich psychodynamisch orientierte Behandlungen als wirksam erwiesen. Psychotherapeutische Maßnahmen haben generell hinsichtlich einer Gewichtsreduktion allerdings nur einen begrenzten Effekt. ff Dies gilt insbesondere im Langzeitverlauf. Eine kombinierte Therapie, die auf den »Säulen« Ernährung, Bewegung und Psychotherapie beruht, ist empfehlenswert. Hier kann eine Gruppentherapie mit psychodynamsichen Elementen als psychotherapeutische Säule erfolgen.
Eine systematische Einbeziehung langfristig ‒ eventuell sogar dauerhaft ft ‒ angelegter Selbsthilfekonzepte, eventuell ein Übergang von multimodalen Therapiegruppen in solche Selbsthilfekonzepte, wird aktuell erprobt.
Literatur Agras SW, Walsh T, Fairburn CG, Wilson T Kraemer HC (2000) A multicenter comparison of cognitive-behavioral therapy and interpersonal psychotherapy for bulimia nervosa. Arch Gen Psychiatry 57: 459-466 Arbeitskreis OPD (2006) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2 – Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Huber, Bern Boris HN (1984) The problem of anorexia nervosa. Int J Psychoanal 65: 315-322 Deter HC, Herzog W (1994) Anorexian nervosa in a long-term perspective – results of the Heidelberg-Mannheim Study. Psychosom Med 56: 20-27 Dare C, Eisler I, Russell G. Treasure J, Dodge L (2001) Psychological therapies for adults with anorexia nervosa: randomised controlled trial of outpatient treatments. Br J Psychiatry 178: 216-221 Friederich H.C, Schild S, Wild B, de Zwaan M, Quenter A, Herzog W, Zipfel S (2007) Treatment outcome in people with subthreshold compared with full-syndrome binge eating disorder. Obesity 15: 283-287 Herzog W, Schellberg D, Deter HC (1997) First recovery in anorexia nervosa patients in the long-term course: a discretetime survival analysis. J Consult Clin Psychol 65: 169-177 Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg) (2003) Essstörungen. Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. Schattauer, Stuttgart Leichsenring F, Rabung S, Leibing E (2004) The effi fficacy of short-term psychodynamic psychotherapy in specific fi psychiatric disorders. Arch Gen Psychiatry 61: 1208-1216 Rudolf G (2006) Strukturbezogene Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart Schneider G (2003) Die psychoanalytisch fundierte Behandlung anorektischer Patientinnen. In: Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg) Essstörungen. Schattauer, Stuttgart, S 94-106 Schors R, Huber D (2003) Psychoanalytisch denken, verhaltenstherapeutisch handeln? In: Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg) Esstörungen. Schattauer, Stuttgart, S 60-81 Ward A, Ramsay R, Treasure J (2000) Attachment research in eating disorders. Br J Med Psychol 73: 35-51 Wifl fley DE et al (2002) A randomized comparison of group cognitive-behavioral an group interpersonal psychotherapy for the treatment of overweight individuals with bingeeateing disorder. Arch Gen Psychiatry 59: 713-721 Zipfel S, Lowe B, Reas DL, Deter HC, Herzog W (2000) Longterm prognosis in anorexia nervosa: lessons from a 21year follow-up study. Lancet 355: 721-722
32 Kognitive Verhaltenstherapie Tanja Legenbauer 32.1
Allgemeine Vorgehensweise und Standardelemente in der Behandlung von Essstörungen – 193
32.2
Normalisierung des Ernährungsverhaltens – 194
32.2.1 Kognitive Behandlungselemente – 195 32.2.2 Besonderheiten in der Behandlung der Anorexia nervosa – 195
Neben einigen Cochrane-Reviews zur TheraTh pie der Essstörungen liegen Leitlinien aus unterschiedlichen Ländern vor (Australien, Neuseeland, USA, Deutschland). Von britischen Experten wurden die so genannten NICE-Leitlinien (NICE: National Institute for Cinical Excellence) entwickelt und im Januar 2004 veröffentlicht ff (Wilson u. Shafran 2005), die Leitlinien der American Psychiatric Association (APA) kamen 2006 heraus. Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) gilt in der Behandlung von Essstörungen, insbesondere der Bulimia nervosa (BN), als Methode der Wahl, da diese kurzfristig die größten Erfolge im Vergleich mit anderen Therapieverfahren Th erreicht. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass für das Störungsbild der Anorexia nervosa (AN) kaum randomisierte oder manualisierte Th Therapiestudien vorliegen und die Beurteilung der Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Behandlungsprogramme nur eingeschränkt möglich ist. ! Die kognitive Verhaltenstherapie gilt in der Behandlung von Essstörungen, insbesondere der Bulimia nervosa, als Methode der Wahl.
32.2.3 Besonderheiten in der Behandlung der Bulimia nervosa – 196 32.2.4 Neuere Entwicklungen in der Behandlung von Essstörungen – 196 32.2.5 Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von Essstörungen – 197
32.1
Allgemeine Vorgehensweise und Standardelemente in der Behandlung von Essstörungen
Folgende allgemeine Therapierichtlinien können empfohlen werden: 5 Betroff ffene mit Essstörungen sollten möglichst frühzeitig Therapie Th erhalten. 5 Im Gesundheitswesen Tätige sollten anerkennen, dass die Betroffenen ff einer Therapie meist ambivalent gegenüberstehen (shoulder-toshoulderr nicht head-to-head). 5 Es sollten psychoedukative Maßnahmen angeboten werden. Die Grundlage kognitiv-verhaltenstherapeutischen Arbeitens in der Behandlung von Essstörungen bilden individuelle Verhaltens- und Bedingungsanalysen. Anhand dieser werden besonders problematische Bereiche identifi fiziert und ein konkreter Therapieplan erstellt. Das therapeutische Arbeiten Th geschieht in kleinen Schritten und durch Verhaltenserprobungen, welche helfen, die erarbeiteten Lösungen in den Alltag zu übertragen. Allgemein ist das wichtigste Prinzip in der Behandlung der Essstörungen die Ausrichtung auf zwei Ziele, und zwar 1. die kurzfristige Verbesserung des Essverhaltens bzw. der Erreichung einer Gewichtsrestitution sowie
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Kapitel 32 · Kognitive Verhaltenstherapie
2. die langfristige Behandlung der mit dem gestörten Essverhalten assoziierten Problembereiche beispielsweise über kognitive Techniken oder Fertigkeitentrainings zur Erhöhung der sozialen Kompetenz.
32.2 Dadurch werden gleichermaßen sowohl physiologische als auch psychische Probleme, die mit der Essstörung im Zusammenhang stehen, behandelt. Die Behandlung der Essstörung kann sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting erfolgen. Die Leitlinien der verschiedenen Länder enthalten neben Anweisungen zur Diagnostik von Essstörungen und zur Wahl des Settings (z. B. ambulant vs. stationär) meist Ziele zur Behandlung der einzelnen Essstörungsdiagnosegruppen. Konkret werden zur Behandlung der AN beispielsweise von der American Psychiatric Association Workgroup (2006) acht Ziele genannt (. Übersicht).
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Im Folgenden werden die aufgeführten Behandlungsziele zur Th Therapie von AN und BN näher beschrieben.
Ziele zur Behandlung der AN (American ( Psychiatric Association Workgroup 2006) 1. Gewichtsrestitution 2. Behandlung der körperlichen Folgeerscheinungen 3. Steigerung der Behandlungsmotivation 4. Psychoedukation hinsichtlich Ernährung und Essverhalten 5. Veränderung der dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Einstellungen im Zusammenhang mit der Essstörung 6. Behandlung assoziierter komorbider psychiatrischer Probleme wie depressive Verstimmungen, Impulskontrollstörungen, niedriges Selbstwertgefühl u. ä. 7. Unterstützung der Familie oder ggf. Familientherapie 8. Rückfallprophylaxe
Im Unterschied dazu beinhaltet die Behandlung der BN als erstes Ziel die Reduktion von Essanfällen und Gegenmaßnahmen. Die übrigen Ziele sind identisch mit der Behandlung der AN, auch wenn inhaltlich Unterschiede z. B. in der Vermittlung von Informationen zum Ernährungsverhalten und in der Rückfallprophylaxe bestehen.
Normalisierung des Ernährungsverhaltens
Sowohl zur Gewichtssteigerung als auch zum Abbau von Essanfällen und Erbrechen ist eine Normalisierung des Essverhaltens unabdingbar und daher sowohl bei der AN als auch der BN wichtig. Die Normalisierung des Essverhaltens soll die physiologischen und psychologischen Konsequenzen des starken Untergewichts sowie des vorrangig bei bulimischen Patientinnen auftretenden ft stark gezügelten Essverhaltens zwischen den Essanfällen revidieren und ein biologisch-physiologisches Gleichgewicht herstellen. Durch den Einsatz von therapeutischen Strategien zur Normalisierung des Essverhaltens soll daher eine ausgewogene und regelmäßige Ernährung im Alltag etabliert werden. Dies beinhaltet neben einer ausreichenden Kalorienzufuhr v. a. eine adäquate Nährstoff ffzusammensetzung der ausgewählten Nahrungsmittel und eine sinnvolle zeitliche Verteilung der Mahlzeiten über den Tag. ! Die Normalisierung des Essverhaltens wird mittels verschiedener therapeutischer Mittel erreicht: 5 Selbstbeobachtung beispielsweise mithilfe von Essprotokollen, 5 Psychoedukation zu Themen wie physiologische und psychologische Konsequenzen von Mangelernährung, 5 Einführen von strukturierten Esstagen zum praktischen Einüben eines normalen Essverhaltens.
Insgesamt zielen die verschiedenen Maßnahmen darauf ab, die kognitive Kontrolle über die Nahrungsaufnahme abzubauen und ein natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl herzustellen. Als Ergänzung zu den erwähnten Therapietechniken Th werden auch Nahrungsmittel- oder Belastungsexpositionen mit Reaktionsverhinderung durchgeführt, wobei diese nach dem neuesten Forschungsstand zusätzlich zu den Standardinterventionen keinen bedeutsamen Gewinn erbringen.
32.2 Normalisierung des Ernährungsverhaltens
32.2.1
Kognitive Behandlungselemente
Ein Kernelement der KVT von Essstörungen ist die Identifikation fi und Modifi fikation von automatischen Gedanken bezüglich Essen, Gewicht und Körper.
Es gibt jedoch Hinweise aus der Forschung, dass neben automatischen Gedanken v. a. überdauernde und handlungsleitende Kernüberzeugungen (core beliefs) von Bedeutung sind, obwohl diese nicht zwangsläufig fi mit essstörungsspezifi fischen Bereichen verbunden sein müssen. Im Gegenteil scheinen diese eher allgemeine Prinzipien und Regeln zu beinhalten, welche sich aus Lernerfahrungen im Laufe des Lebens entwickeln. Ein dritter Aspekt der kognitiven Arbeit betrifft fft fehlerhafte Informationsverarbeitungsprozesse wie beispielsweise eine schemakonsistente Verarbeitung bedrohlicher Reize. Alle drei Bereiche kognitiver Störungen sollten in der Behandlung angesprochen und bearbeitet werden. ! Die verschiedenen kognitiven Aspekte der Essstörung werden mithilfe von sokratischer Dialogführung, Pro-und-Kontra-Übungen, KostenNutzen-Analysen und weiteren allgemeinen kognitiven Techniken bearbeitet.
32.2.2
Besonderheiten in der Behandlung der Anorexia nervosa
195
32
Dazu werden anfangs 1000‒1600 kcal/pro Tag aufgenommen, wobei die tägliche Kalorienzufuhr in mehreren Intervallen um 500 kcal/Tag im Verlauf der Behandlung gesteigert werden kann. ! Die Anpassung der Kalorienaufnahme an Leistungsumsatz und Aktivitätsniveau der Patientinnen ist zwingend notwendig, um die angestrebte Gewichtszunahme zu gewährleisten. Die Gabe von hochkalorischer Flüssignahrung zusätzlich zu regulären Mahlzeiten scheint im stationären Setting insbesondere bei stark untergewichtigen Patientinnen zu einer schnelleren Gewichtszunahme zu führen.
Die Gewichtsrestitution wird über eine Normalisierung des Ernährungsverhaltens erreicht, wobei spezifische fi Verstärkerprogramme zur Anwendung kommen. Hierfür werden v. a. im stationären Setting systematisch verschiedene, individuell vereinbarte Verstärker neben pflegerischer fl Unterstützung und hochkalorischer Nahrung eingesetzt. Die operanten Programme beinhalten zumeist eine erste Phase der Eigenverantwortung, in welcher die Patientin nach der Aufnahme selbstständig eine Gewichtszunahme erreichen sollte. Gelingt dies nicht, werden Fremdkontrollprogramme eingeführt. Diese beinhalten neben dem Abschließen eines Gewichtszunahmevertrags und der Vereinbarung über das zu erreichende Mindestgewicht häufig spezifi fische Regeln über Teilnahme am Therapieangebot und an Freizeitaktivitäten sowie das Empfangen von Besuchen.
Gewichtsrestitution Aufgrund des häufig fi medizinisch bedenklichen Untergewichts stellt eine Gewichtsrestitution das wichtigste kurzfristige Ziel in der Behandlung der AN dar, während dies bei der Behandlung der BN durch das meist im Normalbereich befindliche fi Körpergewicht der Betroff ffenen nicht unbedingt notwendig ist. Bei starkem Untergewicht oder schweren medizinischen Komplikationen sollte dies im Rahmen eines stationären Settings erfolgen. Selten kommt es bei besonderer Gefährdung zur Anwendung invasiver Methoden wie Sondenernährung. Je nach Setting liegt die durchschnittlich zu erzielende Gewichtszunahme bei 500 g/Woche (ambulant) bzw. 700‒1500 g/Woche (stationär).
! Modernere Programme halten den Grad an Fremdkontrolle möglichst gering, um dem Autonomiebedürfnis der Patientinnen zu genügen und die Gefahr eines möglichen Rückfalls nach Beendigung des Programms zu verringern.
Die Umsetzung solcher operanter Programme ist im stationären Setting häufig fi einfacher, da ambulant weniger direkte Einfl flussmöglichkeiten des Therapeuten bestehen. Nichtsdestotrotz können Gewichtszunahmeverträge oder die Gabe hochkalorischer Zusatznahrung auch im ambulanten Setting sinnvoll sein. Insgesamt gilt jedoch, dass der Sinn der Interventionen für die Patientin transparent sein sollte, um Compliance zu gewährleisten.
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Kapitel 32 · Kognitive Verhaltenstherapie
! Gewichtsverlust oder -stagnation ist zumeist ein Hinweis auf fehlende Motivation oder Ambivalenz und sollte unabhängig vom Setting stets mit der Patientin thematisiert werden.
Motivierung Vor allem die meist ambivalente TherapiemotiTh vation stellt eine große Herausforderung in der Behandlung der AN dar. Viele Patientinnen kommen nicht auf eigenen Wunsch in die Th Therapie, sondern werden von Familienangehörigen dazu aufgefordert. Selbst bei denen, die aus eigener Motivation in die Behandlung kommen, ist selten das niedrige Gewicht das primäre Behandlungsanliegen, sondern die durch die Essstörung bedingten emotionalen und körperlichen Probleme wie verminderte Leistungsfähigkeit oder die Einengung des Denkens auf Essen, Figur und Gewicht. Patientinnen mit einer Purging-Symptomatik weisen meist eine größere intrinsische Motivation auf als Patientinnen des restriktiven Typus, da die Purging-Symptomatik stärker aversiv erlebt wird. ! Aufgrund der Ambivalenz gegenüber dem primären Therapieziel – der Gewichtszunahme – erscheinen Motivierungsstrategien von besonderer Bedeutung in der Behandlung der AN. Diese sollten neben psychoedukativen Elementen die Auseinandersetzung mit den kurzund langfristigen Konsequenzen der Essstörung beinhalten.
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32.2.3
Besonderheiten in der Behandlung der Bulimia nervosa
der Kontrolle in funktionalem Zusammenhang mit der Nahrungsverweigerung steht. Die Schulung der Wahrnehmung von Gefühlen, deren Diff fferenzierung und adäquate Bewältigung erscheint in der Behandlung von Patientinnen mit Essanfällen nicht zuletzt aufgrund von deren aff ffektregulierender Funktion unabdingbar. In diese Richtung gehen auch dialektisch-behaviorale Behandlungsstrategien, die ursprünglich für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt wurden, zunehmend aber auch in der Behandlung der BN angewandt werden. Insbesondere das Skill-Training wurde zur Behandlung der BN adaptiert, um Verbesserungen in der Spannungs- und Emotionsregulation zu erreichen. Achtsamkeitsübungen, die Sensibilisierung für Gefühlszustände und der Aufbau fb von Stresstoleranz stehen dabei im Vordergrund. Erste Ergebnisse in ambulanten Settings zeigen gute Behandlungserfolge bei Frauen mit Essanfällen. Die dialektische Verhaltenstherapie (DBT) nach Linehan wird derzeit nicht als Standardbehandlung für Essstörungen angesehen, sondern dient eher als Ergänzung zur Behandlung therapieresistenter Patientinnen oder aber von Patientinnen mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen wie der Borderline- Persönlichkeitsstörung. Eine Übertragung des Ansatzes auf Patientinnen mit einer AN wurde bislang nicht beschrieben. ! Insbesondere Module wie Wahrnehmung von Gefühlen und Aufbau von Stresstoleranz sowie das Erlernen von Achtsamkeit zeigen sich als Erfolg versprechend. Empfohlen wird der Einsatz dieser Therapiebausteine insbesondere bei chronischem Verlauf der Essstörung oder bei Auftreten komorbider Störungen.
Affektregulation ff Vor allem Patientinnen mit Kontrollverlusten bei der Nahrungsaufnahme (Essanfällen) berichten häufi fig, Schwierigkeiten in der Diff fferenzierung von Gefühlen zu haben bzw. negative Gefühle kaum tolerieren zu können. Diese Defi fizite in der Aff ffektregulation werden im Zusammenhang mit dem Auft ftreten von Essanfällen bei Patientinnen mit einer BN gesehen, wobei ein ähnlicher Mechanismus auch bei Patientinnen mit AN angenommen wird. Man geht allerdings davon aus, dass bei anorektischen Patientinnen insbesondere das Gefühl
32.2.4
Neuere Entwicklungen in der Behandlung von Essstörungen
Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes Ein ebenfalls relevanter, bislang in der Essstörungstherapie eher »stiefk fkindlich« behandelter Aspekt ist die Verbesserung des negativen Körperbildes, da die negative Einstellung zum eigenen Körper sowie die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von
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32.2 Normalisierung des Ernährungsverhaltens
Figur und Gewicht einen hohen Stellenwert in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung haben. Hauptsächlich werden in der kognitiv-behavioralen Körperbildtherapie bei Essstörungspatientinnen Spiegel- und Videokonfrontationen durchgeführt, um eine Reduktion von Anspannungsund Ekelgefühlen hinsichtlich des eigenen Körpers zu erreichen. Darüber hinaus werden diese Verfahren auch eingesetzt, um positive Aspekte am eigenen Körper zu entdecken. Neben der Konfrontationstherapie existieren zudem affektiv-erlebniff sorientierte Ansätze, um die Sensibilität gegenüber inneren und äußeren Reizen im Umgang mit dem Körper zu erhöhen. In diese Kategorie fallen beispielsweise körperbezogene interaktionelle Übungen, die durch den Verhaltensaspekt und durch Rückmeldungen von anderen Patientinnen leichter zu einer Veränderung der Einstellung führen, da hier gezielt neue Erfahrungen gemacht und neue emotionale Zustände ausgelöst werden. Einschränkend ist zu sagen, dass diese Behandlungsansätze bislang kaum evaluiert und daher Aussagen über deren Wirksamkeit nur eingeschränkt möglich sind, während die Wirkung der Körperkonfrontation bereits belegt ist.
Ansätze zur Steigerung sozialer Fertigkeiten Die Veränderung der in funktionalem Zusammenhang mit dem gestörten Essverhalten stehenden psychologischen und psychosozialen Bedingungen beinhaltet den Aufb fbau sozialer Fertigkeiten, die Steigerung einer angemessenen emotionalen Ausdrucksfähigkeit und des Selbstwertgefühls sowie die Förderung der Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit. Dabei wird das Ziel verfolgt, auf das pathologische Essverhalten als Bewältigungsmechanismus z. B. dysphorischer Affekte ff zunehmend verzichten zu können. Bislang gibt es keine spezifischen fi Behandlungsprogramme zum Aufb fbau sozialer Fertigkeiten bei Patientinnen mit Essstörungen, sodass auch keine Aussage über die Wirksamkeit dieser Therapieelemente gemacht werden kann. Die Anwendung solcher allgemeiner kognitiv-behavioraler Techniken wird aber dennoch empfohlen.
32.2.5
32
Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von Essstörungen
Während die KVT bei der BN sehr gut untersucht ist, existieren nur wenige Studien zu deren Wirksamkeit bei der AN. Im Hinblick auf die Gewichtszunahme ist die KVT bei AN gegenüber unspezifischen Behandlungsstrategien wie beispielsweise fi der alleinigen Ernährungsberatung überlegen. Gute Behandlungserfolge kann die KVT bei der BN vorweisen. Insbesondere die Kernmerkmale der BN lassen sich auch langfristig reduzieren. Dies gilt insbesondere für die Reduktion von Essanfällen und Erbrechen sowie die Veränderung des Diätverhaltens. Nach der Behandlung lassen sich im Hinblick auf die Essanfallssymptomatik Werte erreichen, die einer gesunden Vergleichspopulation entsprechen. Effekte ff für weitere Essstörungssymptome dagegen liegen eher im kleineren bis mittleren Bereich und sind daher klinisch wenig bedeutsam. Dies betrifft fft beispielsweise kognitive Aspekte wie dysfunktionale Grundannahmen oder das Selbstwertgefühl. Definition Vergleiche zwischen Einzel- und Gruppensettings weisen darauf hin, dass bei Essanfallsstörungen (BN, Binge-Eating-Störung) beide Settings gleich gute Erfolge hinsichtlich der Essstörungssymptomatik mit Ausnahme des bulimischen Verhaltens erzielen. Das bulimische Verhalten zeigt im Gruppensetting erst nach 6 Monaten gleich gute Verbesserungen wie im Einzelsetting. Dagegen besserten sich Gruppenpatientinnen durch den interaktionellen Charakter der Gruppe tendenziell stärker hinsichtlich ihrer Selbstsicherheit. Hinsichtlich der allgemeinen Psychopathologie bestanden keine Unterschiede im Ausmaß der Besserung zwischen beiden Settings.
Als kritisch sind zum einen die insgesamt hohen Dropout-Raten v. a. im einzeltherapeutischen Setting zu sehen – Berichten zufolge liegen diese bei 43, wobei vorranging Patientinnen mit hohen Depressionswerten und ausgeprägter Hoff ffnungslosigkeit betroffen ff sind. Zum anderen ist auch der KVT-Ansatz – je nach Strenge der angelegten Kri-
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Kapitel 32 · Kognitive Verhaltenstherapie
terien zur Definition fi von Rückfällen – bei 30‒45 der Patientinnen nicht erfolgreich. Eine Optimierung der bisher bestehenden Ansätze und die
Untersuchung der Wirkmechanismen der bestehenden Therapiebausteine sind daher notwendig.
Fazit Die KVT stellt das Mittel der Wahl zur Behandlung der BN dar, wobei sich neben dem einzeltherapeutischen Setting auch gruppentherapeutische Behandlungsstrategien bewährt haben. Diese sind insbesondere hinsichtlich der besseren Kosteneff ffektivität attraktiv und bringen für die Patientinnen einen zusätzlichen Nutzen durch den interaktionellen Aspekt des Gruppenangebots. Wichtige Bestandteile einer jeden KVT bei Essstörungen sollten neben der Normalisierung des Essverhaltens und der Gewichtsrestitution bei AN bzw. der Reduktion von Essanfällen und Erbrechen bei BN v. a. kognitive Interventionen zum Abbau dysfunktionaler Grundannahmen und automatischer Gedanken sowie Techniken zur Affekff tregulation und Interventionen zur Verbesserung des negativen Körperbildes sein. Darüber hinaus sollten bei Bedarf soziale Fertigkeiten wie Kommunikations-, Konfliktfl und Problemlösungskompetenzen im Anschluss an die Kerninterventionen trainiert werden. Mit KVT für BN können langfristige Remissionsraten von 40–50% erwartet werden. Sie stellt allerdings kein Allheilmittel dar, und es gibt Verbesserungsmöglichkeiten. Die KVT für BN geht auf Fairburn et al. (1993) zurück und wird üblicherweise als Kurzzeittherapie von 16–20 Sitzungen in ambulanter Einzeltherapie über einen Zeitraum von 4–5 Monaten angeboten. Auch Gruppentherapie hat sich als wirksam erwiesen. Bei ambulanter Therapie sind im ersten Monat zwei Therapiesitzungen pro Woche oft sinnvoll, um, v. a. bei Patientinnen mit sehr chaotischem Essverhalten, initial eine gewisse Stabilisierung des Essverhaltens zu erzielen sowie eine therapeutische Beziehung aufzubauen. Die KVT für BN liegt in manualisierter Form vor und fokussiert v. a. auf die aufrechterhaltenden Mechanismen der BN. Ihr Schwerpunkt liegt in
der Gegenwart und Zukunft der Patientinnen. Der Therapie liegt ein kognitiv-behaviorales Modell zugrunde, das weitgehend empirisch überprüft ist. Als positiver Prädiktor für den Therapieerfolg haben sich insbesondere Verhaltensänderungen in der initialen Therapiephase erwiesen. Unklar bleibt dabei, ob die frühen Verhaltensänderungen an sich den Langzeitbehandlungserfolg bestimmen oder ob Patientinnen mit spezifischen fi Persönlichkeitsmerkmalen schneller auf die Therapie ansprechen und dementsprechend einen besseren und schnelleren Behandlungserfolg erzielen. Weitere Forschung ist daher notwendig, um diese Frage zu klären. Allerdings können Behandlungserfolge von 50% nicht wirklich zufrieden stellen, sodass wirksamere Therapiestrategien entwickelt werden müssen. Vor diesem Hintergrund wurde die herkömmliche KVT von C. Fairburn in einigen Aspekten modififi ziert: Ein Anliegen dieses modifizierten fi Behandlungsansatzes sind – in Anlehnung an die beschriebenen Forschungsbefunde – frühe Verhaltensänderungen der Patientinnen. In diesem Zusammenhang werden mögliche Behandlungshindernisse identifiziert fi und angesprochen. Darüber hinaus steht v. a. die kognitive Umstrukturierung im Vordergrund des Behandlungskonzepts. Thematisiert werden die Präokkupation mit den Themen Figur und Gewicht sowie deren behaviorale Konsequenzen wie Kontroll- und Vermeidungsverhalten. Stimmungsschwankungen werden gezielt bearbeitet sowie das niedrige Selbstwertgefühl und spezifische fi psychopathologische Verhaltensaspekte wie Perfektionismus und interpersonale Schwierigkeiten bearbeitet. Erste Ergebnisse dieses Behandlungsansatzes sind viel versprechend und scheinen der herkömmlichen KVT überlegen.
32.2 Normalisierung des Ernährungsverhaltens
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199
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Andere Psychotherapieverfahren bei Essstörungen: Die interpersonelle Psychotherapie
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Anja Hilbert
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33.1
Grundlagen der interpersonellen Psychotherapie für Essstörungen – 200
33.2
Die Essstörungsbehandlung durch die interpersonelle Psychotherapie – 201
26 27 28
33.3
Wissenschaftliche Fundierung der interpersonellen Psychotherapie – 202
33.3.1 Interpersonelle Psychotherapie der Bulimia nervosa – 202 33.3.2 Interpersonelle Psychotherapie der Binge-Eating-Störung – 202 33.3.3 Interpersonelle Psychotherapie der Anorexia nervosa – 203
29 33.1
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Grundlagen der interpersonellen Psychotherapie für Essstörungen
Die interpersonelle Psychotherapie (IPT) wurde 1984 von Klerman, Weissman und Kollegen zur ambulanten Kurzzeittherapie der unipolaren Depression entwickelt (Klerman et al. 1984). Nach Belegen für ihre Wirksamkeit wurde die IPT für die Behandlung anderer psychischer Störungen adaptiert, darunter für die Essstörungen Bulimia nervosa (BN) und Binge-Eating-Störung (BES). Erste Adaptationsergebnisse liegen darüber hinaus für die Anorexia nervosa (AN) vor. Das Konzept der IPT stützt sich auf Störungstheorien und empirische Forschungsergebnisse, denen zufolge psychische Störungen durch interpersonelle Probleme entstehen und aufrechterhalten werden (. Exkurs).
Definition Theoretische und empirische Grundlagen der interpersonellen Psychotherapie Theoretisch geht der interpersonelle Ansatz auf die »Interpersonelle Schule« zurück. Von Einfl fluss waren insbesondere das psychobiologische Konzept der Psychiatrie des Psychiaters Meyer und die interpersonelle Theorie des Neo-Freudianers Sullivan, nach der interpersonelle Probleme als zentral für die Entwicklung und Behandlung psychischer Störungen angesehen wurden. Über die theoretische Fundierung hinaus orientierte sich die IPT an empirischen Ergebnissen zu psychosozialen Risikofaktoren psychischer Störungen, darunter kritische Lebensereignisse, wie z. B. Verlusterlebnisse, interpersonelle Konflikte, fl Veränderungen in den Lebensbedingungen oder Mangel an sozialer Unterstützung.
Die theoretischen und empirischen Grundlagen lassen sich zu zwei klinisch relevanten Grundannahmen der IPT für Essstörungen verdichten (. Übersicht).
33.2 Die Essstörungsbehandlung durch die interpersonelle Psychotherapie
Grundannahmen der interpersonellen Psychotherapie für Essstörungen 1. Interpersonelle Probleme sind wesentlich an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen beteiligt. 2. Eine Lösung der interpersonellen Probleme, die aktuell störungsrelevant sind, führt zu einer Verbesserung der Essstörungssymptomatik.
33.2
Die Essstörungsbehandlung durch die interpersonelle Psychotherapie
Die IPT für Essstörungen ist eine ambulante Kurzzeittherapie mit etwa 16‒20 Sitzungen. Sie fokussiert auf eine Behandlung der aktuell störungsrelevanten interpersonellen Probleme. Ein aktualisiertes Behandlungsmanual von Weissman, Markowitz und Klerman (2000) liegt vor. Die wesentliche Modifikation fi in der Adaptation der IPT für Essstörungen von Fairburn (s. Fairburn 2002) beinhaltet, besonders die Essstörungssymptomatik und nicht die depressive Symptomatik in dem interpersonellen Kontext zu betrachten, in dem sie sich entwickelt hat und aufrechterhalten wird. Zunächst wurde die IPT als Einzeltherapie ausgearbeitet, inzwischen liegt sie jedoch auch im Gruppenformat vor. In allen Phasen der IPT kommen besonders die therapeutischen Techniken der Exploration, Klärungstechniken, Förderung von
201
33
Aff ffektausdruck, Kommunikationsanalyse und Verhaltensmodifi fikation zur Anwendung. Die therapeutische Beziehung ist kollaborativ, und der Th Therapeut operiert als Anwalt des Patienten. Dem Patienten gegenüber nimmt er eine wertschätzende, unterstützende und optimistische Haltung ein. Die Behandlung durch die IPT umfasst drei Behandlungsphasen (. Tab. 33.1). Die initiale Phase der IPT dient der Identifikatifi on der interpersonellen Problematik und der Symptombewältigung. Vor dem Hintergrund einer klinisch-psychologischen und medizinischen Diagnostik erklärt der Therapeut Th dem Patienten die Essstörungsdiagnose. Er vermittelt Störungs- und Behandlungswissen und beschreibt TherapiekonTh zept und Vorgehen der IPT. Zusätzlich schreibt der Therapeut dem Patienten die Krankenrolle zu. Letzteres soll den Patienten entlasten und die Wichtigkeit der Arbeit an der Störung signalisieren. Zentrales Element der initialen Phase ist die Beziehungsanalyse (interpersonal inventory). Ziel dieser als unstrukturiertes Interview durchgeführten Beziehungsanalyse ist es, die Problembereiche zu identifi fizieren, die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung assoziiert sind. Dabei werden sowohl vergangene als auch gegenwärtige Beziehungen hinsichtlich ihres Einflusses fl auf die Symptomatik betrachtet. Neben einer Exploration der Erwartungen des Patienten und der anderen Person/des Partners hinsichtlich ihrer Beziehung werden auch die Bewertung der Beziehung und mögliche Veränderungswünsche des Patienten berücksichtigt. In der IPT werden vier Kernbereiche interpersoneller Probleme unterschieden (. Übersicht).
. Tab. 33.1. Die interpersonelle Psychotherapie für Essstörungen im Überblick Phase
Dauer
Therapieziele
Initiale Phase
3–5 Sitzungen
Identifi fikation des Problems Symptombewältigung
Mittlere Phase
10–12 Sitzungen
Arbeit an dem/den aktuell störungsrelevanten interpersonellen Problembereich/en
Schlussphase
3–5 Sitzungen
Konsolidierung des Erreichten Vorbereitung weiterer eigenständiger Arbeit an interpersonellen Problemen
202
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Kapitel 33 · Andere Psychotherapieverfahren bei Essstörungen: Die interpersonelle Psychotherapie
Kernbereiche interpersoneller Probleme 1. Trauer im Sinne von komplizierter Trauer, aufgrund des Verlusts einer Person 2. Interpersonelle Rollenkonflikte, fl die aus unterschiedlichen Erwartungen an eine Beziehung resultieren 3. Rollenwechsel, die zu Schwierigkeiten mit einem veränderten Lebensstatus führen 4. Interpersonelle Defizite, fi die zu sozialer Isolation oder chronisch unbefriedigenden Beziehungen führen
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Anschließend werden in Zusammenarbeit mit dem Patienten ein oder mehrere Problembereich/e ausgewählt, der/die die aktuelle Symptomatik hauptsächlich bedingt/bedingen. Th Therapeut und Patient einigen sich auf spezifi fische Behandlungsziele. Die Vereinbarungen für die weitere Arbeit während der Therapie werden in einem Behandlungsvertrag festgehalten. Das Kernstück der IPT stellt die mittlere Phase dar. In dieser Phase werden Strategien zur Lösung des/der identifi fizierten interpersonellen Problems/e erarbeitet und implementiert. Wichtige Strategien zur Behandlung aller Problembereiche bestehen darin, die Symptomatik zusammenzufassen und in einen interpersonellen Kontext zu bringen, spezifi fische Verhaltensstrategien für den/die identifi fizierte/n Problembereich/e mit dem Patienten zu erarbeiten und zu etablieren, zur Arbeit an den Behandlungszielen zu ermutigen und den Ausdruck negativer Affekte ff in dem/den identifi fizierten Problembereich/en zu fördern. Die Schlussphase zielt darauf ab, den erreichten Fortschritt zu konsolidieren und Bereiche für die weitere Arbeit an interpersonellen Problemen zu bestimmen. Das Ende der Behandlung wird thematisiert und als Abschieds- oder Trauerprozess bearbeitet. Der Patient wird ermutigt, seine Gefühle über das Therapieende wahrzunehmen und zu verbalisieren. Zudem werden die erzielten Fortschritte betrachtet und gewürdigt, um ein Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserleben zu fördern. Der Patient wird gegen Ende der Therapie Th angeleitet, frühe Anzeichen eines Rückfalls zu identifi fizieren und Bewältigungsmaßnahmen bei einem Wiederauftreten von Symptomen abzuleiten. Ein spezifischer fi
Plan für die weiterführende Arbeit nach Abschluss der Behandlung wird ausgearbeitet.
33.3
Wissenschaftliche Fundierung der interpersonellen Psychotherapie
33.3.1
Interpersonelle Psychotherapie der Bulimia nervosa
Randomisierten klinischen Studien zufolge ist die IPT bei Patientinnen mit BN substanziell und lang anhaltend wirksam. Im Vergleich zur kognitivbehavioralen Therapie (KVT) ist sie bei Behandlungsende weniger effektiv, ff während sich im langfristigen Verlauf keine Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den beiden Therapieformen ergeben. Langfristig sind etwa 40 der Patientinnen vollständig remittiert. Einer reduzierten verhaltenstherapeutischen Behandlung gegenüber zeigte sich die IPT kurz- und langfristig überlegen. Die IPT führt bei geringen Abbruchraten zu signifikanten fi Verbesserungen in der essstörungsspezifischen fi Psychopathologie ‒ einschließlich Essanfällen, Purging-Verhalten, gezügeltem Essverhalten und Figur- und Gewichtssorgen ‒ sowie in der allgemeinen Psychopathologie und in interpersonellen Problemen. Analysen des Th Therapieverlaufs weisen darauf hin, dass IPT und KVT durch unterschiedliche Wirkmechanismen arbeiten. Entscheidend für die größere Wirksamkeit der KVT bei Behandlungsende ist, dass die KVT bereits in den ersten 4 Wochen der Behandlung eine stärkere Reduktion des gezügelten Essverhaltens erzielt als die IPT. Mit diesem Ergebnis konsistent ist, dass eine Kombination mit einem symptomorientierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehen zu einer Wirksamkeitssteigerung der IPT zu führen scheint. Prädiktoren eines besseren Ansprechens auf die Th Therapie sind eine stärkere Reduktion des Purging-Verhaltens innerhalb der ersten 4 Behandlungswochen und – vor Behandlungsbeginn – ein höherer BodyMass-Index sowie eine weniger schwere Essstörungs- und allgemeine psychiatrische Symptomatik.
33.3 Wissenschaftliche Fundierung der interpersonellen Psychotherapie
! In der vom National Institute for Clinical Excellence herausgegebenen evidenzbasierten Leitlinie für die Behandlung der BN wird die IPT als Alternativbehandlung zur KVT empfohlen. Der Patient sollte jedoch darüber aufgeklärt werden, dass die IPT ihre Wirksamkeit erst über einen längeren Zeitraum hinweg entfaltet als die KVT.
33.3.2
Interpersonelle Psychotherapie der BingeEating-Störung
Randomisierte klinische Studien zeigen, dass die IPT auch bei Patienten mit BES substanzielle und lang anhaltende Verbesserungen der Symptomatik bewirkt. Im Vergleich zur KVT ist die IPT sowohl kurz- als auch langfristig genauso effektiv ff wie die KVT. Langfristig sind etwa 60 der Patienten vollständig remittiert. Die IPT führt bei geringen Abbruchraten zu einer Reduktion der essstörungsspezifi fischen und assoziierten allgemeinen Psychopathologie: Essanfälle, Figur- und Gewichtssorgen, allgemeine psychiatrische Symptome und interpersonelle Probleme werden signifikant fi verringert. Wie auch für die KVT konnte für die IPT gezeigt werden, dass eine erfolgreiche Behandlung zu einer signifi fikanten, wenn auch geringen Gewichtsreduktion führt. Eine weniger schwere Essanfallssymptomatik vor der Behandlung, weniger interpersonelle
33
203
Probleme oder geringere Figur- und Gewichtssorgen sind Prädiktoren eines größeren Behandlungserfolgs. ! Die vom National Institute for Clinical Excellence herausgegebene evidenzbasierte Leitlinie für die Behandlung der BES empfiehlt fi die IPT als Alternativbehandlung zur KVT bei persistierender Symptomatik.
33.3.3
Interpersonelle Psychotherapie der Anorexia nervosa
Initiale Ergebnisse zur IPT bei Patientinnen mit AN deuten darauf hin, dass ein unterstützendes klinisches Management zur Normalisierung von Essverhalten und Körpergewicht wirksamer ist als die IPT, die diese Symptomatik nicht direkt behandelt. Die IPT scheint sich in ihrer Wirksamkeit nicht von der KVT zu unterscheiden. Bei hohen Abbruchraten zeigten insgesamt 30 der Patientinnen gute oder sehr gute Verbesserungen nach Abschluss der Therapie. Bei den übrigen Patientinnen ergaben sich keine oder geringe Verbesserungen. Diese vorläufigen fi Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein symptomorientiertes Vorgehen in der Behandlung der AN von zentraler Bedeutung ist.
Fazit Die IPT bietet einen psychotherapeutischen Zugang mit vielen Vorzügen. Dazu zählen eine empirisch fundierte Theoriebildung, ein darauf aufbauendes Störungsmodell, ein fokussiertes therapeutisches Vorgehen, das sich auf die Behandlung der aktuellen Problematik konzentriert und eine pragmatische Kombination bewährter therapeutischer Strategien aus verschiedenen Therapierichtungen. Trotz des eklektischen Therapiekonzepts ist die Akzeptanz der IPT bei Patienten mit BN und BES und ihren Therapeuten hoch. Die Wirksamkeitsnachweise der IPT bei diesen Essstörungen sind überzeugend, stellt die IPT doch bei BN und BES die wesentliche Alternativbehandlung zur KVT dar.
Patienten, die nicht von der KVT profitieren, fi scheinen allerdings auch von einer anschließend angebotenen IPT nicht zu profitieren. fi Im Hinblick auf die Patienten, die durch die IPT keine oder nur geringe Verbesserungen erzielen, ist die Frage zentral, wie weitere Wirksamkeitssteigerungen in der Psychotherapie von BN und BES erreicht werden können. Diese Frage lässt sich empirisch durch eine Identifikation fi behandlungsspezifi fischer Prädiktoren erschließen. Die diff fferenzielle Indikation für die IPT ist bislang jedoch unklar. Ungeklärt ist ferner, wie die IPT wirkt – ob sie tatsächlich 6
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Kapitel 33 · Andere Psychotherapieverfahren bei Essstörungen: Die interpersonelle Psychotherapie
über eine Reduktion interpersoneller Probleme oder über andere Prozessmerkmale auf die Essstörungssymptomatik einwirkt. Eine Klärung dieser Frage setzt auch eine reliable und valide Erfassung interpersoneller Probleme voraus. Für die IPT der AN stehen Wirksamkeitsnachweise noch aus. Trotz der initial wenig Erfolg versprechenden Ergebnisse ist ein interpersoneller Behandlungsfokus bei der AN aufgrund der empirisch belegten Störungsrelevanz interpersoneller Probleme durchaus plausibel. Jedoch scheint für die Behandlung gerade dieser Essstörung ein symptomorientiertes Vorgehen unabdingbar. Generell ist anzumerken, dass in den bisherigen Wirksamkeitsstudien im Bereich der Essstörungen ein symptomorientiertes Vorgehen innerhalb der IPT nicht zugelassen wurde, um eine Überschneidung mit Vergleichsbedingungen wie der KVT zu vermeiden, obwohl das Behandlungsmanual der IPT ein symptomorientiertes Vorgehen ausdrücklich zulässt. Eine Kombination mit einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehen scheint zu einer Wirksamkeitssteigerung der IPT zu führen. Eine Klärung, für wen die IPT wie und unter welchen Bedingungen wirkt, ist nicht zuletzt auch Voraussetzung dafür, Anwendungen der IPT in der klinischen Praxis weiter zu fördern.
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34 Die Pharmakotherapie der Essstörungen Martina de Zwaan und Jana Svitek
34.1.1 Gewichtsrestitution – 205 34.1.2 Rückfallprophylaxe – 206
34.2.3 Kombination von Psychotherapie und Medikation – 208 34.2.4 Sequenzielle Therapie – 208
34.2
34.3
34.1
Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
– 205
– 206
34.2.1 Reduktion der Essanfälle und der kompensatorischen Verhaltensweisen 34.2.2 Rückfallprophylaxe – 208
34.1
Anorexia nervosa
34.1.1
Gewichtsrestitution
– 206
Aufgrund der potenziellen Bedrohlichkeit des Krankheitsbildes, die häufi fig ein sofortiges therapeutisches Vorgehen notwendig macht, gibt es nur wenige kontrollierte Therapiestudien Th zur Pharmakotherapie der Essstörungen. Die vorliegenden kontrollierten Studien zur Anwendung trizyklischer Antidepressiva (TZA) ergaben keine wesentliche Wirksamkeit auf Gewichtszunahme und depressive Verstimmung im Vergleich zu Plazebo. Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) haben sich ebenfalls als nicht eff ffektiv erwiesen und dürft ften die Gewichtszunahme nicht unterstützen. Retrospektive Untersuchungen bestätigen dieses negative Ergebnis auch für Jugendliche. SSRI werden in der klinischen Praxis bei anorektischen Patientinnen häufi fig in Kombination mit Psychotherapie eingesetzt, da man eine Wirkung auf komorbide Störungen wie Depression, Angst, Zwang oder bulimische Symptome erwartet. Es wird jedoch berichtet, dass Antidepressiva im untergewichtigen Zustand bei vielen Patientinnen auch auf die komorbide Symptomatik nur eine geringe bis keine Wirkung entfalten. Komorbide Störungen können sich alleine durch eine Gewichtszunahme verbessern, sodass Entscheidungen über eine adjuvante Pharmakotherapie besser nach einer Gewichtszunahme getroffen ff werden sollten.
Binge-Eating-Störung – 209
34.3.1 Reduktion der Essanfälle – 209 34.3.2 Kombination von Psychotherapie und Medikation – 209
! Im untergewichtigen Zustand ist mit vermehrten Nebenwirkungen von Medikamenten zu rechnen.
Frühere Untersuchungen mit sedierenden Antipsychotika (Pimozid, Sulpirid) zeigten im Vergleich zu Plazebo keine bessere Wirksamkeit bezüglich der Gewichtszunahme und waren außerdem mit erheblichen Nebenwirkungen belastet. In den letzten Jahren wurden neuere atypische Antipsychotika, darunter v. a. Olanzapin, Risperidon und Quetiapin, in kleinen Fallserien bei erwachsenen und adoleszenten und in Einzelfällen auch bei präpubertären anorektischen Patientinnen eingesetzt. Die subjektive Verträglichkeit war in den offenen ff Untersuchungen auch in üblichen Dosisbereichen (Olanzapin 5‒15 mg, Quetiapin 100‒300 mg) zufrieden stellend. ! Es ist wichtig festzuhalten, dass nicht die Gewichtszunahme als Nebenwirkung der Antipsychotika die primäre Indikation für deren Einsatz ist.
Von größerer Wichtigkeit scheinen im klinischen Alltag Eff ffekte der atypischen Antipsychotika auf die oft ft ausgeprägte Hyperaktivität und den Bewegungsdrang, die kognitive Einengung und das oft ft wahnhaft ft anmutende Denken, auf Angst und Zwanghaftigkeit ft sowie auf die Verleugnungsneigung bei schwerer und chronischer Anorexia nervosa (AN) zu sein. In einer kleinen randomisierten
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Kapitel 34 · Die Pharmakotherapie der Essstörungen
Studie mit stationären 15 Patientinnen war Olanzapin bezüglich der Gewichtszunahme Chlorpromazin zwar nicht überlegen, bewirkte jedoch eine stärkere Reduktion der essstörungsspezifischen fi Kognitionen. Auch bei atypischen Antipsychotika ist auf die Entwicklung von extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen zu achten, v. a. da nicht bekannt ist, ob Patientinnen mit AN aufgrund ihres reduzierten Allgemeinzustands eine höhere Gefährdung zeigen. Mögliche kardiale Nebenwirkungen atypischer Antipsychotika (QTc-Zeit-Verlängerung) sind v. a. bei anorektischen Patientinnen vom bulimischen Typus (Gefahr von Elektrolytstörungen durch Erbrechen) zu beachten und erfordern ein Monitoring. Auch bei untergewichtigen Patientinnen können Fett- und Glukosestoffwechselstöff rungen (Insulinresistenz) auft ftreten, v. a. bei erfolgreicher Gewichtszunahme. Große kontrollierte Studien stehen jedoch noch aus. Eine Reihe anderer Substanzen wurde in kontrollierten und nichtkontrollierten Studien geprüft ft [Cyproheptadin, Clonidin, Naltrexon, Tetrahydrocannabinol (THC), Lithium, Wachstumshormon], ein befriedigender Effekt ff auf die Gewichtszunahme konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Außerdem war die Anwendung dieser Substanzen von teilweise erheblichen Nebenwirkungen begleitet (THC). Alleine die Substitution von Zink erwies sich bei einigen Patientinnen als wirkungsvoll, hat sich in der klinischen Routine aber bisher nicht durchgesetzt.
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34.1.2
Rückfallprophylaxe
Erste kontrollierte Ergebnisse konnten eine Überlegenheit von Fluoxetin über Plazebo als Rückfallprophylaxe ein Jahr nach erfolgreicher stationärer Gewichtsrestitution zeigen. In einer späteren größeren Untersuchung, in der Fluoxetin oder Plazebo mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) nach Gewichtsrestitution kombiniert angeboten wurde, konnten die positiven Ergebnisse jedoch nicht bestätigt werden.
34.2
Bulimia nervosa
34.2.1
Reduktion der Essanfälle und der kompensatorischen Verhaltensweisen
Im Gegensatz zur AN wurde in der medikamentösen Therapie der Bulimia nervosa (BN) eine Vielzahl unterschiedlicher Medikamente in kontrollierten Studien erprobt: 5 TZA (Amitriptylin, Imipramin, Desipramin, Nomifensin), 5 nichttrizyklische Antidepressiva (Mianserin, Trazodon, Bupropion), 5 Monoaminoxidasehemmer (MAOI; Phenelzin, Isocarboxazid, Tranylcypromin, Brofaromin, Moclobemid), 5 SSRI (Fluoxetin, Sertralin, Fluvoxamin, Citalopram), fl , 5 Appetitzügler (δ-Fenfluramin) 5 Tryptophan, 5 Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin, Topiramat), 5 Lithium, 5 Ondansetron und 5 Opiatantagonisten (Naloxon, Naltrexon). Es gibt zahlreiche Übersichtsarbeiten, Metaanalysen und Leitlinien zur medikamentösen Therapie Th der BN. Aussagekräft ftige Daten liegen bislang in erster Linie für Substanzen aus der Gruppe der Antidepressiva vor, wobei für die SSRI die größte Evidenz bei geringer Nebenwirkungsrate vorliegt. Antidepressiva haben nicht nur einen positiven Effekt ff auf Essanfälle und kompensatorische Maßnahmen, sondern reduzieren auch essstörungsspezifische fi psychopathologische Merkmale wie dysfunktionale Einstellungen zu Körper und Gewicht. In den meisten Untersuchungen wird auch eine Abnahme von depressiver Symptomatik und von Angstsymptomen beobachtet. Einige Untersuchungen schlossen Patientinnen mit depressiver Symptomatik explizit aus, und es zeigt sich, dass das Ansprechen auf Antidepressiva unabhängig von der Stimmung zu sein scheint. Es wird daher eine direkte antibulimische Wirkung antidepressiver Substanzen angenommen. Ein Wirkungseintritt der antidepressiven Medikation wird vielfach bereits nach
34.2 Bulimia nervosa
der ersten Woche beobachtet. Allerdings wurde unter Fluoxetin auch eine Zunahme von restriktivem Essverhalten gesehen. Dies könnte sich als kontratherapeutisch erweisen, ist doch ein wesentlicher erster Schritt in der Therapie der BN der Aufbau eines geregelten Essverhaltens und eine Reduktion der Angst vor Gewichtszunahme. Restriktives Essverhalten kann hingegen im Sinne eines Teufelskreises das Risiko für das Auftreten ft von erneuten Essanfällen erhöhen. Als einziger SSRI ist Fluoxetin nach zwei multizentrischen ambulanten Studien mit großen Teilnehmerzahlen für die Behandlung der BN in Deutschland und vielen anderen Ländern zugelassen, allerdings nur in Verbindung mit psychotherapeutischen Maßnahmen. In der Behandlung der BN scheint eine höhere Fluoxetindosis von 60 mg/Tag wirkungsvoller zu sein als die für die Behandlung von Depression empfohlene Dosis von 20 mg/Tag. In der Regel wird empfohlen, die Dosis schrittweise zu erhöhen, es gibt aber auch gute Erfahrungen mit der sofortigen Gabe der vollen Dosis von 60 mg (einmalig, morgens). Die Ergebnisse einer offenen ff Studie legen die Effi ffizienz von Fluoxetin 60 mg/Tag auch bei Adoleszenten mit BN nahe. Kleinere kontrollierte Untersuchungen liegen für Sertralin, Citalopram und Fluvoxamin vor, wobei kritisch angemerkt werden muss, dass ein Bias in der Veröff ffentlichung von Medikamentenstudien auch bei der BN vorliegen dürfte. ft Es existieren zumindest zwei unveröffentlichte Untersuchungen von negativen, multizentrischen und multinationalen plazebokontrollierten Studien mit Fluvoxamin, die eine Überlegenheit des Medikaments nicht nachweisen konnten. Bei medikamentöser Therapie können die Abbruchraten beträchtlich sein. Zudem ist auch bei statistisch signifikanter fi Überlegenheit die klinische Wirkung bei vielen Patientinnen nicht substanziell. So liegen die Remissionsraten nach Kurzzeittherapie nur zwischen 0 und 68, im Durchschnitt bei etwa 24. Sollte keine qualifi fizierte Psychotherapie zur Verfügung stehen, kann Fluoxetin als initiale Therapie empfohlen werden. Antidepressiva können sich als hilfreich erweisen bei Patientinnen mit ausgeprägter komorbider Symptomatik wie Depression, Angst, Zwanghaftigkeit ft und Impulskontrollstörungen oder bei Patientinnen, die nicht
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34
oder nur suboptimal auf eine adäquate Psychotherapie angesprochen haben. ! TZA und MAOI wurden bei bulimischen Patientinnen selten eingesetzt und können nicht empfohlen werden. Die Toxizität und potenzielle Letalität bei einer Überdosierung mahnen zu äußerster Vorsicht bei suizidalen Patientinnen. Bei der Gabe von MAOI ist bei sehr chaotischem Essverhalten die Gefahr von hypertonen Krisen nicht unerheblich. Bupropion ist bei BN kontraindiziert.
In den großen multizentrischen Studien mit Fluoxetin waren sexuelle Nebenwirkungen häufi fig, mit einer Dosis von 60 mg/Tag traten Schlafstörungen, Übelkeit und Asthenie bei 25‒33 der Patientinnen auf. Um einen optimalen Effekt ff zu erzielen, kann es nötig sein, unterschiedliche Antidepressiva sequenziell einzusetzen. Bei mangelhaftem ft Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie sollte überprüft ft werden, ob die Medikamenteneinnahme in engem zeitlichem Zusammenhang mit selbstinduziertem Erbrechen steht. Wenn Serumspiegel für ein Medikament zur Verfügung stehen, kann überprüft ft werden, ob ein eff ffektiver Spiegel überhaupt erreicht wurde. In kleineren kontrollierten Studien konnte die Effi ffizienz des Antiepileptikums Topiramat auf Essanfälle und selbstinduziertes Erbrechen dargestellt werden. Aufgrund der zahlreichen Nebenwirkungen (kognitive Störungen, Parästhesien) sollte das Medikament bei BN jedoch nur eingesetzt werden, wenn sich andere medikamentöse TherapieTh versuche als ineff ffektiv erwiesen haben. Die Dosiserhöhung muss entsprechend langsam erfolgen. Der gewichtsreduzierende Effekt ff von Topiramat schränkt den Einsatz bei normal- und untergewichtigen Patientinnen weiterhin ein. Speziell erwähnt werden soll hier Bupropion. Obwohl es signifikant fi bessere Resultate als Plazebo erzielen konnte, ist es bei BN kontraindiziert, da es überzufällig häufi fig zu generalisierten Krampfanfällen geführt hat. Lithium ist ineff ffektiv in der Behandlung von BN und birgt die Gefahr einer Überdosierung durch Flüssigkeitsverschiebungen. Bei Patientinnen mit BN und einer bipolaren Störung ist unter Lithi-
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Kapitel 34 · Die Pharmakotherapie der Essstörungen
umtherapie das Toxizitätsrisiko erhöht. Sowohl Lithium als auch Valproinsäure können zu einer beträchtlichen Gewichtszunahme führen, die die Akzeptanz dieser Medikamente reduziert. Es sollte bei komorbider bipolarer Störung daher ein alternativer mood stabilizerr überlegt werden.
34.2.2
Rückfallprophylaxe
Für den Einsatz von Fluoxetin als Rückfallprophylaxe ist die Evidenz gering, es werden Wirkungsverlust bei Langzeitgabe und hohe Rückfallraten nach Absetzen der Antidepressiva beschrieben. Obwohl entsprechende Daten fehlen, wird bei gutem Ansprechen i. d. R. eine Therapiedauer Th von 9‒12 Monaten empfohlen. In einer kontrollierten Studie, die in Deutschland durchgeführt wurde, hat sich Fluvoxamin als Rückfallprophylaxe nach Entlassung aus stationärer Therapie Th bewährt. Eine Erhöhung der Dosis oder die Gabe eines zweiten Medikaments könnte möglicherweise bei Rückfällen unter Erhaltungstherapie nützlich sein. Allerdings liegen bislang nur offene ff Untersuchungen vor, die dies unterstützen. Fazit SSRI, speziell Fluoxetin, müssen aufgrund ihrer Akzeptanz durch die Patientinnen, ihres günstigen Nebenwirkungsprofils fi und der Symptomreduktion als Antidepressiva erster Wahl gelten. Die effektive ff Dosis von Fluoxetin liegt bei BN in einem hohen Bereich (60 mg/Tag). Ein Eff ffekt stellt sich oft rasch ein, über die Langzeitwirkung ist jedoch wenig bekannt. Andere Medikamente können für den routinemäßigen Einsatz zur Behandlung der BN zurzeit nicht empfohlen werden.
37 38 39 40
34.2.3
Kombination von Psychotherapie und Medikation
Eine Pharmakotherapie wirkt nicht notwendigerweise additiv zu einem psychotherapeutischen Vorgehen (Deckeneff ffekt). In einigen Studien ergab die Kombination von KVT und einem Antide-
pressivum die höchsten Remissionsraten. In anderen Untersuchungen zeigte die zusätzliche Verabreichung antidepressiver Medikation zu KVT nur mäßige oder keine darüber hinausgehenden Effekte ff auf die Reduktion der bulimischen Symptomatik. Es wurde jedoch eine Überlegenheit der Kombinationstherapie für die Reduktion von Depression und Angst berichtet. Die Kombinationstherapie kann initial daher empfohlen werden, v. a. wenn gleichzeitig eine qualifizierte fi KVT angeboten wird.
34.2.4
Sequenzielle Therapie
Sequenzielle Therapiestudien untersuchen die Wirksamkeit einer Therapie Th zweiter Wahl bei Nichtansprechen auf eine Therapie erster Wahl. Wenn KVT alleine nach 10 Sitzungen nicht zu einer deutlichen Symptomreduktion führt, wird die zusätzliche Gabe von Fluoxetin empfohlen. Als weitere mögliche Indikation kann die Rückfallprophylaxe nach Beendigung einer Psychotherapie diskutiert werden. Fazit Der Einsatz antidepressiver Medikamente muss nach dem heutigen Wissensstand als Therapie zweiter Wahl bei der Behandlung bulimischer Patientinnen angesehen werden. Es kann empfohlen werden, Antidepressiva, wenn nötig, als eine Komponente v. a. zu Beginn der Therapie einzusetzen. Andere empfehlen eine antidepressive Therapie als einen der ersten Schritte in einem stufenweisen therapeutischen Vorgehen, auch alternativ zu Selbsthilfeansätzen. KVT und interpersonelle Psychotherapie (IPT) führen nicht nur zu besseren Kurzzeitergebnissen (Reduktion der Essanfälle um 85% mit Remissionsraten um 50%), sondern auch zu stabileren Langzeiterfolgen und gelten daher als Therapie erster Wahl bei Patientinnen mit BN.
209
34.3 Binge-Eating-Störung
34.3
Binge-Eating-Störung
In der Th Therapie der Binge-Eating-Störung (BES) können mehrere Ziele defi finiert werden (. Übersicht). Die therapeutische Arbeit an einem der Ziele sollte nach Möglichkeit die anderen Bereiche nicht negativ beeinfl flussen. Es gilt v. a. zu klären, ob Essverhalten und Gewicht parallel oder konsekutiv behandelt werden sollen. Therapieziele bei Binge-Eating-Störung 5 Reduktion der Frequenz der Essanfälle fi 5 Reduktion der essstörungsspezifischen Psychopathologie (z. B. Überbewertung von Gewicht und Figur) 5 Gewichtsabnahme oder Verhinderung der weiteren Gewichtszunahme 5 Verbesserung der allgemeinen Psychopathologie (z. B. Depression) 5 Verbesserung der körperlichen Gesundheit
34.3.1
34
! Es ist klinische Realität, dass Gewichtsreduktion i. d. R das wichtigste Ziel dieser Patientinnen bleibt.
Es wird angenommen, dass die Patientinnen nach Therapieende trotz Remission der Essanfälle wieder mit Diäthalten beginnen und damit ihre Vulnerabilität für das erneute Auftreten ft von Essanfällen erhöhen. Von Psychotherapiestudien wissen wir allerdings, dass eine vollständige Remission der Essanfälle mit einer höheren Gewichtsreduktion assoziiert ist. Aus der Gruppe der Appetithemmer konnte für Sibutramin in einer randomisierten kontrollierten Studie ein signifikanter fi Eff ffekt zur Verringerung der Essanfälle und zum Gewichtsverlust festgestellt werden. Herzfrequenz und Blutdruck müssen jedoch kontrolliert und das Medikament bei signifi fikantem Anstieg dieser Parameter abgesetzt werden. Auch Topiramat konnte eine positive Wirkung auf Essanfälle und Gewicht zeigen, aufgrund der problematischen Nebenwirkungen (s. oben, BN) ist seine klinische Brauchbarkeit jedoch eingeschränkt.
Reduktion der Essanfälle 34.3.2
Es wurden durchgängig Medikamente angewendet, die sich bereits in der Therapie der BN als wirksam erwiesen haben. Vor allem SSRI können Essanfälle und eine komorbide depressive Symptomatik in der Kurzzeittherapie effektiv ff reduzieren. Die Remissionsraten liegen deutlich höher als in Studien bei BN, die durchschnittliche Reduktion der Essanfälle liegt in den meisten Untersuchungen bei weit über 60. Die Dosierungen sind wiederum an der Obergrenze der für die Behandlung der Depression empfohlenen angesiedelt. Kritisch ist anzumerken, dass auch die Ansprechraten auf Plazebo in der Therapie der BES sehr hoch liegen können. Ergebnisse offener ff Studien müssen daher speziell bei der BES sehr vorsichtig bewertet werden. Zudem ist man auch hier mit dem Problem der Rückfälle nach Beendigung der Therapie Th konfrontiert. Langzeitstudien stehen zum jetzigen Zeitpunkt noch aus. In der Regel ist die Abnahme der Essanfälle nicht von einer wesentlichen Gewichtsabnahme begleitet, wenn auch die meisten Untersuchungen eine höhere Gewichtsreduktion mit Verum als mit Plazebo finden.
Kombination von Psychotherapie und Medikation
Die zusätzliche Gabe antidepressiver Medikation zu verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktionsprogrammen oder zu essstörungsorientierter KVT scheint keinen zusätzlichen Effekt ff auf die Reduktion der Essanfälle zu haben, in einigen Fällen aber das Ausmaß der Gewichtsreduktion (Orlistat) bzw. das Ausmaß der Reduktion depressiver Symptome zu erhöhen (Fluoxetin). Die psychotherapeutischen Interventionen waren in den vorliegenden Kombinationsstudien der alleinigen medikamentösen Therapie i. d. R. überlegen, sodass auch bei der BES für die Reduktion der essstörungsspezifischen Symptomatik die Psychotherapie (KVT) fi als Therapie Th erster Wahl gelten muss. In den beiden Kombinationsstudien mit Fluoxetin konnte überraschend auch keine Überlegenheit des Medikaments über Plazebo bezüglich der Reduktion der Essanfälle festgestellt werden.
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Kapitel 34 · Die Pharmakotherapie der Essstörungen
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35 Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen Almut Zeeck 35.1
Stellenwert stationärer und tagesklinischer Behandlung – 211
35.1.1 Gesamtbehandlungsplanung – 212 35.1.2 Unterschiede zwischen voll- und teilstationären Programmen – 212 35.1.3 Ziele – 213 35.1.4 Elemente voll- und teilstationärer Therapie – 214
35.2
Anorexia nervosa
– 214
35.2.2 Behandlungsvereinbarungen – 215 35.2.3 Charakteristische Schwierigkeiten – 216
35.3
Bulimia nervosa – 216
35.3.1 Indikation – 216 35.3.2 Behandlungsvereinbarungen
35.4
– 216
Binge-Eating-Störung – 217
35.4.1 Indikationsstellung – 217 35.4.2 Ziele – 217
35.2.1 Indikation – 214
35.1
Stellenwert stationärer und tagesklinischer Behandlung
Essstörungen sind häufi fig chronisch verlaufende Erkrankungen, welche eine langfristige Planung der Behandlung erforderlich machen. In der Regel sind in Abhängigkeit von der Ausprägung der Essstörung, der begleitenden Komorbidität und dem sozialen Umfeld zunächst ambulante Behandlungsmaßnahmen ausreichend. Dies trifft fft v. a. für die Behandlung der Bulimia nervosa (BN) und der Binge-Eating-Störung (BES) zu. Reicht aber eine ambulante Behandlung aufgrund der Schwere, Chronizität oder Komplexität der Symptomatik nicht aus (z. B. bei behandlungsbedürft ftiger Komorbidität, Suizidalität oder medizinischen Komplikationen), kann eine tagesklinische oder stationäre Therapie erforderlich sein. Bei der Anorexia nerTh vosa (AN) ist aufgrund der körperlichen Gefährdung und der oft ft ich-syntonen Symptomatik am häufi figsten eine stationäre Behandlung indiziert, in manchen Fällen auch primär als Einstieg in einen längerfristigen Therapieprozess. Th Eine europäische sowie eine deutsche Verbundstudie (COST Action B6, MZ-ESS; Kordy 2005, Kächele et al. 2001) zeigten, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Essstörungen stationär
behandelt werden, sehr unterschiedlich sind. Konzepte und Behandlungsdauer sind dabei weniger durch Charakteristika der Patientinnen (z. B. die Krankheitsschwere) bestimmt als durch organisatorische, ökonomische und traditionsbedingte Gegebenheiten der verschiedenen Länder oder Kliniken. In der deutschen Verbundstudie erwies sich bei psychodynamisch orientierten Kliniken eine Dauer von 8‒12 Wochen als sinnvoll, wobei ältere Patientinnen eher von längeren Behandlungsdauern profitieren. fi Es finden sich – u. a. aufgrund methodischer Schwierigkeiten ‒ nur sehr wenige empirische Untersuchungen, welche die Effektiviff tät stationärer und tagesklinischer Behandlung im Vergleich zur ambulanten Therapie Th untersuchen oder aber Fragen einer differenziellen ff Indikationstellung, notwendiger Th Therapiekomponenten und der Behandlungsdauer nachgehen. Vor allem im Hinblick auf die stationäre Behandlung von Bulimie und BES, die in manchen Ländern als Option kaum noch zur Verfügung steht, besteht ein Mangel an Studien. Die aktuelle Situation stationärer Behandlung ist von einem zunehmenden ökonomischen Druck bestimmt, der zu einer Verkürzung von Behandlungszeiten führt. Dies scheint sich ungünstig auszuwirken. So konnte gezeigt werden, dass eine Ver-
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Kapitel 35 · Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen
kürzung der Therapiezeit Th zu einer Zunahme der Rückfallraten bei AN führte. Vor allem bei Ersthospitalisationen sollte deshalb darauf geachtet werden, dass Anorexiepatientinnen ausreichend Zeit zur Verfügung steht und sie ein adäquates Gewicht (s. unten) erreichen können, um Rehospitalisierung und Chronifizierung fi zu vermeiden. Eine stationäre Behandlung sollte nicht als »letzte Möglichkeit« angesehen werden, sondern auch als eine Behandlungsoption, die spezifische fi therapeutische Chancen bietet. ! Essstörungen sind häufi fig chronisch verlaufende Erkrankungen. Vor allem bei der Anorexia nervosa können stationäre Behandlungsabschnitte erforderlich sein.
35.1.1
Gesamtbehandlungsplanung
Der Krankheitsverlauf einer Essstörung umfasst i. d. R. mehrere Jahre, während denen es zu mehreren Therapieepisoden Th kommen kann (z. B. ambulant, stationär, ambulant). Auch macht die Vielfalt der Problembereiche (psychisch, familiär, medizinisch, sozial) eine Zusammenarbeit verschiedener Behandler erforderlich. Nicht selten sind die Abfolge der Behandlungsabschnitte sowie die Anzahl der beteiligten Personen unübersichtlich und kaum aufeinander abgestimmt. Der Begriff ff Gesamtbehandlungsplanung beinhaltet, dass der bisherige Krankheitsverlauf einer Patientin im Blick behalten werden sollte. Anzustreben ist eine möglichst gute Koordination und Abstimmung zwischen den beteiligten Behandlern. Dazu gehört auch, dass die Ziele für den jeweiligen Behandlungsabschnitt in Abhängigkeit von früheren Th Therapieerfahrungen und der aktuellen Situation festgelegt werden. So kann es sinnvoll sein, bei einer Patientin mit chronischer BN und Borderline-Persönlichkeitsstörung als TherapieTh ziel einen tagesklinischen Aufenthalt zu definieren, fi sodass die Patientin die Option erhält, ihre sozialen Kontakte zu verbessern und die Symptomatik mit Essanfällen und selbstverletzendem Verhalten auf ein Ausmaß zu reduzieren, welches ihr die Bewältigung des Alltags und die Fortsetzung ihrer Ausbildung erlaubt.
Ferner bedürfen v. a. die Aufnahme- und die Entlasssituation besonderer Aufmerksamkeit. Vor Aufnahme geht es um die Klärung der Behandlungsmotivation sowie um die Klärung der Zielsetzung für den anstehenden Behandlungsabschnitt. Wichtig ist es dabei, vorausgegangene TherapieerfahTh rungen zu berücksichtigen und bei Einverständnis der Patientinnen frühere Behandler zu kontaktieren, um auf den Vorerfahrungen aufbauen fb zu können. Entlasssituationen sind mit einem Risko von Rückfällen verbunden, sodass deren Antizipation wichtig ist, einschließlich einer gezielten Vorbereitung auf die Situation außerhalb der Klinik. Zu bedenken ist, dass die Patientinnen nach Entlassung wieder für alle Mahlzeiten selbst verantwortlich sind und sich die therapeutische Unterstützung von mehreren Stunden pro Woche auf 1‒2 Stunden reduziert. Gute Absprachen mit dem weiterbehandelnden Psychotherapeuten und dem Hausarzt sowie klare Regeln für die Möglichkeit der Wiederaufnahme helfen, die Kontinuität der Behandlung zu gewährleisten. Die beteiligten Behandler sollten möglichst Erfahrung in der Therapie Th von Essstörungen haben. ! Eine Abstimmung zwischen den beteiligten Behandlern sowie eine gezielte, langfristige Planung der Therapie sind erforderlich, um eine kontinuierliche und koordinierte Behandlung zu ermöglichen.
35.1.2
Unterschiede zwischen voll- und teilstationären Programmen
Die Einrichtung tagesklinischer Programme für essgestörte Patientinnen ist in Deutschland eine vergleichsweise junge Entwicklung. Während eine stationäre Therapie die Herausnahme aus dem alltäglichen Lebenskontext bedeutet, bringt eine tagesklinische Th Therapie den täglichen Wechsel zwischen intensiver Behandlung in der Klinik und Rückkehr in die Alltagssituation mit sich. Dies hat spezifische fi Vor-, aber auch Nachteile. Die Vorteile einer stationären Behandlung sind die kontinuierliche Ansprechbarkeit einer Helferperson, die durchgehende Vorgabe einer Tages-
35.1 Stellenwert stationärer und tagesklinischer Behandlung
und Mahlzeitenstruktur, ganztägiges Monitoring bei körperlicher Gefährdung und die Distanz zu möglicherweise belastenden oder eine Gesundung erschwerenden Beziehungskontexten zu Hause. Der Nachteil stationärer Therapie Th besteht in der künstlichen Situation des stationären Milieus, welches versorgende und schützende Aspekte betont. Manche Patientinnen finden es nach einer längeren Behandlung schwer, wieder mit den Anforderungen des Alltags zurechtzukommen. Gerade auch bei jungen Patientinnen ist zu berücksichtigen, dass diese für mehrere Monate aus Schule und Freundeskreis herausgenommen werden und damit wichtige altersentsprechende Erfahrungen verpassen. Die Therapie in einem tagesklinischen Programm betont die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Die Patientinnen sind gefordert, die Abende und Wochenenden außerhalb der Klinik zu verbringen und zu strukturieren, was einerseits zu Gefühlen von Überforderung führen kann, andererseits aber auch das Empfinden fi stärkt, Veränderungen selbst erreicht zu haben. Nähe und Distanz zu anderen sind in einer Tagesklinik leichter zu regulieren, was v. a. in der Behandlung von Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen günstig sein kann. Im tagesklinischen Kontext können täglich Aspekte aus der Therapie zu Hause ausprobiert werden. Andererseits fl fließen Schwierigkeiten aus Alltagssituationen außerhalb der Klinik täglich in die Therapie Th ein (z. B. Schwierigkeiten beim Essen, aber auch Probleme mit der Familie oder dem Partner). Dies kommt einer intensiven Übungssituation gleich. Nachteil einer tagesklinischen Behandlung ist, dass Patientinnen, welche zur Heimlichkeit und dem Verbergen ihrer Schwierigkeiten neigen, pathologische Verhaltensweisen leichter unbemerkt aufrechterhalten können.
35.1.3
Ziele
Ein Hauptziel stationärer und tagesklinischer Behandlung ist zunächst eine körperliche Stabilisierung, die bei der Anorexie eine ausreichende Gewichtszunahme beinhaltet, bei der Bulimie eine Reduktion selbstinduzierten Ebrechens bzw. eines Abführmittelmissbrauchs. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer strukturierten Arbeit an einer
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35
Normalisierung des Essverhaltens und der Nahrungszusammensetzung sowie eines begleitenden körperlichen Monitorings. Eine wichtige Voraussetzung für die Behandlung und auch gleichzeitig anzustrebendes Ziel ist die Motivation für einen Veränderungsprozess. Wenn diese sehr begrenzt oder nicht vorhanden ist, muss zunächst auf die Erarbeitung einer ausreichenden Motivation fokussiert werden. Diese kann im Rahmen einer der stationären Therapie vorgeschalteten Motivationsphase erfolgen oder aber in Form eines initialen Motivationsabschnitts. Mitpatientinnen, welche schon Therapieerfahrung haben, können hier eine wichtige, unterstützende Rolle spielen. Eine Gewichtszunahme oder die Aufgabe bulimischen Verhaltens kann mit derart starken Ängsten und Gefühlen von Verunsicherung verbunden sein, dass ein ambulanter Rahmen nicht ausreichend ist. Hier kommt einer stationären oder tagesklinischen Behandlung die Funktion zu, einen Halt und Sicherheit gebenden Rahmen zur Verfügung zu stellen, in welchem die auft ftretenden Ängste zeitnah aufgefangen werden können. Während einer stationären oder tagesklinischen Behandlung sollte versucht werden, die Voraussetzungen für eine ambulante Weiterbehandlung zu schaffen. ff Dazu gehören neben einer körperlichen Stabilisierung und einer ausreichenden Motivation das Herausarbeiten zentraler psychischer Probleme und Konflikte fl , welche bedeutsamen Anteil an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung haben (z. B. Reifungsängste, Probleme mit der Affektregulation, ff Selbstwertkonfl flikte, dysfuntionale interaktionelle Muster). Für chronifizierte fi und sozial sehr isolierte Patientinnen kann eine stationäre oder tagesklinische Behandlung das Ziel haben, durch eine Strukturierung des Tagesablaufs und den Wiederaufbau fb sozialer Kontakte und Aktivitäten außerhalb der Klinik eine höhere Lebensqualität zu erreichen.
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Kapitel 35 · Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen
Ziele (teil-)stationärer Therapie bei Essstörungen 5 Körperliche Stabilisierung 5 Normalisierung des Essverhaltens (Essensstruktur, Mahlzeitenzusammensetzung) 5 Erarbeitung einer ausreichenden Motivation 5 Herausarbeiten zentraler psychischer Problembereiche 5 Verbesserung der psychischen Begleitsymptomatik (z. B. Depressivität, Ängste, Selbstverletzungen) 5 Arbeit an zentralen dysfunktionalen Beziehungsmustern 5 Unterstützung bei Problemen im sozialen Umfeld
28 29 35.1.4
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Elemente voll- und teilstationärer Therapie
Das Angebot stationärer Therapieprogramme ist i. d. R. multimodal und ermöglicht damit eine Kombination von Th Therapieelementen, welche im ambulanten Rahmen nicht parallel angeboten werden können. Programme für Essstörungen sollten beinhalten: 5 strukturierte, symptomorientierte Komponenten (die Arbeit mit Esstagebüchern, begleitetes Essen und Kochen; bei AN die Vereinbarung eines Zielgewichts sowie wöchentliche Vorgaben für die Gewichtszunahme), 5 eine medizinische Betreuung und 5 Komponenten, welche auf die psychischen Schwierigkeiten der Patientinnen abzielen (Einzel- und Gruppentherapie, Körpertherapie, Familiengespräche). Es zeigt sich in den letzten Jahren eine Entwicklung weg von rigiden Verhaltensmodifikationsprogramfi men hin zu flexibleren fl Vorgehensweisen, welche die individuelle Entwicklung der einzelnen Patientin berücksichtigen. Für viele Patientinnen ist die vorgegebene Tages- und Essensstruktur in einer Klinik eine notwendige Voraussetzung, um ihr gestörtes Essverhalten verändern zu können.
Stationäre und tagesklinische Angebote für Essstörungen weisen in Deutschland viele Gemeinsamkeiten auf, wobei zwischen Klinikbehandlung und Rehabilitation unterschieden werden muss. Bei einer Klinikbehandlung steht die Behandlung der Essstörungsproblematikk im Vordergrund, während eine rehabiliative Behandlung v. a. der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach einem längeren Krankheitsprozess dient. Die Konzepte der Kliniken sind hinsichtlich der Grundorientierung entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch oder psychodynamisch ausgerichtet. Teilstationäre Programme für Essstörungen sind derzeit noch wenig verbreitet, gewinnen aber an Bedeutung. Eine stationäre oder tagesklinische Behandlung bedeutet immer die Behandlung in einer Gruppe von Patientinnen. Essgestörte Patientinnen profitiefi ren einerseits vom Austausch mit anderen Betroffenen, andererseits ermöglicht das therapeutische »Milieu« einer Klinik auch wichtige Beziehungserfahrungen und die Arbeit an dysfunktionalen interaktionellen Mustern, welche im ambulanten Rahmen nicht in dieser Form möglich ist. Bei jungen Patientinnen mit AN, welche noch in der Herkunft ftsfamilie leben, sollte die Familie in Form von begleitenden Gesprächen in die Th Therapie mit einbezogen werden.
35.2
Anorexia nervosa
35.2.1
Indikation
Die Indikationskriterien für eine stationäre TheTh rapie bei AN sind in . Tab. 35.1 dargestellt. Das Gewicht (der BMI) sollte nicht das alleinige Kriterium für eine Indikationsstellung sein, sondern es sollten die körperliche Verfassung insgesamt, die soziale Situation, die Vorgeschichte und die Schwere der psychischen Beeinträchtigung mitberücksichtigt werden. Ferner sollte eine stationäre Behandlung nicht erst als letzter Schritt bei gravierender körperlicher Instabilität erfolgen, da in einer solchen Situation ein komplizierterer Behandlungsverlauf und erhöhte Risiken bei der Gewichtszunahme zu erwarten sind. Bei AN ist in den meisten Fällen eine stationäre Behandlung einer tagesklinischen vorzuziehen. Allerdings gibt es nur eine einzige Studie mit kleiner Fallzahl, welche beide Settings direkt
215
35.2 Anorexia nervosa
35
. Tab. 35.1. Indikationsstellung (Mod. nach Zeeck u. Hartmann 2008, mit freundlicher Genehmigung) Anorexia nervosa – stationäre Behandlung
Bulimia nervosa – (teil-)stationäre Behandlung
5 Rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (> 20% über 6 Monate) 5 Gravierendes Untergewicht (BMI < 15 kg/m2) 5 Ein (seit > 4 Wochen) anhaltender Gewichtsverlust oder ein seit 3 Monaten stagnierendes (Unter-)Gewicht trotz ambulanter oder tagesklinischer Therapie 5 Das Vorkommen von sozialen oder familiären Einflussfaktoren, fl welche einen Gesundungsprozess stark behindern (soziale Isolation, problematische familiäre Situation, bei Kindern und Jugendlichen auch: unzureichende soziale Unterstützung) 5 Gravierende psychische Komorbidität, die eine Hospitalisierung erforderlich macht 5 Unzureichende ambulante Behandlungsmöglichkeiten 5 Eine schwere bulimische Symptomatik, massiver Laxanzienoder Diuretikaabusus 5 Eine starke körperliche Gefährdung oder medizinische Komplikationen 5 Vor allem bei Kindern und Jugendlichen: geringe Krankheitseinsicht 5 Eine Überforderung im ambulanten Setting, wenn dieses z. B. zu wenige strukturierte Vorgaben (Mahlzeitenstruktur, Essensmenge, Rückmeldungen zum Essverhalten) bieten kann
5 Versagen oder Stagnieren ambulanter Psychotherapie 5 Gravierende psychische Komorbidität 5 Eine starke körperliche Gefährdung oder medizinische Komplikationen 5 Massiver Laxanzien- oder Diuretikaabusus 5 Eine schwere bulimische Symptomatik, deren Veränderung engmaschig strukturierender Vorgaben bedarf 5 Langjährige Chonifizierung fi 5 Ausgeprägte soziale Isolation und zwischenmenschliche Schwierigkeiten, welche durch eine ambulante Therapie nicht ausreichend beeinflusst fl werden können
miteinander vergleicht. Die Frage einer differenff ziellen Indikationsstellung – also wann eine stationäre und wann eine tagesklinische Th Therapie indiziert ist ‒ ist empirisch bislang nicht untersucht. In den meisten Fällen, in denen eine ambulante Th Therapie nicht ausreicht, erscheint zunächst eine stationäre Therapie indiziert, welche ganztägig Struktur und Halt gibt. Zur Vorbereitung der Entlassung kann dann aber eine sich daran anschließende tagesklinische Phase sinnvoll sein, in welcher z. B. ein gesünderes Essverhalten im Alltag erprobt werden kann (step-down approach). Eine tagesklinische Behandlung ist dann zu empfehlen, wenn Patientinnen nicht extrem untergewichtig sind (BMI 14,5‒17,5 kg/m2), eine gute Motivation zeigen oder schon mehere stationäre Aufenthalte hinter sich haben. Auch chronifizierte Patientinnen, bei welchen es weniger um eine Gewichtszunahme als um eine Verbesserung der sozialen Einbindung und Lebensqualität geht, können von einer tagesklinischen Episode profitiefi ren, welche ihren Alltag intensiv in die Th Therapie mit einbezieht.
35.2.2
Behandlungsvereinbarungen
In einer Kohortenstudie verglichen Herzog et al. (1996) ein psychodynamisches Behandlungsprogramm vor und nach Einführung von symptomorientierten Behandlungsbausteinen (TherapieTh vereinbarung mit Zielgewicht und wöchentlichen Gewichtsvorgaben, Arbeit mit Esstagebüchern). Während zuvor nur ca. 25 der Patientinnen bis zur Entlassung das Zielgewicht erreichten, waren es nach Einführung der strukturierten, zusätzlichen Komponenten 70. Dies spricht dafür, dass ein Zielgewicht, klare Vorgaben zur Gewichtszunahme und eine intensive Arbeit an der Symptomatik erforderlich sind, um Patientinnen mit einem ausreichenden Gewicht entlassen zu können. Empirische Studien legen nahe, dass bei AN das Erreichen eines möglichst hohen Gewichts (BMI > 18 kg/m2; bei Kindern mindestens Erreichen der 10. Altersperzentile) angestrebt werden sollte, um das Rückfallrisiko zu mindern. Bei der Festlegung sollte das Alter der Patientinnen mitberücksichtigt werden.
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Kapitel 35 · Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen
Patientinnen scheinen mit höheren Gewichtsvorgaben pro Woche im Durchschnitt zunächst mehr zuzunehmen. Möglicherweise kommt es aber bei zu rascher Zunahme im weiteren Verlauf zu einer Gegenregulation und erneuter Gewichtsabnahme mit der Gefahr schnellerer Rehospitalisierung. International werden aktuell Gewichtsvorgaben von 500–1500 g Gewichtszunahme pro Woche empfohlen. Untersuchungen zu Charakteristika des Gewichtskurvenverlaufs geben Hinweise darauf, dass die Gewichtsentwicklung der 3. und 4. Woche eine gute Vorhersage des Therapieergebnisses ermöglicht – und damit eine Identifikation fi von Risikopatientinnen, die ambivalent oder nur begrenzt motiviert sind. Noch im stationären Rahmen die Erfahrung zu machen, dass das erreichte Gewicht über einen bestimmten Zeitraum (ohne weitere Gewichtszunahme) gehalten werden kann, scheint ebenfalls bedeutsam zu sein und das Risiko für spätere Rückfälle und Rehospitalisationen zu vermindern.
35.2.3
Charakteristische Schwierigkeiten
Die stationäre Behandlung anorektischer Patientinnen führt zu charakteristischen Schwierigkeiten in den Behandlungsteams. Es können Gefühle von Frustration, Ohnmacht und Ärger vorherrschen, die zu dem Bedürfnis führen, eine Patientin zu kontrollieren und Veränderungen zu erzwingen. Uneinigkeit im Team über das angemessenste Vorgehen kann eine konstruktive Arbeit erschweren. Hier kann der Rahmen einer Therapievereinbarung Orientierung bieten und entlastend sein. Charakteristisch sind regelmäßige Auseinandersetzungen mit den Patientinnen um das Essen und die Gewichtszunahme, in welchen sich Konfl flikte um die Themen Autonomie und Abhängigkeit spiegeln. Ein regelmäßiger Austausch im Team sowie Supervision sind hilfreich, um einen konstruktiven Behandlungsprozess zu gewährleisten. Anorektische Patientinnen neigen zur Manipulation ihres Gewichts (Trinken von Flüssigkeit u. a.) und einem Unterlaufen der Behandlung, um ein Gefühl von Kontrolle und Autonomie zu behalten. Dieses Verhalten sollte möglichst nicht zum
Abbruch einer Behandlung führen, sondern mit der Patientin auf seine Funktion hin untersucht werden. Die therapeutische Haltung sollte im Hinblick auf die Therapieziele sowie die Regeln des Umgangs insgesamt klar und konsistent sein, aber auch empathisch und flexibel. fl Aufgrund der Ambivalenz der Patientinnen bezüglich einer Behandlung besteht die Gefahr von frühzeitigen Behandlungsbeendigungen. Mit einem erhöhten Abbruchrisiko verbunden sind der aktive/bulimische Subtyp der AN bzw. eine Neigung zur Impulsivität, eine ausgeprägte Angst vor dem Erwachsenwerden, eine ausgeprägtere Psychopathologie sowie größere Gewichtssorgen. Patientinnen, welche mit einem BMI < 13 kg/m2 aufgenommen werden, weisen ein besonders hohes Risiko zur Chronifizierung fi und erhöhte Sterberaten auf.
35.3
Bulimia nervosa
35.3.1
Indikation
Die meisten bulimischen Patientinnen können ambulant behandelt werden. Eine intensivere TheTh rapie kann aber unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein (. Tab. 35.1). Einzelne Studien zeigten die Effektivität ff tagesklinischer Therapie. Die einzige randomisiert-kontrollierte Studie, welche stationäre mit tagesklinischer Th Therapie vergleicht, zeigt, dass beide Settings zwar kurzfristig gleich effektiv ff sind, dass Patientinnen mit Bulimie aber längerfrifi stig eher von einem teilstationären Setting profitieren, in welchem die Eigenverantwortlichkeit betont wird und welches aufgrund der täglichen »Übungssituation« besser auf die Zeit nach der Entlassung vorbereitet (Zeeck et al. 2008).
35.3.2
Behandlungsvereinbarungen
Ähnlich wie in der Behandlung der AN hat es sich bewährt, strukturierte symptomorientierte Elemente mit Elementen zu verbinden, in welche psychische Schwierigkeiten der Patientinnen (Selbstwertproblematik, Perfektionsmus, Schwierigkeiten in der Aff ffektregulation, interaktionelle Probleme) bearbeitet werden können. Auch bulimische Pati-
217
35.4 Binge-Eating-Störung
entinnen haben ein negatives Körpererleben und eine ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme, insbesondere, wenn sie ihr Essverhalten normalisieren und gegenregulierende Maßnahmen wie Erbrechen und Abführmittelmissbrauch aufgeben. Ein unterstützendes körpertherapeutisches Angebot ist daher sinnvoll. Im Rahmen einer multimodalen Behandlung ist es ferner indiziert, soziale Schwierigkeiten zu identifizieren fi (Isolation, Verschuldung, Schwierigkeiten in der Berufs- und Ausbildungssituation) und den Patientinnen eine entsprechende Unterstützung anzubieten.
35.4
Binge-Eating-Störung
35.4.1
Indikationsstellung
Bei einer BES ist selten eine komplexe TheraTh pie indiziert. Ausnahmen bilden Patienten mit behandlungsbedürftiger ft Komorbidität, bei welchen eine Kombination verschiedener Th Therapieangebote erforderlich ist (Einzel- und Gruppentherapie, Körpertherapie, medizinische Betreuung) oder die Symptomatik mit Essanfällen so schwer ausgeprägt ist, dass es zu deren Unterbrechung einer äußeren Kontrolle und Strukturierung bedarf.
35.4.2
Ziele
Auch bei der BES besteht die Zielsetzung einer teilstationären oder stationären Therapie Th in der Reduktion der psychischen Beeinträchtigung, einer Normalsierung des Essverhaltens, einem Herausarbeiten zentraler Problembereiche (und damit der Funktion der Essstörung) sowie einer Th Thematisierung sozialer Schierigkeiten. Hinzu kommt das Ziel einer langsamen, aber kontinuierlichen Gewichtsreduktion. Von großer Bedeutung ist die Planung der ambulanten Weiterbehandlung, um eine langfristige Stabilisierung zu gewährleiten.
35
Fazit Essgestörte Patientinnen sollten in Kliniken behandelt werden, welche spezialisierte Programme für Essstörungen vorhalten. Stationärer Behandlungsepisoden bedarf es v. a. bei Anorexia nervosa. Bei Bulimia nervosa ist eine spezialisierte tagesklinische Therapie zu empfehlen, wenn eine ambulante Therapie nicht ausreicht und diese wohnortnah zur Verfügung steht. Bei der Binge-Eating-Störung ist eine (teil-)stationäre Behandlung v. a. bei gravierender Komorbidität erforderlich. (Teil-)stationäre Programme für essgestörte Patientinnen sollten sowohl strukturierte, symptomorientierte Angebote enthalten als auch Angebote, in welchen die psychischen Schwierigkeiten der Patientinnen aufgegriffen werden.
Literatur Hebebrand J, Heseker H, Himmelsmann W, Schaefer H, Remschmidt H (1994) Alterspercentilen für den Body-Mass-Index aus Daten der Nationalen Verzehrstudie einschließlich einer Übersicht zu relevanten Einfl flußfaktoren. Aktuelle Ernährungsmedizin 19: 259-265 Herzog T, Zeeck A (2001) Die stationäre psychodynamische Therapie bei Bulimie und Anorexie. In: Reich G, Cierpka M (Hrsg) Psychotherapie der Essstörungen, 2. Aufl. fl Thieme, Stuttgart, S 79-93 Herzog T, Hartmann A, Falk C (1996) Symptomorientierung und psychodynamisches Gesamtkonzept bei der stationären Behandlung der Anorexia nervosa. Eine quasi- experimentelle Vergleichsuntersuchung von 40 Aufnahmeepisoden. Psychother Psychosom med Psychol 46: 11-22 Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg) (2004) Essstörungen – Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte, 2. Aufl. fl Schattauer, Stuttgart Kächele, H, Kordy H, Richard M and Research Group TR-EAT (2001) Therapy amount and outcome of inpatient psychodynamic treatment of eating disorders in Germany: data from a multicenter study. Psychother Res 11(3): 239-257 Kordy H (2005) Counting the COST: a European collaboration on the effi fficiency of psychotherapeutic treatment of patients with eating disorders. Eur Eat Disord Rev 13(3): 153-158 Kaplan A, Olmsted M (1997) Partial hospitalization. In: Garner D, Garfi finkel P (eds) Handbook of treatment for eating disorders. Guilford, New York, pp 354-360
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Kapitel 35 · Stationäre und teilstationäre Psychotherapie der Essstörungen
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36 Die Behandlung von Körperbildstörungen Silja Vocks 36.1
Erarbeitung eines Störungsmodells – 220
36.2
36.3
36.4
Expositionsübungen zur Reduktion des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens – 222
Modifi fikation dysfunktionaler körperbezogener Kognitionen – 220
36.5
Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten – 223
Körperkonfrontation per Spiegel und Video – 220
36.6
Befunde zur Wirksamkeit kognitivverhaltenstherapeutischer Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes – 223
36.3.1 Ziele – 221 36.3.2 Vorgehen – 221
In mehreren prospektiven Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass einem gestörten Körperbild bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen eine zentrale Bedeutung zukommt. Auch ergaben weitere Längsschnittstudien, dass Patientinnen, die durch eine Therapie zwar ihr Essverhalten normalisieren konnten, jedoch eine nach wie vor negative Einstellung gegenüber dem eigenen körperlichen Erscheinungsbild zeigten, ein höheres Rückfallrisiko aufwiesen. Obwohl es diese Forschungsbefunde nahe legen, in die Essstörungsbehandlung Interventionen zur gezielten Verbesserung des Körperbildes zu integrieren, werden derartige Behandlungsmaßnahmen in der Th Therapie der Anorexia nervosa (AN) und der Bulimia nervosa (BN) häufi fig nicht berücksichtigt oder lediglich unsystematisch und unzureichend eingesetzt. Im Folgenden werden verschiedene Module zur kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von Körperbildstörungen dargestellt (. Übersicht), die auf der Basis bestehender Forschungsbefunde entwickelt wurden und ansetzen an den vier Komponenten eines gestörten Körperbildes, 5 der Perzeption, 5 der Kognition, 5 der Emotion und 5 dem Verhalten.
Abschließend werden Forschungsbefunde zur Wirksamkeit kognitv-verhaltenstherapeutischer Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes zusammengefasst. Module der Körperbildtherapie 5 Erarbeitung eines Störungsmodells fi dysfunktionaler körperbezo5 Modifikation gener Kognitionen 5 Körperkonfrontation per Spiegel und Video 5 Expositionsübungen zur Reduktion des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens 5 Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten
Die Körperbildtherapie kann sowohl im Einzelals auch im Gruppensetting durchgeführt werden. Sie stellt einen die reguläre Essstörungsbehandlung ergänzenden Baustein dar. Aufgrund der Körperkonfrontationsübungen empfiehlt fi es sich, die Körperbildtherapie von zu den Patientinnen gleichgeschlechtlichen Therapeuten Th durchführen zu lassen.
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Kapitel 36 · Die Behandlung von Körperbildstörungen
! Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes stellen einen ergänzenden Baustein in der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von Essstörungen dar. Sie setzen an der verzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers, negativen körperbezogenen Emotionen und Kognitionen sowie dysfunktionalem körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhalten an.
36.1
Erarbeitung eines Störungsmodells
Um den Patientinnen das Behandlungsrationale zu vermitteln und dadurch die Therapiemotivation Th zu steigern, sollte in einem ersten Schritt gemeinsam mit jeder Patientin ein individuelles Störungsmodell bezüglich der Entstehung und Aufrechterhaltung der Körperbildstörung entwickelt werden, aus welchem anschließend die einzelnen Behandlungskomponenten hergeleitet werden. Dabei wird ein Fokus auf die individuelle Körperbildgeschichte gelegt, d. h., es soll für jede Patientin zusammengetragen werden, welche positiven (z. B. sportliche Leistungen) und negativen Ereignisse (z. B. Hänseleien) in den verschiedenen Phasen ihres Lebens zur Entwicklung ihres eigenen Körperbildes beigetragen haben. In diesem Zusammenhang wird auch der Einfluss fl des in der westlichen Gesellschaft ft allseits präsenten und seitens der Medien verbreiteten Ideals extremer Schlankheit reflektiert fl . Ebenso wird die spezifi fische Körperbildproblematik bezüglich der vier Komponenten (Perzeption, Kognition, Emotion und Verhalten) für jede Patientin herausgearbeitet. Darüber hinaus werden mit jeder Patientin die das negative Körperbild und somit auch die die Essstörung aufrechterhaltenden Faktoren (z. B. körperbezogenes Vermeidungsverhalten) identififi ziert. Es wird mit den Patientinnen vereinbart, dass in der Therapie insbesondere an diesen aufrechterhaltenden Faktoren angesetzt werden sollte, um bestehende Teufelskreise zu durchbrechen.
36.2
Modifikation fi dysfunktionaler körperbezogener Kognitionen
In zahlreichen Untersuchungen wurde gezeigt, dass Patientinnen mit Essstörungen eine größere körperliche Unzufriedenheit aufweisen als gesunde Kontrollpersonen, wobei Patientinnen mit BN ihren Körper noch negativer zu bewerten scheinen als Frauen mit AN. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Bereiche »Figur« und »Gewicht« für Patientinnen mit AN und BN einen hohen Stellenwert im Hinblick auf das Selbstwertgefühl haben. Daher sollte in der Behandlung der Körperbildstörungen aktiv an den körperbezogenen Kognitionen der Patientinnen angesetzt werden. Hierbei empfiehfi lt es sich jedoch, jede Patientin selbst die Entscheidung treffen ff zu lassen, einen bestimmten Gedanken kritisch zu hinterfragen, um so einer Devalidierung vorzubeugen. Sowohl negative »automatische Gedanken«, welche in körperbildrelevanten Situationen aktiviert werden (z. B. »Alle gucken mich jetzt so an, weil ich einen dicken Po habe«), als auch »Grundannahmen« (z. B. »Mein Wert als Person hängt von meinem Gewicht ab«) werden anhand verschiedener Techniken identifi fiziert. Darauf basierend werden diese Kognitionen durch den »Sokratischen Dialog«, Rollenspiele, Protokollierungstechniken und Selbstinstruktionsübungen hinsichtlich ihrer Funktionalität und Realitätsangemessenheit einer kritischen Prüfung unterzogen und Schritt für Schritt verändert. Die Patientinnen werden dazu angeleitet, die erlernten Techniken systematisch in den Alltag zu integrieren, um die etablierten – zumeist negativ verzerrten bzw. dysfunktionalen – Denkmuster schrittweise durch realitätsangemessenere und funktionalere Kognitionen zu ersetzen.
36.3
Körperkonfrontation per Spiegel und Video
Körperkonfrontationsübungen stellen einen zentralen Baustein der Körperbildtherapie dar. Die Patientinnen setzen sich dabei unter therapeutischer Anleitung systematisch mit ihrem eigenen Körper auseinander.
221
36.3 Körperkonfrontation per Spiegel und Video
36.3.1
Ziele
Durch die Körperkonfrontationsübungen sollen verschiedene Ziele erreicht werden, welche in der nachstehenden . Übersicht aufgelistet sind und im Folgenden durch verschiedene Forschungsbefunde begründet werden. Zielsetzungen der Körperkonfrontation 1. Abbau negativer körperbezogener Emotionen 2. Überwindung des körperbezogenen Vermeidungsverhaltens 3. Korrektur der verzerrten mentalen Repräsentation des eigenen Körpers 4. Reduktion der defizitorientierten fi Betrachtungsweise des eigenen Körpers
Ein erstes Ziel der Körperkonfrontation stellt der Abbau negativer körperbezogener Emotionen dar. Die Basis hierfür liegt in den Ergebnissen mehrerer Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass Patientinnen mit Essstörungen bezüglich ihres eigenen Körpers ausgeprägte negative affektive ff Reaktionen zeigen. So erleben Frauen mit Essstörungen bei der Betrachtung des eigenen Körpers Emotionen wie beispielsweise Angst, Wut, Traurigkeit und Ekel in einem höheren Ausmaß als nichtessgestörte Personen. Im Rahmen der Körperkonfrontation werden diese negativen Emotionen aktiviert und bei einer ausreichend langen Konfrontation durch Habituationsprozesse reduziert. Um den oben beschriebenen negativen Emotionen aus dem Wege zu gehen, die bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper auftreft ten, zeigen viele Frauen mit Essstörungen ein ausgeprägtes körperbezogenes Vermeidungsverhalten (s. unten). Dieses manifestiert sich im Extremfall in einem konsequenten Meiden des eigenen körperlichen Anblicks (z. B. durch Abhängen von Spiegeln) oder dem Nichtberühren des eigenen Körpers. In der Überwindung dieses Vermeidungsverhaltens liegt daher ein zweites Ziel der Körperkonfrontationsübungen. Als drittes Ziel der Körperkonfrontation ist die Korrektur der verzerrten mentalen Repräsentation des eigenen Körpers zu nennen. Gemäß den
36
Ergebnissen einer Vielzahl von Untersuchungen überschätzen Frauen mit AN und BN ihre Körperdimensionen gleichermaßen. Diese Überschätzung ist nicht nur auf die eigenen Körperausmaße beschränkt, sondern bezieht sich auch auf die eigenen Bewegungsmuster. Die Überschätzung der eigenen Körperdimensionen scheint dabei nicht auf einem sensorischen Defi fizit der Patientinnen zu basieren, sondern ist als ein kognitives Phänomen zu verstehen, welches sich durch Informationsverarbeitungstheorien erklären lässt. Durch ein systematisches Feedback im Rahmen der Körperkonfrontationsübungen soll eine Korrektur der Überschätzung der eigenen Körperausmaße und Bewegungsmuster und somit die Etablierung einer realistischeren mentalen Repräsentation des eigenen Körpers erfolgen. fi BetrachDie Reduktion der defizitorientierten tungsweise des eigenen Körpers stellt das vierte Ziel der Körperkonfrontationsübungen dar. Studien, die mithilfe von Blickbewegungsmessungen durchgeführt wurden, deuten darauf hin, dass Frauen mit Essstörungen insbesondere auf die negativ evaluierten Bereiche ihres eigenen Körpers schauen und positiver bewerteten Aspekten weniger Aufmerksamkeit schenken. Eine Konsequenz dieser Befunde liegt darin, dass die Patientinnen durch die gezielte Konfrontation mit dem eigenen Körper darin unterstützt werden sollen, die positiver evaluierten Körperregionen vermehrt zu beachten, um so zu einer ausgewogeneren Betrachtungsweise des eigenen Körpers zu gelangen.
36.3.2
Vorgehen
Die vier genannten Zielsetzungen der Körperkonfrontation erfordern unterschiedliche Vorgehensweisen. Beispielsweise ist für eine Überwindung der negativen affektiven ff Reaktion auf den Anblick des eigenen Körpers sowie den Abbau des damit verbundenen körperbezogenen Vermeidungsverhaltens zunächst eine Aktivierung der negativen Emotionen notwendig. Im Rahmen der Körperkonfrontationsübungen wird dies durch eine Fokussierung auf die negativ bewerteten bzw. bisher vermiedenen Körperbereiche erreicht. Im Gegensatz dazu erfordert die Zielsetzung einer ausgewogenen Betrachtungsweise des eigenen Körpers eine vermehrte
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Kapitel 36 · Die Behandlung von Körperbildstörungen
Fokussierung auf (potenziell) positive, bisher von der Patientin weniger beachtete Körperbereiche. Aus diesem Grund empfiehlt fi es sich, diese beiden Varianten der Körperkonfrontation – die Fokussierung auf negative bzw. vermiedene und die Fokussuierung auf positive, jedoch bisher wenig beachtete Körperbereiche – nacheinander durchzuführen. Hierbei hat es sich bewährt, mit der Fokussierung auf negativ evaluierte bzw. vermiedene Körperbereiche zu beginnen. Vor der Durchführung der Übungen sollte die Therapeutin Th daher erfassen, welche Körperbereiche von der jeweiligen Patientin positiver und welche negativer bewertet werden. Bei beiden Varianten der Körperkonfrontationsübungen betrachten die Patientinnen systematisch ihren Körper in einem Ganzkörperspiegel, wobei sie idealerweise nur einen Bikini tragen. Um die Aufmerksamkeit der Patientin bei ihrem eigenen Körper zu halten und (auch verdecktes) Vermeidungsverhalten im Rahmen der Konfrontationsübungen zu verhindern, stellt die Therapeutin gezielte Fragen (z. B. »Können Sie mir die Form Ihres Bauches beschreiben?«). Diese Übungen können ergänzt werden durch die Instruktion, bestimmte Körperbereiche nicht nur zu betrachten, sondern auch zu betasten. Neben der Spiegelkonfrontation werden Expositionsübungen per Video eingesetzt, welche es den Patientinnen ermöglichen, sich nicht nur mit ihren Körperformen, sondern auch ihren eigenen Bewegungsmustern zu konfrontieren. Im Gruppensetting kann es hilfreich sein, die Patientinnen zu ermutigen, sich Feedback bei anderen Gruppenmitgliedern hinsichtlich ihrer eigenen körperlichen Erscheinung und bezüglich der Wahrnehmung ihrer eigenen Figur einzuholen. Es ist wichtig, dass die Körperkonfrontationssitzungen ausreichend lange erfolgen, d. h. nicht beendet werden, bevor ein deutlicher Rückgang der negativen Emotionen zu verzeichnen ist. Des Weiteren sollten die Übungen regelmäßig wiederholt werden, um Habituationsprozesse zu ermöglichen. Dementsprechend empfiehlt fi es sich, dass die Körperkonfrontationsübungen von den Patientinnen selbstständig im Rahmen von Hausaufgaben fortgeführt werden.
36.4
Expositionsübungen zur Reduktion des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens
Die Übertragung der Konfrontationsübungen auf das Alltagsleben soll im Rahmen der Interventionen zur Überwindung des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens erfolgen. Dieser Bereich der behavioralen Manifestation eines gestörten Körperbildes hat sowohl im Forschungsals auch im Therapiekontext erst in der jüngeren Vergangenheit Aufmerksamkeit erhalten. Verschiedene Untersuchungen belegen, dass Frauen mit AN und BN ein höheres Maß an körperbezogenem Vermeidungs- und Kontrollverhalten aufweisen als gesunde Kontrollpersonen. Dabei korreliert das Ausmaß dieser Verhaltensweisen positiv mit der Ausprägung von Figur- und Gewichtssorgen. Das körperbezogene Vermeidungsverhalten äußert sich in der Meidung von Situationen und Orten, in denen die Aufmerksamkeit der Patientin selbst oder die anderer Personen auf den Körper der Patientin gelenkt wird. Das körperbezogene Kontrollverhalten beinhaltet Strategien wie das Sich-Wiegen nach jeder Mahlzeit oder das Abmessen bestimmter Körperbereiche mit dem Maßband. Auch wenn sich beide Verhaltensweisen phänomenologisch unterscheiden, ähneln sie sich hinsichtlich ihrer Funktionalität. So dienen beide Strategien der kurzfristigen Vermeidung oder Reduktion von negativen körperbezogenen Emotionen. Da erste experimentelle Untersuchungen darauf hindeuten, dass diese Verhaltensweisen langfristig die Aufrechterhaltung einer Körperbildstörung begünstigen, stellt deren Abbau ein weiteres Ziel der Körperbildtherapie dar. Konkret werden Expositionsübungen in den aufgelisteten Kontexten durchgeführt (. Übersicht: Übungsbereiche).
36.6 Befunde zur Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen . . .
Übungsbereiche zum Abbau des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens 1. Tätigkeiten (z. B. sich einer Untersuchung unterziehen) 2. Orte (z. B. ins Schwimmbad gehen) 3. Soziale Aktivitäten (z. B. sich mit schlankeren Menschen umgeben) 4. Kleidung (z. B. eine enge Hose tragen) 5. Körperpflege fl (z. B. sich eincremen) 6. Körperpositionen (z. B. sich hinsetzen, ohne die Beine übereinander zu schlagen) 7. Figur- und Gewichtskontrolle (z. B. auf das Wiegen nach jeder Mahlzeit verzichten) 8. Rückversicherung (z. B. sich keine Rückmeldung hinsichtlich der eigenen Figur einholen) 9. Soziale Vergleiche (z. B. sich nicht mit Models vergleichen)
Zunächst ist es notwendig, diejenigen Situationen und Orte, in denen sich das körperbezogene Kontrollverhalten einer Person zeigt, zu identifizieren. fi Darauf basierend sollten die dem Vermeidungsund Kontrollverhalten zugrunde liegenden Kognitionen herausgestellt und hinsichtlich ihrer Realitätsangemessenheit disputiert werden. Im nächsten Schritt werden konkrete Übungsbereiche herausgearbeitet und die Expositionsübungen detaillierter geplant. Um einen Abbruch der Übungen zu verhindern, werden möglicherweise im Rahmen der Expositionsübung auftretende ft Probleme antizipierend thematisiert. Es kann sinnvoll sein, dass die Therapeutin die Patientin bei den ersten ExpositiTh onsübungen begleitet; später soll die Patientin diese Übungen jedoch selbstständig fortführen.
36.5
Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten
Auch für die Beobachtung, dass Patientinnen mit AN und BN im Alltagsleben weniger positive körperbezogene Tätigkeiten ausführen als nichtessgestörte Kontrollpersonen, existieren mittlerweile erste Forschungsbelege. Aus diesem Grunde sol-
223
36
len – fußend auf den Übungen zum Abbau des körperbezogenen Vermeidungsverhaltens – Interventionen zum Aufb fbau positiver körperbezogener Aktivitäten durchgeführt werden. Die Patientinnen sollen hierdurch lernen, den eigenen Körper als eine Möglichkeit kennenzulernen, positive Erfahrungen zu machen, und ihn nicht primär als Belastung wahrzunehmen. Entsprechende Übungen können den drei in der folgenden . Übersicht aufgelisteten Inhaltsbereichen zugeordet werden. Bereiche zum Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten 1. Gesundheit/Fitness (z. B. Tanzen) 2. Sinnliche Erfahrungen (z. B. an einem Parfum riechen) 3. Körperpfl flege/Aussehen (z. B. ein Ölbad nehmen)
Bei vielen Patientinnen mit AN und BN sind allerdings exzessive körperliche Betätigungen zu beobachten, welche zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen können. Daher ist bei der Planung der verstärkenden Tätigkeiten darauf zu achten, dass sportliche Aktivitäten nur in für die Behandlungsziele funktionaler (moderater) Form etabliert werden und seitens der Patientinnen nicht aus der Motivation der Kalorienverbrennung heraus durchgeführt werden dürfen.
36.6
Befunde zur Wirksamkeit kognitivverhaltenstherapeutischer Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes
Verschiedene Studien konnten die Wirksamkeit umfassender kognitiv-behavioraler Interventionen zum Körperbild an Patientinnen mit AN und BN nachweisen. In der Evaluationsstudie des oben dargestellten Körperbildtherapieprogramms zeigten sich die deutlichsten Th Therapieeff ffekte hinsichtlich einer Reduktion der körperlichen Unzufriedenheit sowie von Figur- und Gewichtssorgen, gefolgt von Verbesserungen des körperbezogenen Ver-
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Kapitel 36 · Die Behandlung von Körperbildstörungen
meidungs- und Kontrollverhaltens. Während sich die Einschätzung der eigenen Körperdimensionen nicht signifikant fi in Richtung einer realistischeren mentalen Repräsentation veränderte, wurde die von den Patientinnen angestrebte »Idealfigur« fi als nicht mehr ganz so schlank angegeben wie noch zu Beginn der Therapie. Auch zeigten sich Verbesserungen hinsichtlich der Anzahl der Essanfälle und dem Ausmaß des Schlankheitsstrebens sowie essstörungsübergreifender Maße wie Depressivität und Selbstwertgefühl. Erste Hinweise, dass sich diese Interventionseff ffekte auch in einem ökologisch valideren Kontext zeigen, erbrachte eine weitere Untersuchung. So fiel die emotionale und kognitive Reaktion auf die Betrachtung des eigenen Körpers im Spiegel nach der Körperbildtherapie geringer aus als vor der Behandlung. Eine weitere Untersuchung verglich zwei Varianten der Körperbildtherapie und konnte zeigen, dass die Variante, in der eine Spiegelkonfrontation stattfand, einer Variante ohne diese Intervention überlegen war. Einige Studien belegen darüber hinaus, dass Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes auch in der Behandlung von Binge-Eating-Störung und Adipositas wirksam sein können. Da körperliche Unzufriedenheit nicht nur im Rahmen von Essstörungen, sondern auch in nicht- bzw. subklinischen Populationen auftritt, ft wurden weitere Evaluationsstudien an diesen Gruppen durchgeführt, woraus sich ebenfalls Hinweise auf die Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes ergaben. Neben diesen Untersuchungen, die sich auf umfassendere Programme zur Körperbildbehandlung beziehen, wurden mehrere Untersuchungen durchgeführt, in denen nur eine Behandlungskomponente – zumeist die Körperkonfrontation – hinsichtlich ihrer Wirksamkeit geprüft ft wurde. Frühe Forschungsarbeiten zu dieser Th Thematik haben sich auf Veränderungen der perzeptiven Komponente eines negativen Körperbildes konzentriert. Hierbei konnte in einigen Untersuchungen eine realistischere Einschätzung der eigenen Körperausmaße durch Körperbildtherapie nachgewiesen werden, während in anderen Studien keine diesbezüglichen Effekte ff beschrieben wurden. An einer gemischten essgestörten Stichprobe konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass im Rahmen einer einzelnen Körperkonfrontationsübung ein Rückgang
an negativen körperbezogenen Emotionen und in geringerem Ausmaß auch eine Reduktion negativer Kognitionen herbeigeführt werden kann. Eine weitere Datenanalyse ergab, dass im Ausmaß dieser Reduktion interindividuelle Unterschiede existieren. So kann ein ausgeprägtes habituelles körperbezogenes Kontrollverhalten eine geringere Reduktion negativer Emotionen im Verlauf der Körperkonfrontationssitzung vorhersagen. Eine weitere Untersuchung zu den Effekten ff einer Körperkonfrontationssitzung, die an Frauen mit Binge-EatingStörung durchgeführt wurde, ergab, dass das Ausmaß an negativen Emotionen und Kognitionen bei einer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführten Körperkonfrontation am zweiten Tag schwächer ausfiel. fi In einer weiteren Studie, in der ebenfalls Frauen mit Binge-Eating-Störung untersucht wurden, erfolgte ein Vergleich zwischen Körperkonfrontationsübungen und kognitiven Techniken zur Verbesserung des Körperbildes. Hierbei erwiesen sich beide Interventionen als gleichermaßen erfolgreich. Fazit Die dargestellten Untersuchungen deuten auf die Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen zum Körperbild in unterschiedlichen Stichproben hin. Dennoch sind bisher viele Aspekte nur unzureichend beforscht worden, wie beispielsweise die Frage nach den Wirkmechanismen der einzelnen therapeutischen Module. Ebenso ist unklar, durch welche Faktoren die interindividuellen Unterschiede hinsichtlich des Ansprechens auf die Körperbildtherapie zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich daher die Identifi fikation von Prädiktoren für Erfolg und Misserfolg der Körperbildtherapie, um die Voraussetzung zur Adaptation des therapeutischen Vorgehens an die Erfordernisse verschiedener Patientengruppen zu schaff ffen.
36.6 Befunde zur Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen . . .
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225
36
37 21
Selbsthilfe bei Essstörungen
22
Cornelia Th Thiels und Martina de Zwaan
23
37.1
Wozu Selbsthilfe?
24
37.2
Was ist Selbsthilfe?
37.3
Anleitung zur Selbsthilfe
37.4
Für wen eignet sich Selbsthilfe?
25 26
37.5
Anorexia nervosa
27
37.6
Bulimia nervosa
28
37.6.3 Reicht angeleitete Selbsthilfe aus? – 228 37.6.4 Selbsthilfe für Adoleszente – 228
– 226 – 226 – 227 – 227
– 227 – 227
37.6.1 Reine Selbsthilfe – 227 37.6.2 Angeleitete Selbsthilfe mit einem im deutschsprachigen Raum erprobten Selbsthilfemanual – 227
37.7
Binge-Eating-Störung – 228
37.8
Der Einsatz moderner Medien – 229
37.8.1 37.8.2 37.8.3 37.8.4 37.8.5 37.8.6
E-Mail und Telemedizin – 229 Videos – 229 CD-ROM – 229 Multimedia auf CD – 230 Websites – 230 Virtuelle Realität (VR) – 231
29 30 37.1
31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Wozu Selbsthilfe?
In der Therapieforschung wird, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, in den letzten Jahren ein stufenweises Vorgehen in der Behandlung psychischer Störungen propagiert. Die erste Stufe stellen »niederschwellige« Therapieansätze Th dar. In der Literatur werden hierfür Begriffe ff verwendet wie Selbsthilfe (SH), Selbstbehandlung, Selbstveränderung oder Bibliotherapie. Es wurden Selbsthilfemanuale entwickelt, die den Richtlinien der kognitiv-verhal tenstherapeutischen(KVT-)Ansätze folgen und mit minimaler therapeutischer Begleitung (angeleitet, ASH) oder ohne (rein, RSH) von den Betroffenen ff selbstständig durchgeführt werden können. Die Zahl der Essgestörten übertrifft fft bei Weitem die Zahl freier Therapieplätze. SH kann eingesetzt werden, um das Warten auf eine spezialisierte Behandlung zu verkürzen. Die Mehrheit der Betroff ffenen mit Bulimia nervosa (BN) und BingeEating-Störung (BES) nimmt keine professionelle Hilfe in Anspruch, könnten aber durch SH-Angebote erreicht werden. Ein weiterer Vorteil von SH ist ihre Verfügbarkeit zu jeder Zeit und an (fast) jedem Ort, je nach SH-Materialien. Patientinnen, die nicht (gut) Deutsch sprechen, können SH-Mate-
rialien in anderen Sprachen benutzen. Zuletzt gilt es zu überprüfen, ob SH eventuell geeignet ist, spezifische fi und teure psychotherapeutische Behandlungen zu ersetzen. ! Es gibt reine (RSH) und angeleitete Selbsthilfe (ASH). Die RSH ist unabhängig von zusätzlichen Terminen mit professionellen oder Laienhelfern, wie sie bei ASH angeboten werden.
37.2
Was ist Selbsthilfe?
Im Folgenden soll nicht von SH-Gruppen und Internet-Portalen die Rede sein, die nur Informationen über Essstörungen und die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch für Essgestörte anbieten, sondern von SH-Behandlungen aufgrund eines klaren Modells. Angeboten wird es in Form von Büchern, Videos, CD-ROMs oder via Internet. Das Lehren spezifi fischer Fertigkeiten zum Lösen und zum Umgang mit Gesundheitsproblemen zielt auf Besserung. Teilnehmerinnen an SH-Behandlungen befolgen die Ratschläge im SH-Material, führen Übungen durch und bewerten den Erfolg ihrer Bemühungen.
227
37.6 Bulimia nervosa
37.3
Anleitung zur Selbsthilfe
Die Anleitung zur SH kann umfassen: Erläuterungen zum SH-Material, Beantworten von Fragen, Motivationsförderung und Anpassung des SHProgramms an individuelle Bedürfnisse. Weiterhin besteht die Möglichkeit zu anfänglicher Diagnostik, fortlaufender Risikobeurteilung und bei Bedarf zur Vermittlung anderer, meist intensiverer Behandlung. Nicht nur die persönliche Begleitung der SH hat sich bewährt, sondern auch diejenige per Telefon und via E-Mail. Arbeitsblätter können bei der Anleitung hilfreich sein.
37.4
Für wen eignet sich Selbsthilfe?
Je motivierter die Patientin, je leichter die Essstörung, je weniger Komorbidität (einschließlich Persönlichkeitsstörungen) und je stützender das soziale Umfeld, desto weniger therapeutische Zuwendung wird vermutlich erforderlich sein. Aber auch multiimpulsive bulimische Patientinnen besserten sich in einer Studie mit ASH deutlich, sie schnitten allerdings gegenüber nichtmultiimpulsiven und weniger depressiven Kontrollprobandinnen schlechter ab. In einer anderen Untersuchung hatte der unterschiedliche Schweregrad der Depressivität weder Einfluss fl auf den Erfolg von RSH noch von ASH. Die Indikation für eine SH ist zu prüfen, insbesondere verbunden mit den Fragen, ob Erfahrungen mit früheren SH-Behandlungen vorliegen und wie erfolgreich frühere SH-Behandlungen verlaufen sind. Wichtig ist die Erörterung einer Perspektive für den Krisenfall, verbunden mit der Frage, an wen sich die Patientin wenden kann, wenn sie sie mit SH nicht weiter kommt oder Fragen auftreten. Bisher ist nicht bekannt, ob RSH als erster Th Therapieschritt auch nachteilige Folgen haben kann, etwa durch Entmutigung bei ausbleibender Besserung. Wenn allerdings die Indikation für eine SH als Unterstützung während einer ohnehin unvermeidbaren Wartezeit auf ASH oder eine herkömmliche Psychotherapie gestellt wird, ist diese Gefahr vermutlich geringer, als wenn SH als alleinige Behandlung angeboten wird.
37
Die Chance, dass Patientinnen mit BN oder BES an einer ASH teilnehmen, sinkt einer australischen Untersuchung zufolge mit zunehmender Wartezeit. In einer schwedischen Untersuchung konnte die Abbrecherrate nach Reduktion der Wartezeit deutlich reduziert werden.
37.5
Anorexia nervosa
SH für Magersüchtige ist kaum untersucht. In einer deutschen Studie wurde ein SH-Manual kombiniert mit einer wöchentlichen telefonischen Anleitung über einen Zeitraum von 6 Wochen während der Wartezeit auf einen stationären Therapieplatz von vielen Patientinnen mit bulimischer Anorexia nervosa (AN) gut akzeptiert. Die Dauer des sich daran anschließenden Klinikaufenthalts konnte gegenüber Kontrollprobandinnen ohne SH-Manual deutlich verkürzt werden.
37.6
Bulimia nervosa
37.6.1
Reine Selbsthilfe
Es konnte keine Überlegenheit der RSH gegenüber einer Kontrollgruppe (Warteliste einer Spezialeinrichtung für Essstörungen) nachgewiesen werden. Laut einer englischen Studie erfüllten aber immerhin 22 der Patientinnen, denen während des 8wöchigen Wartens auf ihre Behandlung ein SHMaterialbuch überlassen wurde, danach nicht mehr die ICD-10-Kriterien für eine BN.
37.6.2
Angeleitete Selbsthilfe mit einem im deutschsprachigen Raum erprobten Selbsthilfemanual
Die in den vorliegenden Untersuchungen durch ASH erzielten Abstinenzraten bei BN unterscheiden sich tatsächlich nicht wesentlich von den Ergebnissen anderer Th Therapiestudien und unterstützen den Einsatz von SH-Manualen als ersten therapeutischen Schritt. Im Vergleich zur konventionellen Einzel- und Gruppentherapie trat die Besserung langsamer ein, teilweise sogar erst während des
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Kapitel 37 · Selbsthilfe bei Essstörungen
Nachuntersuchungszeitraums. In der Th Therapie der BN empfehlen internationale Leitlinien als mögliche initiale Th Therapie den Einsatz von SH-Manualen. Die Eff ffektivität von SH-Manualen gilt nicht für jedes Buch, jeden Ratgeber etc. Es sind bisher nur wenige Manuale empirisch überprüft ft worden, und zwei Manuale (Schmidt u. Treasure 2000, Fairburn 2004) liegen auch in deutscher Version vor. ! Bei Erwachsenen mit BN ist ASH mit einem KVT-Ansatz dem Warten auf einen Therapieplatz meist überlegen und kann sogar ebenso wirksam sein wie KVT oder interpersonelle Psychotherapie im Rahmen einer konventionellen Psychotherapie.
Die Unterstützung bei ASH kann eventuell auch von Nichtfachleuten in nicht auf die Th Therapie von Essstörungen spezialisierten Settings durchgeführt werden. Erste diesbezügliche Studien bei Patientinnen mit BN ergaben widersprüchliche Ergebnisse, und es bleibt unklar, ob Selbsthilfeansätze z. B. auch beim Hausarzt effi ffizient eingesetzt werden können. In den USA brach die Mehrzahl der Patientinnen die Behandlung ab, während in Australien ermutigende Ergebnisse erzielt wurden und in Großbritannien die Ergebnisse mit ambulanter Behandlung bei Spezialisten vergleichbar waren. Das mag u. a. daran gelegen haben, dass die ASH in der amerikanischen Studie mit einem Antidepressivum bzw. Plazebo kombiniert wurde. Ein Nachteil von Pharmakotherapie während einer Behandlung, die erhebliche Mitarbeit der Patientin verlangt, könnte sein, dass der Erfolg vorwiegend der Medikation zugeschrieben wird. Das dürfte ft der Bereitschaft ft zu eigenen Anstrengungen abträglich sein. Außerdem waren die australischen Allgemeinärzte besser ausgebildet und nahmen sich mehr Zeit für die Anleitung. Auch kulturelle Unterschiede könnten eine Rolle gespielt haben. ! Qualitativ und quantitativ ausreichende Anleitung, d. h. durch sehr gut ausgebildete (und supervidierte) Mitarbeiter im Gesundheitswesen, scheint die Erfolgsaussichten zu verbessern.
37.6.3
Reicht angeleitete Selbsthilfe aus?
Unklar ist, wie häufig fi und wieviel Einzel- bzw. Gruppenpsychotherapie zusätzlich zu ASH benötigt wird und ob der protrahierte Erfolg der ASHPatientinnen im Vergleich zu Patientinnen mit konventioneller Psychotherapie auf Behandlungen im Anschluss an die ASH zurückzuführen ist. In einer deutschen Untersuchung unterschieden sich ASH und KVT 6 Monate nach Beendigung der Intervention nicht hinsichtlich der Inanspruchnahme einer Anschlussbehandlung. Ebenso wenig zeigte sich ein Unterschied im Hinblick auf die Essstörungssymptomatik mehr als 3 Jahre später. ! Auch wenn nicht sicher ist, ob ASH als Behandlung ausreicht, so eignet sie sich zumindest als erstes Behandlungsangebot, das bei Bedarf ergänzt werden kann. Die BN häufig fi begleitende Depressivität nimmt unter ASH meist ab.
37.6.4
Selbsthilfe für Adoleszente
ASH für adoleszente essgestörte Patientinnen ist bisher nur in einer Studie untersucht worden. Das SH-Manual von Schmidt und Treasure (2000) bewährte sich auch für 13- bis 20-jährige Mädchen und junge Frauen in Kombination mit monatlichen Psychotherapiesitzungen. Im Vergleich zur Familientherapie führte ASH zur rascheren Besserung der Symptomatik und zu geringeren Behandlungskosten. Auch fand ASH eine größere Akzeptanz bei den adoleszenten Patientinnen mit BN oder einer nicht näher bezeichneten Essstörung.
37.7
Binge-Eating-Störung
Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) zeigen, dass SH auf der Basis der KVT bei Patientinnen mit BES einer Kontroll(Warte-)gruppe sowie verhaltentherapeutisch orientierten Gewichtsreduktionsmaßnahmen im ASH-Format überlegen ist. Ähnliche Wirksamkeiten wie bei der BN werden beschrieben. Allerdings ist die mittel- bis langfristige Wirkung auf den Gewichtsverlauf als eher gering einzuschätzen.
229
37.8 Der Einsatz moderner Medien
Fazit Eine evidenzbasierte Psychotherapie mit und ohne störungsspezifischen fi Ansatz steht nur selten zur Verfügung. Die derzeitige Studienlage deutet auf eine Überlegenheit der SH gegenüber Kontrollbedingungen (Wartegruppen) im Hinblick auf Essstörungs- und andere psychische Symptome hin. RSH und ASH können bei BN und BES als erstes Therapieangebot sinnvoll sein. Falls erforderlich, kann sich eine intensivere konventionelle Psychotherapie anschließen.
37.8
Der Einsatz moderner Medien
Bei Störungen, die vorwiegend vor dem 20. Lebensjahr beginnen, wie AN und BN, und in einer Epoche, in der Bücher immer mehr durch elektronische Medien verdrängt werden, bietet sich deren Einsatz auch zu therapeutischen Zwecken an. Moderne Medien werden zunehmend im Rahmen von SHAnsätzen eingesetzt. Neue Technologien wie Internet, SMS oder Computerprogramme einschließlich virtueller Realität (VR) haben zudem den Vorteil, dass sie interaktiv gestaltet werden können. Es besteht die Hoffnung, ff dass diese niedrigschwelligen Angebote die Zielgruppe der essgestörten Patientinnen erreichen, um u. a. eine Chronifizierung fi zu verhindern. ! Die zurzeit vorliegenden Forschungsergebnisse zum Einsatz moderner Medien reichen weder in Qualität noch Quantität aus, um eindeutige Empfehlungen für die Praxis zu geben.
37.8.1
E-Mail und Telemedizin
Bei Patientinnen mit BN kann eine E-Mail-basierte Behandlung ein sinnvolles niedrigschwelliges erstes Therapieangebot darstellen. Gleiches gilt für die Th Fernsehübertragung von KVT-Modulen (Telemedizin), insbesondere bei essgestörten Patientinnen, die z. B. wegen großer geographischer Entfernung
37
keine konventionelle Psychotherapie in Anspruch nehmen können. Eine manualisierte Selbsthilfe mit intensiver EMail-gestützter Anleitung hat sich bei Patientinnen mit BN, BES und nicht näher bezeichneten Essstörungen bewährt. Klinische Behandlungserfahrungen auf der Basis von E-Mails als Ergänzung zur ambulanten Behandlung essgestörter Patientinnen sind ebenfalls ermutigend.
37.8.2
Videos
In den USA erwiesen sich 14 über 8 Wochen verteilte Vorführungen von 30-minütiger Psychoedukation mithilfe eines Videos bei Patientinnen mit BES als ebenso wirksam wie die Pychoedukation durch einen Therapeuten. Allerdings hatte etwa die Hälfte ft der Patientinnen weiterhin Symptome, insbesondere subjektive Essanfälle. Wie auch bei herkömmlicher KVT war die kurzfristige Gewichtsreduktion nicht bedeutsam. ! Per Video wiedergegebene Psychoedukation kann ebenso wirksam sein wie Psychoedukation durch einen Therapeuten.
37.8.3
CD-ROM
Das erste evaluierte SH-Programm auf CD-ROM (www.empower-plan.com) für BES basiert auf den Prinzipien von KVT. Es wurde in einer Pilotstudie mit 10 wöchentlich stattfindenden fi 90-minütigen Gruppen-KVT-Sitzungen und mit Warten auf einen Therapieplatz verglichen. Den drei Vergleichgruppen wurden je 22 Patientinnen mit BES oder unterschwelliger BES mit mindestens zwei objektiven Essanfällen pro Monat randomisiert zugeteilt. Alle hatten einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 28 kg/m2. 68 der CD-ROM-Nutzerinnen und 59 der Gruppen-KVT-Teilnehmerinnen schlossen die 10-wöchige Behandlung ab. Mehr als zwei Drittel der CD-ROM-Nutzerinnen gaben an, danach die CD-ROM weiterhin mindestens 1oder 2-mal pro Woche benutzt zu haben. Anekdotische Berichte von Teilnehmerinnen der CDROM-Modalität legen nahe, dass viele mehr Unter-
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Kapitel 37 · Selbsthilfe bei Essstörungen
stützung und Interaktion wünschen als den einen kurzen Telefonkontakt zur Lösung technischer Probleme. In den beiden Behandlungsgruppen ging die Zahl der Tage mit Essanfällen stärker zurück als in der Wartelistengruppe. Die essstörungsspezifische fi Psychopathologie konnte in der KVT-Gruppe allerdings stärker reduziert werden als in der CD-ROMGruppe. Interessanterweise wählten 75 der Wartelistengruppe das CD-ROM-Programm und nur 25 die Gruppen-KVT.
37.8.4
Multimedia auf CD
60 konsekutiven Patientinnen mit BN oder nicht näher bezeichneten Essstörungen einer Londoner Spezialambulanz wurden CDs mit Multimedia zur SH angeboten. 47 begannen mit dem Programm, nur durch eine 20-minütige Einführung persönlich unterstützt; 2 mussten die Studie verlassen; 19 der übrigen 45 (42) nahmen an allen 8 interaktiven Sitzungen am Computer in der Klinik teil. Die 39 Patientinnen (87), die an der Nachuntersuchung etwa 8 Wochen nach dem Ende des Programms und vor einer therapeutengeleiteten Behandlung teilnahmen, berichteten über eine signifikante fi Abnahme der durchschnittlichen Häufigkeit von Essanfällen, von selbstherbeigeführtem Erbrechen sowie Abführmittelgebrauch. Weiteren 50 zu derselben Institution konsekutiv überwiesenen Patientinnen wurde dasselbe SH-Material in Kombination mit drei 20-minütigen Sitzungen mit Therapeuten angeboten. Dieser geringe zusätzliche Th Aufwand verbesserte weder die Annahme noch die Abbrecherquote oder das Ergebnis der Behandlung. Zu überprüfen wäre, ob sich MultimediaAngebote auf CD als erstes Th Therapieangebot z. B. in Allgemeinpraxen oder Beratungsstellen für Studierende eignen.
38
37.8.5
39
! Eine auch auf Deutsch verfügbare Website für bulimische Patientinnen lässt sich zumindest bis zum Freiwerden eines Therapieplatzes oder der Bereitschaft zu intensiverer Therapie empfehlen.
40
Websites
Eine auf den Prinzipien von KVT aufbauende fb Anleitung zur SH steht in 7 europäischen Sprachen im Internet zur Verfügung (http://www2.salut-ed.org/ demo). Sie wurde in Deutschland, in der Schweiz, in Spanien und in Schweden an 141 Studienteilnehmerinnen mit BN und nicht näher bezeichneten Essstörungen getestet. Sie nutzten die SHAnleitung 4 Monate lang, mit einem Nachuntersuchungszeitraum von 2 Monaten. Aus den täglich vorgesehenen Online-Eintragungen der Anzahl von Mahlzeiten, Essanfällen und Kompensationsmaßnahmen erstellt das Programm automatisch Graphiken. Die Patientinnen und ihre Therapeuten konnten damit den Verlauf beobachten. Der Kontakt mit einem Therapeuten bestand in drei persönlichen Gesprächen zu Therapiebeginn, am Therapieende und 2 Monate danach sowie einem EMail-Kontakt pro Woche. Während des Nachuntersuchungszeitraums bestand das Angebot, auf Wunsch weiter per E-Mail angeleitet zu werden. Die Pilotstudie begann in der Schweiz mit 45 Patientinnen, von denen 29 (64) an der Diagnostik nach Therapieende Th und 23 (51) an der Einschätzung 2 Monate nach Th Therapieende teilnahmen. Die Wahrscheinlichkeit eines Therapieabbruchs war größer bei stärker ausgeprägter Essstörungsymptomatik. Nach 4 Monaten wurden 17,2 der Patientinnen als abstinent eingeschätzt. Die Ergebnisse aller europäischen Studienzentren zeigten auch signifi fikante Verbesserungen in der essstörungsspezifischen fi Psychopathologie. In Deutschland wurde das Programm an 22 erwachsenen Frauen, die die DSM IV-Kriterien für BN erfüllten, getestet. Nur eine Frau brach die Intervention ab. 57 fanden die Behandlung und 95 den E-Mail-Kontakt nützlich oder sehr nützlich. 43 fanden, dass das SH-Programm sehr einfach zu benutzen sei. Zu Th Therapieende erfüllten 38,1, zur Katamnesezeitpunkt nach 2 Monaten 58,5 die diagnostischen Kriterien für BN. Die Abstinenz von Erbrechen stieg von 0 in den 3 Monaten vor der Intervention auf knapp 30 in den 6 Wochen vor Therapieende und lag bei 20 in den 6 Wochen vor der Katamneseuntersuchung. Für Essanfälle betrugen die entsprechenden Werte 0, 10 und < 5. Auch die Depressionswerte zeigten eine deutliche Reduktion.
37.8 Der Einsatz moderner Medien
37.8.6
Virtuelle Realität (VR)
In einem kleinen RCT zeigte sich, dass KVT für BES durch 10 therapeutengeleitete 50-minütige, zweiwöchentlich stattfindende fi VR-Sitzungen möglicherweise zu verbessern ist. In der 6-MonatsNachuntersuchung waren noch 77 der VR-Gruppe abstinent von Essanfällen vs. 56 der reinen KVT-Gruppe.
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Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa
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Andreas Thiel und Thomas Paul
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38.1
Die Möglichkeit der Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht – 232
38.3
Zwangsmaßnahmen behutsam einsetzen und dosieren – 233
38.2
Psychotherapie unter Zwang
38.4
Behandlung mit Respekt
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Die Anorexia nervosa (AN) ist eine ernst zu nehmende und häufig fi chronisch verlaufende psychische Erkrankung, die die Lebensqualität der Betroff ffenen erheblich beeinträchtigt. Zur Kernsymptomatik dieser Erkrankung zählt, neben anderen Symptomen, die Angst vor einer Gewichtszunahme. Bei starker Ausprägung kann diese Angst die freie Willensbildung der Patientinnen beeinträchtigen. Ein möglicher Entschluss zur Ablehnung der Behandlung oder zur Verweigerung einer dringend notwendigen Gewichtszunahme ist daher nicht zwangsläufig fi Ergebnis einer freien Willensbildung, sondern u. U. ein Symptom der Essstörung und somit Ausdruck der psychischen Erkrankung. Neben der psychopathologischen Symptomatik prägen somatische Beschwerden das klinische Bild. In Abhängigkeit vom Untergewicht kann der reduzierte Allgemeinzustand in Kombination mit Pneumonien, Elektrolytentgleisungen, Herzrhythmusstörungen, gastrointestinalen Blutungen und hepatischen oder renalen Funktionsstörungen zu schwerwiegenden, u. U. auch letalen Komplikationen führen. Die Mortalität und auch das Suizidrisiko der anorektischen Patientinnen sind im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht. Th Die Freiwilligkeit als Voraussetzung einer Therapie ist im Grundgesetz über die beiden Grundrechte des Menschen auf Freiheit und auf körperliche Unversehrtheit verankert. Außerdem ist sie ethisch geboten und therapeutisch sinnvoll. Wenn sich jedoch aus der ablehnenden Haltung einer anorektischen Patientin eine direkte und unmittelbare Gefahr für deren Leben ergibt, stellt sich die Frage nach einer möglichen Zwangsbehandlung, um so ‒ trotz fehlender Krankheitseinsicht oder Th Therapiemotivation ‒ eine Gewichtszunahme zu erzwin-
gen; denn Therapeuten Th sind nicht nur für ihr Handeln, sondern auch für ihr Unterlassen ethisch verantwortlich. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen der Patientinnen kann bei starkem Untergewicht und einem schlechten medizinischen Allgemeinzustand medizinisch und ethisch notwendig sein, wenn die Patientinnen krankheitsbedingt nicht ausreichend für sich sorgen können. Für diese Situationen kennt das deutsche Recht Ausnahmeregelungen, die eine zwangsweise Unterbringung und Behandlung von Patienten auch gegen deren Willen und die damit einhergehenden Eingriffe ff in die Grundrechte legitimieren. ! Die aktuellen Leitlinien der American Psychiatric Association und des National Institute for Clinical Excellence erwähnen ausdrücklich die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung unter besonderen, lebensbedrohlichen Umständen.
38.1
Die Möglichkeit der Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht
Wenn ein Erwachsener wegen einer psychischen Krankheit oder wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann, besteht die Möglichkeit, einen juristischen Betreuer für ihn einzusetzen. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen werden auch als Betreuungsrecht bezeichnet und sind Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Die Bestellung eines Betreuers erfolgt auf Antrag des Betroffenen ff oder von Amts wegen. Der
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38.3 Zwangsmaßnahmen behutsam einsetzen und dosieren
Betreuer wird nur für die in jedem Einzelfall genau festgelegten Aufgabenkreise bestellt. Ein juristischer Betreuer mit entsprechendem Aufgabenbereich kann beim Vormundschaft ftsgericht die Unterbringung des Betreuten nach § 1906 BGB beantragen, wenn wegen einer psychischen Krankheit eine Selbstgefährdung besteht oder wenn eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erforderlich ist. Mit einer entsprechenden richterlichen Genehmigung kann der juristische Betreuer dann stellvertretend für den betreuten Patienten in eine ärztliche Maßnahme einwilligen, sofern der Patient selbst krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähig ist. Die Einsetzung eines juristischen Betreuers bzw. der Antrag auf Genehmigung einer Unterbringung und Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht sollten rechtzeitig und in Ruhe überlegt, mit Patienten und Angehörigen besprochen und vorbereitet werden. Die juristische Betreuung sollte für einen Zeitraum von mindestens 3‒6 Monaten eingerichtet werden, da vorher mit einer wesentlichen und stabilen Besserung kaum gerechnet werden kann. In vielen Fällen wird die Aufrechterhaltung der Betreuung über einen längeren Zeitraum und auch über das Ende der Zwangsbehandlung hinaus sinnvoll sein. Zwangsbehandlungen nach dem Betreuungsrecht sind übrigens keineswegs nur in psychiatrischen Kliniken möglich, sondern könnten auch in anderen Kliniken und Einrichtungen durchgeführt werden, sofern diese Institutionen bereit sind, entsprechende Verantwortung zu übernehmen. ! In Deutschland kann eine Zwangsbehandlung unter stationären Bedingungen auf Antrag des juristischen Betreuers nach dem Betreuungsrecht (§ 1906 BGB) genehmigt werden. Über das praktische Vorgehen informieren das zuständige Vormundschaftsgericht am Amtsgericht sowie das Gesundheitsamt und der sozialpsychiatrische Dienst.
38.2
38
Psychotherapie unter Zwang
Die Zwangsbehandlung ersetzt nicht die Psychotherapie, sie schließt sie allerdings auch nicht aus. Eine verantwortungsvolle Zwangsbehandlung ist der Beginn oder die Fortsetzung der Psychotherapie unter besonders schwierigen Rahmenbedingungen. Psychotherapie ist auch unter Zwang möglich. Die verbreitete Ansicht, Psychotherapie sei nur unter absolut freiwilligen Rahmenbedingungen möglich, ist falsch. So ist z. B. aus der Behandlung von akut suizidalen Patienten in Lebenskrisen oder Patienten mit Borderline-Erkrankungen bekannt, dass auch nach Unterbringung eines Menschen gegen dessen Willen in vielen, allerdings nicht allen Fällen sehr wohl eine sinnvolle psychotherapeutische Zusammenarbeit erreicht werden kann. Voraussetzung dafür sind engagierte Mitarbeiter, die über ein fundiertes Wissen über die Erkrankung und eine besonders hohe psychotherapeutische Qualifikatifi on verfügen. Die untere Gewichtsgrenze für die Einleitung einer Zwangsbehandlung bei der AN lässt sich nicht exakt festlegen. Die Indikation sollte etwa ab einem BMI ≤ 13 kg/m2 geprüft ft werden. Dieser Wert begründet sich aus der Erfahrung, dass bei einer Gewichtsabnahme unter einen BMI von 13 kg/ m2 die Mortalität deutlich ansteigt. Aber auch bei einem höheren Gewicht können Suizidalität, Elektrolytentgleisungen, Herzrhythmusstörungen und andere aktute psychische oder physische Probleme u. U. eine Zwangsbehandlung notwendig machen.
38.3
Zwangsmaßnahmen behutsam einsetzen und dosieren
Die gegen ihren Willen zwangsbehandelten Patienten müssen nicht immer über Magensonde, PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie mit eingelegter Ernährungssonde) oder Venenkatheter zwangsernährt werden, und auch Fixieren oder das Einsperren auf einer geschlossenen Station ohne Ausgang ist nicht immer erforderlich. Der unreflektierte, überzogene und zu wenig dosierte Einfl satz von Zwangsmaßnahmen ist ein Kunstfehler, der die Patienten unnötig traumatisiert. In vie-
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Kapitel 38 · Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa
len Fällen ist die klare Aussage der Behandler und des juristischen Betreuers über die Notwendigkeit und Durchsetzung der Behandlung ausreichend, um Patienten zu einer ausreichenden Mitarbeit zu bewegen, sodass auf die weitere Anwendung von direkter Gewalt verzichtet oder diese zumindest stark eingeschränkt werden kann. Der dabei vorhandene Charakter der Nötigung ist weniger verletzend als eine direkte Gewaltanwendung. Fixierungen müssen auf das absolut notwendige Mindestmaß reduziert und zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausgesetzt werden; unter keinen Umständen dürfen Patienten ohne zwingenden Grund längere Zeit fixiert werden. Ein motiviertes und qualifi fiziertes Pfl flegeteam kann in vielen Fällen auf direkte Gewaltanwendung bei der Zwangsernährung verzichten. ! Nicht physische Gewalt, sondern die zwischenmenschliche Beziehung und das psychotherapeutische Klima sind als relevante Wirkfaktoren für den Verlauf der Behandlung entscheidend.
Auch für die Sicherstellung der Nahrungsaufnahme gilt der Grundsatz, Zwang behutsam zu dosieren. Eventuell notwendige Gewalt darf bei der Zwangsernährung nur sehr vorsichtig gesteigert werden und ist schnellstmöglich wieder zu reduzieren; dabei sind die nachfolgend aufgeführten Schritte denkbar (. Übersicht: Möglichkeiten der Zwangsernährung von Patientinnen mit AN). Von Beginn an ist es auch Ziel der Psychotherapie, die Patientinnen schon während einer Zwangsbehandlung zu einer zunehmend selbstständigen und ausgewogenen Nahrungsaufnahme zu motivieren. Wenn dies nicht gelingt, kommen verschiedene Alternativen der Nahrungsaufnahme in Frage, die schrittweise nacheinander besprochen und probiert werden können. Die Zwangsernährung über Sonde, PEG oder Venenkatheter führt nicht selten zu Manipulationen der Patientinnen am System, auf die nicht unreflektiert fl mit verstärkter Gewalt reagiert werden darf. Es droht sonst eine Eskalation der Gewalt mit nachhaltiger Schädigung jeder vertrauensvollen Zusammenarbeit. Die Patientinnen sollten in die Entscheidung über die Form der Nahrungsaufnahme einbezogen werden, um ihre Autonomie in der ohnehin schon schwierigen Situation nicht unnötig einzuschränken. Jeder Zwang, der
zur Sicherstellung der Ernährung eingesetzt wird, muss auch wieder beendet werden. Spätestens zum Entlassungszeitpunkt müssen Patientinnen wieder in der Lage sein, selbst Verantwortung für eine ausreichende Ernährung zu übernehmen. Möglichkeiten der Zwangsernährung von Patientinnen mit Anorexia nervosa 1. Essen normaler Nahrungsmittel in Anwesenheit und mit Zuspruch von Mitarbeitern 2. Trinken von Sondennahrung in Anwesenheit und mit Zuspruch von Mitarbeitern 3. Kombination von Sondennahrung und normalen Nahrungsmitteln 4. Füttern durch Mitarbeiter 5. Ernährung über Magensonde ohne Fixierung, tagsüber oder nachts 6. Ernährung über PEG ohne Fixierung, tagsüber oder nachts 7. Kombination mehrerer Möglichkeiten 8. Ernährung über Magensonde oder PEG unter Fixierung, tagsüber oder nachts 9. Parenterale Ernährung durch Infusionen
Die Themen Th Essen, Figur und Gewicht spielen für diese Patientinnen oft ft eine dominierende Rolle. In der Psychotherapie dürfen andere relevante Th Themen und Konflikte fl jedoch nicht vergessen werden, so beispielsweise Selbstwertprobleme, psychosexuelle Ängste oder familiäre Konflikte. fl Auch während der Zwangsbehandlung müssen diese TheTh men angemessen Raum in der Therapie Th bekommen. Patientinnen und Mitarbeiter müssen immer wissen, dass das Erreichen eines Zielgewichts kein Selbstzweck ist, sondern der Verbesserung der Lebensqualität dienen soll. Das therapeutische Klima auch während der Zwangsbehandlung sollte dem plakativen Motto entsprechen: »Gewichtszunahme ist nicht alles, aber ohne Gewichtszunahme ist alles nichts.« Medikamente sind für die Behandlung der AN von nachgeordneter Bedeutung. Auch für die Zwangsbehandlung kann daher keine generelle psychopharmakologische TherapieempfehTh lung gegeben werden. Ungeachtet dessen muss die Indikation für eine anxiolytische Behandlung mit Benzodiazepinen, für eine antidepressive TheraTh
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38.4 Behandlung mit Respekt
pie oder einen antipsychotischen Behandlungsversuch in Abhängigkeit vom aktuellen psychopathologischen Befund geprüft ft werden.
38.4
Behandlung mit Respekt
Die labile Selbstwertregulation und die Konflikte fl um Abhängigkeit und Autonomie sind für diese Patientinnen von zentraler Bedeutung. Es ist besonders schwierig, dieses Erleben der Patientinnen von mangelhafter ft Sicherheit und Autonomie nicht zusätzlich zu verletzen, sondern unter den ungünstigen Rahmenbedingungen einer Zwangsbehandlung zu bestärken. Unbedingte Voraussetzung dafür ist der respektvolle Umgang mit den Patientinnen. Der Respekt und das freundliche Engagement der Mitarbeiter schützen Würde und Selbstwertgefühl der Patientinnen. Behandlung mit Respekt bedeutet auch, alle wesentlichen Details der Th Therapie off ffen und genau mit den Patientinnen zu besprechen, sie so weit wie möglich in Entscheidungen einzubeziehen und ihnen durch klare Absprachen die Möglichkeiten zu eröff ffnen, einer Zunahme von Zwang und Gewalt bzw. einer Einschränkung ihrer Freiheit entgegenzuwirken. Gespräche mit den Angehörigen sind auch während einer Zwangsbehandlung in vielen Fällen sinnvoll. ! Ziel der Zwangsbehandlung ist nicht ein defifi niertes Gewicht, sondern die Fortsetzung der Behandlung ohne Zwang.
Die Zwangsbehandlung darf nicht jede weitere Th Therapiemotivation zerstören. Im Gegenteil soll sie die Patientinnen unterstützen, Mut für eine weiterführende Therapie ohne Zwang zu fassen. Die Zeit der Zwangsbehandlung soll den Patientinnen helfen, eine neue Perspektive für sich zu fi finden und dem Fernziel einer weitgehenden Heilung von der Essstörung näher zu kommen.
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Fazit Schwere Verläufe einer AN mit Lebensgefahr für die Patientinnen können eine Zwangsbehandlung erfordern. Die Entscheidung für eine Zwangsbehandlung kann dann für die betroff ffenen Patientinnen und deren Angehörige sogar eine Erleichterung sein, wenn sie die Verantwortung vorübergehend in professionelle Hände legen können. Die praktische Durchführung einer Zwangsbehandlung und Zwangsernährung stellt hohe Anforderungen an die Kompetenz und die Sorgfalt der Behandler, um die in vielen Fällen ohnehin schon nur mangelhaft ausgeprägte Motivation der Patientinnen für die notwendige psychotherapeutische Arbeit nicht unverhältnismäßig zu belasten. Ziel der Zwangsbehandlung ist nicht das Erreichen eines definierten fi Gewichts, sondern die Fortsetzung der Therapie ohne Zwang.
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Kapitel 38 · Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa
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39 Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen Thomas Paul und Andreas Thiel Th 39.1
Begriff ffsbestimmung
39.2
Ausgangslage
– 237
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Vergleichende Psychotherapiestudien zu den Behandlungsergebnissen bei Patientinnen mit Essstörungen weisen bei erwachsenen Patientinnen mit Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) Chronifi fizierungsraten zwischen 20 und 30 auf (Steinhausen 2002, Keel et al. 1999). Bei jugendlichen Patientinnen mit AN sind die Behandlungserfolge insgesamt deutlich positiver und die Chronifi fizierungsraten geringer. Für Patientinnen mit Binge-Eating-Störung (BES) liegen bisher nur wenige Studien zum langfristigen Verlauf vor. Diese belegen, dass langfristig die Heißhungeranfälle deutlich rückläufi fig sind, dass sich aber der Anteil der Patientinnen mit Adipositas deutlicht erhöht (Fairburn et al. 2000). Aus diesem Grund wird bei Patientinnen mit BES nach Rückgang der Heißhungeranfälle der Behandlungsschwerpunkt auf der Behandlung der Adipositas liegen müssen. Daher beschränkt sich dieser Beitrag auf die Behandlung chronisch verlaufender anorektischer und bulimischer Erkrankungen.
39.1
Begriffsbestimmung ff
Der Begriff ff der Chronifizierung fi dient im Allgemeinen der näheren Beschreibung von Erkrankungen mit lange Zeit andauernden, meist nicht heilbaren Zuständen. Trotz der allgemeinen Kenntnis und Bedeutsamkeit der hohen Chronifi fizierungsraten bei AN und BN wird dieser Begriff ff sehr unterschiedlich verwendet. Bislang liegen keine übereinstimmenden Kriterien für die Kennzeichnung chronischer Fälle vor, und der Begriff ff der Chronifzierung wird in den entsprechenden Studien über-
39.3
Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung chronisch essgestörter Patientinnen – 238
wiegend zur Beschreibung von Patientinnen verwendet, die 5 im Rahmen einer Th Therapiestudie keine ausreichende Besserung der Symptomatik erreichen konnten, 5 mehrere Therapien Th ohne langfristigen Erfolg absolviert haben oder 5 mit oder ohne vorangegangene TherapieverTh suche schon seit mehreren Jahren an der Symptomatik leiden. Somit handelt es sich bei den Aussagen über chronifi fizierte Patientinnen i. d. R. um die Beschreibung einer Teilmenge einer relativ umfangreichen, sehr heterogenen Gesamtgruppe, für die allgemeingültige Behandlungsrichtlinien – ähnlich der Practice Guideline for the Treatment of Patients with Eating Disorders der American Psychiatric Association – fehlen und die in der Literatur und Forschung bisher kaum beachtet wurde. Dies verwundert besonders angesichts der Tatsache, dass sich in dieser Gruppe der größte Teil der essgestörten Patientinnen befi findet, die langfristig an der Symptomatik versterben (bei der AN zwischen 15 und 20 oder 0,5‒0,75 pro Jahr), einen erhöhten Leidensdruck mit reduzierter Lebensqualität erleben und die beteiligten Mitmenschen und Behandler zumindest stark emotional und das gesamte Gesundheitssystem i. d. R. über Gebühr finanziell fi belasten. So belaufen sich allein die durchschnittlichen jährlichen Behandlungskosten in deutschen Kliniken für Patientinnen mit AN auf schätzungsweise 12.800 €, wobei festgestellt wurde, dass ca. 10‒20 der Patientinnen mit AN im Jahr stationär behandelt werden und die Verweildauer in den
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Kapitel 39 · Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen
Kliniken im Durchschnitt 50 Tage beträgt (Krauth et al. 2002).
39.2
Ausgangslage
Während es bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder degenerativen Gelenkerkrankungen mehr oder weniger klare Krankheitsverläufe mit entsprechender Einteilung nach Krankheitsstadien gibt und sich für jedes dieser Stadien spezifische fi therapeutische Maßnahmen ableiten lassen, liegen solche Beschreibungen für zeitlich aufeinander folgende Chronifzierungsstadien für Patientinnen mit AN und BN nicht vor. Der chronische Krankheitsverlauf ist von Patientin zu Patientin sehr unterschiedlich, allgemeine Richtlinien können aufgrund der individuellen Unterschiede nicht festgelegt werden. Die Behandler sind so immer wieder aufs Neue mit der Frage konfrontiert, welche Behandlungsmaßnahmen im individuellen Fall zu ergreifen sind. Es liegen zwar hinsichtlich der Indikation für verschiedene Behandlungssettings allgemeine Kriterien vor (American Psychiatric Association 2006), diese korrespondieren aber nicht mit der Schwere der Chronifzierung, sondern beruhen allein auf der Einschätzung der Symptomatik der Patientin durch den Behandler zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt. Trotz annähernd gleicher Symptomatik und gleicher Krankheitsdauer können die gleichen therapeutischen Maßnahmen im gleichen therapeutischen Setting zu sehr unterschiedlichen Erfolgen führen. Unbefriedigende Th Therapieverläufe können bei den Therapeuten zu Hilfl flosigkeit, Frustration oder Gefühlen von Ärger führen. Um gerade diesen »schwierigen Patientinnen« auch langfristig bei der Bewältigung ihrer Erkrankung zu helfen und sie nicht einfach als »unheilbare« oder »unmotivierte« Fälle abzutun, ist es nach Ansicht der Autoren sehr hilfreich, sich bei der Behandlung immer wieder auf allgemeine Grundprinzipien zu beziehen, die im Folgenden beschrieben werden (. Übersicht). Diese gelten für chronisch essgestörte Patientinnen, die sich freiwillig in eine Behandlung begeben. Behandlungsrichtlinien für Patientinnen, die gegen ihren Willen behandelt werden müssen, werden in 7 Kap. 38 aufgezeigt.
Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung chronisch essgestörter Patientinnen 1. Überprüfe, ob die Patientin den richtigen Zeitpunkt für ihre Therapie gewählt hat. 2. Schaff ffe einen vertrauensvollen Rahmen, in dem die therapeutischen Maßnahmen, Rahmenbedingungen und anzustrebenden Therapieziele bereits vor der Therapie transparent gemacht werden. 3. Lege Therapieziele nicht einseitig, sondern zusammen mit der Patientin fest. 4. Mache Dich zum Verbündeten der Patientin, um mit ihr gemeinsam zu versuchen, die Erkrankung zu überwinden. 5. Gib der Patientin einen Großteil der Verantwortung für die Behandlungfortschritte. 6. Akzeptiere, dass die Behandlung langwierig sein kann und dass davon auszugehen ist, dass die Patientin große Schwierigkeiten haben wird, Veränderungen ihrer Symptomatik zuzulassen. 7. Beachte, dass die Behandlung nicht gegen den Willen der Patientin durchgeführt werden kann. 8. Achte darauf, dass die Patientin in eine entsprechende Versorgungskette eingebunden wird. 9. Beachte das Recht der Patientin auf Zwangseinweisung. 10. Gib die Hoff ffnung nicht auf.
39.3
Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung chronisch essgestörter Patientinnen
Überprüfe, ob die Patientin den richtigen Zeitpunkt für ihre Therapie gewählt hat.
Patientinnen, die sich freiwillig in Th Therapie begeben, kann man als »therapiemotiviert« bezeichnen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie von vornherein ausreichend »veränderungsmotiviert« sind oder sie sich bewusst damit auseinandergesetzt haben, dass sie sich im Rahmen der Th Therapie einem
39.3 Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung . . .
schwierigen Prozess aussetzen müssen, der ihnen viel abverlangen wird. Es ist daher wichtig, gemeinsam mit der Patientin frühzeitig zu überprüfen, ob sie tatsächlich zum jetztigen Zeitpunkt willens und in der Lage ist, diese Aufgabe zu bewältigen. Allein der Wunsch, eine Symptomatik aufzugeben, reicht i. d. R. nicht aus, die entsprechenden Kräfte ft freizusetzen und den schweren therapeutischen Prozess langfristig durchzustehen. So kann es beispielsweise sein, dass eine chronisch anorektische Patientin zwar motiviert ist, Hilfe anzunehmen, gleichzeitig die notwendige Gewichtszunahme aber noch verweigert. Auch werden häufig fi die aufrechterhaltenden Faktoren der Symptomatik nicht in der eigenen Person gesehen, sondern external auf Mitmenschen oder spezifische fi Umstände attribuiert. Befindet fi sich die Patientin noch in einer sehr ambivalenten Phase ihrer Erkrankung (Prochaska u. DiClemente 1992), so stellt sich die Frage nach dem Sinn einer Intervention zu diesem Zeitpunkt. Erfahrene Praktiker haben nicht selten die Erfahrung gemacht, dass Patientinnen, die bei einem ersten Behandlungsversuch scheiterten, zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb des gleichen Settings sehr gut profieren fi konnten und dies im nachhinein damit begründeten, dass beim ersten Mal keine ausreichende Motivation oder Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung bestand. Schaff ffe einen vertrauensvollen Rahmen, in dem die therapeutischen Maßnahmen, Rahmenbedingungen und anzustrebenden Therapieziele bereits vor der Therapie transparent gemacht werden.
Gerade bei Patientinnen mit chronischen Krankheitsverläufen, die oft ft schon therapieerfahren sind und bisher keine anhaltende Besserung ihrer Symptomatik erzielen konnten, ist es besonders wichtig, bereits vor Therapiebeginn Th sehr transparent die entsprechenden Rahmenbedingen, das therapeutische Vorgehen und die Erwartungen an die Patientin zu besprechen. Hierzu bieten sich ausführliche Vorgespräche vor Ort an, in denen die Patientinnen umfassend und detailliert über das Behandlungssetting aufgeklärt werden und ausreichend Gelegenheit für Fragen haben. Die Th Therapeuten sollten belastende Elemente der Behandlung auf keinen Fall verschweigen, nur um eine Patientin zur Aufnahme der Behandlung zu motivieren. Die Patientin sollte aufgrund der erhaltenen Informationen
239
39
nach dem Gespräch eine freie und fundierte Entscheidung für oder gegen die Behandlung treffen ff können. Hilfreich haben sich hierzu auch schriftft liche Informationen in Form von Patientinnenbroschüren erwiesen. Nach Erfahrung der Autoren sollten diese aber ein Vorgespräch nur ergänzen, nicht ersetzen. Lege Therapieziele nicht einseitig, sondern zusammen mit der Patientin fest.
Um Veränderungen zu erreichen, müssen die Patientinnen viel Energie aufbringen. fb Dies geht nur auf Kosten anderer Ressourcen, und zumindest kurzfristig kann es daher sein, dass andere wichtige und befriedigende Bereiche des Lebens vorübergehend vernachlässigt werden müssen. Umso wichtiger ist es daher, dass sich die Patientin mit dem Therapeuten einig ist, welche Therapieziele in welchem zeitlichen Rahmen angestrebt werden, mit welchen Maßnahmen diese erreicht werden sollen und welche Konsequenzen sich daraus für andere Bereiche des Lebens der Patientin ergeben werden. Dieser Einigungsprozess beansprucht Zeit, und es ist dabei notwendig, realistische Ziele zu vereinbaren, mit denen die Patientin sich auch identifiziefi ren kann. Werden unrealistische Ziele angestrebt, so führen diese bald zu Frustration auf beiden Seiten, was den langfristigen Therapieerfolg gefährdet. Ebenso wie der Therapeut nicht einseitig die Ziele formulieren sollte, ist auch zu vermeiden, dass der Therapeut sich zu Therapiezielen überreden lässt, von denen er selbst nicht überzeugt ist. In der Regel handelt es sich daher bei der Aufstellung der Th Therapieziele um einen gemeinsamen, manchmal zähen Prozess, an dessen Ende beide Parteien vom Sinn des Angestrebten überzeugt sein müssen. »Faule« Kompromisse oder das scheinbare Einwilligen ohne Überzeugung werden hierbei langfristig nicht tragen. Sind die Th Therapieziele gemeinsam erarbeitet und ‒ vielleicht sogar schrift ftlich ‒ festgelegt, sollte die Patientin verpflichtet fl werden, im Rahmen der Behandlung »ihr Bestes« zu geben, ohne sich zu überfordern (Commitment). Mache Dich zum Verbündeten der Patientin, um mit ihr gemeinsam zu versuchen, die Erkrankung zu überwinden.
Wenn sich eine Patientin in Therapie begibt, so benötigt sie Hilfe. Ihr psychischer oder körperlicher
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Kapitel 39 · Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen
Zustand verursacht Leiden, und sie fühlt sich nicht in der Lage, allein aus eigener Kraft ft die belastende Symptomatik aufzugeben. Sie ist auf einen Behandler angewiesen, der sich zunächst einmal darum bemüht, die Patientin mit ihrer Erkrankung zu verstehen, um dann mit ihr gemeinsam einen Weg zur Krankheitsbewältigung zu erarbeiten. Um die notwendige Kraft ft und Zuversicht aufb fbringen zu können, sollte der Therapeut ihr als Verbündeter zur Seite stehen, geduldig ihren Weg mit ihr erarbeiten und v. a. dann auch präsent sein, wenn es schwierig wird und möglicherweise die Patientin sogar droht, die Therapie Th nicht weiterzuführen. Gerade in solchen Situationen zeigt sich die Tragfähigkeit des therapeutischen Bündnisses. Dann erfordert es besonders geschulte Therapeuten, Th die auch bei persönlichen Angriff ffen den Überblick über die Dynamik des therapeutischen Prozesses behalten, die Situation reflektieren fl und überlegt handeln können. So kann es gelingen, mit der Patientin die spezifi fischen Barrieren in der aktuell schwierigen Situation zu erfassen und gemeinsam zielführende Maßnahmen zur Lösung des Problems zu erarbeiten. Auf diese Weise lassen sich auch unnötige und destruktive Auseinandersetzungen vermeiden, die nicht selten zu anhaltenden Missstimmungen auf beiden Seiten oder sogar zu Therapieabbrüchen Th führen. Gib der Patientin einen Großteil der Verantwortung für die Behandlungfortschritte.
Jede Art der Behandlung erfordert von der Patientin die Bereitschaft ft, sich aktiv mit ihren Problemen auseinander zu setzen und Lösungswege zu erproben, ohne die Garantie dafür zu haben, dass diese auch erfolgreich sein werden (»erst probieren, dann kritisieren«). Hier hat es sich als hilfreich erwiesen, der Patientin von Anfang an zu verdeutlichen, dass es wahrscheinlich kein Behandlungskonzept gibt, das es ihr ermöglicht, ohne große Anstrengung ihre Symptomatik zu verbessern, und dass sie während der Th Therapie möglicherweise einen Punkt erreichen wird, an dem sie das Behandlungssetting, das spezielle therapeutische Vorgehen oder auch den Therapeuten Th selbst in Frage stellen wird. Diese Phasen in der Therapie Th zu überwinden, wird eher dann gelingen, wenn der Patientin von Anfang an bewusst ist, dass der Th Therapeut letztlich nur »ein Hilfsmittel« für den Erfolg,
nicht aber verantwortlich für die Fortschritte sein kann. Die Patientin sollte schon zu Beginn prüfen, ob sie bereit ist, unter den gegebenen Umständen die Therapie aufzunehmen – selbst wenn ihr einige Bedingungen nicht »optimal« erscheinen. Hilfreich ist dabei, mit der Patientin zunächst für einen klar defi finierten Zeitraum (im Rahmen der stationären Therapie sind dies häufi fig 14 Tage) eine »Th Therapie auf Probe« zu vereinbaren. Innerhalb dieser Zeit ist es die Aufgabe der Patientin, dem Th Therapeuten oder dem therapeutischen Team zu zeigen, dass sie unter den gegebenen Bedingungen Fortschritte erzielen kann. Sollte dies nicht gelingen, muss die Indikation für eine Fortsetzung der Behandlung überprüft ft werden. Die Hauptverantwortung für den Th Therapiefortschritt wird somit auf die Patientin übertragen. Damit soll verhindert werden, dass die Patientin einseitig und unverhältnismäßig über vermeintliche Unzulänglichkeiten der Therapie Th oder der Therapeuten Th klagt und dabei die eigene Verantwortung für den Therapiefortschritt Th aus dem Auge verliert. Akzeptiere, dass die Behandlung langwierig sein kann und dass davon auszugehen ist, dass die Patientin große Schwierigkeiten haben wird, Veränderungen ihrer Symptomatik zuzulassen.
Patientinnen mit chronischen Krankheitsverläufen haben sich i. d. R. über viele Jahre an ihre Symptomatik gewöhnt und sich mit der Erkrankung arrangiert. Die Faktoren, die letztlich den Einstieg in die Erkrankung begründeten, sind häufi fig weiter virulent, es sind aber zusätzliche, die Krankheit aufrechterhaltende Bedingungen hinzugekommen, die einer Besserung der Erkrankung entgegenstehen. Teilweise ist sogar eine »Essstörungsidentität« durch die Erkrankung entstanden (»wir Anorektiker«). Die Patientinnen haben auch dadurch Angst vor der Veränderung, in eine ungewisse Zukunft ft zu schauen, und befürchten, die von ihnen ‒ bei Genesung ‒ antizipierten Anforderungen nicht angemessen bewältigen zu können. Die Symptomatik bietet daher neben den vielfältigen Beeinträchtigungen auch einen gewissen Schutz, den die Patientin sicherlich nicht in wenigen Wochen oder Monaten aufgeben kann. Die vielfältigen Widerstände gegen Veränderungen im Rahmen der Therapie spiegeln daher zum großen Teil auch die Angst der Patientin vor dem Versagen angesichts von Anforderungen
39.3 Hilfreiche Grundprinzipien bei der Behandlung . . .
wider. In dieser Situation sollte geprüft ft werden, welche Veränderungsschritte derzeit für die Patientin realistisch sind. Häufig fi ist es günstiger, kleinere Teilziele zu formulieren und diese auch zu erreichen, als sich zu große Ziele zu setzen und dann daran zu scheitern. Dieses Vorgehen beugt auch dem häufi figen »Schwarz-Weiß-Denken« der Patientinnen vor, die nicht selten perfektionistische Ansprüche besitzen und zumeist hohe Anforderungen an die eigene Person stellen. Beachte, dass die Behandlung nicht gegen den Willen der Patientin durchgeführt werden kann.
Zu einer Therapie gegen den Willen der Patientin sollte generell nur als letztes Mittel im Behandlungsprozess gegriffen ff werden (7 Kap. 38). Wir sollten uns als Behandler in jedem Einzelfall darum bemühen, die Patientin in ihrer Symptomatik mit ihren spezifi fischen Ängsten zu verstehen und nach Möglichkeit Bedingungen zu schaffen, ff die ihr auch ermöglichen, Fortschritte im Rahmen der Behandlung zu vollziehen. Es ergibt keinen Sinn, die Patientin mit einem Setting und Maßnahmen zu konfrontieren und zur Einwilligung zu überreden, die von ihr nicht akzeptiert werden können und für sie einen Zwangscharakter aufweisen. Aus einer solchen Behandlung wird sie schnell aussteigen (müssen), und die Chronifi fizierung wird weiter untermauert werden. Andererseits sollten wir uns auch nicht auf Bedingungen einlassen, von denen wir wissen, dass sie die Patientin weiter in ihrem Vermeidungsverhalten unterstützen. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass unser Behandlungsangebot von behandlungsbedürftigen ft Patientinnen nicht akzeptiert wird und diese in die vorgeschlagene Therapie nicht einwilligen. Dieses Wahlrecht der Patientinnen sollten wir respektieren, ohne unser therapeutisches Konzept prinzipiell in Frage zu stellen und oder mit einer negativen Haltung gegenüber der Patientin zu reagieren. Ganz im Gegenteil sollten wir die Patientin ermutigen und dabei unterstützen, nach hilfreichen Alternativen zur unserer Behandlung zu suchen. Achte darauf, dass die Patientin in eine entsprechende Versorgungskette eingebunden wird.
Es ist davon auszugehen, dass sich der Behandlungsprozess bei chronisch kranken Patientinnen i. d. R. schwieriger gestaltet und ein therapeutisches
241
39
Setting allein nicht ausreichend sein wird. Die Behandlung erfordert daher auch die sorgfältige, flexible Abstimmung zwischen unterschiedlichen fl Settings, die je nach Bedarf für eine bestimmte Zeit zur Anwendung kommen können. Die Palette der therapeutischen Möglichkeiten reicht hier von der ambulanten Selbsthilfegruppe über die ambulante Psychotherpapie, die ambulante psychiatrische Betreuung und Behandlung, die Einbindung des sozialpsychiatrischen Dienstes, die tagesklinische Behandlung bis hin zur stationären psychiatrischen, internistischen oder psychosomatischen Behandlung, die Unterbringung in Wohngruppen oder gar die Zwangsbehandlung als Ultima Ratio. Dabei sollten die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Settings frühzeitig geplant und mit den Patientinnen besprochen werden. Je besser zwischen den einzelnen Institutionen über den Behandlungsprozess kommuniziert wird und der nächste Behandlungsabschnitt abgestimmt werden kann, umso leichter wird es der Patientin möglich sein, sich auf die vorgeschlagenen Maßnahmen einzulassen und langfristig davon zu profitieren. fi Sofern sich die beteiligten Institutionen nur als ein wichtiges Behandlungsglied in der Kette der notwendigen therapeutischen Maßnahmen begreifen, kann es ihnen gelingen, die Patientinnen während des therapeutischen Teilprozesses nicht zu überfordern und realistische Th Therapieziele mit ihnen aufzustellen, die bei Erreichen zu einer erhöhten Selbstwirksamkeitserwartung und Steigerung der Motivation der Patientinnen führen können. Beachte das Recht der Patientin auf Zwangseinweisung.
Angesichts der erschreckend hohen Mortalitätsund Chronifizierungsraten fi bei anorektischen Patientinnen stellt sich die Frage, ob nicht doch in einzelnen Fällen unter besonderen Umständen häufiger von der Möglichkeit einer Zwangseinweisung Gebrauch gemacht werden sollte (7 Kap. 38). In besonderen Ausnahmesituationen können Patientinnen auch ein Recht auf eine Zwangsbehandlung haben. Die in diesem Zusammenhang häufig formulierte Befürchtung, nach einem solchen Eingriff ff sei eine psychotherapeutische Weiterbehandlung unmöglich, ist falsch. Eine verantwortungsvolle Zwangsbehandlung ist der Beginn oder die Fortsetzung der Psychotherapie unter beson-
242
21 22 23 24
Kapitel 39 · Die Behandlung chronisch kranker Patientinnen
ders schwierigen Rahmenbedingungen. Ziel der Zwangsbehandlung ist nicht das Erreichen eines definierten fi Gewichts, sondern die Fortsetzung der Therapie ohne Zwang. Bei allen Maßnahmen, die Th gegen den Willen der Patientinnen durchgeführt werden, ist stets darauf zu achten, dass respektvoll mit den Patientinnen umgegangen und ihre Würde nicht unnötig verletzt wird. Gib die Hoff ffnung nicht auf!
25 26 27 28 29 30 31
Th Therapieverläufe bei Patientinnen mit chronischen Essstörungen sind kaum vorhersehbar. Erfahrene Praktiker weisen zu Recht darauf hin, dass ehemals sehr schwierige, scheinbar hoffnungslos ff erscheinende Fälle auch noch nach vielen Jahren einen positiven Verlauf nehmen können. Es erscheint daher auch bei schwierigsten Verläufen gerechtfertigt, den Patientinnen und ihren Angehörigen hoffff nungsvoll gegenüberzutreten und diesen zu versichern, dass Besserungen der Symptomatik bis hin zur Heilung der Essstörung grundsätzlich möglich sind. Vor dem Hintergrund des größeren Wissens und der besseren therapeutischen Möglichkeiten bei Essstörungen ist die Formulierung von William Gull aus dem Jahre 1873 weiter gültig:
32
None of these cases, however exhausted, are really hopeless as long as life exists.
33
Fazit
34 35 36 37 38 39 40
Die Behandlung von Patientinnen mit chronischen Essstörungen stellt eine besondere Herausforderung für jeden Therapeuten und jedes Behandlungsteam dar. Allgemeingültige Kriterien zur Anwendung spezifischer fi Interventionen in Abhängigkeit von bestimmten Krankheitsstadien lassen sich nicht festlegen. Unabhängig von spezifischen fi Rahmenbedingungen und Settings lassen sich aber hilfreiche Grundprinzipien als Leitlinien des therapeutischen Handelns formulieren, mit deren Hilfe Machtkämpfe und die »iatrogene« Chronifi fizierung von Patientinnen eher vermieden werden können.
Literatur American Psychiatric Association (2006) Practice guideline for the treatment of patients with eating disorders. Am J Psychiatry 163(Suppl): 1-54 Fairburn CG, Cooper Z, Doll HA, Norman P, O’Connor M (2000) The natural course of bulimia nervosa and binge eating disorder in young women. Arch Gen Psychiatry 57: 659-665 Keel PK, Mitchell JE, Miller KB, Davis TL, Crow SJ (1999) Longterm outcome of bulimia nervosa. Arch Gen Psychiatry 56: 63-69 Krauth C, Buser K, Vogel H (2002) How high are the costs of eating disorders – anorexia nervosa and bulimia nervosa ] for G erman society? Eur J Health Econom 3: 244-250 Prochaska JO, DiClemente CC (1992) Stages of change in the modifi fication of problem behaviors. Prog Behav Modif 28: 183-218 Steinhausen HC (2002) The outcome of anorexia nervosa in the 20th century. Am J Psychiatry 159: 1284-1293
243
Adipositas Klassifikation, Ätiologie und Epidemiologie der Adipositas Komorbidität Die Behandlung der Adipositas
40
245
Klassifikation, Ätiologie und Epidemiologie der Adipositas 40
Ätiologie und Diagnostik der Adipositas – 246
41
Epidemiologie der Adipositas – 255
42
Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz – 259
43
Genetische Aspekte der Adipositas – 265
44
Klinische Aspekte der Adipositas
45
Medikamentös induzierte Adipositas
– 271 – 280
40
40 21
Ätiologie und Diagnostik der Adipositas
22
Alfred Wirth
23
40.1
24
40.1.1 Erhöhte Energieaufnahme – 246 40.1.2 Verminderter Energieverbrauch – 247 40.1.3 Genetische Prädisposition – 249
25 26
40.2
Ätiologie der Adipositas
– 246
40.3
Krankheiten und Pharmaka (sekundäre Adipositas) – 250
40.2.1 Krankheiten mit Adipositas – 250 40.2.2 Pharmaka mit adipogener Wirkung
Diagnostik der Adipositas
– 251
40.3.1 Anthropometrie – 251 40.3.2 Technische Diagnostik zur Körperzusammensetzung – 251 40.3.3 Diagnostik der Energieaufnahme – 252 40.3.4 Erfassung der körperlichen Aktivität – 253
– 250
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
40.1
Ätiologie der Adipositas
40.1.1
Erhöhte Energieaufnahme
Die Energieaufnahme ist komplex geregelt. Dies ist in Anbetracht der Tatsache, dass eine erhebliche Fehlregulation – insbesondere zum Untergewicht – für den Körper vital bedrohlich ist, verständlich und notwendig. Die Schaltstellen der Energieaufnahme sind daher, wie weiter unten gezeigt wird, durch viele parallele Strukturen auf verschiedenen Ebenen und in vielen Organen vernetzt. Die Energieaufnahme ist eng mit dem Energieverbrauch gekoppelt (. Abb. 40.1). Zum Hypothalamus gelangen Signale der Energieaufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt, dem Blut und dem Gehirn. Der Energieverbrauch wird ebenfalls, wenn auch geringer als die Energieaufnahme, durch den Hypothalamus beeinflusst fl (z. B. über Leptin). Die Regulation des Körpergewichts ist jedoch keine reine Autoregulation durch biologische Mechanismen. Selbstverständlich kontrollieren Menschen ihr Körpergewicht auch kognitiv (bewusst).
Regulation von Hunger und Sättigung Das Wechselspiel von Hunger und Sättigung ist offensichtlich ff für die Regulation des Körpergewichts von elementarer Bedeutung. Biologische Parameter im Gehirn, im Fettgewebe, im Intestinaltrakt und im Blut induzieren ein Gefühl dafür, ob
Hunger eintritt, gegessen oder das Essen beendet wird (. Abb. 40.1). Diese Größen regeln auch, welche Art der Nahrung bevorzugt wird. Einzelheiten zur Regulation von Hunger und Sättigung sowie zu Neurohormonen und Neurotransmittern sind in 7 Kap. 23 dargestellt.
Alimentäre Adipositas Die übliche Vorstellung von der Genese der Adipositas ist auf die ernährungsbedingte Adipositas gerichtet. Die Nahrungsaufnahme ist nahezu identisch mit der verwerteten Nahrungsmenge, da nur ca. 5 der aufgenommenen Nahrungsenergie über den Stuhl ausgeschieden werden. Dieser Prozentsatz ist weit niedriger, als viele Menschen annehmen, und entzieht der Diskussion über »bessere Verdauung« oder »bessere Stoffwechselverwerff tung« weitgehend den wissenschaftlichen ft Boden.
Energiedichte Der Konsum von Lebensmitteln, die pro Gewichtseinheit einen hohen Energiegehalt aufweisen, führt zur Adipositas. Hierzu gehören v. a. fett- und zuckerhaltige Nahrungsmittel sowie Softdrinks, ft Säft fte und alkoholische Getränke. Die Sättigung wird jedoch kaum über die Energiedichte, sondern vorwiegend über die Nahrungsmenge reguliert.
247
40.1 Ätiologie der Adipositas
Metabolite im Blut
Gehirn
Magen-Darm-Trakt
Glukose Freie Fettsäuren Aminosäuren
Kognition Sensorik Lernen
Ghrelin, GIP, GLP-1, PYY, Amylin, CCK
40
Episodische Signale
Hypothalamus EnergieEnergieaufnahme
Tonische Signale Leptin
EnergieEnergieverbrauch
Insulin
Fettgewebe . Abb. 40.1. Integrierte Beschreibung der Regulation von Energieaufnahme und Energieverbrauch. Der Hypothalamus spielt dabei eine zentrale Rolle, da in ihm Signale von verschiedenen Körperegionen verarbeitet werden. (Arch 2002)
Portionsgröße Viele Menschen essen das »Richtige«, aber zu viel davon. Die Arbeitsgruppe von Rolls (Rolls et al. 2005) hat bei Studentinnen und Studenten überzeugend nachgewiesen: Wer viel auf den Teller vorgesetzt bekommt, isst auch viel. Für männliche Studenten traf diese Aussage eher zu als für weibliche.
40.1.2
Verminderter Energieverbrauch
Zur Genese der Adipositas trägt ein geringer Energieverbrauch ebenso bei wie eine erhöhte Energieaufnahme. Die zunehmende Prävalenz der Adipositas in den letzten Jahren geht wahrscheinlich vorwiegend zu Lasten abnehmender körperlicher Aktivität. Der Energieverbrauch des Menschen setzt sich aus drei Komponenten zusammen (. Abb. 40.2): 1. dem Grundumsatz, 2. der Th Thermogenese, 3. der körperlichen Aktivität. Was das Körpergewicht betrifft, fft so haben alle drei Komponenten einen Einfluss fl auf die Gewichtsentwicklung. Mit modernen Methoden ist es heute
möglich, verlässliche Auskunft ft über den Energieverbrauch zu erhalten.
Grundumsatz Der Anteil des Grundumsatzes (GU) am Gesamtenergieverbrauch beträgt beim Erwachsenen 55–70. Er wird im Wesentlichen von Alter, Geschlecht, der fettfreien Körpermasse (Muskelmasse) und genetischen Voraussetzungen bestimmt. Der GU ist zudem familiär vorgegeben, was überzeugend von Ravussin und Mitarbeitern an 130 Pima-Indianern untersucht wurde (Bogardus et al. 1986, . Abb. 40.3). Die Variation zwischen den 54 Familien war so erheblich, wie das bis zu diesem Zeitpunkt niemand für möglich gehalten hatte. Es gibt offensichtlich ff Familien, die erheblich nach oben und unten vom Mittelwert abweichen. Im Vergleich zum Unterschied zwischen den Familien ist der Unterschied innerhalb einer Familie gering. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass sich der individuelle GU bzw. Gesamtenergieverbrauch nicht aus einer Formel oder Tabelle entnehmen lässt, wie das häufi fig die BIA-Körperanalysensoftware intendiert (BIA: bioelektrische Impedanzanalyse). In einer gut kontrollierten Untersuchung konnten Ravussin et al. (1988) zeigen, dass eine Gewichtszunahme von 10 kg innerhalb von 4 Jahren bei Pro-
248
21
Kapitel 40 · Ätiologie und Diagnostik der Adipositas
Methoden
Komponenten
Determinanten 100
THERMOGENESE
Nahrung
Weckreaktionen
SMR BMR
M k l Muskelmasse Fettmasse
28
Alter Geschlecht
29
25
Genetik
30
Trainingszustand
31 32
Doppelt markiertes m s Wasser
26
50
27
SPONTANAKTIVITÄT
Respiratio ons-Kamm mer
25
(intentional)
Douglas-S Sack
24
KÖRPERLICHE AKTIVITÄT
Grundumsatz G
23
Bewegungsart ( % ) Häufigkeit Intensität D Dauer 75 Gewicht
Umsatz be U eim Schla afen
22
. Komponenten des Energieverbrauchs des Menschen sowie deren Determinanten und Methoden zur Erfassung, SMR sleeping metabolic rate, BMR basic metabolic rate. (Mod. nach Ravussin u. Swinburn 1993)
0
34 35 36 37 38 39 40
GRUNDUMSATZ (kcal/d)
33 2400
2400 2300
Bereich zwischen Familien
2200
2200 2100
2100 2000
2300
2000
Gruppen-Mittel
1900
1900 1800 1700 1600 1500
. Abb. 40.3. Ruheenergieverbrauch bei 130 Pima-Indianern aus 54 Familien – individueller und familiärer Grundumsatz. Der Ruheenergieverbrauch in einer Familie ist durch jeweils
Bereich innerhalb Fam.
1800 1700 1600 1500
einen vertikalen Balken dargestellt. Die Variation zwischen den Familien ist erheblich und wesentlich größer als die Variation innerhalb der Familien. (Bogardus et al. 1986)
249
. Abb. 40.4. Entwicklung einer Adipositas bei körperlich Inaktiven und Aktiven in 15 Ländern Europas. Wer viel sitzt und sich wenig bewegt, hat ein um das 4-Fache erhöhtes Risiko, adipös zu werden. MET metabolic equivalent. (Martinez-Gonzales et al. 1999)
3,9
3,8 4,2
2,3 1,9
3,0 2,5
2,0
1,8 1,9
1,6
1,4
1,8
1,75
1,7
1,75 - 8,00
1,7
8,25 - 18,75 1
19,00-30,00 > 30 >35
26-35
21-25
15-20
ET S
2,1
2,2 3,4
2,4
2,4 2,4
3,2
2,6
M
3,2
40
Sp or t-
Prävalenz der Adipositas (odds ratio)
40.1 Ätiologie der Adipositas
<15
Sitzen (h/Woche)
banden mit einem niedrigen Grundumsatz 8-mal häufi figer vorkam als bei solchen mit einem hohen. Die GU-Messung ist daher ein wichtiges Instrument bei der Beratung und Betreuung von Adipösen.
re konnte überzeugend nachgewiesen werden, dass sowohl körperliche Inaktivität (Sitzen) als auch geringe Aktvität das Adipositasrisiko deutlich erhöhen (. Abb. 40.4, Martinez-Gonzales et al.1999).
! Der Ruhenergieverbrauch ist vorwiegend genetisch über die Muskelmasse determiniert.
40.1.3
Thermogenese Unter Thermogenese wird der Verbrauch an Energie durch wärmeproduzierende Stimuli verstanden, wie Nahrungsaufnahme (nahrungsinduzierte Th Thermogenese: diet-induced thermogenesis oder thermic eff ffect of food), Kälte- oder Hitzeexposition, Muskelarbeit, psychische Stimuli (Stress, Angst), Hormone und Medikamente. Der Anteil der Thermogenese am Energieverbrauch beträgt ca. 10; er ist unwesentlich modifi fizierbar. ! Die Thermogenese hat einen geringen Anteil am Gesamtenergieverbrauch und lässt sich kaum beeinflussen. fl
Körperliche Aktivität Während Grundumsatz und Th Thermogenese nur wenig beeinflussbar fl sind, sind bei der körperlichen Aktivität naturgemäß große Variationen möglich. Unterschieden werden eine spontane und eine fakultative Aktivität; letztere lässt sich beeinflusfl sen (. Abb. 40.2). In einer großen europäischen Multicenterstudie mit 15.239 Teilnehmern > 15 Jah-
Genetische Prädisposition
Eine Adipositas kann vererbt sein; die Wahrscheinlichkeit hierfür liegt bei 50–60. Mutationen in Genen sind selten. Beim Melanokortin-4-Rezeptorgen (MC4R) liegt eine solche bei ca. 3 der Bevölkerung vor; üblicherweise besteht jedoch ein Polymorphismus. In formalgenetischen Studien wie Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien wurde das Ausmaß genetischer Faktoren an der Entwicklung der Adipositas erforscht. Überraschend war das Ergebnis einer Adoptionsstudie in den 1980er Jahren in Dänemark, bei der gezeigt werden konnte, dass zwischem dem BMI der Adoptivlinge und dem BMI der Adoptiveltern kein Zusammenhang besteht, wohl aber mit dem BMI der leiblichen Eltern. Eine Zwillingsstudie ergab, dass bei Überernährung von Zwillingen die Varianz der Zunahme an Körperfett zwischen den Paaren etwa 3-mal größer war als innerhalb der Zwillingspaare. Auch die Suche nach Kandidatengenen war in den letzten Jahren erfolgreich. Eine Mutation im Leptingen führte bei einem 8-jährigen Mädchen zu einem Körpergewicht von 86 kg bei einer Körperlänge von 137 cm. Werden solche Personen mit
250
Kapitel 40 · Ätiologie und Diagnostik der Adipositas
21
rekombinantem Leptin behandelt, wird die Hyperphagie gestoppt und das Gewicht reduziert.
22
! Genetische Faktoren bilden oft die Basis für die Entwicklung einer Adipositas. Umweltfaktoren bestimmen ihre Ausprägung.
23 24 25 26 27 28 29 30 31
Besteht eine genetisch bedingte Adipositas mit weiteren Symptomen, spricht man von einer syndromalen Adipositas. Bei jedem Adipösen muss daher bei der körperlichen Untersuchung auf die Konstitution, die Intelligenz, den Tonus der Muskulatur und die Ausprägung der Finger, Zehen und Genitalorgane geachtet werden. Folgende Syndrome wurden beschrieben: 5 Prader-Willi-Syndrom, 5 Bardet-Biedl-Syndrom, 5 Ahlström-Hallgen-Syndrom, 5 Ahlström-Oslon-Syndrom, 5 Cohen-Syndrom, 5 Sotos-Syndrom, 5 Weaver-Syndrom, 5 Klinefelter-Syndrom.
40.2
Krankheiten und Pharmaka (sekundäre Adipositas)
40.2.1
Krankheiten mit Adipositas
32 33 34 35 36 37 38 39 40
Hypothyreose Eine Hypothyreose besteht bei Adipositas in ca. 5 der Fälle. Wegen der einfachen Diagnostik und des guten Therapieerfolgs Th sollte diese Krankheit immer ausgeschlossen werden. Dazu genügt die Bestimmung des basalen TSH (Thyreotropin) Th im Plasma.
Polyzystisches Ovarialsyndrom Das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) geht mit Adipositas (50), Hirsutismus (70), Amenorrhö (50), Infertilität (70) und großen, sklerosierten, zystischen Ovarien einher. Die zystischen Ovarien werden sonographisch diagnostiziert. Beim PCOS besteht eine Insulinresistenz, klinisch liegt häufig fi ein komplettes metabolisches Syndrom vor.
Hypothalamischer Symptomenkomplex Es liegt eine Störung im Hypothalamus, dem Zentrum für Hunger und Sättigung, mit unterschiedlicher Ursache zugrunde. Tumore, entzündliche Prozesse, leukämische Infiltrate, fi Traumen und Aneurysmen können Schäden an verschiedenen Stellen mit unterschiedlicher Symptomatik setzen. Gestört sein können eine Reihe von Funktionen, sowohl körperliche als auch psychische.
40.2.2
Pharmaka mit adipogener Wirkung
Psychopharmaka Psychopharmaka zählen zu den am häufi figsten verordneten Medikamenten. Die betroff ffenen Patienten sind i. d. R. chronisch krank und müssen die Pharmaka über Monate, oft ft über Jahre einnehmen. Haben sie eine adipogene Wirkung, verwundert es daher nicht, dass sie langfristig eine deutliche Gewichtszunahme verursachen können (7 Kap. 34). ! Eine Reihe von Psychopharmaka führen zu einer erheblichen Gewichtszunahme.
Hormone ! Die Bestimmung des basalen TSH ist bei Adipösen obligatorisch.
Morbus Cushing Ein M. Cushing muss nur bei klinischem Verdacht verifiziert fi bzw. ausgeschlossen werden (Häufi figkeit < 1). Striae rubrae und stammbetonte Fettverteilung sind allerdings kaum pathognomonisch für diese Erkrankung und kommen bei Adipösen häufig auch ohne erhöhte Kortisolspiegel vor. Durchzuführen ist der Dexamethason-Hemmtest.
Seit langem ist bekannt, dass Insulin eine anabole Wirkung hat und eine Vermehrung des Körperfetts induziert. Kortisol induziert typischerweise eine abdominale Form mit rundlichem Gesicht, Striae rubrae, Muskelschwäche usw. Kontrazeptiva reduzieren dosisabhängig die Fettoxidation; Frauen nehmen unter oralen Kontrazeptiva oft ft erheblich an Gewicht zu. Eine Hormonersatztherapie führt nicht zur Gewichtszunahme.
251
40.3 Diagnostik der Adipositas
Antidiabetika Vor allem Insulin und Sulfonylharnstoffe ff bzw. Glift um mehr als 10 kg nide erhöhen das Gewicht, oft im Laufe von vielen Jahren. Glitazone (ThazolidinTh dione) erhöhen ebenfalls das Gewicht, möglicherweise vorwiegend durch Flüssigkeitseinlagerung. Sie bewirken zudem eine Fettumverteilung mit Abnahme des viszeralen Fetts und Zunahme in peripheren Körperbereichen. Metformin und Inkretine sind gewichtsneutral, Exenatide reduzieren das Gewicht.
Weitere Pharmaka Kortison, häufi fig chronisch verabreicht bei Rheuma-
tikern und Asthmatikern, kann je nach Dosis das Gewicht deutlich erhöhen. β-Blocker führen langfristig zu einem geringen Gewichtsanstieg von ca. 2 kg.
40.3
Diagnostik der Adipositas
40.3.1
Anthropometrie
40
sich über die Summe der Hautfaltendicke die Körperfettmasse abschätzen. Die Methode ist einfach und mit geringen Kosten durchzuführen. Bei Kindern sind die Ergebnisse relativ valide, bei extrem adipösen Erwachsenen hingegen nicht.
Abdominaler Durchmesser Eine exaktere Methode als der Taillenumfang zur Ermittlung des intraabdominalen Fetts ist die direkte Messung des Bauchdurchmessers. Anthropometrisch kann die sagittale abdominale Tiefe (sagittal abdominal depth, SAD) ermittelt werden, indem man beim auf dem Rücken liegenden Patienten die Distanz zwischen dem Abdomen und der Unterlage misst. Mittels Ultraschall kann der sagittale intraabdominale Diameter (sagittal intraabdominal diameter, SIAD) relativ genau bestimmt werden.
40.3.2
Technische Diagnostik zur Körperzusammensetzung
Bioelektrische Impedanzanalyse Gewicht-Längen- und -Umfangs-Indizes Übergewicht und Adipositas werden mit anthropometrischen Mitteln diagnostiziert und klassififi ziert. Die wichtigste Größe ist der BMI (Body-MassIndex), ein Gewicht-Längen-Index: BMI (kg/m2) = Körpergröße in kg/(Körperlänge in m)2 Der BMI ist ein Maß für die Körperfettmasse. Ebenso wichtig und für metabolische Folgen der Adipositas noch bedeutsamer ist der Taillenumfang (waist circumference); er ist ein grobes Maß für das intraabdominale (viszerale) Fett. Der Taillenumfang wird beim stehenden Patienten in Atemmittellage zwischen dem Unterrand der Rippen und dem oberen Beckenkamm gemessen. Bei zusätzlicher Messung des Hüftumfangs ft kann die Taille-Hüft-Relation (waist-to-hip ratio) ermittelt werden, eine Größe mit ähnlicher Aussagekraft ft wie der Taillenumfang.
Hautfaltendickemessung Mit einer Messzange (z. B. Caliper) kann die subkutane Fettschichtdicke an verschiedenen Körperstellen gemessen werden. Mithilfe von Tabellen lässt
Bei der BIA-Methode wird der elektrische Wechselstromwiderstand im Körper gemessen. Da die verschiedenen Körperorgane den Strom unterschiedlich leiten, kann fettfreie Masse von Fettmasse unterschieden werden. Nicht korrekt ist es – was in der Praxis häufig fi geschieht –, die extrazelluläre Masse zu errechnen oder gar Ernährungsempfehlungen aufgrund dieser Messmethode zu geben. Eine BIA-Messung lässt sich schnell durchführen; der Variationskoeffi ffizient beträgt ca. 3.
Infrarotspektrometrie und Lipometer Eine Lichtquelle sendet Licht mit Wellenlängen von ca. 1000 nm bzw. 660 nm in den Körper; die Eindringtiefe beträgt 1 cm bzw. 5 cm. Bei Adipösen wird die Anwendung dieser Methoden nicht empfohlen.
Duale »X-ray-Absorptionsmetrie« Von einer 153Gadolinium-Quelle ausgehende Photonen werden im Körper unterschiedlich abgeschwächt. Die Messung erfolgt auf einem Tisch, unter dem sich die Strahlenquelle befindet; fi der Detektor befi findet sich über dem Tisch. Mit der Methode können auch regionale Fettgehalte ermit-
252
21 22 23 24 25 26 27
Kapitel 40 · Ätiologie und Diagnostik der Adipositas
telt werden. Duale »X-ray-Absorptionsmetrie« (DEXA) hat sich in den letzten Jahren zu einer verlässlichen Standardmethode entwickelt.
Dichtemessung Bei der Hydrodensitometrie (Unterwasserwiegen) wird nach dem Archimedeschen Prinzip die Dichte des Körpers ermittelt; danach wird die Körperfettmasse errechnet. Die Messung ist aufwändig und wird von manchen Patienten nicht toleriert. Schneller und mit ähnlicher Präsizion lässt sich die Körperdichte mit der Air-displacement-Plethysmographie durchführen. Der Proband befindet fi sich bei der Messung in einer Kabine, wobei durch Oszillationen Druck- und Volumenänderungen entstehen und ausgewertet werden.
28
Computertomographie und Magnetresonanztomographie
29
32
Es werden Schnitte in Höhe der Lendenwirbelkörper 4/5 angefertigt. Unterscheiden lässt sich das Fett von anderen Organen; das Fett kann in subkutanes und intraabdominales (omentales, mesenteriales, peritoneales) diff fferenziert werden. Eine quantitave Auswertung wird mittels Planimetrie der Fettflächen vorgenommen. Eine Computertomografl phie (CT) beinhaltet eine Strahlenbelastung, eine Magnetresonanztomographie (MRT) nicht.
33
Weitere Methoden
34
Ganzkörperwasser kann mit einem Isotop (Deuterium, Sauerstoff ) gemessen werden und Ganzkörperkalium mit dem natürlichen Isotop 40K (der Kali-
30 31
36
umgehalt in der fettfreien Masse ist ziemlich konstant). Die genaueste, jedoch auch aufwändigste Methode, ist die In-vivo-Neutronenaktivierungsanalyse (IVNAA).
37
40.3.3
35
38 39 40
Diagnostik der Energieaufnahme
Eine Erfassung der Nahrungsaufnahme wird mit unterschiedlichen Zielen durchgeführt; die Folgenden sind gebräuchlich.
Ernährungsanamnese (diet history) Es handelt sich um ein strukturiertes Interview, bei dem retrospektiv Daten zur Ernährung gewonnen werden. Art und Menge von Lebensmitteln, Ernährungsgewohnheiten sowie Lebensumstände werden erfragt. In der Praxis erfolgt anhand eines standardisierten Fragebogens eine Ernährungserhebung, in der Reihenfolge und Häufi figkeit der Mahlzeiten und die Menge (haushaltsübliche Maße) der einzelnen Lebensmittel erfragt und vom Interviewer auf einem Formblatt festgehalten werden. Zudem werden die individuellen Ernährungsgewohnheiten, Ernährung an besonderen Tagen (wie beispielsweise Wochenende, Feierlichkeiten), saisonale Besonderheiten und soziale Gegebenheiten erfasst. Eine quantitative Auswertung kann wie beim Protokoll mithilfe von Nährwerttabellen oder ComputerSoft ftware erfolgen. Die Ernährungsanamnese kann durch einen sog. 24 h recalll ergänzt werden. Dabei wird die Nahrungsaufnahme des vergangenen Tages in allen Einzelheiten von einer Ernährungsberaterin erfragt; das Ergebnis kann auf standardisierten Formblättern festgehalten werden. Erfasst wird damit nur ein einzelner Tag, der allerdings repräsentativ für die übliche Ernährung sein muss.
Ernährungsprotokoll (food record) Eine Protokollierung der aufgenommenen Lebensmittel umgeht die Unzulänglichkeiten des Untersuchers. Grundprinzip ist die Aufzeichnung des aktuellen Nahrungsmittelverzehrs durch Eintragung in Formblätter/Tabellen. Erfasst werden ca. 100 übliche Nahrungsmittel und Getränke. Die quantitative Erfassung erfolgt in standardisierten Haushaltsmaßen in Form von Tassen, Esslöff ffeln, Scheiben, Stücken usw. Erhoben werden üblicherweise 7 Tage. Es können jedoch auch 2 Wochen oder nur 3 bzw. 4 Tage erfasst werden. Eine Auswertung der Protokollbögen kann mithilfe von Nährwerttabellen oder mittels einer speziellen Soft ftware erfolgen.
Verzehrshäufi figkeits(Food-frequency-) Tabellen Der Patient kreuzt auf einer Liste mit verschiedenen Lebensmitteln die Häufi figkeit des Verzehrs bestimmter Lebensmittel an. Der Th Therapeut besitzt eine zweite Tabelle, auf der eine Bewertung der Eintragung vorgenommen ist. In dieser zweiten Tabel-
253
40.3 Diagnostik der Adipositas
40
4000 2000
38%
47%
34%
adipös (B)
6000
2%
adipös (A)
8000
adipös
10000
normalgewichtig
Energieaufnahme und Energieverbrauch (MJ/d)
12000
0 . Abb. 40.5. Energieaufnahme (7-Tage-Protokoll, grau) und Energieverbrauch (doppelt markiertes Wasser, weiß) bei Normalgewichtigen und Adipösen (links; Prentice et al. 1986) sowie bei »diätresistenten« (A ( ) und unausgewählten Adipösen
(B) (rechts; Lichtman et al. 1992). Die Prozentzahlen geben die Diff fferenz von Angaben zur Energieaufnahme zur Messung des Energieverbrauchs wieder (underreporting)
le (durchsichtige Folie) sind die einzelnen Nennmöglichkeiten mit Ampelfarben unterlegt. Im Vergleich zum Ernährungsprotokoll haben die Foodfrequency-Tabellen den Vorteil, dass sie an den Patienten weniger Anforderungen hinsichtlich Zeit und Intelligenz stellen.
MET (metabolic equivalent)
Genauigkeit von Interviews, Fragebögen und Protokollen Der Hauptvorteil aller dieser Methoden liegt in der einfachen, schnellen und kostengünstigen Erhebung. Ein großes Problem ist jedoch die Validität. In großen Untersuchungs-Surveys konnte nämlich oft ft kein Zusammenhang zwischen der Energieaufnahme und dem Körpergewicht gefunden werden, obwohl diese beiden Größen – inzwischen gesichert – eng korrelieren. Adipöse unterschätzen im Unterschied zu Normalgewichtigen die Quantität von Nahrungsmitteln erheblich (underreporting). g In validen Studien gaben die Adipösen ca. 38 (Prentice et al. 1986) bzw. ca. 34‒47 (Lichtman et al. 1992) Nahrungsmittel zu wenig an (. Abb. 40.5).
40.3.4
Erfassung der körperlichen Aktivität
Die körperliche Aktivität wird mit zwei verschiedenen Messgrößen erfasst, dem metabolischen Äquivalent (metabolic equivalent, MET) und dem physcial activity levell (PAL).
1 MET entspricht dem Ruheenergieumsatz von 3,5 ml O2/kg Körpergewicht/Minute bzw. 1,2 kcal/ Minute. METs werden daher immer als Vielfaches des Ruheenergieverbrauchs angegeben. MET ist ein Maß für die akute Belastung. MET bei körperlichen Aktivitäten: 5 leichte Aktivität: > 3 MET (z. B. langsames Gehen) 5 moderate Aktivität: 3‒6 MET (z. B. Gehen mit 4–7 km/h) 5 schwere Aktivität: > 6 MET (z. B. Joggen)
PAL (physical activity level) 1 PAL entspricht dem Ruheenergieumsatz. Er dient vorwiegend zur Ermittlung des Gesamtenergieverbrauchs. PAL-Klassifi fikation bei körperlichen Aktvitäten: 5 sitzend: > 1‒1,4 5 wenig aktiv: < 1,4 bis < 1,6 5 aktiv: > 1,6 bis < 1,9 5 sehr aktiv: > 1,9 bis < 2,5 Beispiel: Gesamtenergieverbrauch bei einem 45jährigen Fließbandarbeiter mit BMI 29,3 kg/m2: 5 Ruheenergieumsatz 1908 kcal/Tag (gemessen) 5 8 Stunden Arbeit als Fließbandarbeiter mit 1,6 PAL 5 8 Stunden Freizeit mit 1,4 PAL 5 8 Stunden Schlaf mit 0,95 PAL
254
21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Kapitel 40 · Ätiologie und Diagnostik der Adipositas
Der Gesamt-PAL errechnet sich wie folgt: (8 × 1,6) + (8 × 1,4) + (8 × 0,95)/ 24 × Grundumsatz = 2518 kcal/Tag Fazit Eine spezifi fische Anamnese gibt Aufschluss über Ursachen und Therapiemöglichkeiten. Eine Ernährungsanalyse dient der Abschätzung der aufgenommenen Energiemenge (Art und Menge); exakte quantitative Angaben können bei Adipösen üblicherweise nicht erhalten werden. Die Ermittlung des BMI (Maß für die Körperfettmasse) und des Taillenumfangs (Maß für das viszerale Fett) sind Standarduntersuchungen bei jedem Übergewichtigen und Adipösen. Technische Untersuchungsmethoden geben Aufschluss über die globale und/oder regionale Körperzusammensetzung. Ihr Aufwand ist z. T. erheblich. Zur Ermittlung der Körperfettmasse gelten Densitometrie, DEXA, Ganzkörperwasser- sowie -kaliumbestimmung als klassische Methoden. Die viszerale Fettmasse kann präzise mit der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie bestimmt werden. Bei raschen Gewichtsänderungen versagen viele Methoden, insbesondere die bioelektrische Impedanzanalyse und die Infrarotmethode. Gründe für die Entstehung einer Adipositas sind: genetische Prädispostion, Fehlernährung, körperliche Inaktivität, Essstörungen, Pharmaka und Krankheiten. Eine Fehlernährung besteht häufig fi in Form einer energiedichten Kost und/oder großen Essmengen. Adipogene Pharmaka sind vorwiegend Psychopharmaka, Antidiabetika und Kortison.
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41 Epidemiologie der Adipositas Susanne Wiesner 41.1
Indizenz und Prävalenz der Adipositas weltweit – 255
41.2
Inzidenz und Prävalenz der Adipositas in Deutschland – 255
Anfang der 1990er Jahre untersuchte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Eignung anthropometrischer Parameter hinsichtlich der Diagnostik von Malnutrition. Die hierbei verwendete Klassifikation fi des Body-Mass-Index (BMI) mit den defi finierten Grenzwerten für Untergewicht ≤ 18,5 kg/m2, Übergewicht ≥ 25 kg/m2 und Adipositas ≥ 30 kg/m2 etablierte sich in den 1980er Jahren auf der Grundlage detaillierter Morbiditäts- und Mortalitätsanalysen aus Lebensversicherungspolicen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien durch James und Mitarbeiter (2006) sowie der Simplifikation fi durch Garrow (1981) für den klinischen Gebrauch. Zu dieser Zeit wurde die Adipositas als Gesundheitsproblem nicht wahrgenommen. Im Anthropometrie-Report der WHO von 1995 wurde überraschenderweise eine hohe Prävalenz von Übergewicht und Adipositas der erwachsenen Bevölkerung Lateinamerikas, der Karibik, Nordafrikas und Asiens festgestellt, untergewichtige Erwachsene lebten dagegen fast ausschließlich in den Kriegsgebieten von Afrika und den ländlichen Regionen Asiens. ! Globale Prävalenz von Übergewicht und Adipositas 1 Mrd. Menschen sind übergewichtig und 300 Mio. Menschen adipös. Heute ist der Anteil übergewichtiger Menschen weltweit größer als der Anteil untergewichtiger Menschen.
41.3
41.1
Inzidenz und Prävalenz der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – 257
Indizenz und Prävalenz der Adipositas weltweit
Die Prävalenz der Adipositas variiert weltweit deutlich zwischen verschiedenen Kontinenten, Ländern und Regionen (Stadt, ländliche Gegenden) von 80 in Nauru (Süd-Ost-Asien, pazifi fische Region), 37 im Libanon (Mittelmeerregion), 32 in den USA (Nordamerika), 25 in Tschechien (Europa) bis 19 in Südafrika (afrikanischer Kontinent). In den Vereinigten Staaten betrug der Anteil Adipöser 1991 bereits 12. Innerhalb von nur 15 Jahren verdreifachte sich die Adipositasprävalenz auf aktuell 32. Wirtschaft ftlich schnell wachsende Regionen in Asien (China, Indien) und Afrika (Ghana), in denen noch vor 30 Jahren große Teile der Bevölkerung von Malnutrition betroffen ff waren, zeigen extreme Inzidenzraten für Übergewicht und Adipositas, besonders in den urbanen Regionen.
41.2
Inzidenz und Prävalenz der Adipositas in Deutschland
Der erste repräsentative Nationale UntersuchungsSurvey (NUST0) zur Beurteilung der Häufigkeit fi von Übergewicht/Adipositas wurde in den alten Bundesländern im Rahmen der Deutschen HerzKreislauf-Präventionsstudie von 1984‒1986 durchgeführt (n = 4790; Alter 25‒69 Jahre) und war auf den Bereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen fokussiert. Zwei weitere Surveys (NUST1, NUST2), ebenfalls repräsentativ für die alten Bundesländer, fanden 1987/88 und 1990/91 statt (n = 5335 bzw. 5311; Alter 25‒69 Jahre). 1991/92 erfolgte der Gesund-
41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
$GLS¸VHGHXWVFKH(UZDFKVHQHLQ
256
Kapitel 41 · Epidemiologie der Adipositas
1867
1867
%*6
*67HO
6XUYH\V . Abb. 41.1. Adipositasprävalenz in Deutschland. Männer hellgrau, Frauen dunkelgrau; NUSTT0 (1985): Daten der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie 1984–1986 (n = 4790; Alter 25–69 Jahre), NUSTT2 (1995): Nachuntersuchungszeitraum von Studie 1 1990–1991, BGS98: Daten des German National Health Interview and Examination Surveyy 1998 (n = 7124;
Alter: 18–79 Jahre) (Anmerkung: 1 und 2 nur Westdeutschland, 3 West- und Ostdeutschland), GSTel03: Daten des telefonischen Gesundheits-Survey 2003 (n = 7124; Alter: 18–79 Jahre); Daten mit Korrekturformel adjustiert entsprechend dem Unterschied von gefragten und gemessenen Parametern (Körpergewicht, Körperhöhe)
heits-Survey Ost (n = 2617; Alter 18‒79 Jahre). Die erste gesamtdeutsche Erhebung mit deutlich ausgeweitetem Th Themenspektrum stellte der BundesGesundheits-Survey 1998 (BGS98) dar (n = 7124; Alter 18‒79 Jahre). Die aktuellsten Daten zur Adipositasprävalenz in Deutschland liegen aus dem telefonischen Gesundheits-Survey von 2003 (GSTel03) vor (. Abb. 41.1). Die Ergebnisse des Mikrozensus 1999 und des Bundes-Gesundheits-Survey 1998 wiesen nach, dass nur ein Drittel der männlichen erwachsenen Bevölkerung und 45 der Frauen als normalgewichtig zu klassifizieren fi sind. Im Mittel wurden 21 der Erwachsenen im Alter von 18‒79 Jahren als adipös beobachtet; dabei stieg das durchschnittliche Körpergewicht mit zunehmendem Alter deutlich an. Bei den sehr jungen Frauen hat sich die Adipositasprävalenz im Vergleich zu 1984 verdoppelt. Zwischen 1991 und 1998 stieg der Anteil adipöser Männer (25‒69 Jahre) von 17,4 auf 19,4 in den alten und von 19,6 auf 20,9 in den neuen Bundesländern, der Anteil adipöser Frauen (25‒69 Jahre) stieg von 19,6 auf 20,9 in den alten und sank von 25,8 auf 24,2 in den neuen Bundesländern. Ähnliche Resultate lieferten das MONICA-Projekt (Monitoring of International Trends and Deter-
minants in Cardiovascular Diseases; 1989‒1990; n = 3893; Alter: 25‒74 Jahre; Männer BMI ≥ 30 kg/ m2: 14,1; Frauen BMI ≥ 30 kg/m2: 20,6) sowie die VERA-Studie (Verbundstudie Ernährung und Risikofaktorenanalytik; 1987‒1988; n = 2006; Alter > 18 Jahre). Bei den veröffentlichten ff Daten wurde nur vereinzelt hinsichtlich Häufi figkeit der Adipositas Grad III differenziert. ff Beim VERA-Kollektiv fand man bei 0,4 der Untersuchten einen BMI ≥ 40 kg/ ft 1‒1,4 der deutschen Erwachm2. Aktuell dürften senen schwerst adipös sein. ! Adipositashäufigkeit fi in Deutschland Seit 1985 ist die Adipositas in Deutschland um ca. 6% angestiegen. Die Adipositas Grad III hat sich dabei mehr als verdoppelt. In Deutschland leben schätzungsweise ca. 1 Mio. Menschen mit mehr als 120 kg Körpergewicht.
Die meisten Übergewichtigen/Adipösen leben in Thüringen, Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern. Die niedrigsten Anteile Übergewichtiger/Adipöser weisen die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin auf. Die Häufigkeit fi der Adipositas korreliert mit der sozialen Schicht.
41.3 Inzidenz und Prävalenz der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen . . .
257
41
z in der jeweiligen . Abb. 41.2. Anteil der Männer (links) und Frauen (rechts) mit Übergewicht (grau) bzw. Adipositas (schwarz) Altersgruppe, Angaben in Prozent. (Quelle: Robert-Koch-Institut, BGS 98, mit freundlicher Genehmigung)
41.3
Inzidenz und Prävalenz der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Bei Kindern erfolgt die Einteilung von Normal- , Übergewicht und Adipositas nach den Perzentilkurven des BMI. Im Sinne von Übergewicht ist hier das Überschreiten der 90. Perzentile und im Sinne von Adipositas das Überschreiten der 97. Perzentile definiert fi (Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ft Adipositas im Kindes- und Jugendalter 2001). So waren im Jahr 1998 im Land Brandenburg 14,2 der weiblichen und 11,4 der männlichen Schulanfänger adipös. Auch hier konnte der Einfluss der sozialen Schicht auf die Adipositasprävafl lenz nachgewiesen werden. 16,1 der Mädchen mit sozial niederem Status, aber nur 10,4 der Mädchen mit sozial hohem Status waren in dieser Erhebung von Adipositas betroffen. ff Daten aus Leipziger Kinderarztpraxen (Projekt CrescNet) zeigten für 2000/2001, dass 7 der Jungen und 7,5 der Mädchen hinsichtlich ihrer Körpergewichts-Längen-Indizes oberhalb der 97. BMIPerzentile lagen. Die aktuellste Untersuchung zur Verbreitung von Übergewicht und Adipositas stellt der Kinder-
und Jugend-Survey (KIGGS) dar, der zwischen 2003 und 2006 vom Robert-Koch-Institut durchgeführt wurde. An dieser Studie nahmen 17.641 Kinder und Jugendliche teil. 15 der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3‒17 Jahren sind übergewichtig, 6,3 adipös. Im Alter von 3‒6 Jahren sind 2,9, im Alter von 7‒10 Jahren 6,4 und im Alter von 14‒17 Jahren 8,5 adipös. Vergleicht man diese Ergebnisse
. Abb. 41.3. Adipositasprävalenz in Deutschland in Abhängigkeit von der sozialen Schicht bei 18- bis 79-jährigen Frauen (schwarz) z und Männern (grau), Angaben in Prozent. (Quelle: Robert-Koch-Institut, BGS 98, mit freundlicher Genehmigung)
258
Kapitel 41 · Epidemiologie der Adipositas
41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
. Abb. 41.4. 90. und 97. Perzentile des BMI nach Alter und Geschlecht nach Kromeyer-Hauschild. (Aus Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter 2001, mit freundlicher Genehmigung)
mit Erhebungen aus den 1980er und 1990er Jahren, hat sich Übergewicht (einschließlich Adipositas) bei Kindern und Jugendlichen verdoppelt. Im Alter zwischen 14 und 17 Jahren hat sich der Anteil adipöser Jugendlicher sogar verdreifacht. Risikogruppen stellen auch hier Kinder aus Familien mit sozial niedrigem Status, mit Migrationshintergrund und Kinder von übergewichtigen/ adipösen Müttern dar. Insgesamt muss aber festgestellt werden, dass die Übergewichtigkeit, wenn auch auf unterschiedlichem Ausgangsniveau, über alle sozialen Schichten hinweg zugenommen hat. Ein signifikanter fi Unterschied der Übergewichtsund Adipositashäufigkeit fi für Ost und West, wie er immer noch für die Erwachsenen besteht, konnte in dieser Untersuchung nicht mehr festgestellt werden. ! Adipositashäufigkeit fi im Kindesalter in Deutschland Je nach Alter, Geschlecht, sozialem Status und Region sind ca. 10–20% der Schulkinder als übergewichtig/adipös einzustufen. Seit 1980 hat sich somit die Übergewichtigkeit bei Kindern verdoppelt.
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42 Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz Petra Warschburger 42.1
Defi finition und Verbreitung von Adipositas – 259
42.3
Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten ff – 260
42.2
Soziale Diskriminierung, Hänseleien und Adipositas – 260
42.4
Lebensqualität – 262
42.5
Stellenwert der psychischen Faktoren – 263
Adipositas in Kindheit und Adoleszenz war lange Zeit ein vernachlässigtes Th Thema. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich dabei keinesfalls um ein vorübergehendes oder gar minder schwer wiegendes Phänomen handelt. Gerade die psychosozialen Aspekte der Adipositas spielen in Kindheit und Adoleszenz eine wichtige Rolle und stehen für die Betroff ffenen im Vordergrund. Sie haben nicht nur Einfluss fl auf die Inanspruchnahme von Interventionsangeboten, sondern beeinflussen fl auch deren Verlauf.
42.1
Defi finition und Verbreitung von Adipositas
Adipositas bezeichnet einen übermäßigen, relativen Körperfettanteil, der mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität einhergeht. Geschätzt wird dieser über den Body-Mass-Index (BMI). Bei der Festlegung von kritischen BMI-Werten für Kinder und Jugendliche müssen deren Wachstum und Pubertätsentwicklung berücksichtigt werden. Dies erfolgt mithilfe von alters- und geschlechtsbezogenen BMI-Perzentilkurven. ! Als Kriterium für die Festlegung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen haben sich geschlechts- und altersbezogene BMI-Perzentile etabliert. Empfohlen wird hier die Verwendung der 97. Perzentile zur Defi finition von Adipositas.
International wird teilweise auch die 95. Perzentile herangezogen. Übergewicht bezeichnet BMI-Werte oberhalb der 90. und unterhalb der 97. Perzentile.
Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas ist in unserer Gesellschaft ft sehr hoch. Nach den aktuellen Daten einer repräsentativen deutschlandweiten Studie sind 8,7 der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen übergewichtig und 6,3 adipös. Damit sind 1,9 Mio. Kinder und Jugendliche in Deutschland betroffen. ff Nach Alter ausdiff fferenziert zeigt sich, dass mit dem Schuleintritt ein deutlicher Anstieg der Verbreitung zu verzeichnen ist. Mädchen und Jungen unterscheiden sich nicht nennenswert in ihrer Betroffenheit. ff Wie auch im Erwachsenenalter fi findet sich bei Kindern und Adoleszenten eine höhere Verbreitung in den unteren sozialen Schichten; Migration sowie Übergewicht/Adipositas in der Familie waren mit einer höheren Verbreitung verbunden. Im Vergleich zu vorliegenden Daten aus den 1970er bis 1990er Jahren lässt sich ein Anstieg der Verbreitung feststellen. Erschreckend ist hierbei auch die Beobachtung, dass sich die BMI-Perzentilwerte zur Defi finition von Übergewicht und Adipositas weiter nach oben verschoben haben.
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42.2
Kapitel 42 · Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz
Soziale Diskriminierung, Hänseleien und Adipositas
Adipositas kann man nicht verbergen. Die körperliche Erscheinung wird von anderen bewertet, und es werden weit reichende Schlussfolgerungen auf andere Attribute und Persönlichkeitsmerkmale der Person gezogen. Bereits bei Vorschulkindern fi finden sich Assoziationen wie »dumm, faul und unbeliebt«, wenn ihnen Körpersilhouetten von übergewichtigen und adipösen Kindern vorgelegt werden. Dies verdeutlicht, dass bereits in einem sehr jungen Alter solche Bewertungen internalisiert werden. Die negative soziale Bewertung von Personen mit Übergewicht und Adipositas ist aber nicht – angesichts der zunehmenden Verbreitung – rückläufig, sondern es konnte im Gegenteil gezeigt werden, dass in den letzten 40 Jahren die Ablehnung von adipösen Personen in unserer Gesellschaft ft noch weiter angestiegen ist und Adipositas sogar mit negativeren Attributen als andere körperliche Einschränkungen verbunden ist. Daher ist es wohl nicht verwunderlich, dass im klinischen Kontext immer wieder die vermehrte soziale Ausgrenzung als wesentlicher Leidensfaktor und Motiv für eine Behandlungsaufnahme genannt wird. Soziale Diskriminierung äußert sich im Kindes- und Jugendalter v. a. in Form von Hänseleien. Hänseln gilt als ein fester Bestandteil des sozialen Lebens fast aller Kinder und wird überwiegend definiert fi als eine absichtliche Provokation, welche sich auf ein relevantes Merkmal des »Opfers« bezieht und von spielerischen Hinweisen begleitet wird. Darüber hinaus sind Hänseleien oft ft durch Übertreibungen und Mehrdeutigkeit charakterisiert. In der Forschungsliteratur wird oftmals ft auch von »Bullying« gesprochen, das neben den verbalen Angriffen ff auch körperliche Formen der sozialen Ausgrenzung direkter (z. B. schubsen) oder indirekter Art (z. B. jemandem den Zutritt zu einer Gruppe verwehren) beinhaltet. Studien haben immer wieder gezeigt, dass Übergewichtige und Adipöse häufi figer über Hänsel- und/oder BullyingErfahrungen berichten, als dies normalgewichtige Kinder und Jugendliche tun. Ein besonders neuralgischer Bereich scheinen die negativen Kommentare und sonstigen Hänselerfahrungen im Sportunterricht und bei körperlichen Aktivitäten zu sein, die dann wiederum zu einer generell verminder-
ten Aktivität beitragen (Teufelskreis von negativen Kommentaren und immer stärker werdenden Defifi ziten und Unlust im Bereich der sportlichen Aktivität). Die Feststellung, dass adipöse Kinder und Jugendliche häufi figer Opfer von v. a. gewichtsbezogenen Hänseleien sind, gibt nur einen Teil der Situation wieder: Gerade adipöse Jungen scheinen ihrerseits auch selbst häufi fig Hänseleien zu initiieren. Einschränkend muss hier allerdings festgehalten werden, dass nur in wenigen Studien die Hänselerfahrungen detailliert erfasst wurden und die Daten auf (retrospektiven) Selbstberichten der Kinder und Jugendlichen beruhen; Beobachtungsdaten liegen nicht vor. ! Hänselerfahrungen machen alle Kinder. Sie treten bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen gehäuft auf und zentrieren v. a. immer wieder um das gleiche Thema. Für das psychosoziale Wohlbefinden fi ist der Umgang mit solchen Situationen, die Coping-Strategien, entscheidend.
Persistierende Hänseleien haben negative Auswirkungen auf das körperliche und psychosoziale Wohlbefinden fi und führen zur Beeinträchtigung der Lebensqualität, zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und der eigenen Person sowie dem Auft ftreten von Gewichtskontrollmechanismen. Erste Untersuchungen zeigen, dass adipöse Kinder und Jugendliche oftmals ft über mehr Einsamkeit klagen und im sozialen Kontext eher ausgegrenzt sind. Die Wirkung von Hänseleien auf die psychosoziale Befi findlichkeit wird wesentlich durch das Selbstwertgefühl der Kinder und durch soziale Ressourcen mediiert.
42.3
Psychische Störungen und Verhaltensauff ffälligkeiten
Zur Frage der psychischen Morbidität bei adipösen Kindern und Adoleszenten (. Übersicht) liegen bislang nur sehr wenige, gut kontrollierte Studien mit angemessenen Kontrollgruppen vor. Oftmals ft wurden die Daten mit den Normwerten der verwandten Fragebogeninstrumente verglichen oder gar keine Kontrollgruppe herangezogen. Viele Studien haben auch nur die Mittelwerte auf den jewei-
42.3 Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten ff
ligen Verfahren verglichen ohne Angaben dazu zu machen, wie hoch der Prozentsatz der klinisch auffälligen Kinder und Jugendlichen ist. Da sich die Studien zudem nicht nur sehr stark in den zugrunde liegenden Stichproben, sondern auch in den verwandten Instrumenten unterscheiden, sind verallgemeinernde Schlussfolgerungen nur sehr schwer zu ziehen. Diskutierte psychische Störungen und Verhaltensauff ffälligkeiten 5 5 5 5 5 5
Affektive ff Störungen Angststörungen Essstörungen, v. a. Binge-Eating-Störung Geringer Selbstwert Negatives Körperbild Gehäufte Suizidgedanken
Das Auft ftreten von Depression wurde am häufigsten untersucht. Die Befundlage hierzu ist sehr inkonsistent. Neuere Analysen deuten darauf hin, dass in schulischen Stichproben adipöser Kinder und Jugendlicher geringfügige Zusammenhänge zu finden fi sind. Einige Autoren sprechen auch von »Unglücklichsein«, da zwar im Mittel erhöhte Werte gefunden wurden, diese aber eher in Richtung einer depressiven Verstimmtheit denn einer klinisch relevanten Störung zu interpretieren sind. Diesem Bild widersprechen die Untersuchungen, die mit klinischen Gruppen durchgeführt wurden und auf erhöhte Depressions-Scores hindeuten. Die Angaben zu den Prävalenzraten schwanken dabei erheblich mit Werten zwischen 10 bis zu 40 bei stark adipösen Jugendlichen. Vergleichbar uneinheitlich ist die Situation bezogen auf die Angststörungen. Die Erhebungen erfolgten i. d. R. nicht mit klinischen Interviews, sondern mit allgemeinen Fragebögen zum Screening von Verhaltensauffälligkeiten. ff Nur die klinischen Gruppen erwiesen sich als auffälliger; ff bei adipösen Kindern und Adoleszenten, die in der Normalbevölkerung gewonnen wurden, ergaben sich lediglich höhere Werte im sog. internalisierenden Bereich. Beim Vergleich von verschiedenen Krankheitsgruppen (hier liegen v. a. Daten zu Asthma, Diabetes und Neurodermitis) vor, sind die höchsten Angstwerte bei der Gruppe der adi-
261
42
pösen Kinder und Jugendlichen festzustellen, v. a. im Bereich der sozialen Angst. Bislang liegen zur Prävalenz der Binge-EatingStörung (BES) bei adipösen Kindern und Jugendlichen noch relativ wenige Daten vor. Generell hat sich jedoch gezeigt, dass die Prävalenz der BES im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen erhöht ist. In schulischen Stichproben wird die Prävalenz der BES mit 1‒3 angegeben; klare Geschlechtsunterschiede, wie sie bei Bulimie und Anorexie zu beobachten sind, scheinen eher zu fehlen. Deutlich höher sind die Angaben zur Verbreitung der BES bei adipösen Kindern und Jugendlichen: Hier schwanken die Angaben zwischen 5 und 20, bei extrem adipösen Kindern und Jugendlichen wurden sogar Raten um 40 ermittelt. Das Vorliegen einer BES ist insofern von besonderer Bedeutung, da eine erhöhte Komorbidität auch anderer psychischer Störungen und Auffälff ligkeiten vorhanden ist. Im Vergleich mit »rein adipösen Kindern und Jugendlichen« weisen die Kinder und Jugendlichen mit einer BES eine erhöhte Rate an Angststörungen und affektiven ff Störungen, ein vermindertes Selbstwertgefühl, ein negativeres Körperbild, geringere Problemlösefertigkeiten und ein gestörteres Essverhalten auf. Das Vorliegen von Essattacken scheint bei Kindern mit einem hohen Adipositasrisiko (d. h. solche, deren Eltern bereits adipös sind) die Entwicklung von Adipositas vorherzusagen. Hinweise auf eine generelle Selbstwertproblematik im Sinne einer globalen Minderung der Selbstakzeptanz ließen sich in empirischen Studien nicht fi finden. Mit dem Alter nehmen allerdings die Selbstwertprobleme zu, und dementsprechend sind diese v. a. bei den Adoleszenten zu finden. fi Wird eine Diff fferenzierung nach einzelnen Dimensionen des Selbstkonzepts vorgenommen, so zeigt sich ein negativeres Selbstkonzept v. a. im Bereich der körperlichen Aktivität und Attraktivität. Solche Beobachtungen treffen ff nicht nur auf die klinischen Gruppen zu. Noch relativ unklar ist, ob es zu einer Häufung von Suiziden oder dem verstärkten Auftreten ft von Suizidgedanken unter adipösen Adoleszenten kommt. In klinischen Gruppen sollte die Suizidgefährdung jedoch auch aufgrund der hohen Komorbidität mit den aff ffektiven Störungen berücksichtigt werden.
262
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Kapitel 42 · Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz
Fazit Die Mehrzahl der adipösen Kinder und Jugendlichen sind nicht von klinisch relevanten Störungen betroffen. ff Mit dem Auftreten von klinisch relevanten Störungen ist v. a. in klinischen Gruppen zu rechnen, die wegen ihrer Gewichtsprobleme um Hilfe nachsuchen. In nichtklinischen Gruppen ist die Auftretenswahrscheinlichkeit mit der von normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen vergleichbar. Einschränkend muss hier allerdings festgehalten werden, dass sich in klinischen Gruppen die deutlich stärker adipösen Kinder und Jugendlichen befinden fi (oftmals mit BMI-Werten > 40), sodass u. U. auch der Schweregrad der Adipositas eine Rolle zu spielen vermag. Ein weiteres Problem der uneinheitlichen Befundlage mag darin bestehen, dass nicht danach diff fferenziert wurde, ob BES-Patienten in die Untersuchung einbezogen wurden, die dann die Rate für psychische Störungen erhöhen. Bezogen auf chronische Erkrankungen im Allgemeinen konnte gezeigt werden, dass mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Belastungsreaktionen auf die – objektiv betrachtet – vergleichbare Situation reagiert wird. Auch unterscheiden sich viele Krankheitsbilder nicht so sehr in ihrem damit verbundenem Belastungserleben, sodass es durchaus gerechtfertigt erscheint, Analogieschlüsse zu ziehen. Generell scheinen Krankheitsmerkmale wie Schwere oder Dauer der Erkrankung nur wenig bedeutsam zu sein, wohingegen Merkmale des Kindes wie seine Intelligenz, sein Bewältigungsverhalten sowie sein Selbstkonzept und die familiäre Umgebung wie Belastung der Eltern oder familiärer Zusammenhalt einen großen Einfl fluss haben. Gerade zur Rolle der Familie liegen im Bereich der Belastungsforschung bei Adipositas bislang keine Erkenntnisse vor.
58 59 60
42.4
Lebensqualität
In den letzten Jahren hat die Lebensqualitätsforschung eine hohe Verbreitung in der Pädiatrie gefunden. Die Lebensqualitätsforschung trägt
einerseits der Tatsache Rechnung, dass viele der Auffälligkeiten ff im subklinischen Bereich liegen, und andererseits wird bewusst die Sicht der Betroffenen berücksichtigt. ! Defi finition: Gesundheitsbezogene Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das das körperliche, psychische und soziale Befinden fi und die Funktionsfähigkeit einer Person in wichtigen Aktivitäten des Alltags umfasst. Es basiert i. d. R. auf den subjektiven Einschätzungen der Betroff ffenen und bezieht sich nicht auf objektive Indikatoren des Gesundheitszustands.
In mehreren groß angelegten Studien konnte gezeigt werden, dass die Lebensqualität adipöser und übergewichtiger Kinder und Jugendlicher im Vergleich zu ihren normalgewichtigen Alters- und Geschlechtsgenossen vermindert ist. Dies konnte bereits für Vorschulkinder festgestellt werden. Interessanterweise zeigt sich generell, dass die adipösen Kinder und Adoleszenten ihre eigene Situation positiver einschätzen, als dies ihre Eltern tun. Die Einschränkungen werden v. a. im Bereich der sozialen Befi findlichkeit und der körperlichen Funktionsfähigkeit berichtet, während die Auswirkungen auf den emotionalen und schulischen Bereich eher umstritten sind. Diese Einschränkungen finden fi sich im Gegensatz zu den psychischen Störungen auch in schulischen Stichproben, wobei diese allerdings hier nicht so ausgeprägt und verbreitet sind wie in klinischen Stichproben. Legt man die Gruppe der adipösen Kinder und Jugendlichen in Behandlung zugrunde, ergeben sich im Vergleich zu anderen medizinischen Krankheitsbildern (wie Asthma, Neurodermitis, Krebs) geringere Lebensqualitätswerte. Dies deutet darauf hin, dass gerade die adipösen Kinder und Jugendlichen besonders hohen Belastungen ausgesetzt sind. Relativ gering ist das derzeitige Wissen über die Prädiktoren einer geringen Lebensqualität. Es zeichnet sich ab, dass neben dem Vorhandensein depressiver Symptome v. a. auch die soziale Unterstützung und der Coping-Stil sowie der sozioökonomische Status eine Rolle spielen. Umstritten ist die Rolle des Grades des Übergewichts, da hier oftft mals eine Konfundierung mit dem klinischen Status vorliegt.
263
42.5 Stellenwert der psychischen Faktoren
Generell sinkt die Lebensqualität in der Adoleszenz ab – dieser Effekt ff ist auch für die adipösen Adoleszenten zu beobachten. Gerade im Jugendalter zeigen sich die Belastungen durch die Adipositas oftmals ft besonders deutlich, da die eigene körperliche Erscheinung und Attraktivität ebenso wie die Meinung der Gleichaltrigen an Bedeutung gewinnt.
42.5
Stellenwert der psychischen Faktoren
Eine intensiv diskutierte Fragestellung ist, ob die psychosozialen Auff ffälligkeiten eine Rolle bei der Entwicklung von Adipositas spielen oder ob sie Folge z. B. der damit verbundenen gesellschaftlichen ft Stigmatisierung sind. Die Mehrzahl der bisherigen Befunde liefert Hinweise, dass die psychischen Störungen und psychosozialen Belastungen Folge der Adipositas sind. In diese Richtung deuten auch Befunde, dass mit einer erfolgreichen Gewichtsreduktion die psychosozialen Beeinträchtigungen gemindert werden können. Bei vielen Studien handelt es sich jedoch um reine Querschnittstudien, die retrospektiv die zeitliche Abfolge von Adipositas und psychischen Auff ffälligkeiten erfassten. In jüngster Zeit liegen jedoch einige wenige Langzeituntersuchungen vor, die darauf hindeuten, dass – zumindest bei einer Teilgruppe ‒ ein umgekehrter zeitlicher Zusammenhang besteht. In diesen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen kindlicher Depression und dem BMI-Status im Erwachsenenalter gefunden; andere prospektive Studien konnten aber auch die umgekehrte zeitliche Abfolge feststellen. Die Dauer der depressiven Erkrankung bzw. der Adipositas scheint in beiden Fällen von Bedeutung zu sein. Obwohl eine Reihe von Risikofaktoren kontrolliert wurde, ist die Befundlage noch nicht ganz eindeutig. Ausgeprägte psychosoziale Probleme können auf der einen Seite die Motivation für die Inanspruchnahme einer Intervention steigern, auf der anderen Seite einen geringeren Gewichtsverlust im Zuge einer Intervention prädizieren. So verhindert eine hohe Belastung eine ausreichende Compliance bei der Umsetzung von Gewichtsreduktionsmaßnahmen und gefährdet damit den Therapieerfolg. Psychosoziale Aspekte sollten daher stets im Rah-
42
men der Intervention berücksichtigt werden. Bei der Anamnese ist abzuklären, ob eine klinisch relevante Störung vorliegt, die begleitend oder im Vorfeld behandelt werden sollte. Vor allem bei Vorliegen einer depressiven Erkrankung sollte diese nach klinischen Erfahrungen zuerst behandelt werden. Fazit Adipositas ist in Kindheit und Adoleszenz bereits sehr weit verbreitet und immer noch im Anstieg begriff ffen. Das psychosoziale Belastungspotenzial scheint angesichts der hohen Sichtbarkeit und der hohen Verantwortungszuschreibung, die mit Adipositas verbunden sind, enorm. Zahlreiche Studien konnten denn auch zeigen, dass ein höheres Gewicht mit negativeren Attributen verbunden ist und sich dies in realen Diskriminierungserfahrungen für die Betroff ffenen niederschlägt. Diese sozialen Ausgrenzungserfahrungen, die ein Großteil der adipösen Kinder und Adoleszenten erfährt, scheinen jedoch nicht in jedem Fall mit einer erhöhten Rate an psychischen Auffälff ligkeiten und Störungen verbunden zu sein. Möglicherweise sind auch viele Belastungen nicht im klinischen Bereich zu finden, sondern haben eher eine subklinische Ausprägung. In diese Richtung deuten die Studien zur Lebensqualität, die insgesamt auf eine verminderte Lebensqualität hindeuten – auch bei Kindern im nichtklinischen Setting. Generell lässt sich jedoch festhalten, dass Kinder und Adoleszente mit Adipositas eine sehr heterogene Gruppe sind, die sich in vielen relevanten Variablen unterscheiden. Die erfahrene soziale Unterstützung und das eigene Selbstwertempfinden fi spielen eine wichtige Rolle als vermittelnde Variablen. Bei der Planung und Umsetzung von Interventionsmaßnahmen für adipöse Kinder und Jugendliche darf die psychosoziale Komponente nicht außer Acht gelassen werden. Das Erfahren von Hänseleien und der Umgang mit solchen Erfahrungen sollte in die Behandlungsprogramme integriert werden.
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Kapitel 42 · Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz
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43 Genetische Aspekte der Adipositas Helge Frieling, Anke Hinney und Stefan Bleich 43.1
Zwillings- und Adoptionsstudien
43.2
Tiermodelle
43.3
Monogenetische Erkrankungen
43.4
– 265
43.5
Assoziationsstudien – 268
43.5.1 Mögliche Kandidatengene – 268 43.5.2 Melanokortinrezeptor 4 – 269
– 266 – 266
Linkage-Analysen – 266
Die Ätiologie der Adipositas wird durch zahlreiche Aspekte bestimmt, die sich am ehesten den Bereichen der sozialen Umwelt, der stofflichen ffl Umwelt, des Verhaltens und der biologischen Disposition zuordnen lassen. Soziale Umweltfaktoren, wie Werbung oder Konsumdruck, und stoffliche ffl Umweltfaktoren, wie Fortbewegungsmittel, Architektur und die ständige Verfügbarkeit von Nahrung, haben eine »obesiogene« Umwelt geschaffen, ff die dick machende Verhaltensweisen wie den Verzehr großer Mahlzeiten, weniger Bewegung oder viel Zeit vor Fernseher, Computer oder Spielekonsole fördert. Diese Umwelt- und Verhaltensfaktoren haben jedoch unterschiedliche Effekte ff bei verschiedenen Menschen; sie führen nicht bei allen, wenngleich bei vielen, zu einem Anstieg des Körpergewichts. Die individuelle Prädisposition für Adipositas ist zu weiten Teilen erblich bedingt. Am eindrücklichsten konnte dieser Fakt durch drei experimentelle Studien an Zwillingen belegt werden. In einer Studie erhielten Zwillingspaare mit der Nahrung gezielt eine zu hohe Energiezufuhr, in zwei weiteren Studien eine zu niedrige. Diese Studien konnten konsistent zeigen, dass es Gruppen von sehr stark zu- bzw. abnehmenden Probanden gab, von solchen, die kaum mit dem Körpergewicht reagierten und einer intermediären Gruppe mit moderaten Gewinnen oder Verlusten. Die Tatsache, dass nahezu alle Zwillingspaare der gleichen Gruppe angehörten und sehr vergleichbar auf das unterschiedliche Energieangebot reagierten, spricht für eine starke erbliche Komponente.
43.6
Genomweite Assoziationsstudien – 269
43.6.1 Insulinaktiviertes Gen 2 (INSIG-2) – 270 43.6.2 Fat mass and obesity associated gene – 270
Der Versuch, die molekulare Basis für diese Erblichkeit aufzuklären, hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Der komplexe Phänotyp der Adipositas kann durch eine ganze Reihe von monogenen und v. a. polygenen Genotypen bedingt sein. Da es sich beim Körpergewicht darüber hinaus um eine stetige Variable handelt, die sich auf einem Kontinuum zwischen normalen und pathologischen Werten bewegt, ist eine Untersuchung möglicher genetischer Einflussfaktoren fl zusätzlich erschwert. Gene mit kleinen Effekten ff können bei einer (arbiträren) Dichotomisierung in normal/adipös übersehen werden. Daher sind für die Untersuchung der genetischen Basis des Übergewichts nicht nur »klassische« Fall-Kontroll-Studien in allen ihren Formen zielführend, sondern auch populationsbasierte Studien mit dem Körpergewicht bzw. dem Body-Mass-Index (BMI) als wichtigsten Zielvariablen.
43.1
Zwillings- und Adoptionsstudien
Es existiert eine große Anzahl von Zwillings- und Adoptionsstudien, nach denen sich der erbliche Anteil an Körpergewicht und Fettmasse auf etwa 64‒80 beziff ffern lässt. Untersuchungen an adoptierten Zwillingen, die getrennt von einander aufwuchsen, zeigten einen engen Zusammenhang zwischen dem BMI der Kinder und dem der leiblichen Eltern, aber kaum einen Zusammenhang mit dem BMI der Adoptiveltern. Die Häufigkeit fi von Adi-
266
41 42 43 44
Kapitel 43 · Genetische Aspekte der Adipositas
positas war ebenso nur zwischen leiblichen Eltern und Kindern vergleichbar. Weitere Zwillingsstudien konnten darüber hinaus die erblichen Anteile sowohl an physikalischen Parametern der Energieverwertung (z. B. Grundumsatz, Thermogenese und Energieverbauch bei leichter und mittlerer körperlicher Anstrengung) als auch an der habituellen physischen Aktivität belegen.
Tiermodelle
45
43.2
46
Nahezu alle Erkenntnisse über Gene und Stoffff wechselwege, die an der Regulation von Appetit, Energiehaushalt und Fettgewebe beteiligt sind, wurden zunächst in Tiermodellen gewonnen und konnten dann auf den Menschen übertragen werden. Ebenso wurden die meisten monogenetischen Formen der Adipositas zuerst durch Spontanmutationen bei Nagetieren oder in Knock-out-Mäusen entdeckt und dann auch bei Menschen bestätigt. Die Entdeckung des Leptins und seiner physiologischen Funktionen ist dafür ein anschauliches Beispiel. Die so genannte obese-Maus, eine Mausmutante mit extremer Adipositas, wurde bereits 1949 in den Jackson Laboratories entdeckt. Diesem Stamm fehlt das Leptingen (LEP). Einem zweiten Stamm, einer Diabetesmutation db fehlt dagegen der Leptinrezeptor (LEPR). Parabioseexperimente, bei denen Tiere aus beiden Stämmen eine Blutzirkulation teilen, legten den Verdacht nahe, dass es sich bei einem Stamm um eine Mutation eines löslichen Faktors, bei anderem dagegen um die Mutation des dazugehörigen Rezeptors handeln muss. Erst 1994/95 konnte diese Vermutung durch die Klonierung und Identifi fizierung von Leptin und dem Leptinrezeptor bestätigt werden. Ein weiteres Beispiel für eine Spontanmutation, die zu Adipositas führt, ist die so genannte Agoutiyellow-Maus (Ay-Maus). Die gelblichen Ay-Mäuse sind seit etwa 200 Jahren bekannt. Das Agouti-Peptid wird normalerweise in Hautzellen produziert und blockiert die Wirkung des α-melanozytenstimulierenden Hormons (α-MSH). In Ay-Mäusen wird das Agouti-Peptid in allen Zellen exprimiert, und es blockiert damit auch die anorexigenen αMSH-Signale im Gehirn, die über den Melanokortin-4-Rezeptor (MC4R) vermittelt werden. Die
47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Blockade des MC4R führt dementsprechend zu Hyperphagie und Adipositas. Auch der Verlust des α-MSH-aktivierenden Enzyms, Carboxypeptidase E (CPE), führt zu Adipositas. Eine CPE-Spontanmutation konnte bei einem weiteren AdipositasStamm, der fat-Maus, nachgewiesen werden. Inzwischen existieren zahlreiche Knock-out Stämme, die Adipositas oder Fettverteilungsstörungen aufweisen. Eine ständig aktualisierte Übersicht findet sich in der Obesity Gene Map (http:// obesitygene.pbrc.edu/).
43.3
Monogenetische Erkrankungen
Schwere Adipositas ist als Symptom komplexer pleiotroper Erkrankungen wie dem Prader-Willi-Syndrom oder dem Bardet-Biedl-Syndrom bekannt, die darüber hinaus Dysmorphien, mentale Retardierung und Einzelorganschäden aufweisen. Diese Syndrome haben ihre Ursache in Störungen einzelner Gene. Daneben gibt es aber eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen die Adipositas als Symptom im Zentrum steht. Diese Erkrankungen folgen einem Mendelschen Erbgang und gehen meist mit einer sehr schweren Adipositas einher, die i. d. R. bereits in der Kindheit beginnt. Die bisher identififi zierten 11 Gene befinden fi sich zum größten Teil im Leptin-Melanokortin-Stoffwechsel ff (. Tab. 43.1). Gerade bei Patienten mit einer Mutation des Leptingens kann die Adipositas durch Leptinsubstitution ursächlich behandelt werden. Insgesamt sind für diese Mutation allerdings nur weniger als 20 Fälle weltweit beschrieben.
43.4
Linkage-Analysen
Die Anzahl der publizierten Linkage-Analysen zu Adipositas und BMI ist inzwischen unüberschaubar. Erfreulicherweise sind jedoch in den letzten Jahren einige Loci recht konsistent repliziert worden, auch über verschiedene ethnische Populationen hinweg. Einige der gefundenen Loci stimmen mit verschiedenen Kandidatengenen überein, andere Kandidatengene konnten neu identifiziert fi werden. Erste Ergebnisse von so genannten Finemapping-Untersuchungen, bei denen nicht mehr
43
267
43.4 Linkage-Analysen
. Tab. 43.1. Monogene Mutationen mit adipösem Phänotypa Gen
Chromosomaler Locus
OMIM
Neurotropher Tyrosinkinaserezeptor Typ 2 (NTRK2)
9q22.1
600456
G-Protein-gekoppelter Rezeptor 24 (GPR24)
22q13.3
601751
Proprotein convertase subtilisin/kexin type 1 (PCSK1)
5q15–q21
162150
Proopiomelanokortin (POMC)
2p23.3
176830
Leptin (LEP)
7q31.3
164160
Kortikotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor 2 (CRHR2)
7p14.3
602034
Melanokortin-4-Rezeptor (MC4R)
18q22
155541
Kortikotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor 1 (CRHR1)
17q12–q22
122561
Leptinrezeptor (LEPR)
1p31
601007
Single-minded homolog 1 (SIM1)
6q16.3–q21
603128
Melanokortin-3-Rezeptor (MC3R)
20q13.2–q13.3
601665
a
Mutationen in den genannten Genen gehen mit einem adipösen Phänotyp einher; Angaben aus Obesity Gene Map, Update 2005 OMIM Online Mendelian Inheritance in Man
. Tab. 43.2. Replizierte Loci aus Linkage-Analysen Chromosom
Linkage mit
LOD-Score
Mögliche Kandidatengene
2p
Leptin, Adiponektin, Fettmasse
2,7–7,5
POMC
3q
BMI, Leptin
1,8–3,9
Glut2, PI3-Kinase
4p
BMI
4,5–6,1
PPARGC1, CCKAR
5cen-q
BMI, Leptin, Adiponektin
1,9–4,1
CART
6q
BMI
4,0
SIM1,MCHR-2, PC-1
8p
Leptin, BMI
2,0–3,1
ADBR3
10p
BMI, % Fettanteil, Leptin, Adiponektin
1,9–4,9
12q
Abdominale subkutane Fettmasse (CT)
2,8
HNF-1
17p
BMI, Leptin
3,2–5
Glut4, PPARα
20q
BMI
3,0–3,2
GNAS-1, CEBP-B, ASIP
Xq23
BMI
3,1
SLC6A14
LOD logarithmierte Odds Ratio. Der LOD-Score ist das übliche Maß für die Stärke der gefundenen Assoziation in Linkage-Analysen. Üblicherweise werden LOD-Scores > 3 als klinisch bedeutsam interpretiert. POMC C Proopiomelanokortingen, Glut2 Glukosetransporter (solute carrier family 2 member 2), PPARGC1 peroxisome proliferator activated receptor γ coactivator-1, CCKAR Cholezystokininrezeptor A, CARTT kokain- und amphetaminreguliertes Transkript, SIM-1 single-minded homolog 1, MCHR-2 Melanokortinrezeptor 2, PC-1 prohormon convertase 1, ADBR3 Adrenozeptor β3, HNF-1 hepatic nuclear factor, r Glut4 Glukosetransporter (solute carrier family 2 member 4), PPARα peroxisome proliferator acitvated receptor α, GNAS1 GNAS complex locus, CEBP-B CCART/enhancer binding protein β, ASIP agouti signaling protein, SLC6A14 Aminosäuretransporter (solute carrier family 6 member 14)
268
41 42 43 44 45 46 47
Kapitel 43 · Genetische Aspekte der Adipositas
das ganze Genom, sondern nur Teile davon, z. B. Chromosomenarme, untersucht werden, bestätigen diese Befunde. Allerdings zeigt sich hier auch das wesentliche Problem beim Linkage-Ansatz: Von der Entdeckung möglicher Loci bis zur Identifi fizierung der betroff ffenen Gene vergehen viele Jahre. Auch können mögliche Kandidatengene nicht immer in Assoziationsstudien repliziert werden. Beispielsweise zeigte sich in mehreren großen Untersuchungen kein Zusammenhang zwischen dem zuvor in Linkage-Analysen identifizierten fi Glutamatdecarboxylase-2-Gen (GAD-2) und Adipositas oder dem BMI. Auch eine GAD-2-Knockout-Maus entwickelt keinen typischen Phänotyp, sodass GAD-2 inzwischen nicht mehr als Kandidatengen gilt.
Eine Übersicht über die Loci für Adipositas, die repliziert werden konnten, findet fi sich in . Tab. 43.2.
43.5
Assoziationsstudien
43.5.1
Mögliche Kandidatengene
Die Obesity Gene Map 2005 listet derzeit 127 Gene auf, für die Assoziationsstudien zur Adipositas bzw. zum BMI durchgeführt worden sind. 22 dieser Gene sind in mindestens 5 Studien bestätigt worden (. Tab. 43.3). Wegen der großen Heterogenität der Studiensamples und der verwendeten Methoden gilt dennoch keines der genannten Gene als
48 . Tab. 43.3. Kandidatengene, die in fünf oder mehr Studien mit Adipositas oder dem BMI assoziiert warena
49
Kandidatengen
Abkürzung gemäß NCBI-Nomenklatur
50
Angiotensin-Converting Enzym
ACE
Adiponektin
ADIPOQ
51
β-Adrenozeptor 2 und 3
ADRB2, ADRB3
Dopaminrezeptor Subtyp 2
DRD2
G-Protein β-Polypeptid 3
GNB3
Serotoninrezeptor 2C
HTR2C
Interleukin 6
IL6
Insulin
INS
LDL-Rezeptor
LDLR
Leptin
LEP
Leptinrezeptor
LEPR
Hormonsensitive Lipase
LIPE
Melanokortinrezeptor 4
MC4R
Glukokortikoidrezeptor
NR3C1
Peroxisom-Proliferator-aktivierter Rezeptor γ
PPARG
Resistin
RETN
Tumornekrosefaktor α
TNFA
Uncoupling protein 1,2,3 (mitochondriale Protonenpumpe)
UCP1, UCP2, UCP3
Vitamin-D-Rezeptor
VDR
52 53 54 55 56 57 58 59 60 a
Zusammengestellt nach Daten aus Obesity Gene Map, Update 2005, Rankinen et al. (2006) NCBI National Center for Biotechnology Information
43.6 Genomweite Assoziationsstudien
»zwingendes« Kandidategen. Bisher besteht einzig ein Konsens bezüglich der Relevanz des V103IPolymorphismus des MC4R-Gens.
43.5.2
Melanokortinrezeptor 4
Eine zentrale Rolle in der Steuerung von Appetit und Sattheit kommt dem Regelkreislauf aus α-MSH und dem zugehörigen neuronalen Melanokortinrezeptor Subtyp 4 (MC4R) zu (s. oben, Tiermodelle). Ein Polymorphismus im MC4R-Gen, bei dem im Protein Valin durch Isoleucin ersetzt wird (V103I), wurde nach seiner Entdeckung zunächst für unbedeutend gehalten, da weder ein funktioneller Effekt ff der Mutation noch eine direkte Assoziation mit Adipositas gezeigt werden konnte. In einer großen
269
43
Familienanalyse zeigte sich aber ein Transmissionsungleichgewicht für das Isoleucinallel, das seltener an übergewichtige Kinder vererbt wurde. In einer Metaanalyse über sämtliche Studien mit insgesamt 7937 Probanden zeigte sich eine negative Assoziation zwischen dem I103-Allel und Adipositas. Dieser Befund konnte in einer weiteren Metaanalyse an mehr als 10.000 Probanden und 18.000 Kontrollen bestätigt werden. Die funktionelle Bedeutung des Polymorphismus ist allerdings nach wie vor ungeklärt. Etwa 70 weitere Mutationen von MC4R sind bekannt, die zu extremem Übergewicht führen können. Wie bei den übrigen monogenen Formen von Adipositas sind hier allerdings wiederum nur wenige Fälle beschrieben.
Definition »Haushälterische Genotypen« Es wurde immer wieder versucht, die genetische Prädisposition zur Adipositas evolutionsbiologisch zu erklären. Ein häufiges fi Erklärungsmodell stellt die Hypothese über thrifty genes, also geizige oder haushälterische Gene, dar. Diese Hypothese wurde erstmals in den 1960er Jahren von James Neel formuliert. Die Thrifty-genes-Hypothese besagt, dass in der Evolutionsgeschichte wiederholte Hungerphasen diejenigen Gene selektiert hätten, die für einen schnellen Aufbau von Energiereserven in Zeiten des Überflusses fl sorgten. Unter den heutigen Bedingungen des Nahrungsüberflusses fl führten dieselben Gene nun zur Adipositas. Obwohl die Hypothese sehr stichhaltig und einleuchtend klingt, gibt es bisher wenige bis keine empirischen Belege dafür. Ohne Vermutungen über die mögliche Entstehungsgeschichte
43.6
Genomweite Assoziationsstudien
Die Identifi fizierung von Kandidatengenen in Assoziations- und Linkage-Studien ist, wie oben beschrieben, ein langwieriger und nicht immer eindeutiger
bestimmter Genotypen lässt sich die biologische Vulnerabilität dennoch aus unserem Genom ablesen. Eine solche funktionelle Analyse der bisher identifi fizierten Kandidatengene legt (nach Bouchard) eher 5 Klassen von Adipositas-Genotypen nahe: 1. Haushälterischer Genotyp: geringe metabolische Rate und insuffi ffiziente Thermogenese 2. Hyperphagischer Genotyp: schlechte Appetit- und Sattheitsregulation und Tendenz zum Überessen 3. Sitzender Genotyp: Tendenz zur physischen Inaktivität – »Couch-potatoe-Genotyp« 4. Genotyp mit geringer Fähigkeit zur Lipidoxidation 5. Adipogenesis-Genotyp: Fähigkeit, die Anzahl an Adipozyten zu erhöhen sowie hohe Lipidspeicherfähigkeit
Prozess. Dank der Entwicklung von microarraybasierten Analysemethoden sind nun aber genomweite Assoziationsstudien möglich. Die ersten Studien dieser Art wurden in den letzten Jahren durchgeführt und konnten verschiedene neue Kandidatengene identifizieren: fi
270
41 42 43 44 45 46 47 48
43.6.1
Kapitel 43 · Genetische Aspekte der Adipositas
Insulinaktiviertes Gen 2 (INSIG-2)
INSIG-2 wurde als Kandidatengen zunächst in einer Analyse der Framingham-Studienpopulation entdeckt. Der betreff ffende SNP (single-nucleotide polymorphism) liegt vor dem eigentlichen Gen, seine funktionelle Relevanz konnte bisher nicht aufgeklärt werden. INSIG-2 kodiert für ein Protein im endoplasmatischen Retikulum, das an der Regulation der Lipidbiosynthese beteiligt ist. Homozygote Träger des SNP-Allels waren im Schnitt eine BMI-Einheit schwerer als Heterozygote und Träger des Wildtyp-Allels. Dieser Zusammenhang konnte in fünf verschiedenen Populationen repliziert werden, allerdings gab es auch negative Studienergebnisse aus drei weiteren Kohorten. Die aktuelle Datenlage spricht für einen konsistenten, aber moderaten Eff ffekt des SNP.
49 43.6.2
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Fat mass and obesity associated gene
FTO ((fat mass and obesity associated gene) wurde zunächst in einer GWA an 1924 englischen Patienten mit Diabetes Typ 2 und 2938 gesunden Kontrollen entdeckt. Homozygote Träger der Variante des Gens wogen durchschnittlich 3 kg mehr und hatten ein etwa 1,5-faches Adipositasrisiko. Dieser Zusammenhang konnte anhand von Studiendaten aus 13 Kohorten mit insgesamt nahezu 40.000 Probanden bestätigt werden. Zwei weitere GWAs fanden ebenfalls einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Varianten von FTO und Körpergewicht. FTO ist damit das bisher viel versprechendste Kandidatengen. Die funktionelle Bedeutung des Gens ist bisher nur in Ansätzen aufgeklärt. FTO wird in allen fetalen und adulten Geweben exprimiert, am stärksten ist die Expression in Gehirngewebe. Erste funktionelle Analysen konnten zeigen, dass das Genprodukt von FTO ein Protein ist, das an DNA-Reparaturmechanismen beteiligt ist. Wie der Zusammenhang mit dem Körpergewicht genau zustande kommt, ist noch ungeklärt.
Literatur Bouchard C (2007) The biological predisposition to obesity: beyond the thrifty genotype scenario. Int J Obes (Lond) 31: 1337-1339 Bronner G, Erdmann J, Mayer B, Hinney A, Hebebrand J (2006) Genetic factors for overweight and CAD. Herz 31: 189-199 Dina C, Meyre D, Gallina S et al (2007) Variation in FTO contributes to childhood obesity and severe adult obesity. Nature Genet 39: 724 726 Fox CS, Heard-Costa N, Cupples LA, Dupuis J, Vasan RS, Atwood LD (2007) Genome-wide association to body mass index and waist circumference: the Framingham Heart Study 100K project. BMC Med Genet 8(Suppl 1): S18 Frayling TM, Timpson NJ, Weedon MN et al (2007) A common variant in the FTO gene is associated with body mass index and predisposes to childhood and adult obesity. Science 316: 889-894 Lyon HN, Emilsson V, Hinney A et al (2007) The association of a SNP upstream of INSIG2 with body mass index is reproduced in several but not all cohorts. PLoS Genet 3: e61 Rankinen T, Zuberi A, Chagnon YC et al (2006) The human obesity gene map: the 2005 update. Obesity (Silver Spring) 14: 529-644 Young EH, Wareham NJ, Farooqi S et al (2007) The V103I polymorphism of the MC4R gene and obesity: population based studies and meta-analysis of 29 563 individuals. Int J Obes (Lond) 31: 1437-1441
44 Klinische Aspekte der Adipositas Andreas Hamann 44.1
Evaluation übergewichtiger und adipöser Patienten – 271
44.1.1 44.1.2 44.1.3 44.1.4
Klinische Untersuchung – 271 Klinische Symptomatik – 272 Labordiagnostik – 272 Apparative Diagnostik – 272
44.2
Komorbiditäten der Adipositas – 273
44.2.1 44.2.2 44.2.3 44.2.4
Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 – 273 Adipositas und Dyslipidämie – 273 Adipositas und Hypertonie – 274 Adipositas und metabolisches Syndrom – 274 44.2.5 Adipositas und Mortalitätsrisiko – 275
44.1
Evaluation übergewichtiger und adipöser Patienten
44.1.1
Klinische Untersuchung
Wenngleich Adipositas eine Blickdiagnose ist und die klinischen Aspekte wesentlich durch die Komorbiditäten geprägt werden, sind dennoch bei der klinischen Untersuchung adipöser Patienten einige wichtige Aspekte zu beachten. Da die Defifi nition und Klassifizierung fi der Adipositas auch weiterhin nach dem BMI erfolgt, ist es erforderlich, Größe und Gewicht im unbekleideten Zustand zu messen und daraus als Quotient von Körpergewicht (in kg) und dem Quadrat der Körpergröße (in m) den Body-Mass-Index (BMI) zu errechnen. Bei Übergewichtigen mit einem BMI 25 ≥ kg/m2 sollte darüber hinaus stets der Taillenumfang (in der Mitte zwischen unterem Rippenbogen und Beckenkamm) gemessen werden. Der Taillenumfang zeigt eine gute Korrelation zum viszeralen Fettdepot und erlaubt die Diagnose einer abdominalen Adipositas bei Werten ≥ 88 cm (Frauen) bzw. ≥ 102 cm (Männer). Die viszerale Fettmasse wiederum ist mit verschiedenen kardiovaskulären Risikofaktoren assoziiert (s. unten).
44.2.6 Adipositas und Gerinnungsstörungen – 276 44.2.7 Adipositas und Hyperurikämie – 276 44.2.8 Adipositas und gastrointestinale Erkrankungen – 277 44.2.9 Adipositas und pulmonale Komplikationen – 277 44.2.10 Adipositas und Hormonstörungen bei Frauen – 277 44.2.11 Adipositas und Hormonstörungen bei Männern – 278 44.2.12 Adipositas und Karzinomrisiko – 278 44.2.13 Adipositas und Erkrankungen des Bewegungsapparats – 278
Die Blutdruckmessung muss bei Adipösen wegen des zumeist größeren Oberarmumfangs mit einer breiteren Manschette (15 cm bei > 32 cm Umfang, 18 cm bei > 42 cm Umfang) erfolgen, um keine falsch hohen Werte zu erhalten. Bei der körperlichen Untersuchung ist insbesondere auf Anzeichen einer kardialen oder respiratorischen Insuffiffi zienz zu achten. Daneben fi finden sich mit zunehmender Adipositas gehäuft ft intertriginöse Ekzeme und Mykosen sowie Krankeiten des Venensystems mit Varikosis, chronisch venöser Insuffizienz ffi oder Ulcus cruris venosum. Bei adipösen Frauen im fertilen Alter sollten auf Hirsutismus und Acanthosis nigricans als klinische Zeichen von Insulinresistenz und polyzystischem Ovarialsyndrom (PCOS) geachtet werden. Bei adipösen Männern gilt das Augenmerk einer möglichen Gynäkomastie als Ausdruck einer vermehrten Konversion von Androgenen zu Östrogenen im Fettgewebe. Bei adipösen Diabetikern sind speziell vor Einleitung einer Bewegungstherapie die mögliche Diagnose einer peripheren Polyneuropathie sowie die Beurteilung des Augenhintergrunds relevant. Die klinische Evaluation adipöser Patienten sollte neben Komorbiditäten insbesondere Hinweise auf sekundäre Formen der Adipositas erfassen.
272
41 42
Kapitel 44 · Klinische Aspekte der Adipositas
Hierzu gehören endokrine Störungen, wie Hypothyreose und Hyperkortisolismus, aber auch syndromale Formen der dann zumeist bereits im frühen Kindesalter manifesten extremen Adipositas infolge chromosomaler Defekte.
43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
44.1.2
Klinische Symptomatik
Zu den Allgemeinbeschwerden vieler Adipöser zählen verstärktes Schwitzen, Gelenk- bzw. Rückenbeschwerden und Belastungsdyspnoe. Oftmals ft findet sich insbesondere bei höhergradiger Adipositas eine Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens durch verminderte Beweglichkeit und Belastbarkeit. Aus der Pathophysiologie kann gefolgert werden, dass es darüber hinaus zu einer Vielzahl somatischer Begleiterkrankungen kommen kann, was wiederum gehäuft ft zur Einschränkung der Lebensqualität und Lebenserwartung führt. Zwar steigt das Risiko hierfür mit Ausmaß und Dauer der Adipositas, jedoch findet fi sich auch ein beträchtlicher Anteil insbesondere jüngerer Adipöser ohne relevante Begleiterkrankungen (vermeintlich »gesunde Dicke«). Zusätzliche Manifestationsfaktoren, wie Alter und genetische Prädisposition, sind somit in ihrer Bedeutung für die Entstehung der verschiedenen Begleiterkrankungen nicht zu vernachlässigen. Dies gilt sogar für die am engsten mit der Adipositas assoziierte Erkrankung, den Diabetes mellitus Typ 2. Zwar ist zweifelsohne das Risiko für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes mit steigendem BMI bzw. Taillenumfang drastisch erhöht, jedoch ist die Zahl Übergewichtiger ohne klinisch manifesten Diabetes weiterhin höher als die Zahl derjenigen mit Diabetes. Die vorhandenen Symptome bestimmen die über das notwendige Mindestmaß an erforderlicher Diagnostik (s. unten).
57 58 59 60
44.1.3
Labordiagnostik
Die Labordiagnostik bei adipösen Patienten beinhaltet die gezielte Suche nach begleitenden Störungen, insbesondere des Stoffwechsels. ff Zur Basisdiagnostik gehören die Bestimmung von Glukose und Lipidstatus im nüchternen Zustand, von Harnsäure und Thyreoidea-stimulierendem Hormon (TSH). Die grundsätzlich obligate Bestimmung von
Blutbild, Transaminasen, Elektrolyten und Kreatinin/Harnstoff ff kann insbesondere für therapeutische Entscheidungen hilfreich sein, die Messung der Albuminausscheidung im Urin ist zur Risikostratifizierung fi sinnvoll. Darüber hinaus gibt es etliche Parameter, deren Messung vornehmlich bei entsprechendem klinischem Verdacht empfohlen wird: 5 HbA1c (bei bekanntem Diabetes), 5 oraler Glukosetoleranztest (bei Verdacht auf Diabetes, insbesondere bei erhöhter Nüchternglukose oder Hypertriglyzeridämie), 5 Kortisol im Dexamethason-Hemmtest (bei Verdacht auf Hyperkortisolismus), 5 Testosteron (bei erektiler Dysfunktion bzw. Verdacht auf Hypogonadismus bei Männern sowie PCOS bei Frauen). Außerhalb von Studien ist es gegenwärtig nicht indiziert, Parameter wie Adiponektin, Leptin, Ghrelin etc. zu messen oder eine Genotypisierung von Polymorphismen in vermeitlichen Adipositasgenen zu veranlassen.
44.1.4
Apparative Diagnostik
Aufwändige bildgebende Diagnostik zur Bestimmung des viszeralen Fettanteils (Computertomographie, Magnetresonanztomographie) bleibt klinischen Studien vorbehalten, die korrekte Messung des Taillenumfangs ist hier ausreichend. Eine Messung der Körperzusammensetzung mittels radiologischer Verfahren (u. a. DEXA) oder Bioimpedanzanalyse (BIA) ist für therapeutische Konsequenzen verzichtbar. Sinnvoll ist eine Oberbauchsonographie zur Erfassung von Steatosis hepatis und Cholelithiasis sowie ein Belastungs-EKG vor Einleitung einer Bewegungstherapie. Eine 24-StundenBlutdruckmessung ist zur Beurteilung der Güte einer antihypertensiven Therapie Th sehr hilfreich, die Duplexsonographie der Halsgefäße hilft ft bei der Stratifi fizierung hinsichtlich des Managements kardiovaskulärer Risikofaktoren.
273
44.2 Komorbiditäten der Adipositas
44.2
Komorbiditäten der Adipositas
44.2.1
Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2
Von ca. 6‒8 Mio. Menschen mit Diabetes in Deutschland dürft ften ca. 90 dem Typ-2-Diabetes zuzuordnen sein. Die schleichende und zumeist symptomlose Manifestation erklärt die vermutlich hohe Dunkelziffer ff von Betroff ffenen. Insofern sollte insbesondere bei übergewichtigen Risikopersonen mit bisher nicht bekanntem Typ-2-Diabetes ein entsprechendes Screening durchgeführt werden. Eine deutliche Risikoerhöhung fi findet sich 5 bei positiver Familienanamnese mit Typ-2Diabetes bei erstgradig Verwandten, 5 im Alter > 45 Jahre, 5 bei vermehrtem viszeralem Fett (Taille > 80 cm bei Frauen, > 94 cm bei Männern), 5 bei Bluthochdruck, 5 bei Hypertriglyzeridämie und 5 bei Frauen zusätzlich bei einem vorbestehenden Gestationsdiabetes bzw. der Geburt eines Kindes mit einem Geburtsgewicht > 4000 g. Die Diagnose des Typ-2-Diabetes kann gestellt werden bei wiederholt gemessener Nüchternplasmaglukose ≥ 126 mg/dl, einem mehrfachen Spontanglukosewert ≥ 200 mg/dl oder einem 2-Stunden-Wert im oralen Glukosetoleranztest (oGTT) ≥ 200 mg/dl. Bei Werten von 140‒200 mg/dl im oGTT spricht man von einer gestörten Glukosetoleranz, was als Vorstufe des Typ-2-Diabetes angesehen wird, da jährlich ca. 10 der Betroffenen ff zum manifesten Diabetes konvertieren. Insofern sind Maßnahmen der Lebensstilintervention schon in dieser Phase sehr sinnvoll und effektiv. ff Therapieziele bei manifestem Typ-2-DiabeTh tes sind ein HbA1c < 6,5 und ein präprandialer Blutglukosewert um 100 mg/dl. Reichen Maßnahmen der Lebensstiländerung für das Erreichen dieser Ziele nicht aus, so ergibt sich die Indikation für den Einsatz oraler Antidiabetika bzw. von Insulin. Medikament der ersten Wahl ist Metformin, was unter den antidiabetischen Substanzen zu jenen gehört, die sich eher günstig auf das Körpergewicht auswirken. Insbesondere Adipöse mit schlechter Stoffwechsellage ff müssen vor Beginn einer medi-
44
kamentösen antidiabetischen Therapie auf die Neigung zur Gewichtszunahme aufmerksam gemacht werden, die sich einerseits generell aus jeglicher Verbesserung von kataboler Stoff ffwechsellage und Glukosurie ergibt, zum anderen aber von der eingesetzten Substanz (speziell Glitazone, Sulfonylharnstoffe, ff Glinide, Insulin) abhängt. In dieser Situation ist die Prävention einer weiteren Gewichtszunahme sehr wichtig, eine signifikante fi Gewichtsabnahme hingegen zumeist unrealistisch. Bei adipösen Typ-2-Diabetikern ergibt sich auch bei Notwendigkeit einer Insulintherapie dauerhaft ft die Indikation einer Kombination mit Metformin, solange keine relevante Kontraindikation dagegen spricht.
44.2.2
Adipositas und Dyslipidämie
Adipositas ist nicht per se mit einem signifikanten fi Anstieg von Gesamtcholesterin und LDL-Cholesterin im Serum assoziiert, wohl aber mit einer Vermehrung kleiner, dichter LDL-Partikel, einem verminderten HDL-Cholesterin und erhöhten Triglyzeriden. Diese typische Dyslipidämie wird ebenfalls durch das vermehrte viszerale Fettdepot begünstigt. Für die Diagnostik ist ein üblicher Lipidstatus im Serum (nüchtern!) ausreichend, eine aufwändige Charakterisierung der LDL-Subfraktionen oder von Apolipoprotein B ist für die wesentlichen therapeutischen Entscheidungen nicht erforderlich. Grundlage der Th Therapie ist die Lebensstilintervention nach den gleichen Prinzipien, wie sie auch für die Behandlung von Adipositas gelten. Liegt neben der Dyslipidämie auch ein Diabetes vor, so profitiert fi die Fettstoff ffwechselstörung auch erheblich von einer auf nahe-normoglykämische Werte abzielenden Diabetestherapie. In der Ernährungsberatung adipöser Patienten mit Dyslipidämie wird zudem gezielt auf die Einschränkung eines eventuellen übermäßigen Alkoholkonsums eingegangen, was sich günstig auf die Absenkung stark erhöhter Triglyzeride auswirkt. Die empfohlenen Maßnahmen haben zumeist nur einen unzureichenden Eff ffekt auf das LDL-Cholesterin, sodass für das Erreichen des Zielbereichs oft ft eine medikamentöse Therapie mit einem Statin erforderlich sein kann. Der jeweilige Zielbereich hängt von der gesamten Risikokonstellation ab,
274
41 42 43 44 45 46 47
Kapitel 44 · Klinische Aspekte der Adipositas
die neben den bei Adipositas häufig fi vorhandenen Risikofaktoren, wie Diabetes mellitus, erniedrigtes HDL-Cholesterin, Hypertriglyzeridämie und Hypertonie, auch andere Risikofaktoren umfasst, wie Alter, positive Familienananmnese für vorzeitige kardiovaskuläre Erkrankungen und Nikotinabusus, aber natürlich auch eventuell schon vorhandene Gefäßerkrankungen. Je nach Zielbereich für das LDL-Cholesterin muss individuell über den Einsatz eines Statins entschieden werden. Hilfreich ist hierbei eine Risikostratifi fizierung, z. B. mithilfe des PROCAM-Scores. Aufgrund der Datenlage aus Endpunktstudien hat die medikamentöse Absenkung des LDL-Cholesterins um 30‒40 Priorität vor einer möglichen Anhebung des HDL-Cholesterins (z. B. durch Nikotinsäure) oder einer Senkung der Triglyzeride (z. B. durch ein Fibrat).
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
44.2.3
Adipositas und Hypertonie
Gilt der Typ-2-Diabetes als die am engsten mit der Adipositas assoziierte Begleiterkrankung, so ist die arterielle Hypertonie vermutlich die häufigste fi . Mit zunehmendem Körpergewicht steigen systolischer und diastolischer Blutdruck an, wobei auch hier das viszerale Fettdepot eine bessere Korrelation mit der Hypertonie aufweist als das subkutane Fettgewebe. Eine wesentliche Rolle bei der multifaktoriellen Pathogenese der Hypertonie bei Adipositas spielt die Sympathikusaktivierung mit konsekutiv vermehrter Natriumretention, Vasokonstriktion und erhöhtem Herzminutenvolumen. Zu den Auslösern der verschiedenen Mechanismen gehören die Insulinresistenz und auch einige Sekretionsprodukte des Fettgewebes. Wichtig ist der Zusammenhang der Hypertonie mit einem möglichen obstruktiven Schlafapnoesyndrom (s. unten). Darüber hinaus sollte bei Diagnose einer Hypertonie speziell bei adipösen Patienten nach Organschäden gesucht werden, wie z. B. einer linksventrikulären Hypertrophie, Funktionsstörungen des Herzens oder einer Mikroalbuminurie. Neben den bei Übergewicht üblichen Maßnahmen der Lebensstilintervention wird bei adipösen Hypertonikern der Nutzen eines verminderten Alkoholkonsums sowie einer geringeren Kochsalzzufuhr von maximal 6 g/Tag betont. Für das Erreichen der Zielwerte eines Blutdrucks unter
140/90 mm Hg bzw. unter 130/80 mm Hg bei Diabetes bzw. metabolischem Syndrom ist häufi fig die Gabe eines oder mehrerer Antihypertensiva erforderlich. Angesichts der häufi figen Notwendigkeit einer medikamentösen Kombinationstherapie ist die gegenwärtige Diskussion über die Vorteile der einzelnen Substanzen in der Monotherapie wenig zielführend und oftmals ft verunsichernd. Grundsätzlich profi fitieren viele adipöse Hypertoniker von der guten blutdrucksenkenden, stoffwechselneuff tralen und nephroprotektiven Wirkung eines ACEHemmers bzw. (bei ACE-Hemmer-Unverträglichfi keit) eines AT1-Rezeptorantagonisten. Für die (fixe) Kombination bietet sich ein Thiazid- oder Schleifendiuretikum an, wobei Ersteres wegen der speziell in höheren Dosen ungünstigen Wirkungen auf den Stoff ffwechsel niedrig dosiert werden sollte. Die Auswahl weiterer Substanzen richtet sich nach möglichen Komorbiditäten, wobei aufgrund der für Stoffwechsel ff und Gewicht neutralen Wirkung Kalziumantagonisten gegenüber β-Blockern vorzuziehen sind. Die Indikation für β-Blocker ergibt sich jedoch stets bei adipösen Patienten mit manifester koronarer Herzkrankheit.
44.2.4
Adipositas und metabolisches Syndrom
Der Begriff ff »metabolisches Syndrom« bezeichnet einen Cluster von kardiovaskulären Risikofaktoren, die vermehrt bei abdominal adipösen Menschen gemeinsam auftreten ft . Die jüngste Defi finition der International Diabetes Federation (IDF) sieht erstmals eine abdominale Adipositas, definiert fi als Taillenumfang ≥ 80 cm bei Frauen und ≥ 94 cm bei Männern, als unbedingte Voraussetzung für die Diagnose vor. Zusätzlich müssen mindestens zwei der folgenden vier Kriterien erhöht sein: 5 Triglyzeride (≥ 150 mg/dl), 5 erniedrigtes HDL-Cholesterin (< 50 mg/dl bei Frauen, < 40 mg/dl bei Männern), 5 erhöhter Blutdruck (≥ 130/85 mm Hg), 5 erhöhte Nüchternplasmaglukose (≥ 100 mg/dl). Die amerikanische NCEP/ATP-III-Definition fi (National Cholesterol Education Program/Adult Education Panel), die auch in die deutschen Adi-
275
44.2 Komorbiditäten der Adipositas
positas-Leitlinien Eingang gefunden hat, fordert mindestens drei beliebige von fünf Kriterien, von denen vier denen der IDF-Defi finition entsprechen. Im Gegensatz zur IDF-Definition fi liegen die Grenzwerte für den Taillenumfang bei ≥ 88 cm (Frauen) bzw. ≥ 102 cm (Männer). Infolge der niedrigeren Grenzwerte werden mit der IDF-Definition fi mehr Risikopersonen erfasst, und die Prävalenz des metabolischen Syndroms steigt beispielsweise in einer deutschen Stichprobe von 55‒74 Jahre alten Frauen von 24 auf 46 und bei Männern der gleichen Altersgruppe von 28 auf 57 an. Die hieraus resultierende Identifi fizierung unterschiedlicher Patientenkollektive führt naturgemäß zu einer unterschiedlichen Bewertung der sich hieraus ergebenden Risikoerhöhung, beispielsweise für einen Myokardinfarkt oder die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes. Der regelhafte ft Gebrauch eines Krankheitsbegriff ffs »metabolisches Syndrom« wird gegenwärtig kontrovers beurteilt. Bei Personen mit metabolischem Syndrom ist das Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen um etwa das 3-Fache erhöht.
44.2.5
Adipositas und Mortalitätsrisiko
Der Zusammenhang zwischen Adipositas und einem erhöhten Mortalitätsrisiko ist durch eine Vielzahl von Studien gut abgesichert. Dieses ist insbesondere durch das erhöhte Risiko für kardiovaskuläre Erstereignisse bedingt, speziell Herzinfarkt und Schlaganfall. In vielen Studien zeigt sich dabei ein Kontinuum, d. h. eine stetige Zunahme des relativen Risikos mit steigendem BMI. In der INTERHEART-Studie zur Assoziation von Risikofaktoren mit dem akuten Myokardinfarkt konnte gezeigt werden, dass 90 des attributablen Bevölkerungsrisikos bei Männern und 94 bei Frauen auf die beeinflussbaren fl Risikofaktoren (. Übersicht) zurückzuführen ist (Yusuf et al. 2004).
44
Die beeinfl flussbaren Risikofaktoren des akuten Myokardinfarkts 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Rauchen Hypertonie Diabetes Abdominale Adipositas Ernährung Mangelnde körperliche Aktivität Alkoholkonsum Serum-Apolipoproteine Psychosoziale Faktoren
Dabei erwies sich die Diagnose einer abdominalen Adipositas im Vergleich zum BMI als wesentlich robusterer Risikoprädiktor, er entsprach in seiner Wertigkeit als eigenständiger Risikofaktor dem Typ-2-Diabetes bzw. der Lipidstoff ffwechselstörung. Grundsätzlich muss beachtet werden, dass die Erhöhung des relativen Mortalitätsrisikos durch Adipositas stark altersabhängig ist. Mit zunehmendem Alter resultiert die Adipositas jedoch in einer geringeren Risikoerhöhung: während z. B. in der Women’s Health Initiative eine Adipositas Grad III das Mortalitätsrisiko bei weißen Frauen im Alter von 50‒59 Jahren gegenüber normalgewichtigen Frauen um den Faktor 2,77 erhöht, beträgt dieser Wert im Alter von 60‒69 Jahren nur 2,12 und bei 70‒79 Jahre alten Frauen nur 1,26. Kontrovers diskutiert wird gegenwärtig, ob in der Sekundärprävention bei Patienten mit bekanntem Gefäßleiden die Adipositas als Risikofaktor anders bewertet werden muss als bisher. In einer 2006 erschienenen Metaanalyse wurden 40 Studien identifiziert, fi in denen 250.151 Patienten mit bekannter koronarer Herzkrankheit über eine mittlere Beobachtungszeit von 3,8 Jahren verfolgt wurden (Romero-Corral et al. 2006; . Übersicht).
276
41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Kapitel 44 · Klinische Aspekte der Adipositas
BMI und Mortalität (Romero-Corral et al. 2006) 5 Menschen mit einem niedrigen BMI (< 20 kg/m2) hatten ein erhöhtes relatives Risiko (RR) für Mortalität jeglicher Ursache (RR = 1,37) sowie kardiovaskulärer Ursachen (RR = 1,45) im Vergleich zu Individuen mit einem BMI zwischen 20 und 25. 5 Übergewichtige Personen (BMI 25– 29,9 kg/m2) hatten ein niedrigeres Risiko für gesamte Mortalität (RR = 0,87) bzw. kardiovaskuläre Mortalität (RR = 0,88). 5 Adipöse (BMI 30–35 kg/m2) hatten kein erhöhtes Risiko für gesamte bzw. kardiovaskuläre Mortalität. 5 Auch Menschen mit einem BMI > 35 kg/ m2 wiesen hinsichtlich der Gesamtmortalität kein erhöhtes Risiko auf, jedoch für die kardiovaskuläre Mortalität ließ sich hier ein signifikant fi erhöhtes Risiko (RR = 1,88) nachweisen.
Auf den ersten Blick wird das etablierte Weltbild eines mit steigendem Gewicht generell erhöhten Mortalitätsrisikos durch diese Daten in Frage gestellt. Problematisch ist generell, dass der BMI nicht zwischen Fettmasse und Magermasse unterscheiden kann. So könnte insbesondere das erhöhte Risiko der Individuen mit einem BMI < 20 durch eine verminderte Magermasse zu erklären sein. Durch die untersuchten Studien hindurch zieht sich in den niedrigen und normalen BMI-Kategorien ein günstigeres Profil fi hinsichtlich der etablierten kardiovaskulären Risikofaktoren (mit Ausnahme von Rauchen) . Möglicherweise wird infolge des Wissens um ein vermeintlich erhöhtes Risiko bei erhöhtem BMI bei diesen Patienten eine konsequentere (medikamentöse) Sekundärprävention betrieben. Auch Fettmasse und Fettverteilung werden nicht adäquat abgebildet, was wiederum die Bedeutung des Taillenumfangs als vermutlich besserer Risikoprädiktor im Vergleich zum BMI unterstreicht. In einer nachträglichen Analyse von Daten der HOPE-Studie (Heart Outcomes Protection Evaluation) zur Bedeutung der abdominalen Adipositas (gemessen in diesem Fall über den Taillenumfang) für das kardiovaskuläre Risiko an 6620 Män-
nern und 2182 Frauen fand sich auch nach Korrektur für BMI, Alter, Rauchen, Geschlecht, früheren Myokardinfarkt, Schlaganfall, periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), Mikroalbuminurie, Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern, Diuretika, Lipidsenker und Antihypertensiva sowie Vorgeschichte von Hypertonie, Diabetes oder Dyslipidämie ein robuster Effekt. ff Das relative Risiko in der obersten Tertile für den Taillenumfang gegenüber der untersten war um den Faktor 1,29 erhöht für kardiovaskuläre Mortalität, um 1,27 für akuten Myokardinfarkt und um 1,35 für Gesamtmortalität.
44.2.6
Adipositas und Gerinnungsstörungen
Adipositas ist mit prokoagulatorischen Veränderungen im Gerinnungsstatus assoziiert, die erhöhte Spiegel von Fibrinogen sowie Plasminogenaktivatorinhibitor-1 (PAI-1) beinhalten. Beide Parameter werden als Risikomarker für kardiovaskuläre Komplikationen bewertet und können durch eine Gewichtsreduktion abgesenkt bzw. normalisiert werden. Die im Rahmen der üblichen Routinediagnostik gemessenen Gerinnungsparameter Th Thromboplastinzeit (TPZ: Quick-Test, INR) und aktivierte partielle Thromboplastinzeit Th (APTT) sowie die Thrombozytenzahl sind jedoch durch das Vorhandensein einer Adipositas nicht beeinträchtigt. Für die routinemäßige Bestimmung von Fibrinogen und PAI-1 bei Adipösen gibt es zurzeit keine Indikation und keine gut belegte therapeutische Konsequenz.
44.2.7
Adipositas und Hyperurikämie
Adipositas geht über die vermehrte Aufnahme purinhaltiger Nahrungsmittel und eine vornehmlich durch Komorbiditäten bzw. medikamentöse Begleittherapie bedingte verminderte renale Ausscheidung mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine Hyperurikämie und einen akuten Gichtanfall einher. Die Verringerung der Purinzufuhr und des Alkoholkonsums sowie das Einhalten einer ausreichenden Trinkmenge von 2,5‒3 l kalorienfreier Flüssigkeit sind Gegenstand der ergänzenden
277
44.2 Komorbiditäten der Adipositas
Ernährungsberatung von Adipösen. Zudem sollten Patienten darauf hingewiesen werden, dass eine extrem niedrigkalorische Diät (z. B. Formuladiät) mit einem akuten Anstieg des Harnsäurespiegels bzw. einem akuten Gichtanfall einhergehen kann. Langfristig führt jegliche Gewichtsreduktion durch hypokalorische Ernährung jedoch zu einer Absenkung der Harnsäurespiegel.
men sind bisher keine eindeutigen Aussagen möglich. Bei entsprechender chronisch-rezidivierender Symptomatik sollte eine endoskopische Abklärung erfolgen, um eine Refluxösophagitis fl bzw. konsekutive Epitheldysplasien auszuschließen. Die Behandlung erfolgt mit Protonenpumpenhemmern.
44.2.9 44.2.8
Adipositas und gastrointestinale Erkrankungen
Adipositas ist ein wichtiger Risikofaktor für Gallensteine, was einheitlich in allen entsprechenden großen Studien jedoch nur für Frauen nachgewiesen werden konnte. Angesichts des erhöhten Risikos für die Entstehung einer Cholelithiasis unter einer niedrigkalorischen Kost bzw. auch nach operativer Adipositastherapie sollte vor entsprechenden Maßnahmen unbedingt eine sonographische Diagnostik erfolgen. Die Fettleber (NAFLD, non-alcoholic fatty liver disease) kommt bei Adipösen häufig fi vor und ist die häufi figste Ursache einer chronischen Lebererkrankung. Je höher der intrahepatische Lipidgehalt, umso geringer ist die Insulinsensitivität. Bei bis zu 30 der Betroffenen ff kommt es zur Progression der NAFLD zu einer Steatohepatitis (NASH), was ebenso durch eine Leberbiopsie geklärt werden kann wie die mögliche weitere Progression von NASH zur Leberzirrhose bzw. zum hepatozellulären Karzinom. Insofern ergibt sich hieraus eine Empfehlung zur Oberbauchsonographie bei adipösen Patienten, zusätzlich zur Labordiagnostik (zumeist GPT > GOT im Gegensatz zur alkoholischen Steatohepatitis, GGT erhöht). Eine etablierte medikamentöse Therapie für die Indikation Fettleber existiert bisher nicht, vorläufige fi Daten verweisen auf einen Nutzen von Metformin und Glitazonen. Auch die Refl fluxkrankheit ist eindeutig mit Adipositas assoziiert. Die Wahrscheinlichkeit für häufige Symptome durch die Refl fluxkrankheit steigt mit zunehmendem BMI kontinuierlich an und ist z. B. bei Frauen mit einer Adipositas Grad I fast 3-mal höher als bei Frauen mit einem BMI im mittleren Normalbereich. Über die Kausalität des Zusammenhangs und die hierfür relevanten Pathomechanis-
44
Adipositas und pulmonale Komplikationen
Das obstruktive Schlafapnoesyndrom ist eine häufige Komplikation, insbesondere der höhergradigen Adipositas mit einem BMI > 35 kg/m2. Die Angabe von Symptomen wie Tagesmüdigkeit und verminderte Leistungsfähigkeit mit Konzentrationsstörungen infolge eines wenig erholsamen Schlafs sowie fremdanamnestisch unregelmäßiges nächtliches Schnarchen mit Atempausen sollte zu einer entsprechenden Diagnostik motivieren. Mehr noch als das vermehrte Fett im Halsbereich scheint eine viszerale Adipositas für ein Schlafapnoesyndrom zu prädisponieren. Häufig fi ist eine Hypertonie assoziiert. Zur signifi fikanten Besserung der bei den Patienten pathologischen Apnoe- bzw. Hypopnoe-Indizes ist zumeist eine Gewichtsabnahme von deutlich über 10 kg erforderlich, um die ansonsten indizierte nächtliche nasale Überdruckbeatmung absetzen zu können.
44.2.10 Adipositas und
Hormonstörungen bei Frauen Adipöse Frauen im gebärfähigen Alter weisen eine deutlich verminderte Fertilität auf. Häufi figste Ursache hierfür ist das PCOS . Diese Diagnose kann gestellt werden bei Vorliegen von zwei der drei Kriterien 5 Hyperandrogenämie, 5 Zyklusstörungen (Oligomenorrhö oder sekundäre Amenorrhö), 5 das typische sonographische Bild der polyzystischen Ovarien. Weitere häufige fi Symptome sind Hirsutismus, Akne, Haarausfall und Insulinresistenz. Die Hyperandrogenämie resultiert aus der vermehrt durch Insulin stimulierten Androgenproduktion der Ovari-
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Kapitel 44 · Klinische Aspekte der Adipositas
en. Durch Gewichtsabnahme lässt sich oft ft auch die ovarielle Funktion wieder normalisieren, zudem hat sich in vielen Studien die Gabe von Metformin als günstig für die Normalisierung des Zyklus und die Wiederherstellung der Fertilität erwiesen. Grundsätzlich sollte bei jeder übergewichtigen Frau im fertilen Alter eine Zyklusanamnese erhoben und auf Symptome des PCOS geachtet werden. Kommt es bei adipösen Frauen zu einer Schwangerschaft ft, so ist auch diese mit einem erhöhten Komplikationsrisiko verbunden. Das Risiko für die Entwicklung eines Gestationsdiabetes steigt mit zunehmendem Körpergewicht an und ist bei adipösen Frauen um etwa das 6-Fache erhöht. Diese Daten unterstreichen die Notwendigkeit eines sorgfältigen Diabetesscreenings bei adipösen Schwangeren mit Durchführung eines oGTT, bereits im ersten Trimenon. Auch das Risiko von Hypertonie bzw. der Entwicklung von Präeklampsie und Eklampsie ist bei übergewichtigen Schwangeren signifi fikant erhöht und steigt mit zunehmendem Körpergewicht auf eine Prävalenz von über 20 an. Grundsätzlich eignet sich die Gravidität jedoch nicht als Beginn einer Gewichtsreduktion. Unter einer energiereduzierten Diät besteht ein erhöhtes Risiko für ungünstige Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung. Stattdessen sollte vornehmlich auf die Kontrolle der während der Schwangerschaft ft möglichst 12 kg nicht überschreitenden Gewichtszunahme geachtet werden, um der Entstehung von Präeklampsie, Hypertonie bzw. Gestationsdiabetes entgegenzuwirken.
Ursachen und sorgfältiger Untersuchung der Prostata die Indikation für eine Hormonsubstitution, so kommen intramuskuläre Depotspritzen oder auf die Haut aufzutragende testosteronhaltige Gele in Betracht.
44.2.12 Adipositas und Karzinomrisiko Zumeist wird der Tatsache, dass Adipositas mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergeht, nur eher wenig Beachtung geschenkt. Diese Assoziation konnte nicht zuletzt in einer prospektiven Analyse der American Cancer Societyy mithilfe von etwa 900.000 Datensätzen gezeigt werden. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen ging darin Adipositas mit einem signifikant fi erhöhten Risiko für Karzinome von Ösophagus, Kolon und Rektum, Gallenblase, Pankreas und Nieren einher und war dabei vom Raucherstatus unabhängig. Bei Männern war Adipositas zudem mit einem erhöhten Karzinomrisiko an Magen und Prostata assoziiert, während sich bei adipösen Frauen gehäuft ft Karzinome von Mamma (postmeopausal), Uterus (Korpus und Zervix) und Ovarien fanden. Der Zusammenhang ist bei den häufigen fi Malignomen am klarsten charakterisiert: So fi findet sich bei Männern mit einem BMI > 30 kg/m2 ein um 80 gegenüber Normalgewichtigen erhöhtes Risiko für das Kolonkarzinom. Auf der Basis dieser Daten wird für die USA geschätzt, dass Übergewicht und Adipositas bei Männern für 14 und bei Frauen für 20 der Todesfälle an Krebs verantwortlich sind.
Adipositas und Hormonstörungen bei Männern
44.2.13 Adipositas und Erkrankungen
Zunehmende Adipositas geht aufgrund der Aromataseaktivität im Fettgewebe mit einer vermehrten Konversion von Androgenen zu Östrogenen einher. Folglich fi findet sich bei adipösen Patienten ein erhöhter Anteil von Männern mit erniedrigten Testosteronspiegeln sowie Libidoverminderung, erektiler Dysfunktion und Gynäkomastie. Grundsätzlich sollte in der Anamnese nach Störungen der Sexualfunktion gefragt und bei entsprechenden Angaben der Testosteronspiegel im Serum gemessen werden. Ergibt sich nach Ausschluss anderer
Adipöse Frauen weisen im Mittel eine größere Knochenmasse als gleichaltrige schlanke Frauen auf, und auch der Abbau von Dichte und Mineralgehalt des Knochens nach der Menopause verläuft ft ca. 30 langsamer. Infolgedessen lässt sich bei adipösen Frauen auch ein geringeres Risiko für Wirbelkörperfrakturen nachweisen, wofür am ehesten die stärkere mechanische Belastung und der damit einhergehende »Trainingseffekt« ff auf die Knochen verantwortlich sind. Auch könnten die bei adipösen Frauen erhöhten Östrogenspiegel schüt-
44.2.11
des Bewegungsapparats
44.2 Komorbiditäten der Adipositas
zend wirken. Darüber hinaus hat jedoch Adipositas infolge der mechanischen Belastung nur ungünstige Wirkungen auf den Bewegungsapparat. Insbesondere für die Gonarthrose sowie das Auftreten ft von Rückenschmerzen ist eine enge Korrelation mit dem steigenden Körpergewicht gut dokumentiert. Degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparats sind in hohem Maße für die vorzeitige Berufsund Erwerbsunfähigkeit Adipöser im Vergleich zu Normalgewichtigen verantwortlich.
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279
44
45 41
Medikamentös induzierte Adipositas
42
Florian Lederbogen
43
45.1
Pathomechanismen
44
45.2
Auswirkungen einzelner Substanzen auf das Körpergewicht – 281
45
45.2.1 Antipsychotika – 281 45.2.2 Antidepressiva – 282 45.2.3 Antiepileptika, Lithium
46
– 280
45.2.4 Antidiabetika – 283 45.2.5 Steroide – 283 45.2.6 Weitere Substanzen – 284
45.3
Umgang mit medikamentös induzierter Gewichtszunahme – 284
– 283
47 48 49 50 51 52 53
Unter Behandlung mit manchen Medikamenten kann eine Gewichtszunahme auft ftreten, die den Nutzen dieser Substanzen erheblich schmälert. Probleme, die aus dieser unerwünschten Arzneimittelwirkung resultieren, bestehen in Minderung der Lebensqualität, Stigmatisierung und erhöhtem Risiko für adipositasassoziierte Erkrankungen. Nachlassende Zuverlässigkeit bei der Einnahme oder vorzeitiges Beenden der Behandlung sind mögliche Folgen. ! Nach einer Untersuchung an US-amerikanischen Patienten werden höchstens 2,5 kg Gewichtszunahme bei der Behandlung einer nicht lebensbedrohlichen Erkrankung akzeptiert.
54 55 56 57 58 59 60
45.1
Pathomechanismen
Die Mechanismen, über die bestimmte Medikamente zu einer Gewichtszunahme führen, sind noch wenig verstanden; eine mögliche Klassifiziefi rung unterscheidet krankheitsassoziierte und substanzabhängige Faktoren. Manche Erkrankungen gehen mit metabolischendokrinen Regulationsstörungen oder mit Verhaltensänderungen einher, die unabhängig von der medikamentösen Behandlung zu einer Gewichtszunahme führen können. So wurden beispielsweise bei bislang unbehandelten Patienten mit einer schizophrenen Psychose höhere Serumkonzentrationen an Nüchternblutzucker und -insulin gefunden, also Hinweise für eine relative Insulinresistenz; dieser
Befund ließ sich nicht durch Gewichtsunterschiede erklären. Möglicherweise auch hat die Erkrankung, zu deren Behandlung die Medikamente eingesetzt werden, im Vorfeld zu einer Gewichtsabnahme geführt. Die Gewichtszunahme, d. h. das Erreichen des prämorbiden Ausgangsgewichts, kann in diesen Fällen als Zeichen der Gesundung angesehen werden und stellt kein klinisches Problem dar. Es wird angenommen, dass sich die Gewichtszunahme, die durch manche Medikamente induziert wird, auf eine Beeinflussung fl von spezifi fischen Neurotransmittersystemen zurückführen lässt. So wurden hohe Korrelationen (0,81 und 0,83) zwischen der Besetzung der Histamin-H1- und muskarinergen Azetylcholinrezeptoren durch bestimmte Antipsychotika und dem Grad der durch sie hervorgerufenen Gewichtszunahme gefunden. Möglicherweise lässt sich somit die Tatsache erklären, dass Pharmaka mit einer ausgeprägten antihistaminergen Wirkung zu einer erheblichen Gewichtszunahme führen können. Auch bestimmte Allele des Serotoninrezeptors wurden mit einer vermehrten medikamentös induzierten Gewichtszunahme in Verbindung gebracht. Häufi fig geht eine medikamentös induzierte Gewichtszunahme auf vermehrten Appetit, mitunter auf bestimmte Nahrungsmittel wie Süßigkeiten, zurück. Paykel prägte hierfür den Begriff carbohydrate cravingg (Paykel et al. 1973). Dieses Phänomen kann unter Therapie mit verschiedenen Substanzen auft ftreten, wurde aber insbesondere unter Behandlung mit atypischen Antipsychotika oder bestimmten Antidepressiva gefunden. Auch schei-
281
45.2 Auswirkungen einzelner Substanzen auf das Körpergewicht
nen manche Substanzen in die basale Regulation des Stoffwechsels ff einzugreifen. So ist die Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva in manchen Fällen sowohl von einer deutlichen Reduktion des Grundumsatzes als auch von einer Gewichtszunahme begleitet. Veränderungen in Zusammenhang mit einer medikamentös induzierten Gewichtszunahme wurden auch für Leptin und Tumornekrosefaktor α (TNFα) beschrieben. In den ersten Wochen einer Behandlung mit den atypischen Antipsychotika Clozapin und Olanzapin wurden deutliche Anstiege von Leptin gemessen. Möglicherweise liegt diesem Phänomen eine durch die genannten Substanzen induzierte Leptinresistenz zugrunde. Andere Pharmaka, die zu einer ausgeprägten Gewichtszunahme führen, werden von einer Aktivierung des TNFαSystems begleitet. Aktuell wird untersucht, ob eine frühe Messung von TNFα oder löslichen TNFαRezeptoren eine Gewichtszunahme beim individuellen Patienten voraussagen kann.
45.2
Auswirkungen einzelner Substanzen auf das Körpergewicht
Die Beurteilung, in welchem Umfang ein Medikament zu einer Gewichtszunahme führt, sowie der Vergleich zwischen verschiedenen Substanzen werden erschwert durch uneinheitliche methodische Vorgehensweisen in den entsprechenden Arbeiten.
45
Insbesondere die Quantifizierung fi der Gewichtszunahme diff fferiert erheblich. So finden sich Angaben über Absolutwerte in Kilogramm, Prozentwerte des Ausgangsgewichts oder Anteile der Behandelten, die eine festgelegte Gewichtsgrenze überschritten haben. Sofern unter mehreren Angaben ausgewählt werden kann, werden hier die beiden Erstgenannten bevorzugt.
45.2.1
Antipsychotika
Unter den Medikamenten mit antipsychotischer Wirkung finden sich diejenigen mit den ausgeprägtesten Auswirkungen auf das Körpergewicht. Dieser Umstand kann ein wesentliches Hindernis bei der längerfristigen und zuverlässigen Einnahme darstellen. Dies ist gravierend, denn das Unterbrechen und vorzeitige Diskontinuieren der Behandlung steigert das Risiko eines Rezidivs der schizophrenen Psychose erheblich. Eine diff fferenzierte Darstellung der Gewichtszunahme unter Behandlung mit verschiedenen Antipsychotika haben Allison und Mitarbeiter vorgelegt (Allison et al. 1999). Mithilfe einer Metaanalyse relevanter Studien kamen sie für den Behandlungszeitraum von 10 Wochen zu einer standardisierten Auswertung (. Abb. 45.1). Aus der Gruppe der konventionellen Antipsychotika sind die niedrigpotenten Phenothiazine mit einer deutlicheren Gewichtszunahme verbunden als beispielsweise die Butyrophenone. Unter den atypischen Antipsy-
Pl az eb o Zi pr as id on Fl up he na zi n H al op er id ol R is pe rid C on hl or pr om az in O la nz ap in C lo za pi n
6 5 4 3 2 1 0 -1 -2 -3
. Abb. 45.1. Mittlere Gewichtszunahme (kg) nach 10 Wochen antipsychotischer Therapie. Fehlerbalken markieren das 95%-Konfidenzintervall. fi Für die Substanzen Amisulpirid, Aripiprazol und Quetiapin lagen zum Zeitpunkt der Auswertung noch keine ausreichenden Daten vor. (Mod. nach Allison et al. 1999, mit freundlicher Genehmigung des American Journal of Psychiatry, y ©1999. American Psychiatric Association)
282
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Kapitel 45 · Medikamentös induzierte Adipositas
chotika zeigen die Substanzen Clozapin und Olanzapin die ausgeprägtesten Auswirkungen auf das Körpergewicht. Atypische Antipsychotika haben in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen; ihr Einsatz wurde wegen ihrer teilweise überlegenen Wirkung sowie wegen des weitgehenden Fehlens extrapyramidalmotorischer Symptome stark propagiert. Sie gelten inzwischen bei vielen Indikationen als Mittel der ersten Wahl. Die Gruppe umfasst Amisulpirid, Aripiprazol, Clozapin, Olanzapin, Paliperidon, Quetiapin, Risperidon, Sertindol und Ziprasidon. Die durch manche Vertreter dieser Gruppe hervorgerufene Gewichtszunahme sowie die damit verbundene kardiovaskuläre Risikoerhöhung haben zu einer intensiven Diskussion über Nutzen und Risiken geführt. Eine zu diesem Thema Th einberufene Expertenkonferenz hat die durch atypische Antipsychotika hervorgerufene Gewichtszunahme unterteilt in 5 erheblich (Clozapin und Olanzapin), 5 mittelgradig (Risperidon und Quetiapin), und 5 gering oder fehlend (Aripiprazol und Ziprasidon). In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies nach 10 Wochen Behandlung eine Gewichtszunahme in der ersten Gruppe von 4‒5 kg, in der zweiten Gruppe von ca. 2,5 kg und in der dritten von 0‒0,8 kg. Die mittlere Gewichtszunahme unter Behandlung mit Quetiapin beträgt nach einem Zeitraum von 18‒ 26 Wochen 3,5 kg, diejenige nach 8 Wochen Th Therapie mit Amisulpirid 0,4 kg. ! Die durch atypische Antipsychotika induzierte Gewichtszunahme erreicht nach einer Behandlungsdauer von einem Jahr häufig fi ein Plateau. Nach dieser Zeitspanne lag der Anteil der Patienten mit einer Gewichtszunahme von mehr als 7% des Ausgangsgewichts bei 40% für Olanzapin, bei 37% für Risperidon und bei 25% für die Gruppe der Phenothiazine. In manchen Fällen wurde eine weitere Gewichtszunahme beobachtet.
45.2.2
Antidepressiva
Auch unter antidepressiver Pharmakotherapie variiert die Gewichtszunahme je nach eingesetzter Substanz bzw. Substanzklasse. Unter den trizyklischen Antidepressiva scheint dieser Effekt ff für Amitriptylin am deutlichsten ausgeprägt zu sein, gefolgt von Imipramin und Desimipramin. Zu Beginn der Behandlung mit Amitriptylin wurde eine monatliche Gewichtszunahme von 0,6‒1,4 kg beobachtet, nach ca. einem halben Jahr lag diese bei insgesamt 5,2 kg. Manche Patienten nehmen in den ersten 6 Monaten 15‒20 kg Gewicht zu. Nach einer anderen Untersuchung setzten rund 50 der mit trizyklischen Antidepressiva behandelten Patienten das Medikament wegen der Gewichtszunahme wieder ab. Es ließen sich keine prädisponierenden Faktoren ermitteln. ! Nach Absetzen der Medikation kommt es i. d. R. zu einer Gewichtsabnahme, ohne dass jedoch das Ausgangsgewicht wieder erreicht wird.
Hinsichtlich der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) wurden unterschiedliche Auswirkungen auf das Körpergewicht beobachtet; sie diff fferieren in Abhängigkeit von Grunderkrankung, Verabreichungsdauer und eingesetzter Substanz. Bestand das Ziel der Behandlung darin, bei psychisch Gesunden das Körpergewicht zu reduzieren oder die Gewichtszunahme nach dem Beenden des Rauchens abzufangen, konnte keine relevante diesbezügliche Wirkung festgestellt werden. Bei Patienten, die wegen einer psychischen Erkrankung behandelt wurden, führt die Anwendung dieser Substanzen nach einer initialen Gewichtsabnahme i. d. R. zu einer längerfristigen Gewichtszunahme. So erhöhte sich das Körpergewicht bei Patienten mit einer Zwangserkrankung unter der Th Therapie mit SSRI nach 2,5 Jahren durchschnittlich um 2,5 des Ausgangsgewichts. Insgesamt nahmen 15 der Patienten mehr als 7 zu, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Substanzen betrug dieser Anteil je 14 für Paroxetin und Citalopram, 11 für Fluvoxamin, 9 für Fluoxetin und 5 für Sertralin. Eine ausgeprägte Gewichtszunahme fand sich häufi figer bei Frauen. Es liegen einzelne Berichte über teilweise erfolgreiche Versuche vor, die SSRI-bedingte
283
45.2 Auswirkungen einzelner Substanzen auf das Körpergewicht
Gewichtszunahme mit Topiramat zu behandeln; systematische Untersuchungen fehlen jedoch. Unter den neueren Antidepressiva, die nach den SSRI eingeführt wurden und die keiner einheitlichen Substanzklasse zuzuordnen sind, wurde für Mirtazapin die Induktion einer teilweise deutlichen Gewichtszunahme bekannt. Eine Metaanalyse der plazebokontrollierten Studien, die während des Zulassungsprozesses durchgeführt worden waren, ergab eine Gewichtszunahme bei ca. 10 der mit dieser Substanz behandelten Patienten; dieser Anteil könnte nach Meinung von Experten jedoch deutlich höher liegen. Eine andere Untersuchung zeigte eine mittlere Gewichtszunahme von 2,4 kg innerhalb von 4 Wochen bei einer Gruppe mit Mirtazapin behandelter Patienten. Das neuere Antidepressivum Venlafaxin scheint eher mit einem Gewichtsverlust einherzugehen. Zur Gewichtsentwicklung unter Th Therapie mit Bupropion finden sich unterschiedliche Angaben; häufi figer wurde von einem Gewichtsverlust berichtet.
45.2.3
Antiepileptika, Lithium
Valproat, welches neben der Behandlung der Epilepsie auch bei Akutbehandlung und Phasenprophylaxe bipolar aff ffektiver Störungen eingesetzt wird, führt bei rund der Hälfte ft der Behandelten zu einer beträchtlichen Gewichtszunahme; nach einer Therapiedauer von 7 Jahren betrug diese im MitTh tel 21 kg. Weniger Daten fi finden sich zur Gewichtszunahme unter Carbamazepin; eine Fallserie mit 4 Patienten beschrieb vermehrten Appetit und eine Gewichtszunahme von 7‒15 kg in 2 Monaten. Topiramat war bei der Behandlung aff ffektiver Störungen mit einer Gewichtsabnahme von 1‒6 kg verbunden; diese fand sich v. a. bei Frauen und übergewichtigen Patienten. Die Substanz Lithium, welche v. a. zur Akutbehandlung der Manie und zur Phasenprophylaxe bipolar affektiver ff Störungen eingesetzt wird, führt nach dem Ergebnis mehrerer Untersuchungen zu einer deutlichen Gewichtszunahme. Die Angaben schwanken zwischen 5 kg innerhalb von 2 Jahren bei rund 10 und 10 kg bei zwei Dritteln der behandelten Patienten im Laufe von einigen Jahren. Die Gewichtszunahme scheint in erster Linie in den ersten 2 Jahren der Behandlung aufzutreten
45
und dann, trotz fortgesetzter Einnahme, ein Plateau zu erreichen. Frauen sowie übergewichtige/adipöse Patienten erleiden diese unerwünschte Arzneimittelwirkung wahrscheinlich häufiger. fi
45.2.4
Antidiabetika
Eine Intensivierung der antidiabetischen Behandlung, v. a. durch die Zugabe oder Dosissteigerung von Insulin, führt nach dem übereinstimmenden Ergebnis mehrerer, teilweise groß angelegter prospektiver Studien zu einer signifikanten fi Gewichtszunahme. Bei Typ-1-Diabetikern war die Neueinstellung auf eine intensivierte Insulintherapie mit einem 73 höherem Risiko verbunden, übergewichtig zu werden. Typ-2-Diabetiker nahmen unter dieser Behandlung im Laufe von 10 Jahren durchschnittlich 4 kg mehr zu als diätetisch behandelte Studienteilnehmer. Wurde die Behandlung mit Sulfonylharnstoffderivaten ff durchgeführt, so lag dieser Unterschied bei 1,7‒2,6 kg. Die Umstellung von einer konventionellen auf eine intensivierte Insulintherapie ist ebenfalls mit einer Gewichtszunahme verbunden. Nach 12 Monaten nahmen so behandelte Typ-2-Diabetiker durchschnittlich 2,6 kg zu. Die Behandlung mit Th Thiazolidinedionen kann ebenfalls zu einer Gewichtszunahme führen, die insbesondere bei Kombination mit Insulin erheblich sein kann. Wichtig ist, bei einer raschen Steigerung des Körpergewichts an die Möglichkeit der Flüssigkeitsretention zu denken, die unter Behandlung mit diesen Substanzen auftreten ft kann. In diesen Fällen sind umgehende Diagnostik und Th Therapie entscheidend. Unter den Sulfonylharnstoffen ff scheint Glibenclamid mit einer ausgeprägteren Gewichtszunahme einherzugehen als andere Vertreter dieser Substanzklasse, beispielsweise Glimepirid.
45.2.5
Steroide
Eine unvermittelt auftretende ft Gewichtszunahme, v. a. am Stamm und an bestimmten Partien von Nacken, Hals und Gesicht, gilt als ein wichtiges klinisches Zeichen des Cushing-Syndroms. Bei diesem Krankheitsbild wird durch den Körper ein Übermaß an Kortikosteroiden produziert; die glei-
284
41 42 43 44 45
Kapitel 45 · Medikamentös induzierte Adipositas
chen Auswirkungen finden fi sich auch, wenn das Hormon extern zugeführt wird. So lag beispielsweise die Gewichtszunahme unter immunsuppressiver Therapie Th nach Nierentransplantation bei einem Regime, welches Kortikosteroide beinhaltete, 30 über einer vergleichbaren Behandlung ohne diese Substanzen. Obwohl in manchen Untersuchungen die Einnahme oraler Kontrazeptiva mit einer Gewichtszunahme assoziiert war, wurde die kausale Verknüpfung bezweifelt. Bei anderen Untersuchungen war ein solcher Zusammenhang nicht nachweisbar.
46 47 48 49 50 51 52 53 54
45.2.6
Weitere Substanzen
Propranolol, ein nichtselektiver β-Blocker, war nach den Ergebnissen einer älteren Studie beim Einsatz zur Sekundärprophylaxe nach Myokardinfarkt mit einer größeren Gewichtszunahme assoziiert als Plazebo (2,3 kg vs. 1,3 kg). Heute haben β1selektive Substanzen Propranolol bei dieser Indikation weitgehend ersetzt, möglicherweise haben sie eine ähnliche Wirkung auf das Körpergewicht. Berichte über die gewichtssteigernde Wirkung der Antihypertonika Clonidin und Prazosin müssen bislang als unbestätigt angesehen werden. Substanzen mit antihistaminerger Wirkung dienen zur Behandlung von Allergien, beispielsweise der Pollinosis. Da Histamin bei der Regulation des Appetits beteiligt ist, erscheint eine Gewichtszunahme bei längerer Anwendung denkbar. Systematische Daten zu dieser Frage fehlen jedoch.
55 45.3
56 57 58 59 60
Umgang mit medikamentös induzierter Gewichtszunahme
Bislang gibt es keine Leitlinien zum Umgang mit medikamentös induzierter Gewichtszunahme. Zum Vorgehen bei Behandlung mit Antipsychotika liegt eine Expertenmeinung vor. Diese empfiehfi lt, dass Patienten mit Übergewicht oder Adipositas möglichst Medikamente ohne gewichtssteigerndes Potenzial erhalten sollen. Auch wird angeregt, vor Beginn der Behandlung eine Basisuntersuchung durchzuführen, die auf Eigen- und Familienanamnese hinsichtlich Adipositas, Diabetes mellitus,
Fettstoffwechselstörungen, ff Bluthochdruck und kardiovaskulären Erkrankungen fokussiert. Zudem sollen Größe, Gewicht, Taillenumfang, Blutdruck, Nüchternblutzucker und Blutfette bestimmt werden. Ziel ist es, Patienten mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko bereits vor der Th Therapie zu identifi fizieren. Im weiteren Verlauf soll das Gewicht nach 4, 8, 12 Wochen und dann alle 3 Monate kontrolliert werden. Schließlich wurde die Empfehlung ausgesprochen, einen Wechsel des Antipsychotikums zu erwägen, wenn der Patient mehr als 5 seines früheren Körpergewichts zugenommen hat. Die Auswirkungen der Gewichtszunahme, die sich in steigender Inzidenz von Diabetes mellitus, Dyslipidämie und letztendlich in erhöhter Mortalität an kardiovaskulären Erkrankungen manifestieren, müssen gegen das Risiko der Exazerbation der schizophrenen Psychose oder der ungenügenden Behandlung abgewogen werden. Unklar ist, inwieweit die Leitlinien der Behandlung der Adipositas auch auf die Th Therapie der medikamentös induzierten Gewichtszunahme übertragen werden können. Versuche, bei Patienten mit schizophrener Psychose durch verhaltenstherapeutische Ansätze eine Gewichtsreduktion zu erzielen, zeigten begrenzte Erfolge. Pharmakologische Interventionen zur Behandlung der medikamentös induzierten Adipositas wurden v. a. für Patienten unter atypischen Antipsychotika untersucht; die derzeitige Datenlage lässt keine fundierte Empfehlung zu. Da β-adrenerge Agonisten psychotische Episoden triggern können, sollte ihr Einsatz bei Patienten mit entsprechender Vorgeschichte oder Vulnerabilität nicht erfolgen. Obwohl die Adipositaschirurgie ihren Nutzen bei sorgfältiger Indikationsstellung eindeutig bewiesen hat, gibt es bislang wenig Erfahrung mit diesem Verfahren bei der medikamentös induzierten Adipositas. Schwere unbehandelte oder instabile psychische Störungen stellen entsprechend der derzeit geübten Praxis eine Kontraindikation für dieses Vorgehen dar. Es finden fi sich erste Fallserien über Patienten mit einer schizophrenen Psychose, bei denen der Einsatz dieser Th Therapieoption in der Phase der Krankheitsremission ähnlich gute Erfolge zeigte wie bei einem Vergleichskollektiv.
45.3 Umgang mit medikamentös induzierter Gewichtszunahme
! Beim Einsatz von Medikamenten, deren Anwendung mit einer Gewichtszunahme verbunden ist, sollte eine leitlinienorientierte Diagnostik und Therapie begleitender Herz-Kreislauf-Risiken erfolgen. Gegebenenfalls muss im Rahmen eines interdisziplinären Behandlungskonzepts festgelegt werden, wer für diesen Teil der Behandlung verantwortlich ist.
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285
45
287
Komorbidität 46
Soziale und psychosoziale Auswirkungen der Adipositas: Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung – 287
47
Psychische Komorbidität der Adipositas
– 292
48
Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression
– 296
49
Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas
– 303
46
46 Soziale und psychosoziale Auswirkungen der Adipositas: Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung Anja Hilbert 46.1
Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung bei Adipositas – 288
46.1
Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung bei Adipositas
Die Adipositas betrifft fft nicht nur besonders Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, sie zieht zugleich auch soziale und psychosoziale Beeinträchtigungen nach sich. So sehen sich adipöse Menschen in vielen wichtigen Lebensbereichen Stigmatisierung und sozialer Diskriminierung ausgesetzt. ! Ein soziales Stigma ist eine Eigenschaft, die einen Menschen als abweichend, auff ffällig oder beeinträchtigt erscheinen lässt. Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen beinhalten Zuschreibungen solch negativer Bewertungen aufgrund des Übergewichts. Wird adipösen Menschen aufgrund ihres Übergewichts die für sie erforderliche Gleichbehandlung verweigert, spricht man von gewichtsbezogener Diskriminierung.
Stigmatisierende Einstellungen, die adipöse Menschen etwa als faul, willensschwach, undiszipliniert, hässlich und emotional gestört kennzeichnen, sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Sie stehen im Kontext von Verantwortlichkeitsüberzeugungen und einer kulturellen Abwertung von Fettleibigkeit. Besonders häufi fig treten stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen bei Män-
46.2
Psychosoziale Auswirkungen gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung – 290
nern, älteren Personen und Personen mit geringerem Bildungsstand auf. Sie sind jedoch unabhängig vom Body-Mass-Index (BMI, kg/m2) der Befragten. Definition Theoretische Einordnung des Adipositasstigmas: Die Attributionstheorie Theoretisch werden Reaktionen auf Stigmata wie die Adipositas oftmals unter Rückgriff ff auf die Attributionstheorie erklärt. Die Attributionstheorie besagt, dass je mehr ein Stigma auf internale, kontrollierbare Ursachen attribuiert wird, desto stärker negative Reaktionen darauf sind. Ideologien des Individualismus oder politischen Konservatismus sind maßgeblicher Hintergrund für diese Attributionsmuster.
Gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen sind häufi fige Erfahrungen adipöser Menschen in Lebensbereichen wie dem Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen, in der Schule sowie in persönlichen Beziehungen. Diskriminierungserfahrungen innerhalb von nahen Beziehungen wie Partnerschaft, ft Familie oder Freundschaft ften, die beispielsweise in negativen Kommentaren über Figur und Gewicht bestehen können, werden als besonders einschneidend erlebt. Je schwerer die Adipositas, desto häufiger sind gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen. Nicht eindeutig ist die Ergebnislage,
46.1 Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung bei Adipositas
ob adipöse Frauen insgesamt mehr von gewichtsbezogener Diskriminierung betroffen ff sind als adipöse Männer; bereichsspezifisch fi scheinen stärkere Benachteiligungen adipöser Frauen vorzuliegen. Zahlreiche Studien dokumentieren Benachteiligungen adipöser Erwachsener im Berufsleben. Experimentelle Untersuchungen konnten zeigen, dass adipöse Kandidaten weniger häufig fi für Vorstellungsgespräche und Einstellungen, insbesondere auf Posten mit repräsentativer Funktion, ausgewählt werden als normalgewichtige Kandidaten. Stigmatisierende Einstellungen von Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern kennzeichnen adipöse Menschen in der Berufswelt als weniger kompetent, ambitioniert und beförderungswürdig sowie als fauler, undisziplinierter, emotional instabiler und äußerlich weniger ansprechend. Epidemiologischen Daten zufolge werden adipöse Menschen im Vergleich zu Normalgewichtigen mit vergleichbarer beruflicher fl Qualifi fikation weniger häufi fig eingestellt, sie bekleiden seltener Leitungspositionen in Unternehmen und erhalten weniger Gehalt – dies betrifft fft v. a. adipöse Frauen. Adipöse Menschen selbst berichten von gewichtsbezogener Diskriminierung wie beispielsweise geringeren Vergütungen oder Kündigungen aufgrund des Übergewichts. Auch im Bereich des Gesundheitswesens wurden Belege für Stigmatisierung und soziale Diskriminierung gefunden. Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Erwachsenen liegen bei Angehörigen vieler Gesundheitsberufe vor, darunter bei Ärzten, Krankenschwestern, Diätassistenten und sogar bei jenen, die professionell mit Gewichtsreduktionstherapie betraut sind. Diese negativen Einstellungen umfassen Zuschreibungen von fehlender Selbstkontrolle und Willensstärke, mangelnder Hygiene und Unterstellungen, Behandlungsempfehlungen nicht zu befolgen, teilweise sogar unehrlich und feindselig zu sein. Ärzte und Krankenschwestern geben an, adipöse Patienten ungern zu behandeln. Umgekehrt berichten adipöse Patienten, sich gerade in Bezug auf ihr Körpergewicht medizinisch nicht gut betreut zu fühlen. In der Tat liegen Hinweise darauf vor, dass adipöse Patienten aufgrund stigmatisierender Einstellungen bestimmte Untersuchungen weniger häufi fig angeboten bekommen als normalgewichtige Patienten und auch selbst bestimmte, beispielsweise präventive Angebote der medizinischen Versorgung auf-
289
46
grund von Scham über das eigene Gewicht weniger aufsuchen. Bei Kindern wurden stigmatisierende Einstellungen etwa ab einem Alter von 3 Jahren dokumentiert. Danach gelten adipöse Kinder als gemein, dumm, hässlich und faul und werden als Spielkameraden abgelehnt. Adipöse Schüler fühlen sich wiederum von ihren gleichaltrigen Mitschülern aufgrund ihres Gewichts ausgeschlossen, gehänselt und beschimpft ft. Zudem zeigten sich bei Lehrern stigmatisierende Einstellungen gegenüber stark übergewichtigen Schülern. Es wurden auch Hinweise auf Benachteiligungen adipöser Jugendlicher bei der Zulassung an Universitäten und bei der finanziellen Unterstützung der Ausbildung durch die eigene Familie gefunden, und zwar unabhängig von Bildungsstand und Einkommen der Familie und v. a. für adipöse Mädchen. Eltern scheinen zudem nicht nur eine zentrale Rolle für die Vermittlung negativer gewichtsbezogener Einstellungen zu spielen, sondern sind selbst auch Quelle gewichtsbezogener Kritik gegenüber ihren Kindern. Auch in weiteren Lebensbereichen ist das Adipositasstigma virulent: Beispielsweise wurden Fälle von Benachteiligungen adipöser Menschen hinsichtlich zu enger Sitzgelegenheiten in öffentlichen ff Verkehrsmitteln, Th Theatern oder Flugzeugen, hinsichtlich einer weniger kundenorientierten Beratung durch Verkäufer im Einzelhandel und hinsichtlich geringerer Chancen bei der Anmietung von Wohnraum oder auch in Adoptionsverfahren berichtet. Das Adipositasstigma scheint zudem durch eine negative Mediendarstellung adipöser Menschen vermittelt zu werden. Während Darstellungen übergewichtiger Personen im Fernsehen sowie in anderen Medien unterrepräsentiert sind, werden adipöse Figuren beispielsweise in Fernsehsendungen selten als attraktiv gezeigt, sie haben weniger romantische Interaktionen und erfahren weniger körperliche Zuwendung im Vergleich zu nichtadipösen Fernsehfi figuren. Demgegenüber werden sie häufiger fi beim Essen dargestellt oder lächerlich gemacht.
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Kapitel 46 · Soziale und psychosoziale Auswirkungen der Adipositas . . .
Fazit Forschungsstand zu gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung bei Adipositas Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen sind in der Bevölkerung so weit verbreitet, dass sie als normativ gelten können. Umgekehrt ist gewichtsbezogene Diskriminierung eine Erfahrung, die adipöse Menschen häufi fig und in vielen verschiedenen Lebenszusammenhängen machen. Während in der bisherigen Forschung zum Adipositasstigma v. a. diese beiden Aspekte des Adipositasstigmas erforscht wurden, bleiben objektiv gewichtsbezogen erfolgte Benachteiligungen vielfach unbelegt. Weil die tatsächliche gewichtsbezogene Diskriminierung im Lebensalltag methodisch schwer nachzuweisen ist, beruhen viele Studienergebnisse auf experimentellen Fallvignetten und Manipulationen von Kausalität, oftmals an studentischen Stichproben, was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einschränkt. Zudem wurden mögliche konfundierende Variablen wie Alter, Herkunft oder Geschlecht nicht systematisch berücksichtigt.
46.2
Psychosoziale Auswirkungen gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung
Verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass adipöse Menschen selbst auch stigmatisierende Einstellungen gegenüber ihrer eigenen Gruppe hegen. Darin unterscheidet sich das Adpositasstigma von anderen Stigmata, die eine positive »Ingroup-Präferenz« ihrer eigenen Gruppe gegenüber aufweisen. Eine mögliche Erklärung für dieses Selbststigma ist, dass bei internaler Ursachenattribution die Zuordnung zur Gruppe adipöser Personen wenig Unterstützung bietet. Psychologisch scheinen die Internalisierung des Adipositasstigmas und gewichtsbezogene Diskriminierungser-
fahrungen für psychische Auff ffälligkeiten zu vulnerabilisieren. So weisen bevölkerungsbasierte Daten bei Erwachsenen zwar darauf hin, dass Erfahrungen gewichtsbezogener Diskriminierung querschnittlich nicht mit dem Selbstwert und depressiven Symptomen assoziiert sind. Bei adipösen Teilnehmern von Gewichtsreduktionsprogrammen wurde hingegen gefunden, dass Diskriminierungserfahrungen durchaus mit einem geringen Selbstwertgefühl, mit Ängsten, depressiven Symptomen und einer stärkeren Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper einhergehen. Klinische Stichproben mit Adipositas sind im Allgemeinen psychopathologisch belasteter als nichtklinische Stichproben. Es bleibt jedoch unklar, ob Diskriminierungserfahrungen bei Erwachsenen das psychologische Funktionsniveau ursächlich beeinträchtigen oder aufgrund einer psychopathologisch veränderten selektiven Wahrnehmung vermehrt berichtet werden. Hingegen wurde für das Kindes- und Jugendalter gezeigt, dass gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen für die Entwicklung von Psychopathologie relevant sind. Adipöse Kinder, v. a. Mädchen, haben beispielsweise eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, von anderen gleichaltrigen Kindern oder auch von Familienmitgliedern wegen ihres Gewichts gehänselt oder kritisiert zu werden. Hänselerlebnisse prädizieren bei adipösen Kindern und Jugendlichen längsschnittlich einen geringeren Selbstwert, eine beeinträchtigte Lebensqualität, eine vermehrte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Essanfälle sowie Diätverhalten, depressive Symptome und sogar Suizidgedanken und -versuche, auch nach Kontrolle des Körpergewichts. In retrospektiven Befragungen von Erwachsenen mit Binge-Eating-Störung wurden gewichtsbezogene Hänseleien und Kritik von Peers und Familie darüber hinaus als Risikofaktoren im Kindes- und Jugendalter für die Entstehung der Essstörung identifiziert. fi Zunehmend evidenter wird, dass gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen den Zusammenhang zwischen Adipositas und Psychopathologie sowie gesundheitlichen Parametern allgemein mediieren können.
46.2 Psychosoziale Auswirkungen gewichtsbezogener Stigmatisierung . . .
Fazit Die Adipositas betrifft ff nicht nur besonders Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, sie zieht zugleich auch soziale und psychosoziale Beeinträchtigungen nach sich. Stigmatisierende Einstellungen gegenüber adipösen Menschen sind in der Bevölkerung weit verbreitet und scheinen – parallel zur pandemischen Zunahme der Adipositas – in den letzten 4 Jahrzehnten zugenommen zu haben. Diese beinhalten eine Zuschreibung negativer Eigenschaften an adipöse Menschen, beispielsweise faul und willensschwach zu sein. Gewichtsbezogene Stigmatisierung ist im Wesentlichen durch internale Attributionen auf ein mutmaßliches individuelles Fehlverhalten der Betroff ffenen erklärbar. Damit sind stigmatisierende Einstellungen auch Ausdruck eines reduktionistischen Verständnisses der komplexen, multifaktoriellen Adipositasätiologie, in dem genetische Prädispositionen und externe Einflüsse fl der obesogenen Umwelt vernachlässigt werden. Angesichts des allseits präsenten Adipositasstigmas ist es nicht verwunderlich, dass sich adipöse Menschen häufi fig und in vielen wichtigen Lebensbereichen gewichtsbezogener Diskriminierung ausgesetzt sehen. Gewichtsbezogene Diskriminierungserfahrungen sind gerade im Kindes- und Jugendalter relevant für die Entstehung von Psychopathologie, während im Erwachsenenalter Zusammenhänge zwischen solchen Erfahrungen und Psychopathologie nur in Untergruppen gegeben sind. Aufgrund der möglichen psychopathologischen Relevanz von Diskriminierungserfahrungen stellt eine weitere Erforschung von Prozessen gewichtsbezogener Diskriminierung und Stigmatisierung eine wesentliche Herausforderung zukünftiger Forschung dar, nicht zuletzt auch, um Ansatzpunkte der Stigmareduktion zu bestimmen.
291
46
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47 Psychische Komorbidität der Adipositas Stephan Herpertz 47.1
Seelische Belastungen und Erkrankungen bei Adipositas – 292
47.2
Psychosoziale Belastungen
47.3
Psychosomatische Aspekte der Adipositas – 292
47.4
Adipositas und Depression
47.1
47.5
Pathologisches hyperkalorisches Essverhalten und Binge-EatingStörung – 293
47.6
Adipositas und BorderlinePersönlichkeitsstörung – 294
47.7
Adipositas und Abhängigkeitserkrankungen – 294
– 292
– 293
Seelische Belastungen und Erkrankungen bei Adipositas
Bei psychischen Belastungen ist zwischen ursächlichen Faktoren und Folgezuständen der Adipositas idealiter zu unterscheiden, was aber i. d. R. nicht möglich ist. Während in den 1950er Jahren die Sichtweise verbreitet war, Adipositas stelle eine Störung der Persönlichkeit dar, die auf einen Mangel in der von Freud postulierten oralen Phase zurückgeht oder Ausdruck einer psychischen Abwehr gegenüber negativen Gefühlen ist (z. B. Angst und Depression), interpretiert die moderne Adipositasforschung seelische Aspekte vorherrschend als abhängige Variablen. So zeigen katamnestische Untersuchungen, dass eine Gewichtsreduktion i. d. R. mit einer Besserung psychischer Symptome, insbesondere von Angst und Depressivität, verbunden ist.
gesetzt. Da soziale Stigmatisierung Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein erwarten lässt, wurde die Selbstwertregulation adipöser Kinder im Vergleich zu normalgewichtigen wiederholt untersucht. Trotz kontroverser Studienlage scheint das Selbstwertgefühl jüngerer adipöser Kinder nur gering oder überhaupt nicht beeinträchtigt zu sein, wohingegen Jugendliche ab der Pubertät eine deutliche Selbstwertproblematik aufweisen. Die beschriebene Diskriminierung setzt sich insbesondere bei Frauen fort und hat oftmals ft negative Auswirkungen sowohl auf die Partnerschaft ft als auch auf den Arbeitsplatz. Eine häufig fi replizierte Beobachtung ist die inverse Beziehung zwischen sozioökonomischem Status und Häufigkeit fi der Adipositas. Der soziale Status, insbesondere bei Frauen, hat Auswirkungen auf das Gewicht: je niedriger die soziale Schicht, desto höher das Gewicht.
47.3 47.2
Psychosoziale Belastungen
Unabhängig von der Ätiologie der Adipositas sind die psychosozialen Belastungen eines adipösen Menschen unverkennbar. Sie sind insbesondere auf die Diskrepanz von steigendem durchschnittlichem Körpergewicht der Bevölkerung und gesellschaftft lich tradierten hohen Schlankheitsnormen zurückzuführen. Schon adipöse Kinder und Jugendliche sind erheblichen gesellschaftlichen ft Vorurteilen aus-
Psychosomatische Aspekte der Adipositas
Auch wenn genetische Befunde auf eine stärkere »genetisch-biologische Kontrolle« des Essverhaltens und des Körpergewichts hinweisen, sind ca. 10‒40 der Varianz des Körpergewichts auf Bevölkerungsebene auf Umweltfaktoren wie Ernährung und körperliche Bewegung zurückzuführen. Verhaltensbezogene Faktoren sind sowohl im Kontext soziokultureller Rahmenbedingungen
47.5 Pathologisches hyperkalorisches Essverhalten und Binge-Eating-Störung
als auch vor dem Hintergrund der individuellen Sozialisation (individuelle Lerngeschichte) zu verstehen. ! Essen hat neben der Hungersättigung wichtige andere Funktionen zu erfüllen. So dient Essen nicht selten auch der Aff ffektregulation z. B. im Sinne einer Kopplung negativer emotionaler Zustände und der Nahrungsaufnahme (z. B. Eltern trösten ihre Kinder durch das Angebot von Süßigkeiten).
Im Hinblick auf die Adipositas sind vornehmlich habitualisierte Handlungen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme von Interesse, die letztendlich zum Zweck der Spannungsabfuhr und des zumindest temporären Aufschubs dysphorischer Gefühle sowohl qualitativ als auch quantitativ das Essverhalten beeinfl flussen und das Gleichgewicht von Energieaufnahme und -abgabe verändern. So ist innerhalb des Gesamtkollektivs adipöser Menschen eine Subgruppe von adipösen Menschen auszumachen, bei der seelische Probleme und Störungen zu einer Veränderung des Ess- und Bewegungsverhaltens führen, deren Folge eine anhaltende positive Energiebilanz mit Übergewicht und Adipositas ist. Neben depressiven Störungen stellen die Angstund somatoformen Störungen die häufi figsten Diagnosen dar. Bestimmte Formen der Adipositas zeigen im Hinblick auf das phänotypische Verhalten Ähnlichkeiten mit den Abhängigkeitserkrankungen.
47.4
Adipositas und Depression
Adipositas und insbesondere die atypische Depression weisen wichtige Gemeinsamkeiten auf wie Antriebsschwäche, Bewegungsarmut, pathologisches hyperkalorisches Essverhalten, z. B. im Sinne einer Binge-Eating-Störung (BES), Übergewicht und schließlich eine erhöhte Morbidität und Mortalität im Rahmen von kardiovaskulären Erkrankungen und Typ-2-Diabetes mellitus. ! Insbesondere neuere prospektive Untersuchungen weisen die Depression in Kindesalter und Adoleszenz als Risikofaktor für die Entwicklung einer Adipositas im Erwachsenenalter aus.
293
47
Sehr viel widersprüchlicher ist die Datenlage im Hinblick auf den Zusammenhang von Depression und Adipositas im Erwachsenenalter. Zwischen einer depressiven Symptomatik und dem Körpergewicht finden fi sich in der Literatur sowohl positive, negative als auch keine Zusammenhänge, wenngleich neuere Studien auf eine erhöhte Prävalenz der Depression insbesondere bei Adipositas Grad II und III hinweisen. ! Vornehmlich bei adipösen Frauen und weniger bei Männern lassen sich depressive Symptome nachweisen, wobei insbesondere adipöse Frauen, die an einer Gewichtsreduktionsmaßnahme teilnehmen, betroffen ff zu sein scheinen. Dies ist als Ausdruck eines besonderen Leidensdrucks und des Wunsches nach professioneller Hilfe zu werten.
47.5
Pathologisches hyperkalorisches Essverhalten und BingeEating-Störung
Während die BES in der Allgemeinbevölkerung mit einer Prävalenz von 1‒3 auftritt, ft ist sie in Stichproben von adipösen Menschen, die unter ihrem Übergewicht leiden und ärztliche oder psychologische Hilfe zwecks Gewichtsreduktion aufsuchen, mit bis zu 30 relativ häufi fig. Im Gegensatz zu Anorexia nervosa und Bulimia nervosa, woran vornehmlich Frauen erkranken, sind ca. 40 der betroffenen ff Patienten Männer. Die mit der BES häufi fig einhergehende Adipositas motiviert die Patienten nicht selten zu regelmäßigen Fastenkuren, meist zeitlich begrenzten Episoden von strengem Diätverhalten und konsekutiver drastischer Gewichtsreduktion. In der Regel setzt danach allerdings wieder eine stetige Gewichtszunahme ein, deren Ausmaß nicht selten das Körpergewicht vor Beginn der Diätmaßnahme übertrifft fft. Adipöse Menschen mit einer BES haben im Vergleich zu nichtessgestörten Adipösen ein geringeres Selbstwertgefühl. Die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen, insbesondere affektiven ff Störungen und Persönlichkeitsstörungen, ist häufi figer zu beobachten. Die Entwicklung der Adipositas, häufig fi verbunden mit frühzeitigem Diäthalten und erfolglosen Versuchen
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Kapitel 47 · Psychische Komorbidität der Adipositas
der Gewichtsreduktion beginnt anamnestisch früher als bei nichtessgestörten adipösen Menschen. Weitere Unterschiede bestehen im Hinblick auf die Nahrungs- bzw. Energieaufnahme, die bei adipösen Menschen mit BES sowohl global als auch an Tagen ohne Essanfälle größer ist. Es besteht ein direktes Verhältnis zwischen Psychopathologie und dem Grad der Essstörung, weniger erscheint der psychopathologische Befund mit dem Ausmaß der Adipositas assoziiert zu sein.
47.6
Adipositas und BorderlinePersönlichkeitsstörung
Aff ffektregulationsstörungen können Ausdruck einer generellen Störung der Impulsivität im Sinne einer Impulskontrollstörung darstellen, wie sie vornehmlich bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen wie der affektiv-instabilen ff (Borderline-)Persönlichkeitsstörung zu fi finden ist. Die Komorbidität von Adipositas und Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist bisher vornehmlich an klinischen Stichproben untersucht worden mit Prävalenzen zwischen 7 und 40. Bei Stichproben von Adipositaschirurgie-Patienten, i. d. R. mit einer Adipositas Grad III, schwanken die Prävalenzangaben zwischen 1,0 und 30. Die BPS ist multifaktorieller Genese und das Produkt eines komplexen Ineinandergreifens von angeborenem Temperament, schweren Belastungen in der Kindheit und relativ subtilen Formen neurologischer und/oder biochemischer Dysfunktionen. Zu den schweren Kindheitsbelastungen werden traumatisierende Erfahrungen wie sexueller Missbrauch gerechnet. Tatsächlich findet fi man in der psychiatrischen oder psychosomatischen Versorgung komorbide Patientinnen, bei denen die Impulskontrollstörung z. B. im Rahmen einer BES eine maßgebliche Rolle in der Genese der Adipositas spielt. Gleichzeitig hat bei vielen dieser Patientinnen die Adipositas einen protektiven Charakter gegenüber der Sexualität. Bei dem Vergleich adipöser mit normalgewichtigen Frauen in der Primärversorgung lassen sich signifi fikante Zusammenhänge zwischen dem höchsten Körpergewicht (Lebenszeit), dem Körpergewicht zum Zeitpunkt der Untersuchung, sexuellem Missbrauch in der Lebensgeschichte,
Selbstverletzungsverhalten und einer BorderlinePersönlichkeitssymptomatik aufzeigen.
47.7
Adipositas und Abhängigkeitserkrankungen
Bestimmte Formen der Adipositas können Ausdruck einer zentralen Fehlregulation sein. So hat die moderne Medizin beachtliche Erfolge bei der Bekämpfung der adipositasassoziierten Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie etc. zu verzeichnen. Behandlungsstrategien jedoch, die auf ursächliche Faktoren wie z. B. die Veränderung des Essverhaltens abzielen, stellen sich zumindest mittel- bis langfristig und damit im Sinne eines kurativen Ansatzes wenig erfolgreich dar. Darüber hinaus zeichnet sich das Essverhalten vieler adipöser Menschen durch die Unfähigkeit aus, dem zweifellos vorhandenen Wunsch nach Beendigung der Nahrungsaufnahme Folge leisten zu können. Auch gehen Übergewicht und Adipositas nicht selten einher mit einer exzessiven motivationalen Ausrichtung auf ernährungsrelevante Stimuli. Zwanghafte ft Züge oder Merkmale einer Impulskontrollstörung werden deutlich, und die Nähe zu psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen erscheint durchaus für einige Formen der Adipositas gegeben.
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47.7 Adipositas und Abhängigkeitserkrankungen
Herpertz S, Kielmann R, Wolf AM, Langkafel M, Senf W, Hebebrand J (2003) Does obesity surgery improve psychosocial functioning ? A systematic review. Int J Obes Relat Metab Disord 27: 1300-1314 McElroy SL, Kotwal R, Malhotra S, Nelson EB, Keck PE, Nemeroff ff CB (2004) Are mood disorders and obesity related? A review for the mental health professional. J Clin Psychiatry 65: 634-651 Roberts RE, Kaplan GA, Sherma SJ, Strawbridge WJ (2000) Are the obese at greater risk for depression? Am J Epidemiol152: 163-170 Sansone RA, Sansone LA, Fine MA (1995) The relationship of obesity to borderline personality symptomatology, selfharm behaviors, and sexual abuse in female subjects in a primary-care medical setting. J Personality Disord 9: 254-265
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Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression
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Bernd Löwe
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48.1
Hintergrund – 296
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48.2
Epidemiologie – 297
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48.2.1 Metabolisches Syndrom – 297 48.2.2 Depression – 298 48.2.3 Metabolisches Syndrom und psychische Störungen – 298
48.3
Zusammenhang von metabolischem Syndrom und Depression – 298
48.4
Behandlungsprinzipien
– 299
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48.1
Hintergrund
Eine Reihe metabolischer Risikofaktoren für koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt und kardiovaskuläre Mortalität tritt typischerweise gemeinsam auf. Verschiedene Bezeichnungen wurden in den letzten Jahrzehnten zur Beschreibung der Kombination dieser kardiovaskulären Risikofaktoren verwendet; heute hat sich der Begriff ff des »metabolischen Syndroms« weitgehend durchgesetzt. ! Das metabolische Syndrom, früher auch »Syndrom X« oder »tödliches Quartett« genannt, bezeichnet einen Symptomenkomplex aus verminderter Glukosetoleranz, Adipositas, Dyslipoproteinämie und arterieller Hypertonie.
Aufgrund des Anstiegs der Prävalenz von Adipositas, Diabetes mellitus und des metabolischen Syndroms in den letzten 20 Jahren und des Auftretens ft bereits im frühen Kindheitsalter wird mittlerweile von einer »globalen Epidemie« gesprochen; Präventionsstrategien werden dringend gefordert. Parallel zum Anstieg des metabolischen Syndroms werden die depressiven Störungen häufi figer diagnostiziert, und es wird erwartet, dass sie im Jahr 2020 zur zweithäufi figsten Ursache von Arbeitsunfähigkeit werden. Auch wenn die Bezeichnung »metabolisches Syndrom« nun weitgehend akzeptiert ist, gibt es zurzeit mindestens sechs verschiedene Defi finiti-
onen. Im Jahr 1998 wurde von der WHO eine erste, international anerkannte Defi finition des metabolischen Syndroms entwickelt. Als Reaktion darauf entwickelte das Adult Treatment Panel IIII (ATP III) eine neue Defi finition des metabolischen Syndroms, die im Vergleich zur WHO-Definition fi wesentlich einfacher zu erheben war. Im Jahr 2005 wurden parallel von der International Diabetes Federation (IDF) und der American Heart Association/National Heart, Lung and Blood Institute (AHA/NHLBI) überarbeitete Versionen der ATP-III-Kriterien ausgegeben, die sich hinsichtlich der angegebenen Grenzen für die Hypertriglyzeridämie, das reduzierte HDL-Cholesterin, die arterielle Hypertonie und die erhöhte Nüchternglukose entsprechen. Allerdings liegen die Grenzwerte für den Bauchumfang bei der amerikanischen AHA/NHLBI-Definifi tion höher als bei der IDF-Definition, fi und der diagnostische Algorithmus zeigt leichte Unterschiede. Im Unterschied zur AHA/NHLBI-Definition fi bietet die IDF-Definition fi den Vorteil, dass sie bevölkerungsspezifi fische Grenzwerte für den Bauchumfang angibt, sodass diese Definition fi weltweit anwendbar ist. In . Tab. 48.1 sind die diagnostischen Kriterien des metabolischen Syndroms nach der IDF-Definifi tion dargestellt.
297
48.2 Epidemiologie
48
. Tab. 48.1. Definition fi des metabolischen Syndroms der International Diabetes Federation (IDF) (Daten aus Alberti et al. 2005) Diagnostische Kriterien
Grenzwerte
Zentrale Adipositasa
Bauchumfang ≥ 94 cm (Männer europäischer Herkunft) ≥ 80 cm (Frauen europäischer Herkunft)
Plus 2 oder mehr der folgenden Symptome: Hypertriglzeridämie
Triglyzeride > 150 mg/dl Spezifische fi Behandlung dieser Lipidstörung
Erniedriges HDL-Cholesterin
< 40 mg/dl (Männer) < 50 mg/dl (Frauen) Spezifische fi Behandlung dieser Lipidstörung
Bluthochdruck
Systolisch ≥ 130 mmHg Diastolisch ≥ 85 mmHg Behandlung einer vordiagnostizierten arteriellen Hypertonie
Erhöhte Nüchternglukose
≥ 100 mg/dl Bereits diagnostizierter Typ-2-Diabetes mellitus
a
Normwerte für den Bauchumfang unterscheiden sich für verschiedene ethnische Gruppen Eine Übersicht über die Normwerte findet fi sich bei Alberti et al. (2005)
Definition
48.2
Epidemiologie
Kritik am Konzept des metabolischen Syndroms
48.2.1
Metabolisches Syndrom
Allerdings wurde auch berechtigte Kritik am Konzept des metabolischen Syndroms geäußert: Erst kürzlich haben die American Diabetes Association (ADA) und die European Association for the Study of Diabetes (EASD) einen provokativen Aufruf zur kritischen Hinterfragung des Konzepts des metabolischen Syndroms veröffentlicht. ff In dieser Publikation wird die Defi finition als unpräzise kritisiert und der klinische Nutzen der Zusammenfassung von bekannten Risikofaktoren zu einem Syndrom hinterfragt. Es wird vorgeschlagen, dass Kliniker bis zum Vorliegen besserer Forschungsergebnisse anstelle des metabolischen Syndroms nur die einzelnen Risikofaktoren diagnostizieren und behandeln. Dagegen argumentierte die IDF, dass es angesichts der weltweiten Epidemie von Diabetes mellitus und kardiovaskulären Erkrankungen sehr wohl sinnvoll sei, Personen mit Risikofaktoren für diese Erkrankungen möglichst frühzeitig zu identifizieren fi und zur Lebensstiländerung zu bewegen.
International variieren die Prävalenzen des metabolischen Syndroms stark: In verschiedenen Stichproben der amerikanischen Allgemeinbevölkerung wurden Prävalenzen von 20‒40 angegeben, während weltweit in Frankreich mit 7 wesentlich niedrigere Prävalenzen gefunden wurden. Verlässliche Zahlen zur Häufi figkeit des metabolischen Syndroms aus Deutschland liegen nicht vor. Die Prävalenz des metabolischen Syndroms steigt mit zunehmendem Alter stark an, z. B. bei amerikanischen Frauen von 12 im Alter von 20‒29 Jahren bis auf 61 im Alter von 60‒69 Jahren. Die Häufi figkeit des metabolischen Syndroms steigt mit zunehmendem Body-Mass-Index; Hypertoniker haben etwa doppelt so häufig fi ein metabolisches Syndrom wie Normotoniker. In gleicher Weise ist bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) die altersadjustierte Prävalenz des metabolischen Syndroms verdoppelt im Vergleich zu Patienten ohne KHK. Als weitere Risikofaktoren für das metabolische Syndrom wurden sitzender Lebensstil, Rauchen und chronischer Stress bei der Arbeit identifiziert. fi Bei Personen mit metabolischem Syndrom ist die Auf-
298
Kapitel 48 · Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression
45
tretenswahrscheinlichkeit von kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes mellitus im Vergleich zu Personen ohne metabolisches Syndrom signifikant erhöht. Wie die INTERHEART-Studie und fi andere Studien eindrucksvoll gezeigt haben, gilt das erhöhte Risiko für Myokardinfarkte nicht nur für das Vollbild des metabolischen Syndroms, sondern in ähnlicher Höhe auch für jede seiner Komponenten, d. h. für die arterielle Hypertonie, die abdominelle Fettsucht, den Diabetes mellitus und die Hyperlipidämie.
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48.2.2
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Depression
Nach einer Untersuchung der WHO liegt die 12Monats-Prävalenz depressiver Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung bei 3,6. Bei körperlich kranken Patienten ist jedoch von einer Prävalenz depressiver Störungen von etwa 20‒35 auszugehen, wobei die Prävalenz mit der Schwere und der Chronizität der körperlichen Erkrankung stark ansteigt. ! Durch große Studien und Metaanalysen ist mittlerweile belegt, dass eine depressive Störung ein signifikanter fi Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität ist. Durch eine depressive Störung erhöht sich das Risiko, an einem Myokardinfarkt zu versterben, um den Faktor 1,5–2,5.
Da depressive Störungen und metabolisches Syndrom für sich alleine schon mit erheblicher Morbidität und Mortalität behaftet ft sind, ist zu befürchten, dass eine Kombination mit besonders schwer wiegenden Folgen einhergeht. Allerdings fehlen hier Studien, welche das erhöhte kardiovaskuläre Risiko der Komorbidität von Depression und metabolischem Syndrom quantifizieren fi . ! Patienten mit den einzelnen Komponenten des metabolischen Syndroms, d. h. Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie oder Adipositas, leiden im Vergleich zu Personen ohne diese Risikofaktoren signifikant fi häufi figer an depressiven Störungen.
48.2.3
Metabolisches Syndrom und psychische Störungen
Das metabolische Syndrom ist für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie von besonderer Relevanz, da es bei den Patienten dieser Fachrichtungen gehäuft ft auft ftritt. Wahrscheinlich ist der Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und dem metabolischen Syndrom bidirektional: Psychische Störungen erhöhen das Risiko zur Entwicklung eines metabolischen Syndroms, und das metabolische Syndrom erhöht das Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen. Zu beachten ist, dass auch die medikamentöse Behandlung von psychischen Störungen, insbesondere durch Antipsychotika und trizyklische Antidepressiva, zur Entwicklung eines metabolischen Syndroms beitragen kann: In einer aktuellen Studie wurde bei 37 der Patienten unter Antipsychotika der zweiten Generation ein metabolisches Syndrom diagnostiziert. Auch bei unipolaren und bipolaren affektiven ff Störungen weisen erste Studien auf eine überzufällige Häufung des metabolischen Syndroms bzw. seiner Komponenten hin. Zur Prävalenz von depressiven Störungen bei metabolischem Syndrom liegen bisher nur wenige Daten vor; diese weisen auf eine signifi fikant erhöhte Prävalenz depressiver Symptome bei Patienten mit metabolischem Syndrom hin. Depressive Symptome scheinen nicht nur in der Folge eines metabolischen Syndroms zu entstehen; vielmehr stellt die Depression selbst einen Risikofaktor für die Entstehung des metabolischen Syndroms dar. So konnte zumindest bei weiblichen Patienten mit major depression nachgewiesen werden, dass für diese Patienten ein 2-fach höheres Risiko besteht, ein metabolisches Syndrom zu entwickeln.
48.3
Zusammenhang von metabolischem Syndrom und Depression
Wechselwirkungen zwischen metabolischem Syndrom und depressiven Störungen liegen auf der behavioralen, metabolischen, genetischen und iatrogenen Ebene vor. Generell lässt sich bei depressiven Patienten eine ungesündere Lebensführung als bei nichtdepressiven Personen beobachten. Die ungesündere Lebensführung bei Depressiven, wel-
299
48.4 Behandlungsprinzipien
che die Entwicklung eines metabolischen Syndroms begünstigt, beinhaltet erhöhte Raten von Nikotinabusus, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Ein weiterer wesentlicher behavioraler Faktor stellt die verminderte medizinische Compliance depressiver Patienten dar, die sich u. a. in der Nichteinhaltung ärztlicher Therapieempfehlungen und einem ungesunden Lebensstil äußert. Eine wesentliche Verbindung zwischen Depressionen und metabolischem Syndrom wird auch in der Insulinresistenz gesehen, welche mit Hyperkortisolismus, Aktivierung proinflammatorischer fl Zytokine, verminderter körperlicher Aktivität und artherosklerotischen Komplikationen assoziiert ist. Als ursächlich für den Hyperkortisolismus ist möglicherweise eine Erhöhung von TNFα (Tumornekrosefaktor α) und Interleukin-6 im Rahmen einer Imbalance von anti- und proinflammatorischen Zytokinen zu sehen, die nachfolfl gend zu einer Erhöhung diabetogener Hormone (adrenokortikotropes Hormon ACTH, Kortikotropin-Releasing-Hormon CRH, Wachtumshormon GH) führt und durch eine Interaktion mit Insulinrezeptoren eine Modulation der Aktivität des Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenrinden-Systems hervorruft. ft Aufgrund dieser Stoff ffwechselkonstellation besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines metabolischen Syndroms mit einer verschlechterten Glukosetoleranz, einer relativen Insulinresistenz, einer Dyslipidämie und einer Zunahme intraabdomineller Fettgewebskompartimente. Dabei kommt dem intraabdominellen (viszeralen) Fettgewebe eine ganz besondere Bedeutung zu. Depressive sind häufi fig adipös und weisen ein erhöhtes Volumen intraabdomineller Fettkomponenten auf: Dies wiederum stellt ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines metabolischen Syndroms und eines Diabetes sowie kardiovaskulärer Erkrankungen dar. Schließlich sind genetische Zusammenhänge wahrscheinlich für die Ausbildung eines metabolischen Syndroms bei Depressionen bedeutsam, wenngleich nicht von einer monogenetischen Ätiologie auszugehen ist. Allerdings gibt es für die Annahme einer genetischen Komponente auch gegenteilige Befunde. Die Entwicklung eines metabolischen Syndroms bei Depressiven kann auch iatrogen durch die Einnahme antidepressiver Medikation begünstigt werden. So ist eine Gewichtszunahme und Stoffwechff
48
selverschlechterung durch antidepressive Medikation, insbesondere durch trizyklische Antidepressiva, beschrieben. . Abb. 48.1 illustriert Mechanismen und Faktoren, die bei der Ausbildung eines metabolischen Syndroms mit Depression wirksam werden, und verdeutlicht, wie durch ein metabolisches Syndrom einerseits eine Verschlechterung der depressiven Symptomatik und andererseits eine Potenzierung der somatischen Morbidität bedingt werden kann. Sowohl die Befindlichkeitsstörung fi als auch die fortschreitende somatische Morbidität führen wiederum zu einer Verschlechterung der depressiven Symptomatik. Es zeigt sich in letzter Konsequenz ein klassischer Circulus vitiosus mit sich selbst verstärkenden Mechanismen und verhängnisvollen Folgen.
48.4
Behandlungsprinzipien
Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist eine umfassende Diagnostik psychischer und somatischer Störungen. Die Diagnostik psychischer Störungen bei Patienten mit metabolischem Syndrom kann den behandelnden Arzt allerdings vor besondere Herausforderungen stellen: Typischerweise sind die psychischen Störungen nicht vordiagnostiziert, und das Erkennen der psychischen Symptome kann durch die Überlagerung von körperlichen und psychischen Beschwerden erschwert sein. In vielen Fällen ist der Patient fremdmotiviert und sieht seine Probleme eher im Übergewicht und den körperlichen Komplikationen begründet als in psychosozialen Ursachen. Wie bei anderen körperlichen Erkrankungen ist davon auszugehen, dass die Häufi figkeit psychischer Störungen mit der Schwere und der Chronizität des metabolischen Syndroms und seiner Folgeerkrankungen ansteigt. Allerdings scheint das metabolische Syndrom bei Patienten mit schweren psychischen Störungen weniger suffizient behandelt zu werden als bei Patienten ohne psychische Störungen. ! Leidet ein Patient sowohl unter einem metabolischen Syndrom als auch unter einer depressiven Störung, so sind unbedingt beide Störungen im Behandlungsplan simultan zu berücksichtigen.
300
Kapitel 48 · Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression
Depression
41 42 43 44 45 46
Behaviorale Faktoren: Rauchen, Alkohol, Fehlernährung, Non-Compliance, sozialer Rückzug
Somatische Komplikationen: Kardiovaskuläre Ereignisse, Mikro- und Makroangiopathie
Pathophysiologische Faktoren: Insulinresistenz, Hyperkortisolismus, sympathische Aktivierung, Entzündung, intraabdominelles Fett
Körperliche Inaktivität Leidensdruck, psychosozialer Stress Stigmatisierung, Schamgefühle
47
Antidepressive Medikation: Gewichtszunahme, Hyperprolaktinämie
Gewichtszunahme
Genetische Faktoren
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Metabolisches Syndrom . Abb. 48.1. Wechselwirkungen zwischen Depression und metabolischem Syndrom; Insulinresistenz: eingeschränkte Sensitivität des Kohlenhydratstoffwechsels ff auf Insulin. (Aus Löwe et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung)
Da von einer wechselseitigen Verstärkung von Merkmalen des metabolischen Syndroms und von Symptomen psychischer Störungen auszugehen ist, muss die psychosoziale Behandlung dieser Patientengruppe multidimensional sein und das Ziel verfolgen, den Patienten zum erfolgreichen Management seiner körperlichen und seelischen Belastungen zu befähigen. Nur wenn sich die Depression des Patienten bessert, wird er motiviert sein, aktiv an den Komponenten des metabolischen Syndroms zu arbeiten. ! Tatsächlich sind die beiden therapeutischen Grundprinzipien in der Behandlung des metabolischen Syndroms, nämlich körperliche Aktivität und Gewichtsabnahme, auch antidepressiv wirksam.
In manchen Fällen müssen die Risikofaktoren des metabolischen Syndroms, d. h. Hypertonie, Diabe-
tes mellitus und Hyperlipidämie, zusätzlich medikamentös behandelt werden. Bei der Behandlung muss im Rahmen der Kooperation von Hausärzten, Internisten, Ärzten für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Ärzten für Psychiatrie und Psychotherapie sichergestellt werden, dass sich der Patient hinsichtlich Diagnose, Behandlungsoptionen und Prognose ausreichend aufgeklärt fühlt. Auch eine adäquate medizinische Behandlung der Risikofaktoren bzw. komorbider körperlicher Störungen ist Voraussetzung für eine effi ffiziente Therapie. Gewicht, Blutdruck, Nüchternblutzucker, HbA1c und Lipide müssen ausreichend häufi fig kontrolliert werden, um dem Patienten und dem Arzt eine Rückmeldung zum Erfolg der Th Therapie zu geben. Eine begleitende Suchtentwöhnung (Rauchen!) ist in vielen Fällen notwendig. Die Motivation und Compliance des Patienten kann in vielen Fällen durch den Einbezug der Familie bzw. des Freundeskreises gestärkt werden. Ein wesent-
48.4 Behandlungsprinzipien
liches Ziel der Behandlung ist es, das Gesundheitsverhalten so zu fördern, dass der Patient langfristig zum Selbstmanagement seines metabolischen Syndroms und komorbider Erkrankungen in der Lage ist. Bei der Behandlung des depressiven Patienten mit metabolischem Syndrom ist es von großer Bedeutung, den Patienten nicht als »psychisch krank« zu behandeln, sondern als eine normale Person, die unter ungewöhnlichen Belastungen leidet.
301
48
! Eine begleitende antidepressive Pharmakotherapie ist bei leichten und mittelschweren depressiven Episoden manchmal, bei schweren depressiven Episoden fast immer indiziert.
Die psychosomatische Behandlung des Patienten, welche im Einzel- und im Gruppensetting durchgeführt werden kann, sollte ressourcenorientiert sein und die folgenden Komponenten beinhalten (. Übersicht: Behandlungsprinzipien bei Komorbidität von Depression und metabolischem Syndrom) .
Behandlungsprinzipien bei Komorbidität von Depression und metabolischem Syndrom Psychoedukation Der Patient und seine nächste Bezugsperson müssen sowohl über das metabolische Syndrom und dessen Behandlung als auch über depressive Störungen aufgeklärt werden, damit sie das notwendige Grundwissen haben, um ihre gesundheitlichen Probleme eigenverantwortlich zu managen. Gesundheitsverhalten Zur Steigerung der körperlichen Aktivität sollten strukturierte Aktivitätspläne ausgearbeitet werden. Der Therapeut verstärkt die Durchführung der körperlichen Aktivität. Hinsichtlich Lebensstil und Ernährung sollten ergänzende Beratungen erfolgen. Erklärungsmodelle Die subjektiven Erklärungs- und Behandlungsmodelle des Patienten müssen in die Behandlung einbezogen werden, damit Patient und Arzt zu gemeinsam getragenen Entscheidungen hinsichtlich der angewandten Behandlungsmethoden kommen. Fokusableitung und Therapieplanung Der Behandlungsauftrag, der Fokus der Behandlung und das Therapieziel sollten mit
Bisher liegen keine Studien zur Wirksamkeit der Behandlung von depressiven Patienten mit metabolischem Syndrom vor. Diese Studien sind dringend notwendig, da es sich bei dieser Patientengruppe um eine zahlenmäßig stark wachsende Hochrisikogruppe für kardiovaskuläre und andere Erkrankungen bzw. Todesfälle handelt. Die kontrollierten
dem Patienten explizit abgesprochen werden. Abhängig von der therapeutischen Ausrichtung des Therapeuten eignen sich als Grundlage z. B. die operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD-2) bzw. eine strukturierte Problem- und Verhaltensanalyse. Kognitive Techniken Die Patienten müssen lernen, dysfunktionale negative Kognitionen und Bewertungen zu identifi fizieren und zu verändern. Integration der Bezugspersonen Interpersonelle Probleme sind die häufi figste subjektive Ursache für emotionale Probleme bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen. Der Einbezug der Familie bzw. der wichtigsten Bezugspersonen in Paar- bzw. Familiensitzungen dient der Lösung interpersoneller Probleme sowie dem Erlernen gesundheitsfördernder Verhaltensweisen für die gesamte Familie. Problemlösekompetenzen Um nachhaltige Besserungen zu erzielen, ist es sinnvoll, mit dem Patienten zu üben, Probleme frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und konstruktiv zu lösen.
Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie bzw. antidepressiver Pharmakotherapie bei depressiven Patienten mit koronarer Herzkrankheit bzw. Diabetes mellitus weisen jedoch darauf hin, dass diese Interventionen auch bei Patienten mit metabolischem Syndrom wirksam sein könnten.
302
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Kapitel 48 · Somatopsychische Komorbidität: Metabolisches Syndrom und Depression
Fazit Depression und metabolisches Syndrom sind in den letzten Jahrzehnten häufi figer geworden und treten überzufällig häufi fig gemeinsam auf. Depression und metabolisches Syndrom, beides Risikofaktoren für kardiovaskuläre Mortalität, können sich im Sinne eines Circulus vitiosus durch Faktoren wie Inaktivität, sozialen Rückzug, metabolische Parameter und Non-Compliance wechselseitig verstärken. Deshalb müssen diagnostische und therapeutische Maßnahmen simultan das metabolische Syndrom und die Depression berücksichtigen. Ziel der Behandlung ist nicht nur eine Remission der Depression, sondern auch, den Patienten in die Lage zu versetzen, die gesundheitlichen Herausforderungen des metabolischen Syndroms erfolgreich und eigenverantwortlich zu managen.
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49 Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas Martina Schröter und Anil Batra 49.1
Grundlagen der Tabakabhängigkeit – 303
49.1.1 Neurobiologische Aspekte der Tabakabhängigkeit – 304 49.1.2 Psychosoziale Aspekte der Tabakabhängigkeit – 304
49.2
Diagnostik der Tabakabhängigkeit – 305
49.3
Tabakabhängigkeit bei Anorexie und Bulimie – 305
49.4
Weight concerns und Rauchverhalten – 306
In Deutschland rauchen 32 der Männer und 22 der Frauen, die älter als 15 Jahre sind (Repräsentativerhebung des Statistischen Bundesamtes). In einer Untersuchung zum Raucherverhalten unter Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 19 Jahren ermittelte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufk fklärung im Jahr 2006 26, wobei 14 der Befragten täglich rauchten. Mit zunehmendem Alter stiegen Rauchprävalenz und die Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten an. Rauchen gilt heute in den Industriestaaten als der bedeutsamste einzelne Risikofaktor für eine Vielzahl von schwer wiegenden Erkrankungen und einen vorzeitigen Tod. An den Folgen ihres Tabakkonsums versterben allein in Deutschland pro Jahr 110.000‒140.000 Menschen. Die gesundheitsschädigenden Wirkungen des Tabakkonsums sind auf zahlreiche toxische oder kanzerogene Substanzen ‒ wie beispielsweise Kohlenmonoxid, Stickstoff ffdioxid, Benzol, Nitrosamine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoff ffe, freie Radikale, Schwermetalle und viele andere mehr ‒ zurückzuführen, die mit dem Tabakrauch inhaliert werden. Die gesundheitsschädigenden Auswirkungen
49.5
Tabakabstinenz und Gewichtszunahme – 307
49.6
Rauchen und Adipositas
49.7
Behandlung der Tabakabhängigkeit – 308
– 307
49.7.1 Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten – 308 49.7.2 Motivierende Gesprächsführung und Psychotherapie – 309
49.8
Tabakentwöhnung bei Patientinnen mit Bulimie oder Anorexie – 309
bestehen auch für Nichtraucher, die regelmäßig dem Tabakrauch ausgesetzt sind (»Passivraucher«). Zu den häufi figsten tabakassoziierten Erkrankungen gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Karzinome (v. a. der Lunge, des Kehlkopfs und der Speiseröhre) und die chronisch-obstruktive Bronchitis. Durch mehrere Studien konnte belegt werden, dass sich die Lebenserwartung bei einem regelmäßigen langjährigen Raucher um etwa 8‒10 Jahre verkürzt.
49.1
Grundlagen der Tabakabhängigkeit
Die Tabakabhängigkeit ist multifaktoriell bedingt und entsteht durch das komplexe Zusammenspiel sozialer, psychologischer und (neuro)biologischer Faktoren. Die Wechselwirkungen physiologischer und psychologischer Effekte ff führen zu einer Verfestigung des Rauchverhaltens und begünstigen die Abhängigkeitsentwicklung.
304
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49.1.1
Kapitel 49 · Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas
Neurobiologische Aspekte der Tabakabhängigkeit
Die psychopharmakologischen Wirkungen des Nikotins werden für die Entwicklung der körperlichen Abhängigkeit verantwortlich gemacht. Das durch den Tabakrauch inhalierte Nikotin entfaltet innerhalb von 7‒10 Sekunden seine Wirkungen im zentralen Nervensystem und besitzt ein bivalentes Wirkspektrum, das dosisabhängig sowohl als beruhigend als auch als anregend wahrgenommene Wirkungen besitzt. Nach Inhalation des Tabakrauchs bewirkt Nikotin zentral nach Stimulation präsynaptischer nikotinerger Acetylcholinrezeptoren die Konzentrationserhöhung verschiedener Neurotransmitter wie Dopamin, Acetylcholin, Noradrenalin und Serotonin. Damit sind unterschiedliche Wirkqualitäten (Wohlbefi finden, Stimmungsaufhellung, Aktivierung, Beruhigung, Reduktion der Angst, subjektiv erlebte Steigerung kognitiver Leitungsfähigkeit) verbunden. Für die Abhängigkeitsentwicklung scheint die durch das Nikotin vermittelte dopaminerge Aktivierung im mesolimbischen »Belohnungszentrum« (Nucleus accumbens) von Bedeutung zu sein. Eine dem regelmäßigen Nikotinkonsum folgende Adaptation führt zu einer Minderung der Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens unter das Ausgangsniveau bei einem Nikotinentzug. Infolge der wiederholten und verlängerten Rezeptordesensibilisierung erhöht sich kompensatorisch die Dichte der zentralen nikotinergen α4β2-Acetylcholinrezeptoren. Diese »UpRegulation« erfolgt in Abhängigkeit von der Nikotindosis und ist erst nach einer längeren Abstinenzperiode rückläufi fig. Die erhöhte Zahl freier nikotinerger α4β2-Acetylcholinrezeptoren wird u. a. für die Entstehung von Entzugssymptomen verantwortlich gemacht. Das Nikotinentzugssyndrom (ICD-10, F17.3) ist durch folgende Symptome gekennzeichnet (. Übersicht).
Symptome des Nikotinentzugssyndroms 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
49.1.2
Starkes Rauchverlangen Krankheitsgefühl oder Schwäche Angst Dysphorische Stimmung Reizbarkeit Ruhelosigkeit Insomnie Appetitsteigerung Vermehrter Husten Ulzerationen der Mundschleimhaut Konzentrationsstörungen
Psychosoziale Aspekte der Tabakabhängigkeit
Im psychodynamischen Verständnis stellt das Rauchen eine neurotische Fehlhaltung dar; das Rauchen wird als orale Triebbefriedigung, als Regulativ innerpsychischer Defizite fi oder als unbewusstes autodestruktives Verhalten verstanden. Aus lerntheoretischer Sicht sind für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeit das soziale Modelllernen, klassische und operante Konditionierungsprozesse, aber auch kognitive Lernprozesse, die sich auf die Wirkungserwartung des Rauchens beziehen, verantwortlich. Zu Beginn der Raucherkarriere spielen eher soziale Verstärkerprozesse und die Assoziation des Rauchens mit positiven Begriff ffen wie Sportlichkeit, Geselligkeit aber auch dem »Schlanksein« eine Rolle. Bei regelmäßigem Tabakkonsum gewinnen die pharmakologischen Eff ffekte des Nikotins eine immer größere Bedeutung. Die als angenehm empfundenen Wirkungen des Nikotins setzen Raucher zunehmend gezielt und funktional zur Belohnung, zur Stressreduktion und zur Entspannung ein, schließlich wird der Tabakkonsum auch zur Vermeidung von Entzugssymptomen aufrechterhalten.
49.2
Diagnostik der Tabakabhängigkeit
Wichtige Voraussetzung für die Planung einer Intervention ist eine ausführliche Diagnostik, die die Einschätzung möglicher Komplikationen bei der Tabakentwöhung und der Rückfallgefährdung erlaubt. Dazu gehört die Erhebung rauchanamestischer Variablen (Tageszigarettenkonsum, Rauchbeginn, Rauchdauer), der Funktionalität des Rauchverhaltens im sozialen Umfeld, der Risikofaktoren (Schwangerschaft ft, psychiatrische und somatische Erkrankungen, regelmäßige Einnahme von Medikamenten) sowie die Erfassung der Abhängigkeitskriterien nach ICD-10 (Tabakabhängigkeit F17.2) und der Stärke der Abhängigkeit mit dem Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit (FTND) (. Tab. 49.1). Der FTND erlaubt eine Einschätzung der Stärke der Abhängigkeit und ist ein zuverlässiges Instrument für die Abschätzung von auftretenden ft Entzugssymptomen. Je höher der Summenwert, desto mehr Entzugsymptome sind zu erwarten und umso höher ist auch die Rückfallgefahr. Aus der Stärke der Abhängigkeit und der Auswertung der Einzelfragen lassen sich Hinweise für die erforderlichen
49
305
49.3 Tabakabhängigkeit bei Anorexie und Bulimie
medikamentösen und Interventionen ableiten.
psychotherapeutischen
Tabakabhängigkeit bei Anorexie und Bulimie
49.3
Bislang existieren nur sehr wenige klinische Studien, die das Rauchverhalten bei Patientinnen mit einer Bulimie oder Anorexie untersucht haben. Keine dieser Studien bezieht männliche Patienten in ihre Untersuchungen mit ein, sodass unklar ist, ob sich die gefundenen Ergebnisse auf männliche Patienten übertragen lassen. Der Anteil der Tabakkonsumenten bei Frauen mit Anorexie wird auf 4‒ 25 geschätzt und liegt damit eher unter dem der gesunden Kontrollgruppen, der je nach Studie zwischen 24‒30 betrug. Bei Patientinnen mit Bulimie lag dieser Anteil dagegen bei bis zu 61. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen war in den meisten Studien signifikant. fi Im Vergleich dazu wird der Anteil der Raucher (für beide Geschlechter gemittelt) bei Menschen mit depressiven und/ oder Angsterkrankungen auf 35 geschätzt, bei Patienten mit psychotischen oder anderen Abhängigkeitserkrankungen werden Prävalenzraten zwi-
. Tab. 49.1. Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit. (Mod. nach Heatherton et al. 1991; © K. O. Fagerström, mit freundlicher Genehmigung) Wann nach dem Erwachen rauchen Sie Ihre erste Zigarette?
Innerhalb von 5 Minuten Innerhalb von 6–30 Minuten Innerhalb von 31–60 Minuten Nach 60 Minuten
3 Punkte 2 Punkte 1 Punkt 0 Punkte
Finden Sie es schwierig, an Orten, wo das Rauchen verboten ist, das Rauchen sein zu lassen?
Ja Nein
1 Punkt 0 Punkte
Auf welche Zigarette würden Sie nicht verzichten wollen?
Die erste am Morgen Andere
1 Punkt 0 Punkte
Wie viele Zigaretten rauchen Sie im Allgemeinen pro Tag?
Bis 10 11–20 21–30 Mehr als 30
0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte 3 Punkte
Rauchen Sie in den ersten Stunden nach dem Erwachen im Allgemeinen mehr als am Rest des Tages?
Ja Nein
1 Punkt 0 Punkte
Kommt es vor, dass Sie rauchen, wenn Sie krank sind und tagsüber im Bett bleiben müssen?
Ja Nein
1 Punkt 0 Punkte
0–3 Punkte: geringe Abhängigkeit, 4–6 Punkte: mittelstarke Abhängigkeit, 7–8 Punkte: starke Abhängigkeit, 9–10 Punkte: sehr starke Abhängigkeit
306
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Kapitel 49 · Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas
schen 65‒95 angegeben. Das wesentliche Merkmal, welches Raucherinnen mit Anorexie bzw. Bulimie hinsichtlich ihres Tabakkonsums unterscheidet, scheint das Binge-Eating-/Purging-Verhalten zu sein. Soweit dies in den Studien differenff ziert wurde, zeigten sich in der Gruppe der Anorexiepatientinnen vom restriktiven Typus die geringsten Raucherquoten. Nur eine kontrollierte Studie untersucht mehrere relevante Variablen der Tabakabhängigkeit in einer Stichprobe von 850 Frauen und Mädchen mit Anorexie oder Bulimie (Anorexie, restriktiver Typus: n = 306; Anorexie, Binge-Eating/ Purging: n = 293; Bulimie: n = 251). Hinsichtlich des Rauchbeginns gab es keinen Unterschied zwischen den einzelnen Gruppen, jedoch begannen signifikant fi mehr Studienteilnehmerinnen (59,9) erst nach Beginn ihrer Essstörung mit dem Rauchen. Die Stärke der Nikotinabhängigkeit, gemessen mit dem FTND, sowie der Tageszigarettenkonsum waren in der Gesamtgruppe der Frauen mit einer Essstörung signifikant fi höher als bei den Kontrollen. Innerhalb der Gruppe wiesen diejenigen mit einer restriktiven Anorexie die geringste Nikotinabhängigkeit und den niedrigsten Tageszigarettenkonsum auf. Wurde der Einfl fluss der Stärke der Tabakabhängigkeit kontrolliert, so gab es zwischen den Gruppen keine signifikanten fi Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der Abstinenzversuche. In den Essstörungsgruppen hatten Ex-Raucherinnen einen signifikant fi höheren BMI als die Nichtraucherinnen und Raucherinnen. Zwei weitere Studien untersuchten die Ursachen für die erhöhte Raucherprävalenz. In einer Stichprobe von 102 Frauen mit Bulimie zeigte sich, dass diese das Rauchen signifikant fi häufi figer dazu einsetzten, das Essen zu vermeiden oder das Gewicht zu kontrollieren. Im Vergleich zu den psychisch erkrankten und gesunden Kontrollgruppen wurden sie nach erreichter Abstinenz häufi figer rückfällig, weil sie Befürchtungen in Bezug auf eine Gewichtszunahme oder Sorgen um ihre Figur hatten. Komorbide depressive oder ängstliche Symptome waren in dieser Gruppe ausgeprägter. Wie die Untersuchung von Rauchmotiven zeigte, wiesen Frauen mit einer Essstörung im Vergleich zu einer depressiven Kontrollgruppe eine signifikant fi höhere Motivation auf, zu rauchen. Die stärksten Rauchmotive waren die Gewichtskontrol-
le und die Stressbewältigung. Als komorbider Faktor wurde eine erhöhte Ängstlichkeit identifiziert. fi ! Bulimiepatientinnen haben ein erhöhtes Risiko zu rauchen und entwickeln häufig fi eine starke Tabakabhängigkeit. Das Rauchen wird als Mittel zur Gewichtskontrolle eingesetzt und dient zur Bewältigung von Angst und Stress.
Zu den Gesundheitsrisiken, die bei gleichzeitigem Vorliegen einer Tabakabhängigkeit und einer Bulimie/Anorexie bestehen, gibt es bislang keine klinischen Studien. Gerade die Bulimie und die Tabakabhängigkeit teilen eine Reihe medizinischer Risiken, die den Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch der Erkrankungen des Mund- und Rachenraums, der Speiseröhre und des Magens betreffen. ff Es ist anzunehmen, dass das Risiko für ein Speiseröhrenkarzinom bei einer Komorbidität deutlich höher ist als bei Vorliegen von nur einer Störung.
49.4
Weight concerns und Rauchverhalten
Zahlreiche Forschungsarbeiten beschäftigen ft sich mit dem Konzept der weight concerns. Es wird angenommen, Befürchtungen in Bezug auf das Gewicht könnten einen Prädiktor für den Rauchbeginn, einen Rückfallgrund nach erreichter Abstinenz oder auch ein Hindernis für eine Entwöhnungsbehandlung darstellen. Da je nach Studie sehr unterschiedliche Variablen, die mit weight concerns verbunden sind, untersucht werden, ist die Interpretation von Studienergebnissen und deren Vergleichbarkeit erschwert. Dennoch lassen sich im Hinblick auf die Dimension der weight concerns mehrere Schlussfolgerungen aus der Forschungsliteratur ziehen. Eine große Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Diätverhalten und Diätpraktiken, die auf ein gestörtes Essverhalten hinweisen, wie die Verwendung von Laxanzien, Purging oder BingeEating, verbunden mit einer eher negativen affekff tiven Grundstimmung, gelten als Risikofaktoren für den Rauchbeginn, aber auch für die Entwicklung einer Essstörung. Sind die Befürchtungen in Bezug auf eine Gewichtszunahme sehr groß, stellen sie ein Hindernis für eine Entwöhnungsbehand-
307
49.6 Rauchen und Adipositas
lung dar oder führen dazu, dass eine Tabakentwöhnung eher abgebrochen wird. Eine randomisierte klinische Th Therapiestudie untersucht die Auswirkungen der weight concerns auf die langfristigen Abstinenzquoten. Die höchsten Abstinenzquoten erzielte die Gruppe, deren Behandlung direkt darauf abzielte, die Befürchtungen hinsichtlich des Gewichts zu reduzieren. Die Abstinenzquoten in dieser Gruppe (21) lagen nach einem Jahr signifikant fi höher als in der Gruppe, die zusätzliche verhaltensbezogene Elemente zur Gewichtskontrolle erhalten hatte (13), und der Standardbehandlung (9). Inhalte der kognitiv-verhaltentherapeutischen Intervention wurden aus der Therapie der Bulimie entliehen und an die Behandlung der Tabakabhängigkeit angepasst. Ziel der Interventionen war es, eine Akzeptanz einer moderaten Gewichtszunahme zu erreichen und die Angst vor einer Gewichtszunahme zu reduzieren. Eine Veränderung dysfunktionaler Überzeugungen in Bezug auf Verhinderung einer Gewichtszunahme, auf Figur und Diäthalten sowie eine Verringerung gezügelten Essverhaltens sollten erreicht werden.
49.5
Tabakabstinenz und Gewichtszunahme
Vielfach wurde belegt, dass Raucher im Durchschnitt ein geringeres Körpergewicht haben als Nichtraucher. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten und dem Gewicht. Insbesondere moderate und ältere Raucher, aber auch Frauen, haben einen deutlicheren weight control benefit fi . Starke Raucher nähern sich stärker dem Körpergewicht von Nichtrauchern an. Für Raucher bis zum 19. Lebensjahr konnte dieser Zusammenhang bisher nicht eindeutig belegt werden. Raucher erleben eine durchschnittliche Gewichtszunahme von 2,3‒4,5 kg innerhalb des ersten Jahres nach Beginn einer Tabakabstinenz. Insgesamt gibt es eine große Varianz. Im Einzelfall werden Gewichtszunahmen von bis zu 20 kg berichtet. Das Ausmaß der Gewichtszunahme scheint tendenziell eher unterschätzt zu werden. Manche Studien zeigen, dass die Gewichtszunahme innerhalb der ersten 6 Monate bei denjenigen am höchsten
49
ist, die kontinuierlich abstinent geblieben waren. Die Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten und ein höheres Ausgangsgewicht scheinen signifikante fi Prädiktoren für eine zu erwartende Gewichtszunahme zu sein. Unterschiedliche Mechanismen werden als ursächlich für eine Gewichtszunahme nach Erreichen der Tabakabstinenz angesehen. Nikotin beeinfl flusst die Energiebilanz, es beschleunigt die Herzfrequenz, erhöht den Blutdruck und die Darmbewegungen und führt somit zu einem erhöhten Energieverbrauch. Der Grundumsatz steigt um ca. 5‒10 (dies entspricht etwa 200 kcal/Tag). Nach Erreichen der Abstinenz wäre somit ein Absinken des Grundumsatzes und damit des Kalorienbedarfs zu erwarten. In einigen Studien wurde auch eine erhöhte Kalorienaufnahme nach dem Rauchstopp beobachtet, die je nach Studie mit 200‒300 kcal in Rechnung gestellt wurde. Darüber hinaus werden Veränderungen in der Aktivität der adipose tissue lipoprotein lipase (AT-LPL) und der Lipolyse als Mitverursacher einer Gewichtszunahme in Betracht gezogen. Jedoch wurden die zugrunde liegenden genetischen Mechanismen bisher nur im Tierversuch untersucht, sodass ihr Einfluss fl auf eine Gewichtszunahme beim Menschen noch völlig ungeklärt ist. Alle genannten Faktoren werden zu Erklärung der beobachteten Gewichtszunahme herangezogen. Vollständig verstanden sind die zugrunde liegenden Mechanismen bislang noch nicht. ! Es wurden unterschiedliche Interventionen untersucht, die einen günstigen Einfluss fl auf die Gewichtsentwicklung haben sollten. Der Einsatz der medikamentösen Unterstützung, speziell von Nikotinkaugummi oder Bupropion, kann eine Gewichtszunahme abmildern, jedoch nicht verhindern. Auch ein regelmäßiges moderates körperliches Training wirkt einer größeren Gewichtszunahme entgegen und hat einen positiven Eff ffekt auf die langfristige Abstinenz.
49.6
Rauchen und Adipositas
Legt man für die Definition fi der Adipositas einen BMI > 30 zugrunde, so lassen sich kaum Studien finden, welche die Beziehung zwischen Rauchen und Adipositas explizit untersuchen. Eine Studie,
308
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Kapitel 49 · Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas
die das Mortalitätsrisiko bei gemeinsamem Vorliegen beider Risikofaktoren an 64.120 Frauen und 18.760 Männern untersuchte, stellte fest: 5 Bei Männern unter 65 Jahren war das Mortalitätsrisiko in der Gruppe mit einem BMI zwischen 30 und 34,9 um das 3,8-Fache und in der Gruppe mit einem BMI von 35+ um das 5,2Fache erhöht. 5 Bei den Frauen unter 65 Jahren war das Mortalitätsrisiko mit einem BMI zwischen 30 und 34,9 um das 2,2-Fache und mit einem BMI von 35+ um das 4,2-Fache erhöht. Aufgeschlüsselt nach Mortalität durch Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen lag diese bei den Männern mit einem BMI von 30+ bei 2,45 bzw. 10,6; bei den Frauen mit einem BMI von 30+ bei 2,7 bzw. 6. Die Risiken bei übergewichtigen Ex-Rauchern waren im Vergleich zu übergewichtigen Rauchern deutlich reduziert. Daher stellt gerade bei der Adipositas die Tabakentwöhnung einen wesentlichen Faktor zur Reduzierung von Morbidität und Mortalität dar. Binge-Eating in Abwesenheit kompensatorischer Maßnahmen stellt einen Risikofaktor für Übergewicht und die Entwicklung einer Adipositas dar. Gleichzeitig fi finden sich bei adipösen Menschen mit einer Binge-Eating-Störung (BES) erhöhte Lebenszeitprävalenzraten für eine Reihe anderer psychiatrischer Erkrankungen wie Depression, Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Prävalenzrate der Tabakabhängigkeit bei Menschen mit BES im Vergleich zum Vorliegen einer Adipositas ohne Binge-Eating erhöht ist. Sowohl Rauchen als auch Binge-Eating scheinen gemeinsame Funktionen als Coping-Strategie im Umgang mit Stress und negativen Emotionen zu teilen. Einige Studien diff fferenzieren nicht zwischen Übergewicht (BMI > 25) und Adipositas, sodass Aussagen bislang auf beide Gruppen generalisiert werden müssen. Übergewichtige und adipöse Menschen setzten das Rauchen ebenfalls zur Appetitkontrolle ein und als Mittel, von dem sie sich versprechen, eine weitere Gewichtszunahme zu verhindern oder ihr entgegenwirken zu können. Eine weitere Untersuchung zeigt auch, dass übergewichtige/adipöse Raucherinnen im Vergleich zu Normalgewichtigen ein signifi fikant größeres Ausmaß an Befürchtungen
hatte, nach einem Rauchstopp an Gewicht zuzunehmen. Diese Raucherinnen gaben an, dass sie im Falle einer Gewichtszunahme eher wieder anfangen würden zu rauchen. Auch in der Gruppe der übergewichtigen/adipösen Raucher scheinen die weight concerns, aber auch die Erwartung, das Rauchen sei ein wirkungsvolles Mittel zur Gewichtskontrolle, wichtige Motive für das Rauchen zu sein. Fazit Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen dem Rauchen und den Essstörungen sowie der Adipositas. Dies betriff fft sowohl die somatischen Konsequenzen, die sich aus einem gemeinsamen Vorliegen ergeben, als auch die epidemiologischen und psychologischen Aspekte und die Assoziationen mit anderen psychiatrischen Erkrankungen.
49.7
Behandlung der Tabakabhängigkeit
Sowohl deutsche als auch US-amerikanische Leitlinien zur Behandlung der Tabakabhängigkeit geben Empfehlungen zur Psycho- und Pharmakotherapie, die hier nur in Auszügen zusammengefasst werden können.
49.7.1
Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten
Zu den medikamentösen Behandlungsoptionen des Entzugssyndroms gehören der Einsatz einer Substitutionsbehandlung mit Nikotin oder die Behandlung mit Bupropion oder Vareniclin. Bupropion ist ein atypisches Antidepressivum, das eine Wiederaufnahmehemmung von Dopamin und Noradrenalin bewirkt. Bei Essstörungen (Anorexie oder Bulimie) besteht aufgrund einer bei diesen Patienten beobachteten erhöhten Wahrscheinlichkeit für epileptische Anfälle eine Kontraindikationen für den Einsatz von Bupropion. Vareniclin ist ein partieller Agonist am nikotinergen α4β2-Acetyl-
49.8 Tabakentwöhnung bei Patientinnen mit Bulimie oder Anorexie
cholinrezeptor. Die Wirksamkeit dieser Medikamente ist durch Metaanalysen gesichert. Sie erhöhen die langfristigen Abstinenzaussichten etwa um den Faktor 1,7‒2,5.
49.7.2
Motivierende Gesprächsführung und Psychotherapie
Mithilfe von Kurzinterventionen nach dem Prinzip der motivierenden Gesprächsführung können aufhörwillige Raucher identifiziert fi und angeleitet werden, einen Rauchstopp zu initiieren. Bei Rauchern, die sehr ambivalent hinsichtlich eines Rauchstoppversuchs sind, liegt der Schwerpunkt einer Kurzintervention auf der Klärung möglicher Vor- und Nachteile der Abstinenz. Kurzinterventionen haben einen messbaren Einfl fluss auf die Wahrscheinlichkeit für einen Rauchstoppversuch und können einfach in die ärztliche Praxis oder einen Beratungskontext integriert werden. Eine sinnvolle Ergänzung stellen Informationsbroschüren, wie sie von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufk fklärung oder der Deutschen Krebshilfe kostenfrei angeboten werden, oder ‒ besser noch ‒ Selbsthilferatgeber/-manuale dar. Rauchern, die aus eigener Kraft ft oder im Rahmen einer Kurzberatung nicht abstinent werden können, sollte die Teilnahme an einem verhaltenstherapeutischen Tabakentwöhnungsprogramm empfohlen werden. Entwöhnungskurse finden fi in Gruppen von 6‒12 Personen statt und umfassen 6‒10 Sitzungen von je 60‒120 Minuten Dauer. Am Beginn einer verhaltenstherapeutischen Entwöhnungsbehandlung steht zunächst eine intensive Auseinandersetzung mit der Motivation, dem Rauchverhalten und seiner Funktionalität. Auf dieser Basis wird ein Rauchstopp vorbereitet, der i. d. R. von einer individuell adaptierten medikamentösen Unterstützung begleitet wird. Nach Erreichen der Abstinenz sollten verschiedene kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen zur Stabilisierung und zur Rückfallprävention eingesetzt werden. Eine Adaption dieser Programme für eine Einzelbehandlung mit geringerer Zeitdauer ist gut möglich. Die vorhandenen Behandlungsleitlinien benennen jedoch keine spezifischen fi Therapieempfehlungen für Patienten mit Essstörungen.
49.8
309
49
Tabakentwöhnung bei Patientinnen mit Bulimie oder Anorexie
Die Empfehlungen für eine evidenzbasierte Tabakentwöhnungsbehandlung, wie sie in den deutschen Leitlinien für die Behandlung von Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen vorgeben wurde, lassen sich auf die Bulimie und die Anorexie übertragen. In jedem Fall sollte eine Tabakentwöhnung angeraten werden und durch ein intensives medikamentöses und psychotherapeutisches Behandlungsprogramm begleitet sein. Dies gilt auch für die Behandlung von Patienten mit starkem Übergewicht oder Adipositas. Der gesundheitliche Vorteil durch eine Tabakabstinenz insbesondere für diese Gruppe ist wesentlich höher zu bewerten als eine Gewichtszunahme, die durch die Abstinenz verursacht wird. Die medikamentöse Unterstützung der Tabakentwöhnung mit Nikotinersatzmitteln wirkt einer Gewichtszunahme entgegen und reduziert damit häufi fig auch die Angst davor. Im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung sollten die Patienten darüber aufgeklärt werden, dass eine Gewichtszunahme möglich ist, jedoch i. d. R. in moderaten Grenzen bleibt. Zu betonen sind immer wieder die positiven gesundheitlichen Aspekte, die durch eine Tabakabstinenz unterstützt werden. Eine die Tabakentwöhnung begleitende Diät wirkt sich meist kontraproduktiv auf das Erreichen und die Aufrechterhaltung der Abstinenz aus. Der Fokus sollte insgesamt auf einem gesünderen Lebensstil, ausgewogener Ernährung, regelmäßigen Mahlzeiten, moderater körperlicher Bewegung, ausreichendem Schlaf und dem Erlernen von Stressbewältigungskompetenzen liegen. Alle aufgeführten Empfehlungen sind Bausteine verhaltenstherapeutischer Tabakentwöhnungsprogramme und können an die spezifische fi Gruppe adaptiert werden. Denkbar sind hier insbesondere zusätzliche kognitive Interventionen, die auf eine Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken und irrationaler Überzeugungen in Bezug auf Figur, Körperbild, Wirksamkeit von Maßnahmen zur Gewichtskontrolle und Diätverhalten abzielen.
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Kapitel 49 · Tabakabhängigkeit bei Essstörungen und Adipositas
! Bei der Anorexie, der Bulimie und der BES wird das Rauchen nicht nur als spezifische fi Maßnahme zur Gewichtskontrolle eingesetzt, sondern auch aufgrund der pharmakologischen Wirkungen des Nikotins als Bewältigungsstrategie im Umgang mit negativen Emotionen. Diesem Zusammenhang sollte in der Therapie besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Literatur
45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
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50
311
Die Behandlung der Adipositas 50
Prävention der Adipositas – 312
51
Behandlung der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz – 317
52
Standards der Adipositasbehandlung – 322
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Verhaltenstherapie der Adipositas
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Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität – 334
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Medikamentöse Therapie der Adipositas
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Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten
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Psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie – 356
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Behandlung der Adipositas bei Diabetes mellitus
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Modediäten und kommerzielle Programme
60
Zusammenhang von Körpergewicht, Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität
– 328
– 341 – 348
– 361
– 366
– 370
50 41
Prävention der Adipositas
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Manfred J. Müller und Sandra Plachta-Danielzik
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50.1
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50.1.1 Ergebnisse von Präventionsstudien – 312 50.1.2 Determinanten von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen – 313
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50.2
Stand der Wissenschaft – 312
50.3
Portfolio von Maßnahmen und Machbarkeit – 315
50.4
Was ist zu tun, und was können wir erwarten? – 315
Ein theoretisches Modell – 314
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Übergewicht ist heute endemisch. In Deutschland sind etwa 50 der Frauen und 70 der Männer bzw. zwischen 10 und 20 der Kinder und Jugendlichen übergewichtig (Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2003, Kurth et al. 2006). Die Inzidenz von Übergewicht wird bei Kindern auf 7/4 Jahre geschätzt (Plachta-Danielzik et al. 2007). Im Vergleich mit Ergebnissen früherer Erhebungen hat sich die Prävalenz der Adipositas innerhalb von 15 Jahren bei Erwachsenen nahezu verdoppelt, bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen wurde ein 2- bis 4-facher Anstieg beobachtet. Angesichts der hohen und weiter steigenden Prävalenz von Übergewicht und Adipositas und der damit assoziierten Begleiterkrankungen ist die Prävention von Übergewicht nach Einschätzung aller Experten und auch der Politik dringend notwendig (WHO European Ministerial Conference 2006; Aktionsplan »Gesunde Ernährung und Bewegung – Schlüssel für mehr Lebensqualität« http://www.bmelv.de/cln_045/DE/00Home/_Homepage_node.html_nnn=true). Allerdings fehlen heute schlüssige und alle bisher bekannten Determinanten von Übergewicht und Prävention berücksichtigende Präventions- und Therapiekonzepte. Th
58 59 60
50.1
Stand der Wissenschaft
50.1.1
Ergebnisse von Präventionsstudien
Es gibt weltweit bisher nur wenige wissenschaftlich ft kontrollierte Studien zur Prävention von Überge-
wicht bei Kindern und Jugendlichen. Die in diesen Untersuchungen verfolgten Strategien beruhten auf der Intuition einzelner Autoren und auf Plausibilität: »Wir glauben, das Problem zu verstehen und zu wissen, was wir tun müssen, also tun wir es.« Eine systematische Analyse der individuellen und gesellschaftlichen ft Bedingungsfaktoren von Übergewicht wurde aber vor Beginn der Interventionen zumeist nicht durchgeführt. Dies erscheint unter Berücksichtigung des jeweiligen Settings und des gesellschaftlichen, ft ökonomischen, politischen und sozialethischen Kontexts notwendig. Der gegenwärtige Stand der Wissenschaft ft ist in drei systematischen Übersichten dargestellt (Cochrane-Review, NICE, Calgary-Review; s. unten). Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass 5 Programme zur Prävention von Übergewicht machbar sind und von allen Beteiligten (z. B. Schüler, Eltern, Lehrer) angenommen werden, 5 keine Nebenwirkungen (z. B. Anstieg von Essstörungen) auftreten ft und 5 Maßnahmen wie Information, Erziehung, schulische Gesundheitsförderung oder auch kommunale Interventionen das »Übergewichtsproblem« in unserer Gesellschaft ft nicht lösen können. Die Experten der Cochrane Collaboration (Summerbell et al. 2005) fassen die Ergebnisse von 22 Studien zusammen. Die verschiedenen Autoren dieser Studien haben den Einfl fluss gesteigerter körperlicher Aktivität und/oder verringerter Inaktivität (weniger Medienkonsum) und/oder »gesun-
313
50.1 Stand der Wissenschaft
der« Ernährung auf den Ernährungszustand von Kindern und Jugendlichen untersucht. Die Maßnahmen waren schulische Gesundheitsförderung (z. B. Ernährungs- und Gesundheitsunterricht), Information und Beratung im Rahmen der Primärversorgung in Arztpraxen und auch in geringem Ausmaß Verhältnisprävention (z. B. »gesündere« Angebote im Rahmen der Schulverpflegung). fl Die Beobachtungszeiträume betrugen bis zu 4 Jahre. Die verschiedenen Maßnahmen zeigten im Gruppenmittel meist nur geringe oder gar keine Effekte ff auf den Ernährungszustand. Demgegenüber waren gesundheitsrelevante Verhaltensweisen (z. B. wenig süße Limonaden, mehr Obst, mäßiger Fernsehund Medienkonsum) häufi figer verbessert. Determinanten des Erfolgs waren: 1. Die Intervention muss Spaß machen, 2. »Gesunde Schule« war erfolgreicher als »isolierte« Maßnahmen in den Klassenzimmern, 3. das Vorhandensein eines zugrunde liegenden theoretischen Modells, 4. Einbezug des Umfelds der Schule bzw. der Kinder (Familie, Kommune).
bei Kindern wirksam, deren Eltern selbst normalgewichtig sind oder einen höheren Bildungsstand aufweisen. Dieses bedeutet, dass Gesundheitsförderung und Prävention zwar als universelle Maßnahmen für alle Kinder geplant werden können, in der Praxis sind sie aber nur selektiv (d. h. in Untergruppen) wirksam. Fazit Aus den bisher vorliegenden Ergebnissen lässt sich ableiten, dass der Erfolg von Prävention ohne ein systematisches Vorgehen nur begrenzt ist. Effektive ff Präventionsmaßnahmen bedürfen somit 5 einer systematischen Analyse aller Determinanten des Übergewichts (diese erfolgt nicht nur individuell, sondern auch systemisch und im jeweiligen Setting), 5 eines theoretischen Modells und 5 der Berücksichtigung ihrer Machbarkeit.
50.1.2 Die Autoren des National Institute for Clinical Excellence in the United Kingdom (NICE) werteten insgesamt 32 Studien und 2 Übersichtsarbeiten zum TheTh ma Prävention von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen aus (NICE 2006). Auch diese Auswertung zeigte, dass »Gesunde Schule« erfolgreicher war als »isolierte« Interventionen in Klassenzimmern. Ferner zeigte sich, dass Mädchen gegenüber den Interventionen empfänglicher waren als Jungen. Multimedia-Aktionen und Restriktionen (z. B. Verbot des Verkaufs von Süßigkeiten an Schulen) hatten keine wesentliche Wirkung. Der sog. Calgary-Review umfasst insgesamt 36 Studien (Flynn et al. 2006). Die Autoren der Übersichtsarbeit bestätigen im Wesentlichen die schon genannten Schlussfolgerungen. Für die Praxis betonen sie die Notwendigkeit, Eltern zu integrieren und Maßnahmen über längere Zeiträume (d. h. nachhaltig) durchzuführen. Neuere Daten zeigen, dass das Übergewicht der Eltern selbst sowie ein niedriger sozialer Status der Familie hohe Barrieren gegenüber der Prävention darstellen (Plachta-Danielzik et al. 2007). Adipositasprävention durch schulische Gesundheitsförderung und Interventionen in Familien sind nur
50
Determinanten von Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen
Der Lebensstil und biologische Faktoren sind individuelle Determinanten von Übergewicht. In epidemiologischen Untersuchungen bestehen allerdings nur schwache Beziehungen zwischen Variablen des Lebensstils (wie z. B. Ernährung und körperliche Aktivität) und dem Auftreten ft bzw. dem Ausmaß von Übergewicht (Ebbeling et al. 2002, Danielzik et al. 2004). Im Vergleich der Lebensstilvariablen untereinander zeigt die Inaktivität (Medienkonsum) die deutlichste Assoziation zum Körpergewicht. Gemessen am Einfluss fl des Lebensstils sind biologische und soziale Faktoren wirksamer. Übergewichtige Eltern haben häufig fi übergewichtige Kinder (Danielzik et al. 2004). Die genauen genetischen Grundlagen des Übergewichts sind allerdings heute nicht bekannt; sie werden in der Literatur unterschiedlich zwischen 30 und 70 angegeben (Bouchard 1994). Deutlich mit dem Auftreten ft von Übergewicht assoziiert sind (Müller u. Danielzik 2007) 5 soziodemographische Faktoren (wie Bildung, Einkommensunterschiede),
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Kapitel 50 · Prävention der Adipositas
5 ökonomische Entwicklung (Wohlstand, Arbeit), 5 eine hohe ökonomische Produktivität und offensive ff Marktstrategien (z. B. in Medien- und Lebensmittelindustrie), 5 niedrige Preise, 5 eine Kultur des Konsums, 5 eine Politik des ungebremsten wirtschaftlichen ft Wachstums, 5 automatisierter Transport und Verkehr, 5 eine weit reichende Abhängigkeit von Medien und Computern und 5 die Urbanisierung.
53
! Die Bedeutung und Wirksamkeit einzelner Risikofaktoren (z. B. der psychosozialen Risiken) ist heute nicht genau bekannt. Der Einfluss fl dieser Faktoren wird durch das jeweilige Setting mitbestimmt. So überwiegen in der Familie z. B. die Einflüsse fl von biologischen Faktoren, Bildung und Einkommen. Demgegenüber bestimmen in der Bevölkerung Angebote, niedriger Preis, Wertschätzung und Normen die Konsumgewohnheiten und Lebensstile. Dabei wird die Ambivalenz unseres Miteinanders offensichtlich: ff Wirtschaftliches Wachstum ist ein vorrangiges politisches und auch gesellschaftliches Ziel, welches sich bei hoher Nachfrage (und hohem Konsum) nachteilig auf die Gesundheit der Verbraucher und unserer Umwelt auswirken kann.
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50.2
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Ein theoretisches Modell
Bisherige Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht basieren auf einem eher medizinischen Verständnis des »Problems« (d. h. dem Paradigma der unausgewogenen Energiebilanz). Dieses Paradigma ist plausibel (eine hohe Kalorienzufuhr bedingt bei einem gleichzeitig geringen Kalorienverbrauch eine Gewichtszunahme und umgekehrt), führt aber angesichts der epidemiologischen Befunde (hohe Inzidenz und stetige Zunahme der Prävalenz von Übergewicht in unserer Gesellschaft), ft der hohen Komplexität des Problems und auch der begrenzten Wirksamkeit bisheriger Maßnahmen nicht zu einer Lösung. Wir brauchen ein alternatives Verständnis des Problems.
Die epidemiologische Triade ist Grundlage des sog. Public-health-Paradigmas (Egger et al. 2003). Es berücksichtigt die Beziehungen zwischen 5 Menschen, 5 den direkten Determinanten 5 und ihren Lebenswelten. Der übergewichtige Mensch ist direkten Einflüssen fl (sog. Agenten und Vektoren) und seiner Umwelt ausgesetzt. Der Agent ist die positive Energiebilanz, der durch die Vektoren »hohe Energieaufnahme« und »niedriger Energieverbrauch« erklärt wird. Diese Vektoren werden unter heutigen Lebensbedingungen begünstigt: Die so genannte obesogene Umwelt ist durch eine hohe und ubiquitäre Verfügbarkeit von »preiswerten« Lebensmitteln und durch die Automatisierung des Berufs- und Alltagslebens charakterisiert. Bisher verfolgte Strategien der Prävention (wie z. B. Aufklärung, fk Erziehung, Beratung) und auch die medizinische Behandlung versuchen, den Menschen direkt zu erreichen. Dabei werden die Determinanten der Vektoren und auch der Einfl fluss der Um- bzw. Lebenswelten gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Das Potenzial von Veränderungen in den Bereichen »Vektoren« und »Lebenswelten« kann im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die Prävalenz von Übergewicht in unserer Gesellschaft ft heute nur vermutet werden. Von den Experten wird es allerdings hoch eingeschätzt. Ein sog. Vektormanagement in Sinne von neuartigen Technologien in der Lebensmittelproduktion, welches durch politische und aufkläfk rende Maßnahmen unterstützt werden müsste, ist noch nicht versucht worden. Technologische Veränderungen betreff ffen z. B. energiedichte Lebensmittel (z. B. den Fettgehalt von Pommes frites), welche durch eine Reduktion des Fettgehalts von 12 auf 10,5 einen signifi fikanten Beitrag zur Fettaufnahme in der Bevölkerung leisten. Im Vergleich zum Vektormanagement ist ein Umweltmanagement durch die hohe Komplexität der Lebensbedingungen erschwert. Umweltmanagement betrifft fft die Bereiche des micro-environmentt (z. B. Schule, Arbeitsplatz etc) und des macro-environmentt (z. B. Lebensmittelindustrie, Ernährungswirtschaft). ft
315
50.4 Was ist zu tun, und was können wir erwarten?
50.3
Portfolio von Maßnahmen und Machbarkeit
Vor einer präventiven Maßnahme sind in beiden Bereichen der Lebenswelten (sowohl im micro- als auch im macro-environment) systematische Analysen folgender Faktoren notwendig (Swinburn et al. 2005): 5 des Ist-Zustands, 5 der Determinanten, 5 potenzieller ökonomischer Interessen, 5 bestehender Regularien, 5 sozial- und strukturpolitischer Vorgaben sowie auch 5 der Einstellungen, Werte und Sichtweisen. Aufgrund dieser diff fferenzierten und systematischen Analyse müssen die entscheidenden obesogenen Faktoren herausgearbeitet werden, um sie dann nach ihrer jeweiligen situativen und lokalen Bedeutung, dem vermuteten Impact (d. h. Auswirkungen auf das Problem) sowie auch ihrer Änderbarkeit zu reihen. Nach der Reihenfolge und unter Beachtung möglicher Wechselwirkungen sind Prioritäten und ein geeignetes Portfolio von Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention festzulegen. Dieses Portfolio ist im nächsten Schritt im Hinblick auf Machbarkeit (Sind die Maßnahmen umsetzbar?) und Erwünschtheit (Wollen wir diese Maßnahmen?) zu hinterfragen und ggf. zu verkleinern. Der Public-health-Ansatz zur Prävention von Übergewicht stößt auf das eher allgemeine Problem, dass die Vektoren (Essen und Bequemlichkeit) für die Menschen sehr angenehm sind und der individuelle Lebensstil deshalb mehrheitlich nicht verändert wird. Auch eine Einschränkung der »Freiheiten« (z. B. zu konsumieren) ist unerwünscht und praktisch zurzeit undenkbar. Der Public-healthAnsatz setzt also eine neue Denkweise und Wertschätzung von Gesundheit in unserer Gesellschaft ft voraus. Auch kann dieser Ansatz nicht die möglichen individuellen Unterschiede (z. B. die unterschiedlich verteilten familiären und biologischen Risiken) berücksichtigen. Es ist deshalb notwendig, den »klassischen« Public-health-Ansatz um den medizinischen und psychologischen Ansatz zu erweitern.
50.4
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Was ist zu tun, und was können wir erwarten?
Bisher durchgeführte Untersuchungen und Ansätze waren überwiegend direkt an übergewichtige Patienten und ihr Verhalten gerichtet (Lebensstilprogramme). Demgegenüber wurde den obesogenen Lebensräumen und Verhältnissen bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Es gibt bisher keine zielführende Strategie, welche sowohl die biomedizinischen als auch die Public-health-Sichtweisen berücksichtigt. Die verschiedenen Interventionen sind nur sinnvoll, wenn Synergien und Redundanzen zwischen allen Bereichen der Gesellschaft ft beabsichtigt sind und entstehen. Präventive Maßnahmen gegen das Übergewicht (obesity control) in Form von Aufk fklärung, Information und Erziehung wurden gerade erst begonnen. Die Substitution durch funktionelle Lebensmittel sowie der Einsatz von Lifestyle-Medikamenten wie z. B. Orlistat stehen am Anfang, allgemeine Regularien und Verbote gibt es derzeit noch nicht. Adipositasprävention braucht Zeit, wie die Erfahrungen im »Kampf« gegen das Rauchen (tobacco control) gezeigt haben. Diese reichen heute um mehr als 50 Jahre zurück. Auch hier hatten die Verantwortlichen zunächst auf Information, Aufkläfk rung und Erziehung gesetzt. Angesichts des sehr geringen Erfolgs dieser Maßnahmen wurden dann seit etwa 20 Jahren die Substitutionsbehandlung (z. B. Nikotinpfl flaster) und regulatorische Eingriff ffe in den Markt (z. B. Steuern, hoher Preis, eingeschränkte Werbung) versucht. Auch diese Maßnahmen waren nicht im gewünschten Ausmaß erfolgreich. Heute erleben wir aufgrund von Rauchverboten den vorerst letzten Schritt von tobacco control: Wir finden in unserer Gesellschaft ft weit reichende rauchfreie Räume.
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Kapitel 50 · Prävention der Adipositas
Fazit Im Vergleich zu den Erfahrungen von tobacco controll stehen wir bei der Adipositasprävention noch am Anfang. Wir hoffen ff immer noch auf Erfolge von Aufklärung und Erziehung und wünschen uns vielleicht mehrheitlich auch eine wirksame Substitution (z. B. durch funktionelle Lebensmittel oder auch sog. Lifestyle-Medikamente). Wir erahnen die Notwendigkeit weiter reichender Maßnahmen, und wir spüren gleichzeitig auch die Widerstände in unserer Gesellschaft, aber auch in uns selbst. Die Gesundheit des Menschen und auch die »Gesundheit« unserer Umwelt berühren grundsätzliche Fragen unseres Miteinanders. Wenn uns wirtschaftliches Wachstum und Konsum auch zur Gefahr und zum Nachteil werden, müssen wir irgendwann einhalten. Angesichts der heute bereits hohen öffentlichen Aufmerksamkeit und auch der politischen Wahrnehmung des Themas bleibt die Hoffnung, ff dass es im Falle einer Adipositasprävention vielleicht nicht 50 Jahre dauern wird, bis wir wirksame Maßnahmen der Verhältnisprävention ergreifen.
52 Literatur
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51 Behandlung der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz Martin Wabitsch 51.1
Indikationsstellung – 317
51.3
51.2
Therapieziele – 319
51.3.1 Schulungsprogramme – 319 51.3.2 Andere Therapien – 321 51.3.3 Mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung – 321
Die bisherigen Behandlungskonzepte von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen werden international als meist nicht wirksam bewertet (Ebbeling 2002). Es wird daher empfohlen, die aktuellen therapeutischen Bemühungen zu evaluieren und schrittweise zu verbessern. Die folgenden Ausführungen fassen den aktuellen Kenntnisstand und die Empfehlungen der Fachgesellschaften ft zusammen.
51.1
Indikationsstellung
Die Indikationsstellung für eine Behandlung eines Kindes oder eines Jugendlichen mit erhöhtem Körpergewicht hängt von den bestehenden funktionellen Einschränkungen, der somatischen Komorbidität, der psychosozialen Beeinträchtigung und eventuell vorliegenden psychiatrischen Folgeerkrankungen ab. Jedem adipösen Kind oder Jugendlichen (BMI > 97. Perzentile, . Abb. 51.1) sollte eine Behandlung ermöglicht werden. Bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen mit einem BMI zwischen der 90. und der 97. Perzentile und einer vorliegenden behandlungsbedürft ftigen Folgeerkrankung des Übergewichts sollte das zugrunde liegende Übergewicht ebenfalls behandelt werden. Besteht eine andere schwerwiegende Erkrankung (z. B. im Rahmen einer Erbkrankheit) ist i. d. R. eine ganz spezielle Therapie Th erforderlich. Leitlinien zur Indikation und Durchführung einer Adipositasbehand-
Vorgehen und Behandlungsbausteine – 319
lung bei Kindern und Jugendlichen wurden von der Arbeitsgemeinschaft ft Adipositas im Kindes- und Jugendalter veröffentlicht ff (www.a-g-a.de). Darüber hinaus sind in einem Konsensuspapier »Patientenschulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Adipositas«, veröffentlicht ff vom Bundesministerium für Gesundheit, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Finanzierung von Schulungsprogrammen dargelegt (www.a-g-a.de). Von besonderer Bedeutung ist die Überprüfung der Motivation und der Th Therapiefähigkeit eines Patienten und seiner Familie. Diese Überprüfung ist in dem Adipositas-Schulungsprogramm »Obeldicks« elegant gelöst (Reinehr et al. 2005). Die Patienten, die an der Therapie Th teilnehmen sollen, müssen zunächst für mehrere Wochen regelmäßig an einem Sportprogramm teilnehmen. Erst wenn sie dies getan haben und die Eltern eine Bereitschaft ft zu Verhaltensänderungen zeigen, werden die betroffenen Kinder in das Schulungsprogramm aufgenommen, das dann über fast ein Jahr läuft ft. Entsprechend hat dieses Schulungsprogramm auch überdurchschnittliche mittelfristige Erfolgsraten. Liegen bereits Folgeerkrankungen der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen vor, ist i. d. R. eine deutliche Gewichtsabnahme erforderlich. Sollte dies nicht gelingen, stellt die Behandlung der Komorbidität der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen eine neue Herausforderung dar (Hypertonie, gestörte Glukosetoleranz, metabolisches Syndrom, Fettlebererkrankung, orthopädische Erkrankungen).
318
Kapitel 51 · Behandlung der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz
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. Abb. 51.1. Perzentilenkurven für den BMI für Kinder und Jugendliche in Deutschland. a Jungen und b Mädchen im Alter von 0–18 Jahren. (Aus Kromeyer-Hauschild et al. 2001)
51.2
Therapieziele
Bei der Behandlung der Adipositas müssen die physiologischen Grundlagen der Körpergewichtsregulation berücksichtigt werden. Deshalb ist das Ziel einer Behandlung nicht die Gewichtsabnahme, sondern die Stabilisierung eines reduzierten Körpergewichts auf einem niedrigeren Niveau (bei Kindern und Jugendlichen muss hier stets die Beziehung zur Körperhöhe berücksichtigt werden) und damit die Stabilisierung eines neuen Energiegleichgewichts (. Übersicht: Therapieziele). Schnelle Gewichtsabnahmen im Rahmen von kurzzeitigen Diäten sind eher nachteilig (Effekt ff des weight cycling). g Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist eine chronische Krankheit, die einer Langzeittherapie bedarf. Therapieziele bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas 1. Langfristige Gewichtsreduktion (d. h. Reduktion der Fettmasse) und Stabilisierung 2. Verbesserung der adipositasassoziierten Komorbidität und der assoziierten Risikofaktoren 3. Verbesserung des aktuellen Ess- und Bewegungsverhaltens des Patienten unter Einbeziehung seiner Familie, Erlernen von Problembewältigungsstrategien und langfristiges Sicherstellen von erreichten Verhaltensänderungen 4. Vermeiden unerwünschter Therapieeffekte 5. Förderung einer normalen körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung und Leistungsfähigkeit
Erfolg versprechende Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Adipositas weisen eine Kombination der folgenden fünf Module auf (. Abb. 51.2) :
Langfristiger Therapieerfolg Langfistigkeit und QS
Verhaltenstherapie
Bewegungstherapie
Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach den Therapiezielen. Eine Veränderung der EnergieTh bilanz des Körpers soll durch eine Reduktion der Energie- bzw. Fettzufuhr (Ernährungsumstellung), z. B. auf der Grundlage der optimierten Mischkost, und durch eine Erhöhung des Energieverbrauchs
Schulungsprogramme
51.3.1
Ernährungstherapie
Vorgehen und Behandlungsbausteine
(Steigerung der körperlichen Aktivität) erreicht werden. Dazu ist i. d. R. eine langfristige therapeutische Maßnahme (z. B. Verhaltenstherapie, Familientherapie) erforderlich, in die die Personen des engeren sozialen Umfeldes des Kindes bzw. des Jugendlichen einbezogen werden. Es ist ein interdisziplinäres Vorgehen erforderlich, das möglichst durch den Kinder- und Jugendarzt oder den Hausarzt koordiniert wird, unter Betreuung durch Psychologen, Ernährungsfachkräfte ft und Sporttherapeuten. Neben der Notwendigkeit der Wissensvermittlung sollen Änderungen des Ernährungsund Bewegungsverhaltens in kleinen, für den Patienten realisierbaren Schritten erreicht werden. Es gilt dabei, ein Problembewusstsein zu schaffen, ff die Motivation zu steigern, erlernte neue Verhaltensweisen zu festigen, die Selbstkontrolle zu schulen und Rückfallverhütungsstrategien zu erarbeiten. Sind ausreichende Verhaltensänderungen stabilisiert worden, kann die Betreuung des Patienten durch den Therapeuten Th gelockert werden. Eine regelmäßige Betreuung ist jedoch über viele Jahre notwendig, um das Beibehalten der neuen Verhaltensweisen weiter zu überprüfen und um Rückfällen rechtzeitig entgegenzuwirken.
Eltern als Zielgruppe
51.3
51
319
51.3 Vorgehen und Behandlungsbausteine
Überprüfung der Motivation . Abb. 51.2. Therapiebausteine eines Behandlungskonzepts für Kinder und Jugendliche mit Adipositas
320
41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Kapitel 51 · Behandlung der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz
1. 2. 3. 4.
Ernährung, Bewegung, Verhaltenstherapie, Einbindung der Eltern bzw. der Bezugspersonen unter Berücksichtigung des Lebensalters, 5. langfristige Betreuung.
Ernährungstherapie Eingeschlossen sind Wissensvermittlung, Beratung und praktische Übungen für Eltern und Kinder zur Ernährungsumstellung unter Berücksichtigung der DGE-Empfehlungen. Es wird empfohlen, die tägliche Kalorienzufuhr um etwa 30 zu senken. Dies wird am besten durch eine Reduktion des Fettanteils und eine Steigerung der komplexen Kohlenhydrate und v. a. durch den Verzicht auf hochkalorische Zwischenmahlzeiten (»Snacking«) und energiereiche bzw. zuckerhaltige Getränke erreicht.
Bewegungstherapie Erforderlich ist die Veränderung der Verhaltensund Lebensgewohnheiten mit vermehrter Bewegung im Alltag; alleinige strukturierte Trainingsund Sporteinheiten sind nicht ausreichend. Wichtig sind die Steigerung der körperlichen Bewegung im Alltag und v. a. eine Reduktion des Fernsehund Computerkonsums. Es wird empfohlen, die tägliche Fernsehzeit auf eine Stunde zu reduzieren.
lektuelle Fähigkeiten voraus und zeigen damit die Grenzen der Verhaltenstherapie auf. Kleinkinder und geistig retardierte Kinder sind dieser TheraTh pieform nicht zugänglich.
Einbindung der Eltern bzw. der Bezugspersonen Eltern sind Vorbilder für das Ernährungs-, Ess- und Bewegungsverhalten ihrer Kinder. Kontrollierte, randomisierte Studien haben übereinstimmend gezeigt, dass durch die Einbeziehung der Eltern deutlich bessere Erfolge erreicht werden können. Programme, die sich lediglich an Kinder richten und bei denen die Eltern nicht eingebunden sind, sind eher nicht erfolgreich. Bei jüngeren Kindern reicht sogar die Schulung der Eltern aus, um das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der Kinder zu modifizieren fi und eine Gewichtskontrolle zu erreichen. Bei Jugendlichen kann es ausreichend sein, wenn nur die Betroff ffenen behandelt werden.
Langfristige Betreuung Verhaltensänderungen können nur durch eine längerfristige Betreuung des Patienten erreicht werden. Schulungsprogramme sollten auf mindestens 6, besser 12 Monate angelegt sein. Anschließend ist eine Weiterbetreuung des Patienten mit Rückfallverhütungsstrategien erforderlich.
Verhaltenstherapeutische Verfahren
Gruppen- vs. Individualtherapie
Sie basieren auf der Annahme, dass das Ernährungs-, Ess- und Bewegungsverhalten das Körpergewicht beeinflussen fl können und dass die entsprechenden Verhaltensweisen langfristig modifizierfi bar sind. Regelmäßige Gewichtskontrollen sowie Selbstprotokollierung des Ernährungs-, Ess- und Bewegungsverhaltens sind zum Einstieg in eine Behandlung erforderlich. Bei der Verhaltensänderung sind kleine, realisierbare Schritte anzustreben, um Frustrationen zu vermeiden. Stimuluskontrolltechniken, positive Verstärkung, Verstärker- und Belohnungssysteme, Modelllernen und Rückfallprophylaxe sowie Verzicht auf Verbote sind wesentliche Bestandteile der Verhaltenstherapie. Positive Auff fforderungen sind Verboten überlegen. Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und willentlich gesteuerte Verhaltensänderung setzen intel-
Mit der Gruppentherapie kann ein motivationsförderndes Gruppengefühl aufgebaut werden. Die Teilnehmer profitieren fi von den Interaktionen. Aufgrund der variablen individuellen Bedürfnisse des Individuums und der individuellen Tagesabläufe einer Familie sind individuelle Schulungstermine zusätzlich erforderlich.
Prognosefaktoren für eine erfolgreiche Behandlung Der wichtigste Einflussfaktor fl ist die Motivation und die Bereitschaft ft für Verhaltensänderungen des Kindes und seiner Familie. Zudem scheinen bessere Erfolge bei Jungen, bei jüngeren Kindern sowie bei Kindern normalgewichtiger Eltern erreichbar zu sein. Die Gewichtsveränderung der Eltern korreliert eng mit der Gewichtsveränderung der Kinder.
51.3 Vorgehen und Behandlungsbausteine
51.3.2
Andere Therapien
Medikamentöse und chirurgische Therapien Th sind zwar bei Jugendlichen erfolgreich, es bestehen jedoch noch keine ausreichenden Langzeitdaten, sodass diese Verfahren nur bei zwingenden Indikationen durch Spezialisten angewandt werden sollten.
51.3.3
Mögliche Nebenwirkungen einer Behandlung
Die Behandlung kann wie andere Behandlungen unerwünschte Nebenwirkungen (. Übersicht) haben und erfordert deshalb ärztliche Betreuung. Die Bewertung der Nebenwirkungen im Verhältnis zur Fortführung der Behandlung muss in der Entscheidung des behandelnden Arztes liegen. Nebenwirkungen einer Adipositasbehandlung bei Kindern und Jugendlichen 5 Entwicklung von Essstörungen 5 Entwicklung oder Verstärkung orthopädischer Komplikationen 5 Bildung von Gallensteinen 5 Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit (hier handelt es sich am ehesten um eine Normalisierung des akzelerierten Längenwachstums) 5 Psychische Destabilisierung (z. B. Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls) durch die Auseinandersetzung mit dem erhöhten Körpergewicht 5 Eine übermäßig schnelle Gewichtsabnahme kann zum Jo-Jo-Effekt ff führen
Literatur Ebbeling CA, Pawlak DB, Ludwig DS (2002) Childhood obesity: public-health crisis, common sense cure. Lancet 360: 473-382 Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Kunze D et al (2001) Perzentile für den Body Mass Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschr Kinderheilkd 149: 807-818
321
51
Reinehr T, Kersting M, Wollenhaupt A, Alexy U, Kling B, Strobele K, Andler W (2005) Evaluation of the training program »OBELDICKS« for obese children and adolescents. Klin Pädiatr 217(1): 1-8 Wabitsch M (2006) Neue Pharmakologische Therapien. In: Ranke MB, Wabitsch M (Hrsg) Adipositas im Kindes- und Jugendalter – Endokrinologische Aspekte. Verlag Wissenschaftliche Scripten, Zwickau, S 169-174 Wabitsch M et al (2006) Chirurgische Maßnahmen. In: Wabitsch M, Hebebrand J, Kiess W, Zwiauer K (Hrsg) Adipositas bei Kindern und Jugendlichen – Grundlagen und Klinik. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 355-360
52 41
Standards der Adipositasbehandlung
42
Simone Munsch und Andrea Sabrina Hartmann
43
52.1
44 45 46
Multimodulare Behandlung der Adipositas – 322
52.1.1 Veränderung des Ernährungsverhaltens – 322 52.1.2 Standards in der Förderung körperlicher Aktivität – 324 52.1.3 Standards der psychologischen Behandlung – 325
52.2
Behandlungssetting
– 326
52.3
Medikamentöse und chirurgische Maßnahmen – 326
47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
52.1
Multimodulare Behandlung der Adipositas
Die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Adipositas basiert zusammengefasst auf einem Übermaß an Energieaufnahme im Vergleich zum Energieverbrauch. Auf dieser Grundlage umfassen die Standards der Adipositasbehandlung Interventionen zur Veränderung des Ernährungs-, Ess- und Bewegungsverhaltens. In Abhängigkeit vom Schweregrad der Adipositas beinhaltet der aktuell vorgeschlagene Behandlungsalgorithmus in Anlehnung an die Deutsche Adipositas-Gesellschaft ft (http://www.adipositas-gesellschaft.de/ ft ) zudem medikamentöse und chirurgische Maßnahmen (. Abb. 52.1). In den letzten 15 Jahren sind insgesamt 44 kontrollierte Therapiestudien Th zur Evaluation der ambulanten Adipositasbehandlung durchgeführt worden. Bislang fi findet sich lediglich ein Übersichtsartikel, der den aktuellen Wissensstand bezüglich empirisch überprüft fter Interventionen bei Adipositas im Erwachsenenalter zusammenfasst. Nur eine kleine Minderheit der vorliegenden Untersuchungen machen Angaben zu Effektstärken ff der Behandlungsmaßnahmen, sodass die Vergleichbarkeit der verschiedenen Behandlungsmaßnahmen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nur eingeschränkt möglich ist. Die Schlussfolgerungen, die sich aus den vorliegenden Ergebnissen ziehen lassen, haben Eingang in Behandlungsempfehlungen der Cochrane Collaboration (http://www.cochrane.org/index.htm) bzw.
des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE, http://guidance.nice.org.uk/) gefunden. Im Folgenden werden die Standards der Adipositasbehandlung skizziert und die Belege für deren Wirksamkeit erörtert. Diese Aussagen beschränken sich auf die Behandlung Erwachsener, wobei die Standards bei der Behandlung von Kindern ähnlich sind (7 Kap. 51 ).
52.1.1
Veränderung des Ernährungsverhaltens
! Entsprechend den Leitlinien der Empfehlungen der NICE, der Cochrane Libraryy sowie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft besteht ein wesentlicher Anteil der Adipositasbehandlung in der Reduktion der Energieaufnahme.
Die Reduktion der Energieaufnahme kann im Anstreben einer langfristigen Veränderung der Ernährungsgewohnheiten weg von kalorienreichen Speisen hin zu einer ausgewogenen Ernährung bestehen. Die Empfehlungen beinhalten jedoch auch eine Kalorienreduktion im Sinne einer Induktion eines Energiedefizits fi von ca. 500‒1000 kcal/ Tag, wobei der verschriebene Energielevel von 800 kcal/Tag nicht unterschritten werden sollte, da sich sehr niedrigkalorische Diäten als wenig wirksam über längere Zeit erwiesen haben. Aktuelle Befunde belegen die Wirksamkeit von Ernährungsumstellungen bei adipösen Patienten, mit
323
52.1 Multimodulare Behandlung der Adipositas
52
Adipositasbehandlung
Ernährung
Bewegung
Verhalten
Medikamente
Chirurgie
I
II
III
IV
V
Basisprogramm • BMI > 30 kg/m2 • BMI > 25 kg/m2 + Risikofaktoren
BMI > 30 BMI > 27 + Risikofaktoren <5 kg Gewichtsverlust in 3 Monaten mit dem Basisprogramm
BMI > 40 BMI > 35 + Begleiterkrankungen
. Abb. 52.1. Multimodulare Adipositasbehandlung (Deutsche Adipositas-Gesellschaft 2006, mit freundlicher Genehmigung)
Gewichtsverlusten von bis zu 10 unmittelbar nach der Intervention und 4,6 bei der 1-JahresKatamnese, wozu leider die Angaben in Form von Effektstärken ff fehlen. Die momentan sowohl in den meisten klinischen als auch in kommerziellen Programmen zur Behandlung adipöser Menschen eingesetzte Diätform ist diejenige mit niedrigem Fett- und Protein- und hohem Kohlenhydratanteil. Dies ist sinnvoll, da Fett doppelt so viele Kalorien pro Gramm enthält wie Proteine oder Kohlenhydrate (1200– 1500 kcal/Tag für Frauen und 1500‒1800 kcal/Tag für Männer, wobei 60 der Kalorien aus Kohlenhydraten, 25 aus Fett und 15 aus Protein stammen). Es konnte allerdings gezeigt werden, dass diese Form der Kalorienrestriktion in Bezug auf langfristigen Gewichtsverlust, auf den BMI sowie auf den Körperfettanteil nicht erfolgreicher ist als andere Formen. Während eine Reduktion der Fettaufnahme das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen v. a. in Hochrisikopopulationen senken kann, wird befürchtet, dass die Wahrscheinlichkeit für Herzkrankheiten durch die Erhöhung der Menge an Triglyzeriden und des High-density-Lipoproteins (HDL) Cholesterin steigt. Neue Studien weisen auf eine mögliche Wirksamkeit einer anderen Diätform mit einem sehr niedrigen Kohlenhydratanteil ohne Restriktion des
Fett-, Protein oder Kaloriengehalts (oder zusätz-
lich mit speziell hohem Proteinanteil) hin (Atkins Diät). Diese besteht typischerweise aus vier Phasen, die sich in der aufgenommenen Kohlenhydratmenge unterscheiden. Während in der Einführungsphase während mindestens 2 Wochen täglich nur 20 g spezieller Kohlenhydratarten verzehrt werden, pendelt sich die Menge in der weiterführenden Gewichtsverlustsphase auf die Menge ein, die kritisch für einen Gewichtsverlust ist. Im weiteren Verlauf wird die Nahrungszufuhr gesteigert, sodass weniger als 500 g pro Woche verloren werden, während die Menge in der Aufrechterhaltungsphase so gewählt werden muss, dass der Gewichtsverlust gehalten werden kann. Erste klinische Studien deuten an, dass diese Diätformen eine höhere kurzfristige Gewichtsreduktion (4‒5 kg) unmittelbar nach der Intervention erzielen und Charakteristiken des metabolischen Syndroms stärker verbessern als diejenigen mit niedrigem Fettanteil. Zudem weisen vorläufige fi Resultate darauf hin, dass solche Diäten in einer Reduktion des Körperfetts und einem Erhalt der mageren Körpermasse resultieren. Allerdings können vermehrtes Auftreten ft von Herzkrankheiten zum heutigen Forschungsstand noch nicht ausgeschlossen werden. Zudem sind weitere langfristige Nebenwirkungen noch unbekannt, und es deutet sich an, dass sich im langfristigen Verlauf
324
41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Kapitel 52 · Standards der Adipositasbehandlung
die Erfolge in den Bereichen Gewichtsverlust und Gewichthalten an diejenigen anderer Diätformen angleichen. Trotz initial ermutigender Gewichtsreduktionen muss erwähnt werden, dass sich langfristig die Kurven aus unterschiedlichen diätetischen Behandlungsansätzen ähneln. Der Gewichtsverlust wird unter Beibehaltung der Kalorienreduktion immer geringer, und das ursprüngliche Gewicht stellt sich nach Sistieren der Diät wieder ein. Fazit Die vorhandenen diätetischen Interventionen gelten aufgrund der aktuellen Befundlage als ähnlich wirksam. Wichtig ist die Einbettung der diätetischen Maßnahmen in ein übergreifendes, multimodulares Behandlungskonzept, in dem neben einer kurzfristigen Reduktion der Energiezufuhr die langfristige Veränderung der Ernährungsgewohnheiten einen wichtigen Pfeiler der Therapie darstellt. Eine diätetische Intervention sollte im Minimum 6 Monate dauern. Die NICE-Guidelines weisen zudem darauf hin, dass eine Verringerung des Fettgehalts und gleichzeitig des Kohlenhydratgehalts die Kalorienreduktion erleichtern und somit den Gewichtsverlust vereinfachen kann.
53 54 55 56 57 58 59 60
52.1.2
Standards in der Förderung körperlicher Aktivität
Neben dem Einführen einer ausgewogenen Ernährung stellt die Steigerung der körperlichen Aktivität einen weiteren Standard der mulimodularen Adipositastherapie dar. Dabei beinhaltet körperliche Aktivität sowohl die Bewegungsgewohnheiten im Alltag (zu Fuß gehen, Gartenarbeit usw.) wie auch das Betreiben verschiedener geeigneter Sportarten (z. B. Walking, Schwimmen, Radfahren, Gymnastik usw.). Im Unterschied zu adipösen Kindern reicht es bei der Adipositas im Erwachsenenalter nicht aus, die Dauer passiver Beschäftigungen ft wie z. B. Fernsehen oder Computerbenutzung zu reduzieren, sondern es muss eine Bewegungssteigerung eingeführt werden.
Der Benefi fit, der durch eine Steigerung der körperlichen Aktivität erreicht wird, ist vielfältig. Basierend auf den Ergebnissen vorliegender Untersuchungen zeigen sich ausgeprägtere (20; d = ‒ 1,02) und länger anhaltende Gewichtsreduktionen (ebenfalls 20) im Vergleich zu einer Behandlung alleine mit einer Diätkomponente. Die wenigen Studien, die Bewegungs- mit Kontrollgruppen vergleichen, weisen auf eine Gewichtsreduktion bei Bewegungssteigerung hin. Bislang liegen jedoch keine Angaben zu Effektstärken ff vor. Die Steigerung der körperlichen Aktivität führt auch zu einer Zunahme der Körpermuskelmasse und bewirkt eine Verbesserung der mit Adiopsitas assoziierten Folgeerscheinungen wie z. B. eine Reduktion des systolischen und diastolischen Blutdrucks sowie von fasting serum glucose und Serumglyzeriden (im Speziellen des HDL). In diversen Studien erwies sich zudem Kraft fttraining gegenüber aerober Bewegung als überlegen, da Ersteres insbesondere den Aufb fbau der Körpermuskelmasse fördert. ! Aufgrund der vorliegenden Wirksamkeitsnachweise ergeben sich in Anlehnung an die NICEGuidelines folgende Empfehlungen: Die Intensität der körperlichen Aktivität sollte genau eingestellt werden, da intensivere Betätigung größeren Erfolg verspricht. Allerdings hat sich die Häufi figkeit der körperlichen Aktivität als bedeutendster Prädiktor für Gewichtsverlust erwiesen. Isoenergetisches Training mit einer Nettoreduktioin von 627 kJ (150 kcal) wird empfohlen. Um die körperliche Fitness aufrechtzuerhalten, werden mindestens 30 Minuten moderates Training (55–70% der maximalen Herzrate) an mindestens 5 von 7 Tagen empfohlen. Um bei Vorliegen von Übergewicht das Manifestieren von Adipositas zu vermeiden, ist eine Trainingsdauer von 45–60 Minuten täglich notwendig. Die empfohlene Trainingsdauer reduziert sich, falls parallel zur körperlichen Aktivität die Energieaufnahme gedrosselt wird. Um eine erneute Gewichtszunahme bei ehemals adipösen Patienten zu verhindern, wird eine Trainingsdauer von 60–90 Minuten täglich empfohlen.
52.1 Multimodulare Behandlung der Adipositas
Fazit Die vorliegenden Daten weisen darauf hin, dass mit dem Aufbau vermehrter körperlicher Aktivität die Wirksamkeit der Adipositasbehandlung deutlich gesteigert werden kann. Motivation für und Unterstützung bei der vermehrten Bewegung im Alltag und als Sport stellt einen wichtigen Standard der Behandlung dar. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Empfehlungen, die nachweislich zu einer langfristigen Gewichtsreduktion führen können, sehr hohe Ansprüche an die Intensität, Dauer und Häufi figkeit der körperlichen Aktivität stellen. Der Fokus der Behandlung muss entsprechend auf der langfristigen Implementierung von realistischen Verhaltensveränderungen im Bereich der körperlichen Aktivität liegen. Die Compliance kann gesteigert werden durch das Nutzen von Aktivitäten zu Hause anstelle von strukturierten Programmen in Zentren, vermehrtem professionellem Kontakt, sozialer Unterstützung, informellem und nichtüberwachtem Training, niedrigem bis moderatem Level der Aktivität, dem Fördern von Walking als Trainingsform und dem über den Tag verteilten Sammeln von Aktivität anstelle von vereinzeltem massiertem Training.
52.1.3
Standards der psychologischen Behandlung
Ein weiteres Standbein der multimodularen Adipositasbehandlung stellen psychologische Interventionen dar. Diese umfassen zum einen Interventionen zur Veränderung des Essverhaltens und stellen zudem wichtige motivationale Interventionen zur Implementierung der Empfehlungen zur Ernährung und Bewegung dar. Psychologische Interventionen umfassen somit die Psychoedukation über die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas und die Information über sowie das Einüben von Strategien zum Initiieren und Aufrechterhalten von Verhaltensänderungen. Mit Effektstärken ff von 0,87 bezüglich des Gewichtsunterschiedes vor und nach der Therapie Th (6 kg, 5 über 6‒10 Wochen) können
325
52
psychologische Interventionen insgesamt als wirksame Methode angesehen werden, wobei auch wiederum das Problem besteht, die Gewichtsreduktion aufrecht zu erhalten (3 kg oder 2; d = 0,26 bei der 3-Jahres-Katamnese) . Aufgrund umfassender Übersichtsarbeiten gelten heute behaviorale und kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen als besonders indiziert. Dabei ist die behaviorale der kognitiven Therapie Th überlegen; für andere Therapieformen liegen nur wenige kontrollierte Studien vor. Die psychologischen Behandlungsstrategien, die empirisch überprüft ft wurden, beinhalten die Selbstbeobachtung, die Stimuluskontrolle, das Trainieren eines flexiblen fl Essverhaltens sowie motivationale Strategien wie Setzen von Belohnungen für erreichte Zwischenziele und Ziele, Verstärkerentzug und soziale Unterstützung. Zudem gelangen kognitive Techniken wie das Setzen realistischer Gewichtsziele zur Anwendung. Zur Rückfallprophylaxe werden Interventionen wie Stressmanagement, Problemlösetraining und Rückfallprophylaxetraining durchgeführt. ! Basierend auf der aktuellen Befundlage sind die genannten psychologischen Interventionen als Standards der Adipositasbehandlung anzusehen. Es gilt jedoch, ähnlich wie für die diätetischen Maßnahmen sowie für die Bewegungssteigerung, dass die psychologischen Interventionen nur wirksam sind, wenn sie langfristig, regelmäßig und kontinuierlich angewendet werden. Mit dem Sistieren der psychologischen Behandlung erscheint aufgrund aktueller Befunde auch der Eff ffekt tendenziell rückgängig. Auff ffrischungssitzungen, d. h. Kontakten in der Nachbehandlungsphase, kommt aus diesem Grund ein hoher Stellenwert zu. Monatliche oder zweimonatliche Sitzungen scheinen auszureichen, um 60–80% des Gewichtsverlusts zu halten, welcher in der intensiveren Phase vonstatten ging.
Festzuhalten ist, dass bereits moderate Gewichtsverluste durch behaviorale oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden kombiniert mit vermehrter körperlicher Aktivität und verbesserter Ernährung zu entscheidenden und beständigen Veränderungen in wichtigen klinischen Markern
326
41 42 43 44 45 46
Kapitel 52 · Standards der Adipositasbehandlung
(wie z. B. Glukosetoleranz, Reduktion des Blutdrucks) führen. Fazit Aktuelle Erkenntnisse weisen darauf hin, dass v. a. behaviorale und kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen die Gewichtsreduktion sowie wichtige Veränderungen in klinischen Markern in der Adipositasbehandlung unterstützen. Besonders wichtig erscheinen Auff ffrischungssitzungen in monatlichem oder zweimonatlichem Abstand, damit der Gewichtsverlust größtenteils gehalten werden kann.
47 Behandlungssetting
48
52.2
49
Das Erarbeiten und Implementieren der o. g. Strategien sollte in Zusammenarbeit mit einer psychotherapeutisch (kognitiv-verhaltenstherapeutisch) geschulten Fachperson erfolgen. Die Behandlung in Gruppen erscheint ähnlich wirksam wie die Behandlung im Einzelsetting. Es ergeben sich Hinweise, dass die Behandlung in Gruppen langfristig die Aufrechterhaltung des Gewichtsverlusts fördert, wobei die zugrunde liegenden Mechanismen noch unklar sind. Neben dem Versuch, die Eff ffektivität der Behandlung der Adipositas noch wesentlich zu steigern, kommt der Zugänglichkeit der Behandlung eine wichtige Rolle bei der Verhinderung der Zunahme der Adipositasprävalenz zu. Aus diesem Grund könnten Gruppenbehandlungsangebote während der aktiven sowie besonders auch in der Nachbehandlungsphase eine langfristige kosteneffektive ff Behandlung für möglichst viele Betroffene ff darstellen.
50 51 52 53 54 55 56
Neben der Behandlung im Gruppensetting stellen auch alternative Therapieformen ‒ wie Behandlung mittels E-Mail-Kontakt, internetbasierte Behandlung sowie geleitete oder ausschließliche Selbsthilfe in Anlehnung an manualisierte Behandlungskonzepte ‒ wichtige Behandlungsoptionen dar, die die Zugänglichkeit zur Behandlung für eine größere Population verbessern könnten. Hinsichtlich der Wirksamkeit solcher Behandlungsmaßnahmen liegen jedoch bis heute nur wenige Ergebnisse aus kontrollierten Studien vor. Fazit Die Strategien sollten mit einem Therapeuten im Einzel- oder Gruppensetting erarbeitet und implementiert werden, wobei Gruppen, aber auch der Einsatz von E-Mail, Internet und geleiteter Selbsthilfe Möglichkeiten darstellen, die die Zugänglichkeit erweitern und die Nachbehandlung verbessern könnten.
52.3
Medikamentöse und chirurgische Maßnahmen
In Anlehnung an den Behandlungsalgorithmus der Deutschen Adipositas-Gesellschaft ft ist in Abhängigkeit vom BMI sowie den bisherigen Behandlungserfolgen der Einsatz von gewichtsreduzierenden Medikamenten indiziert (. Abb. 52.1). Für eine detaillierte Übersicht sei auf 7 Kap. 55 verwiesen. Bei morbider Adipositas im Sinne des Grads III (BMI von 40 kg/m2 bzw. von 35 kg/m2 einschließlich Begleiterkrankungen) ist die Anwendung chirurgischer Behandlungsmaßnahmen angezeigt. Eine ausführlichere Diskussion der chirurgischen Methoden findet sich in 7 Kap. 56.
57 Fazit
58 59 60
Die Anwendung der beschriebenen Interventionen, die in der Behandlung der Adipositas als Standards gelten, führen zu einer wirksamen Reduktion des Übergewichts. Im Vorfeld der Behandlung sollte zudem ein Screening möglicher psychischer Störungen, die die Implementierung der notwendigen Verhaltensänderungen behindern
könnten, erfolgen. Im Durchschnitt wird bei multimodularen Ansätzen mit einer Dauer von 3– 18 Monaten eine Gewichtsreduktion von ca. 5 kg erreicht. Bereits diese moderate Reduktion des Körpergewichts führt dabei nachweislich zu einer Verbesserung klinischer Parameter, wie z. B. hoher 6
52.3 Medikamentöse und chirurgische Maßnahmen
Blutdruck, kardiovaskuläre Risikofaktoren und Diabetes. Um die Eff ffektivität langfristiger Behandlung zu steigern bzw. die Zugänglichkeit zur Behandlung zu verbessern, empfiehlt fi es sich, vermehrt auch Selbsthilfemanuale sowie neue Medien wie z. B. E-Mail und Internet in die Behandlungs- oder Nachbehandlungsphase zu integrieren. Die Ergebnisse neuer Studien legen zudem nahe, dass die Steigerung der körperlichen Aktivität sowie die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten in die individuellen Lebensumstände eingebettet erfolgen sollten. Dabei spielen die Durchführbarkeit sowie persönliche Präferenzen
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327
hinsichtlich Ernährung und Bewegung eine wichtige Rolle. Die Kombination von veränderten Ernährungsgewohnheiten mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität gilt nachweislich als positiver Prädiktor für eine längerfristige Veränderung der Lebensgewohnheiten als Basis für die Gewichtserhaltung. Der Fokus zukünftiger Forschung sollte einerseits auf die Entwicklung und Etablierung effekff tiver Strategien zum langfristigen Erhalt der Gewichtsreduktion und andererseits auf Interventionen zur Prävention von Übergewicht und Adipositas abzielen.
52
53 41
Verhaltenstherapie der Adipositas
42
Andrea Benecke
43
53.1
Historischer Überblick – 328
44
53.2
Wesentliche Bausteine der verhaltenstherapeutischen Adipositastherapie – 329
45 46 47
53.2.1 Psychoedukation – 329 53.2.2 Vereinbarung von Therapiezielen – 329 53.2.3 Selbstbeobachtung und Verhaltensanalysen – 330 53.2.4 Stimuluskontrolle – 330 53.2.5 Kognitive Umstrukturierung – 331
53.2.6 Stressmanagement – 332 53.2.7 Soziale Unterstützung – 332 53.2.8 Soziales Kompetenztraining – 332
53.3
Rückfallprophylaxe
– 332
53.4
Zusammenarbeit mit anderen relevanten Berufsgruppen – 332
53.5
Einzel- oder Gruppentherapie
– 333
48 49 50 51 52 53 54
»Verhaltensmodifi fikation« ist einer der zentralen Bausteine der Übergewichts- und Adipositastherapie. In allen von Fachgesellschaften ft verabschiedeten Leitlinien wird das Verändern von Verhalten, im Speziellen des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens, als grundlegende Intervention bezeichnet. Verhaltenstherapeutische Strategien wie z. B. Stimuluskontrollstrategien haben auch Einzug in die Ernährungsberatung sowie in die Beratung zur Bewegungssteigerung gefunden. Abzugrenzen davon ist die Verhaltenstherapie der Adipositas als psychotherapeutische Intervention, die ein Psychotherapeut verantwortlich durchführt.
55 53.1
Historischer Überblick
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Seit den 1960er Jahren werden verhaltenstherapeutische Strategien bei Adipositas angewandt. Die damals beschriebenen ersten Ansätze wurden direkt aus der Lerntheorie abgeleitet und hatten als zentrales Ziel einen deutlichen Gewichtsverlust. Dazu wurden Aversionstechniken, Tokeneconomy-Programme oder verdeckte Sensibilisierung über einige Wochen angewandt, mit deren Hilfe z. T. deutliche Gewichtsverluste erreicht wurden, die allerdings nicht von Dauer waren. Mit der Zunahme der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas wurden Gewichtsabnahmeprogramme häu-
figer nachgefragt und neue Entwicklungen aus der verhaltenstherapeutischen Forschung übernommen. Des Weiteren wurden die Programme zeitlich ausgedehnt; inzwischen gibt es Angebote, die ein Jahr dauern. Ein weiterer Entwicklungsschub ergab sich aus der Notwendigkeit, Erkenntnisse aus Nachbardisziplinen einzubinden. Zwar lag es auf der Hand, dass Übergewicht etwas mit dem Ernährungsverhalten zu tun haben muss, woraus der Schluss gezogen wurde, das Essen deutlich einzuschränken. Aber es zeigte sich, dass sich das Erlernen eines zu restriktiven Essverhaltens langfristig eher negativ auswirkt, sodass heute lieber eine moderate Kalorieneinschränkung eingesetzt wird, wobei es keine Beschränkung der Lebensmittelauswahl gibt. Daneben hat sich in den letzten Jahren aus vielerlei Forschungsaktivitäten herauskristallisiert, dass der Aufb fbau eines gesunden Bewegungsverhaltens unerlässlich für die Vermeidung einer anschließenden erneuten Gewichtszunahme ist. Zwar verändern sich immer wieder die Empfehlungen, wieviel Bewegung nun pro Woche mit welcher Intensität sinnvoll sei, an der grundlegenden Erkenntnis aber, dass das Bewegungsverhalten in ein langfristig erfolgreiches Gewichtsreduktionskonzept einzuplanen ist, gibt es keinen Zweifel mehr. Insofern muss der Verhaltenstherapeut von heute mehr als nur Grundkenntnisse im Bereich Ernährungs- und
53.2 Wesentliche Bausteine der verhaltenstherapeutischen Adipositastherapie
auch Bewegungstherapie haben, um sinnvolle und erfolgreiche Behandlungsrogramme durchführen zu können, oder er arbeitet mit Spezialisten aus diesen Gebieten zusammen (s. unten). ! Ziel heutiger Programme ist es, Verhalten langfristig zu verändern, denn Diäten, die einige Wochen eingehalten werden, führen zwar dazu, dass sich das Gewicht reduziert, allerdings erfolgt eine rasche Gewichtszunahme, sobald die Diät beendet wird.
Der Grund für die erneute Gewichtszunahme nach Beendigung der Diät liegt darin, dass die meisten Menschen wieder in alte Verhaltensweisen zurückfallen und ihre alten Essgewohnheiten wieder aufnehmen. Nur eine Veränderung »bis zum Lebensende« kann dazu führen, dass Gewicht reduziert und auch (mehr oder minder) gehalten werden kann. Dies wiederum bedeutet aber, dass die angestrebten Verhaltensänderungen in den Alltag integriert werden und die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen berückschichtigen müssen. Ein Leben, das sich nur nach dem ausgerechneten Bedarf des Körpers an Energie richtet, wird nicht zufriedenstellend sein, und ein Scheitern dieses so »vernünft ftigen« Weges ist vorprogrammiert. Da eine Heilung der Adipositas (also das Erreichen des Normgewichts) durch Verhaltenstherapie eher unwahrscheinlich ist (s. unten), kommt der Zielklärung wesentliche Bedeutung zu. Für die TheTh rapie wichtig erscheinen außerdem Strategien zur Steigerung sozialer Kompetenz und zur Selbstwertstabilisierung für ein verbessertes Leben mit Adipositas/Übergewicht.
53.2
Wesentliche Bausteine der verhaltenstherapeutischen Adipositastherapie
53.2.1
Psychoedukation
Zu Beginn einer Therapie ist es wichtig, den Kenntnisstand der Patienten in Bezug auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas ebenso wie die Vorstellungen und Erfahrungen in Bezug auf die angestrebte Gewichtsabnahme genau zu erfragen. Häufi fig werden dabei sehr merkwürdige Ein-
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53
stellungen entdeckt, die aufgegriffen ff und zurechtgerückt werden müssen. Nur wenn der Patient ein solides Grundwissen um die wesentlichen Zusammenhänge von Genetik, Metabolismus, Umwelteinflüssen, fl Ernährung, Bewegung, psychischem Wohlbefinden fi u. a. m. vermittelt bekommen hat, können daraus sinnvolle Ziele und Strategien für die Therapie verabredet werden. Es muss dem Patienten dabei klar sein/werden, dass es sich um eine langfristige Lebensumstellung handelt und es nicht darum gehen kann, eine neue Diät mit psychologischer Unterstützung durchzuführen. Es fällt Patienten erfahrungsgemäß nicht leicht, dem Diätgedanken (»Ich schränke mich einige Zeit ein und kann dann aber wieder zur Normalität zurückkehren«) abzuschwören und sich einer neuen Lebenseinstellung zu stellen.
53.2.2
Vereinbarung von Therapiezielen
Der Vereinbarung von Zielen kommt in der Adipositastherapie eine wesentliche Rolle zu. Die Ziele der Patienten (und manchmal auch der Th Therapeuten) können von einer realistischen Verbesserung der psychischen und physischen Gesundheit bis hin zu Wünschen reichen, mit dem zu erreichenden Idealgewicht endlich den schon immer gewünschten Partner fürs Leben zu finden fi oder endlich bei Arbeitskollegen anerkannt zu werden. Diese unrealistischen Ziele müssen in einer wohlwollenden Haltung erfragt, letztlich aber umdefifi niert werden, damit sie erreichbar werden und die Therapie von Patient und Therapeut als sinnvoll erachtet werden kann. ! Patient und Therapeut sollten versuchen, 5 gemeinsame Ziele zu definieren, fi 5 sich über die jeweiligen Verantwortlichkeiten zu verständigen, 5 sich über vernünftige Erwartungen bezüglich des Therapieerfolgs zu einigen.
Psychotherapeuten müssen sich darüber klar sein, dass eine Gewichtsabnahme von 5‒10 des ursprünglichen Gewichts, die über ein Jahr gehalten wird, von den Fachgesellschaften ft als Erfolg bewertet wird. Dieses Ziel wird allerdings von vie-
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Kapitel 53 · Verhaltenstherapie der Adipositas
len Patienten als enttäuschend niedrig wahrgenommen. Trotzdem muss sich auch der Patient darüber klar werden, dass Gewichtsabnahme keinesfalls leicht ist und welchen Preis er dafür zu zahlen bereit ist (Zeit, Energie, Geld etc.). Neben der Zahl auf der Waage sollte auch berücksichtigt werden, welche weiteren Verbesserungen zu erwarten sind, z. B. 5 Verbesserung der Stoffwechselwerte, ff 5 verbesserter Schlaf bei Schlafapnoe, 5 verbessertes Durchhaltevermögen bei Aktivitäten jeglicher Art, aber auch 5 höheres Selbstbewusstsein u. ä. Dadurch kann vermieden werden, dass das Gewicht (zumindest wenn es sich phasenweise nicht weiter reduziert) alle anderen positiven Veränderungen überschattet. Ziele sollen spezifisch fi sein, gut operationalisierbar und unterteilt in kurz-, mittelund langfristige Ziele. Die Operationalisierbarkeit ist wichtig, damit Patient und Th Therapeut deutlich erkennen können, wann das Ziel erreicht ist, da dies unbedingt belohnt (»verstärkt«) werden muss. Es sollten zunächst kleine Ziele formuliert und anvisiert werden, die schnell erreicht werden können, damit die Motivation gestärkt wird.
52 53.2.3
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Selbstbeobachtung und Verhaltensanalysen
Im Fokus der Selbstbeobachtung steht das Ernährungs- und das Bewegungsverhalten. Es soll täglich protokolliert werden, was wann und unter welchen Bedingungen gegessen wurde. Ebenso wird registriert, wann und unter welchen Umständen Bewegung stattfand. Damit sollen die Patienten für ihre Verhaltensmuster sensibilisiert werden. Die Aufzeichnungen werden auch dazu benutzt, veränderbare Umweltstimuli zu identifi fizieren, welche zu Überessen und verminderter Bewegung beitragen. Daneben kann auch die aufgenommene Kalorienmenge genauer bestimmt werden. Einige Studien haben nachgewiesen, dass Patienten, die sich selbst regelmäßig beobachten und ihr Verhalten protokollieren, bessere Therapieergebnisse erzielen als diejenigen, die das nicht tun. Die Verhaltensanalyse bezieht sich auf die vorausgehenden Bedingungen, Konsequenzen und Kontingenzen. So kön-
nen Bedingungen identifiziert fi werden, welche ein bestimmtes erwünschtes Verhalten erleichtern oder auch mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu unerwünschtem Verhalten führen (dies betrifft fft nicht nur das Ernährungs- und Bewegungsverhalten, sondern auch Problem- und Zielverhaltensweisen wie soziale Kontakte, Freizeitverhalten etc.). Auch dysfunktionale Gedanken können auf diese Weise erkannt werden (zur Veränderung dieser Gedanken s. unten) ebenso wie emotionale Zustände, welche zu Überessen führen. Daneben werden die Patienten dafür sensibilisiert, positive und negative Konsequenzen wahrzunehmen, die sinnvollerweise in kurzfristige und längerfristige Konsequenzen unterteilt sein sollen.
53.2.4
Stimuluskontrolle
Aus den Selbstbeobachtungsbögen ergibt sich meist ein klares Bild darüber, welche Auslöser das Ess- und Bewegungsverhalten bedingen. Handeln ist beeinfl flusst u. a. durch die Tageszeit, den Anblick von Dingen, durch Orte, Situationen und Gedanken. Diese Einfl flüsse können genutzt werden, um die Chancen einer Änderung des Verhaltens zu erhöhen. Die Anwendung von Stimuluskontrollstrategien erhöht die Wahrscheinlichkeit für erwünschtes Verhalten und senkt sie für unerwünschtes. Bewährt haben sich z. B. die folgenden (. Übersicht). Bewährte Stimuluskontrollstrategien 5 Zu festgelegten Zeiten essen 5 Immer am gleichen Platz essen 5 Nur einkaufen, wenn man nicht hungrig ist 5 Möglichst wenige Essensvorräte zu Hause haben 5 Sportschuhe in der Nähe der Tür stehen lassen 5 Sich zum Sport mit Freunden verabreden 5 Beim Fernsehen nicht essen
53.2 Wesentliche Bausteine der verhaltenstherapeutischen Adipositastherapie
53.2.5
Kognitive Umstrukturierung
Zu den weiteren Antezendenten problematischen Ess- und Bewegungsverhaltens zählen auch dysfunktionale Gedanken (z. B. »Ich hatte so einen stressigen Tag, da brauche ich einen Ausgleich«, oder »Ich habe kein Gramm abgenommen, ich werde es nie schaff ffen, also kann ich auch gleich wie früher essen«). Die dysfunktionalen Gedanken müssen über die Selbstbeobachtungsbögen identififi ziert, ihre Konsequenzen analysiert und dann ver-
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ändert werden. Hierzu stehen Techniken wie sokratische Dialoge, Entkatastrophisierungstechniken, die Drei-Spalten-Technik u. a. zur Verfügung. Die Umstrukturierung geschieht im Hinblick auf das funktionale Einsetzen hilfreicher Gedanken und die Erarbeitung von Strategien, mit deren Hilfe die Verhaltenskette, die zu ungünstigem Verhalten führt, frühzeitig unterbrochen werden kann. Die Identifizierung fi verzerrter Kognitionen bezieht sich des Weiteren auf die folgenden Bereiche (. Übersicht).
Bereiche der Identifizierung fi verzerrter Kognitionen 5 Die Entstehung des Übergewichts: Tief sitzende Überzeugungen, die nicht am Anfang durch Aufklärung verändert werden konnten, müssen durch kognitive Umstrukturierung verändert werden. Ein Ziel kann dabei sein, eine funktionale Auff ffassung der »Schuld« am Übergewicht zu etablieren. Sowohl zu starke Selbstvorwürfe als auch eine übertriebene Verharmlosung der Gründe für das Gewichtsproblem sind für die Therapie nicht zielführend. 5 Die Rechtfertigung des Essverhaltens: Wie oben angedeutet, gibt es vielerlei Gründe zu essen. Wesentlich erscheint, dass Alternativen zu emotional veranlasstem Essen gefunden werden müssen. Da Emotionen gekoppelt sind mit Kognitionen, können auf diesem Weg nachhaltige verhaltensrelevante Einstellungen verändert werden (s. oben). 5 Die Rechtfertigung des Bewegungsverhaltens: Auch hier kann es dysfunktionale Oberpläne geben, welche ein gesundes Verhalten unmöglich machen. 5 Das Selbstbild: Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sind bei vielen Adipösen durch wiederholte erfolglose Abnehmversuche meist kaum vorhanden. Diese müssen langsam wieder aufgebaut werden. Auch Ideen von Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit ff herrschen oft vor.
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5 Das Körperbild: Viele adpöse Menschen haben ein verzerrtes Körperbild, meist fi finden sie sich noch dicker und unförmiger, als sie es tatsächlich sind. Viele vermeiden es, sich mit ihrem Körper überhaupt auseinanderzusetzen, schauen sich nicht an, berühren sich nicht und trauen sich auch nicht, sich anderen Menschen zuzumuten. Deshalb sind Probleme in der Sexualität eher die Regel als die Ausnahme. Meist tut es Not, sich mit dem eigenen Körper (liebevoll) auseinanderzusetzen und ihn annehmen zu lernen. 5 Das Verhalten anderer: Meist aufgrund schlechter Erfahrungen sind adipöse Menschen sehr sensibel bezüglich des Verhaltens anderer. Oft beziehen sie Lachen, Flüstern etc. anderer auf sich und fühlen sich umso wertloser. Es gilt, diese Interpretation zu überprüfen und für die Fälle, in denen sie tatsächlich das Ziel von Hohn und Spott sind, alternative Verhaltensmöglichkeiten zum Rückzug zu etablieren. 5 Die Therapieziele: Wie oben erwähnt, sind realistische Therapieziele unerlässlich. Wenn diese durch die Psychoedukation nicht erreicht werden können, müssen oft die grundlegenden dysfunktionalen Einstellungen überprüft und verändert werden (z. B. »Nur wer schlank ist, kann glücklich sein«).
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53.2.6
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie der Adipositas
Stressmanagement
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Da psychosozialer Stress ein Prädiktor für Rückfälle in alte Verhaltensmuster ist, werden Methoden zur Stress- und Spannungsreduktion in vielen verhaltenstherapeutischen Programmen vermittelt. Dies können »klassische« Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation oder autogenes Training sein oder auch ein verbessertes Zeitmanagement oder die Vermittlung von Problemlösefertigkeiten.
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53.2.7
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Soziale Unterstützung
Einkaufen, Kochen, Essen und Trinken fi findet zu einem wesentlichen Teil in einem sozialen Kontext statt. Insofern sollten in einer Therapie auch die sozialen Bedingungen des Patienten untersucht und ggf. mit einbezogen werden. Familie, Arbeitskollegen und Freunde können die Gewichtsreduktion, das Erreichen aller anderen Ziele und die Aufrechterhaltung der Therapieerfolge erleichtern, erschweren oder sabotieren. Sofern möglich, können Partner in die Th Therapie einbezogen werden. Dies ist z. B. unbedingt dann sinnvoll, wenn die Frau des Patienten für den Einkauf und die Zubereitung der Nahrung »zuständig« ist. Ohne ihre Compliance wird eine nachhaltige Veränderung nur schwer möglich sein. Eine Einbeziehung kann relevant werden, wenn ein Partner eine Kontrollfunktion für das Ess- und Bewegungsverhalten des anderen übernommen hat oder wenn gar die Veränderungen sabotiert werden. Umgekehrt kann es sinnvoll sein, Sozialpartner zur Unterstützung der angestrebten Veränderungen einzubeziehen, z. B. zur Etablierung gemeinsamer sportlicher Aktivitäten. Eine generelle Empfehlung zum Einbezug des Lebenspartners/von Sozialpartnern kann nicht gegeben werden, da die Studienlage widersprüchliche Ergebnisse diesbezüglich zeigt.
kann im Rahmen des Trainings sozialer Kompetenzen geübt werden, wie man Essen sozial kompetent, aber bestimmt ablehnt, wie man mit kontrollierenden Menschen umgeht oder mit Menschen, die sich inadäquat negativ äußern. Mit auf diesem Weg gesteigertem Selbstbewusstsein werden wiederum Stressmomente reduziert, was die Aufrechterhaltung des neuen Verhaltens erleichtert.
53.3
Rückfallprophylaxe
In diesem Kontext sollte zunächst geprüft ft werden, was überhaupt ein Rückfall oder Rückschlag ist. Beispielsweise kann dies eine Gewichtszunahme in einem gewissen Ausmaß sein oder die Reduktion des Bewegungsverhaltens oder auch die Veränderung hin zu ungünstigerem Essverhalten. Allen Beteiligten sollte bewusst sein, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Dazu sollten Strategien erarbeitet werden (z. B. »Wenn ich wieder 110 kg wiegen sollte, dann werde ich wieder ein Essprotokoll führen und dies genau analysieren«). Über ein solches Vorgehen wird den Patienten klar, dass ein Rückfall keine Katastrophe ist, sondern ein Grund, wieder genauer zu beobachten und eingeschlichene »Fehler« zu verändern. Damit wird der Gefahr vorgebeugt, dass Katastrophenphantasien zu negativen Gedanken über sich selbst führen (»Ich wusste ja, dass es auch diesmal nicht klappt, ich bin ein hoff ffnungsloser Fall«). Andererseits soll den Patienten klar werden, dass sie nicht davon ausgehen können, dass alles positiv weitergeht, sondern dass sie immer wieder auf der Hut vor Rückfällen in alte Gewohnheiten sein müssen, womit der Gefahr der Verharmlosung entgegengewirkt wird (»Auch wenn ich ein paar Kilo zugenommen habe, was macht das schon …«).
53.4
Zusammenarbeit mit anderen relevanten Berufsgruppen
Soziales Kompetenztraining
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53.2.8
60
Dem Wahrnehmen, Äußern und adäquaten Durchsetzen von Bedürfnissen kommt in der Adipositastherapie eine hohe Bedeutung zu, da viele Patienten damit große Schwierigkeiten haben. Des Weiteren
Wie oben ausgeführt, sollte ein Verhaltenstherapeut, der einen adipösen Patienten behandelt, profunde Kenntnisse über Ernährungs- und Bewegungsaspekte der Adipositasbehandlung besitzen. Von Vorteil ist die Arbeit in einem Team beste-
333
53.5 Einzel- oder Gruppentherapie
hend aus Ärzten, Psychotherapeuten/Psychologen, Ernährungs- und Bewegungstherapeuten, die auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien arbeiten. Die Möglichkeit zu einer solchen Teamarbeit ist nicht nur in Ambulatorien und Praxen gegeben, auch der Zusammenschluss zu Adipositas-Netzwerken kann zielführend sein.
53.5
Einzel- oder Gruppentherapie
Grundsätzlich sind beide Behandlungsmodalitäten möglich. Die Therapie Th in Gruppen bietet allerdings einige Vorzüge (. Übersicht). Vorzüge der Gruppentherapie bei Adipositas 1. Gerade wenn die Therapie von einem Behandlerteam angeboten wird, potenziert sich das ökonomische Argument der Gruppentherapie. 2. Adipöse Menschen haben große Schwierigkeiten, sich in der Öffentlichkeit ff zu bewegen. In Gruppen fällt dies deutlich leichter. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Therapiemodul zuverlässig durchgeführt wird, steigt in Gruppen. 3. Soziale Kompetenz lässt sich in Gruppen deutlich eff ffektiver üben. 4. Modelllernen kann gut genutzt werden. 5. Aus der Gruppe können sich Kleingruppen bilden, die sich auch nach Beendigung der Therapie weiter gegenseitig unterstützen, z. B. gemeinsam weiter Sport treiben.
Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass genügend individuelle Kompetenzen der Gruppenmitglieder etabliert werden, sodass auch ohne Fortbestand der Gruppe die Chance auf Aufrechterhaltung des Gelernten besteht. Eine langfristige Begleitung des Patienten ist in jedem Fall empfehlenswert, sei es durch niederfrequente Treffen, ff Telefonate oder Internetkontakte. Hierdurch lassen sich die Erfolge nachgewiesenermaßen deutlich stabilisieren.
53
! Konservative Behandlungsmaßnahmen bei Adipositas Grad I und II zeigen bei den meisten adipösen Menschen geringe langfristige Effekte. ff Die durchschnittliche Gewichtszunahme beträgt ein Jahr nach der Maßnahme 30–35% des Ausgangsgewichts. Nach ca. 5,5 Jahren haben die meisten adipösen Menschen ihr altes Gewicht wieder erreicht. Ungefähr 15–20% aller Teilnehmer von Gewichtsreduktionsmaßnahmen sind allerdings in der Lage, ihr Gewicht dauerhaft zu halten.
Fazit Nach der derzeitigen Studienlage muss davon ausgegangen werden, dass verhaltenstherapeutische Techniken als effektiv ff zu bewerten sind. Je mehr verhaltenstherapeutische Strategien angewandt werden, je häufiger fi der therapeutische Kontakt erfolgt und je länger die Dauer der Intervention ist, desto größer ist die Eff ffektivität der Maßnahme. Werden die verhaltenstherapeutischen Techniken zusammen mit Ernährungsumstellung und/oder Bewegungssteigerung durchgeführt, können die Ergebnisse deutlich gesteigert werden.
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Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität
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Petra Platen
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Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf das Körpergewicht, den Body-Mass-Index und die Körperzusammensetzung bei adipösen Erwachsenen – 335 Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf die kardiovaskuläre und metabolische Leistungsfähigkeit bei adipösen Erwachsenen – 335 Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf kardiovaskuläre und metabolische Risikofaktoren sowie auf die Gesamtmortalität bei adipösen Erwachsenen – 336
54.5
Allgemeine Empfehlungen zu körperlicher Aktivität und Gesundheit – 337
54.5.1 Empfehlungen für Erwachsene zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr – 337 54.5.2 Empfehlungen für ältere und chronisch kranke Menschen – 337 54.5.3 Empfehlungen für Kinder – 338
54.6
Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von adipösen Erwachsenen – 338
54.7
Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von adipösen Kindern und Jugendlichen – 339
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität bei adipösen Kindern – 336
52 53 54 55 56 57 58 59 60
! Die menschliche Evolution war immer begleitet von einem körperlich aktiven Lebensstil und einer Ernährung, die v. a. aus Gemüse und Wildfrüchten und nur sehr gelegentlichem Fleischkonsum bestand. Da sich unsere Gene in den letzten 50.000 Jahren nicht wesentlich verändert haben, erklären sich viele heutige chronische Erkrankungen, u. a. auch die Adipositas, aus der Nichtangepasstheit unserer an das Jagen und Sammeln adaptierten genetischen Ausstattung an einen von Inaktivität und Überernährung geprägten Lebensstil.
Der Lebensstil in modernen Industrienationen ist einerseits gekennzeichnet durch niedrigen Kalorienverbrauch aufgrund geringer körperlicher Aktivität, andererseits durch die Zufuhr einer kostengünstigen, sehr kalorienreichen Ernährung, sodass sich hieraus häufi fig eine positive Energiebilanz ergibt, die zwangsläufig fi bei dauerhaft ftem Bestehen
zu einer Adipositas führen muss. In welcher Größenordnung eine Reduktion der täglichen körperlichen Aktivität oder eine Zunahme der täglichen Kalorienzufuhr jeweils zu der derzeit stark zunehmenden Adipositasprävalenz beiträgt, ist nicht eindeutig diff fferenzierbar. Neuere Studien zeigen aber deutlich, dass beide Aspekte eine erhebliche Rolle spielen. Der primäre Therapieansatz Th zur Behandlung der Adipositas ist von daher eine negative Energiebilanz. Diese kann prinzipiell entweder durch Reduktion der Kalorienzufuhr oder durch Zunahme des Kalorienverbrauchs durch körperliche Aktivität oder eine Kombination von beiden Maßnahmen erreicht werden.
335
54.2 Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität . . .
54.1
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf das Körpergewicht, den Body-Mass-Index und die Körperzusammensetzung bei adipösen Erwachsenen
Epidemiologische Studien zeigen, dass körperliche Aktivität ‒ zumindest in der Allgemeinbevölkerung ‒ entweder alleine oder in Verbindung mit kalorienreduzierter Ernährung zu einer Abnahme des Körpergewichts und des Body-Mass-Index (BMI) beitragen. Diese Messgrößen sind jedoch nur indirekte und nicht immer ausreichend genaue Indikatoren für den Körperfettanteil. So können trainierte Athletinnen und Athleten mit einer großen Muskelmasse durchaus Körpergewichtsund BMI-Werte aufweisen, die als adipös eingestuft ft werden, obwohl der Körperfettanteil sehr niedrig ist. Genaue Messungen des Körperfettanteils sind jedoch in großen epidemiologischen Studien praktisch nicht realisierbar, sodass man sich auf die Erhebung der Körpergröße und des Gewichts beschränkt. Da die Abnahme des Körpergewichts unter körperlichem Training überwiegend durch eine Reduktion des Körperfettanteils und weniger durch eine (unerwünschte) Abnahme der fettfreien (Muskel-)Masse erreicht wird, wie dies bei alleiniger Diät der Fall ist, werden Effekte ff durch körperliche Aktivität auf die Fettmasse im Vergleich zu reinen Diäteff ffekten wahrscheinlich unterschätzt. Die größte Gewichtsabnahme kann durch die Kombination von kalorienreduzierter Diät und erhöhter körperlicher Aktivität erreicht werden. Ein alleiniges Sport- bzw. Aktivitätsprogramm ohne weitere diätetische Maßnahmen führt i. d. R. zu einer Gewichtsabnahme bzw. Reduktion des BMI von »nur« 2‒3. Bei sorgfältig und engmaschig überwachten Interventionsprogrammen können jedoch ähnlich hohe Gewichtsabnahmen erreicht werden wie bei alleinigen Diätinterventionen. So zeigte eine kontrollierte Studie eine mittlere Reduktion des Körpergewichts um etwa 7,5 kg in 3 Monaten bei einer Erhöhung des Kalorienverbrauchs um ca. 700 kcal/Tag unter konstanten Ernährungsbedingungen. Dieser Kalorienumsatz wurde mit ca. einer Stunde intensiver, überwachter körperlicher Belastung pro Tag erzielt.
54
Das Ausmaß der Gewichtsabnahme durch körperliches Training hängt ebenso von genetischen Faktoren ab. Wahrscheinlich ist auch hier von »Respondern« und »Non-Respondern« auszugehen. So war in einer großen Zwillings-Trainingsstudie die Varianz für Trainingseff ffekte bezogen auf das Körpergewicht zwischen den Zwillingspaaren um den Faktor 7 höher als innerhalb der Paare. ! Langfristig wird sich das Körpergewicht nach einem Trainingsinterventionsprogramm nur dann auf dem erreichten niedrigeren Niveau stabilisieren lassen, wenn ein entsprechendes Trainings- bzw. Aktivitätsprogramm kontinuierlich weitergeführt wird. Das bedeutet, dass körperliche Aktivität im Sinne einer Lebensstil(»Lifestyle«)-Veränderung in das tägliche Leben integriert werden muss.
54.2
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf die kardiovaskuläre und metabolische Leistungsfähigkeit bei adipösen Erwachsenen
! Viele Studien konnten nachweisen, dass regelmäßige körperliche Aktivität und Sport zu einer Zunahme der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit führt. Dies gilt auch für adipöse Menschen.
Zu Leistungsverbesserungen kann es auch dann kommen, wenn das Trainingsprogramm nicht gleichzeitig mit einer Körpergewichtsreduktion verbunden ist. Trainingseffekte ff sind auch bei adipösen Menschen für die verschiedenen Komponenten von Fitness erzielbar, wie Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems, der Muskelkraft ft und des Stoffwechsels, ff wobei eine Verbesserung der so genannten aeroben Leistungsfähigkeit die höchste gesundheitliche Relevanz hat. Eine verbesserte Leistungsfähigkeit geht außerdem mit einer Zunahme der Lebensqualität durch positive Beeinflusfl sung der allgemeinen Stimmungslage, des Selbstbewusstseins und der Bewältigung von Aktivitäten des täglichen Lebens einher.
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Kapitel 54 · Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität
Die aerobe Leistungsfähigkeit kann als objektiv zu messender Parameter z. B. im Rahmen von fahrradergometrischen Belastungstests erhoben werden. Sie ist ein genauerer Parameter als die alleinige subjektive Einschätzung des Fitness- und Aktivitätsniveaus, insbesondere wenn Zusammenhänge zwischen einem körperlich inaktiven Lebensstil und negativen gesundheitlichen Auswirkungen aufgezeigt werden sollen.
54.3
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität auf kardiovaskuläre und metabolische Risikofaktoren sowie auf die Gesamtmortalität bei adipösen Erwachsenen
Sowohl körperliche Inaktivität als auch Adipositas sind weit verbreitet und jeweils sowohl für sich alleine als auch unabhängig voneinander mit erhöhtem Risiko für chronische Erkrankungen, eingeschränkte Funktionalität und Mortalität assoziiert. Bei Männern konnte in einer Longitudinalstudie nachgewiesen werden, dass körperlich inaktive Adipöse ein weitaus höheres Gesamtsterberisiko haben als aktive Adipöse. In dieser Untersuchung war das Sterberisiko von aktiven Adipösen sogar geringer als das von inaktiven Nichtadipösen. Das geringste Gesamtrisiko wiesen allerdings die aktiven nichtadipösen Männer auf. Je körperlich aktiver ein Mensch ist, umso geringer ist das Risiko für chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, ff kardiovaskuläre und Krebserkrankungen. Sport und körperliche Aktivität sind in der Lage, fast alle kardiovaskulären Risikofaktoren auch ohne gleichzeitige Reduktion des Körpergewichts positiv zu beeinflussen. fl Besonders erwähnenswert ist, dass Menschen mit höherer aerober Fitness bei gleich hohem BMI einen geringeren abdominellen Fettanteil, der als metabolisch besonders ungünstig angesehen wird, aufweisen. Basierend auf den unterschiedlichen physiologischen Mechanismen, die durch Zunahme der körperlichen Aktivität oder Reduktion des Körperfettanteils im Organismus wirken, ist derzeit davon
auszugehen, dass die Abnahme des Körperfetts für eine prädiabetische bzw. diabetische Stoffwechselff lage von größerer Bedeutung ist als verstärkte körperliche Aktivität. Andererseits ist hohe körperliche Aktivität bedeutsamer für die Risikoreduktion kardiovaskulärer Erkrankungen als eine Abnahme des Körperfetts. ! Anzusteben ist sowohl ein körperlich aktiver Lebensstil als auch ein Normalgewicht bzw. ein normaler Körperfettanteil.
54.4
Eff ffekte von Sport und körperlicher Aktivität bei adipösen Kindern
Körperliche Aktivität ist ein komplexes multidimensionales Verhalten, das gerade bei Kindern und Jugendlichen schwierig zu quantifizieren fi ist. Die methodischen Probleme der Erfassung bestehen v. a. bei Kindern unter 10 Jahren, weil ihr Alltag oft ft aus spontanen unstrukturierten Aktivitäten besteht. Kleine Kinder sind nicht fähig, Alltagsaktivitäten genau zu protokollieren oder Tätigkeiten bestimmten Zeitabschnitten zuzuordnen. Die Daten aus Fragebögen zur körperlichen Aktivität sind kaum verwertbar. Daher ist es nicht überraschend, dass es nur wenige Studien in dieser Altersklasse gibt, die einen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Körperfettanteil untersuchen. Studien mit objektiven Messmethoden und parametern der Aktivitätslevels sind meist als Querschnittstudien angelegt und vergleichen die Aktivitätslevels von normalgewichtigen und übergewichtigen Kindern, was die Herleitung eines kausalen Zusammenhangs zwischen körperlicher Aktivität und Adipositas verbietet. Die wenigen durchgeführten prospektiven Untersuchungen beziehen sich auf präpubertäre Kinder und zeigen inkonsistente Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der körperlichen Aktivität und der Entstehung von Übergewicht und Adipositas. Fernsehen und damit verbunden körperliche Inaktivität stellen bei Kindern und Jugendlichen die vorherrschende Freizeitbeschäftigung ft dar. Damit gehen weitere Risikofaktoren wie der Konsum energiereicher Snacks und die Verinnerli-
54.5 Allgemeine Empfehlungen zu körperlicher Aktivität und Gesundheit
chung von Werbespots mit energiereichen Lebensmitteln einher. In der Behandlung der Adipositas im Kindesund Jugendalter belegen Metaanalysen von Diätund Sportinterventionsstudien eine höhere Effektiff vität durch Kombination dieser Maßnahmen. Einschränkend ist allerdings auf die kurzen Katamnesen dieser Studien hinzuweisen. ! Bewegung, körperliche Aktivität und Sport stellen wichtige Faktoren für Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter dar.
54.5
Allgemeine Empfehlungen zu körperlicher Aktivität und Gesundheit
Die Empfehlungen für adipöse Menschen zur körperlichen Aktivität unterscheiden sich nicht von den Empfehlungen für normalgewichtige Menschen.
54.5.1
Empfehlungen für Erwachsene zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr
Für gesunde erwachsene Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren werden mindestens 30 Minuten aerobe Belastungen mit moderater Intensität oder jeweils 20 Minuten aerobe Belastungen mit höherer Intensität an 5 Tagen pro Woche empfohlen. Möglich ist auch eine Kombination der Belastungsniveaus. Günstig ist beispielsweise ein 30-minütiges, zügiges Walking (moderat) 2-mal pro Woche kombiniert mit einem 20-minütigen Jogging (intensiv) 3-mal pro Woche. Moderate Belastungen sind an einem subjektiv spürbaren Anstieg der Herzfrequenz zu erkennen. Dieses Belastungsniveau kann auch durch unterschiedliche 10-minütige kontinuierliche Trainingsphasen erreicht werden. Höhere aerobe Belastungsstufen führen zu einer spürbar höheren Atem- und Herzfrequenz. Die beschriebenen aeroben Aktivitäten sollten zusätzlich zu Alltagsaktivitäten (< 10 Minuten) durchgeführt werden.
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Weiterhin werden neben den beschriebenen körperlichen Aktivitäten Übungen empfohlen, die auf Ausdauer und Kraft ft der Muskulatur abzielen. Dazu zählen 8‒10 Übungen an zwei nicht aufeinanderfolgenden Tagen, die alle großen Muskelgruppen betreffen. ff Um optimale Eff ffekte zu erreichen, sollte ein Widerstand (Gewicht) gewählt werden, das 8‒12 Wiederholungen jeder Übung bis zur Ermüdung erlaubt. Zu einem solchen Muskelaufbautraining zählen beispielsweise Gewichtstrainingsprogramme, Übungsprogramme mit zusätzlicher Gewichtsbelastung, Treppensteigen und ähnliche Aktivitäten, die auf die Aktivierung großer Muskelgruppen abzielen.
54.5.2
Empfehlungen für ältere und chronisch kranke Menschen
Für gesunde Menschen über 65 Jahre und Menschen zwischen 50 und 65 Jahren mit chronischen Erkrankungen und funktionellen Einschränkungen gelten folgende Empfehlungen: Ältere Erwachsene sollten 5-mal pro Woche jeweils für die Dauer von 30 Minuten moderaten oder 3-mal pro Woche für die Dauer von 20 Minuten intensiveren körperlichen Aktivitäten nachgehen, wobei auch Kombinationen möglich sind. Der Grad der körperlichen Belastung richtet sich nach der individuellen Leistungsfähigkeit. Auf einer Skala von 0 (absolute Ruhe) bis 10 (absolute Verausgabung) spricht man bei 5‒6 von einer moderaten Belastung, messbar an der Zunahme der Atem- und Herzfrequenz. Zwischen 7 und 8 ist von einer intensiveren Belastung auszugehen mit weiterer Steigerung der Atem- und Herzfrequenz. Diese Belastungen sollten zusätzlich zu moderaten Aktivitäten des täglichen Lebens von weniger als 10 Minuten Dauer durchgeführt werden. Auch bei älteren Menschen sind die beschriebenen Muskelaufbautrainings fb an 2 Tagen pro Woche empfehlenswert. Im Gegensatz zu jüngeren Menschen (s. oben) sollte ein geringerer (Muskel-)Widerstand gewählt werden. sodass etwa 12– 15 Übungen bis zur Ermüdung möglich sind. Bei chronischen Erkrankungen erfolgt eine Anpassung an die individuelle Belastbarkeit. Zur Sturzprophy-
338
41 42
Kapitel 54 · Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität
laxe sollten ältere Menschen außerdem regelmäßig Übungen durchführen, die das Gleichgewicht schulen, ebenso sind Beweglichkeitsübungen ratsam, die die für Alltagsbelastungen notwendige Flexibilität fördern.
43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
54.5.3
Empfehlungen für Kinder
Bewegung und Spiel sind die Basis für die Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten und für eine gesunde intellektuelle, soziale und persönliche Entfaltung im Kindesalter. Bewegung ist notwendig, damit Kinder sich kognitiv optimal entwickeln können. Die Reizsetzung in den ersten Lebensjahren beeinfl flusst die Entwicklung der nervalen Verschaltung und damit die Reifung des Gehirns. Eine einseitige schulische Fokussierung auf Bildungsinhalte zu Lasten körperlicher Aktivität zahlt sich nicht aus, da geistige und körperliche Leistungsfähigkeit miteinander verbunden sind und synergistische Eff ffekte haben. So unterscheiden sich Schüler mit guten und schlechten Schulnoten nicht nur in ihrer mentalen Leistungsfähigkeit, sondern auch in ihren koordinativen Fähigkeiten. Die Kondition und Koordinationsfähigkeit von Kindern hat in Deutschland in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Darauf verweisen nicht nur Sportlehrer, sondern auch die Ergebnisse der vergangenen Bundesjugendspiele. Die motorische Leistungsfähigkeit der Kinder hat sich in den letzten 25 Jahren um 10 verringert. Auf der Basis von Bewegungstagebüchern zeigt ein durchschnittliches Grundschulkind in Deutschland heute folgende Aktivitäten: 5 9 Stunden Liegen, 5 9 Stunden Sitzen, 5 5 Stunden Stehen 5 und nur 1 Stunde Bewegung. Kinder brauchen eine Umwelt, die dem natürlichen Bewegungsdrang entgegenkommt und Freude macht. Einengung und Vermeidung der Bewegungsmöglichkeiten ziehen unzureichend entwickelte motorische Fähigkeiten nach sich. Bei übergewichtigen bzw. adipösen Kindern stellt sich die
Prognose noch ernster dar, da bei diesen Kindern von einer nicht unerheblichen negativen Stigmatisierung auszugehen ist, die zu Resignation oder aggressiver Abwehr führt. Konsequenz ist im Sinne eines Teufelskreises eine Vermeidungshaltung, die einen verstärkten Bewegungsmangel nach sich zieht, mit der Folge einer dauerhaften ft Veränderung der Energiebilanz und der Zunahme des Körperfetts. ! Kindern wird eine moderate bis intensive körperliche Aktivität von wenigstens 60 Minuten pro Tag empfohlen, die sich durch Vielfältigkeit und Spaß an der Bewegung auszeichnet.
54.6
Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von adipösen Erwachsenen
Vor Aufnahme eines Sportprogramms sollte eine sportmedizinische Untersuchung zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikoprofi fils und ggf. zur Anpassung des Programms an die individuelle Belastbarkeit durchgeführt werden. Tägliche moderate körperliche Aktivitäten zwischen 60 und 90 Minuten sind erforderlich, um langfristig nach einer Gewichtsreduktionsphase das reduzierte Körpergewicht zu stabilisieren. In einer Studie mit übergewichtigen Frauen konnte mit einem Sportprogramm von mehr als 280 Minuten pro Woche (40 Minuten täglich, 7 Tage pro Woche) eine Gewichtsabnahme von 13 kg über 18 Monate stabilisiert werden. Auch die Alltagsaktivitäten adipöser Menschen, denen es gelingt, ein umfangreiches Sportprogramm zu realisieren, nehmen i. d. R. zu, was ein zusätzliches Kaloriendefizit fi nach sich zieht. ! Für adipöse Menschen wird ein wöchentliches 200–300 Minuten umfassendes Sportprogramm empfohlen, bei dem ein Kalorienverbrauch von mehr als 2000 kcal pro Woche erzielt wird. Untrainierte Menschen sollten an diese Belastungsintensität langsam herangeführt werden.
54.7 Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten . . .
Zwecks Gewichtsreduktion werden Belastungsintensitäten zwischen 55 und 70 der maximalen Herzfrequenz gefordert. Entscheidend ist jedoch der Kalorienumsatz. So war in einer gut kontrollierten Interventionsstudie der Gewichtsverlust adipöser Frauen vergleichbar, unabhängig vom zeitlichen Umfang oder der Intensität. Intermittierende Aktivitäten können über den Tag verteilt gerade für adipöse untrainierte Menschen hilfreich sein. Auch Alltagsaktivitäten spielen in der gesamten Kalorienbilanz eine Rolle und können zu einer Zunahme der Leistungsfähigkeit und Verbesserung gesundheitlich relevanter Faktoren beitragen. Daher wird Adipösen empfohlen, sich im täglichen Leben möglichst viel zu bewegen und mindestens als moderat einzustufende Belastungsstufen zu erreichen. Für eine Gewichtsreduktion reicht eine alleinige Erhöhung der Alltagsaktivitäten nicht aus und muss mit einer Ernährungsumstellung kombiniert werden. Krafttraift ningsübungen führen zu einer Zunahme der Muskelkraft ft und Muskelmasse (fettfreie Körpermasse). Da Muskulatur ein stoffwechselaktives ff Gewebe ist, ist man bisher davon ausgegangen, dass Gewichtstrainingsprogramme besonders günstig für Adipöse sind, da sie eine diätbedingte Abnahme der Muskelmasse und damit auch des Grundumsatzes reduzieren oder sogar ganz verhindern sollen. Allerdings konnte diese Annahme bisher empirisch nicht nachgewiesen werden. ! Krafttrainingsprogramme sind Ausdauerprogrammen nicht überlegen. Sie können allerdings bei untrainierten Menschen zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit im Alltag (Aufstehen aus einem Stuhl, Treppensteigen etc.) führen.
54.7
Konkrete Empfehlungen für körperliche Aktivitäten von adipösen Kindern und Jugendlichen
Bewegungsprogramme für adipöse Kinder und Jugendliche sollten initial gewichtsunterstützende Aktivitäten vorsehen wie Schwimmen und Rad-
339
54
fahren und in den Lebensstil integrierbare Aktivitäten wie Treppensteigen. Der Belastungsgrad ist in der Anfangsphase unwichtig, die Dauer der Bewegung sollte allerdings mindestens 30‒45 Minuten umfassen. Während Ausdauerbelastungen in dieser Altersstufe nicht sinnvoll sind, treffen ff wechselnde Belastungen in spielerischer Form auf große Akzeptanz, wobei auch eine musikalisch-rhythmische Begleitung hilfreich sein kann. Die Anforderungen an ein gesteigertes Leistungsvermögen umfassen eine mäßige körperliche Aktivität von mehr als 30 Minuten an 3‒5 Tagen in der Woche. Später sollte, wenn möglich, die Zeitdauer verlängert werden. Das Bewegungsprogramm sollte nicht einseitig ausgerichtet sein, sondern vielfältig gestaltet, und der Schwerpunkt sollte auf einem Ausdauertraining liegen, ein Krafttraift ning aber berücksichtigen. Übungen zur Förderung der Beweglichkeit sowie der Koordination sollten nicht vergessen werden; dies gilt insbesondere für stärker adipöse Kinder und Jugendliche. Es ist wichtig, den gesamten Tagesablauf aktiver zu gestalten. So sollten alltägliche Wege wie der Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Statt des Aufzugs oder der Rolltreppe ist die Treppe zu benutzen. Wesentlich ist die Verringerung der vor dem Fernseher und bei Computerspielen verbrachten Zeit. Im Bemühen »Kalorien zu verbrennen« werden nicht selten anstrengende Übungen gewählt, die aber ein Hungergefühl hervorrufen können. Auf den Konsum von Softdrinks ft sollte verzichtet werden. ! Körperliche Aktivität bei adipösen Kindern und Jugendlichen ist für die Stabilisierung eines reduzierten Körpergewichts notwendig; von daher sollte sie mit diätetischen Maßnahmen kombiniert werden. Die Motivation zu täglicher körperlicher Bewegung sollte Bestandteil jedes Therapie- oder Präventionsprogramms sein. Der Schulsport reicht dazu i. d. R. nicht aus.
340
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Kapitel 54 · Die Behandlung der Adipositas – Sport und körperliche Aktivität
Fazit Regelmäßige körperliche Aktivität und Sport führen zu einer Zunahme der körperlichen Leistungsfähigkeit mit deutlicher Besserung der kardiovaskulären Risikofaktoren und der Lebensqualität. Daher sollte körperliche Aktivität im Sinne einer Veränderung des Lebensstils in das tägliche Leben integriert werden. Für adipöse Erwachsene wird zur Gewichtsreduktion ein Programm empfohlen, das 200–300 Minuten pro Woche oder mehr als 2000 kcal Energieverbrauch umfasst. Vorab Untrainierte sollten an diese Belastungsniveaus sukzessive herangeführt werden. Bewegung und Spiel sind für eine gesunde intellektuelle, soziale und persönliche Entfaltung im Kindesalter und Jugendalter notwendig. Kinder brauchen eine Umwelt, die ihrem natürlichen Bewegungsdrang entgegen kommt und Freude macht. Bei adipösen Kindern und Jugendlichen ist eine Normalisierung bzw. eine Stabilisierung des Körpergewichts am besten durch die Kombination von körperlicher Aktivität und Diät zu erreichen. Deshalb gehört körperliche Aktivität zu jedem Therapie- oder Präventionsprogramm dazu, v. a. auch im Sinne einer alltäglichen Aktivitätssteigerung. Als Ziel sollte angestrebt werden, dass Kinder wenigstens 30–45 Minuten in Bewegung bleiben, wobei wechselnde Belastungen in spielerischer Form bevorzugt werden sollten.
55 Literatur
56 57 58 59 60
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55 Medikamentöse Therapie der Adipositas Jens Jordan 55.1
Orlistat
55.1.1 55.1.2 55.1.3 55.1.4 55.1.5
Wirkmechanismus – 342 Pharmakokinetik – 342 Arzneimittelwechselwirkungen – 342 Wirksamkeit – 342 Unerwünschte Wirkungen – 343
– 342
55.2
Sibutramin
55.2.1 55.2.2 55.2.3 55.2.4 55.2.5
Wirkmechanismus – 344 Pharmakokinetik – 344 Arzneimittelwechselwirkungen – 344 Wirksamkeit – 344 Unerwünschte Wirkungen – 345
55.3
Rimonabant
55.3.1 55.3.2 55.3.3 55.3.4 55.3.5
Wirkmechanismus – 345 Pharmakokinetik – 346 Arzneimittelwechselwirkungen – 346 Klinische Wirksamkeit – 346 Unerwünschte Wirkungen – 346
– 345
– 344
Die medikamentöse Therapie der Adipositas befi findet sich noch in ihren Kinderschuhen. Zurzeit sind in Deutschland nur drei Arzneimittel zur Behandlung der Adipositas zugelassen. Dabei handelt es sich um 5 den intestinalen Lipaseinhibitor Orlistat, 5 den Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Sibutramin, 5 den Endocannabinoidrezeptor-1(CB1)-Blocker Rimonabant. Weitere CB1-Blocker, wie z. B. Taranabant, sind in der klinischen Entwicklung. Diese Substanzen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich des Wirkmechanismus. Substanzspezifische fi erwünschte und unerwünschte Wirkungen sind beschrieben, was für die Individualisierung der Therapie Th von Bedeutung ist. Eine Gewichtsreduktion kann auch mit anderen Substanzen erzielt werden, die für diese Indikation jedoch nicht zugelassen sind. Dazu zählen die Antidiabetika Metformin und Glucagon-like-peptide-Analoga sowie das Antikonvulsivum Topiramat. Substanzen, die aufgrund erheblicher unerwünschter Wirkungen nicht mehr auf dem Markt sind, werden in diesem Kapitel keine Erwähnung fi finden.
! Medikamentöse Therapieverfahren kommen in erster Linie für Patienten in Frage, die nicht ausreichend auf nichtmedikamtöse Verfahren ansprechen. Der Erfolg einer medikamentösen Therapie hängt dabei ganz entscheidend von der Begleittherapie ab.
So nahmen z. B. Patienten, bei denen eine Therapie Th mit Sibutramin mit einer intensiven Lebensstilintervention kombiniert wurde, innerhalb eines Jahres mehr als 12 kg ab. Bei Gabe von Sibutramin in Kombination mit einer einfachen Beratung in der Arztpraxis reduzierte sich das Körpergewicht in einem Jahr um nur 5 kg. Somit sollte die medikamentöse Therapie nicht isoliert erfolgen, sondern Bestandteil eines multimodalen Behandlungsplans sein. ! Das medizinische Ziel der Adipositastherapie besteht darin, Morbidität und Mortalität zu vermindern und gleichzeitig psychisches und soziales Wohlbefinden fi zu steigern. Ob die medikamentöse Therapie der Adipositas sämtliche dieser Ziele erreichen kann, ist noch nicht bewiesen.
342
41 42 43 44 45 46 47 48 49
Sibutramin, Orlistat und Rimonabant erzielen neben einer Gewichtsreduktion auch eine deutliche Verbesserung kardiovaskulärer und metabolischer Risikomarker. Eine Verhinderung harter klinischer Endpunkte konnte bisher noch für keine Substanz gezeigt werden. Insbesondere bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem und metabolischem Risiko ist häufi fig eine begleitende Therapie mit Lipidsenkern, Antihypertensiva und Antidiabetika erforderlich. Ein wesentlicher Hemmschuh der medikamentösen Adipositastherapie ist die Tatsache, dass Arzneimittel zur Gewichtsreduktion nicht von den Krankenkassen erstattet werden dürfen (Sozialgesetzbuch 5, §34). Dabei spielen rein formale Gründe eine Rolle. Entgegen der wissenschaftlichen ft Literatur, die u. a. biologische Faktoren in der Genese der Adipositas und deren Wertigkeit als Risikofaktor eindeutig belegen, wird Adipositas vom Gesetzgeber weiterhin als »Lebensstilproblem« angesehen.
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Kapitel 55 · Medikamentöse Therapie der Adipositas
55.1
Orlistat
55.1.1
Wirkmechanismus
Das mit der Nahrung aufgenommene Fett kann schon aufgrund der hohen Energiedichte zu Adipositas beitragen. Fettreiche Ernährung kann darüber hinaus die Aufnahme von Cholesterin fördern. Ein wesentlicher Schritt bei der Fettverdauung ist die Spaltung von Trigylzeriden durch intestinale und pankreatische Lipasen. Dabei entstehen freie Fettsäuren und Monoazylglyzerin, die in Mizellen eingebaut werden, um dann über den Bürstensaum des Dünndarms resorbiert zu werden. Orlistat (Tetrahydrolipstatin) ist ein potenter und selektiver Lipaseinhibitor. Die Substanz wurde aus der von Streptomyces toxytricini produzierten Substanz Lipstatin synthetisiert, die ebenfalls Lipasen inhibiert. Die nahezu irreversible Hemmung des Enzyms beruht auf einer kovalenten Bindung zwischen Orlistat und der Lipase. Durch die Lipasehemmung können Triglyzeride und Cholesterinester im Darm nicht mehr gespalten werden. Die Resorption nimmt ab.
55.1.2
Pharmakokinetik
Orlistat wird kaum resorbiert und entfaltet seine Wirkung vorwiegend im Darmlumen. Im Blut und im Urin sind nach Einnahme von Orlistat keine nennenswerten Wirkstoff ffspiegel nachweisbar. Orlistat wird zum großen Teil unverändert mit dem Stuhl ausgeschieden. Ein kleinerer Teil wird vermutlich in der Darmwand metabolisiert und dann ausgeschieden.
55.1.3
Arzneimittelwechselwirkungen
Orlistat kann die Verfügbarkeit von Cyclosporin stark vermindern. Aus diesem Grund sollten Patienten, die Cyclosporin erhalten, nach Möglichkeit nicht mit Orlistat behandelt werden. Orlistat hat off ffenbar keinen wesentlichen Einfl fluss auf die Pharmakokinetik von Warfarin. Die Wirkung von Warfarin und vermutlich auch anderen Vitamin-KAntagonisten ist jedoch bei Gabe von Orlistat verstärkt. Die Wirkungsverstärkung erklärt sich aus der verminderten Resorption fettlöslicher Vitamine einschließlich von Vitamin K unter Orlistat. Orlistat vermindert die Resorption von Amiodarone. Die klinische Relevanz dieses Befundes ist unklar.
55.1.4
Wirksamkeit
In frühen klinischen Studien wurde die Wirkung von Orlistat auf die Fettausscheidung mit dem Stuhl untersucht. Dabei zeigte sich eine dosisabhängige Zunahme der Fettausscheidung bei gesunden Probanden und bei Adipösen. Die maximale Wirkung wurde bei Gabe von 100‒120 mg Orlistat zu den Mahlzeiten erzielt. Die Gewichtsreduktion mit Orlistat wurde in zahlreichen doppelblinden und plazebokontrollierten Studien belegt, die in Metaanalysen zusammengefasst wurden. In allen Studien erhielten die Studienteilnehmer eine hypokalorische Diät. ! In 22 Studien, für die Daten zum Körpergewicht einer Behandlungsdauer von einem Jahr vorlagen, betrug die plazebobereinigte mittlere Gewichtsreduktion mit Orlistat 2,89 kg.
343
55.1 Orlistat
80
80
80
67%
63% 60
60
60
40
%
%
%
50% 40
30%
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24% 20
20
20
0
0
0
Sibutramin
Orlistat
Eine neuere Metaanalyse zeigte eine nahezu identische Gewichtsreduktion mit Orlistat. Die Anzahl der adipösen Patienten, die eine 5- oder 10ige Gewichtsreduktion erzielten, nahm unter Th Therapie mit Orlistat deutlich zu (. Abb. 55.1). Eine positive Wirkung von Orlistat auf das Körpergewicht konnte auch noch nach 2 und 4 Jahren nachgewiesen werden. Der Taillenumfang nimmt unter Orlistat ab. Gesamtcholesterin und Triglyzeridwerte im Blut nehmen unter Behandlung mit Orlistat ab. Die mittlere Reduktion des LDL-Cholesterins unter Orlistat beträgt 0,26 mmol/l, während sich der HDL-Cholesterinwert wenig oder gar nicht ändert. Die Verminderung des LDL-Cholesterinwerts unter Orlistat kann nicht allein durch eine Gewichtsreduktion erklärt werden. Off ffenbar hemmt Orlistat die Resorption von Cholesterin aus der Nahrung. Im Mittel nimmt der Blutdruck unter Behandlung mit Orlistat um 1,5/1,4 mmHg ab. Die Wirkung von Orlistat auf den Blutdruck wurde in einer Metaanalyse plazebokontrollierter klinischer Studien genauer untersucht. Bei Patienten mit isolierter systolischer Hypertonie nahm der systolische Blutdruck um 9,4 mmHg unter Orlistat und um 4,6 mmHg unter Plazebo ab. Eine moderate Reduktion des Blutdrucks zeigte sich auch bei Patienten mit erhöhten diastolischen Blutdruckwerten. Die Reduktion des Blutdrucks unter Orlistat kann durch die zusätzliche Gewichtsreduktion erklärt werden. Eine substanzspezifische fi Wirkung ist unwahrscheinlich. In der Xendos-Studie wurde die Hypothese untersucht, dass die Gabe von Orlistat das Neuauftreten eines Typ-2-Diabetes mellitus verhindern kann. Insgesamt wurden 3305 Patienten mit einem Body-Mass-Index ≥ 30 kg/m2 zu einer Behandlung mit Lebensstilintervention plus Orlistat oder
55
. Abb. 55.1. Prozentsatz von Patienten, die unter Sibutramin 15 mg, Orlistat 120 mg, Rimonabant 20 mg bzw. Plazebo (schraffiert ffi t) mindestens 5% Gewichtsverlust nach einem Jahr erreichen. (Nach Daten von Astrup u. Chong 2001, O’Meara et al. 2001 und Van Gaal et al. 2005 )
Rimonabant
Lebensstilintervention plus Plazebo randomisiert. In der Orlistatgruppe beendeten 52 und in der Plazebogruppe 34 der Patienten die Studie. Nach 4 Jahren betrug die kumulative Inzidenz von Typ2-Diabetes mellitus 9,0 unter Plazebo und 6,2 unter Orlistat, was einer relativen Risikoreduktion von 37 entspricht. Somit mussten 37 Patienten über 4 Jahre behandelt werden, um das Neuauftreft ten eines Diabetesfalls zu verhindern. Statistische Auswertungen der XENDOS-Studie sprechen dafür, dass Patienten mit gestörter Glukosetoleranz stärker von einer Behandlung profitieren. fi Bei Diabetikern vermindert Orlistat die Nüchternglukose um 1 mmol/l und den HbA1c-Wert um 0,4. Die Wirksamkeit von Orlistat bei Patienten mit nichtalkoholischer Fettleber (NAFLD) wurde in einer kleineren randomisierten, doppelblinden und plazebokontrollierten Studie untersucht. Alle Patienten nahmen an einem Gewichtsreduktionsprogramm teil. Nach 6 Monaten Th Therapie zeigten Patienten, die mit Orlistat behandelt wurden, eine stärkere Reduktion des mittels Ultraschall geschätzten Leberfettgehalts.
55.1.5
Unerwünschte Wirkungen
Aufgrund des Wirkungsmechanismus treten unter Behandlung mit Orlistat häufi fig gastrointestinale Nebenwirkungen auf. Diese Nebenwirkungen nehmen bei Reduktion des Fettgehalts der Nahrung ab. Sehr häufi fig treten fettige Stühle auf. Besonders unangenehm ist Flatulenz mit unwillkürlichem Stuhlabgang. Steatorrhö geht mit einer vermehrten Resorption von Oxalat aus dem Kolon einher, was zu einer Erhöhung der Oxalatausscheidung im Urin führt. In seltenen Fällen kann es bei Patienten mit vorbestehenden Nierenschäden durch die ver-
344
Kapitel 55 · Medikamentöse Therapie der Adipositas
42
mehrte Oxalatausscheidung zu einer akuten Verschlechterung der Nierenfunktion kommen. Da Orlistat die Resorption fettlöslicher Vitamine vermindert, ist eine Supplementierung sinnvoll.
43
55.2
Sibutramin
44
55.2.1
Wirkmechanismus
41
45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Sibutramin ist ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Im Gegensatz zu älteren serotonergen Substanzen, wie z. B. Fenfluramin, fl setzt Sibutramin kein Serotonin frei. Sibutramin sollte zunächst als Antidepressivum entwickelt werden, bevor die gewichtsreduzierende Wirkung erkannt wurde. Sibutramin reduziert die Nahrungsaufnahme durch eine Verminderung des Appetits und ein verstärktes Sättigungsgefühl. Es wird vermutet, dass diese Wirkung durch Kombination von adrenergen und serotonergen Mechanismen vermittelt wird. Serotonin kann über eine Stimulation von 5-HT1Bund 5-HT2C-Rezeptoren die Aktivität des Melanokortinsystems regulieren. Sibutramin scheint den Ruheenergieumsatz nicht zu steigern. Die Reduktion des Ruheenergieumsatzes, der normalerweise bei einer Gewichtsreduktion auftritt, ft ist jedoch abgeschwächt.
55.2.2
Pharmakokinetik
Sibutramin wird gut resorbiert und unterliegt einem ausgeprägten First-Pass-Effekt. ff Dabei entstehen zwei aktive Metabolite, die ebenfalls die Serotoninund Noradrenalinwiederaufnahme hemmen. Sibutramin hat mit 1,1 Stunden eine relativ kurze Halbwertszeit. Die Halbwertszeit der aktiven Metaboliten beträgt jedoch 14‒16 Stunden. In-vitro-Studien sprechen dafür, das Sibutramin vorwiegend durch das Cytochrom-P450-Isoenzym CYP3A4 abgebaut wird. Bei Patienten mit Niereninsuffiffi zienz kumulieren inaktive Metabolite von Sibutramin, nicht jedoch die Muttersubstanz oder die aktiven Metabolite.
55.2.3
Arzneimittelwechselwirkungen
Da Sibutramin über CYP3A4 abgebaut wird, könnten Enzyminduktoren den Abbau beschleunigen. Hemmstoff ffe von CYP3A4, wie z. B. Erythomycin, vermindern die Elimination von Sibutramin. In einem Fall zeigte sich eine deutliche Zunahme des Cyclosporinspiegels bei einer transplantierten Patientin, als die Behandlung mit Sibutramin begonnen wurde. Um das Risiko für das Auftreten ft eines Serotonin-Syndroms zu minimieren, sollte Sibutramin nicht mit anderen Substanzen kombiniert werden, die den Serotoninstoffwechsel ff beeinfl flussen. Da die zentralnervöse sympatholytische Wirkung von Sibutramin vermutlich über α2-Adrenozeptoren vermittelt wird, sollte die Substanz nicht mit α2-Adrenozeptorblockern kombiniert werden.
55.2.4
Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Sibutramin wurde in zahlreichen Studien belegt, die in Metaanalysen eingeflossen sind. Die klinischen Studien untersuchten fl im Wesentlichen zwei Fragestellungen: 1. Verbessert Sibutramin die Gewichtsreduktion? 2. Kann die Behandlung mit Sibutramin einen einmal erzielten Gewichtsverlust stabilisieren? ! In 29 Studien, für die Daten zum Körpergewicht mit einer Behandlungsdauer von einem Jahr vorlagen, betrug die plazebobereinigte mittlere Gewichtsreduktion mit Sibutramin 4,45 kg.
In einer neuen Metaanalyse wurde die Wirkung von Sibutramin auf Gewichtsreduktion und Gewichtsstabilisierung unterschieden. Verglichen mit Plazebo nahm das Körpergewicht in der Gewichtsreduktionsphase mit Sibutramin um 4,2 kg ab. Sibutramin erhöhte den Anteil der Patienten, bei denen ein Gewichtsverlust aufrechterhalten wurde. Die Anzahl der adipösen Patienten, die eine 5- oder 10ige Gewichtsreduktion erzielten, nahm unter Therapie mit Sibutramin zu (. Abb. 55.1). Der Taillenumfang reduzierte sich. Der LDL-Cholesterinwert ändert sich unter Behandlung mit Sibutramin kaum. Der HDL-Cholesterinwert steigt an, und die Triglyzeridwerte neh-
345
55.3 Rimonabant
men ab. Die zusätzliche Gewichtsreduktion durch Sibutramin wirkt sich günstig auf den Glukosestoffff wechsel aus. Die Änderungen des Glukosestoffff wechsels unter Sibutramin wurden jedoch nicht in allen Studien untersucht und waren uneinheitlich. Die derzeit laufende SCOUT-Studie (Sibutramine Cardiovascular Outcome Trial) untersucht die Wirkung von Sibutramin auf harte kardiovaskuläre Endpunkte bei Hochrisikopatienten. In dieser Studie wurden 9000 Patienten aus 16 Ländern zur Behandlung mit Sibutramin oder Plazebo randomisiert. Auf die Ergebnisse muss noch einige Jahre gewartet werden.
55.2.5
Unerwünschte Wirkungen
Da Sibutramin die Wiederaufnahme von Noradrenalin hemmt, war man besorgt, der Blutdruck könnte unter Therapie insbesondere bei Hypertonikern ansteigen. ! In einer Metaanalyse von 7 Studien zeigte sich ein mittlerer Blutdruckanstieg von 1,7/2,4 mmHg unter Behandlung mit Sibutramin. In einer anderen Metaanalyse von 2 plazebokontrollierten Studien, bei denen regelmäßige Blutdruckmessungen erfolgten, zeigten Patienten mit arterieller Hypertonie keinen ausgeprägten Blutdruckanstieg unter Sibutramin.
Auch bei Risikopatienten mit Herz-KreislaufErkrankungen wurde unter Sibutramin keine ausgeprägte Zunahme des Blutdrucks beobachtet. Diese Befunde erklären sich möglicherweise durch die komplexe Wirkung von Sibutramin auf die Regulation des Sympathikus. In peripheren Geweben steigert die Blockade des Noradrenalintransporters die Verfügbarkeit von Noradrenalin. Die Blockade der Aufnahme von Noradrenalin im Gehirn vermindert die Sympathikusaktivität. Die zentral hemmende Wirkung von Siburtramin auf den Sympathikus konnte beim Menschen nachgewiesen werden. Sibutramin steigert die Herzfrequenz im Mittel um 4,5 Schläge pro Minute. Die Herzfrequenz kann im Stehen stärker zunehmen. Insbesondere bei Einleitung der Therapie Th mit Sibutramin sollten Blutdruck und Herzfrequenz regelmäßig gemessen werden. Diese Messungen sollten auch im Ste-
55
hen erfolgen, um eine orthostatische Tachykardie zu erkennen. Schlafstörungen, Übelkeit, Mundtrockenheit und Obstipation treten unter Sibutramin deutlich häufiger fi auf als unter Plazebo.
55.3
Rimonabant
55.3.1
Wirkmechanismus
Rimonabant und Taranabant wirken als inverse Agonisten am CB1-Rezeptor und vermindern so die Wirkung von Endocannabinoiden im Gehirn und in peripheren Geweben. Endocannabinoide sind lipidartige Moleküle, die aus Bestandteilen der Plasmamembran synthetisiert werden. Physiologisch bedeutsame Endocannabinoide sind Anandamid und 2-Arachidonoyl-Glyzerin (2-AG). Endocannabinoide werden erst bei Bedarf von den Zellen gebildet und freigesetzt. Die Wirkung der Endocannabinoide wird durch die Wiederaufnahme über einen spezialisierten Transporter und enzymatischen Abbau beendet. Endocannabinoide wirken an spezifi fischen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, die erst seit wenigen Jahren bekannt sind, und zwar dem CB1-Rezeptor und dem CB2Rezeptor. Der CB2-Rezeptor wird in hämatopoetischen und in Immunzellen exprimiert. Der CB1Rezeptor ist der am stärksten exprimierte G-Protein-gekoppelte Rezepor im Gehirn. Er wird in Zentren des Gehirns exprimiert, die für die Regulation der Nahrungsaufnahme von Bedeutung sind, sowie in peripheren Geweben. Tierexperimentelle Daten sprechen für eine vermehrte Freisetzung von Endocannabinoiden bei Adipositas. Die Konzentration von Endocannabinoiden im venösen Blut ist auch bei adipösen Patienten erhöht, insbesondere bei Patienten mit vermehrtem viszeralem Fettgewebe. Es wird vermutet, dass die freigesetzten Endocannabinoide CB1Rezeptoren im Gehirn und in peripheren Geweben stimulieren und so das Körpergewicht steigern. Pharmakologische Stimulation des CB1-Rezeptors im Gehirn steigert die Nahrungsaufnahme bei Tieren. Dabei scheinen Endocannabinoide sowohl mit Ghrelin als auch mit dem leptinergen System zu interagieren. Mäuse, die keinen CB1-Rezeptor tragen (CB1-Knock-out), sind deutlich schlanker als die entsprechenden Kontrolltiere. Die Behandlung
346
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Kapitel 55 · Medikamentöse Therapie der Adipositas
mit Rimonabant oder Taranabant führt bei Tieren zu einer anhaltenden Gewichtsreduktion. Darüber hinaus scheint die Aktivierung des Endocannabinoidsystems auch gewichtsunabhängige Wirkungen auf den Stoff ffwechsel auszuüben. So trägt die Stimulation von CB1-Rezeptoren zur Leberverfettung bei Tieren bei. In vitro kann die Blockade des CB1-Rezeptors die Produktion von Adiponektin in Fettzellen stimulieren.
55.3.2
Pharmakokinetik
48
Rimonabant hat eine lange Halbwertszeit, weshalb Steady-State-Plasmaspiegel erst nach 2‒3 Wochen erreicht werden. Rimonabant wird hauptsächlich durch CYP3A4 und Amidohydrolasen metabolisiert und biliär ausgeschieden.
49
55.3.3
47
50 51
Arzneimittelwechselwirkungen
Arzneimittel, die CYP3A4 aktivieren oder hemmen, können die Elimination von Rimonabant entsprechend verändern.
52 55.3.4
Klinische Wirksamkeit
53 54 55 56 57 58 59 60
Die Wirksamkeit von Rimonabant zur Behandlung der Adipositas wurde in mehreren Phase-III-Studien überprüft ft (Rimonabant in Obesity, RIO). Erste Daten aus Phase-II-Studien liegen auch für Taranabant vor. Die Untersuchungen mit Taranabant sprechen dafür, dass die Gewichtsreduktion bei Blockade des CB1-Rezeptors auf einer Kombination von verminderter Nahrungsaufnahme und vermehrtem Energieumsatz beruht. Eine Gemeinsamkeit der RIO-Studien war, dass die Patienten zunächst eine Behandlung mit einer hypokalorischen Diät begannen (600 kcal weniger als errechneter Energiebedarf). Gleichzeitig nahmen die Patienten Plazebo ein. Anschließend wurden die Patienten zu Plazebo oder zwei verschiedenen Dosierungen der Prüfsubstanz Rimonabant randomisiert (5 mg oder 20 mg). Die hypokalorische Diät wurde beibehalten. Die Therapie Th wur-
de je nach Studie für 1 oder 2 Jahre weitergeführt. In der RIO-Diabetes-Studie wurden übergewichtige und adipöse Typ-2-Diabetiker eingeschlossen. ! Die mittlere plazebobereinigte Gewichtsreduktion nach einjähriger Therapie mit 20 mg Rimonabant betrug 4,7 kg. Die Diabetiker in der RIO-Diabetes-Studie nahmen im Mittel 3,9 kg ab. Die Gewichtsreduktion war mit einer deutlichen Reduktion des Taillenumfangs verbunden. Der Anteil der Patienten, die eine 5- oder 10%ige Gewichtsreduktion erreichten, nahm unter 20 mg Rimonabant stark zu (. Abb. 55.1).
Der HDL-Cholesterinwert und der Triglyzeridwert besserten sich deutlich unter 20 mg Rimonabant. Der LDL-Cholesterinwert blieb weitgehend unverändert. Die Behandlung mit Rimonabant führte zu einer deutlichen Verbesserung des Glukosestoffff wechsels bei Nichtdiabetikern. Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes mellitus reduzierte die Behandlung mit Rimonabant den HbA1c-Wert um 0,7, was der Wirkung eines Antidiabetikums gleichkommt. Statistische Analysen lassen vermuten, dass die metabolischen Verbesserungen unter Rimonabant nicht vollständig durch die Gewichtsreduktion zu erklären sind. Die Behandlung mit Rimonabant geht mit einer geringen Reduktion des Blutdrucks einher, die im Wesentlichen durch die zusätzliche Gewichtsreduktion zu erklären ist.
55.3.5
Unerwünschte Wirkungen
Leichtere gastrointestinale Symptome, wie z. B. Übelkeit und Erbrechen, sind unter Rimonabant beobachtet worden. Diese Beschwerden bessern sich häufig fi auch dann, wenn die Behandlung weitergeführt wird. Unter Rimonabant treten häufi figer als unter Plazebo depressive Verstimmungen und Ängstlichkeit auf. Patienten mit psychiatrischen Vorerkrankungen sollten nicht mit Rimonabant behandelt werden.
55.3 Rimonabant
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347
55
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56
42
Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten
43
Anna Maria Wolf
44
56.1
Indikationsstellung – 348
45
56.2
Adipositaschirurgische Therapieformen – 349
41
46
56.2.1 Restriktive Operationsverfahren – 349 56.2.2 Malabsorptive Verfahren – 351 56.2.3 Bewertung der Operationsverfahren – 352
47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Die Prävalenz der Adipositas Grad III (BMI ≥ 40 kg/m2) hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass in den USA 3 der Männer und 7,3 der Frauen eine Adipositas Grad III aufweisen. Ursache hierfür ist neben einer Fehlernährung der zunehmende Bewegungsmangel, ebenso spielt die genetische Prädisposition eine wichtige Rolle. Konservative Therapieansätze weisen i. d. R. nur kurzfristige Erfolge auf, sodass es sich bei der Adipositaschirurgie zurzeit um die einzige Behandlungsform handelt, die mit einem deutlichen und in den meisten Fällen auch anhaltenden Gewichtsverlust einhergeht. Dadurch kommt es in der Folge zu einer Verbesserung und häufig fi auch zu einer Remission der metabolischen Begleiterkrankungen. Da eine Aufhebung fh der am Magen vorgenommenen operativen Veränderungen wieder zu einer Gewichtszunahme führt, die dem Jo-JoEffekt ff nach konservativer Therapie gleichzusetzen ist, wird angestrebt, die adipositaschirurgischen Maßnahmen am Magen-Darm-Trakt für den Rest des Lebens zu belassen. ! Adipositaschirurgische Maßnahmen sollten bei Erfolg nicht wieder aufgehoben werden, da ansonsten eine erneute Gewichtszunahme über das präoperative Ausgangsgewicht hinaus zu erwarten ist.
56.1
Indikationsstellung
Die Indikation für die Adipositaschirurgie liegt nach den Leitlinien der Deutschen Adipositasgesellschaft ft und der Deutschen Gesellschaft ft für Chirurgie der Adipositas dann vor, wenn folgende Vorgaben erfüllt sind: Neben einem BMI ≥ 40 kg/m2 bzw. einem BMI ≥ 35 kg/m2 mit adipositasassozierten Begleiterkrankungen müssen die Patienten erfolglose konservative Th Therapieversuche nachweisen. Eine Kontraindikation stellen Bulimia nervosa, Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol sowie konsumierende bzw. immundefi fizitäre Erkrankungen dar. Bei schweren psychischen Erkrankungen sollte die Indikation nur in enger Kooperation mit Ärzten für Psychosomatische Medizin oder Psychiatrie erfolgen. Die Binge-Eating-Störung stellt keine absolute Kontraindikation dar (7 Kap. 57). Die Auswahl der Patienten ist sehr kritisch zu treff ffen, da eine Langzeitkooperation für eine erfolgreiche Behandlung notwendig ist. Im Gegensatz zu den gängigen chirurgischen Behandlungsverfahren wird bei der Adipositaschirurgie kein erkranktes Organ entfernt. Die Adipositaschirurgie stellt eine symptomorientierte Behandlung dar, denn die Ursache der Adipositas kann chirurgisch nicht behoben werden. Eine intensive postoperative Betreuung durch ein multiprofessionelles Team bestehend aus Chirurgen, Internisten, Ernährungsfachkräft ften, Sportmedizinern bzw. Physiothera-
56.2 Adipositaschirurgische Therapieformen
peuten und ärztlichen bzw. psychologischen Psychotherapeuten ist anzustreben. ! Adipositaschirurgische Maßnahmen zielen nicht auf die Ursache der Adipositas ab: es ist nur eine symptomorientierte Behandlung möglich.
Welche Operationsmethode für welchen Patienten geeignet ist, hängt entscheidend von der zu erwartenden postoperativen Mitarbeit der Betroffenen ff ab. So wird ein Algorithmus diskutiert, in den neben dem BMI das Alter, das Geschlecht, die Fettverteilung, die ethnische Zugehörigkeit und die metabolischen Begleiterkrankungen einfließen. fl
56.2
Adipositaschirurgische Therapieformen
Die heute angewandten adipositaschirurgischen Therapieverfahren weisen unterschiedliche WirTh kungsmechanismen auf. So haben die rein restriktiven bzw. mageneinengenden Verfahren (Magenband, Gastroplastik, Schlauchmagen) nur Einfluss fl auf eine verringerte Zufuhr der Nahrungsmenge. Der Magenbypass stellt ein Kombinationsverfahren dar, bei dem sowohl die Aufnahme der Nahrungsmenge eingeschränkt wird als auch der Restmagen, das Duodenum (Zwölffi ffingerdarm) und Anteile des Jejunums (oberer Dünndarm) von der Nahrungspassage ausgeschlossen sind. Nur mithilfe von Malabsorptionsverfahren (biliopancreatic diversion mit und ohne duodenal switch) wird die Nährstoff ffaufnahme im Dünndarm selbst erheblich eingeschränkt.
56.2.1
Restriktive Operationsverfahren
Der Nahrungsbrei nimmt bei den Magen einengenden Verfahren seinen physiologischen Weg, d. h. er wird vom Ösophagus (Speiseröhre) in den kleinen Vormagen und von hier über die operativ gesetzte Engstelle (Stoma) in den Restmagen transportiert. Die sich anschließende Nahrungspassage über den Pylorus (Magenpförtner) in das Duodenum (Zwölffi ffingerdarm) und weiter in den Dünnund Dickdarm bleibt erhalten.
349
56
Bei den restriktiven Verfahren müssen die Patienten postoperativ ihr Ess- und Trinkverhalten verändern, d. h., vor dem Schlucken muss die Nahrung zu Brei gekaut werden, und das Trinken kohlesäurefreier Getränke sollte in kleinen Schlucken erfolgen, um den Vormagen (pouch ( ) nicht auszudehnen. Sowohl Magenband als auch Gastroplastik haben nur Einfluss fl auf die Menge der zugeführten Nahrung, nicht aber auf deren Kaloriengehalt. Ist die Nahrungsmenge zwar gering, aber hochkalorisch (z. B. Süßigkeiten), ist kein anhaltender Gewichtsverlust zu erwarten, bzw. es kommt postoperativ zu einer erneuten Gewichtszunahme. Behalten die Patienten ihr präoperatives Ess- und Trinkverhalten bei, so laufen sie Gefahr, dass es zu einer Ausdehnung des kleinen Vormagens kommt. Die Reizung der Schleimhaut im pouch und im Bereich der operativ hergestellten Engstelle kann zu einer Schleimhautentzündung führen, die dann wiederum einen entzündlich bedingten Verschluss nach sich ziehen kann. Hat sich auf der Höhe des Stomas ein Ulkus in der Schleimhaut entwickelt, kann das von außen angebrachte Magenband oder der Silastic-Ring der Gastroplastik an dieser Stelle die Magenwand durchdringen, sodass das Magenband bzw. der Ring entfernt werden muss. Dies kommt jedoch einer Aufhebung fh der operativen Maßnahme mit konsekutivem Gewichtsanstieg gleich.
Gastric banding (GB), Magenband Beim Magenband wird der pouch durch das sog. gastric bandingg vom Restmagen getrennt, d. h., das Magenband stellt die Engstelle dar, die den Vormit dem Restmagen verbindet. An der Innenseite des Magenbandes befindet fi sich eine Kammer, die über einen Silikonschlauch mit einem Port (einer Art Dose) verbunden ist, der unter der Haut auf der Bauchdecke fixiert fi wird. Durch Portpunktion gelingt es, die dem Magenband an der Innenseite anliegende Kammer zu füllen oder zu entleeren. Auf diese Weise ist es möglich, auch postoperativ den Innendurchmesser der Engstelle vom Vor- zum Restmagen zu regulieren (. Abb. 56.1). Bei der Gastroplastik wird der Vormagen durch eine Vierfach-Klammernahtreihe parallel zur kleinen Kurvatur des Magens hergestellt. Das Stoma zum Restmagen wird durch einen Silastic-Ring begrenzt, auf dessen Weite postoperativ kein Einfluss mehr genommen werden kann. Sein Durchfl
350
41
Kapitel 56 · Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten
. Abb. 56.1. Magenband
Verbindungsschlauch
Speiseröhre
42 43 44 45
Vormagen (ca. 15 ml) Reservoir (Port)
Magenband
46
Restmagen
47 48 49
Pförtner
50 51 52 53
messer sollte bei ca. 1,2 cm liegen. Diese Engstelle können nur breiig gekaute Nahrungsbestandteile passieren (. Abb. 56.2). Der Schlauchmagen, zunächst nur im Rahmen der biliopancreatic diversion mit duodenal switch (. Abb. 56.5) eingesetzt, wird heute zunehmend Vierfache Klammernahtreihe
54 55 56 57 58
Einengung durch Silastic-Ring (Durchmesser ca. 1,2 cm)
59 Restmagen Pförtner . Abb. 56.2. Gastroplastik
! Den Magen einengende Operationsverfahren (restriktive Verfahren) können nur die Nahrungsmenge eingrenzen, es kann kein Einfluss fl auf die zugeführte Kalorienmenge genommen werden.
Roux-en-Y gastric bypass (RYGBP), Magenbypass
Vormagen (ca. 20−30 ml)
60
auch als alleinige Operationsform angewandt. Bei diesem Verfahren wird der Magen zu einem Schlauch geformt, und der Restmagen wird entfernt. Diese Therapieform ist ebenfalls rein restriktiv mit den bereits oben genannten Vor- und Nachteilen.
Beim Magenbypass wird der kleine Vormagen (15‒ 30 ml) vom Restmagen vollständig abgetrennt. Der Nahrungsbrei wird vom Ösophagus in den kleinen Vormagen und unter Umgehung des Restmagens, des Duodenums und des oberen Anteils des Jejunums von dort direkt in den mit dem Vormagen verbundenen Dünndarmschenkel transportiert. Er trifft fft erst nach 90–150 cm auf die Verbindung der beiden Dünndarmschenkel und somit auf die Verdauungssekrete. Erst hier kann der Verdauungsvorgang stattfinden. fi Bei diesem Operationsverfahren wird der Gewichtsverlust zum einen durch die ver-
351
56.2 Adipositaschirurgische Therapieformen
56
Ausgeschalteter Restmagen Bauchspeicheldrüse Den Nahrungsbrei transportierender Dünndarmanteil (90−150cm) Gallengang
Die Verdauungssekrete aus Leber (Galle) und Bauchspeicheldrüse transportierender Dünndarmanteil (45−60cm) . Abb. 56.3. Magenbypass
ringerte Nahrungszufuhr, zum anderen durch eine Ausschaltung des Restmagens, des Duodenums und der oberen Dünndarmanteile herbeigeführt (. Abb. 56.3). Ähnlich wie bei der totalen Magenentfernung kann es auch beim Magenbypass nach Verzehr von Süßigkeiten zu einem Dumping-Syndrom mit Herzrasen, Schweißausbruch und Übelkeit kommen. Um Mangelerscheinungen vorzubeugen, ist eine ausreichende Eiweißzufuhr notwendig; ebenso müssen zusätzlich Kalzium und Eisen eingenommen werden, die sonst bei einer normalen Passage im Zwölffi ffingerdarm aus der Nahrung aufgenommen würden. Da für die Aufnahme von Vitamin B12 im distalen Ileum der Intrinsic-Faktor aus der Magenschleimhaut vonnöten ist, der Magen jedoch von der Nahrungspassage ausgeschlossen wurde, muss insbesondere neben einer generellen Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoff ffen und Spu-
renelementen auf eine ausreichende Zufuhr von Vitamin B12 geachtet werden. Der Magenbypass führt bei entsprechender Compliance im Hinblick auf die Ernährung und ausreichende körperliche Bewegung zu einem lang anhaltenden Gewichtsverlust (7 Kap. 57).
56.2.2
Malabsorptive Verfahren
Bei den malabsorptiven Operationsverfahren können die Patienten postoperativ ihr Ess- und Trinkverhalten i. d. R. beibehalten. Die Gewichtsreduktion erfolgt in erster Linie durch die Malabsorption im Dünndarm. Die biliopancreatic diversion nach Scopinaro (BPD) und die biliopancreatic diversion mit duodenal switch (BPD mit DS) stellen die am stärksten invasiven adipositaschirurgischen Maßnahmen dar.
352
41 42 43 44 45 46
Kapitel 56 · Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten
Biliopancreatic diversion nach Scopinaro (BPD) Bei der BPD-Methode nach Scopinaro wird der Magen bis auf ein Drittel entfernt. Der Restmagen wird mit dem unteren Ileum verbunden. Die Nahrung, die zunächst den Restmagen und anschließend den Dünndarmanteil passiert, kommt erst 50 cm vor der Einmündung in den Dickdarm mit den Verdauungssekreten in Kontakt. So führt jeder Dünndarmanteil entweder Nahrungsbrei oder Verdauungssekrete; kein Anteil des Verdauungsapparats ist ausgeschaltet. Der Darmanteil, in dem die Verdauung stattfi findet, ist nur 50 cm lang mit der Folge einer Malabsorption (. Abb. 56.4).
47
Biliopancreatic diversion mit duodenal switch (BPD mit DS)
48
Dieses Operationsverfahren unterscheidet sich insoweit von jenem nach Scopinaro als hier ein so genannter Schlauchmagen hergestellt wird. Der restliche Magenanteil wird entfernt. Hinter dem Magenpförtner wird der Schlauchmagen mit dem unteren Dünndarmanteil verbunden. Der Nahrungsbrei wird 100 cm vor Einmündung in den Dickdarm mit den Verdauungssäften ft vermischt, d. h., der Verdauungsvorgang findet fi über eine Länge von 1 m statt (. Abb. 56.5). Beide Malabsorptionsmethoden können bei mangelnder Substitution zu Mangelerscheinungen
49 50 51 52 53
führen, d. h., die Patienten müssen postoperativ für den Rest ihres Lebens neben der Nahrungszufuhr regelmäßig auch Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. ! Eine regelmäßige Substitution von Nahrungsergänzungsmitteln (Eiweiß, fett- und wasserlösliche Vitamine, Kalzium, bei Frauen Eisen, Mineralstoffe ff und Spurenelemente) ist zur Vermeidung von Mangelerscheinungen unabdingbar.
56.2.3
Bewertung der Operationsverfahren
Gewichtsverlauf Der Gewichtsverlust ist aufgrund der verschiedenen Wirkungsweisen der operativen Verfahren unterschiedlich. Bei den rein restriktiven Verfahren ist von einem durchschnittlichen prozentualen BMI-Verlust von 22,2 beim Magenband, von 29,0 bei der Gastroplastik, von 34,7 beim Magenbypass und von 35,5 bei der BPD mit oder ohne Switch auszugehen. In der Swedish Obese Subjects Studie (SOSStudie), die den Gewichtsverlauf nach konservativer und operativer Maßnahme (überwiegend Gastroplastik-OP) darstellt, wird der Gewichtsverlust nach 10 Jahren im Mittel mit 13,2 für das Magen. Abb. 56.4. Biliopancreatic diversion nach Scopinaro (BPD)
Leber
54 55 Gallengang
Restmagen
56 Bauchspeicheldrüse
57 58
Dickdarm Dünndarm
59 60 Gemeinsame Strecke ca. 50 cm
353
56.2 Adipositaschirurgische Therapieformen
Den Nahrungsbrei transportierender Dünndarmanteil (150 cm)
Gemeinsame Strecke (100 cm)
56
Die Verdauungssekrete transportierender Dünndarmanteil
Zusammenfluss der die Verdauungssekrete und den Nahrungsbrei transportierenden Dünndarmanteile
. Abb. 56.5. Biliopancreatic diversion mit duodenal switch (BPD mit DS)
band, mit 16,5 für die Gastroplastik und mit 25 für den Magenbypass angegeben (. Abb. 56.6).
Postoperative Letalität Die mit der Adipositaschirurgie einhergehende postoperative Letalität gibt die SOS-Studie für alle Verfahren mit 0,25 an. Andere Studien benennen eine Letalität von 0,1 für die restriktiven Verfahren, von 0,5 für den Magenbypass und von 1,1für die BPD. In Anbetracht der erheblich verkürzten Lebenserwartung von Menschen mit Adipositas Grad III ist also von einem vergleichsweise niedrigen Letalitätsrisiko auszugehen.
Komplikationen Unterschiedliche Operationskomplikationen werden mit einer Häufigkeit fi von 13,2 und 23,7 bei den rein restriktiven Verfahren (Magenband bzw. Gastroplastik), mit 18,7 beim Magenbypass und mit 5,9 bei der BPD beschrieben. Die SOS-Studie berichtet über eine Revisionshäufi figkeit von 13,2 beim Magenband, von 21 bei der Gastroplastik und von 17 beim Magenbypass. Anzumerken bleibt, dass die Betroffenen ff nach massivem Gewichtsverlust häufi fig hängende Hautfalten haben, da das Hautkleid aufgrund der Adipositas überdehnt wurde, was nicht selten plastische Rekonstruktionen zur Folge hat.
354
Kapitel 56 · Adipositaschirurgische Therapiemöglichkeiten
41 0
42
Kontrollprobanden ohne chirurgische Maßnahmen
44 45 46 47
Gewichtsverlust in Prozent
43 −10
Magenband
Gastroplastik
−20
48 49
Magenbypass −30
50 51 52
0
1
2
54 55 56 57 58 59 60
4
6
8
10
15
Katamnesedauer in Jahren Anzahl der Patienten 2037 1768 1660
53
3
376
363
357
1369 1298 1244 265
245
245
1553 1490
1281
982
886
190
333
298
267
237
52
1121 1086
1004
899
746
108
166
92
58
10
328
211
209
. Abb. 56.6. SOS-Studie: Gewichtsverlauf bei Kontrollprobanden ohne chirurgische Maßnahme (Quadrate) und bei Probanden mit Magenband (Kreise), Gastroplastik (Dreiecke)
bzw. Magenbypass (Rauten). (Aus Sjöström et al. 2007, © 2007 Massachusetts Medical Society. All rights reserved)
56.2 Adipositaschirurgische Therapieformen
Fazit Konservative Therapiemaßnahmen sind bei Patienten mit einem BMI ≥ 40 kg/m2 äußerst selten erfolgreich, sodass adipositaschirurgische Optionen als die bislang einzigen Gewichtsreduktionsverfahren mit mittel- und langfristigem Erfolg in Betracht gezogen werden müssen. Adipositaschirurgie gibt es seit den 1950er Jahren. Heute haben sich unter den rein restriktiven operativen Verfahren in erster Linie das Magenband, als Kombinationstherapie der Magenbypass und als malabsorptive Operation die biliopancreatic diversion mit oder ohne duodenal switch bewährt. Je invasiver die chirurgische Operationsmethode, desto höher der lang anhaltende Gewichtsverlust, wobei jedoch eine lebenslange, regelmäßige Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln notwendig ist. Auch bei Adipositas Grad II mit adipositasassoziierten Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder arterieller Hypertonie sollte nach erfolglosen konservativen Gewichtsreduktionsmaßnahmen eine adipositaschirurgische Behandlung erwogen werden. Wichtig für den bleibenden Operationserfolg ist eine mehrjährige Betreuung durch ein multidisziplinäres Team.
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57
42
Psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie
43
Stephan Herpertz und Martina de Zwaan
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57.1
Psychisches Befinden fi und Lebensqualität nach Adipositaschirurgie – 358
57.3
Psychische Prädiktoren für den Gewichtsverlauf – 359
45
57.2
Adipositaschirurgie und Essstörungen – 358
57.4
Ausblick und Konsequenzen für die Praxis – 360
41
46 47 48 49 50 51 52 53
Nicht zuletzt aufgrund ihrer Langzeitergebnisse wurde die Adipositaschirurgie 1991 als Mittel der Wahl bei Adipositas Grad III vom National Institute of Health (NIH) anerkannt. Seitdem fi findet sie mit unterschiedlichen Operationstechniken, insbesondere in den Industrienationen, zunehmend Verbreitung (. Exkurs: Adipositaschirurgie und 7 Kap. 56). ! Nach den Leitlinien der Deutschen AdipositasGesellschaft besteht die Indikation für eine chirurgische Intervention nach Scheitern einer konservativen Therapie bei Patienten mit Adipositas Grad III oder bei Patienten mit Adipositas Grad II (BMI> 35 kg/m2) mit erheblichen Komorbiditäten (z. B. Diabetes mellitus Typ 2).
Vor dem Hintergrund einer multifaktoriellen Genese der Adipositas ist eine multiprofessionelle Abklärung bzw. Indikationsstellung zur Adipositaschirurgie sinnvoll, wozu auch die Evaluation psychosozialer bzw. psychosomatischer Zusammenhänft ge zählt (. Übersicht: Diagnostische Bausteine). Oft geht es dabei um die Frage von state und trait, d. h., ob psychische Faktoren die Entwicklung der Adipositas maßgeblich beeinflussen fl oder ob die psychischen Symptome Folge der Adipositas und z. B. der mit ihr einhergehenden gesellschaft ftlichen Stigmatisierung sind.
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Diagnostische Bausteine Psychischer Status 5 Psychische Erkrankungen einschließlich Essstörungen 5 Psychopathologischer Befund 5 Stationäre psychiatrische/psychosomatische Vorbehandlungen 5 Ambulante Behandlungen, Psychotherapie, Psychopharmaka 5 Aktuell in Behandlung?
Ess- und Trinkverhalten 5 Objektive und/oder subjektive Essanfälle 5 Kontrollverlust beim Essen [Essanfälle, grazing, nächtliches Essen (night eating)] 5 Trinkmengen, bevorzugte Getränke 5 Kompensatorische Maßnahmen (Erbrechen, Laxanzien, Diuretika) 5 »Gezügeltes« Essverhalten (ständiger Versuch, Diät zu halten) 5 Einstellung zu und Bewertungen von Gewicht und Figur 5 Portionsgrößen, Nahrungsmittelauswahl 6
357
Gewichtsanamnese 5 Selbstauskunft über die Entwicklung der Adipositas (»Gewichts-Autobiographie«) 5 Übergewicht/Adipositas als Kind 5 Familiäre Belastung (Übergewicht/Adipositas in der mütterlichen bzw. väterlichen Linie) 5 Lebensereignisse in Zusammenhang mit Gewichtszunahme 5 Bisherige Gewichtsreduktionsversuche und deren Erfolge Stress, Fähigkeit zur Problemlösung (Coping) 5 Psychosoziale Stressoren 5 Zu erwartende Lebensveränderungen in dem Jahr nach der OP 5 Essen als alleinige Stressbewältigung (Coping) 5 Positive Aspekte der Adipositas (z. B. Schutz) 5 Sexuelle oder physische Missbrauchserfahrung 5 Intelligenzniveau, kognitive Funktionen 5 Bei Bedarf neuropsychologische Testung
57
Soziale Unterstützung 5 Akzeptanz und Hilfe in Partnerschaft, Familie und Freundeskreis 5 Mögliche negative Konsequenzen (z. B. Attraktivität als Problem für den Ehepartner)? 5 Praktische Hilfe 5 »Moralische« Unterstützung ff gegenüber Anderen, Verheimlichen 5 Offenheit (z. B. aus Angst vor Diskriminierung oder aus Angst, zu versagen) Motivation, Compliance 5 Ausmaß der Motivation (z. B. von 0 bis 10) 5 Vorrangige Gründe für die Operation (Gesundheit, Mobilität, Aussehen etc.) 5 Intrinsische (Selbst-) oder extrinsische Motivation (z. B. durch Angehörige) 5 Früherer Umgang mit medizinischen Empfehlungen Erwartungen 5 Gewichtsreduktion als alleiniger »Problemlöser« (quick fix) x 5 Realistische Erwartungen an das Ausmaß der Gewichtsreduktion (selten wird Normalgewicht erreicht)
Definition Adipositaschirurgie Unter Adipositaschirurgie werden chirurgische Maßnahmen zur Bekämpfung des krankhaften Übergewichts (Adipositas) verstanden. Es gibt eine Reihe von Verfahren. Neben dem Magenband und der Gastroplastik nach Mason oder Eckhout, bei der ein Großteil des Magens mit einer Vierfach-Klammernaht abgetackert wird, gibt es auch verschiedene Bypass-Techniken. Während Magenband und Magenplastik die Nahrungszufuhr begrenzen sollen (man spricht von restriktiven Techniken), steht bei den verschiedenen Magen-Darm-Bypass-Techniken zusätzlich eine malabsorptive Wirkung, also eine Einschrän-
kung der Verstoff ffwechselung der zugeführten Nahrung, im Vordergrund). Dabei wird der Roux-enY-Bypass als in erster Linie restriktiv mit einer malabsorptiven Komponente angesehen, der biliopankreatische Bypass (BPD) mit oder ohne DuodenalSwitch (DS) hingegen bezieht seine Hauptwirkung aus dem malabsorptiven Effekt. ff Alle Operationen können auch minimal-invasiv durchgeführt werden, was für den Patienten oftmals schonender und weniger komplikationsbehaftet ist (geringere Gefahr von Wundheilungsstörungen durch kleinere Narben).
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41
57.1
Kapitel 57 · Psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie
Psychisches Befinden fi und Lebensqualität nach Adipositaschirurgie
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Die überwiegende Mehrzahl der Studien zeigt eine deutliche Besserung der psychischen Gesundheit und verschiedener psychosozialer Parameter wie zwischenmenschliche Beziehungen, Krankmeldungen und Erwerbsfähigkeit. Psychische Komorbidität, insbesondere depressive und Angststörungen, zeigen sich i. d. R. postoperativ rückläufi fig. Ebenso verbessern sich Selbstwertgefühl und Sozialverhalten einschließlich Partnerschaft ft und Sexualität. Die Rate für die Rückkehr in das Erwerbsleben liegt zwischen 16 und 36. Es liegt auf der Hand, dass diese Befunde auch einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität haben. fl ! 20–25% der Patienten zeigen allerdings im Hinblick auf die Gewichtsentwicklung nach der Operation keinen zufrieden stellenden Verlauf. Einige von ihnen erreichen sogar wieder ihr Ausgangsgewicht.
Chirurgische Komplikationen wie Banddislokation, Pouch-Dilatation etc. sind nur selten die Ursache für einen nicht zufrieden stellenden postoperativen Verlauf, vielmehr ist in vielen Fällen eine Compliance-Störung anzunehmen, der wiederum psychische Probleme zugrunde liegen können. Als Beispiel ist eine »suboptimale« bis gestörte Affektff regulation zu nennen, die mit hochkalorischem Essverhalten einhergeht. So dient nicht selten der Konsum größerer Mengen von Süßigkeiten, Fastfood etc. dem Versuch, dysphorische Stimmungen ffektrewenigstens passager zu neutralisieren. Aff gulationsstörungen können auch Ausdruck einer generellen Störung der Impulsivität im Sinne einer Impulskontrollstörung darstellen, wie sie vornehmlich bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen wie der affektiv ff instabilen (Borderline-)Persönlichkeitsstörung zu fi finden ist. Sexueller Missbrauch in der Anamnese kann Angst während des Gewichtsverlusts auslösen; eine instabile Partnerschaft ft kann durch die Veränderung des einen Partners zerbrechen.
! Adipositaschirurgische Maßnahmen und Gewichtsverlust können psychosoziale Probleme nicht lösen.
57.2
Adipositaschirurgie und Essstörungen
Die Prävalenz der Binge-Eating-Störung (BES) liegt bei adipösen Patienten vor Operation bei etwa 15‒ 30 (. Übersicht: Postoperative Ergebnisse bei BES). Viele Jahre galt die BES neben der bei adipösen Menschen eher selten auftretenden ft Bulimia nervosa als Kontraindikation für eine adipositaschirurgische Maßnahme. Postoperative Ergebnisse bei BingeEating-Störung 5 Abnahme von Essverhaltensstörungen 5 Abnahme der problematischen Einstellung zu Essen, Gewicht und Figur fi Essanfälle 5 Rückläufige 5 Reduzierte negative Einstellung zu Gewicht und Figur
Bei einem kleinen Teil der Patienten entwickeln sich postoperativ jedoch wieder Essanfälle. Die Nahrungsmittelmengen, die während eines Essanfalls aufgenommen werden, sind insbesondere bei restriktiven Operationsverfahren i. d. R. geringer als vor der Operation. Welche Patienten erneut Essanfälle entwickeln und bei welchen Patienten die Essanfälle dauerhaft ft ausbleiben, ist jedoch unklar. Die Entwicklung von »klassischen« Essstörungen dürfte eher selten vorkommen, wobei systematische Untersuchungen fehlen. In der Literatur existieren bislang nur Einzelfallberichte zur postoperativen Entwicklung einer Anorexie oder Bulimie, wobei davon auszugehen ist, dass tatsächliche »De-novoFälle« selten sind. Die adäquate Unterscheidung von normalem und pathologischem Essverhalten nach chirurgischer Adipositastherapie ist generell schwierig. Einige Patienten zeigen häufiges fi Erbrechen bzw. Regurgitationen, was jedoch bei den meisten Patienten mehr mit der zu Beginn schwierigen Umstellung auf andere Nahrungsmittel, der Aufnahme
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von kleinen Nahrungsmengen und der Notwendigkeit des intensiven Kauens zu tun haben dürfte ft als mit dem bewussten Versuch der Gewichtsreduktion. Einige Patienten zeigen eine kontinuierliche Aufnahme kleiner Nahrungsmengen. Nicht selten entwickeln Patienten nach Erreichen des Gewichtsplateaus eine intensive Angst vor erneuter Gewichtszunahme. Die Folge ist häufig ein bewusstes restriktives Essverhalten, das bei entsprechender Vulnerabilität das Wiederauftreten ft von Essanfällen begünstigen kann. Auf organische Komplikationen, z. B. eine späte Pouch-Dilatation durch Essanfälle und häufiges fi Erbrechen ist zu achten. Der Wunsch nach wiederholter Adjustierung des Bandes durch die Patienten sollte daher kritisch hinterfragt werden.
57.3
Psychische Prädiktoren für den Gewichtsverlauf
Eine psychische Begutachtung ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die psychische Komorbidität, wie oben dargestellt, in dieser Patientengruppe generell hoch ist. Im Hinblick auf die Prognoseeinschätzung sowohl des postoperativen Gewichtsverlaufs als auch des psychischen Wohlbefi findens wird immer wieder die Frage nach psychischen Prädiktorvariablen laut (. Übersicht). Persönlichkeitsvariablen und psychische Störungen der Achse I des DSM-IV stellen keine zuverlässigen Prädiktoren für den postoperativen Gewichtsverlauf oder das psychische Befinden fi nach Operation dar. Eher die Schwere einer präoperativ bestehenden psychischen Erkrankung scheint von prädiktivem Wert zu sein. So lässt sich bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen vom emotional-instabilen Typ (Borderline-Persönlichkeitsstörung) und bei Patienten mit anderen schweren psychischen Störungen mit mehreren stationären psychiatrischen Behandlungen in der Vorgeschichte häufig fi nicht nur ein unzureichender Gewichtsverlust, sondern auch eine ungenügende Besserung des psychischen Befi findens beobachten. Diese Patientengruppen gilt es präoperativ zu erkennen und einer entsprechenden Therapie zuzuführen. Essanfälle vor der Operation stellen ‒ unabhängig von der Operationstechnik ‒ keinen stabilen Prädiktor für den Gewichtsverlust dar. Pati-
57
enten, die nach der Operation jedoch erneut Essanfälle entwickeln, scheinen tatsächlich weniger an Gewicht abzunehmen bzw. nach der »Honeymoon-Phase« von 1‒2 Jahren mehr zuzunehmen als Patienten, die nie Essanfälle hatten bzw. postoperativ keine Essanfälle mehr entwickelten. Es gibt auch Hinweise darauf, dass bei diesen Patienten mit einer erhöhten medizinischen Komplikationsrate zu rechnen ist. Der größere Konsum von Süßigkeiten wird immer wieder als negativer Prädiktor für eine rein restriktive Operationsform angesehen. Im Gegensatz zur erneuten Entwicklung von Essanfällen scheint die Bevorzugung süßer Speisen postoperativ jedoch kein verlässlicher Prädiktor für den Gewichtsverlauf zu sein. Über den postoperativen Verlauf von Patienten mit dem Vollbild einer Bulimia nervosa ist wenig bekannt; jedoch sollte in diesem Fall präoperativ unbedingt eine entsprechende Th Therapie erfolgen, die auch ohne den chirurgischen Eingriff ff dringend indiziert wäre. Hier gibt es Hinweise, dass das Ausmaß der Gewichtsabnahme zwar nicht beeinträchtigt zu sein scheint, die Essstörung jedoch unverändert bestehen bleibt und möglicherweise die Komplikationsrate erhöht wird. Prädiktoren für den Gewichtsverlauf Keine zuverlässigen Prädiktoren 5 Persönlichkeitsvariable psychische Störungen der Achse I des DSM-IV 5 Essanfälle präoperativ 5 Konsum von Süßigkeiten Valide Prädiktoren 5 Präoperativ schwere psychische Erkrankungen (hier v. a. Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Patienten mit mehreren psychiatrischen Behandlungen)
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Kapitel 57 · Psychosomatische Aspekte der Adipositaschirurgie
57.4
Ausblick und Konsequenzen Literatur für die Praxis Buchwald H, Avidor Y, Braunwald E et al (2004) Bariatric surge-
! Psychische Störungen haben auf den postoperativen Verlauf – sowohl im Hinblick auf das Gewicht als auch auf die psychische Störung – einen geringeren negativen Einfluss fl als bisher angenommen.
Empirische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass schwere und instabile psychische Störungen präoperativ identifiziert fi und behandelt werden sollten, bevor eine Operation empfohlen werden kann. Die Rolle von psychosomatischer Medizin, Psychiatrie oder Psychologie liegt weniger in einer »Gatekeeper-Funktion«, sondern vielmehr in der Evaluation vor und in der Begleitung der Patienten nach der Operation. Die Diagnose einer psychischen Störung bedeutet keinesfalls per se den Ausschluss einer adipositaschirurgischen Intervention, vielmehr ist z. B. bei der Diagnose einer Bulimia nervosa oder einer Impulskontrollstörung die Indikation einer präoperativen Psychotherapie zu erwägen. Vorrangig ist die Erfassung von Informationen, die in Empfehlungen einfließen fl mit dem Ziel, den Erfolg einer chirurgischen Adipositastherapie zu verbessern. Fazit
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Ein wesentliches Ziel der präoperativen psychischen Evaluation ist neben einer ausführlichen psychischen und biographischen Anamnese die Abklärung der Motivation des Patienten, seines Wissens über den geplanten Eingriff ff sowie der Erwartungen an den Eingriff ff (»Problemlöser«, quick fix, x Erreichen von Normalgewicht). Die Evaluation sollte die zu erwartende soziale Unterstützung ansprechen, die Angst vor der Operation reduzieren und einen Grundstein für die postoperative Compliance legen.
ry. A systematic review and meta-analysis. J Am Med Assoc 14: 1724-1737 Burgmer R, Grigutsch K, Zipfel S et al (2005) The influence fl of eating behavior and eating pathology on weight loss after gastric restriction operations. Obes Surg 15: 684-691 Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V., Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (2005) Prävention und Therapie der Adipositas, Leitlinien der AWMF Dymek-Valentine M, Rienecke-Hoste R, Engelberg MJ (2005) Psychological assessment in bariatric surgery candidates. In: Mitchell JE, de Zwaan M (eds) Bariatric surgery: a guide for mental health professionals. Routledge, New York, pp 15-38 Herpertz S, Kielmann R, Wolf AM et al (2004) Do psychosocial variables predict weight loss or mental health after obesity surgery? – A systematic review. Obes Res 12: 1554-1569 Herpertz S, Kielmann R, Wolf AM et al (2003) Does obesity surgery improve psychosocial functioning ? – A systematic review. Int J Obes Rel Met Dis 27: 1300-1314 Husemann B (2004) Zukunft der Adipositaschirurgie. Dt Ärztebl 100(20): 1356-1366 Zwaan M de (2005) Weight and eating changes after bariatric surgery. In: Mitchell JE, de Zwaan M (eds) Bariatric surgery: a guide for mental health professionals. Routledge, New York, pp 77-99 Zwaan M de, Mühlhans B (2007) Der Verlauf einer Bulimia nervosa nach Magenbandimplantation. Psychosom Konsiliarpsychiatr 1(2): 154-157
58 Behandlung der Adipositas bei Diabetes mellitus Stephan Herpertz 58.1
Lebensstiländerung als präventive Maßnahme bei unzureichender Glukosetoleranz – 361
58.2
Adjuvante medikamentöse Behandlung – 362
58.3
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 – 362
In Deutschland leben ca. 4 Mio. Männer und Frauen mit Diabetes mellitus, das sind ca. 5 der Bevölkerung. Die Mehrheit aller Diabeteskranken (80–90) leidet an einem Typ-2-Diabetes. Ab dem 40. Lebensjahr ist er die häufi figste Diabetesform. Die Prävalenz des Diabetes Typ 2 steigt bis zum Alter von 80 Jahren deutlich an (von 2 bei 40-Jährigen bis zu über 20 in höheren Lebensaltern). Die Ätiologie des Diabetes mellitus Typ 2 stellt ein komplexes Geschehen dar, bei dem sowohl genetische als auch Umwelteinflüsse fl eine Rolle spielen. So werden Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen von bis zu 90 beschrieben, wobei die genetische Grundlage noch nicht genau bekannt ist. Vieles spricht dafür, dass genetische Faktoren im Zusammenspiel mit erworbenen Faktoren wie Übergewicht und Adipositas die Insulinwirkung im Gewebe (Insulinresistenz) und die Insulinsekretion der Bauchspeicheldrüse verändern. Die Folge ist eine Störung des Glukosestoffwechsels ff und andere Stoffwechselstörungen ff (z. B. Fettstoff ffwechsel). Im Zusammenwirken mit Bewegungsmangel und Übergewicht bzw. Adipositas können diese Störungen zur Manifestation des Diabetes führen.
58.4
Gewichtsabnahme und Mortalität – 363
58.5
Kann die Adipositaschirurgie das Problem lösen? – 363
58.1
Lebensstiländerung als präventive Maßnahme bei unzureichender Glukosetoleranz
Adipositas und das metabolische Syndrom, welches sich durch stammbetonte (viszerale) Adipositas, erhöhten Blutzucker, Dyslipidämie mit niedrigem HDL-Cholesterin- und erhöhten Triglyzeridspiegeln sowie essenzielle arterielle Hypertonie auszeichnet, sind vornehmlich auf einen ungesunden Lebensstil im Rahmen moderner Lebensbedingungen zurückzuführen. Die Primärprävention ist die wirksamste und zugleich kostengünstigste Strategie zur Vermeidung von Adipositas, metabolischem Syndrom und seinen Folgeerkrankungen. Zahlreiche Diabetespräventionsstudien konnten belegen, dass psychoedukative Maßnahmen mit dem Ziel der Lebensstiländerung, wie verbesserte körperliche Aktivität und Fitness, Gewichtskontrolle und gesunde Ernährung sowie Motivation zur Verhaltensänderung mittels moderater Gewichtsreduktion von 5‒10, die Entstehung des metabolischen Syndroms effektiv ff verhindern und das kardiovaskuläre Risiko senken können . In einer prospektiven randomisierten fi finnischen Studie mit einem Beobachtungszeitraum von mehr als 3 Jahren nahmen Probanden mit unzureichender Glukosetoleranz im Durchschnitts-
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Kapitel 58 · Behandlung der Adipositas bei Diabetes mellitus
alter von 55 Jahren und einem BMI von 31 kg/m2 an einem Edukationsprogramm zur Lebensstiländerung teil. Ziel der Intervention war eine Gewichtsabnahme von mindestens 5 mittels Ernährungsumstellung und einer Steigerung der körperlichen Aktivität auf mindestens 30 Minuten täglich. Bei einem Gewichtsverlust von durchschnittlich 4,2 kg nach einem Jahr und 3,5 kg nach zwei Jahren in der Interventionsgruppe gegenüber 0,8 kg nach einem und zwei Jahren in der Kontrollgruppe, die lediglich eine Informationsbroschüre und Sportangebote erhielt, konnte die Inzidenz des Diabetes mellitus um 58 gesenkt werden (Tuomilehto et al. 2001). ! Psychoedukation, die auf die Veränderung des Lebensstils i. S. einer Ernährungsumstellung auf eine hypokalorische Mischkost und die Steigerung der körperlichen Aktivität abzielt, führt mittels moderater Gewichtsreduktion zu einer Abnahme von Stoff ffwechselkrankheiten wie z. B. Diabetes mellitus Typ 2.
56
Neben der Reduktion der Gesamtenergiezufuhr und der Vermeidung kardiovaskulärer Risikofaktoren wie z. B. Rauchen zielt die nichtmedikamentöse Behandlung auf eine Optimierung der Nährstoff ffzusammensetzung. Am Anfang steht eine mäßig energiereduzierte, aber ausgewogene Ernährung mit einem täglichen Energiedefizit fi von 500‒ 800 kcal. Darüber hinaus wird eine hypokalorische Mischkost empfohlen, die eine Reduktion der Fettmenge, die Bevorzugung komplexer Kohlenhydrate, die Steigerung der Ballaststoffe, ff die Vermeidung von Lebensmitteln mit hoher Energiedichte sowie kalorienreicher Getränke (z. B. Soft ftdrinks) und einen festen Mahlzeitenrhythmus vorsieht.
57
58.2
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58 59 60
Adjuvante medikamentöse Behandlung
Führen die beschriebenen Lebensstiländerungen nicht zu einer Gewichtsabnahme von mindestens 5 innerhalb eines halben Jahres, so ist auch eine adjuvante medikamentöse Behandlung zu diskutieren. Die Frage, ob neben einer Lebensstiländerung der Einsatz gewichtsreduzierender Medikamente einen zusätzlichen Effekt ff im Hinblick auf
die Diabetesinzidenz zeigt, wurde z. B. in der XENDOS-Studie untersucht. Bei einem Beobachtungszeitraum von 4 Jahren konnte neben einer Lebensstilintervention durch zusätzliche Gabe des Lipasehemmers Orlistat die Gewichtsabnahme gefördert und das Risiko an einem manifesten Diabetes mellitus zu erkranken, insbesondere bei Patienten mit subklinischem Diabetes mellitus, deutlich gesenkt werden. Ähnlich wie die XENDOS-Studie verfolgt auch die laufende CRESCENDO-Studie ‒ allerdings unter Einsatz von Rimonabant, einem Endocannabinoid-1-Rezeptorantagonisten ‒ das Ziel, die Inzidenz des Diabetes mellitus bei adipösen Menschen mit unzureichender Stoffwechselkontrolle ff zu reduzieren. Sibutramin, ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer führt zu einer Verstärkung des Sättigungsgefühls und einer Steigerung des Energieverbrauchs. Die zusätzliche Gewichtsreduktion durch Sibutramin wirkt sich günstig auf den Glukosestoffwechsel ff aus. Ob Sibutramin auch zu einer Veränderung des Glukosestoffwechsels ff führt, wird die derzeit laufende SCOUT-Studie (Sibutramine Cardiovascular Outcome Trial) in den nächsten Jahren beantworten, die harte kardiovaskuläre Endpunkte bei Hochrisikopatienten untersucht. Die bisherige Studienlage stellt sich nicht einheitlich dar.
58.3
Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Bei Vorliegen eines manifesten Diabetes mellitus mit einem HbA1c > 6,5 wird nach den Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft ft neben den Lebensstilinterventionen eine zusätzliche medikamentöse Therapie mit Metformin als Medikament der ersten Th Wahl empfohlen. Neben einer Blutzuckersenkung hat Metformin eine günstige Wirkung auf das Körpergewicht, das Lipidprofi fil und die Hyperinsulinämie. So konnte die UK Prospective Diabetes Studyy (UKPDS) eine günstige Wirkung von Metformin auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität belegen. Ebenso wie Metformin hat auch Acarbose, ein α-Glukosidasehemmer, welcher die Kohlenhydratverdauung im Dünndarm verzögert und einer postprandialen Hyperglykämie entgegenwirkt, eine günstige Wirkung auf das Körpergewicht. Allerdings
363
58.5 Kann die Adipositaschirurgie das Problem lösen?
beschränken die nicht selten auftretende ft massive Flatulenz und Diarrhöen die Indikation nicht unerff stimulieren die Insulinheblich. Sulfonylharnstoffe sekretion. Aufgrund ihrer hyperinsulinämischen und gewichtssteigernden Wirkung, aber auch ihrer längeren Halbwertszeit und dem Hypoglykämierisiko gelten sie als Mittel der zweiten Wahl. Ähnlich wie Sulfonylharnstoffe ff stimulieren die Glinide (Repaglinid und Nateglinid) die Insulinsekretion, sie haben aber im Gegensatz zu den Sulfonylharnstoff ffen eine deutlich geringere Halbwertszeit, sodass die Hypoglykämiegefahr geringer ist. Glitazone führen sowohl zu einer Verbesserung der Insulinsensitivität in der Skelettmuskulatur und Leber als auch zu einer besseren Regulation des Glukose- und Lipidstoff ffwechsels im Fettgewebe. Allerdings geht ihr Einsatz mit der höchsten Gewichtszunahme einher. Seit 2007 sind die sog. Dipeptidyl-Peptidase-4-Inhibitoren (DPP-4-Inhibitoren) auf dem Markt. Hierbei handelt es sich um orale Antidiabetika, die sich die günstigen Stoffwechseleff ff ffekte von glucagon-like peptide-1 (GLP-1) zunutze machen, indem dessen Abbau im Organismus gehemmt wird und die sonst nur flüchtigen fl Eff ffekte des Inkretins GLP-1 länger dauernd nutzbar gemacht werden können. Eine vorteilhafte ft Inkretinwirkung besteht in einer glukoseabhängigen, also bedarfsgerechten Insulinsekretion. Eine Hypoglykämiegefahr ist praktisch ausgeschlossen, ebenso eine Gewichtszunahme. Die Insulintherapie, die i. d. R. mit einer Gewichtszunahme einhergeht, ist dann indiziert, wenn die genannten antihyperglykämischen Behandlungsmaßnahmen nicht erfolgreich sind.
58.4
Gewichtsabnahme und Mortalität
Dass Gewichtsverlust eine Senkung des kardiovaskulären Risikos nach sich zieht, ist belegt, paradoxerweise aber stellt sich die Datenlage im Hinblick auf die Mortalitätssenkung durch intendierte Gewichtsreduktion kontrovers dar. Bedenklich stimmt insbesondere die Tatsache, dass große epidemiologische Studien trotz Senkung des kardiovaskulären Risikos nicht etwa eine Senkung, sondern eine Steigerung der Mortalität nachwiesen. Raucher oder kranke Menschen waren zu Beginn oder sogar noch in den ersten Jahren der Studie
58
ausgeschlossen worden. Hier besteht sicherlich dringender Forschungsbedarf. Die zurzeit durchgeführte randomisierte, kontrollierte prospektive Look-AHEAD-Studie untersucht für die Dauer von mehr als 11 Jahren 5145 Patienten mit Typ-2-Diabetes im Alter zwischen 45 und 74 Jahren im Hinblick auf die Auswirkungen einer Gewichtsreduktion auf das kardiovaskuläre Risiko und die Mortalität. ! Gewichtsabnahme führt i. d. R. zu einer Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage ff und des kardiovaskulären Risikos. Die Frage, ob intendierte Gewichtsabnahme zu einer Senkung der Mortalität führt, muss allerdings derzeit noch kontrovers diskutiert werden. Davon ausgenommen ist die Gewichtsreduktion durch chirurgische Maßnahmen. Deren Indikation stellt sich allerdings nur für Menschen mit Adipositas Grad III.
58.5
Kann die Adipositaschirurgie das Problem lösen?
Die Indikation für die Adipositaschirurgie ist die Adipositas Grad III (≥ 40 kg/m2) oder Grad II (≥ 35 kg/m2) verbunden mit komorbiden Erkrankungen wie arterielle Hypertonie oder Diabetes mellitus. Die Swedish Obese Subjects Studie (SOSStudie), eine nichtrandomisierte, kontrollierte Studie, wird u. a. durchgeführt, um Aufschluss über die Frage zu erhalten, ob die Mortalitätsrate adipöser Menschen durch Gewichtsverlust gesenkt werden kann. Nach einem initialen Screening-Verfahren konnten 6328 adipöse Patienten rekrutiert werden. In der folgenden Interventionsstudie wurden 2010 Patienten operiert, bei der Mehrzahl kam das Magenband zur Anwendung, 2037 Patienten mit konservativer Adipositasbehandlung dienten als Kontrollgruppe über einen Zeitraum von 20 Jahren. Nach durchschnittlich 10 Jahren hatten die Kontrollprobanden ca. 1,4 kg an Gewicht zugenommen. Die Adipositaschirurgiepatienten nahmen in dieser Zeit durchschnittlich 20‒30 kg an Gewicht ab. Im Gegensatz zu den konservativ behandelten Patienten profi fitierten die Adipositaschirurgiepatienten sowohl im Hinblick auf die Inzidenz kardiovaskulärer Risikofaktoren wie arterielle Hyperto-
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Kapitel 58 · Behandlung der Adipositas bei Diabetes mellitus
nie, Hypertriglyzeridämie und Diabetes mellitus als auch hinsichtlich kardialer Funktionsparameter und der Lebensqualität. Nach einer Beobachtung von mehr als 10 Jahren zeigten die chirurgischen Patienten eine deutlich niedrigere Mortalität als die konservativ behandelte Kontrollgruppe (129 vs. 101 Todesfälle). Im Hinblick auf das Risiko, an Diabetes mellitus zu erkranken, zeigte sich die Adipositaschirurgie der konservativen Behandlung überlegen. Viele Patienten mit Diabetes waren in der Lage, aufgrund ihrer deutlich gebesserten Stoffff wechsellage ihre Diabetesmedikation zu reduzieren bzw. abzusetzen. Fazit
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Zahlreiche Diabetespräventionsstudien konnten belegen, dass durch Lebensstiländerungen, die auf eine hypokalorische Ernährung bzw. -umstellung und Steigerung der körperlichen Aktivität abzielen, eine Besserung der Insulinresistenz bei adipösen Menschen zu erreichen ist. Dieser Effekt ff konnte medikamentös gesteigert werden. Ob die offensichtliche Verbesserung kardiovaskulärer Risikoparameter auch zu einer Mortalitätssenkung führt, kann abschließend noch nicht beurteilt werden. Einzig bei Menschen mit Adipositas Grad III konnte mittels adipositaschirurgischer Maßnahmen der Nachweis erbracht werden, dass Gewichtsreduktion auch eine Mortalitätssenkung zur Folge hat. Längerfristige Erfolgsraten der konservativen Adipositasbehandlung belaufen sich auf ca. 15%. Adipöse Patienten mit Typ-2-Diabetes dürften nicht zuletzt aufgrund der therapiebedingten Verbesserung der katabolen Stoffwechsellaff ge und der Glukosurie, aber auch der adiposigenen Wirkung vieler Antidiabetika geringere Erfolgsraten aufweisen. Von daher stellt sich die Frage, ob weniger eine Gewichtsreduktion, sondern vielmehr eine Gewichtskonstanz neben einer Verbesserung des Stoffwechsels ff das Behandlungsziel sein sollte.
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59 Modediäten und kommerzielle Programme Andreas Fritsche 59.1
Anforderungen an eine Diät
59.2
Einteilung der Diäten zur Gewichtsreduktion – 366
– 365
Ernährungstherapie bei Adipositas hat die Gewichtsabnahme zum Ziel. Hierzu soll erreicht werden, dass die Energiezufuhr (Kalorienzufuhr) geringer ist als der Energieverbrauch. Die Diät ist ein zentraler Bestandteil der Adipositastherapie. Zu den Leitlinien »Ernährungstherapie bei Adipositas« (. Übersicht) ist anzumerken, dass für die Stufen 1, 2 und 3 die höchste Evidenz vorliegt (randomisierte kontrollierte Studien oder Metaanalysen solcher Studien existieren). Stufe 4 beruht auf der niedrigsten Evidenzklasse, der »Expertenempfehlung«, die durch keine Studie geprüft ft ist. Ernährungstherapie bei Adipositas – Leitlinien In den Leitlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft wird eine 4-stufige fi Ernährungstherapie empfohlen. Je nach individuellem Risikoprofil fi kann auf jeder Stufe eingestiegen werden. 5 Stufe 1: Alleinige Reduktion des Fettverzehrs (angestrebtes Energiedefizit fi 500 kcal) 5 Stufe 2: Mäßig energiereduzierte Mischkost (angestrebtes Energiedefizit fi 500–800 kcal). Neben der Fettbegrenzung wird auch der Verzehr von Kohlenhydraten und Eiweiß reduziert. 5 Stufe 3: Mahlzeitenersatz mit Formulaprodukten (Ersatz von 1–2 Hauptmahlzeiten) 5 Stufe 4: Formuladiät (Zeitraum bis zu 12 Wochen, 800–1200 kcal pro Tag)
59.3
Bewertung von Diätprogrammen – 366
59.4
Individualisierte Ernähung – 367
59.1
Anforderungen an eine Diät
Im Gegensatz zur so genannten Reduktionsdiät, die nach Empfehlungen der Fachgesellschaften ft nur für eine begrenzte Zeit angewandt werden darf, ist für eine nachhaltige Adipositasbehandlung eine dauerhaft fte Umstellung der Ernährung und des Lebensstils notwendig. Es wird klar, dass für Diäten zur Behandlung der Adipositas gleiche Anforderungen gelten sollten wie für die Prüfung von Medikamenten (. Übersicht: Qualitätsmerkmale einer Diät). Diese Anforderungen werden von den meisten (Mode- )Diäten nicht erfüllt. Qualitätsmerkmale einer Diät zur Behandlung von Adipositas 5 Wirksamkeit hinsichtlich Gewichtsreduktion sollte in einer klinischen Studie geprüft sein (kontrolliertes randomisiertes prospektives Design) 5 Wirksamkeit sollte auch langfristig bewiesen sein (Nachuntersuchung nach mehr als 1 Jahr) 5 Wirksamkeit sollte auch hinsichtlich der Reduktion von Symptomen adipositasbedingter Folgeerkrankungen (u. a. Diabetes mellitus, Fettstoff ffwechselstörung, kardiovaskuläre Erkrankungen) gegeben sein 5 Nebenwirkungen (körperliche und psychische) sollten untersucht sein 5 Nebenwirkungen sollten gering sein 5 Kosten sollten adäquat sein
366
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Kapitel 59 · Modediäten und kommerzielle Programme
! Forderung: Reduktionsdiäten sollten sich den gleichen Anforderungen (klinischen Prüfungen) unterziehen wie Medikamente.
59.2
Einteilung der Diäten zur Gewichtsreduktion
Eine Vielzahl von Diäten und Abnehmprogrammen wird angeboten, ihre Zahl ist selbst für Experten unüberschaubar. Die folgende Einteilung der verschiedenen Diätformen (. Übersicht: Einteilung von Diäten) ist willkürlich, die meisten Diäten beinhalten mehrere der aufgeführten Aspekte. Einteilung von Diäten zur Gewichtsreduktion – ein Versuch 5 Mischkostdiät 5 Diäten, die bestimmte Nahrungsbestandteile bevorzugen – Proteinreiche Diät – Kohlenhydratreiche Diät – Fettreiche Diät ff Diät – Ballaststoffreiche 5 Diät mit niedrigem glykämischem Index 5 Trennkost 5 »Weltanschauungsdiät« 5 »Regionale« Diät 5 Formula-Diät 5 Internet-Diät
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Beispiele für Mischkostdiäten sind die »BrigitteDiät« und das »Ich-nehme-ab-Programm« der Deutschen Gesellschaft ft für Ernährung. Zu den proteinreichen Diäten gehören die Hollywood-, Mayooder Sears-Diät, zu den kohlenhydratreichen Diäten gehören die Reis- oder Kartoffeldiät ff und die 7Tage-Körner- oder Schrot-Kur. Der bekannteste Vertreter der fettreichen Diät ist die Atkins-Diät. Eine Diät, die einen niedrigen glykämischen Index enthält, ist die Glyx-Diät. Die Trennkost wird von Hay propagiert oder im »Fit-for-life-Programm« angeboten. Zu Diäten, bei denen eine bestimmte Weltanschauung verlangt wird, gehören die anthroposophische Diät, aber auch der Vegetarismus, die Blutgruppendiät oder die Makrobiotik. Im weitesten Sinne gehören auch das religiöse Fasten und
die Ramadan-Ernährung hinzu. Zu regionalen Diäten zählen die mediterrane Kost oder die Eskimo-Diät. Formula-Diäten werden als »Herbalife« angeboten oder in Programme eingebunden wie im »Optifast-Programm«. Zunehmend werden auch im Internet Diäten angeboten, der Abnehmwillige wird in Internetforen und E-Mail-Diensten unterstützt. Es wird hier bewusst darauf verzichtet, die einzelnen Diätformen näher zu beschreiben. Bestimmte Kennzeichen einer Diät sollten zudem Skepsis auslösen und dazu führen, dass diese Diät nicht angewandt wird (. Übersicht: Aussagen zu einer Diät) . Bei folgenden Aussagen zu einer »Diät« sollte unbedingt Vorsicht gelten und von dem Produkt abgeraten werden 5 Hohe Kosten für die Diät 5 Im Nichterfolgsfall Geld zurück 5 Es wir ein schneller Erfolg versprochen (10 kg in 3 Wochen!) 5 Es darf neben der Diät weiter gegessen werden, was man will 5 Bilder von Vorher-Nachher-Erfolgen von Einzelpersonen fi 5 Verbindung mit Namen des »Erfinders« der Diät (»Professor XY-Diät«) 5 Verbindung mit religiösen und weltanschaulichen Botschaften 5 Keine wissenschaftliche Evaluation – mysteriöse Wirkmechanismen
59.3
Bewertung von Diätprogrammen
Die Wirksamkeit von Diätprogrammen sollte hinsichtlich Gewichtsreduktion, Auswirkungen auf den Stoff ffwechsel und Nebenwirkungen in klinischen Studien geprüft ft sein. Es gibt erstaunlich wenige Studien zu diesem Th Thema, die den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin genügen. Besonders in der amerikanischen wissenschaftft lichen Literatur findet fi sich eine Anzahl von Arbeiten zu der Frage, ob eine fettreiche Diät (low carb) einer fettarmen, kohlenhydratreichen Diät (low
367
59.4 Individualisierte Ernähung
fat) bei der Gewichtsreduktion überlegen sei. Hierzu wurde eine Metaanalyse von 5 neueren Studien mit einer Dauer von 6‒12 Monaten zu diesem Th Thema durchgeführt (Nordmann et al. 2006). Die initiale Gewichtsreduktion nach 6 Monaten ist bei den fettreichen Diäten (abgeleitet von der Atkins-Diät) ohne Kalorienrestriktion eher stärker (Unterschied von 3 kg). Nach einem Jahr jedoch ist der Gewichtsverlust vergleichbar mit dem Gewichtsverlust, der von fettarmen, kalorienreduzierten Diäten erreicht wird. Ferner zeigen die so genannten Low-fat-Diäten niedrigere LDL-Cholesterinwerte, während die Low-carb-Diäten mit höheren HDL-Cholesterin und niedrigeren Triglyzeridwerten verbunden sind. Eine weitere, in mehreren hochwertigen prospektiven, kontrollierten, randomisierten Studien untersuchte Frage ist, wie hoch der Effekt ff von Diäten mit niedrigem glykämischem Index oder niedriger glykämischer Last ist. Der glykämische Index bewertet ein Nahrungsmittel nach seiner Wirkung auf die Blutzuckererhöhung und normiert diesen Wert am Blutzuckeranstieg, der durch die gleiche Menge Glukose verursacht wird. Die glykämische Last berechnet sich aus dem Produkt von glykämischem Index und Kohlenhydratgehalt der Nahrung. Ballaststoffreiche ff Ernährung, aber auch fettreiche Ernährung kann zu diesen Diäten gezählt werden. Eine Metaanalyse hierzu wurde von ThoTh mas, Elliott und Baur (2007) durchgeführt. Es konnten 6 Studien mit einer Dauer von 5 Wochen bis 6 Monaten gefunden werden, die eine Ernährung mit niedrigem glykämischem Index mit einer Kontrollernährung vergleichen. Die Metaanalyse kommt zum Schluss, dass Diäten mit geringem glykämischem Index zu einem stärkeren Gewichtsverlust führen als die Kontrolldiäten (Differenz ff im Mittel 1,1 kg). Neben den kurzen Studiendauern ist die niedrige kumulative Probandenzahl von 160 in allen Studien zusammengenommen bemerkenswert und schränkt die Aussagekraft ft der Metaanalyse ein. Kommerzielle Gewichtsreduktionsprogramme sind teilweise mit beträchtlichen Kosten für den Teilnehmer verbunden. Eine Übersichtsarbeit hat sich damit beschäft ftigt, die Bestandteile, Kosten und Eff ffektivität solcher kommerziellen Programme und auch von organisierten Selbsthilfeprogrammen in den USA zu untersuchen.
59
Die Arbeit von Tsai und Wadden (2005) beinhaltet auch in Deutschland angebotene Programme wie »Weight Watchers« oder das »Optifast-Programm«. In die Übersicht wurden 12 Studien eingeschlossen. Ein Nachteil der Studien ist, dass sie oft ft das so genannte Best-case-Szenario repräsentieren, da nur Personen ausgewertet werden, die das Programm erfolgreich abschließen. So kommen beispielsweise Gewichtsreduktionen um 15‒25 des Ausgangskörpergewichts beim Optifast-Programm zustande. Gerade das Optifast-Programm ist mit hohen Kosten verbunden. Das Weight-Watchers-Programm erzielt dagegen einen Gewichtsverlust von 3,2 des initialen Körpergewichts nach 2 Jahren. Kontrollierte Studien zu den kommerziellen Programmen fehlen. ! Es ist erstaunlich, wie wenige hochwertige Studien zu den Reduktionsdiäten existieren. Die meisten Diäten sind völlig ungeprüft und können nicht wissenschaftlich bewertet werden. Kommerzielle Programme sind ebenfalls nicht ausreichend geprüft.
59.4
Individualisierte Ernähung
Die optimale Ernährung für einen Menschen ist eine individuelle Ernährung, die ihn im Gleichund Normalgewicht und bei optimaler Gesundheit hält oder dahin zurückführt. Eine solche Ernährung bezieht die individuellen genetischen Voraussetzungen und die individuellen Umweltressourcen mit ein. Ferner muss der Lebensstil geändert werden, eine isolierte Änderung der Ernährung bleibt meist erfolglos. Die Behandlung aller Übergewichtigen mit einer bestimmten Diätform muss fehlschlagen. Die individuellen genetischen Voraussetzungen werden bei einem solchen Vorgehen nicht beachtet. Das Forschungsgebiet der Ernährungsgenetik (»Nutrigenomics«) entwickelt sich schnell, und so könnten in Zukunft ft Diätformen zur Verfügung stehen, die maßgeschneidert für das Individuum zur optimalen Gewichtsabnahme führen. Bis dahin ist die individuelle Ernährungsberatung zur Gewichtsabnahme zu bevorzugen, die Möglichkeiten, Wünsche und Bedürfnisse des Übergewichtigen berücksichtigt. Eine langfristige Motivation durch Selbst-
368
41 42 43 44 45
Kapitel 59 · Modediäten und kommerzielle Programme
hilfegruppen kann die Effektivität ff der Ernährungsberatung unterstützen. Fazit Modediäten und kommerzielle Programme zum Zwecke der Gewichtsabnahme sind zahlreich. Im Gegensatz zu ihrer starken Präsenz in den Medien und in der häufi figen Anwendung durch den übergewichtigen Menschen steht, dass sie bis auf wenige Ausnahmen nicht auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen untersucht sind.
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Literatur Astrup A, Meinert Larsen T, Harper A (2004) Atkins and other low-carbohydrate diets: hoax or an effective ff tool for weight loss? Lancet 364: 897-899 Becker S, Niess A, Hipp A et al (2006) Obesity – an interdisciplinary task. Ther Umsch 63: 509-514 Joost HG (2006) Nutrigenomics. Scientific fi basis, status and perspectives of application. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 49: 1011-1019. http://www.adipositas-gesellschaft.de/daten/AdipositasLeitlinie-2007.pdf Nordmann AJ, Nordmann A, Briel M, Keller U, Yancy WS Jr, Brehm BJ, Bucher HC (2006) Eff ffects of low-carbohydrate vs low-fat diets on weight loss and cardiovascular risk factors: a meta-analysis of randomized controlled trials. Arch Intern Med 166: 285-293 Thamer C, Machann J, Stefan N et al (2007) High visceral fat mass and high liver fat are associated with resistance to lifestyle intervention. Obesity (Silver Spring) 15: 531-538 Thomas DE, Elliott EJ, Baur L (2007) Low glycaemic index or low glycaemic load diets for overweight and obesity. Cochrane Database Syst Rev: CD005105 Tsai AG, Wadden TA (2005) Systematic review: an evaluation of major commercial weight loss programs in the United States. Ann Intern Med 142: 56-66
60 Zusammenhang von Körpergewicht, Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität Susanne Wiesner 60.1
Körpergewicht und Mortalität
– 369
60.2
Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität – 370
Die Daten der Framingham-Studie und der Nurses’Health-Studie zeigten schon in den 1980er und Mitte der 1990er Jahre, dass die kardiovaskuläre Mortalität ab einen BMI ≥ 27 kg/m2 exponenziell ansteigt. Schon seit 1947 ist bekannt, dass die abdominelle Adipositas mit Erkrankungen des metabolischen Syndroms assoziiert ist. In seiner klassischen Übersichtsarbeit diskutierte Kissebath 1994 umfassend die Insulinresistenz als Ursache des metabolischen Syndroms (Kissebath u. Krakower 1994). Neue Untersuchungen bestätigen den Einfluss insbesondere der bauchbetonten Fettverteifl lung auf die kardiovaskuläre Mortalität. Aber auch die nichtkardiovaskuläre Mortalität, im Wesentlichen bedingt durch bösartige Neubildungen, ist bei Adipösen mit metabolischem Syndrom erhöht (. Abb. 60.1, Isomaa et al. 2001).
60.1
Körpergewicht und Mortalität
Der optimale BMI, der mit der höchsten Lebenserwartung assoziiert ist, liegt zwischen 23 und 25 kg/ m2 bei Kaukasiern und zwischen 23 und 30 kg/m2 bei Afro-Amerikanern. Die Lebenserwartung nichtrauchender adipöser Frauen ist um 7,1 bzw. nichtrauchender adipöser Männer um 5,9 Jahre reduziert im Vergleich zu normalgewichtigen Frauen und Männern. Entscheidend dabei ist, dass bei jeglichem Grad der Adipositas der Verlust an Lebensjahren im Vergleich
zur Normalgewichtigkeit umso größer ausfällt, je jünger die verglichene adipöse Population ist. Der maximale Verlust an Lebensjahren wird verursacht durch eine Adipositas mit einem BMI > 45 kg/ m2 bei einem Menschen im Alter von 20‒30 Jahren, 13 Jahre für Männer und 8 Jahre für Frauen, was 22 der Gesamlebenserwartung entspricht. Normalgewichtige Menschen, die im Alter über 60 Jahren langsam bis zu einem BMI von 30 kg/m2 zunehmen, weisen keine erhöhte Mortalität auf.
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. Abb. 60.1. Komorbidität der Adipositas. Kardiovaskuläre und Gesamtmortalität bei 35- bis 70-Jährigen mit (schwarze Balken) und ohne (graue Balken) metabolisches Syndrom; N = 3606 Finnen (w/m), Beobachtungszeitraum 6,9 Jahre, Häufi figkeit des metabolischen Syndroms bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2: 81%, bei Patienten mit gestörter Glukosetoleranz: 53%. (Daten aus Isomaa et al. 2001)
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Kapitel 60 · Zusammenhang von Körpergewicht, Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität
Bei bestimmten Erkrankungen, wie Herzinsuffiffi zienz, Niereninsuffi ffizienz mit Dialysepfl flichtigkeit, Zustand nach Apoplex, überleben Betroffene ff mit Übergewicht sogar länger. Über die Bedeutung von Körpergewichtsverlauf, Übergewicht bzw. Adipositas zu verschiedenen Lebenszeitspannen im Hinblick auf die Lebenserwartung existieren nur wenige epidemiologische Befunde. Insgesamt scheint der Taillenumfang ein viel besserer Mortalitätsprädiktor zu sein als der BMI. Jüngste Analysen lassen auch schlussfolgern, dass dies nicht nur für ältere Menschen gilt, sondern generell. So sind z. B. 30 der Menschen mit einem BMI von 25‒30 kg/m2 mit größerem Taillenumfang eher in die Risikogruppe der Adipösen einzustufen. Dies gilt ebenso für Menschen mit höherem BMI. Zirka 30 der Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m2 und niedrigem Taillenumfang weisen ein geringeres Risikoprofil fi auf als Menschen mit Übergewicht. Es ist anzumerken, dass bei Menschen, die adipös und vor ihrem 65. Lebensjahr gestorben sind, die Adipositas schon seit Kindheit vorhanden war. ! Je jünger das Alter, je höher der BMI, desto relevanter ist die Adipositas für die Lebenserwartung.
60.2
Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität
Die Frage, ob der Verlust an Fettmasse zu einer niedrigeren Mortalität führt und ein exzessiver Verlust an fettfreier Masse mit einem Mortalitätsanstieg assoziiert ist, wird kontrovers diskutiert. Es ist anzumerken, dass die Gewichtszunahme bei adipösen Menschen zu 70 aus Fett, aber auch zu 30 aus fettfreier Masse besteht, sodass 30 des Gewichtsverlusts auch fettfreie Masse umfassen darf. Ein Problem könnten wiederholte Gewichtsreduktionsmaßnahmen darstellen, wobei es zu einem überproportionalen Verlust an fettfreier Masse kommen kann. Die Erfassung des Ernährungszustands vor einer Adipositastherapie könnte bei der Festlegung der Th Therapieziele hilfreich sein. Der mittels bioelektrischer Impedanzanalyse (BIA) gemessene Phasenwinkel hat sich im klinischen
Setting als prognostisch nützlich erwiesen. BosyWestphal et al. (2006) publizierten entsprechende Grenzwerte des Phasenwinkels alters-, gewichtsund geschlechtsbezogen für deutsche Erwachsene und Kinder. ! Wichtig ist die Anzahl von Gewichtsreduktionen > 10 kg und erneuten Anstiegen des Körpergewichts. Empfehlung: Bei mehr als drei Gewichtsreduktionsmaßnahmen mit > 10 kg Körpergewichtsverlust und erneuter Gewichtszunahme ist zunächst eine Steigerung der Bewegung indiziert.
Nach epidemiologischen Langzeitstudien führen diätetische und Lifestyle-Interventionsstrategien im Durchschnitt zu einer Gewichtsreduktion von deutlich weniger als 5 kg in einem Zeitraum von mehr als 2 Jahren, während pharmakologische TheTh rapiestrategien (plazebobereinigt) eine Gewichtsreduktion von 2,89 kg (Orlistat), 4,45 kg (Sibutramin) und 4,7 kg (Rimonabant) nach ca. 2 Jahren und chirurgische Maßnahmen Gewichtsreduktionen von 25‒75 kg nach 2‒4 Jahren zur Folge haben. Dabei scheinen Gewichtsreduktionen von mehr als 5 des Ausgangsgewichts einen Benefit fi für kardiovaskuläre Risiken darzustellen, allerdings nur in Risikopopulationen mit bereits bestehender Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 bzw. mit anderen metabolischen und kardiovaskulären Begleiterkrankungen. Auch verändern sich einzelne Faktoren des metabolischen Syndroms durch verschiedene Th Therapiestrategien unterschiedlich. Allein für die Bewegungstherapie lässt sich ein kardiovaskulärer Benefi fit unabhängig von der Gewichtsreduktion nachweisen. Ebenso ist die Bewegungstherapie für die Aufrechterhaltung der Gewichtsreduktion entscheidend. Insbesondere bei Risikogruppen sollte eine Intervention erfolgen, mit dem Ziel der Reduktion des Ausgangsgewichts um 5‒10. Eine in der allgemeinärztlichen Praxis schnell durchführbare Risikostratifizierung fi ist in . Tab. 60.1 dargestellt. Die 15-Jahres-Katamnesedaten der Swedish Obese Subjects Studie (SOS-Studie) machen deutlich, dass Patienten über 55 Jahre mit einer Adipositas von mehr als 20 Jahren hinsichtlich der Mortalität profitieren. fi Dieser Eff ffekt war allerdings ausschließlich bei Patienten mit Herzinfarkten aufzeig-
60.2
371
Gewichtsreduktion, Gewichtsverlauf und Mortalität
60
. Tab. 60.1. Risikostratifi fizierung zur Entscheidung der Behandlungsbedürftigkeit einer Adipositas (Klauer u. Jordan 2005) Diagnosekriterium 1. Definition fi der Adipositas
Berechnung des Body-Mass-Index
2. Risikostratifizierung fi Abdominelle Adipositas
Bauchumfang bei Männern > 102 cm, bei Frauen > 88 cm
Dyslipidämie
Triglyzeride > 150 mg/dl, HDL < 50 mg/dl bei Frauen und < 40 mg/dl bei Männerna
Hypertonie
Blutdruck > 130/85 mmHg
Gestörter Glukosestoffwechsel ff
Nüchternglukose > 110 mg/dl
Körperliche Inaktivität Nikotinabusus Positive Familienanamnese
z. B. Diabetes bei Eltern, Myokardinfarkte in jungen Jahren
Kursiv: Diagnosekriterien des metabolischen Syndroms a Typischerweise bei abdomineller Adipositas Dyslipidämie mit Reduktion des HDL-Cholesterins und Zunahme des Triglyzeridspiegels. Eine unabhängig davon vorhandene Erhöhung des LDL-Cholesterins muss bei der Risikoeinschätzung berücksichtigt werden.
bar. Die mittlere Gewichtsreduktion aller chirurgischen Verfahren (vornehmlich Magenband-OP) liegt in der Studie bei ca. 20. Fazit Eine multidisziplinär geleitete Behandlung der Adipositas (Ernährungs-, Bewegungs-, Verhaltens-, medikamentöse Therapie) sollte sich auf Risikopatienten beschränken (metabolisches Syndrom, ggf. beginnende Endorganschäden). Die Intervention gilt insbesondere sehr adipösen und jüngeren Patienten. Ein Behandlungsschwerpunkt ist die Motivation zu mehr körperlicher Bewegung, insbesondere bei folgenden Faktoren: 5 geringere Ausprägung der Adipositas, 5 höheres Alter, 5 späte Entwicklung der Adipositas, 5 zahlreiche Gewichtsreduktionsmaßnahmen in der Anamnese.
Literatur Al Snih S, Goodwin JS et al (2007) The eff ffect of obesity on disability vs mortality in older Americans. Arch Intern Med 167: 774-780
Astrup A (2003) Weight loss and increased mortality: epidemiologists blinded by observations? Obes Rev 4: 1-2 Bosy-Westphal A, Müller MJ et al (2006) Phase angle from bioelectrical impedance analysis: population reference values by age, sex, and body mass index. J Parent Ent Nutr 30(4): 309-316 Calle EE, Rodriguez C, Walker-Thurmond K, Thun MJ (2003) Overweight, obesity, and mortality from cancer in a prospectively studied cohort of U.S. adults. N Engl J Med 348: 1625-1638 Fontaine KR, Redden DT, Wang C, Westfall AO, Allison DB (2003) Years of life lost due to obesity. JAMA 289: 187-193 Isomaa B, Almgren P, Tuomi T et al (2001) Cardiovascular morbidity and mortality associated with the metabolic syndrome. Diab Care 24: 683-689 Kissebath AH, Krakower GR (1994) Regional adiposity and morbidity. Am Phys Soc 74(4): 761-811 Klauer S, Jordan J (2005) Erfolg versprechende Therapie durch Blockade des Endocannaboid-Rezeptors. Cardiovasc 1: 24-27 Klein F (2001) Outcome success in obesity. Obes Res 9: 354-358 Manson JE, Willett WC, Stampfer MJ (1995) Body weight and mortality among women. N Engl J Med 333: 677-685 Peeters A, Barendregt JJ, Willekens F, Mackenbach JP, Al MA, Bonneux L (2003) Obesity in adulthood and its consequences for life expectancy: a life-table analysis. Ann Intern Med 138: 24-32 Sjostrom L, Narbro K, Sjostrom CD et al (2007) Effects ff of bariatric surgery on mortality in Swedish obese subjects. N Engl J Med 357: 741-752
373
Sachverzeichnis A Acarbose 362 Adipositas – alimentäre 246 – als Verlaufsprädiktor für BingeEating-Störung 51 – Ätiologie 246, 265 – Auswirkungen auf den Bewegungsapparat 279 – Defi finition 5 – Diagnostik 251, 272 – diagnostische Kriterien 8 – Epidemiologie 255 – Ernährungstherapie bei 365 – Genese 247 – Geschichte 4 – Inzidenz 255 – klinische Symptomatik 272 – klinische Untersuchung 271 – medikamentös induzierte 280 – Mortalitätsrisiko bei 275 – psychosoziale Aspekte 288, 292 – Risikostratifizierung fi 370 – sekundäre 250 – soziale Diskriminierung bei 260, 288, 292 – syndromale 250, 266 – und Edocannabinoide 345 – und kardiovaskuläres Risiko 274 – und Karzinomrisiko 278 – und Körperbild 224 – und moderner Lebensstil 334 – und Mortalität 336, 369 – und Rauchen 307 – und Schwangerschaft 278 – und sozialer Status 257, 259, 292 – verhaltensbezogene Faktoren 293 Adipositas bei Kindern und Jugendlichen – Behandlung 259, 317 – Eff ffekte von Sport/körperlicher Aktivität 336 – Indikationsstellung 317 – Komorbiditäten 260, 290, 317 – Nebenwirkungen einer Behandlung 321 – Prävalenz 257, 259 – psychosoziale Aspekte 259 – Schulungsprogramme 317, 319 – soziale Diskriminierung bei 260 – Therapieziele 319 – und Selbstwertproblematik 261 – und Suizidgefährdung 261
Adipositas, Komorbiditäten 273, 369 – Abhängigkeitserkrankungen 294 – Angststörungen 261 – bei Kindern und Jugendlichen 260, 290, 317 – Binge-Eating-Störung 261, 293 – Boderline-Persönlichkeitsstörung 294 – Depression 261, 293 – Diabetes mellitus 164, 272, 273, 361 – Dyslipidämie 273 – Fettleber 277 – Gallensteine 277 – Gerinnungsstörungen 276 – Hormonstörungen bei Männern 278 – Hypertonie 274 – Hyperurikämie 276 – metabolisches Syndrom 296 – obstruktives Schlafapnoesyndrom 277 – polyzystisches Ovarialsyndrom 277 – psychische Komorbidität 115, 292, 358 – Refluxkrankheit fl 277 Adipositasbehandlung – bei Kindern und Jugendlichen 259, 317 – medikamentöse 326, 341, 362 – multimodulare 322 – Selbsthilfe in der 326 – Sport und körperliche Aktivität 324, 328, 334 – Standards 322 – und Diäten zur Gewichtsreduktion 323 – verhaltenstherapeutische 325, 328 Adipositaschirurgie 326, 348, 371 – bei medikamentös induzierter Adipositas 284 – Essverhalten nach 358 – Indikation 348, 356, 363 – Operationsverfahren 349, 351, 357 – Operationskomplikationen 353 – postoperative Compliance 358 – postoperative Letalität bei 353 – postoperativer Gewichtsverlauf 352, 358 – präoperative psychische Evaluation 359 – psychosomatische Aspekte 356 – und Nahrungsergänzungsmittel 351 – und psychische Gesundheit 358 Adipositasgenetik 265 – Assoziationsstudien 269 – genetische Disposition 249, 265
– Genotypen 269 – Linkage-Analysen 266 – Mutationen mit adipösem Phänotyp 266 – Tiermodelle 266 – Zwillings- und Adoptionsstudien 266 Adipositasprävalenz 247, 312 – Adipositas Grad III 348 – global 255 – in Deutschland 256 Adipositasprävention 312 – durch Interventionen in Familien 313 – durch schulische Gesundheitsförderung 313 – Maßnahmen 315 – Public-health-Ansatz 314 – und Essstörungsprävention 174 Adipositasstigma 80, 263, 288, 292 – Attributionstheorie 288 – Selbststigma 290 Agouti-related-Peptid 138 Agouti-yellow-Maus 266 Ahlström-Oslon-Syndrom 250 Air-displacement-Plethysmographie 252 Akkulturation 68, 70 Amenorrhö 156 – bei Anorexia nervosa 8, 14, 20, 158 – bei Leistungssportlerinnen 95, 98 – Defi finition 158 Amitriptylin und Gewichtszunahme 282 Amylin und Gewichtsregulation 126 Angststörungen – und Adipositas 115, 261 – und Anorexia nervosa 21, 45, 107, 113, 131, 180 – und Binge-Eating-Störung 114 – und Bulimia nervosa 52, 107, 113, 180 – und Essstörungsrisiko 69 – und selbstverletzendes Verhalten 120 Anorexia athletica 76 Anorexia nervosa – atypische 14, 24 – Aufmerksamkeitsleistungen bei 131 – Beziehungsmuster bei 191 – Binge-/Purging-Typus 15, 19 – Chronifizierungsraten fi 237 – CT- und MRT-Befunde 144 – Defi finition 5, 19 – Diagnose mit SIAB 32
374
– – – – – – – – – –
Stichwortverzeichnis
diagnostische Kriterien 8, 14 exekutive Funktionen bei 133 Familiendynamik bei 68, 183 fMRT-Befunde 145 genetische Aspekte 62 Geschichte 5, 44, 75 Inzidenz 41 kognitive Defizite fi bei 130 Körperbildstörung bei 82 laborchemische Veränderungen bei 152 – Langzeitverlauf 44 – Lern- und Gedächtnisfunktionen bei 133 – Migration als Risikofaktor für 12, 80 – Mortalität 23, 46, 152 – MRS-Befunde 144 – objekttheoretische Hypothesen 191 – Prävalenz 11, 39, 76 – Prognose 23, 46 – psychodynamische Merkmale 59 – psychosoziale Risikofaktoren 67, 69 – Rauchmotive bei 306 – Remissionsraten 46 – restriktiver Typus 15, 19 – Rezidivraten 46 – Selbstwertproblematik bei 59 – SPECT- und PET-Befunde 145 – und Fertilität 159 – und kardiovaskuläres System 34, 154 – und Längenwachstum 21 – und Leistungssport 95 – und operationalisierte psychodynamische Diagnostik 60 – und Schwangerschaft 160 – und Selbsthilfe 227 – und sozioökonomischer Status 76 – veränderte Neuropeptide bei 134, 138 – veränderte Neurotransmitter bei 141, 146 – Verlaufsprädiktoren 47, 135 – Verlaufsstudien 44 Anorexia nervosa, Behandlung – Behandlungsprinzipien bei chronischer Anorexia nervosa 238 – Familientherapie 179 – Indikationen für stationäre Therapie 214 – interpersonelle Psychotherapie 200 – kognitive Verhaltenstherapie 193 – kognitiv-verhaltenstherapeutische Körperbildtherapie 219 – psychodynamische Psychotherapie 191 – Settings 195, 214 – Tabakentwöhnung 309 – und Antidepressiva 180, 205
– und Antipsychotika 180, 205 – und SSRI 180, 205 – Vereinbarungen 215 – Ziele 194, 213 – Zinksubstitution 206 – Zwangsbehandlung 232, 234, 241 Anorexia nervosa bei Männern 87 – Familiendynamik bei 184 Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter 19, 176 – Diff fferenzialdiagnose 22 – Einzelpsychotherapie bei 177 – Epidemiologie 19 – Ernährungstherapie bei 176 – Familientherapie bei 179 – Komorbiditäten 21, 180 – Psychoedukation für Eltern 178 – Rehospitalisierungsrate 23 – Symptomatik 20 Anorexia nervosa, Kormorbiditäten – Amenorrhö 20, 158 – Angsterkrankungen 113, 131 – Depression 113 – Diabetes mellitus Typ 1 164 – Hormonstörungen 35, 156, 159 – körperliche Beschwerden 33, 152 – Osteoporose 21, 35, 154 – psychische Komorbidität 45, 68 – selbstverletzendes Verhalten 118 – soziale Phobie 113 – Tabakabhängigkeit 305 – Zwangsstörungen 113, 131 Anthropometrie 33, 251, 255 Antidepressiva – bei Anorexia nervosa 180, 205 – bei Bulimia nervosa 206 – bei essgestörten Leistungssportlerinnen 101 – und Gewichtszunahme 282 – und metabolisches Syndrom 299 Antidiabetika und Gewichtszunahme 251, 273, 283, 363 Antiepileptika – bei Bulimia nervosa 207 – und Gewichtszunahme 283 Antihistaminika, Auswirkungen auf das Körpergewicht 284 Antipsychotika – bei Anorexia nervosa 180, 205 – und Gewichtszunahme 281 – und metabolisches Syndrom 298 Appetitzügler, Abusus von 6, 17, 206 Assoziationsstudien 62 – genomweite 63, 65, 269 – zu Adipositas und BMI 269 – zu Anorexia nervosa 63 – zu Bulimia nervosa und BingeEating-Störung 64 Attributionstheorie 288
atypische Antipsychotika siehe Antipsychotika atypische Essstörungen siehe Essstörungen, nicht näher bezeichnete Aufmerksamkeitsbias, Untersuchung 131 Aufmerksamkeitsleistungen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa 131 Ausdauertraining – für Adipöse 338 – für Ältere und Gesunde 337
B Bardet-Biedl-Syndrom 250, 266 Bauchdurchmesser und Adipositas 251 Betreuungsrecht 232 Bewegungsprogramme, Empfehlungen 337 Bewegungstherapie für adipöse Kinder und Jugendliche 320 biliopancreatic diversion 349, 357 – Gewichstverlust bei 352 – mit duodenal switch 350, 351 – nach Scopinario 351 Binge-Eating-Störung 6, 24, 59 – bei Männern 91 – bildgebende Untersuchungen 149 – Diagnose mit SIAB 32 – diagnostische Kriterien 8 – Familiendynamik bei 72, 185 – Forschungskriterien 25 – genetische Aspekte 64 – langfristiger Verlauf 237 – Merkmale 26 – Mortalität 50 – Prävalenz 39, 261 – psychosoziale Risikofaktoren 72 – Remissionsraten 49 – Rezidivraten 50 – Selbsthilfe bei 228, 231 – und Körperbild 82, 224 – und operationalisierte psychodynamische Diagnostik 60 – und Sexualität 51 – und sexueller Kindesmissbrauch 72 – und soziale Integration 51 – Verlauf 48 Binge-Eating-Störung, Behandlung – Adipositaschirurgie 348, 358 – Behandlungsindikationen 217 – E-Mail-basierte Behandlung 229 – interpersonelle Psychotherapie 203 – psychodynamische Psychotherapie 192 – Psychoedukation per Video 229 – Psychotherapie plus Medikation 209 – Settings 217
375
Stichwortverzeichnis
– Therapieziele 209 – und SSRI 209 Binge-Eating-Störung, Kormorbiditäten – Adipositas 293 – Angststörungen 114 – Depression 114 – Diabetes mellitus Typ 2 165 – psychische Komorbidität 50 – selbstverletzendes Verhalten 118 – Tabakabhängigkeit 308 bioelektrische Impedanzanalyse 247, 251, 370 β-Blocker und Körpergewicht 284 Blutdruck – Einfluss fl von Rimonabant 346 – Einfluss fl von Sibutramin 345 – Reduktion unter Orlistat 343 body-checking behaviourr 14, 83, 85 Body-Mass-Index 5, 251, 255, 271 – genetische Aspekte 265 – Perzentilkurven für Kinder und Jugendliche 259, 317 – und kardiovaskuläres Risiko 276 – und körperliche Aktivität 335 – und Lebenserwartung 369 – und metabolisches Syndrom 297 body avoidance 85 Borderline-Persönlichkeitsstörung – und Adipositas 294 – und Bulimie 192 – und Essstörungen 108, 119 Brain-derived neurotrophic factorr und Anorexia nervosa 64 Broca-Index 5 Bulimia nervosa – atypische 17, 24 – Aufmerksamkeitsleistungen bei 131 – Binge-/Purging-Typus 17 – Chronifi fizierungsraten 237 – CT- und MRT-Befunde 148 – Defi finition 6 – Diagnose mit SIAB 32 – Diagnosenwechsel zu anderen Essstörungen 50 – diagnostische Kriterien 8, 16 – exekutive Funktionen bei 133 – Familiendynamik bei 70, 184 – fMRT-Befunde 148 – genetische Aspekte 64 – Geschichte 6, 77 – Inzidenz 41 – Körperbildstörung bei 82 – Lern- und Gedächtnisfunktionen bei 133 – Mortalität 50 – Prävalenz 39, 77 – prognostische Faktoren 51 – psychodynamische Merkmale 59 – psychosoziale Risikofaktoren 69, 71
– – – – – – – – – – – –
Rauchmotive bei 306 Remissionsraten 49 restriktiver Typus 17 Rezidivraten 50 Selbsthilfe 227 Selbsthilfe-Websites 230 Selbstwertproblematik bei 59 Teufelskreis der Bulimie 57 und Fertilität 159 und Leistungssport 95 und Massenmedien 78 und operationalisierte psychodynamische Diagnostik 60 – und Schwangerschaft 162 – und Sexualität 51 – und sexueller Kindesmissbrauch 70 – und soziale Integration 51 – und sozioökonomischer Status 79 – und westliches Schlankheitsideal 12, 77 – und zerebraler Blutfluss fl 148 – veränderte Neuropeptide bei 134, 138 – veränderte Neurotransmitter bei 141, 148 – Verlauf 48 – Verlaufsprädiktoren 135 Bulimia nervosa bei Männern 87 – Familiendynamik bei 184 Bulimia nervosa, Behandlung – Behandlungsprinzipien bei chronischer Bulimia nervosa 238 – E-Mail-basierte Behandlung 229 – Indikationen für tagesklinische Therapie 216 – interpersonelle Psychotherapie 200 – kognitive Verhaltenstherapie 193 – kognitiv-verhaltenstherapeutische Körperbildtherapie 219 – Multimediaprogramme auf CD 230 – psychodynamische Psychotherapie 191 – Psychotherapie plus Medikation 208 – Settings 216 – Tabakentwöhnung 309 – und Adipositaschirurgie 348 – und Antidepressiva 206 – und Antiepileptika 207 – und SSRI 181, 206 – Vereinbarungen 216 – Ziele 194, 213 Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter 176 – Einzelpsychotherapie bei 177 – Ernährungstherapie bei 176 – Familientherapie bei 180 – Komorbiditäten 180 – Psychoedukation für Eltern 178 – Selbsthilfe für Adoleszente 228
Bulimia nervosa, Komorbiditäten – Angststörungen 113 – Borderline-Persönlichkeitsstörung 192 – Depression 113 – Diabetes mellitus Typ 1 164 – Hormonstörungen 156, 159 – körperliche Beschwerden 33, 152 – postpartale Depression 162 – psychische Komorbidität 50, 70 – selbstverletzendes Verhalten 118 – soziale Phobie 114 – Tabakabhängigkeit 305 – Zwangsstörungen 114 Bullying 72, 260 Bupropion – in der Tabakentwöhnung 308 – Kontraindikation bei Bulimia nervosa 207
C Catecholamin-O-Methyltransferase und Anorexia nervosa 64 cephalic phase hypothesis 127 Cholelithiasis und Adipositas 277 Cholesterinwert – und Orlistat 343 – und Rimonabant 346 – und Sibutramin 345 Cholezystokinin und Sättigungsregulation 125 Cholin und Anorexia nervosa 144 Chronifizierung fi von Essstörungen 237 Clozapin und Gewichtszunahme 282 Cohen-Syndrom 250 Computertomographie 143 – in der Adipositasdiagnostik 252 Cushing-Syndrom 283 Cyclosporin und Orlistat 342
D Depression – bei adipösen Kindern und Jugendlichen 261 – bei Essstörungen 107, 110, 112, 131 – Prävalenz 298 – und Adipositas 290, 293 – und Anorexie 21 – und Bulimie 52 – und selbstverletzendes Verhalten 120 Depression mit metabolischem Syndrom 298 – Behandlungsprinzipien 301 – Prävalenz 298 – und Insulinresistenz 299
376
Stichwortverzeichnis
Diabetes mellitus Typ 2 – Ätiologie 361 – bei Essstörungen 164 – Therapie 362 – und Adipositas 164, 272, 273, 361 – und Anorexia nervosa 164 – und Binge-Eating-Störung 165 – und Bulimia nervosa 164 – und Gewichtszunahme 283 – und metabolisches Syndrom 296 – und Orlistat 343 – und Rimonabant 346 dialektische Verhaltenstherapie 111, 196 – bei selbstverletzendem Verhalten 120 Diäten zur Gewichtsreduktion 7, 370 – bei Jugendlichen 10, 170 – bei Leistungssport 97 – bei Männern 88 – Bewertung 366 – Gewichtszunahme nach 329 – in der Adipositasbehandlung 323 – Motive bei Mädchen und Jungen 88 – Qualitätsmerkmale 365 – Übersicht 366 – und Essstörungsrisiko 68 – und gestörtes Körperbild 9 – und Sport 335 Diätversuche, Häufigkeit fi bei Jugendlichen 9 Diuretikaabusus 6, 17, 31, 153 – und Schwangerschaft 162 DNA-Methylierung 65 Dopaminrezeptor und Anorexia nervosa 64 Dopaminsystem und Essstörungen 142, 147 Dumping-Syndrom 351 DXA-Messung 99 dysfunktionale Grundannahmen – bei Adipositas 331 – bei Essstörungen 83, 220 Dyslipidämie – und Adipositas 273 – und metabolisches Syndrom 296
E E-Mail-basierte Behandlung – der Adipositas 326 – von Essstörungen 229 Eating Disorder Examination Questionnaire 33 Elektrolytveränderungen bei Essstörungen 34, 153, 156 Endocannabinoide und Regulation der Nahrungsaufnahme 345
Energieaufnahme, Regulation 247 Energiebilanz – und Adipositas 334 – und Leistungssport 95 Energiedichte von Lebensmitteln 246 Energieverbrauch, Regulation 247 Epidemiologie, Grundbegriffe ff 38 epidemiologische Triade 314 epigenetische Mechanismen 65 Erbrechen – Diff fferenzialdiagnose bei Patientinnen mit 35 – selbstinduziertes 6, 9, 16, 31, 153 – Zahnschäden durch 34, 156 Ernährung, individualisierte 367 Ernährungsanamnese 252 Ernährungsgenetik 367 Ernährungstherapie – bei Adipositas 322, 328, 362, 365 – bei Essstörungen im Kindes- und Jugendalter 176 – für adipöse Kinder und Jugendliche 320 Ernährunsprotokoll 252 Essstörungen – als kulturgebundene Syndrome 11, 87 – aufrechterhaltende und auslösende Faktoren 56 – bildgebende Studien 143 – Chronifizierung fi 237 – Diagnosenwechsel innerhalb der 24, 50, 57, 174 – Diagnostik 29 – Diff fferenzialdiagnose 35, 108 – durch Körperbildstörungen und Diätversuche 9 – dysfunktionale Grundannahmen bei 55, 83, 220 – Epidemiologie 39 – familiäre Einflüsse fl auf die Entstehung von 78, 182 – Familiendynamik bei 183 – Geschichte 4 – Geschlechtsspezifität fi 80 – Geschlechtsverteilung bei 9, 41, 67, 87 – in Entwicklungsländern 12, 41, 77, 78 – kognitive Defizite fi bei 130 – kompensatorische Maßnahmen 6, 17, 30 – multifaktorielles Modell 54 – operationalisierte Diagnostik 31 – Prävention 170 – Primärsymptome im Kindes- und Jugendalter 20 – Risikofaktoren 54, 67, 88 – Risikogruppen 29, 42, 69, 79, 89
– – – – –
Risikosportarten 43, 69, 76, 89, 96 Screening nach 29, 39 Selbsthilfe bei 226 soziokulturelle Faktoren 75, 171 strukturelle Gehirnveränderungen bei 130, 144 – subsyndromale 24 – und Körperbild 82, 219 – und Leistungssport 93 – und Massenmedien 78, 171 – und Mutterschaft 162 – und psychosexuelles Funktionsniveau 108 – und Schwangerschaft 160 – veränderte Gehirnaktivität bei 130, 145 – veränderte Neurohormone und Neurotransmitter 137 – Verhaltensmerkmale bei 30 – Verlauf und Prognose 44, 48 – Vulnerabilitätsfaktoren 10, 54 – Zweifaktorenmodell der Entstehung 56 Essstörungen, Behandlung – Adipositaschirurgie 358 – Familientherapie 182 – interpersonelle Psychotherapie 200 – kognitive Verhaltenstherapie 193 – medizinische Komplikationen bei 33, 152 – Pharmakotherapie 205 – Prinzipien bei chronischen Essstörungen 238 – psychodynamische Konzepte 59 – psychodynamische Psychotherapie 189 – verhaltenstherapeutische Konzepte 54 – Ziele 193 Essstörungen bei Männern 87 – Behandlung 91 – Entstehung 88 – Familiendynamik bei 184 – Inzidenz 41 – Krankheitsverlauf 90 – Prävalenz 39 – psychiatrische Komorbiditäten 90 – Risikofaktoren 89 – und Sexualität 89 – und sexueller Kindesmissbrauch 90 – und Sport 89 Essstörungen im Kindes- und Jugendalter – Einzelpsychotherapie bei 177 – Familientherapie bei 179 – Komorbiditäten 180 – multimodale Therapie 176 – Psychoedukation für Eltern 178 – Zielgewicht 177
377
Stichwortverzeichnis
Essstörungen, Kormorbiditäten – Angststörungen 107, 111, 113 – Depression 107, 110, 112, 131 – Diabetes mellitus 164 – Persönlichkeitsstörungen 108, 111, 119 – psychische Komorbiditäten 106, 112, 131 – selbstverletzendes Verhalten 117 – Substanzabusus 107, 111 Essstörungen, nicht näher bezeichnete 8, 24 – diagnostische Kriterien 24 – E-Mail-basierte Behandlung 229 – Multimediaprogramme auf CD 230 – Prävalenz 39 – Selbsthilfe-Websites 230 – selbstverletzendes Verhalten bei 118 – und Fertilität 160 – und Leistungssport 95 Essverhalten – familiäre Einflüsse fl auf 182 – Maßnahmen zur Normalisierung des 194 – Normalisierung 213 Ethnizität – und Essstörungsrisiko 42, 67, 76, 77 – und Schlankheitswunsch 78 exekutive Funktionen bei Anorexia und Bulimia nervosa 133 Exsikkose 20, 156
F Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit 305 Familien- und Zwillingsuntersuchungen zur Anorexia nervosa 63 Familiendynamik bei Essstörungen 183 Familientherapie bei Essstörungen 182, 185 – bei Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter 180 – bei Kindern- und Jugendlichen 179 – bei selbstverletzendem Verhalten 120 – Formen und Indikationen 186 – Phasen 187 – systemorientierter Ansatz 182 Fasten 6, 17, 75, 366 fat-Maus 266 fat mass and obesity associated gene 270 Fertilität – bei Adipositas 277 – bei Essstörungen 159 Fettleber bei Adipositas 277 Fluoxetin – Einsatz bei Bulimia nervosa 207 – und Binge-Eating-Störung 209
Food-frequency-Tabellen 253 funktionelle Magnetresonanztomographie 143
G Ganzkörperkaliummessung 252 Ganzkörperwassermessung 252 Gastrointestinaltrakt, Veränderungen bei Essstörungen 34, 155 Gastroplastik 349, 357 – Gewichtsverlust bei 352 Gen-Umwelt-Interaktionen und Risikogene 65 Gerinnungsstatus bei Adipositas 276 gesundheitsfördernde Maßnahmen 171 Gewichtsphobie 5, 8, 11, 14, 16, 20 – nach Adipositaschirurgie 359 Gewichtsreduktion – Bewertung von Diätprogrammen 367 – durch körperliche Aktivität 324, 335 – durch Lebensstilinterventionen 361 – durch Verhaltenstherapie 328 – im Leistungssport 101 – kommerzielle Programme 367 – mit Orlistat 343 – mit Rimonabant 346 – mit Sibutramin 344 – mit Taranabant 346 – und Diabetesinzidenz 362 – und Mortalität 363, 370 Gewichtsregulation – humorale 126 – Mechanismen 137 – Rolle von Hunger und Sättigung 128 Gewichtsrestitution, Maßnahmen 195 Gewichtszunahme – bei Tabakabstinenz 307 – im Leistungssport 102 – Mechanismen medikamentös induzierter 280 – unter Antidepressiva 282 – unter Antidiabetika 273, 283, 363 – unter Antiepileptika 283 – unter Antihistaminika 284 – unter Antipsychotika 281 – unter β-Blockern 284 – unter Insulin 165 – unter Lithiumtherapie 283 – unter Pharmaka 250 – unter Steroiden 283 – Vorgehen bei medikamentös induzierter 284 Ghrelin 64, 134, 137 – und Anorexia nervosa 140 – und Bulimia nervosa 140
Glucagon-like-peptide-Analoga 341 Glukosemetabolismus, Veränderungen bei AN 145 Glukosetoleranz und Adipositas 361 glykämische Last 367 glykämischer Index 367 Grundumsatz – und Adipositas 247 – und Rauchen 307
H Hänseleien, gewichtsbezogene 260, 290 Hautfaltendicke und Adipositas 251 Hautveränderungen bei Essstörungen 34, 155 Heißhungeranfälle siehe Binge-EatingStörung Hormone und Gewichtszunahme 250 Hormonstörungen – bei Adipositas 278 – bei Essstörungen 35, 156, 158 Hunger und Sättigung 124 – Bedeutung des Hypothalamus 126 – Einfl flussfaktoren auf 125 – emotionale Aspekte 128 – kognitive Aspekte 127 – Regulation 125, 246 – soziale Aspekte 128 – und Gewichtsregulation 128 Hydrodensitometrie 252 Hyperemesis gravidarum 161 Hyperkortisolismus 299 Hypertonie – Behandlung 274 – und Adipositas 274 – und metabolisches Syndrom 296 Hyperurikämie und Adipositas 276 Hypocretin 64 Hypothalamus – Hunger- und Sättigungsregulation 126 – und Energieverbrauch 246 – und Gewichtsregulation 137 Hypothalamus-Hypophysen-GonadenAchse – Einfl fluss von Leptin 159 – und Anorexie 158 Hypothyreose und Adipositas 250
I Idealgewichtstabellen 5 Impulsivität 52, 55 – und Bulimie 47, 71 – gestörtes Essverhalten 294
378
Stichwortverzeichnis
– und selbstverletzendes Verhalten 119 In-vivo-Neutronenaktivierungsanalyse 252 Infrarotspektrometrie 251 Insulin und Gewicht 126, 165, 250 Insulin-Purging 31, 166 insulinaktiviertes Gen 2 270 Insulinresistenz 164, 271, 361, 369 – und Depression mit metabolischem Syndrom 299 Insulintherapie 273, 283, 363 Internationale Diagnosechecklisten 32 interpersonelle Psychotherapie von Essstörungen 200 – Behandlungssettings 201 – bei Bulimia nervosa 208 – bei selbstverletzendem Verhalten 120 – Phasen 201 – Wirksamkeit 202 Inzidenz, Definition fi 38
K Kachexie 14, 20 Kalorienzufuhr, einschränkende Maßnahmen 30 Kandidatengene 62 – für Adipositas 249, 266 – für Anorexia nervosa 63 kardiovaskuläres Risiko – und Adipositas 274 – und Depression 298 – und Diäten zur Gewichtsreduktion 323 – und metabolisches Syndrom 274, 297 – und Mortalität 275 kardiovaskuläres System, starvationsbedingte Veränderungen 34, 154 Karzinomrisiko und Adipositas 278 Kauen-Ausspucken-Syndrom 24 Klinefelter-Syndrom 250 kognitive Flexibilität, Untersuchung 134 kognitives Dissonanzprogramm 174 kognitive Verhaltenstherapie 193, 206, 214 – Behandlungselemente 195 – Behandlungssettings 194, 197 – bei Anorexia nervosa 195 – bei Binge-Eating-Störung 209 – bei Bulimia nervosa 196, 208 – bei selbstverletzendem Verhalten 120 – in der Adipositasbehandlung 325 – Körperbildtherapie 219, 223
– Therapierichtlinien 193 – und Selbsthilfe bei Essstörungen 226 – Vergleich zur IPT 202 – von Essstörungen im Kindes- und Jungendalter 177 – Wirksamkeit 197 Körperbildexposition 84, 197 – Blickbewegungsmuster bei 85 – therapeutischer Einsatz 86 – Vorgehen 221 – Wirksamkeit 224 – Ziele 221 Körperbildstörungen 14, 16 – als Kernsymptome von Essstörungen 84 – als kulturgebundene Syndrome 11 – Defi finitionen 82 – fMR-Studien zu 146 – Häufigkeit fi bei Jugendlichen 9 – in der Adoleszenz 10 – Komponenten 83, 219 – Körperunzufriedenheit bei 84, 220 – Mechanismen zur Aufrechterhaltung von 85 – und Diäten 9 – Vermeidungsverhalten bei 83, 222 – Wahrnehmungsverzerrungen bei 84, 221 Körperbildtherapie 86, 197, 219 Körperfettanteil 335 – und Diabetesrisiko 336 – und Leistungssport 94 Körpergewicht, Regulation 246 Körperideal, westliches 11, 55, 59, 87, 170, 220 – Geschichte 78 – und Anorexia nervosa 76 – und Bulimia nervosa 77 Körperideale 4 Korrelat, Definition fi 67 Kortisol und Gewichtszunahme 250
L Längenwachstum 33 – bei Anorexia nervosa 21 Laxanzienabusus 6, 9, 17, 31, 153 – und Schwangerschaft 162 LDL-Cholesterin, medikamentöse Absenkung 273 Lebensqualität – Defi finition 262 – nach Adipositaschirurgie 358 – von adipösen und übergewichtigen Kindern und Jugendlichen 262, 290 Lebensstilinterventionen zur Diabetesprävention 361
Leistungssport – Bedeutung der Energiebilanz 95 – Bedeutung von Körpergewicht und -zusammensetzung 94 – leistungsoptimiertes Gewichtsmanagement im 101 – Strategien zur Gewichtskontrolle im 94 – und Knochendichte 98, 99 Leistungssport und Essstörungen 93 – Mortalitätsrisiko 99 – prädisponierende Faktoren 96 – Prävention und Therapie 100 – psychische und soziale Konsequenzen 98 – Sceening und Diagnose 99 Leptin 64, 128, 134, 159, 250, 266, 281 – und Anorexia nervosa 140 – und Bulimia nervosa 140 – und Gewichtsregulation 126 – Wirkung 137 Lern- und Gedächtnisfunktionen bei Anorexie und Bulimie 133 Linkage-Analysen 62 – zu Adipositas und BMI 266 – zur Anorexia nervosa 63 – zur Bulimia nervosa 64 Lipasehemmung durch Orlistat 342 Lipometer 251 Lithium – und Bulimia nervosa 207 – und Gewichtszunahme 283 Low-T3-Syndrom 35, 156
M Magenband 349, 357 – Gewichstverlust bei 352 Magenbypass 350, 357 – Gewichstverlust bei 352 Magersucht siehe Anorexia nervosa Magnetresonanzspektroskopie 143 Magnetresonanztomographie 143 – in der Adipositasdiagnostik 252 Melanokortin-4-Rezeptor 65, 249, 266, 269 melanozytenstimulierendes Hormon 138, 266 metabolisches Äquivalent 253 metabolisches Syndrom 296, 361 – Behandlung von Risikofaktoren und Komorbidität 300 – Definitionen fi 275, 296 – diagnostische Kriterien 296, 370 – Epidemiologie 297 – und Adipositas 274, 369 – und psychische Störungen 298
379
Stichwortverzeichnis
metabolisches Syndrom mit Depression 298 – Prävalenz 298 – Risikofaktoren 299 Metformin 273, 278, 341, 362 Migration als Risikofaktor für Essstörungen 12, 80 Mirtazapin und Gewichtszunahme 283 Monoaminoxidasehemmer bei Bulimia nervosa 207 Morbus Cushing und Adipositas 250 Mortalität – Defi finition 38 – und Körpergewicht 369 Mortalitätsraten – Anorexia nervosa 23, 46, 152 – Bulimia nervosa 50 – und Gewichtsreduktion 363 Mortalitätsrisiko – bei Adipositas 275, 336 – und Essstörungen bei Leistungssportlern 99 motivierende Gesprächsführung in der Tabakentwöhnung 309 Muskelaufbautraining – für Adipöse 339 – für Gesunde und Ältere 337 Myokardinfarkt, Risikofaktoren 275, 298
N N-Acetylaspartat und Anorexia nervosa 144 Nahrungsaufnahme – Phasen 124 – Regulation durch Neuropeptide 137 – Regulation durch Neurotransmitter 141 – sensorische Aspekte 126 – und Sättigung 124 Neurohormone, Veränderungen bei Essstörungen 109, 134, 137 Neuropeptide – und Regulation der Nahrungsaufnahme 137 – Veränderungen bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa 109, 134, 138 Neuropeptid Y 128, 138 Neurotensin 125 Neurotransmitter – und Regulation der Nahrungsaufnahme 141 – Veränderungen bei Essstörungen 109, 137, 141, 146 nichtalkoholische Fettleber und Orlistat 343
Nierenfunktion und Essstörungen 34, 156 Night-Eating-Syndrom 6 – Diagnosekriterien 27 Nikotin – Entzugssyndrom 304 – Substitution 308 – Wirkungen 304 Noradrenalin und Anorexia nervosa 142 Nucleus arcuatus 126, 128, 137 Nucleus paraventricularis 126, 128
O obese-Maus 266 obstruktives Schlafapnoesyndrom und Adipositas 277 Olanzapin und Gewichtszunahme 282 operationalisierte psychodynamische Diagnostik 60, 190 Opioidrezeptor und Anorexia nervosa 64 Orlistat 315, 341, 362, 370 – pharmakologisches Profil fi 342 – und kardiovaskuläres/metabolisches Risiko 342 Osteoporose – bei Anorexia nervosa 21, 154 – bei Leistungssportlerinnen 95, 98 ovarieller Regelkreis 159
P Paartherapie bei Essstörungen 185 – Indikationen 186 Panikstörung und Essstörungen 107 Peptid YY 134, 138, 140 Perfektionismus 55, 69, 184 Persönlichkeitsstörungen – und Anorexia nervosa 46 – und Binge-Eating-Störung 52 – und Bulimia nervosa 52 – und Essstörungen 69, 108, 111 – selbstverletzendes Verhalten bei 119 Phenothiazine und Gewichtszunahme 281 physical activity level,l Klassifi fikation 253 polyzystisches Ovarialsyndrom 271 – und Adipositas 250, 277 Positronenemissionstomographie 143 posttraumatische Belastungsstörung – und Essstörungen 107 – und selbstverletzendes Verhalten 120 Prader-Willi-Syndrom 250, 266 Prävalenz, Definition fi 38
Prävention, Definition fi und Einteilung 170 Präventionsprogramme – integrierter Ansatz für Adipositas und Essstörungen 174 – theoretische Grundlagen 173 – Ziele 173 Präventionsstudien 172 – Kriterien 172 – Wirksamkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen 173 – Wirksamkeit bei Kindern 172 – Wirksamkeit von Sekundärprävention 174 – Zielbereiche 171 – zur Adipositasprävention 174 Proopiomelanokortin 128 Pseudoatrophia cerebri 22 psychische Komorbidität von Essstörungen 106, 109, 112 – Prävalenz 107 – Risikofaktoren 109 – therapeutische Besonderheiten 110, 115 – Untersuchungsmethoden 112 psychodynamische Psychotherapie 59, 189, 191, 214 – bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen 60 – bei Anorexia nervosa 191 – bei Binge-Eating-Störung 192 – bei Bulimia nervosa 191 – bei selbstverletzendem Verhalten 120 – fokale Therapiekonzepte 60, 190 – Typologie struktureller Störungen 190 – und Selbsthilfekonzepte 192 Psychoedukation – für Eltern Essgestörter 178 – in der Adipositastherapie 325, 329 Psychopharmaka und Gewichtszunahme 250 Psychotherapie von Essstörungen – Behandlungssettings 194, 201, 211 – Familientherapie 182 – Gesamtbehandlungsplanung 212 – interpersonelle Psychotherapie 200 – kognitive Verhaltenstherapie 193, 202 – Körperbildtherapie 219 – psychodynamische Psychotherapie 189 – verhaltenstherapeutische Konzepte 54 Public-health-Paradigma zur Prävention von Übergewicht 314 Purging 8, 15, 31 Purging-Disorder, Kriterien 26
380
Stichwortverzeichnis
R Rauchen siehe Tabakabhängigkeit Refeeding-Syndrom 157 Refluxkrankheit fl und Adipositas 277 Remission, Definition fi für bulimische Essstörungen 49 Remissionsraten – Anorexia nervosa 46 – Binge-Eating-Störung 49 – Bulimia nervosa 49 repräsentative Stichprobe, Erhebung 39 retrospektives Korrelat, Definition fi 67 reverse anorexia nervosa 90 Rezidivraten – Anorexia nervosa 46 – Binge-Eating-Störung 50 – Bulimia nervosa 50 Rimonabant 341, 362, 370 – pharmakologisches Profil fi 345 – und kardiovaskuläres/metabolisches Risiko 342 – Wirkung bei Adipositas 345 Risikofaktor, Definition fi 67 Risikosportarten 43, 69, 76, 79, 89, 94, 96 Russell-Zeichen 34, 155
S salutogenes Modell von Primärprävention 171 Sättigung siehe Hunger und Sättigung Schlauchmagen 349 schulische Gesundheitsförderung 171, 313 Schulungsprogramme für adipöse Kinder und Jugendliche 317, 319 Schwangerschaft – bei Adipositas 278 – und Essstörungen 160 Schwangerschaftskomplikationen – als Marker für Anorexia und Bulimia nervosa 67 – bei Anorexia nervosa 161 – bei Bulimia nervosa 162 Screening-Fragen zur Identifikation fi von Essstörungen 29, 32 Selbsthilfe 226 – bei Anorexia nervosa 227 – bei Binge-Eating-Störung 228, 231 – bei Bulimia nervosa 180, 227 – Defi finition 226 – Einsatz moderner Medien bei 229 – in der Adipositasbehandlung 326 – Indikation 227
– Manuale 227 – und psychodynamische Psychotherapie 192 – Websites 230 selbstverletzendes Verhalten bei Essstörungen 117 – Diff fferenzialdiagnose 120 – Epidemiologie 118 – Formen 118 – Gründe für 118 – Psychopharmakaeinsatz 121 – Psychotherapie 120 – und suizidale Handlungen 118 Selbstwertproblematik 30, 42, 52, 55, 69, 108 – bei Adipositas 261, 290, 292 – bei Anorexia nervosa 59 – bei Binge-Eating-Störung 26, 72 – bei Bulimia nervosa 59, 71 – bei Jugendlichen 10, 21 – und Körperbild 82, 220 – und psychodynamische Therapie 61 selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer bei Essstörungen 141, 147 – Anorexia nervosa 180, 205 – Auswirkungen auf das Körpergewicht 282 – Binge-Eating-Störung 209 – Bulimia nervosa 181, 206 semistarvationsinduzierte Hyperaktivität 140 Serotonin und Essverhalten 165 Serotoninrezeptor und Anorexia nervosa 63 Serotoninsystem – und Essstörungen 109, 141, 146 – und Sibutraminwirkung 344 Serotonintransporter und Bulimia nervosa 65 Sexualität und Essstörungen 108 – bei Männern 89 sexueller Kindesmissbrauch – und Adipositasgenese 294 – und Essstörungen 68, 90 Sibutramin 341, 362, 370 – bei Binge-Eating-Störung 209 – pharmakologisches Profil fi 344 – und kardiovaskuläres/metabolisches Risiko 342 – Wirkung bei Adipositas 344 Single-Photon Emission Computed Tomographyy 143 Somatostatin 125 Sotos-Syndrom 250 soziale Diskriminierung, gewichtsbezogene 80, 260, 288, 292 soziale Phobie – und Anorexie 21, 180 – und Bulimie 180 – und Essstörungen 107, 113
soziales Kompetenztraining – bei Essstörungen 180 – in der Adipositasbehandlung 332 Speicheldrüsen, Veränderungen bei Essstörungen 34 Sport, exzessiver 6, 17, 20, 31, 69, 89 – und AN-Rückfallrisiko 46 Sport/körperliche Aktivität – allgemeine Empfehlungen 337 – Eff ffekte bei adipösen Kindern 336 – Empfehlungen für adipöse Erwachsene 324, 338 – Empfehlungen für adipöse Kinder und Jugendliche 339 – Empfehlungen für Ältere und chronisch Kranke 337 – Empfehlungen für Kinder 338 – in der Adipositasbehandlung 324, 328, 334 – kardiovaskuläre und metabolische Eff ffekte bei Adipösen 335 – Messgrößen für 253 – Motive bei Mädchen und Jungen 88 – und Adipositas 249 – und Diäten zur Gewichtsreduktion 335 – und Mortalitätsrisiko 336 – vermindertes kardiovaskuläres und metabolisches Risiko bei Adipösen 336 – zur Gewichtsreduktion 9 SSRI siehe selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer Starvationseffekt ff 21 stationäre Behandlung von Essstörungen 213 – Anorexia nervosa 214 – Binge-Eating-Störung 217 – multimodale Programme 214 – Ziele 213 – siehe auch tagesklinische Behandlung von Essstörungen Steroide und Gewichtszunahme 283 Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen 32 Strukturiertes Klinisches Interview und Diagnostik von Essstörungen 32 Substanzabusus und Essstörungen 107 – Anorexia nervosa 45 – Behandlung 111 – Bulimie 52, 71, 184 – und Schwangerschaft 162 – und selbstverletzendes Verhalten 120 Suizidalität und Bulimia nervosa 52 Suizidgefahr – bei Adipositas 261, 290 – bei Essstörungen 21
381
Stichwortverzeichnis
Sulfonylharnstoffe ff und Gewichtszunahme 283 Syndrom der kindlichen emotionalen Störung mit Nahrungsverweigerung 22
T Tabakabhängigkeit – Behandlung 308 – bei Adipositas 307 – bei Anorexie und Bulimie 305 – bei Binge-Eating-Störung 308 – Diagnostik 305 – neurobiologische Grundlagen 304 – psychosoziale Aspekte 304 – und weight concerns 306 Tabakabstinenz, Gewichtszunahme bei 307 Tabakentwöhnung bei Anorexie und Bulimie 309 tagesklinische Behandlung von Essstörungen 212 – Anorexia nervosa 214 – Binge-Eating-Störung 217 – Bulimia nervosa 216 – Komponenten 214 – Ziele 213 Taillenumfang – Abnahme unter Orlistat 343 – Abnahme unter Sibutramin 344 – als Mortalitätsprädiktor 370 – und Adipositas 251, 271 – und kardiovaskuläres Risiko 276 Taranabant 341, 345 Teufelskreis der Bulimie 57 Thermogenese und Adipositas 249 Thiazolidinedione und Gewichtszunahme 283 Thrifty-genes-Hypothese 269 Thyroxin, Abusus von 17, 31 Topiramat 341 – Einsatz bei Bulimia nervosa 207 – und Binge-Eating-Störung 209 transdiagnostisches Modell 57 Triade der Sport treibenden Frau 89, 93 – Krankheitsbilder 95 – Prävalenz 95 Tryptophan – bei Bulimia nervosa 206 – und Essverhalten 165 Tumornekrosefaktor α 281
U Übergewicht – als krankheitsprädisponierender Zustand 7
– bei Kindern und Jugendlichen 257, 313, 317 – Defi finition 5 – Diff fferenzialdiagnose bei übergewichtigen Patientinnen 35 – obesogene Faktoren 314 – Prävalanz 312, 255 – Prävention 312 – soziokulturelle Faktoren 80 – und sozioökonomischer Status 79 Underreporting bei Adipösen 253 Untergewicht, Diff fferenzialdiagnose bei Patientinnen 35
V Valproat und Gewichtszunahme 283 Vareniclin in der Tabakentwöhnung 308 Verhaltensauff ffälligkeiten bei adipösen Kindern und Jugendlichen 261 verhaltenstherapeutische Adipositastherapie 325, 328 – Behandlungssetting 326, 333 – für Kinder und Jugendliche 320 – Psychoedukation in der 325, 329 – Rückfallprophylaxe 332 – Stimuluskontrollstrategien 330 – Zielvereinbarungen 329 Vitamin-K-Antagonisten und Orlistat 342
W Wahrnehmungsverzerrungen bei Essstörungen 84, 221 Weaver-Syndrom 250 Weight concerns und Rauchverhalten 306 Western culture-bound syndrome 12
X X-ray-Absorptionsmetrie DEXA 252
Z Zahnschäden bei Essstörungen 34, 156 zerebraler Blutfluss fl – Veränderungen bei Anorexia nervosa 145 – Veränderungen bei Bulimia nervosa 148 Zinksubstitution bei Anorexia nervosa 206
Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa 232, 241 – gesetzliche Regelungen 232 – Indikation 233 – praktische Durchführung 233 Zwangsernährung 234 Zwangsstörungen – und Anorexia nervosa 21, 45, 131, 180 – und Bulimie 180 – und Essstörungen 69, 107, 113 – und selbstverletzendes Verhalten 120 Zwei-Zentren-Theorie zu Hunger und Sättigung 126 Zweifaktorenmodell der Essstörungen 56 Zwillings- und Adoptionsstudien zur Adipositas 266 Zyklusstörungen – bei Adipositas 277 – bei Essstörungen 158 – bei Leistungssportlerinnen 97