Check-Up-Medizin Prävention von Krankheiten – Evidenzbasierte Empfehlungen für die Praxis Herausgegeben von
Uwe Nixdorff Mit Beiträgen von D. Abeck C. M. Bamberger M. W. Beckmann H. Binder W. Blank P. Cullen B. Dannewitz H. C. Diener D. Domagk H. Drexler P. Eickholz A. Ernst J. H. Ficker T. H. Fink C. Gawrilow R. Gerzer E. Gramenz H. J. Greten L. S. Griffith D. H. W. Grönemeyer M. Halle 88 Abbildungen 83 Tabellen
Georg Thieme Verlag Stuttgart New York
M. Hensel T. Hinrichs G. Jacobi W. Jilg F. Kiefer W. Kindermann G. Kluge F.-M. Köhn W. J. Kox K. Kraft B. Madea Y. K. Maratos G. Mehlhorn B. Meurer G. Michelson M. Möhrenschlager H. Mück M. Mück-Weymann F. Mußhoff C.-M. Muth J. Mutschler
U. Nixdorff M. Oeff J. Pantel P. Platen K. Riemann H. Rübben S. Schirp G. Schulz R. Schulz-Wendtland S. Schwarz P. Sefrin J. Siegrist E. Stapelfeldt E. Stockmann V. Tesky K. Tetzlaff S. Wärntges F. Wagner J. Wessling N. Worm
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Geleitwort
Geleitwort
Prävention und Gesundheitsförderung verbessern Gesundheit, Lebensqualität, Mobilität und Leistungsfähigkeit der Menschen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und steigender Kosten im Gesundheitswesen gewinnt die Gesundheit und damit das Thema Prävention, insbesondere die Check-Up-Medizin, für die Menschen zunehmend an Bedeutung. Verstärkt durch das Internet wird der Arzt infolgedessen heutzutage mehr und mehr von seinen mündigen Patienten gefordert. Mit dem Buch verfolgt der Herausgeber insbesondere das Ziel, dem Arzt einen systematischen Überblick über die Check-Up-Medizin zu geben. Ein Schwerpunkt wird dabei gelegt auf die Sekundärprävention, d. h. die Identifikation von asymptomatischen Risikopersonen für bestimmte Krankheiten. In der Herz-Kreislauf-Medizin wurde z. B. in der PROCAM-Studie eindrucksvoll gezeigt, dass etwa ein Drittel aller Personen, die einen plötzlichen Herztod oder akuten Herzinfarkt erlitten haben, bis dahin völlig beschwerdefrei, also asymptomatisch waren. So plötzlich das Auftreten eines Herzinfarktes auch erscheinen mag, ist er dennoch auf eine meist mehrere Lebensdekaden umfassende Entwicklung einer Atherosklerose zurück zu führen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig die Verbesserung der Präventivmedizin und deren breite Etablierung über alle Versorgungsebenen hinweg sind. Der Inhalt des Buches gliedert sich in 7 Abschnitte. Einleitend werden die Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis beschrieben und die Rolle des Hausarztes als primärer Ansprechpartner in Gesundheitsfragen anschaulich herausgestellt.
Im Folgenden gehen die Autoren auf die organbezogene Check-Up-Medizin ein. Der Leser erhält nicht nur einen detaillierten Überblick über die Check-Up-Medizin, sondern auch Detailinformationen über die epidemiologische Bedeutung der kardiovaskulären Erkrankungen und der Krebserkrankungen insgesamt. Im Abschnitt spezielle Check-Up-Medizin widmen sich die Autoren den klassischen Themen wie Schutzimpfungen oder Arbeitsmedizin und binden überdies beispielsweise aufgrund steigender Inzidenz und Prävalenz psychischer Erkrankungen einen psychosozialen Check-Up als einen wichtigen Bestandteil in die Präventivmedizin mit ein. Darüber hinaus erhält der Leser profunden Einblick in neue Technologien wie dem Telemonitoring und der elektronischen Gesundheitsakte im Kontext der Präventivmedizin. Nicht nur durch dieses Kapitel, sondern u. a. auch durch die Abhandlung zu den Potenzialen der Genomik, zeichnet sich dieses Buch als eine innovative und zukunftsweisende Arbeit aus. Um dem Anspruch eines Standardwerkes gerecht zu werden, setzt sich der Herausgeber auch kritisch mit ausgesuchten Bereichen der komplementären Medizin auseinander und fordert, dass sich diese ebenso wie die klassischen medizinischen Fächer dem empirischen Nachweis ihrer präventiven und gesundheitsfördernden Kompetenz stellen. Ich beglückwünsche den Herausgeber und alle Mitwirkenden zu ihrer hervorragenden Arbeit und begleite dieses Buch mit meinen besten Wünschen. Februar 2009
Professor Dr. med. Gerd Assmann, FRCP
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Vorwort
Vorwort
Das vorliegende Buch gibt eine Übersicht über die aktuellen medizinischen Methoden der Diagnostik zur Früherkennung von Krankheiten im oft noch asymptomatischen Stadium oder deren Disposition aufgrund von Risikokonstellationen im Sinne der sogenannten Check-Up-Medizin, die ursprünglich zum ersten Mal von der Mayo Clinic in Rochester/USA inauguriert worden ist. Weiterhin werden die daraus erwachsenden Konsequenzen – in der Regel im Bereich der Lebensstilmodifikation und präventiven Pharmakotherapie – dargestellt. Dabei wurden von den Autoren Evidenzen herausgearbeitet, auf die diese noch ungewohnte, neue „Medizin des Gesunden“ zurückgreifen kann (Leitlinenboxen). Eine übliche, symptombezogene Diagnostik und Therapie versagt und von daher werden holistischere pathophysiologische Sichtweisen benötigt. Eine Fokussierung der Angina pectoris auf die kardiologische Untersuchung des Herzens tritt zugunsten der Erkenntnis der zwar asymmetrischen, aber systemischen Ausbreitung der Atherosklerose zurück. Eine interventionelle oder operative Behandlung einer Koronarstenose tritt zugunsten der Prävention selbiger durch Lebensstilveränderungen im Bereich von Raucherentwöhnung als auch Bewegung, Ernährung und Entspannung, ggf. präventiver Medikation mit Acetylsalicylsäure und Statinen zurück, wenn erste atherosklerotische Veränderungen festgestellt werden. Dies betrifft in ähnlicher Form andere Krankheitsentitäten wie etwa das große Spektrum bösartiger Neubildungen, die meistens im symptomatischen Stadium keiner kurativen Therapie mehr zugänglich sind, sehr wohl aber im asymptomatischen Stadium. Der Mensch wird damit nicht mehr zum Patienten und der kurativ agierende Arzt wird zum Präventivmediziner. Dieser Paradigmenwechsel ist aufgrund der medizinischen und medizintechnischen als auch paramedizinischen Kompetenzen (Personal Trainer, Ökotrophologen, Psychologen etc.) im Sinne einer professionellen Check-Up-Medizin möglich geworden, aber noch nicht umfänglich auf wissenschaftlich gefestigte Beine gestellt. Präventivmedizinische Algorithmen, die Modelle der Risiko(faktoren)stratifikation, der Differenzialindikation und Durchführung präklinischer Diagnostik, wechselseitiger Ergänzung von morphologischen und funktionellen Befunden, enger interdisziplinärer Kooperation als auch die konsekutiven präventiven Maßnahmen im Bereich von Lebensstilmodifikation und Frühtherapie integrieren, liegen bisher kaum vor. Noch zaghaft wird im Curriculum des humanmedizinischen Studiums der Präventivmedizin Rechnung gezollt (Querschnitt 10 „Prävention, Gesundheitsförderung“ der neuen Approbationsordnung vom 3. 7. 2002) und es gibt keinen Facharzt für Prä-
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ventivmedizin. Auch die Literaturrecherche entbehrt einer holistischen, Evidenz-basierten Übersicht der Check-Up-Medizin, die sich über die Grenzen einzelner medizinischer und paramedizinischer Fachgebiete hinweg definieren muss. Obwohl in vielen Bereichen des Themas noch tragbarer Outcome-Research fehlt, will das vorliegende Buch aufgrund der bereits bestehenden und zunehmenden Potentiale die Herausforderung annehmen, die derzeit praktische Rationale einer Check-UpMedizin zu definieren. Neben einigen wenigen Leitlinien aus verschiedenen Bezügen der Präventivmedizin müssen zum großen Teil Evidenzen aus Teilbereichen der konventionellen „Krankheits“medizin für die Zwecke der „Gesundheits“medizin entlehnt werden, sodass keine einheitliche Struktur von Evidenzgraden in diesem Buch vorgehalten werden kann. Die übergeordnete präventivmedizinische Studienlage der Check-Up-Medizin ist nicht ausreichend, um etwa nach den Qualitätskriterien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) fachgemäße Leitlinien einer Check-Up-Medizin kurzfristig aufzustellen. Dies bringt es weiter mit sich, dass dieses Buch noch nicht den Anspruch der Repräsentation eines neuen Lehrfachs (Lehrbuchs) erheben kann. Andererseits existiert bisher nach bestem Wissen des Herausgebers kein vergleichbares Buch. Das Buch versteht sich neben dem wissenschaftlichen Anspruch vorliegender Evidenzen praktisch, indem dem interessierten Arzt der zweckmäßige Zu- und Umgang des aktuellen Wissens textalisch, tabellarisch und mittels vieler farbiger Abbildungen, aber auch mittels WeblinkBoxen, Kasuistiken, Leitlinienboxen, praktischer FragenAntworten-Listen als auch wichtigster Referenzen vorgelegt wird. Zur schnellen Orientierung dient zu Beginn eines jeden einzelnen Kapitels die Rubrik „Das Wichtigste in Kürze“. Die Qualität der Einzelbeiträge wird durch die renommierten Autoren verbürgt, die nicht nur in ihrem Fach reputiert sind, sondern sich auch besonders der Zukunftsperspektiven einer präventivmedizinischen Ausrichtung Ihres Faches aktiv stellen. Der holistische Zusammenhang wird durch 7 übergeordnete Abschnitte repräsentiert. Die I „Vorbemerkungen“ leiten zunächst ins Thema ein, indem epidemiologische Entwicklungen und terminologische Definitionen gegeben werden, aber auch Zukunftsperspektiven der Check-Up-Medizin antizipiert werden. Dies wird von den Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis gefolgt, da dem Hausarzt mit bisherigen, bescheideneren Mitteln traditionell eine wichtige primäre Funktion der Vorsorge zukam und auch weiter zukommt, aber zu-
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sätzlich i.R. der mit den in diesem Buch dargestellten, aktuellen Möglichkeiten eine integrative Bedeutung zukommen wird. Die darauf folgenden, großen zwei Abschnitte teilen sich in die II „Organbezogene und allgemeine Check-Up-Medizin“ und die III „Spezielle CheckUp-Medizin“ auf. Organbezogen wird Vorsorge-relevant abgehoben auf den Herz-Kreislauf, den Schlaganfall und die Demenzen, die Augen (insbesondere im prädiktiven Hinblick internistischer Erkrankungen), die Lunge (insbesondere den Lungenkrebs bei Rauchern), den Darm (mit den etablierten Verfahren der Darmkrebsvorsorge), die Haut, den Bewegungsapparat (dessen Degeneration nahezu keinem alternden Menschen erspart bleibt), die Hals-Nasen-Ohren-Organe, den Zahnstatus und Parodont. Letzteres repräsentiert die bevölkerungsweit etablierteste Vorsorgemedizin, mehr oder weniger regelmäßig besuchen die meisten Menschen auch ohne Zahnschmerzen den Zahnarzt zum Check-Up. Schließlich wird unter Allgemein die etablierte und differenzierte Vorsorge von Frauen, Männern und Kindern dargestellt. Die Anti-Aging-Medizin (die semantisch ggf. richtiger Well- oder Good-Aging-Medizin heißen müsste) bemüht sich seit einiger Zeit im Rahmen neuer themenspezifischer, nationaler und internationaler Fachgesellschaften um Evidenz-Basierung. Unter III „Spezielle Check-UpMedizin“ versteht sich der psychosoziale Check-Up (mit dem zunehmenden Problem des sogenannten BurnOuts), Sportler-Check-Up für die Gesundheitsuntersuchung, aber auch Leistungsdiagnostik des Amateur- oder Profisportlers. Schutzimpfungen stellen eine hocheffektive und -effiziente Prävention dar. Auch das gesundheitliche Risiko der drastisch zunehmenden Reiseaktivität im Rahmen der Globalisierung kann durch Vorsorge erheblich reduziert werden. Sehr speziell sind die Eignungsund Vorsorgetests im Rahmen des professionellen und privaten aktiven Fliegens, Tauchens, Teilnahme am öffentlichen Verkehr. Eine spezielle Institutionalisierung vorsorglicher Medizin kommt der präklinischen Notfallmedizin, dem Arbeitsschutz und den derzeitigen und zukünftigen Möglichkeiten des Telemonitorings und der elektronischen Gesundheitsakte zu. Letztes wird zunehmend in AAL (Ambient Assisted Living)-Programmen eine vorsorgliche Lebensweise des alternden Menschen in häuslicher Umgebung gewährleisten können. Die IV „Potenziale der Genomik“ liegen in der Gen-Chip-Technologie, der Pharmakogenetik und Nutrigenomik und sind nicht ohne Grund als Potenziale benannt, da sich die verheißungsvollen Möglichkeiten noch im Forschungsstadium befinden und erst langsam ihren Weg in die Anwendung nehmen. Die o. g. Holistik darf trotz Evidenzanspruch nicht die empirischen Erfolge der V „Komplementären Medizin“ außer Acht lassen. Zudem haben neben Ayurveda und TCM die Naturheilverfahren in mehreren deutschen Universitätsklinika den Weg wissenschaftlicher Studien angetreten und werden ggf. in Zukunft Evidenzen vorlegen können. Der o. g. Umsetzung von Lebensstilmodifikationen zum Zwecke der Krankheitsprä-
vention ist der Abschnitt VI „Salutogenese und Lifestyle Coaching“ eingeräumt. Der Begriff der Salutogenese bedeutet hierbei „Gesundheitsentstehung“ oder „Ursprung von Gesundheit“. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat Salutogenese als Gegenbegriff zur Pathogenese entwickelt, Gesundheit ist kein Zustand, sondern muss als Prozess verstanden werden. Dieser wird durch das Kohärenzgefühl bestimmt, das eine globale Orientierung ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, das die inneren und äußeren Stimuli strukturiert, vorhersehbar und erklärbar macht. Da nicht nur das Kohärenzgefühl, sondern auch häufig die allgemeine Awareness zu sich selbst und seinem Körper fehlt, soll der medizinische Check-Up eine Bestandsaufnahme sein, auf der die Hinwendung zur eigenen Gesundheit effektiver gelingt. Da dies mit einer Lebensstilberatung i.R. des Check-Ups oft nicht ausreicht, sollte der Check-Up in ein LifestyleCoaching münden, wie es bereits im Fitness- und Sportbereich (Personal Trainer) oder Management üblich ist. Der professionelle Check-Up geht über die Negation der Ausschlussdiagnostik hinaus und bestimmt positiv die Maßnahmen zur Erhöhung von Lebenserwartung und -qualität. Damit wird die Definition von Gesundheit durch die World Health Organization (WHO) gewürdigt („Gesundheit ist ein Zustand vollkommen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen“). Der Abschnitt stellt nach belegter, absteigender prognostischer Bedeutung die drei „Lebensstilsäulen“: 1. Bewegung (Fitness, Bewegung und Sport), 2. Ernährung und 3. Entspannung (psychosoziale Balance) dar. Die gesundheitsgefährdende Sucht des inhalativen Nikotinabusus (noch höhere prognostische Bedeutung als die o. g. „Lebensstilsäulen“) als auch des Alkohols folgen. Alkohol, insbesondere im Kontext mit Resveratrol und Tanninen von im Fass ausgebauter Rotweine, wirkt allerdings in Maßen und regelmäßig konsumiert Atherosklerose-prophylaktisch. Dies hat aber durch die noch fehlende, abschließende Definition der präventiven Dosis als auch die Diskussion um Confounding Factors noch nicht den Weg in die Leitlinien der medizinischen und ökotrophologischen Fachgesellschaften gefunden. Ein wichtiges Kapitel in diesem Abschnitt ist das der Motivationspsychologie, da entgegen der zur Allgemeinbildung gehörenden Kenntnis des gesunden Lebens die tatsächliche Umsetzung oft hohe psychologische Barrieren mit sich bringt. In VII „Wo und Wie – Nützliche Hinweise für die Check-Up-Medizin“ soll der o. g. praktische Anspruch des Buches eingelöst werden, in dem der interessierte Leser wichtige Adressen und Weblinks findet und zwar von Internet-Checks, Beratungsinstitutionen zu Vor- und Nachteilen von Test zur Früherkennung, derzeit bestehenden Check-Up-Zentren mit entsprechenden Dienstleistungsangeboten als auch Vorsorge-relevanten Organisationen und medizinischen Fachgesellschaften. Auch die Dienstleistungsangebote zu den o. g. drei „Lebensstilsäulen“, i. e. Fitnesszentren und Personal Trai-
VII
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ner, Ökotrophologen und Psychologen fehlen nicht. Abgeschlossen wird die Kontaktliste mit Medizin- und Gesundheitsportalen für Laien. Hier muss um Verständnis gebeten werden, dass eine Vollständigkeit der Adressenlisten nicht garantiert werden kann. Ein abschließendes Kapitel gibt eine Übersicht zu den Kosten von Check-UpProgrammen, die in einem definierten Rahmen von den Krankenkostenträgern als „gesetzlich vorgeschriebene Früherkennungs- und Präventionsleistungen“ getragen werden. Ein großer Teil der Kosten von Gesundheitsleistungen i.R. der professionellen Check-Up-Medizin wird
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allerdings als sogenannte „Verlangensleistung“ nicht oder nur teilweise aus Kulanzgründen von Krankenkassen übernommen. Die in Eigenverantwortung wahrgenommenen Check-Up-Leistungen müssen sich umso mehr hohen Qualitätserwartungen des Endkunden stellen, deren nachhaltige Befriedigung das Konzept eines so weit wie möglich Evidenz-basierten Angebots erforderlich macht. Das vorliegende Buch will dem ärztlichen Dienstleister hierbei eine Hilfestellung geben. Im Februar 2009
Uwe Nixdorff
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Prof. Dr. med. Dietrich Abeck Renatastr. 72 80639 München Prof. Dr. med. Christoph M. Bamberger Universitätsklinikum Eppendorf Med. PräventionsCentrum Hamburg (MPCH) Falkenried 88 20251 Hamburg Prof. Dr. med. Matthias W. Beckmann Universitätsklinikum Erlangen Frauenklinik Universitätsstr. 21 – 23 91054 Erlangen PD Dr. med. Helge Binder Universitätsklinikum Erlangen Frauenklinik Universitätsstr. 21 – 23 91054 Erlangen Dr. med. Wolfgang Blank Ferdinand-Neumaier-Str. 6 94259 Kirchberg Prof. Dr. med. Paul Cullen Gemeinschaftspraxis Dr. Löer, Dr. Treder und Kollegen Hafenweg 11 48155 Münster Dr. med. dent. Bettina Dannewitz Universitätsklinikum Heidelberg Poliklinik für Zahnerhaltungskunde Sektion Parodontologie Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener Universität Duisburg-Essen Universistätsklinikum Essen Klinik für Neurologie Hufelandstr. 55 45147 Essen PD Dr. med. Dirk Domagk Universitätsklinikum Münster Medizinische Klinik und Poliklinik B Albert-Schweitzer-Str. 33 48149 Münster
Prof. Dr. med. Hans Drexler Friedrich-Alexander-Universität Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin Schillerstr. 25 u. 29 91054 Erlangen Prof. Dr. Peter Eickholz Johann Wolfgang Goethe-Universität Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum) Poliklinik für Parodontologie Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt a. M. Prof. Dr. med. Arne Ernst Unfallkrankenhaus Berlin HNO-Klinik Warener Str. 7 12683 Berlin Prof. Dr. med. Joachim H. Ficker Klinikum Nürnberg Medizinische Klinik 3 Pneumologie, Allergologie, Schlafmedizin Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1 90419 Nürnberg Dr. med. Thomas Fink Rangauklinik Ansbach Strüth 24 91522 Ansbach Dr. rer. nat. Caterina Gawrilow Universität Hamburg Fak. Erziehungswissenschaft, Psychologie u. Bewegungswissenschaft Fachbereich Psychologie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg Prof. Dr. med. Rupert Gerzer Universitätsklinikum Aachen Zentrum für Medizin u. Mobilität Institut für Flugmedizin Kullenhofstr. 52 52074 Aachen
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Elke Gramenz Dipl.-Oecotrophologin Assmann-Stiftung für Prävention Johann-Krane-Weg 23 48149 Münster Prof. Dr. med. Henry Johannes Greten Deutsche Gesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin Karlsruher Str. 12 69126 Heidelberg Dr. Lee S. Griffith Awenydd GmbH Nattermannallee 1 50829 Köln Prof. Dr. med. Dietrich H.W. Grönemeyer Universität Witten-Herdecke Grönemeyer Institut für Mikrotherapie Lehrstuhl für Radiologie und Mikrotherapie Universitätsstr. 142 44799 Bochum Prof. Dr. med. Martin Halle Technische Universität München Lehrstuhl und Poliklinik für Präventive und Rehabilitative Sportmedizin Connollystr. 32 80809 München PD Dr. med. Mario Hensel Park-Klinik Weissensee Anästhesiologie – Intensivmedizin Schönstr. 80 13086 Berlin Dr. med. Timo Hinrichs Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sportwissenschaft Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung Overbergstr. 19 44801 Bochum Univ.-Prof. Dr. med. Günther Jacobi Duisburger Fachärztegemeinschaft Urologie Kometenplatz 29 – 33 47179 Duisburg Prof. Dr. med. Wolfgang Jilg Universität Regensburg Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene Franz-Josef-Strauß-Allee 11 93053 Regensburg
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Prof. Dr. med. Falk Kiefer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin J5 68159 Mannheim Prof. Dr. med. Wilfried Kindermann Universität des Saarlandes Institut für Sport- und Präventivmedizin Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken Goetz Kluge DLR Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin Linder Höhe 51170 Köln Prof. Dr. med. Frank-Michael Köhn Andrologicum München Burgstr. 7 80331 München Prof. Dr. med. Dr. Wolfgang J. Kox Charité – Universitätsmedizin Berlin Institut für Krankenhausmanagement Charitéplatz 1 10117 Berlin Prof. Dr. med. habil. Karin Kraft Universität Rostock Medizinische Fakultät Lehrstuhl für Naturheilkunde Ernst-Heydemann-Str. 6 18057 Rostock Prof. Dr. med. Burkhard Madea Universität Bonn Institut für Rechtsmedizin Stiftsplatz 12 53111 Bonn Dr. med. Yvonne K. Maratos Universität Witten-Herdecke Grönemeyer Institut für Mikrotherapie Lehrstuhl für Radiologie und Mikrotherapie Universitätsstr. 142 44799 Bochum Dr. med. Grit Mehlhorn Universitätsklinikum Erlangen Frauenklinik Universitätsstr. 21 – 23 91054 Erlangen
Anschriften
Dr. med. Britta Meurer Hôpitaux Universitaires de Genève Departement de Gynécologie et d’Obstétrique Maternité Bd de la Cluse 30 1211 Genève 14 Schweiz Prof. Dr. med. Georg Michelson Universität Erlangen-Nürnberg Augenklinik mit Poliklinik Schwabachanlage 6 91054 Erlangen Dr. med. Matthias Möhrenschlager Dermatologie Hochgebirgsklinik Herman-Burchard-Str. 1 7265 Davos-Wolfgang Schweiz Dr. Dr. Herbert Mück Pattscheider Weg 29 51061 Köln Prof. Dr. Dr. med. Michael Mück-Weymann Klinik Neustadt/Aisch Psychosomatik und Verhaltensmedizin Paracelsusstr. 30 91413 Neustadt a. d. Aisch Prof. Dr. rer. nat. Frank Mußhoff Universität Bonn Institut für Rechtsmedizin Stiftsplatz 12 53111 Bonn PD Dr. med. Claus-Martin Muth Universitätsklinik Ulm Klinik für Anästhesiologie Sektion für Spezielle Anästhesie Prittwitzstr. 43 89073 Ulm Dr. med. Jochen Mutschler Universität Heidelberg Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin J5 68159 Mannheim Prof. Dr. med. Uwe Nixdorff EPC GmbH – European Prevention Center Ruhrorter Str. 195 47119 Duisburg
Prof. Dr. med. Michael Oeff Städt. Klinikum Brandenburg GmbH Klinik für Innere Medizin I Hochstr. 29 14770 Brandenburg Univ.-Prof. Dr. med. Johannes Pantel Universität Frankfurt Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Heinrich-Hoffmann-Str. 10 60528 Frankfurt a. M. Prof. Dr. Petra Platen Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sportwissenschaften Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung Overbergstr. 19 44801 Bochum Dr. rer. nat. Kathrin Riemann Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Institut für Pharmakogenetik Hufelandstr. 55 45122 Essen Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Rübben Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Urologische Klinik und Poliklinik Hufelandstr. 55 45122 Essen Sven Schirp Universität Witten-Herdecke Grönemeyer Institut für Mikrotherapie Lehrstuhl für Radiologie und Mikrotherapie Universitätsstr. 142 44799 Bochum Gabriele Schulz Dipl.-Gesundheitsökonomin SVA SanaSphere GmbH Berliner Allee 47 40212 Düsseldorf Prof. Dr. med. Rüdiger Schulz-Wendtland Universitätsklinikum Erlangen Radiologisches Institut Abt. Gynäkologische Radiologie Universitätsstr. 21 – 23 91054 Erlangen
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Dr. med. Silja Schwarz Technische Universität München Poliklinik für Präventive und Rehabilitative Sportmedizin Connollystr. 32 80809 München
PD Dr. med. Kay Tetzlaff Universitätsklinikum Tübingen Medizinische Klinik und Poliklinik Abteilung Sportmedizin Silcherstr. 5 72076 Tübingen
Prof. Dr. med. Peter Sefrin Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie Zentrum Operative Medizin ehem. Leiter der Sektion für präklinische Notfallmedizin Oberdürrbacher Str. 6 97080 Würzburg
Dr. med. Simone Wärntges Universität Erlangen-Nürnberg Augenklinik mit Poliklinik Schwabachanlage 6 91054 Erlangen
Univ.-Prof. Dr. phil. Johannes Siegrist Heinrich Heine-Universität Düsseldorf Institut für Medizinische Soziologie Universitätsstr. 1 40225 Düsseldorf Elmar Stapelfeldt Ayurveda Naturheilpraxis Europäische Akademie für Ayurveda Forsthausstr. 6 63633 Birstein Dr. med. Eberhard Stockmann Betriebsärztlicher Dienst der Siemens AG Sieboldstr. 16 91052 Erlangen Valentina Tesky Dipl.-Psychologin Universität Frankfurt Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Heinrich-Hoffmann-Str. 10 60528 Frankfurt a. M.
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Dr. med. Friederike Wagner Unfallkrankenhaus Berlin HNO-Klinik Warener Str. 7 12683 Berlin PD Dr. med. Johannes Wessling Universitätsklinikum Münster Institut für Klinische Radiologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48149 Münster Dr. Nicolai Worm Geibelstr. 9 81679 München
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
I
Vorbemerkungen
1
Einleitung
......................................................................
2
U. Nixdorff
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
.....................
6
W. Blank
2.1 2.1.1
2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
Gesundenberatung: Prävention und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problematik der Präventivmedizin in der Hausarztpraxis: Die „Gesundenuntersuchung“ . . . . . . . . . . Arbeit des Hausarztes . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleiten einer präventiven Maßnahme . . Bewertung des generellen und individuellen Nutzens durch Arzt und Patienten . . . Nutzen und Risiken einer Früherkennungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . .
2.2
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 2.2.2
Der Gesundheits-Check-Up . . . . . . Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . Krebsfrüherkennungsmaßnahmen Schutzimpfungen . . . . . . . . . . . . . . IGeL-Prävention . . . . . . . . . . . . . . .
6
6 7 7
...... . . . .
22 23 24 25
.......................................................
28
2.2.3 2.2.4 2.2.5
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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II
Organbezogene und allgemeine Check-Up-Medizin
3
Herz-Kreislauf-Check-Up U. Nixdorff
3.1
Ziele des Check-Ups: Verhinderung bzw. Stabilisierung der Atherosklerose und Vermeidung kardiovaskulärer Ereignisse
3.5.2 3.5.3 28
3.2
Epidemiologie der koronaren Herzkrankheit und des Myokardinfarkts . . . . . . . . . 28
3.3
Pathophysiologie der Atherosklerose und deren Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Kardiovaskuläre Risikofaktoren/-marker, Risiko-Scores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
3.4 3.5
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.1
Klinische Untersuchung inklusive Anthropometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.4 3.5.5 3.5.6
3.6
32 33
3.6.1 3.6.2 3.6.3
Labordiagnostik und Genanalysen . . . . . Bildgebende Diagnostik der Atherosklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Untersuchungen . . . . . . . . . Einbindung der Diagnostik in präventivmedizinische Algorithmen . . . . . . . . . . . . Indikationen, Interpretationen und rechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . .
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . Gezielte Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensstilmodifkationen, LifestyleCoaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventive Pharmakotherapie . . . . . .
.
33
. .
34 39
.
40
.
42
....
42
....
42
.... ....
44 46
XIII
Inhaltsverzeichnis
4
Prävention des Schlaganfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
H. C. Diener
4.1
Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
4.2
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
4.3
Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
4.4
Anamnese und Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 50 50
4.4.1 4.4.2
4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6
Ultraschallmethoden . . . . Elektrokardiografie (EKG) Fitness-Assessment . . . . . Indikation zur Diagnostik
. . . .
52 52 52 52
4.6
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . Zerebrale Ischämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärprävention des Schlaganfalls . . . Zerebrale Blutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen Subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52 52 54 55 55
....................................................
58
4.5
Diagnostische Optionen und instrumentelle Untersuchungen . . . . . . .
4.5.1 4.5.2
Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Prävention der Demenzen
51 51 51
4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
56
V. Tesky, J. Pantel
5.1
Stellenwert der Demenz-Prävention . . .
58
5.2
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
5.3
Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
5.4
Risikofaktoren der Demenz . . . . . . . . . . .
59
5.5
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
5.6
61 61 61 61 61
.......... .......... ..........
62 62 62
...........................................
64
5.6.6 5.6.7
6
Prävention in der Augenheilkunde
Präventive Maßnahmen . . . . Kognitive Aktivierung . . . . . . Körperliche Aktivität . . . . . . . Soziale Interaktion . . . . . . . . . Gesunde Ernährung . . . . . . . . Behandlung bzw. Vermeidung von bekannten Risikofaktoren Das AKTIVA-Projekt . . . . . . . . Präventive Pharmakotherapie
. . . . .
5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
G. Michelson, S. Wärntges
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5
XIV
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Systemerkrankungen . . Netzhautgefäße sind Indikatorgefäße des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Bluthochdrucks . . . . Therapiemonitoring . . . . . . . . . . . . . . . Erste telemedizinische Anwendungen in Deutschland „TalkingEyes“ . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Augenkrankheiten . . . . .
6.2.1 6.2.2 6.2.3
Makuladegeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaukom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetische Retinopathie . . . . . . . . . . . . . .
64
... ... ...
64 65 65
... ...
66 68
70 70 72 73
Inhaltsverzeichnis
7
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
J. H. Ficker, T. H. Fink
7.1
Grundlagen und Hintergründe . . . . . . . . Epidemiologie des Rauchens und des Lungenkarzinoms . . . . . . . . . . . . . Das Lungenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 76
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Passivrauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltfaktoren, berufliche Expositionen . Genetisches Risiko „Raucherfamilien“ . . . .
78 78 78 79 79
8
Darmkrebsvorsorge
7.1.1 7.1.2
7.2
7.3
Medikamentöse Tumorprophylaxe . . . . .
80
7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4
Früherkennung . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . Sputumzytologie . . . . . . . . . . Bronchoskopische Diagnostik Tumormarkerdiagnostik . . . . .
. . . . .
80 80 82 82 82
7.5
Raucher-Check-Up . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
...........................................................
87
76
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
J. Wessling, D. Domagk
8.1
Definition des kolorektalen Karzinoms .
8.2
Epidemiologie des kolorektalen Karzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Pathophysiologie: Adenom-KarzinomSequenz, De-novo-Entstehung, genetische Prädisposition . . . . . . . . . . . .
88
8.4
Bedeutung der Frühvorsorge . . . . . . . . .
88
8.5
Risikofaktoren und Risikostratifizierung
8.5.1 8.5.2 8.5.3
Sporadische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Hereditäre Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronisch entzündliche Darmerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 89 90
8.3
9
87
90
8.6
Maßnahmen zur kolorektalen Karzinomfrüherkennung . . . . . . . . . . . . .
8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.6.4 8.6.5 8.6.6
Fäkale okkulte Bluttestung (FOBT) Immunologische Tests . . . . . . . . . . Molekulare Screening-Verfahren . . Sigmoidoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . Koloskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle Kolonografie . . . . . . . . . .
. . . . . .
90 90 91 91 91 92 93
8.7
Früherkennungsalgorithmen in der asymptomatischen Bevölkerung .
95
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
8.8
Maßnahmen der individuellen Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.8.1 8.8.2
Allgemeine Ernährungsempfehlungen . . . Medikamentöse Prävention zur Risikoreduktion eines kolorektalen Karzinoms .
96
.................................
98
Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
96 96
M. Möhrenschlager, F.-M. Köhn
9.1
Definition präinvasiver und invasiver maligner Hautveränderungen . . . . . . . . .
9.5 98
9.2
Epidemiologie der malignen Hautveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.1
Syndrome mit erhöhtem Hautkrebsrisiko .
98 99
9.3
Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
9.4
Anamnese und Klinik . . . . . . . . . . . Basalzellkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . Plattenepithelkarzinom . . . . . . . . . . Malignes Melanom . . . . . . . . . . . . . . Melanoma in situ: Lentigo maligna . Atypischer Nävuszellnävus . . . . . . .
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
100 100 100 100 101 101
Diagnostik . . . . . . . . . Dermatoskopie . . . . . . Histologischer Befund Fluoreszenzdiagnostik Tumormarker . . . . . . .
. . . . .
101 101 102 102 102 102 102 103 103
9.6.5 9.6.6
Präventionsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . Alimentäre Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabakrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lichtschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei der Prävention von epithelialen Karzinomen im Genitalbereich Medikamentöse Maßnahmen . . . . . . . . . . Topische und chirurgische Maßnahmen . .
9.7
Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4
9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3 9.6.4
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
104 104 105
XV
Inhaltsverzeichnis
10
Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
D.H.W. Grönemeyer, Y. K. Maratos, S. Schirp, T. Hinrichs, P. Platen
10.1
Erhaltung der muskuloskelettalen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.2
Epidemiologie der Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen sowie der Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.4
Muskuloskelettale Diagnostik in der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
10.4.1
Klinische Untersuchung in der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . 113 Osteoporosediagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 113
10.4.2 10.4.3
10.3
Pathogenese der Rückenschmerzen, Gelenksarthrose und Osteoporose . . . . . 109
10.3.1 10.3.2 10.3.3
Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Arthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
. . . .
114 114 115 115
11
Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden . . . . . . . . . . . . . .
117
10.5
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 114
10.5.1 10.5.2 10.5.3 10.5.4
Wirbelsäule . Gelenke . . . . Osteoporose Check-Ups . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
F. Wagner, A. Ernst
11.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
11.4
Individualprävention von Hörschäden . . 121
11.2
Entstehung akuter und chronischer Hörschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
11.5
Prävention von Hörschäden als gesamtgesellschaftliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . 122
11.3
Erkennen von Hörschäden . . . . . . . . . . . 120
12
Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
B. Dannewitz, P. Eickholz
12.1
Definition der Parodontitis . . . . . . . . . . . 125
12.5
Anamnese und Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . 130
12.2
Epidemiologie der Parodontitis . . . . . . . 125
12.6
12.3
Pathophysiologie und Risikofaktoren für Parodontitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Diagnostik und instrumentelle Untersuchung in der Parodontologie . . . . . . . 130
12.3.1 12.3.2 12.3.3
Mikrobielle Plaque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Körpereigene Abwehrmechanismen . . . . . 127 Endogene und exogene Risikofaktoren . . . 128
12.6.1 12.6.2 12.6.3
12.4
Parodontitis als Risikofaktor für die allgemeine Gesundheit . . . . . . . . 129
Parodontaler Screening Index (PSI) . . . Parodontalstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Röntgenbilder zur Beurteilung des Knochenabbaus . . . . . . . . . . . . . . . Nachweis von parodontalpathogenen Mikroorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung von genetischen Polymorphismen . . . . . . . . . . . . . . . . . Enzyme und Entzündungsmediatoren in der Sulkusflüssigkeit . . . . . . . . . . . .
12.4.1 12.4.2 12.4.3
XVI
Parodontitis und Erkrankungen . . Parodontitis und komplikationen . Parodontitis und
kardio-/zerebrovaskuläre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Schwangerschafts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Diabetes mellitus . . . . . . 130
12.6.4 12.6.5 12.6.6
12.7
. . . 130 . . . 130 . . . 131 . . . 132 . . . 132 . . . 132
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 133
Inhaltsverzeichnis
13
Vorsorge für Frauen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
M.W. Beckmann, G. Mehlhorn, H. Binder, R. Schulz-Wendtland, B. Meurer
13.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
13.4
13.2
Gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP) . . . . . . . . 137
Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) und die Hormontherapie . . . . . . . 143
13.5
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
13.3
Schwangerenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . 140
14
Präventive Männermedizin: Prostatakrebs und Aging-Male-Syndrom
. . . . . 147
G. Jacobi, H. Rübben
14.1
Einführung: Männergesundheit – Männermedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
14.2
Prävention beim Prostatakrebs . . . . . . . . Die Prostata – das männliche Krebsproblem Nummer 1: Epidemiologie und Ätiologie . Symptome, Befunde, Verlauf . . . . . . . . . . . Prostatakrebsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4
148 148 148 149 149
14.3.2 14.3.3 14.3.4
Risikofaktoren, Pathophysiologie . . . . . . . . 154 Primäre und sekundäre Prävention der BPH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Tertiäre Prävention der BPH . . . . . . . . . . . 154
14.4
Wenn Männer in die Jahre kommen: Prävention des Aging-Male-Syndroms . . 154
14.4.1 14.4.2
14.3
Gutartige Prostatavergrößerung – benigne Prostatahyperplasie (BPH) . . . . 153
14.4.3
Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Der betroffene Mann als Klient und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Prävention des Aging-Male-Syndroms . . . 157
14.3.1
Klinik, Nomenklatur, Diagnostik . . . . . . . . 153
14.5
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
15
Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
D. Abeck
15.1
Allergien und Atopie . . . . . . . . . . . . . . . . 159
15.2
Epidemiologie der atopischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
15.3
Die genetische Grundlage der atopischen Trias . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
15.4
Pathophysiologie der allergischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
15.5
Atopisches Ekzem . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung des atopischen Ekzems Provokationsfakoren . . . . . . . . . . . . .
15.5.1 15.5.2 15.5.3
15.6 15.6.1 15.6.2
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
160 160 160 162
15.7 15.7.1 15.7.2
Allergische Rhinokonjunktivitis . . . . . . . . 163 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Behandlung der allergischen Rhinokonjunktivitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
15.8
Maßnahmen zur primären Prävention allergischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . 164
15.8.1 15.8.2 15.8.3 15.8.4
Stillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermeidung von Aktiv- und Passivrauchen Gabe von Probiotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hausstaubmilbenreduzierende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergenspezifische Immuntherapie . . . . . Haustierhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.8.5 15.8.6
164 165 165 165 165 166
Asthma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Behandlung des allergischen Asthmas . . . 162
XVII
Inhaltsverzeichnis
16
Anti-Aging-Medizin
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
C.M. Bamberger Testosteron – eine adäquate Therapie des altersbedingten Androgenmangels . . . . . . DHEA: Nur ein Prohormon oder Wunderwaffe gegen das Altern? . . . . . . . . . . . . . . Melatonin: Mehr als ein schwaches Schlafmittel? . . . . . . . . . . . . . . Wachstumshormon: Gibt es eine Indikation in der Anti-Aging-Medizin? . . . . . . . . . . . .
16.1
Anti-Aging: Versuch einer Definition . . . 167
16.3.2
16.2
Präventive Maßnahmen mit Anti-Aging-Wirkung . . . . . . . . . . . . . . 167
16.3.3
16.2.1 16.2.2 16.2.3
Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel 168 „Weiser“ Genussmittelkonsum . . . . . . . . . 168
16.3
Hormonsubstitution versus Hormontherapie: Was ist gesichert? . . . . . . . . . . 169
16.3.1
Östrogentherapie der postmenopausalen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
III
Spezielle Check-Up-Medizin
17
Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.3.4 16.3.5
170 170 171 171
174
H. Mück, M. Mück-Weymann
17.1
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
17.4
Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
17.2
Epidemiologie und Definition („Stresskrankheiten“) . . . . . . . . . . . . . . . . 175
17.5
Diagnostische Optionen und ihre Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
17.3
Patho-psycho-sozio-Physiologie . . . . . . . . 177
17.6
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 180
18
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
. . 184
W. Kindermann, S. Schwarz, M. Halle
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
18.1
Gesundheitsuntersuchung . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheits- und Sportanamnese Körperliche Untersuchung . . . . . Technische Diagnostikverfahren Belastungs-EKG . . . . . . . . . . . . . .
19
Impfstatus und Schutzimpfungen
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
184 184 185 185 190 190
18.2
Leistungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
18.2.1 18.2.2 18.2.3
Aktuelle Leistungsfähigkeit, Leistungsprognose und Trainingssteuerung . . . . . . . 193 Geeignete Ergometrieformen . . . . . . . . . . . 193 Feldtests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
18.3
Sportmedizinische Empfehlungen . . . . . 196
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
W. Jilg
19.1
Warum Schutzimpfungen? . . . . . . . . . . . 197
19.2
Grundlagen der Immunprophylaxe . . . . 198 Durchführung von Schutzimpfungen . . . . 198 Nebenwirkungen und Komplikationen . . . 199
19.2.1 19.2.2
XVIII
19.2.3 19.2.4
Impfungen in bestimmten Personengruppen bzw. Situationen . . . . . . . . . . . . . 200 Aufklärung vor Impfungen . . . . . . . . . . . . 200
Inhaltsverzeichnis
19.3
19.3.2 19.3.3
Standardimpfungen für Erwachsene . . . . . 202 Indikationsimpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . 202
19.3.1
Impfungen und Impfstoffe . . . . . . . . . . . 201 Standardimpfungen für Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
20
Reise-Arbeitsmedizin unter dem Einfluss des globalen Business
. . . . . . . . . . . 205
E. Stockmann
20.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
20.2
Ärztliche Vorsorge und Vorbereitung für berufliche Langzeitaufenthalte im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
20.3
Welche Aufgaben obliegen dem Arzt bei der Betreuung global tätiger Firmenangehöriger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
20.4
Gesundheitsrisiken im internationalen Business . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
21
Eignungstests in der Flugmedizin
20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4
Klima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landesspezifische Erkrankungen, Tropenkrankheiten . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . 208 . . . . . . . 209 . . . . . . . 209 . . . . . . . 210
20.5
Impfvorschriften und -empfehlungen . . 210
20.6
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
G. Kluge, R. Gerzer
21.1 21.1.1
21.2 21.2.1 21.2.2
22
Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . 213 Gesetzliche Anforderungen an den Flugmedizinischen Sachverständigen . . . . . . . . 213 Tauglichkeitsuntersuchung . . . . . . . . . . . 214 Ziel der Tauglichkeitsuntersuchung: Statuserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Epidemiologie und besondere Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Piloten . . . . 214
21.2.3 21.2.4 21.2.5
Mindestanforderung und Grenzen für die Flugtauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 215 Vorgehen bei der fliegerärztlichen ganzheitlichen Statuserhebung . . . . . . . . . 216 Eignungstests im Rahmen der Tauglichkeitsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Tauchtauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
C.-M. Muth, K. Tetzlaff
22.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
22.3
Art und Umfang der Untersuchung . . . . 220
22.2
Wichtige physikalische und physiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
22.4
Tauchtauglichkeitskriterien nach Organsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . 222
23
Verkehrsmedizin und Fahreignung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
B. Madea, F. Mußhoff
23.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
23.2
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
23.3
Allgemeine rechtliche Grundlagen . . . . . 234
23.4 23.4.1
Beurteilung der Fahreignung . . . . . . . . . 236 Fragestellungen für den behandelnden Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
XIX
Inhaltsverzeichnis
24
Präklinische Notfallmedizin
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
P. Sefrin
24.1
Notfallmedizin – Was ist das? . . . . . . . . . 240
24.2
Diagnostik der vitalen Funktionsstörung 240
24.3
Konsequenzen aus der Prüfung der Vitalfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
24.3.1 24.3.2 24.3.3
25
Bewusstlosigkeit bei erhaltener Atmung und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Bewusstlosigkeit mit erhaltenem Kreislauf ohne Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Bewusstlosigkeit ohne Atmung und ohne Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
24.3.4 24.3.5
24.4
Bewusstsein erhalten, Kreislauf insuffizient . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Bewusstsein erhalten, Atmung insuffizient 243
24.4.2
Erweiterte Reanimation . . . . . . . . . . . . . . 244 Kammerflimmern, pulslose ventrikuläre Tachykardie . . . . . . . . . . . . . . 244 Nichtkammerflimmern . . . . . . . . . . . . . . . 245
24.5
Beendigung der Reanimation . . . . . . . . . 246
24.6
Notfallmedizin – evidenzbasierte Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
24.4.1
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
H. Drexler
25.1
Definition der Arbeitsmedizin und Epidemiologie arbeitsbedingter Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
25.2.2 25.2.3
Primärprävention (technischer Arbeitsschutz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärprävention (medizinischer Arbeitsschutz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tertiärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung und Wirksamkeitsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25.2
Instrumente des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin . . . . . . . . . . . . . . 252
25.2.1
Gesetzlicher Arbeitsschutz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
26
Telemonitoring und elektronische Gesundheitskarte
25.2.4 25.2.5
. . . 252 . . . 252 . . . 256 . . . 256
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
M. Oeff
26.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
26.2
Anwendungsbereiche und Indikationen 260 Telemonitoring bei chronischer Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Telemonitoring bei Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
26.2.1 26.2.2
XX
26.2.3 26.2.4
Tele-EKG-Analyse beim akuten Koronarsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Telemonitoring bei anderen Erkrankungen 263
26.3
Die elektronische Gesundheitskarte . . . 264
Inhaltsverzeichnis
IV
Potenziale der Genomik
27
Gen-Chip-Technologie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
P. Cullen
27.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
27.3
27.2
Rolle von genetischen Faktoren bei der Atherogenese . . . . . . . . . . . . . . . . 268
27.2.1 27.2.2 27.2.3
Assoziationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . Kopplungsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . Rasterfahndung im Genom: Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen . . . . . . . Unterschiede in der Genkopienzahl: eine weitere Ebene der genetischen Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epigenetik: Das Genom ist nicht alles .
27.3.1 27.3.2 27.3.3
27.2.4
27.2.5
28
. . . 268 . . . 269
27.3.4
. . . 269
Was ist ein Genchip? . . . . . . . . . . . . . . . . Wie funktioniert ein Genchip? . . . . . . . . . Vorteile der Genchip-Analytik . . . . . . . . . . Probleme bei der Genchip-Analyse des Atheroskleroserisikos . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Verwendung von genetischen Markern zur Risikobestimmung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 270 271 271
272
27.4
Bedeutung der genetischen Risikofaktoren bei der Abschätzung des Atheroskleroserisikos . . . . . . . . . . . . . . . . 272
27.4.1
Genetische Polymorphismen und koronares Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
. . . 269 . . . 270
Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
L.S. Griffith
28.1
28.1.3 28.1.4 28.1.5
Fachbegriff Pharmakogenetik . . . Entstehung der Pharmakogenetik . Zentrale Fragestellung der Pharmakogenetik . . . . . . . . . . . Aussagekraft der Pharmakogenetik Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . . Metabolisierungstypen . . . . . . . . . .
29
Nutrigenomik
28.1.1 28.1.2
. . . . . . 275 . . . . . . 275 . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
275 276 276 276
28.2
Nutzen der pharmakogenetischen Genotypisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
28.3
Wie kann Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin genutzt werden? . . . 278
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
K. Riemann
29.1 29.2 29.2.1 29.2.2 29.2.3
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Nutrigenomik . . . . . . . . . . . . . Nutriepigenomik . . . . . . . . . . . Nutritranskriptomik . . . . . . . . . Weiterführende Interaktionen von Nahrungskomponenten . . .
. . . . . . . . . 280 . . . . . . . . . 281 . . . . . . . . . 281
29.3 29.3.1
Nutrigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Nahrungsmittelunverträglichkeiten . . . . . . 283
29.4
Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . 283
. . . . . . . . . 281
XXI
Inhaltsverzeichnis
V
Komplementäre Medizin
30
Ayurveda
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
E. Stapelfeldt
30.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
30.2
Grundelemente der Physiologie und Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . 287
30.3
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
30.4 30.4.1
Praxis der ayurvedischen Prävention . . . 288 Ursachenvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
31
Traditionelle Chinesische Medizin in der Check-Up-Medizin
30.4.2 30.4.3 30.4.4 30.4.5 30.4.6 30.4.7
Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phytotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manualtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Entspannung und psycho-emotionale Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
288 289 290 291 291
. . . . 292
. . . . . . . . . . . . . . . . 295
H. J. Greten
31.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
31.4
Symptome, Befunde, Verlauf . . . . . . . . . 298
31.2
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
31.5
Diagnostische Optionen . . . . . . . . . . . . . . 298
31.3
Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
31.6
Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 300
32
Prävention und Naturheilverfahren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
K. Kraft
32.1
Einführung und Definition . . . . . . . . . . . . 301
32.2
Leistungserbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
32.3
Diagnostische Optionen . . . . . . . . . . . . . . 302
32.4
In der Prävention einsetzbare naturheilkundliche Verfahren . . . . . . . . . 303
32.4.1 32.4.2
Allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Hydrotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
VI
Salutogenese und Lifestyle Coaching
33
Fitness, Bewegung und Sport
32.4.3 32.4.4 32.4.5 32.4.6
Ordnungstherapie . . Ernährungstherapie Bewegungstherapie Weitere Verfahren .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
303 304 304 305
32.5
Naturheilkundliche Präventionsstrategien bei verschiedenen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
S. Schwarz, M. Halle
33.1
Gesundheitsuntersuchung und „Training auf Rezept“ . . . . . . . . . . . . 310
33.2
Trainingsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
XXII
33.3
Praktische Durchführung . . . . . . . . . . . . . 310
33.4
Nach dem Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Inhaltsverzeichnis
34
Ernährung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
N. Worm
34.1
Ernährung und Evolution . . . . . . . . . . . . . 313
34.2.1
34.2
Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin . . . . . . . . . . . . . . 314
34.2.2
35
Psychosoziale Balance
Ernährungsabhängige Zivilisationskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Etablierte Ernährungsempfehlungen . . . . . 314
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
J. Siegrist
35.1
Definition und medizinische Bedeutung 323
35.3.4
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
35.2
Fördernde Bedingungen psychosozialer Balance (psychosoziale Schutzfaktoren) 324
35.4
Indikatoren gestörter psychosozialer Balance . . . . . . . . . . . . . . . 327
35.2.1 35.2.2 35.2.3 35.2.4
Sozialer Status . . . . Soziales Netzwerk . Soziale Reziprozität Zusammenfassung .
35.4.1
35.3
Hemmende Bedingungen psychosozialer Balance: Dauerstress und kritische Lebensereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Sozialanamnestische Hinweise im ärztlichen Gespräch . . . . . . . Symptomatik von Dauerstress . . Psychobiologische Indikatoren gestörter psychosozialer Balance Zusammenfassung . . . . . . . . . . .
35.3.1 35.3.2
Gewalt und Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Begrenzte Kontrolle in zentralen sozialen Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Begrenzte Belohnung in zentralen sozialen Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
35.3.3
36
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
Raucherentwöhnung
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
324 324 325 325
35.4.2 35.4.3 35.4.4
. . . . . . . . 327 . . . . . . . . 327 . . . . . . . . 327 . . . . . . . . 329
35.5
Stärkung psychosozialer Balance: Was können Ärzte beitragen? . . . . . . . . 330
35.5.1 35.5.2
Drei ärztliche Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 330 Unspezifische und spezifische Maßnahmen der Stressbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Weiterführende Maßnahmen . . . . . . . . . . 331
35.5.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
W. J. Kox, M. Hensel
36.1
Epidemiologie des Nikotinabusus . . . . . . 333
36.2
Mechanismen der Nikotinabhängigkeit . 334
36.2.1 36.2.2 36.2.3
Pathophysiologie der atherosklerotischen Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Pathophysiologie der Nikotinabhängigkeit 334 Definition der Tabakabhängigkeit . . . . . . . 335
36.3
Methoden zur Raucherentwöhnung . . . 335
36.3.1
Zielgruppen und Therapieziel . . . . . . . . . . 335
37
Alkohol und Alkoholismus
36.3.2 36.3.3 36.3.4 36.3.5 36.3.6
Stadien und Beratungsstrategie der Raucherentwöhnung . . . . . . . . . . Verhaltenstherapeutische Methoden . Medikamentöse Methoden . . . . . . . . Sonstige Methoden . . . . . . . . . . . . . . . Multimodale Behandlungskonzepte am Beispiel der Detox-N-Methode . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
336 337 337 338
. . . . 338
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
F. Kiefer, J. Mutschler
37.1
Ziel des Check-Ups: Vorbeugung eines gesundheitsschädlichen Alkoholgebrauchs und einer Sucht . . . . . . . . . . . 342
37.1.1
Schädlicher Konsum, Missbrauch, Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
37.1.2
Gibt es einen gesundheitsförderlichen Konsum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
37.2
Alkoholassoziierte Erkrankungen . . . . . . 343 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
37.2.1
XXIII
Inhaltsverzeichnis
37.2.2 37.2.3
37.3
Ätiopathogenese süchtigen Verhaltens: Was macht Alkohol zum Suchtmittel? . . . 344 Diagnostik von „schädlichem Konsum“, Missbrauch und Abhängigkeit . . . . . . . . . . 345
37.3.1
Alkoholentzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Indikationen und rechtliche Fragen zum qualifizierten Entzug . . . . . . . . . . . . . 347
38
Motivationspsychologie
37.3.2 37.3.3 37.3.4 37.3.5
37.4
Präventive und therapeutische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und Motivationsbehandlung Therapie der Alkoholabhängigkeit . . . . . . Rehabilitation (Rückfallprophylaxe) . . . .
. . . .
347 347 347 348
Evidenzbasierte Medizin und Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
C. Gawrilow
38.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Ansätze zur Veränderung von Verhalten . 352
38.3
Mental Contrasting und Implementation Intentions (MCII) als Interventionsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
38.4
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
38.2.2
Selbstregulationsansätze . . . . . . . . . . . . . 352 Theorie der Phantasierealisierung: mentales Kontrastieren . . . . . . . . . . . . . . . 352 Vorsätze: „Wenn-dann“-Pläne . . . . . . . . . . 353
VII
Wo und Wie – Nützliche Hinweise für die Check-Up-Medizin
39
Wichtige Adressen und Weblinks
38.1.1 38.1.2
38.2 38.2.1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
E. Gramenz
39.1
Informationen rund um die Check-Up-Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . 358
39.1.1 39.1.2
39.1.3
Spezifische Checks im Internet . . . . . . . . . 358 Hilfe zur Entscheidungsfindung, Vor- und Nachteile von Tests zur Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Check-Up-Zentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
39.2
Institutionen und Organisationen . . . . . 363
39.2.1
Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
40
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5 39.2.6 39.2.7
Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Fachgesellschaften . . . Fitnesszentren und Personal Trainer Ökotrophologen . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beratungsinstitutionen . . . . . . . . . . .
39.3
Medizin- und Gesundheitsportale . . . . . . 368 Allgemeine medizinische Information . . . . 368 Portale: Selbsthilfegruppen . . . . . . . . . . . . 368
39.3.1 39.3.2
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
363 363 366 366 367 367
. . . . . . . . 369
G. Schulz
40.1
Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM . . . . . . . . . . . . . . . . 369
40.1.1 40.1.2 40.1.3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Vorsorgeleistungen nach EBM . . . . . . . . . . 370 Leistungen im Bereich der Primärprävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . 376
40.2
Honorare verschiedener Check-UpLeistungen nach GOÄ . . . . . . . . . . . . . . . . 377
40.3
Lebensstilberatung und Coaching . . . . . 382
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIV
384
I
Vorbemerkungen
Einleitung
1
Einleitung U. Nixdorff
I II III IV V VI VII
It is easier to maintain good health through proper exercise, diet, and emotional balance than to regain it once it is lost. Kenneth H. Cooper, M. D., M. P. H. Gesundheit zählt zu den wichtigsten Voraussetzungen persönlichen Glücks. 99 % von 1048 Frauen und Männern zwischen 25 und 55 Jahren geben dies an, gefolgt von Liebe zu 78 %, Kindern zu 74 % und der Karriere zu 69 % [1]. Schon im alten China wurde der Krankheitsvermeidung eine grundsätzliche Bedeutung beigemessen, indem der Verdienst des Arztes am Anteil der Gesund-Gebliebenen und nicht der Krank-Gewordenen bemessen wurde. Im vorletzten Jahrhundert wurden in den Industrieländern fundamentale, populationsbasierte Präventionsleistungen (lat. prevenire = zuvorkommen) umgesetzt, indem durch die Einführung der Mikrobiologie und die Impfungen viele epidemisch-infektiöse Massenerkrankungen nahezu verschwunden sind. Durch den Wohlfahrts- und Sozialstaat der modernen Industriestaaten konnten existenzielle Notzustände (wie z. B. Hunger, Hygieneprobleme, Ausgrenzung armer Bevölkerungsschichten von sozialen und medizinischen Versorgungen) gebannt werden. Weiterhin besteht mittlerweile ein hoher Standard der Medizin mit effektiver Diagnostik und Therapie akuter Erkrankungen. Die Lebenserwartung ist damit hoch geworden (derzeit Männer 75 Jahre, Frauen 81 Jahre [2]) und ist weiter am Steigen (demografischer Wandel, der sozialpolitisch durch den Geburtenrückgang aggraviert wird). Die Reduktion der Letalität wird aber nicht notwendigerweise von einer Reduktion der Morbidität begleitet. Im Gegenteil nehmen chronische Krankheitsfolgen und -zustände (Krankheitslast) eher zu, die zu einem zunehmenden Verlust an Lebensjahren bzw gesundheitlich beeinträchtigten Lebensjahren führen (sog. DALY = Disability-adjusted life years). Die Medikalisierungsthese besagt, dass auch nicht gesunde Menschen bis in höhere Altersstufen überleben (Geriatrisierung und Multimorbidität). Chronische Leiden sind allerdings selbst durch moderne kurative Interventionen nur wenig zu beeinflussen, sodass alleine dadurch eine präventivmedizinische Aufforderung im Sinne einer Morbiditätskompression entsteht [3, 4]. Zudem besteht für die Menschen angesichts ihrer hohen Lebenserwartung der grundsätzliche Bedarf einer durchgehend hohen Lebensqualität, die wesentlich auf Gesundheit beruht. Die Definition geht durch die World Health Organization (WHO) bereits mit dem Jahre 1946 sehr weit: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin-
2
dens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen.“ Gesundes Leben im Bereich aller drei Lebensstilsäulen (Bewegung, Ernährung, Entspannung) ist eine Conditio sine qua non. Darüber hinaus sind die klinischen Erkenntnisse der Erfolgsträchtigkeit präventivmedizinischer Maßnahmen oder/und frühester Therapie bei Erhebung präklinischer Diagnosen nutzbar, um die genannten Ziele zu erreichen. Das gilt insbesondere bei den heute hervorragenden diagnostischen Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem hohen Maß an (patho-)physiologischem Wissen um Krankheitsentstehung und Gesunderhaltung (Salutogenese). Die moderne, individuelle präklinische Diagnostik wird auch als Check-Up-Medizin bezeichnet. Die MayoKlinik in Rochester (USA) hat vor mehr als 30 Jahren die neuen medizintechnischen Möglichkeiten aus der kurativen in die präventive Medizin transportiert, indem sie als eine der ersten Kliniken ein sog. „Executive Health Program“ aufgelegt hat. Neueste Daten der Mayo Clinic zeigen im Rahmen der durchgeführten Check-Up-Programme bei asymptomatischen Individuen die Feststellung eines Anteils von 4,9 % potenziell lebensbedrohlicher Erkrankungen, bei 34,4 % von zuvor nicht bekannten schwerwiegenden Erkrankungen und in 47,6 % zeigten sich Risikofaktoren ernsthafter Erkrankungen (Web1). Seit Kurzem liegen medikoökonomische Daten dieser Check-Ups vor, die ein „Return on investment“ (ROI) im Verhältnis von 2,3 : 1 aufweisen (vermiedene Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentung, Pflegebedürftigkeit als auch bei Führungskräften werthaltiger Ausfall von Projektund/oder Vertriebsarbeit, [5]).
Weblinks ● ● ●
Web1: http://www.mayoclinic.org/executive-health Web2: http://www.cooperaerobics.com/clinic Web3: http://www.cdc.gov/nchs
Ein weiterer Pionier in der wissenschaftlichen Check-UpMedizin ist Dr. Cooper, der ebenfalls vor mehr als 30 Jahren die Cooper Clinic, das Cooper Aerobic Center und das Cooper Institute in Dallas/Texas (USA, Web2) gründete und aus dessen Institutionen über 700 „peer-reviewed“ Originalarbeiten publiziert wurden. Diese Arbeiten belegen den Nutzen von untersuchungsbasierten Lebensstilveränderungen, indem z. B. bei einem großen Kollektiv von asymptomatischen Check-Up-Individuen (n = 10 224 Männer und n = 3120 Frauen) über einen langen Beobachtungszeitraum (8 Jahre) eine Reduktion
Einleitung
kardiovaskulärer tödlicher Ereignisse im Verhältnis 1 : 7 (gute vs. schlechte Fitness) nachgewiesen werden konnte [6]. Neben ca. 100 000 Check-Up-Klienten unterzieht sich auch der ehemalige amerikanische Präsident Bush hier einem regelmäßigen Check-Up. Für den Ausschluss oder die präklinische Erkennung von Erkrankungen ist die Kenntnis der relativen Prävalenzen wichtig. Das „Center of Disease Control and Prevention" (Web3) hat eine aktuelle, nach Mortalitätsraten geordnete Liste von Erkrankungen aufgestellt, wie sie in den USA gilt, aber auch in ähnlicher Weise für Europa anwendbar sein dürfte: 1. Herzkrankheiten 2. Krebs 3. Schlaganfall 4. chronische Erkrankungen der unteren Atemwege 5. unfallbedingte Verletzungen 6. Diabetes 7. Morbus Alzheimer 8. Influenza und Lungenentzündung 9. Nierenerkrankungen 10. Blutvergiftung Dies bedeutet, dass die wichtigste präventivmedizinische Aktivität im Bereich kardiovaskulärer Erkrankungen liegt. Hier hat sich diese ganz besonders auf die Pathogenetik der Atherosklerose mit den Folgen des Myokardinfarktes und Schlaganfalls zu fokussieren. Gefolgt wird dies von der Bedeutung der Krebsvorsorge, die in der Bevölkerung bereits eine breitbasigere Etablierung gefunden hat. Die Definition der Präventivmedizin stellt die CheckUp-Medizin in den Zusammenhang der sog. Sekundärprävention. Sie bezieht sich auf die Entdeckung eines eindeutigen (oft asymptomatischen) Frühstadiums einer Krankheit und deren erfolgreiche Frühtherapie. Demgegenüber definiert sich Primärprävention über eine generelle Vermeidung auslösender oder vorhandener Teilursachen (wie z. B. Risikofaktoren) bestimmter Erkrankungen. Sie setzt vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung ein. Gesundheitspolitisches Ziel ist die Senkung der Inzidenzrate oder der Eintrittswahrscheinlichkeit bei einem Individuum oder einer (Teil-) Population. Häufig ist Primärprävention auf die Lebenswelten und den Setting-Ansatz abgestellt (z. B. zahnärztliche Prophylaxe-Aktionen in den Schulen). Die Tertiärprävention kann im weiteren Sinne als wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkrankung mit dem Ziel verstanden werden, ihre Verschlimmerung oder Rezidivierung zu verhüten oder zu verzögern (z. B. Einstellung kardiovaskulärer Risikofaktoren zur Vermeidung eines Reinfarktes und/oder Progression einer postinfarziellen Herzinsuffizienz). Das vorliegende Buch hält an dieser Differenzierung dieser Termini technici fest, wenn auch andere klinische Autoren lediglich von Primär- und Sekundärprävention sprechen oder sogar ein komplettes Verlassen dieser Unterteilung aus pathophysiologischen Überlegungen vorgeschlagen haben. Man hatte das pa-
thophysiologische Kontinuum des Krankheitsgeschehens ins Auge gefasst, das eine Graduierung in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention entbehrlich mache. Allerdings unterscheiden sich die präventivmedizinischen oder/und therapeutischen Maßnahmen nach evidenzbasierten Kriterien derart, dass pragmatische Gründe für die Beibehaltung sprechen. Was berechtigt zu einem Buch, das zum ersten Mal den Bogen über sämtliche medizinischen Fachgebiete spannt, die anhand von vorliegenden Evidenzen oder zumindest reproduzierbaren Erfahrungen ihren Beitrag zu einer holistischen Check-Up-Medizin beitragen können? Gibt es eine Rationale für diese innovative Medizin des vermeintlich Gesunden, die derzeit höchstens ansatzweise in der gesetzlichen Regelversorgung berücksichtigt wird? Nach einer perspektivischen Studie des Unternehmensberaters Roland Berger steigen die privaten Gesundheitsausgaben seit dem Jahr 2000 durchschnittlich um 6 % [7]. Sie belaufen sich inzwischen auf ca. 900 € für jeden erwachsenen Deutschen – zusätzlich zu den Beiträgen zur Krankenversicherung. Dieser privat finanzierte, sog. sekundäre Gesundheitsmarkt umfasst mittlerweile ein Volumen von ca. 60 Milliarden € pro Jahr. Die Marktforschung von Roland Berger erbrachte, dass die Menschen bereit sind, künftig noch durchschnittlich 27 % mehr Geld für ihre Gesundheit auszugeben. Das Wachstumspotenzial beträgt demnach weitere 16 Milliarden EUR. Die Bereitschaft ist vorhanden, noch fehlen aber die passenden Angebote, um tatsächlich mehr für die Gesundheit auszugeben [7]. Die eigene Gesundheit zu erhalten, ist ein menschliches Grundbedürfnis, verwandt dem Überlebenstrieb. Nicht nur die Neujahrsgrußkarten zeigen es immer wieder: Gesundheit steht auf der Wunschliste der Menschen ganz oben [1]. Dies schafft eine breite Basis für den Konsum im sekundären Gesundheitsmarkt. Eine Studie der Hypovereinsbank [3] spricht vom „Ich-Patienten“, der sich von der „Gesundheitsplanwirtschaft“, die von Budgetierung, Regulierung und Rationierung gekennzeichnet ist, dem „Gesundheitsschwarzmarkt“ zuwendet, der ein überdurchschnittliches Wachstumspotenzial in sich trägt. Dieser Tatbestand wird in der allgemeinen, öffentlich geführten gesundheitspolitischen Diskussion übersehen, die einseitig auf die Frage der Finanzierbarkeit und Kostensenkung abgestellt wird. Es geriet die Tatsache aus dem Blick, dass das Gesundheitswesen die größte Wachstumsbranche unserer Volkswirtschaft bildet. Im Bewusstsein der Menschen wandelt sich das Gesundheitswesen von einer über Lohnnebenkosten befriedeten Kostenstelle zu einer florierenden Wirtschaftsbranche mit garantiertem Wachstum [8]. Getrieben von diesem Bewusstseinswandel kommt Bewegung in das bisher starre und überregulierte Gesundheitswesen. Krankenhäuser, Krankenversicherungen, neue Gesundheits- und Versorgungszentren als auch die Gesundheitskunden selbst beginnen, Gestaltungsmöglichkeiten selbstbestimmten Handelns zu
3
1
Einleitung
I II III IV V VI VII
nutzen und sukzessive auszuweiten. Patienten verlieren die Geduld (lat. patiens = der Leidende/Erduldende) und werden zu aufgeklärten Gesprächspartnern auf horizontaler Ebene mit den medizinischen Dienstleistern. Dies wird durch die plastischen Aussagemöglichkeiten der modernen bildgebenden Diagnostik (z. B. dreidimensionale Darstellung der anatomischen Strukturen und physiologischen Funktionen in der modernen Bildgebung wie Magnetresonanztomografie = MRT, Echokardiografie, bei indizierter Rechtfertigung Mehrschicht-Computertomografie = MSCT), die heute oft direkt dem Untersuchten als CD-ROM inkl. DICOM-Viewer zur Wiedergabe auf jedem üblichen PC in die Hand gegeben werden, als auch der Informationstransparenz des Internets gefördert. Auch Kommunikationstechnologien wie das individuelle, elektronische Gesundheitsportal, das webbasiert orts- und zeitunabhängig alle Gesundheitsdaten zur Verfügung stellt, als auch das Telemonitoring bei Risikokonstellationen führt zu einer Horizontalisierung der Beziehung von medizinischen Dienstleistern und Gesundheitskunden (E-Health). Daten und Informationen zur eigenen Gesundheit befinden sich in der eigenen Obhut und Verwaltung, so wie man grundsätzlich sein eigenes Leben führt und präventivmedizinisch indizierte Lebenstilmodifikationen nur selbst proaktiv umzusetzen kann. Dieser Paradigmenwechsel ist wahrscheinlich der Treiber des nächsten „Kondratjew-Zyklus“. Am Anfang eines solchen Zyklus stehen bedeutende Innovationen, die einen signifikanten Aufschwung der Volkswirtschaft bewirken. So hat die Dampfmaschine die Industrialisierung eingeleitet und die Informationstechnologie das Informationszeitalter [8]. Es geht schließlich um einen Paradigmenwechsel im generellen Gesundheitswesen. Prävention betrifft alle. Das kurative „Reparaturangebot“ des bestehenden Gesundheitswesens wird durch präventive Medizin ergänzt [9]. Ein Großteil der vorhandenen Vorsorgeangebote wird derzeit von Experten noch als stark verbesserungswürdig, ferner die Teilnahmeraten durchgehend als zu gering bewertet. Von den ca. 10 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP), die für Gesundheit aufgewendet werden, entfällt derzeit lediglich ein Anteil von ca. 1 % auf Prävention. Dies kontrastiert mit einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahre 2006, in der prinzipiell 86 % der Menschen Vorsorgeuntersuchungen als sehr wichtig ansehen [10]. Gründe liegen zum einen an der individuellen Einstellung gegenüber medizinischen Dienstleistungen, die historisch seit der Sozialgesetzgebung durch Otto von Bismarck im ausgehenden 19. Jahrhundert von einem passiven Versorgungsdenken geprägt sind. Nach dem aktuellen Sozialgesetzbuch § 20 (Prävention und Selbsthilfe) sind allerdings nur einige wenige, elementare Leistungen von der gesetzlichen Kostenübernahme gedeckt (Ausnahme sind im internationalen Vergleich die als „gut“ bis „sehr gut“ bewertete Schwangerschaftsvorsorge und die Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter [9]). Die deutsche versorgungsorientierte Einstellung ist in anderen Ländern wie der
4
Schweiz oder den USA nicht in dieser Form bekannt, wo immer schon die Eigenverantwortung gegenüber der Gesundheit einen größeren Stellenwert hatte. Andererseits besteht noch eine eingeschränkte Kenntnis und Kommunikation der modernen und professionellen Check-UpAngebote und deren Möglichkeiten. Die Vermittlung solcher Informationen, zunächst im ärztlichen Bereich, ist Ziel des vorliegenden Buches. Darüber hinaus besteht aber in den nächsten Jahren noch dringender Bedarf einer ausreichenden Qualitäts- und Erfolgskontrolle sowie von Kosten-Nutzen-Analysen. Wünschenswert wäre zudem die zukünftig stärkere Berücksichtigung der Vorsorgemedizin im Curriculum der medizinischen Studiengänge, wenn auch in der neuen Approbationsordnung vom 3.7.2002 Einzelleistungsnachweise im Querschnittsbereich 10 „Prävention, Gesundheitsförderung“ abverlangt werden, die aber andererseits noch von den Studienordnungen der einzelnen Universitäten unterschiedlich gestaltet werden. Prinzipiell erkennt die (Gesundheits- und Wirtschafts-) Politik die Notwendigkeit eines Strukturwandels im Gesundheitswesen, da die steigenden Kosten des medizinischen Qualitätszuwachses und der demografische Wandel eine konventionell hergebrachte Versorgung im Sinne einer umlagenfinanzierten Sozialgesetzgebung nicht mehr darstellen kann. Ein Eckpunkteprogramm zur Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung (als 4. Säule neben Heilung, Pflege und Rehabilitation) wurde im September 2004 von Bund und Ländern vorgelegt (Präventionsgesetz), wurde aber im März 2005 vom Bundesrat als überarbeitungsbedürftig abgelehnt. Seither steht trotz Einbindung des Vermittlungsausschusses und erheblicher parteipolitischer Diskrepanzen der Regierungsentwurf aus. Unabhängig davon sind die Inhalte des Präventionsgesetzes unter vorwiegender Einbindung der Sozialversicherungsträger auf die Lebenswelten und den Setting-Ansatz abgestellt (Primärprävention) und weniger auf die in diesem Buch dargestellte individuelle Check-Up-Medizin (Sekundärprävention). Daher geht die Vision gesundheitsvorsorgender, medizinischer Dienstleistungen auf der Basis der Check-Up-Medizin zumindest kurz- und mittelfristig zu ganz neuen und innovativen Ansätzen, wie z. B. hin zum Ausbau heutiger Urlaubsclubs und Wellnesshotels zu echten Gesundheitsressorts, in denen das klassische Freizeit- und Unterhaltungsangebot um verschiedenste Angebote der Gesundheitsberatung bis hin zu hochqualifizierter Gesundheitsdiagnostik ergänzt wird. Große Universitätskliniken und Präventivzentren denken über die Einrichtung von Wellnessbereichen und Spas nach, die gehobenes Ambiente mit medizinischen Diagnostik- und Versorgungsleistungen verbinden (Präventionsprogramme). Die Anbieter kommen damit dem Bedarf entgegen, der sich eher im Lifestyle-Bereich, denn in herkömmlichen Praxen und Kliniken konstituiert. Zukunftsforscher sehen nicht erst heute einen neuen Lebensstil, der sich um Gesundheit und Nachhaltigkeit zentriert (LOHAS =
Einleitung
Lifestyle of Health and Sustainability). Die Menschen kombinieren Lifestyle, Genuss, Umweltverträglichkeit, Familie und Karriere mit Gesundheit. Es werden schon heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung der westlichen Länder zu den LOHAS gezählt, mittelfristig wird die Hälfte der Bevölkerung prognostiziert [11]. Entsprechende Angebote könnten Reiseveranstalter, die Gastronomie und Krankenversicherungen auch gemeinsam vermarkten. Arbeitgeber könnten solche Angebote als Incentives für ihre Mitarbeiter nutzen, um deren Arbeitskraft zu erhalten [8]. Die Arbeitgeber könnten dies fördern, indem sie einen Teil der Gehälter oder von Jahresprämien in Form von „Gesundheit“ auszahlen („Medical Savings Accounts“). Auch bei diesen Ideen denkt man bereits über die Umsetzung nach, wie z. B. bei der Deutschen BKK in Wolfsburg. Andererseits wird die Eigenverantwortung mehr und mehr steigen. So wie man regelmäßig seinen PKW ohne vorliegende Funktionsdefekte vorsorglich zur Kfz-Inspektion bringt und den Status im Checkheft dokumentieren lässt, so wächst derzeit das Bewusstsein, auch seinen eigenen Körper einer regelmäßigen Check-Up-Untersuchung zu unterziehen. Essenziell kommt mit zunehmender beruflicher Herausforderung als auch zunehmender Lebenserwartung zu Bewusstsein, dass Gesundheit zwar nicht alles ist, aber ohne Gesundheit alles nichts ist. Der steigende Anteil neuer diagnostischer und therapeutischer Methoden insbesondere im Zusammenhang der Check-Up-Medizin wird zwar zunehmend, aber nicht nur von kostentragenden Dritten (Privat-, Ersatz- und gesetzlichen Krankenkassen, Arbeitgebern, öffentlich-rechtlichen Institutionen) übernommen, sondern auch privat bezahlt werden (individuelle Einkommen und private Ersparnisse). Aufwendungen für Gesundheit werden zu einer Konsumausgabe, die andere Konsumgüter wie Urlaub, Haus und (zweites und drittes) Auto verdrängen. Weite Teile der Bevölkerung sind finanziell durchaus in der Lage, ihre Konsumausgaben entsprechend zu verschieben [8]. So wenig solidarisch dies zunächst erscheinen mag, so gilt es Folgendes zu bedenken: Die privat bezahlenden Erstnutzer ermöglichen die Finanzierung der Innovation. Nach einigen Jahren treten die bei jeder industriellen Produktion bekannten Lern- und Skaleneffekte auf, die Preise sinken und die Innovation wird für jedermann erschwinglich – wie das Beispiel des Airbags zeigte.
Literatur 1.
Umfragestudie zu Aspekten des Lebensglücks durch das Meinungsforschungsinstitut Gewis im Auftrag der Frauenzeitschrift „Für Sie“ (2004).
2.
Bevölkerung Deutschlands bis 2050. Statistisches Bundesamt, verfügbar unter http://www.destatis.de. Heigl A. Gesundheitsmarkt 2013. München: Hypovereinsbank; 2003. Klotz T, Haisch J, Hurrelmann K. Ziel ist anhaltend hohe Lebensqualität. Nur mit der Umsetzung präventiver Strategien können die sozialen und ökonomischen Herausforderungen des veränderten Krankheitsspektrums bewältigt werden. Dtsch Ärztebl 2006; 103:B519B521.
3. 4.
5.
Burton WN, Chen CY, Conti DJ et al. The value of the periodic executive health examination: experience at Blank One and summary of the literature. J Occup Environ Med 2002; 44 : 737-44.
6.
Blair SN, Kohl HW, Paffenbarger RS et al. Physical fitness and all-cause mortality. A prospective study of healthy men and women. JAMA 1990; 263 : 2047-8.
7.
Kartte J, Neumann K. Der Zweite Gesundheitsmarkt. Die Kunden verstehen, Geschäftschancen nutzen. München: Roland Berger, Strategy Consultants; 2007.
8.
Kartte J. Innovation und Wachstum im Gesundheitswesen. München: Roland Berger, Strategy Consultants; 2004.
9.
Booz, Allen, Hamilton, Felix-Burda-Stiftung. Von der Reaktion zur Prävention – Leitbild für eine moderne Gesellschaft. München 2005.
10. MLP Gesundheitsreport 2006, durchgeführt durch das Institut für Demoskopie Allensbach, verfügbar unter http:// www.mlp-gesundheitsreport.de. 11. Kirig A, Rauch C, Wenzel E. Zielgruppe LOHAS. Wie der grüne Lifestyle die Märkte erobert. Kelkheim: Zukunftsinstitut GmbH; 2007.
5
1
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis W. Blank
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II ●
III
●
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●
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●
VI ●
VII
Das Wichtigste in Kürze Als Ansprechpartner in Gesundheitsfragen integriert der Hausarzt neben der kurativen und rehabilitativen Funktion die Prävention in seinem Betreuungs- und Versorgungskonzept. Von Vorsorge- und Screening-Untersuchungen profitieren insbesondere Menschen mit Risikofaktoren. Ziel des Arztes ist es, diese Patientengruppen zur Vorsorge zu motivieren. Die vielen Gesunden nicht unnötig als krank und die wenigen Kranken nicht fälschlicherweise als gesund zu benennen, ist der Anspruch an den Arzt. Präventionsmaßnahmen müssen deshalb von Arzt und Patient streng nach individuellem Nutzen/Risiko-Verhältnis betrachtet werden. Die Beratung zu lebensverändernden Maßnahmen nimmt einen zentralen Stellenwert ein, weitere spezialistische Untersuchungen oder medikamentöse Interventionen können darüber hinaus erwogen werden. Aufgabe des Hausarztes und seines Teams ist es, den Patienten im Rahmen seiner Veränderungsbereitschaft kompetent zu beraten und langfristig in seinem veränderten Gesundheitsverhalten zu unterstützen.
Tabelle 2.1 Prävention aus Sicht des Gemeinsamen Bundesausschusses [1]. Mit Früherkennungs- bzw. Screening-Untersuchungen sollen Krankheiten in einem Vor- oder asymptomatischen Stadium entdeckt werden, wenn sich Teilnehmer noch als gesund betrachten. Durch die zeitlich vorverlagerte Diagnose sollen eine erfolgreichere Therapie ermöglicht und eventuelle Komplikationen vermieden werden. Ziel von Früherkennungsuntersuchungen ist die Reduzierung der bevölkerungsbezogenen Mortalität und Morbidität der entsprechenden Krankheit und die Erhöhung der Lebensqualität. Der Nutzen von Früherkennungsprogrammen wird in der internationalen Literatur in der Regel an der Erreichung dieser Ziele in der Bevölkerung gemessen. Bei der Prävention soll es sich um Krankheiten handeln, die wirksam behandelt werden können, ● soll das Vor- oder Frühstadium dieser Krankheiten durch diagnostische Maßnahmen erfassbar sein, ● sollen die Krankheitszeichen medizinisch technisch genügend eindeutig erfassbar sein, ● sollen genügend Ärzte vorhanden sein, die die Verdachtsfälle untersuchen und behandeln können. ●
Nach § 20 VerfO (Verfahrensordnung) muss in jedem individuellen Fall eine Nutzen-Schaden-Abwägung erfolgen.
2.1.1
2.1
Gesundenberatung: Prävention und Therapie
Die Evidenz für viele präventive Maßnahmen ist umstritten. Dennoch kann der Hausarzt durch die Anwendung ausgesuchter Verfahren bei Risikogruppen erhebliche Erfolge erzielen. Der Hausarzt muss im Rahmen der symptomorientierten Beratung in der täglichen Praxis auf hohem Niveau effizient und kompetent arbeiten. Dies macht eine Konzentration auf medizinisch sinnvolle und gesellschaftlich geboten erscheinende Präventionsmaßnahmen notwendig, damit möglichst viele der von ihm betreuten Patienten einen nachweisbaren Nutzen haben (Tab. 2.1).
6
Problematik der Präventivmedizin in der Hausarztpraxis: Die „Gesundenuntersuchung“
Die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis muss unter der Prämisse erfolgen, dass es sich bei den zu Untersuchenden um in ihrer überwiegenden Zahl gesunde, und nur zu einem geringen Anteil um kranke, jedoch gesund scheinende Menschen handelt. Letztere profitieren möglicherweise vom Screening, Erstere haben davon keinen Vorteil. Bei falsch positiven Befunden werden Gesunde sogar fälschlich für einen unbestimmten Zeitraum als krank bezeichnet – mit der daraus folgenden psychischen Verunsicherung – und nebenwirkungsbehafteten Untersuchungen oder Therapien zugeführt. Hier liegt das nicht zu unterschätzende gesundheitliche Risiko der primär ungefährlichen Screening-Untersuchungen. Die Notwendigkeit, die Gruppe der Untersuchten auf mögliche Risikopatienten einzugrenzen, macht die Intervention komplex und vielschichtig. Gelingt es, mögliche Risikogruppen zu erreichen, steigert dies nicht nur die Effektivität der eingesetzten Präventionsmaßnahmen für den Patienten, sondern führt zu
Gesundenberatung: Prävention und Therapie
einem effektiven Nutzen der in der Hausarztpraxis knappen Ressource „Zeit“. Unabdingbar ist es auch, aus den erhobenen Befunden Konsequenzen zu ziehen, die das bestehende Risiko bzw. die entdeckte Erkrankung konsequent und effektiv behandeln helfen. Gefordert sind hier oftmals langfristige Beratungs- und Behandlungsstrategien des gesamten Praxisteams.
2.1.2
Arbeit des Hausarztes
Prophylaxe, kurative Betreuung, Nachsorge und Rehabilitation sind in der Allgemeinmedizin besonders augenfällig verschmolzen. Darin kommt ihre integrative Funktion zum Ausdruck [2]. Der Hausarzt überblickt neben der individuellen Krankengeschichte den biopsychosozialen Hintergrund des Patienten und seiner Familie – oft über verschiedene Lebensabschnitte hinweg. Diese Kennerschaft ermöglicht es ihm, individuelle Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen. Die daraus folgende medizinische Beurteilung und Beratung bislang asymptomatischer Menschen mit dem Ziel, modifizierbare Risikofaktoren für eine Erkrankung zu minimieren und/oder therapierbare Krankheiten in einem latenten, d. h. klinisch nicht manifesten Stadium zu erfassen, stellt eine Herausforderung an die Kompetenz des Arztes dar [3]. Die Kernaufgaben des präventiv arbeitenden Arztes sind (s. a. Tab. 2.2): ● Fokussierung auf die Patientengruppen, die von Prophylaxe profitieren können ● Durchführen von Untersuchungen, die individuell erfolgversprechend scheinen ● Ziehen von Konsequenzen aus den erhobenen Befunden Tabelle 2.2 Präventivmedizinische Ansätze in der Allgemeinmedizin [4]. ●
primäre Prävention: Maßnahmen zur Verhütung des Auftretens von Krankheiten: – Impfungen – Unterstützung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen (Bewegung, Sport, Ernährung, Stressverarbeitung) – Vermeidung krankheitsauslösender Faktoren (Rauchen, Drogen, Alkohol, Übergewicht, Mangelernährung) ● sekundäre Prävention: Früherkennung bereits bestehender Erkrankungen → Screening-Untersuchungen: – Check-Up – Krebsfrüherkennung – Kindervorsorgen ● tertiäre Prävention: Maßnahmen zur Verhinderung des Fortschreitens von Erkrankungen: – Rehabilitationsmaßnahmen – Koronarsportgruppen, Diabetikersport – Wiederherstellen des weitgehenden Wohlbefindens nach Erkrankung
●
langfristiges Begleiten des Patienten im Rahmen der indizierten prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen
2.1.3
Einleiten einer präventiven Maßnahme
Die Leistung des Hausarztes besteht darin, einerseits im routinemäßigen, aus kurativem Anlass begonnenen Patienten-Arzt-Kontakt mögliche Risikofaktoren zu erheben, andererseits Patientengruppen mit Risikofaktoren gezielt zu effektiven Vorsorgemaßnahmen zu motivieren. Das Patienten-Arzt-Gespräch besitzt eine zentrale Bedeutung. Lebensgewohnheiten, Einstellung und Haltung des Patienten zu Gesundheit und Krankheit sowie Hinweise auf bestehende Risikofaktoren können bereits im Rahmen der Anamnese erhoben werden. Damit ist eine individuelle, schwerpunktorientierte Beratung zur gesundheitsfördernden Gestaltung der Lebensbedingungen möglich. Das Gespräch kann das Verständnis für prophylaktische und therapeutische Maßnahmen fördern und regt den Patienten zur Mitarbeit an. Prophylaxe umfasst in diesem Rahmen die aktive Gestaltung gesundheitsrelevanter Mensch-Umwelt-Beziehungen [2]. Ebenso sollten gezielt Patienten und Patientengruppen angesprochen werden, die von präventiven Maßnahmen profitieren. Das Erinnern aller Diabetiker an die Grippeimpfung oder das Erstellen eines kardiovaskulären Risikoprofils bei Rauchern stellt eine derartige Fokussierung dar.
2.1.4
Bewertung des generellen und individuellen Nutzens durch Arzt und Patienten
Der Nutzen von Screening- und Früherkennungsuntersuchungen ist für jeden Patienten individuell zu betrachten. Die Untersuchung des sich als gesund empfindenden Menschen erfordert vom behandelnden Arzt ein höchstes Maß an Rücksichtsnahme, um aus ihm nicht fälschlicherweise einen kranken Menschen zu machen. Unnötige oder unwirksame Interventionen müssen vermieden werden. Andererseits erwarten tatsächlich Erkrankte oder Risikopatienten, dass eine Vorsorgemaßnahme ihnen greifbare Vorteile hinsichtlich Lebensqualität und Lebenszeit bringen wird. Prävention birgt somit nicht unerhebliche Risiken für den Patienten. Die Nutzen-/Schaden-Relation der am Gesunden durchgeführten Maßnahme muss zwischen Patient und Arzt intensiv diskutiert werden. Anhaltspunkte hierfür sind: ● Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Erkrankung ● Wahrscheinlichkeit, diese Erkrankung zu entdecken ● Wahrscheinlichkeit, trotz auffälligem Testergebnis doch gesund zu sein
7
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
● ●
Möglichkeiten der Behandlungen der festgestellten Erkrankung Auswirkungen auf die Lebensqualität und Lebenserwartung durch eine frühzeitige Diagnose
VI
Ein Nutzen regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen kann in wissenschaftlichen Untersuchungen evaluiert werden. Die Bewertung mit wissenschaftlichen Daten allein darf allerdings nicht genügen. Sie ist einerseits durch eine gesellschaftspolitische Diskussion und anderseits im Einzelfall durch das Gespräch zwischen Patientin und Arzt zu ergänzen [3]. Die Beratung darf nicht euphorisch und unreflektiert, sondern muss kritisch erfolgen. Der Arzt kann gerade hier den Grad seiner geistigen Entwicklung und seines anerzogenen Denkvermögens unter Beweis stellen, wenn er eine wissenschaftlich fundierte, selbstständig und kritisch denkende Individualität zeigt [5]. Patienten müssen aktiv in die Entscheidung einbezogen werden. Nach Abwägen aller Vor- und Nachteile einer Intervention kann sich zeigen, dass Früherkennung nicht von vornherein besser ist als Zuwarten, wenn auch mögliche Vorteile einer „Späterkennung“ in Betracht gezogen werden. Ein individueller Entscheid gegen Früherkennung oder ein Risikofaktoren-Screening kann dann angesichts des oft fraglichen Gesamtnutzens auch als vernünftig gelten [6].
VII
2.1.5
I II III IV V
Nutzen und Risiken einer Früherkennungsuntersuchung
Nutzen entsteht erst, wenn erwünschte Wirkungen die unerwünschten Wirkungen überwiegen [6]. Der Nutzen einer Vorsorgeuntersuchung scheint naheliegend: Eine Erkrankung wird in einem Frühstadium erkannt, adäquat behandelt und erfolgreich therapiert. Es wird erwartet, dass der Patient durch eine bessere Lebensqualität und/ oder eine längere Lebenszeit profitiert. Deutschland hat international eines der ältesten und umfangreichsten Früherkennungsprogramme. Dennoch gibt es zu vielen, seitdem durchgeführten Maßnahmen nur unzureichende oder widersprüchliche Evidenz. Der gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen fordert deshalb einen soliden Nachweis dafür, dass die Vorteile der Früherkennungsuntersuchung so hoch sind, dass gesundheitliche Nachteile und Risiken, die der Versicherte nach individueller Abwägung mit der Teilnahme akzeptiert, demgegenüber deutlich zurücktreten. Für jede Untersuchung sollte objektiv eine positive Nutzen-Schaden-Bilanz möglich sein [7]. Das Abwägen für oder wider eine Präventionsmaßnahme sollte folgende Stichpunkte umfassen: ● gesundheitspolitisch [7]: – Mortalitätsreduktion: Kann die Erkrankungshäufigkeit dahingehend beeinflusst werden, dass eine verbesserte Prognose bei einem relevanten Anteil der
8
●
erkrankten Personen zu erwarten ist – auch bei der Entdeckung von noch ungefährlichen potenziellen Vorstufen der Erkrankung? – Number needed to screen (NNS): Wie viele Personen müssen über einen gewissen Zeitraum an der Früherkennungsmaßnahme teilnehmen, damit ein einziger durch die Zielerkrankung bedingter Todesfall verhindert wird? Bei seltenen Erkrankungen ist dieser Personenkreis wesentlich größer als bei häufigen Erkrankungen. individuell [6, 7]: – Risiken des Testverfahrens: Wie gefährlich ist das Screening-Verfahren an sich und die nicht angebrachte weitere Diagnostik bei fälschlich als krank erfassten Personen? – längere Morbiditätsphase mit unveränderter Prognose: Es ist als Nachteil zu verstehen, wenn die Vorverlegung der Diagnosestellung ohne Beeinflussung der Mortalität bleibt. Der Patient weiß lediglich länger, dass er erkrankt ist, ohne auf die Krankheit Einfluss nehmen zu können („Gnade der späten Diagnose“). – unnötige Behandlung einer vorliegenden Erkrankung, an der der Patient nicht sterben wird: Dem Postulat der Früherkennung einerseits muss in anderen Fällen das Postulat der „Späterkennung“ gegenübergestellt werden. Eine nützliche und subtile Medizin besteht in der Kunst, möglichst viele Patienten mit okkultem Krebs eine Diagnose mit entsprechender Therapie zu ersparen, wenn die Chance groß ist, dass sie an anderen Erkrankungen sterben werden. – Überdiagnostik und -behandlung fraglicher Befunde: Beim Screening werden unweigerlich viele „verdächtige“ Personen herausgefiltert, bei denen die gesuchte Krankheit gar nicht vorliegt oder im weiteren Verlauf nicht symptomatisch geworden wäre. Trotzdem werden sie einer weiteren Diagnostik (mit deren eigenen Risiken) unnötigerweise zugeführt. Diese Unterscheidung in therapiebedürftig oder nicht ist für Arzt und Patienten oft nicht ohne Weiteres möglich, sodass es zur Therapie mit allen damit verbundenen Komplikationsmöglichkeiten und Risiken kommt. – fälschliche Vermittlung von Sicherheit für Teilnehmer mit falsch negativem Befund: Keine Früherkennungsmaßnahme kann sicher alle Erkrankten als krank und alle Gesunden als gesund identifizieren. Es resultieren zwei Gruppen: Eine sehr große Gruppe mit einer sehr kleinen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Zielkrankheit und eine sehr kleine Gruppe mit einer relativ großen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Erkrankung.
Der Anteil der falsch Negativen kann nur bis zu einem bestimmten Wert reduziert werden. Hinsichtlich der Wertigkeit der diagnostischen Ergebnisse haben die im Folgenden beschriebenen statistischen Begriffe ihre Bedeutung.
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Sensitivität. Maß für die Fähigkeit eines Tests, Kranke tatsächlich als krank zu identifizieren bzw. den Anteil der erkrankten Menschen zu bestimmen, die aus der Gesamtzahl aller Erkrankten als krank erkannt werden. Spezifität. Maß für die Fähigkeit eines Tests, Gesunde tatsächlich als gesund zu identifizieren. Anteil der gesunden Menschen, die aus der Gesamtzahl aller Gesunden als gesund erkannt werden. Prätest-Wahrscheinlichkeit. Die geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient an einer gewissen Krankheit leidet, bevor Zusatzinformationen aus einem diagnostischen Test vorliegen. Die Prätest-Wahrscheinlichkeit wird geschätzt aus der Prävalenz der Erkrankung für die betreffende Altersgruppe, anamnestischen Daten (z. B. Risikofaktoren) sowie aus den Befunden der klinischen Untersuchung. Ist beim Patienten die vorliegende Erkrankung nicht gefunden worden, wiegt er sich fälschlicherweise in Sicherheit und wird womöglich bei ersten Anzeichen einer Veränderung des Gesundheitszustandes diese Signale bagatellisieren. „Ich war ja erst bei der Vorsorgeuntersuchung, da war alles in Ordnung, es wird schon nichts Gefährliches sein, was ich da spüre“ [5]. Generell abgefasste Screening-Empfehlungen werden dem Patienten oft nicht gerecht. Mit dieser Einsicht gerät die Früherkennungsmedizin in ein kompliziertes und für den Hausarzt interessantes Spannungsfeld [6].
2.1.6
Abschließende Betrachtung
Screening-Maßnahmen müssen verschiedenen objektiven Nutzen-/Schaden-Kriterien entsprechen. Unreflektiertes Untersuchen bringt weder dem Individuum noch der Gemeinschaft einen Vorteil. Vielmehr muss nach Abwägen der Risiken vor dem Hintergrund der individuellen Situation des gesunden Untersuchten durch eine neutrale Information – unter Berücksichtigung seiner individuellen Sorgen und Ängste – eine Entscheidung über die verschiedenen Untersuchungsformen getroffen werden. Diese kann in jedem Einzelfall unterschiedlich ausfallen und spiegelt damit die in der EbM postulierte Entscheidungsfindung aus externer Evidenz (Wissen aus Studienlagen), ärztlichen Fähigkeiten und Erfahrungen und den individuellen Erfahrungen und Präferenzen der Patienten wider [28]. Eine Entscheidung gegen eine Screening-Maßnahme kann unter diesem Aspekt möglicherweise sinnvoll sein.
2.2
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Die in der Hausarztpraxis durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen umfassen sowohl die im Rahmen des aktuellen einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) vorgesehenen als auch sog. „individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeL), die von Praxen je nach Schwerpunkt und Interesse angeboten werden (Tab. 2.3). Der „Markt“ für Präventionsleistungen ist groß. Laut Präventionsbericht 2007 der Spitzenverbände der Krankenkassen bauten die gesetzlichen Krankenkassen 2006 die Prävention und Gesundheitsförderung aus. Mehr als 3 Millionen Patienten – v. a. junge Menschen – nahmen allein 2006 an Maßnahmen zu Bewegung, ausgewogener Ernährung und Stressbewältigung teil [8]. Einige der in Tab. 2.3 aufgezählten Präventionsmaßnahmen sollen in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
2.2.1
Der Gesundheits-Check-Up
Der Check-Up stellt die häufigste präventive Untersuchung in der Hausarztpraxis dar. Er gilt für Frauen und Männer ab dem vollendeten 35. Lebensjahr und kann alle zwei Jahre in Anspruch genommen werden. Erkannt werden sollen v. a. Herz- und Kreislauferkrankungen, Nierenerkrankungen, Diabetes mellitus und deren relevante Risikofaktoren. Die Untersuchung umfasst Erkrankungen, die behandelbar bzw. erfassbar sind. Dies soll dazu führen, dass ● auffällige Verdachtsfälle eingehend diagnostiziert werden,
Tabelle 2.3 Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis. ●
Präventionsmaßnahmen (EBM): – Gesundheits-Check-Up – Kindervorsorge – Jugendvorsorgeuntersuchung J1 – Krebsvorsorge Mann – Krebsvorsorge Frau – Hautkrebs-Screening (seit 01.07.08) – Darmkrebsprophylaxe (FOBT = fäkaler okkulter Bluttest, s. a. Kap. 8) – Beratung zur Kolonkrebsprophylaxe (KoloskopieScreening)
●
Präventionsmaßnahme nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz: Jugendarbeitschutzuntersuchung
●
Beispiele für Präventionsmaßnahmen im Rahmen der hausärztlichen Betreuung: – Gewichtsreduktion – Bewegungstherapie – Raucherentwöhnung – Entspannungstraining – Sturzprävention – Fernreiseberatung
9
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
● ●
I
erkannte Krankheiten rechtzeitig einer Behandlung zugeführt werden und Änderungen gesundheitsschädigender Verhaltensweisen frühzeitig bewirkt werden können.
Im Rahmen des Check-Up sollte zudem die Möglichkeit einer Untersuchung zur Früherkennung von Krebserkrankungen angeboten und auf Impfungen hingewiesen werden [7].
Akzeptanz in der Bevölkerung
II III IV V
Die Akzeptanz des Gesundheits-Check-Up in der Bevölkerung ist hoch. In Hausarztpraxen haben laut einer Erhebung der Universität Marburg 78,5 % der Befragten schon einmal an einem Check-Up teilgenommen [9]. In der Gesamtbevölkerung haben innerhalb von zwei Jahren immerhin 29,6 % Männer und 30,1 % Frauen die Gesundheitsuntersuchung durchführen lassen [10]. Raucher und Patienten aus der unteren sozialen Schicht sind beim Check-Up unterrepräsentiert. Der Gesundheits-Check wird somit trotz offensichtlichem Mangel an Regelmäßigkeit angenommen.
VI VII
Die Inhalte des Check-Up Die Inhalte der Gesundheitsuntersuchung umfassen [7]: Anamnese ● klinische Untersuchung ● Labor ● Beratung (z. B. Hinweise auf Abbau gesundheitsschädigenden Verhaltens, regelmäßige Krebsvorsorgen und die Augendruckmessung alle zwei Jahre) ● Einleitung weiterführender Diagnostik und Therapie ●
Anamnese Die Erhebung der Eigen-, Familien- und Sozialanamnese unter dem besonderen Aspekt der Erfassung des Risikoprofils ist Gegenstand der ausführlichen Anamnese [7]. Ärztlicherseits muss primär die Frage gestellt werden, nach welchen individuellen Risikofaktoren und Krankheiten geforscht werden soll. Ein erster Anhaltspunkt für die Wahl ist die Häufigkeit und volksgesundheitliche Bedeutung einer Erkrankung. Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich aus der Bestimmung eines Risikoprofils ergeben und ein dritter, mit welchem Aufwand an Zeit und Kosten die Erfassung verbunden ist [3]. Patienten dagegen wollen nicht nur wissen, ob sie gesund sind, sondern haben noch andere Erwartungen: Laut einer amerikanischen Umfrage [11] dienen CheckUp-Untersuchungen dazu, den Arzt kennenzulernen und ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen. Ein weiterer Aspekt sind verborgene Erwartungen: Patienten haben
10
bestimmte Beschwerden oder Ängste, die sie bei einer Konsultation nicht aussprechen, leiden unter bisher nicht geäußerten Symptomen oder haben individuelle Ängste (z. B. vor AIDS oder einem Malignom), die sie dem Arzt nicht spontan mitteilen [3]. Konsequenterweise wird der Hausarzt deshalb nicht nur die individuell relevanten Risikofaktoren erfragen, sondern auch ausreichend Raum und Zeit für die Kontaktaufnahme ermöglichen, die es dem Patienten erlaubt, Ängste und Symptome zu nennen, die ihn sonst nicht zum Arzt geführt hätten. Hier öffnet sich über das allgemeine der Zugang zum individuellen Risikoprofil. Fragen im Rahmen der Anamnese betreffen vorrangig kardiovaskuläre Risikofaktoren, obwohl das Eintreten entsprechender Ereignisse aus Sicht des Individuums eher selten ist. Auskünfte über Bewegung, Ernährung, bekannte Stoffwechselkrankheiten, andere Erkrankungen und Drogenmissbrauch stellen weitere wertvolle Hinweise dar. ● Sind Erkrankungen des kardiovaskulären Systems bekannt? – z. B. KHK, pAVK, Hypertonus, Apoplex oder TIA – kardiovaskuläre Ereignisse bei Verwandten ● Besteht ein Nikotinabusus? Wie viel und seit wann? ● Sind Stoffwechselerkrankungen bekannt? – Diabetes mellitus – Dyslipoproteinämie ● Gibt es Anzeichen für einen Drogenmissbrauch? – Alkohol – Medikamente – illegale Drogen ● Gibt es Hinweise auf Fehlernährung? – Adipositas – Mangelernährung, Magersucht ● Wie sieht das Bewegungsverhalten aus? Einseitige oder fehlende körperliche Belastung? ● Bestehen Erkrankungen des Bewegungsapparates? Chronische Muskel- oder Gelenkschmerzen? ● Ist eine Lungenerkrankung bekannt? – Asthma – COPD ● Bestehen dauerhafte emotionale Belastungsfaktoren? Berufliche oder private Stressoren? ● Besteht eine Nierenerkrankung? Patienten mit bekannten kardiovaskulären Erkrankungen oder einem manifesten Diabetes mellitus benötigen keine Risikostratifizierung, da bei ihnen eine leitliniengerechte nichtmedikamentöse und medikamentöse Behandlung unabhängig von weiteren Risikofaktoren angezeigt ist [LL1].
Klinische Untersuchung Im Rahmen der klinischen Untersuchung ist die Erhebung des vollständigen Status (Ganzkörperstatus) vorgesehen [7]. Patienten, die einen Check-Up wünschen, haben kon-
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
krete Erwartungen, was bei einer „Gesunden-Untersuchung“ gemacht werden sollte. Sie erwarten zum Beispiel in über 90 %, dass der Arzt Herz und Lunge abhört und eine Blutuntersuchung mit Bestimmung des Hämoglobinwertes durchführt [11, 12]. Für den Hausarzt beginnt die Diagnostik mit der Überlegung, welcher Risikogruppe ein Patient angehört, welche zusätzlichen Informationen weitere Untersuchungen bringen können, die nicht schon durch die Anamnese bekannt sind und ob sich überhaupt günstige Interventionsmöglichkeiten daraus ableiten lassen [13]. Die Intensität der weiteren Untersuchungen wird hierdurch entscheidend beeinflusst werden. Die körperliche Untersuchung umfasst beim Check-Up das Erheben folgender Befunde: ● Blutdruck (RR) ● BMI = Body-Mass-Index (Größe und Gewicht) ● Hüft- und Taillenumfang ● Haut, sichtbare Schleimhäute ● Brust- und Bauchorgane ● Stütz- und Bewegungsorgane ● orientierende neurologische Untersuchung ● Gefäßstatus ● Beurteilung der Psyche
Die Gewichtung der einzelnen Untersuchungen hängt im Wesentlichen von der Relevanz der vermuteten oder tatsächlich vorhandenen Risikofaktoren ab, sowie von den geäußerten Beschwerden und Sorgen, denen der Arzt bei dieser Gelegenheit nachgehen wird.
Labor Im Rahmen der Laboruntersuchungen sind die Untersuchungen auf Gesamtcholesterin und Blutzucker im Serum sowie des Urins auf Eiweiß, Glukose, Leukozyten und Nitrit vorgesehen. Die Bestimmung dieser Werte wird kontrovers diskutiert. Kritisiert wird, dass sich daraus für den Patienten keine unmittelbaren Konsequenzen ergeben, die nicht auch schon durch Anamnese und Befund notwendig geworden wären. Bestimmung des Gesamt-Cholesterins. Das herkömmliche klinische Denken über den hohen Cholesterinwert als etwas „an sich Pathologisches“ ist in der Praxis nicht tauglich. Ein bei Abwesenheit anderer Risikofaktoren gesunder Körper kann ein hohes Cholesterin gut verkraften. Cholesterinbestimmungen sind deshalb nur in sehr selektiven Gruppen mit vielfachen Risikofaktoren und höherem Alter (bis 70 Jahre) sinnvoll [6]. Bei relevant erhöhten
60,2
60
8-Jahre-Risiko (pro 1 000)
50
40 34,6 30 23,2 20
10 3,9 CHOL. 185 GLUK.INTOL. SB ZIG EKG-LVH
335 0 105 0 0
185
335 + 195 0 0
185
335 + 195 + 0
Abb. 2.1 Die Logik der Risikostratifizierung: Bei ansonsten unauffälligem Risikoprofil führt das Wissen über einen einzelnen Wert, hier der Cholesterinwert, zu keinem weiteren Nutzen. Bei einem niedrigen Gesamtrisiko wird der Arzt unabhängig von der Höhe des Cholesterinwertes keine Intervention planen, die er nicht schon aufgrund der Anamnese und klinischen Anamnese als indiziert betrachtet hätte: Bei einem
185
335 + 195 + +
hohen Risikoprofil wird grundsätzlich eine Behandlung eingeleitet werden müssen, wieder unabhängig vom ermittelten Laborwert. Chol = Cholesterinspiegel, Gluk.Intol. = Vorliegen einer pathologischen Glukoseintoleranz (0 = nein, + = ja), SB = systolischer Blutdruck, ZIG = Raucher (0 = nein, + = ja), EKGLVH = Vorliegen einer Linkshypertrophie im EKG (0 = nein, + = ja) (aus [33]).
11
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
Gesamtcholesterinwerten sollte eine weitere Differenzierung zwischen HDL und LDL vorgenommen werden.
I II III IV V VI VII
Bestimmung des Blutzuckerwertes (BZ). Diabetes mellitus gehört mit einer Prävalenz von 8 % (im höheren Alter ansteigend) zu den häufigsten Stoffwechselerkrankungen in der Bevölkerung – mit weitreichenden individuellen und ökonomischen Konsequenzen durch die diabetesbedingten Folgekrankheiten. Der Zeitrahmen der präklinischen Phase zwischen Auftreten erhöhter Blutzuckerwerte und dem klinischen Ausbrechen der Erkrankung dauert in der Regel 9 – 12 Jahre. Das Aufspüren eines latenten oder manifesten, aber asymptomatischen Diabetes scheint keine Auswirkung auf die Lebensqualität und Lebenserwartung des (bislang unentdeckten) Diabetikers zu haben. Denn vor dem Auftreten erster diabetestypischer Beschwerden wie bspw. Polydipsie oder Polyurie ist die medikamentöse Therapie für ansonsten unauffällige Patienten ohne Nutzen auf die Gesundheitsergebnisse [14]. Anders verhält es sich mit der generell in der Check-Up-Beratung empfohlenen Bewegungs- und Ernährungsumstellung, von der auch asymptomatische Patienten profitieren.
Aktuell gibt es keine zufriedenstellende Evidenz hinsichtlich eines Vorteils der Screening-Untersuchung auf Diabetes mellitus Typ 2, denn aufgrund unzureichender Sensitivität ist diese nur eingeschränkt verwertbar und nicht allgemein zu empfehlen [15]. Vorteile ergeben sich nur für präklinische Diabetiker mit Hypertonie oder Dyslipidämie, deren Gesundheitsergebnisse sich bessern, wenn ihr Blutdruck und das Cholesterin gut eingestellt werden und sie ASS erhalten. Die Diabetestherapie bietet für diese Patienten keinen Vorteil hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse [14]. Ob in der Praxis eher der Nüchtern-BZ oder der orale Glukosetoleranztest (OGTT) verwendet werden soll, muss pragmatisch beantwortet werden: Der OGTT hat zwar eine etwas bessere Sensitivität, ist jedoch wesentlich aufwendiger in der Praxis durchzuführen. Da vordringlich die Therapie des Hypertonus und die Dyslipoproteinämie – und erst nachrangig die Behandlung des asymptomatischen Diabetes umgesetzt werden soll, kann aus praxisorganisatorischen Gründen die weniger aufwendige Nüchtern-BZ-Bestimmung empfohlen werden [16].
Tabelle 2.4 Ausgewählte altersentsprechende Vorsorgemaßnahmen bei Gesunden mit ihrer Evidenz. Bei erhöhtem Risiko, z. B. familiärer Belastung mit Diabetes mellitus oder Kolonkarzinom, verändern sich die Evidenz und Indikation der Intervention (modifiziert nach [34]). Maßnahmen
Zielgruppe
Intervall
Evidenzgrad
Tabak, Alkohol, häusliche Gewalt, mangelnde Bewegung, Ernährung, Zahnhygiene
alle Altersgruppen
jährlich
gut
Unfallprävention, Sicherheitsgurte, Helm, Safer Sex
alle Altersgruppen (v. a. auch jüngere Menschen und Risikogruppen)
jährlich
gut
Sturzrisiko, Gehör, Visus
besonders ältere Menschen
jährlich
gut
Beratung
Untersuchungen Gewicht
alle Altersgruppen
jährlich
gut
Blutdruck
alle Altersgruppen
2-jährlich
gut
Zervixabstrich
alle Altersgruppen bis 64 ab 65
1- bis 3-jährlich
gut unklar
Mammografie
50- bis 70-jährig
1- bis 2-jährlich
gut
Cholesterin (Serum)
35- bis 75-jährig
5-jährlich
gut
okkultes Blut im Stuhl (FOBT)
50- bis 75-jährig
jährlich
gut
einmal
unklar
PSA (Serum)
50- bis 75-jährig
jährlich
unklar
Blutzucker (nüchtern)
45- bis 75-jährig bei Risiken
3-jährlich
unklar gut
TSH (Serum)
45- bis 75-jährig 45- bis 75-jährige Frauen
5-jährlich
unklar gut
alle Altersgruppen ab 65 Jahre ab 65 Jahre
10-jährlich jährlich einmal
gut gut gut
Kolonoskopie
Impfungen Basisimpfungen auffrischen Grippeimpfung Pneumokokkenimpfung
12
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Bestimmung des Urins auf Eiweiß, Glukose, Erythrozyten, Leukozyten und Nitrit. Aus gesundheitspolitischer Perspektive ist die routinemäßige Urinuntersuchung mittels Harnteststreifen auf Eiweiß, Glukose, Erythrozyten, Leukozyten und Nitrit eine schwer zu rechtfertigende Untersuchung. Die Untersuchung selber erbringt eine hohe Zahl falsch positiver Befunde und zieht unnötige Untersuchungen mit möglicherweise schwerwiegenden Komplikationen nach sich. Dem gegenüber steht jedoch der sehr seltene, individuelle Nutzen eines einzelnen Patienten, bei dem ein Blasenkarzinom in einem kurativ behandelbaren Stadium entdeckt wird [13].
Beratung Die Beratung beinhaltet die Information des Versicherten über die erhobenen Befunde und das daraus resultierende individuelle Risikoprofil. Der Arzt soll dem Patienten auf dieser Grundlage die Möglichkeiten und Hilfen zur Vermeidung und zum Abbau gesundheitsschädlichen Verhaltens vermitteln. Erwarten kann der Patient das Einleiten der weiteren Diagnostik und Therapie beim Verdacht auf das Vorliegen einer Erkrankung. Darüber hinaus ist der Arzt gehalten, auf die Notwendigkeit zur regelmäßigen Inanspruchnahme von Krebsvorsorge hinzuweisen [7]. Die Chance der Gesundheitsberatung liegt in der individuellen Beratung. Eine strukturierte Anamnese sowie die zielgerichtete körperliche Untersuchung unter Beachtung der im vertraulichen Gespräch geäußerten Symptome und Befürchtungen wird eine effektive Beratung des Patienten möglich machen. Die Basis der Beratung bilden die Empfehlungen zu einer gesunden Lebensweise [13]: ● höchste Risikoreduktion durch erfolgreiche Beratung zum Nichtrauchen ● regelmäßige sportliche oder körperliche Aktivität ● ausgewogene Ernährung ● Verzicht auf Genussgifte mit allenfalls moderatem Alkoholkonsum ● Gewichtsreduktion: Kombination aus ausgewogener Ernährung und langfristiger körperlicher Bewegung ● adäquater Umgang mit erhöhter Stressbelastung
Eine Beratung, die explizit die Veränderungsbereitschaft der Patienten berücksichtigt, ist ökonomisch, schont die Zeitressourcen des Arztes und ist bedürfnisgerecht auf den Patienten zugeschnitten. In der Regel reichen einige wenige Minuten, wenn man gezielte Strategien einsetzt, die den Patienten aktivieren [13]. Dass der Arzt mit einem einzigen Ratschlag umgehend eine Veränderung des Lebensstils seiner Patienten erreichen kann, ist eher die Ausnahme. Die Beachtung der Einflussmöglichkeiten im Rahmen der fünf Stadien der Veränderungsbereitschaft (Tab. 2.5) kann helfen, unnötige Frustrationen zu vermeiden. Auch wenn die eigentlich beabsichtigte Lebensstiländerung nicht unmittelbar umgesetzt wird, ist die positive Beeinflussung des Stadiums der Veränderungsbereitschaft auch ein Resultat der Beratung. Deshalb sollte der Arzt für die verschiedenen Stadien praktikable Angebote vorhalten. Bei dieser Methode der differenzierten, motivationsorientierten Schritte muss der Arzt auch mit Rückfällen rechnen. Es ist deshalb geboten, den Patienten in seinem Veränderungsprozess durch Folgetermine, in denen auch die Lebensstilveränderungen thematisiert werden, zu unterstützen. Rückfälle können so aufgefangen werden. Ein Lob des Arztes auch für kleine Veränderungen kann den Prozess positiv beeinflussen [13]. Eine individuelle Aufarbeitung und Visualisierung kann die Akzeptanz der vorgeschlagenen Maßnahmen durch den Patienten erhöhen. Günstig wirkt sich auch das wiederholte Erinnern an die vereinbarten Maßnahmen aus. Für die Stratifizierung des kardiovaskulären Risikos stehen dem beratenden Arzt verschiedene elektronische Hilfsmittel zu Verfügung. Unabhängig vom Patientenverwaltungssystem kann hiermit das individuelle Risikoprofil erstellt werden. Neben dem PROCAM- und ESC-Score sowie dem CARRISMA-Algorithmus (s. Kap. 3) hat sich in der Hausarztpraxis vor allem das ARRIBA-Beratungskonzept bewährt (s. u.).
Tabelle 2.5 Fünf Stadien der Veränderungsbereitschaft [13]. Stadium
Haltung des Patienten
ärztliches Angebot
Absichtslosigkeit
Es besteht keine Intention, das problematische Verhalten zu ändern.
Informationsangebote: Möchten Sie mehr wissen über....
Absichtsbildung
Es wird erwogen, das Problem in den nächsten 6 Monaten anzupacken.
Abwägen der Vor- und Nachteile, mögliche Hindernisse erkennen, was wäre wenn…
Vorbereitung
Erste Schritte wurden ergriffen – Umsetzung in den nächsten 30 Tagen.
Definieren realistischer Ziele, konkrete Planung vornehmen
Handlung
Zielverhalten wird seit weniger als 6 Monaten gezeigt.
Anbieten von unterstützenden Therapien, Verstärken der Leistung
Aufrechterhaltung
Zielverhalten wird seit mehr als 6 Monaten gezeigt.
Reflexion auf das, was erreicht worden ist, positive Verstärkung
13
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
Tabelle 2.6 Unterstützungsmöglichkeiten durch den Hausarzt [13]. ●
I II III IV V VI VII
Eine sinnvolle Selektion von Hochrisiko- und veränderungsbereiten Patienten, die von einer verhaltensorientierten Gesundheitsberatung profitieren, ist kosteneffektiv und bringt am ehesten ein Erfolgserlebnis für beide Seiten. Aber auch nicht veränderungswillige Patienten sollten vom Arzt immer wieder ermutigt werden, ihr Verhalten zu ändern. Es kann ein Erfolg sein, einen Raucher um eine Stufe voranzubringen. ● Schaffen einer vertrauensvollen und kontinuierlichen ArztPatienten-Beziehung. Patienten mit Hausarzt weisen oftmals ein besseres Gesundheitsverhalten auf, als solche mit primärer Inanspruchnahme von Spezialisten. ● Tagebücher zur konkreten Erfassung des Verhaltens oder erreichter Verhaltensänderungen. ● Betreuung von Risikopatienten durch speziell geschultes Praxispersonal. Verweisen auf gesundheitsorientierte öffentlich zugängige Sport- oder Ernährungsberaterangebote oder Überweisung zur Verhaltenstherapie oder anderen unterstützenden Gruppenangeboten.
Das Rauchen aufgeben. Vor dem schädigenden Einfluss des Rauchens und des Passivrauchens wird auf jeder Zigarettenschachtel unübersehbar gewarnt. Der behandelnde Arzt soll trotzdem den Patienten über die besonderen Risiken des Rauchens aufklären, spezifisch beraten und dringlich empfehlen, das Rauchen aufzugeben. Für die Wirksamkeit einiger nichtmedikamentöser Verfahren zur Raucherentwöhnung (s. Kap. 36) wie z. B. für die ärztliche Beratung, für Selbsthilfeinterventionen, aber insbe-
sondere auch für verhaltenstherapeutische Methoden gibt es gute Belege [LL2]. Schon der einmalige, einfache ärztliche Rat während einer Routineuntersuchung kann die Anzahl von Rauchern, die mit dem Rauchen aufhören und ein Jahr nicht rückfällig werden, erhöhen [19]. Erfahrungsgemäß ist nur eine vollständige Aufgabe des Rauchens langfristig erfolgreich [LL1]: ● Es sollte deshalb die eindeutige Empfehlung gegeben werden, das Rauchen vollständig aufzugeben, wenn immer möglich unter Einbeziehung der Partner oder der Familien. ● Ein Datum für den Rauchverzicht sollte festgelegt werden. ● Eine weitere Beratung sollte vereinbart werden, um das Rauchen erneut anzusprechen. ● Hilfen zur Raucherentwöhnung wie Kurse der Krankenkasse sowie weitere Hilfen sollten empfohlen werden. ● Grundsätzlich sollte jeder Patient auf die Folgen des Passivrauchens angesprochen werden. ● Im Einzelfall sind medikamentöse Hilfestellungen zu erwägen (s. Kap. 36). Alkohol. Ca. 3 % Alkoholabhängige landesweit und 5 % mit kritischem Alkoholkonsum machen es notwendig, Alkohol als Problem zu benennen und auf eine Modifizierung bzw. eine Entzugsbehandlung hin zu wirken. In diesem Zusammenhang hat die Frage nach dem täglichen Alkoholkonsum und bei Bedarf die Vermittlung an auf Suchtkrankheiten spezialisierte Therapeuten ihren Platz [4].
Leitlinien LL1. Gohlke H et al. Leitlinie Risikoadjustierte Prävention von Herz- und Kreislauferkrankungen. Herausgegeben vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V.; Stand September 2007.
Bewegung. Ohne sportliche Betätigung leben ca. 30 % der 20- bis 29-Jährigen. Diese Quote steigt kontinuierlich bis auf 60 % bei den 60- bis 69-Jährigen, wobei Männer überwiegend eine etwas günstigere Sportquote aufweisen als Frauen. Selbst bei den 10- bis 19-Jährigen erreichen nur 42 % der männlichen und 15 % der weiblichen Jugendlichen das empfohlene Ausmaß an körperlicher Aktivität, bei den 70- bis 79-Jährigen sind es nur noch 7 bzw. 6 % [13]. Zwischen körperlicher Aktivität und kardiovaskulärer Mortalität besteht eine lineare, negative Korrelation. Regelmäßige körperliche Aktivität gehört deshalb zu den wichtigsten Bestandteilen der kardiovaskulären Prävention. Ein prognostischer Nutzen ist schon bei leichter bis mittlerer Trainingsintensität erkennbar. Ziel der Beratung durch den Hausarzt sollte es deshalb sein, dass jeder Er-
14
LL2. Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK. www.khk.versorgungsleitlinien.de.; Version 1.8; April 2008.
wachsene für die Dauer seines Lebens täglich mindestens 30 min auf mittlerer Belastungsstufe körperlich aktiv ist. Aus Zeitersparnisgründen kann diese Fitness optimalerweise in den Tagesablauf integriert werden. Eine kurze Analyse des Tagesablaufes zeigt Möglichkeiten der körperlichen Betätigung je nach individueller Interessenslage an [LL1]. Der Therapieerfolg kann auch durch ein Bewegungstagebuch dokumentiert werden. Ernährung. Eine Ernährungsumstellung im Erwachsenenalter oder nach Myokardinfarkt ist vergleichbar wirksam wie die kardiovaskuläre Prävention mit einem Medikament. Mit der ursprünglich mediterranen Ernährung wird die kardiovaskuläre Ereignisrate unabhängig vom Cholesterinwert gesenkt [LL1]. Empfohlen wird eine kalo-
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
riengerechte, fettarme, ballaststoffreiche Ernährung, die reich an Früchten, Gemüse und Kohlenhydraten ist und wenig gesättigte Fette enthält [LL2]. Salzarme Kost senkt bei einem Teil der Patienten geringfügig den Blutdruck, der Effekt auf Morbidität und Mortalität ist allerdings nicht ausreichend belegt [17]. Übergewicht. Body-Mass-Index (BMI) und Taillenumfang korrelieren mit der Häufigkeit von KHK, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2, arterieller Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen und Störungen der Hämostase [LL2]. Übergewichtige, insb. mit abdomineller Adipositas, befinden sich in einem proinflammatorischen und prothrombotischen Zustand. Ein Taillenumfang von über 94 cm (Männer) bzw. 80 cm (Frauen) geht mit einem erhöhten Risiko für Stoffwechselerkrankungen einher [LL1]. Im Jahr 2005 waren laut dem Statistischem Bundesamt insgesamt 58 % der erwachsenen Männer und 42 % der erwachsenen Frauen in Deutschland übergewichtig (1999: Männer 56 %, Frauen 40 %) Dem BMI nach hatten 14 % der Männer und 13 % der Frauen starkes Übergewicht. Männer waren häufiger übergewichtig als Frauen. Übergewicht ist bereits bei jungen Erwachsenen weit verbreitet und steigt mit zunehmendem Alter [18]. Dies ist Anlass genug, durch eine intensive Beratung und langfristige Betreuung der Patienten die Adipositas selbst zu beeinflussen und nicht nur ihre metabolischen Folgen. Das Ziel ist eine langfristige Verbesserung der alltäglichen Ernährungsgewohnheiten in Kombination mit einer Steigerung der körperlichen Aktivität [LL1]. Die Nationale Versorgungsleitlinie KHK empfiehlt für Patienten mit einem BMI von 27 – 35 kg/m² und einer KHK, das Gewicht innerhalb der nächsten 6 Monate um 5 – 10 % zu reduzieren. Patienten mit einem BMI > 35 kg/ m² wird eine Gewichtsabnahme innerhalb der nächsten 6 Monate um mehr als 10 % geraten [LL2].
Einleiten einer Behandlung Ausreichende körperliche Aktivität, gesunde Ernährung und Nichtrauchen stehen vor jeder medikamentösen Intervention bzw. sollen diese begleiten [LL1]. Beginn einer Diabetes-Therapie. Um Patienten von der Notwendigkeit der Behandlung eines Diabetes mellitus zu überzeugen, kann darauf hingewiesen werden, dass die meisten Fachgesellschaften bei Vorliegen eines manifesten Typ-2-Diabetes in prognostischer Hinsicht diese einer manifesten Herz- oder Gefäßerkrankung gleichgesetzt haben [LL1]. Ein konsequentes Vorgehen ist deshalb geboten. Beim asymptomatischen Diabetes mellitus Typ 2 wird die Lebenserwartung weniger über die medikamentöse Zuckereinstellung als über die konsequente Behandlung der weiteren Risikofaktoren Hypertonie und Dyslipoproteinämie sowie der Gabe von Acetylsalicylsäure beein-
flusst. Für diese wie für den Diabetes mellitus ist die Änderung des Lebensstils zu Reduktion des metabolischen Syndroms Grundvoraussetzung. Erst nachdem diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind oder ein symptomatischer Diabetes vorliegt, erscheint eine medikamentöse Therapie angezeigt. Die Manifestation des Typ-2-Diabetes kann verzögert oder verhindert werden durch [LL1]: ● Steigerung der körperlichen Aktivität, ● Reduktion des Körpergewichts und/oder ● eine medikamentöse Therapie. Beginn einer Bluthochdrucktherapie. Eine Hypertonie gilt als gesichert, wenn in mehrfachen Praxismessungen (drei Messungen an zwei verschiedenen Tagen) der systolische und/oder der diastolische Blutdruck (RR) die folgenden Grenzwerte erreicht oder überschreitet [LL1]: ● Praxis: 140/90 mmHg ● Selbstbestimmung: 135/85 mmHg ● 24-h-RR-Messung: – Tagesmittelwert: 135/85 mmHg – Nachtmittelwert: 120/75 mmHg – 24-h-Mittelwert: 125/80 mmHg Therapieziel ist für alle Patienten – unabhängig vom Alter – die Normalisierung des Blutdrucks unter 140/ 90 mmHg. Für Personen mit besonders hohem Risiko wie Patienten mit Diabetes mellitus oder einer Nephropathie sollte der Blutdruck < 130/80 mmHg abgesenkt werden [LL1]. Ist eine medikamentöse Behandlung indiziert, kommen prioritär Antihypertensiva zum Einsatz, deren Wirksamkeit zur Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse belegt ist (Diuretika, Betarezeptorenblocker, ACE-Hemmer, langwirksame Kalziumantagonisten, Angiotensin-1-Blocker; [LL2]). Der Hausarzt wird primär nichtmedikamentöse Maßnahmen zur Senkung des Blutdruckes empfehlen. Diese sind in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit: ● Steigerung der körperlichen Aktivität (Ausdauertraining) ● Normalisierung des Körpergewichtes ● Reduktion des Kochsalzkonsums ● Begrenzung des Alkoholkonsums ● Reduktion von Stress und Lärm Werden die ersten drei Maßnahmen vom Patienten erfolgreich durchgeführt, ersetzen sie die medikamentöse Monotherapie [LL1]. Der Hausarzt kann hier durch die Kenntnisse der Lebensumstände seines Patienten realisierbare Konzepte anbieten. Gelten auch als Basis aller Bemühungen die nichtmedikamentösen Maßnahmen der Lebensstiländerung, empfiehlt sich bei Werten von 180 systolisch oder 110 diastolisch eine sofortige Pharmakotherapie [LL1].
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Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
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Beginn einer cholesterinmodifizierenden Therapie. Zur Einschätzung des individuellen Risikos muss bei Personen ohne manifeste Atherosklerose immer eine Bewertung des gesamten Risikoprofils erfolgen [LL1]. Findet sich eine Dyslipidämie lediglich als einziger Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse, kann auf eine medikamentöse Therapie verzichtet werden (s. Abb. 2.1, S. 11). Dem Patienten kann dies durch die Visualisierung im Rahmen des ARRIBA-Konzeptes anschaulich vermittelt werden (www.arriba-hausarzt.de, s. u.). Einen Sonderstatus nehmen Patienten mit manifester KHK ein, da sie auch unabhängig von der Höhe der Blutfettwerte von einer Behandlung mit Statinen profitieren [LL2]. Wie bei Diabetes und Hypertonus ist auch bei Dyslipidämie die regelmäßige körperliche Bewegung, die Anpassung der Ernährung und die Gewichtsreduktion die Basis jeder fettmodifizierenden Therapie. Diese Maßnahmen sind jedoch in der Regel alleine nicht ausreichend: Ist eine medikamentöse Therapie notwendig, stellen aufgrund der überlegenen Datenlage Statine die Medikamente der ersten Wahl dar. Andere Lipidsenker sind als Mittel der 2. Wahl anzusehen [LL2]. Diskutiert werden im Rahmen der lipidsenkenden Therapie zwei konkurrierende Ansätze [LL2]: ● LDL-Cholesterin-Senkung auf Zielwert: Titration auf Werte < 100 mg/dl bei manifester KHK oder Hochrisikopatienten (< 2,6 mmol/l; Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin [DGIM], Deutsche Gesellschaft für Kardiologie [DGK], s. auch Kap. 3). ● Strategie der festen Dosis: Einstellung auf in Studien gesicherte Medikamentendosis (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin [DEGAM]). Motivation zu weiteren präventiven Maßnahmen. Im Rahmen der Beratung ist der Arzt gehalten, auf die Notwendigkeit zur regelmäßigen Inanspruchnahme von Krebsvorsorge hinzuweisen [1]. ● Frauen: Früherkennung von Krebserkrankungen des Genitales ab dem Alter von 20 Jahren sowie der Brust und der Haut ab dem Alter von 30 Jahren, des Rektums und des übrigen Dickdarms ab dem Alter von 50 Jahren sowie zusätzlich der Früherkennung von Krebserkrankungen der Brust (Mammografie-Screening) ab dem Alter von 50 Jahren bis zum Ende des 70. Lebensjahres. ● Männer: Früherkennung von Krebserkrankungen der Prostata, des äußeren Genitale und der Haut ab dem Alter von 45 Jahren sowie des Rektums und des übrigen Dickdarms ab dem Alter von 50 Jahren [19]. Darüber hinaus soll der Arzt seine Patienten zur Impfprophylaxe motivieren.
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Einleitung einer weiterführenden Diagnostik Stellt der Arzt bei der Check-Up-Untersuchung Erkrankungen fest, die durch die bislang aufgeführten Maßnahmen nur unzureichend oder nicht beeinflusst werden können, ist die Einleitung entsprechender Interventionen im hausärztlichen Bereich bzw. die Überweisung an den spezialistischen Fachbereich notwendig.
Vernunft versus Euphorie – die Bewertung des Check-Up Nicht alles, was technisch machbar ist, muss für die Gesundheit des Patienten nützlich sein. Seit Jahrzehnten wird deshalb in Arbeitsgruppen und Fachgesellschaften diskutiert, ob regelmäßige Check-Up-Untersuchungen sinnvoll sind und wenn ja, welche Tests durchgeführt werden sollen. Die grundsätzliche Problematik liegt darin, dass Menschen, die eine solche Untersuchung wünschen, primär keine Beschwerden haben und damit keine direkten Anhaltspunkte liefern, welche Untersuchungen der Arzt durchführen soll. Aufgabe des Hausarztes ist es, abzuwägen, welche Risikoparameter erhoben werden sollen oder ob und wie nach Krankheiten gesucht werden soll. Diese Frage stellt sich beim gesetzlich Versicherten im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung durch die festgelegten obligaten Inhalte des Check-Up dann, wenn über die vorgesehenen Untersuchungen hinaus weitere Tests gewünscht werden. Ein erster Anhaltspunkt ist dabei die Häufigkeit und volksgesundheitliche Bedeutung einer Erkrankung. Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich aus der Bestimmung eines Risikoprofils ergeben, und ein dritter, mit welchem Aufwand an Zeit und Kosten die Erfassung verbunden ist. Der Effekt und die Kosten-Nutzen-Relation regelmäßiger Check-Up-Untersuchungen können in wissenschaftlichen Untersuchungen quantifiziert werden. Die Frage nach Sinn, Zweckmäßigkeit und Finanzierung muss jedoch zwischen der ratsuchenden Person und dem Arzt einerseits und anderseits in einer gesellschaftspolitischen Diskussion geklärt werden [3]. Das Risikofaktoren-Screening hat nicht wie die Krebsfrüherkennung zum Ziel, Frühstadien potenziell aggressiver Erkrankungen zu entdecken, sondern behandelbare, bislang symptomlose Funktionsstörungen, die mit einem erhöhten Risiko einer späteren Krankheit verbunden sind. Mehrere Risikofaktoren ergeben ein Risikoprofil, das eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer späteren Folgekrankheit anzeigt. Ein isolierter Risikofaktor ist dabei in der Regel klinisch bedeutungslos. Erst im Rahmen eines Gesamtrisikos bekommen einzelne Werte eine klinische Relevanz [6]. Die Konsequenzen, die sich für Personen mit einem erhöhten Risiko ergeben, sind entweder eine Veränderung des Verhaltens (Tabak, Bewegung, Ernährung, Alkohol und Drogen) oder eine medizinische
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Intervention, zum Beispiel eine medikamentöse Behandlung des Hypertonus [3].
Fazit Der Check-Up stellt umfassende Anforderungen an den Arzt: Er muss nicht nur den Spagat zwischen der technisch machbaren und der medizinisch sinnvollen, sondern auch zwischen der individuell gebotenen und der generell im Gesundheitssystem vorgesehenen Prävention üben. Dieser Anspruch ist hoch: Bei der Gesundenuntersuchung die vielen Gesunden nicht unbegründet als krank zu identifizieren und die wenigen Erkrankten oder Risikopatienten als gefährdet zu erkennen. Die unterschiedlichen Behandlungsoptionen je nach individuellem Risikoprofil erfordern ein differenziertes Denken des Arztes. Der hausärztlichen Aufgabe entspricht, dass die meisten der gebotenen Interventionen eine kontinuierliche Betreuung im Rahmen eines Motivationskonzeptes voraussetzen – und nicht die alleinige Verordnung eines Medikamentes. Dies macht das Konzept einer sinnvollen Prävention für den Hausarzt und sein Team zu einer Herausforderung.
Erfolgreiches Umsetzen in der Praxis Die Arbeit in der Hausarztpraxis ist durch eine hohe Zahl an Patientenkontakten gekennzeichnet. Um einer möglichst großen Gruppe von Patienten präventive Leistungen anbieten zu können, ist neben dem medizinischen Engagement auch eine Ökonomisierung der entsprechenden Leistung notwendig. Bewährt hat sich, nach einem festen Schema vorzugehen, das alle notwendigen Schritte der Entwicklung einer Präventionsmaßnahme beachtet (Tab. 2.7). Praxen, die erfolgreich Präventionsmaßnahmen in der täglichen hausärztlichen Arbeit integrieren, nutzen unter anderem die im Folgenden beschriebenen Hilfsmittel.
Patienten auf den Check aufmerksam machen Grundsätzlich können in der Praxis natürlich im „Schrotschussverfahren“ alle Patienten über die praxiseigenen Maßnahmen informiert werden. Besonders erfolgreich wird Prävention angewandt, wenn definierte Risikogruppen für die Risikostratifizierung und Beratung zur Risikoreduktion gewonnen werden können. ● Recallfunktion – Karteikartenreiter – Erinnerungsfunktion im PC Anhand spezieller PC-Funktionen oder Reiter in den Karteikarten können sowohl Arzthelferinnen als auch Ärzte in der Karteikarte erkennen, dass ein Check-Up möglich und sinnvoll ist und den Patienten aktiv ansprechen. ● Erinnerungsanrufe und -briefe (Abb. 2.2): je nach Praxisstruktur – Unterschrift des Patienten ist notwendig Hat der Patient sein Einverständnis dazu gegeben, kann er mittels Brief oder Anruf an die nächste notwendige Untersuchung erinnert werden. ● möglicherweise Einrichten einer berufstätigenfreundlichen Präventionssprechstunde – an Brückentagen – abendliche Verlängerung der Sprechstunde Angestellte und Selbstständige möchten gerne, können aber aus beruflichen Gründen nicht zu den Öffnungszeiten einer Hausarztpraxis erscheinen. Hier ist die Einrichtung einer regelmäßigen oder, wenn entsprechend angekündigt, sporadischen „Check-Up-Sprechstunde“ zielführend. ● Hinweise in der Praxis – Plakate im Wartezimmer – Broschüre mit Präventionsangeboten an der Anmeldung Wartezeiten lassen sich auch in einer bestens organisierten Praxis nicht immer vermeiden. Patienten können sich in dieser Zeit über die Präventionsangebote der Praxis informieren.
Tabelle 2.7 „Kochrezept“ Gesundheits-Check-Up in der Hausarztpraxis. Was
Inhalte
Welche Maßnahme biete ich an? Wie sieht die Nutzen-/Schaden-Relation aus? Kann ich auf die Ergebnisse Einfluss nehmen?
Wer
Patientengruppe
Welche Patienten haben einen Nutzen? Wie viele dieser Patienten betreue ich und wie kann ich sie ansprechen?
Wie
Ablaufplan
Wie muss ein optimaler Ablaufplan aussehen, um mit minimalem Aufwand einen größtmöglichen Nutzen zu erzielen? Aufstellen eines Ablaufplanes und Zuordnung von Aufgaben
Wie viel
Finanzen
Welche Kosten (Zeitaufwand und Material) entstehen? Welcher Erlös kann mit der Durchführung der Maßnahme erzielt werden?
Wirklich
Effekte
Welche Patienten konnten erreicht werden? Haben die Patienten Nutzen aus der Maßnahme gezogen? Bei wie vielen Patienten wurde tatsächlich eine Konsequenz aus der Maßnahme gezogen?
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2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
Abb. 2.2 Erinnerungsbrief (Muster).
An Lieschen Müller Gesundheitsweg 8 96999 Vorbeuging
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Sehr geehrte Frau Müller,
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Ihre Gesundheit liegt uns Ärzten am Herzen. Aus diesem Grunde möchten wir Sie auf einen Service Ihrer Krankenversicherung hinweisen.
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Im Rahmen Ihrer Krankenversicherung haben Sie ab dem 35. Lebensjahr das Anrecht, alle zwei Jahre einen Gesundheits-Check-Up durchführen zu lassen. Unseren Unterlagen nach können Sie noch in diesem Jahr diese Gesundheitsuntersuchung wahrnehmen. Nutzen Sie die Gelegenheit, sich kostenlos auf Herz und Nieren überprüfen zu lassen. Denn:
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Uns als Ihren Hausärzten ist sehr daran gelegen, Sie bei guter Gesundheit zu halten.
Deshalb: Machen Sie doch einfach einen Termin zum Gesundheits-Check-Up aus.
Das lohnt sich auch finanziell: Bonusprogramme der Kassen Mehrere namhafte Krankenversicherungen gewähren Beitragsnachlässe oder Sachpreise, wenn Sie regelmäßig Ihre Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Lassen Sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen, Ihren Beitrag zu „drücken“.
Keine 10 € Praxisgebühr Nehmen Sie nur den Check-Up wahr, verlangen die Krankenkassen keine Praxisgebühr von Ihnen!
Mit freundlichen Grüßen
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Ihr Praxisteam
Befunderhebung: zeitsparender Ablauf Gelingt es, den Ablauf des Check-Up so zu gestalten, dass sowohl Mitarbeiter, Arzt als auch Patient ihre Zeit effektiv investieren, wird die Akzeptanz der Prävention neben den kurativen Aufgaben des Praxisteams zunehmen. Wichtig ist, dass die Kernprozesse, sorgfältige Anamnese und Datenerhebung, korrekte Risikostratifizierung und ausführliche Beratung zeitlich angemessen berücksichtigt werden. ● Anamnese-Fragebogen: Abfragen der wesentlichen Punkte, die der Patient selber beantworten kann Das intuitive strukturierte Anamnesegespräch hat einen ähnlichen Stellenwert wie die strukturierte Befragung in Form eines Fragebogens, den der Patient zu Hause in Ruhe ausfüllen kann. Wichtig ist, dass in der Beratung auf die auffälligen Befunde eingegangen wird. ● strukturierte Abfrage und Befunderhebung durch medizinische Fachangestellte – Größe und Gewicht (BMI), Bauchumfang – Blutdruck (RR) – Blutabnahme, Urinuntersuchung – Herz- und Schlaganfallvorkommen in der Familie
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– Krebserkrankungen in der Familie – Nikotin- und Alkoholkonsum – Sport- bzw. Bewegungsanamnese Das Erheben der Basisdaten kann anhand einer Checkliste erfolgen. In Kombination mit den vorliegenden Labordaten ist es den Mitarbeiterinnen in der Regel möglich, den ARRIBA-Bogen (s. u.) für das Beratungsgespräch weitgehend vorzubereiten.
Untersuchung und Beratung: Konzentration auf das Wesentliche Es gilt, sich auf das Wichtige und Beeinflussbare zu konzentrieren und zu differenzieren, welche weiteren Schritte dem Individuum nützlich sein können: ● Untersuchung und Beratung nach Vorliegen der Unterlagen – körperliche Untersuchung – Beratung bzgl. gesundheitsförderndem Verhalten – weiteres Vorgehen zur Abklärung anamnestisch oder laborchemisch erhobener Befunde, evtl. Vorstellung beim Spezialisten
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Abb. 2.3 Ergebnis Check-Up (Muster).
vom 28.2.2008 Sehr geehrte Frau Müller, Sie haben in diesen Tagen Ihren Gesundheits-Check-Up bei uns durchführen lassen. Wir haben bei Ihnen folgenden Befund erheben können:
Ihre „Frohwerte“ Normal waren: – Cholesterin mit – Blutzucker – Gewicht: BMI
198 mg/dl (60–200) 98 mg/dl (50–115) 23,5
2
Von 100 behandelten Frauen mit der gleichen Risikokonstellation (Doppelgänger) werden 1 in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen.
Ihre „Schwellenwerte“ Grenzwertig war: – Blutdruck mit
140/90 mmHg
Ihre „Drohwerte“ – Rauchen – wenig Bewegung
Rauchen aufhören
Unser Rat an Sie wäre deshalb: – Bitte geben Sie in Ihrem ureigensten Interesse das Rauchen auf. Sie reduzieren Ihr Herzinfarktrisiko damit von 5% auf 1%! – Treiben Sie Sport? Schon leichter Ausdauersport wie täglich 30 min Spazierengehen und Radfahren schützen Ihr Herz und Ihre Gefäße. Der Gesundheits-Check-Up ist kostenlos und darf alle zwei Jahre in Anspruch genommen werden. Nutzen Sie die Gelegenheit, Krankheiten im Vorfeld zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Sie sichern sich so ein großes Stück Lebensqualität. Ihren nächsten Check-Up dürfen wir im Jahr 2010 durchführen. Gerne erinnern wir Sie an diesen Termin, wenn Sie dies wünschen.
Ihr Praxisteam
●
Verabredung des weiteren Vorgehens:
– gemeinsames Vereinbaren regelmäßiger Kontrollen
●
der gemeinsam getroffenen Therapieoptionen – Vermittlung entsprechender Behandlungsoptionen (Raucherentwöhnungsprogramme, Nordic Walking, Gewichtsreduktionsgruppen) – Überprüfung des Impfstatus und Vereinbarung eines Impftermins – Erstellen eines Ergebnisbriefes mit konkreten gemeinsamen Verabredungen Terminierung des nächsten Check-Up mit Unterschrift zur Erinnerung
Tabelle 2.8 Die Organisation einer präventiven Maßnahme. Geringer Aufwand bei maximalem Nutzen: Delegation delegierfähiger Leistungen schriftliche Fixierung aller notwendigen Aufgaben (Arbeits- und Verfahrensanweisungen im Rahmen des Qualitätsmanagements) ● Dokumentation der vereinbarten Schritte ● Evaluation in regelmäßigen Abständen ● ●
Gesundheitsberatung im Rahmen der Risikostratifizierung: ARRIBA Im Rahmen der Gesundenuntersuchung steht das kardiovaskuläre Gesamtrisiko im Vordergrund, das aus den einzelnen Risikofaktoren (einschließlich Alter und Geschlecht) zusammenfassend berechnet wird. Während
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Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
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in der Sekundärprävention Leitlinien Empfehlungen für das optimale Vorgehen enthalten, ist im Rahmen der Primärprävention die Unsicherheit über das optimale Vorgehen bei Patienten und Arzt am größten. Es ist deshalb hilfreich, die Verantwortung für die präventiven Maßnahmen unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Patienten und der wissenschaftlichen Grundlagen gemeinsam zu treffen. Dafür steht ARRIBA [29]: ● Aufgabe gemeinsam definieren ● Risiko subjektiv ● Risiko objektiv ● Information über Präventionsmöglichkeiten ● Beiderseitige Bewertung der Möglichkeiten ● Absprache über weiteres Vorgehen Die Beratung mit ARRIBA berücksichtigt die erhobenen Werte Alter, Geschlecht, Blutdruck, Gesamtcholesterin, HDL-Cholesterin, Raucherstatus, familiäre Disposition sowie Diabetes mellitus, und errechnet auf der Basis der Framingham-Studie das 10-Jahres-Risiko für die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls. Das Besondere am ARRIBA-Beratungskonzept ist, dass dem Patienten ● sein absoluter Risikowert bildlich dargestellt wird, ● die verschiedenen Interventionsmaßnahmen mit ihren zu erwartenden Auswirkungen auf das Gesamtrisiko ebenfalls in Form einer Grafik dargeboten werden. Die Darstellung in natürlichen Häufigkeiten macht statistisch ungeschulten Patienten das Verständnis von Erkrankungswahrscheinlichkeiten plausibel. Das kardiovaskuläre Risiko wird so für den Patienten in seiner individuellen Situation nachvollziehbar. Anhand der Demonstration der Effekte einzelner Interventionen kann am Ende dann
neben einer festen Therapievereinbarung auch die Übereinkunft zum Nichthandeln stehen. Die ARRIBA-Beratung führt nicht zu einer „Laborwertkosmetik“, sondern individualisiert das Gesamtrisiko durch die Empfehlungen von Maßnahmen, deren Erfolg der Patient nachvollziehen kann. Er wird die Intervention wählen, die den größten Nutzen verspricht und die er in seiner persönlichen Lebenswelt langfristig umsetzen kann. Das Abwägen der Vor- und Nachteile und die Absprache über das weitere Vorgehen werden je nach ängstlichem oder „dickfelligem“ Patiententyp unterschiedlich ausfallen. Der Hausarzt kann aber aufgrund seiner individuellen Beratung die fundierte Entscheidung seiner Patienten akzeptieren und weitere Maßnahmen gemeinsam ins Auge fassen – oder eben auch nicht. ● Objektives Risiko (Abb. 2.4): Die relevanten Befunde wurden im Check-Up erhoben. Bewertung der einzelnen veränderlichen Faktoren (Rauchen, Zucker, RR, Fette) und Darstellung der unveränderlichen Faktoren (Alter, familiäres Risiko). Errechnen des tatsächlichen, individuellen 10-Jahres-Risikos. Das Risiko wird auf der Basis der Framingham-Studie in Wahrscheinlichkeiten umgerechnet. Diese wird zur besseren Verständlichkeit in Smileys dargestellt. Dem Patienten ist nun praktisch ersichtlich, wer von 100 Personen betroffen und wer nicht betroffen ist. Er kann auch sein Risiko im Vergleich zu seiner Altersgruppe bewerten. ● Relativiertes Risiko (Abb. 2.5): Die verschiedenen medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen, die das individuelle Risiko reduzieren, können auf dieses bestimmte absolute Risiko angewendet werden. Je größer das individuelle absolute Risiko ist, umso wirkungsvoller ist die einzelne Maßnahme.
Abb. 2.4 ARRIBA: Erfassung der objektiven Risikofaktoren (mit freundlicher Genehmigung von N. Donner-Banzhoff u. A. Altiner, [29]).
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Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
Abb. 2.5 ARRIBA: Veränderung des individuellen absoluten Risikos durch die verschiedenen Maßnahmen (mit freundlicher Genehmigung von N. Donner-Banzhoff u. A. Altiner, [29]).
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Kasuistik Der Check-Up-Patient in der Hausarztpraxis Mitten im November erhält Herr H. Post von seiner Hausärztin. Sie lädt ihn – wie vor zwei Jahren schriftlich vereinbart – zur Check-Up-Untersuchung ein. Herr H. würde sich als Check-Up-Muffel bezeichnen. Grundsätzlich findet er diesen zwar sinnvoll, als Bauleiter steht er ständig unter Terminnot und verspürt wenig Lust, sich in seiner knappen freien Zeit stundenlang in ein Wartezimmer zu setzen. Positiv überrascht ihn deshalb das Angebot, den Check-Up im Rahmen einer exklusiven Präventionssprechstunde am ersten Samstag im Monat wahrzunehmen: Blutabnahme in der Woche vor der Regelsprechstunde, ausführliche Untersuchung und Besprechung am Samstag. Er bittet seine Frau, umgehend einen Termin für ihn auszumachen. Am folgenden Abend brütet er mit seiner Frau über dem Fragebogen, den sie bei der Terminvereinbarung von der Helferin überreicht bekommen hat. Die vielen Fragen überraschen den Techniker: Seine Ärztin will es anscheinend ganz genau wissen. Herr H. ist in der Frühe der Erste bei der Blutabnahme. Gewicht, Größe, Taillenumfang und Blutdruck werden gemessen, der Stuhltest auf okkultes Blut mitgegeben. Zehn Minuten später ist er schon auf dem Weg zur Arbeit. Bewaffnet mit seinem Impfbuch erscheint Herr H. am Samstag und trifft seine Hausärztin gut vorbereitet an. Gemeinsam besprechen sie den ausgefüllten Fragebogen. Angekreuzt hatte er eine Darmkrebserkrankung des Vaters. Drei halbe Bier trinkt er jeden Abend, das Rauchen hat er vor drei Jahren mühsam aufgegeben. Als Medikament nehme er gelegentlich Diclofenac bei Kreuzschmerzen ein. An Gewicht habe er im letzten Sommer zugelegt.
Seine Hausärztin spricht ihn darauf an, ob er weitere Beschwerden oder gesundheitliche Ängste und Sorgen hätte. Herr H. äußert, dass er jetzt schon 54 Jahre alt wäre, so alt wie sein Vater zum Zeitpunkt der Darmkrebsdiagnose. Der sei ja nun auch schon lange tot. Ansonsten fehle ihm aber nichts. Der Stress auf den Baustellen mache ihm jedoch zunehmend zu schaffen. Positiv sei, dass er und seine Frau, seit die Kinder aus dem Haus sind, wieder mehr Zeit für gemeinsame Unternehmungen haben. Das wollten sie bis zum Erscheinen der ersten Enkelkinder auch ausnutzen. Die Ärztin fasst zusammen: 54 Jahre, berufliche Stressoren, verheiratet. Gewichtszunahme, regelmäßiger Alkoholkonsum, gelegentliche Kreuzschmerzen. Die Vorbefunde ergaben: Blutdruck 145/90 mmHg, 95 kg bei 189 cm Körpergröße, Taillenumfang 98 cm – androgyner Fettverteilungstyp, BMI 26,6 kg/m2. Urin unauffällig. Gesamtcholesterin 289 mg/dl, Lipidprofil: HDL-Cholesterin 69 mg/dl, LDL-Cholesterin 161 mg/dl, Triglyzeride 295 mg/dl, BZ 90 mg/dl. Fazit der Hausärztin: Leicht erhöhtes Gewicht, auffälliger Alkoholkonsum, hoher Blutdruckwert, auffälliges Gesamtcholesterin mit erhöhtem LDL-Cholesterin. Hinzu kommt die familiäre Darmkrebserkrankung. Bei der körperlichen Untersuchung legt die Ärztin deshalb besonderes Augenmerk auf Herz-Kreislauf-System und Abdomen. Sie führt auch die „Krebsvorsorge Mann“ durch. Der körperliche Status ist erfreulicherweise unauffällig. Anhand der ARRIBA-Beratung führt die Ärztin eine Risikostratifizierung durch. Das Risiko, in den nächsten zehn Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, beträgt 9,6 % – bei einem durchschnittlichen Risiko gleichaltriger Männer von 8,1 %.
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Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
I II III IV V VI VII
Herr H. fragt, was er denn tun könne. Die Ärztin offeriert verschiedene Möglichkeiten. Er habe ja schon angedeutet, dass er mehr mit seiner Frau unternehmen möchte, wie es denn mit gemeinsamer Bewegung aussähe? Ob er sich 30 min Spazierengehen am Tag vorstellen könne? Vielleicht abends, vor dem Abendessen? Statistisch würde damit sein Risiko um ein Drittel auf 6,3 % gesenkt. Das läge dann auch deutlich unter dem Risiko seiner Altersgruppe. Wenn er dann noch das Essen optimieren könnte, etwas mehr Obst und Gemüse, weniger gesättigtes Fett und das kalorienreiche Bier reduzieren, dann läge das Risiko schon bei 5,3 %. Das wäre ein Riesenschritt für seine Gesundheit. Er fragt, was passiere, wenn er Tabletten nähme? Mit einer Mischung aus Aspirin, Blutdruck- und Cholesterinsenkern könne er sogar ein etwas besseres Ergebnis erzielen – immerhin 4,6 %, antwortet die Ärztin. Herr H. ist enttäuscht: „Mehr nicht? Da kann ich auch abends mit meiner Frau eine Runde spazieren gehen. Das sei doch gesünder, als Tabletten zu schlucken.“ „Apropos gesund“, wirft die Ärztin ein, „die drei Bier sind grenzwertig, wegen der Kalorien und wegen des Alkoholgehaltes.“ Das versteht der Bauleiter, der auf der Arbeit andere Mengen gewohnt ist, nicht. Die Ärztin beharrt darauf: Ein bis zwei Bier sollten reichen. Es ist an der Zeit, die vereinbarten Maßnahmen auch in der Patientenakte festzuhalten. Für Herrn H. ist es klar: Die Ernährung stellt er um – damit liegt ihm seine Frau schon lang in den Ohren. Und ein Bier weniger wäre auch machbar. Die tägliche halbe Stunde Spazierengehen würden schwieriger werden. Gerade wenn er ausgelaugt von der Arbeit käme, würde es wohl hart werden, sich noch einmal aufzuraffen. Aber 3- bis 4-mal die Woche wären möglich. Er würde Buch führen, damit ihm die Ärztin auch glauben wird. Die Ärztin ist davon überrascht, aber als Bauleiter ist Herr H. Checklisten gewohnt. Jetzt bleibt noch das familiäre Darmkrebsrisiko. Beschwerden bestehen keine und auch die körperliche Untersuchung sowie der Stuhltest waren unauffällig. Die Ärztin weist auf die Kolonkrebsprophylaxe ab dem 55. Lebensjahr hin. Wenn er zuvor Beschwerden mit der Verdauung habe, solle er sich lieber rechtzeitig vorstellen. Die Praxis erinnere ihn gerne an diesen Termin, ebenso an die nächsten fälligen Impftermine. Herr H. und seine Ärztin vereinbaren einen Folgetermin an einem Präventionssamstag in drei Monaten. Er führt über sein Engagement Buch. Seine Ärztin ist gespannt, wie sich seine Lebensgewohnheiten verändert haben werden.
2.2.2
Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen
Kindervorsorgeuntersuchungen Während die Vorsorgeuntersuchungen U1 und U2 meist nach der Entbindung im Krankenhaus durchgeführt werden, erspart das hausärztliche Angebot der weiteren Kindervorsorgen U3-U9 gerade im ländlichen Bereich Eltern die Fahrt zum Kinderarzt. So wurden im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Niedersachsen in den Jahren 2005/2006 13,2 % der Früherkennungsuntersuchungen (U1-U9) und 45,8 % der Jugendgesundheitsuntersuchungen (J1) von Hausärzten durchgeführt [23]. Neben Hör- und Sehtest sowie der Beurteilung der Reflexe werden Sprach- und intellektuelle Entwicklung bzw. das Sozialverhalten untersucht und beurteilt. Eine systematische umfassende Evaluation u. a. hinsichtlich der Aufdeckung von Krankheiten bzw. gesundheitlichen Beeinträchtigungen wurde allerdings bislang nicht durchgeführt [22]. Die Akzeptanz der Untersuchung nahm im Jahr 2002 laut Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung von 92,6 % (U3) auf 79,1 % (U9) kontinuierlich ab. Der Hausarzt, der die Patienten häufig im Rahmen kurativer Beratungen sieht, hat hier die Möglichkeit, Eltern für die Durchführung dieser Präventionsmaßnahme zu gewinnen.
Jugendgesundheitsuntersuchung Die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 ist eine einmalige Maßnahme im Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenkassen für 12- bis 15-Jährige zur Früherkennung von Erkrankungen und Risikofaktoren, die die körperliche, geistige und soziale Entwicklung während der Pubertät gefährden. Neben der Anamnese und Untersuchung ist die Beratung der Jugendlichen zu Fragen ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung, zum Impfen und zum Risikoverhalten (Drogen, Sexualität, Infektionskrankheiten) ein wesentlicher Bestandteil. Eine Evaluation der Jugenduntersuchung hinsichtlich Wirksamkeit und Durchführung erfolgte bislang nicht [22].
Jugendarbeitsschutzuntersuchung Um Jugendliche unter 18 Jahren beim Übergang in das Arbeits- und Berufsleben vor Gefahren für ihre Gesundheit und ihre körperliche und geistige Entwicklung zu schützen, sieht das Jugendarbeitsschutzgesetz eine gesundheitliche Betreuung während der ersten Zeit ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit vor. Durch eine Erst- und Folgeuntersuchung dokumentiert der Hausarzt die für den Arbeitgeber relevante Arbeitsfähigkeit mit eventuellen Einschränkungen. Weitere Ziele der Jugend-
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Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
arbeitsschutzuntersuchung sind die Früherkennung von Krankheiten und die Vorbeugung von gesundheitsschädlichen Einflüssen am Arbeitsplatz. Eine Beschäftigung darf erst nach Vorlage der ärztlichen Untersuchungsbescheinigung aufgenommen werden [21].
2.2.3
Krebsfrüherkennungsmaßnahmen
Krebsfrüherkennungsuntersuchungen gehören gemäß § 25 SGB V zum Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung. Anspruchsberechtigt sind Frauen beginnend vom 20. Lebensjahr und Männer vom 45. Lebensjahr an. Eine obere Altersgrenze ist nicht vorgesehen. Im Jahr 2004 nahmen 46,8 % der Frauen und 18,3 % der Männer diese Vorsorgemaßnahmen wahr. Der Nutzen der verwendeten Methode muss sich daran bemessen, dass sie die Zahl der Todesfälle an der untersuchten Krebsart senkt. Für den Einzelnen bedeutet das, dass Früherkennung eine Chance bietet, das eigene Leben möglicherweise um Jahre zu verlängern. Die WHO sieht dann einen Sinn in Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: ● Die Tumorart muss häufig und oft tödlich sein. ● Der Tumor muss sich langsam entwickeln, sodass es eine heilbare Phase gibt. ● Der Tumor muss in dieser Phase erkennbar sein. ● Die Untersuchungsmethoden sollten einfach, akzeptabel und ungefährlich sein. ● Der Nutzen der Suche muss den Schaden überwiegen.
kenswert ist aber, trotz Senkung der Mortalität, auch Folgendes: Die weitaus meisten Teilnehmer an der Untersuchung haben aufgrund der relativen Seltenheit der Erkrankung keinen konkreten Nutzen in dem Sinne, dass in ihrem individuellen Fall ein Darmkrebstod verhindert werden konnte: 1200 Personen muss über 10 Jahre alle zwei Jahre das Screening angeboten und bei wenigstens zwei Drittel auch einmal durchgeführt werden, damit ein Darmkrebs-Todesfall verhindert wird. 4 % der Teilnehmer müssen aufgrund des positiven Stuhltestes in diesem Zeitraum koloskopiert werden. Ein Risiko entsteht nicht durch den Stuhltest, jedoch durch die Komplikationen der Folgeuntersuchung Koloskopie: Perforation (1 : 1000), Blutungen (3 : 1000) und letale Komplikationen (1 – 3/10 000). Gleichzeitig findet sich bei jedem Zweiten tatsächlich Erkrankten ein falsch negatives Testergebnis, sodass fälschlich Sicherheit vermittelt wird [19]. Daraus darf nicht geschlossen werden, dass diese Untersuchung nicht angeboten werden sollte. Der Arzt muss jedoch in der Lage sein, dem Patienten die Vorund Nachteile verständlich zu vermitteln. Ängstliche Patienten werden entweder den Krebs fürchten und die Gefahr der Koloskopie in Kauf nehmen oder umgekehrt die Gefahr der Koloskopie in den Vordergrund stellen und gleich auf den Test verzichten. Oder aber der Patient verzichtet gleich auf den Stuhltest, der nur in 50 % seinen (seltenen) Krebs entdeckt und lässt sich gleich koloskopieren.
Kolonkrebsprophylaxe Bislang sind nur wenige Früherkennungsmethoden wirklich zuverlässig und mit positivem Ergebnis erprobt [24]. Für die Krebsfrüherkennung gelten die gleichen Kosten-/Nutzen-Kriterien wie in Abschnitt 2.1.5 (S. 8) für die Gesundenuntersuchung, das heißt, Vor- und Nachteile sorgsam abzuwägen, obgleich oder weil der Nutzen für den Teilnehmer niemals prognostizierbar ist. Der Patient muss über die Höhe der falsch positiven Befunde (Spezifität) informiert sein, sowohl um das Testergebnis korrekt einordnen als auch um das Risiko der weiterführenden, meist unnötigen Diagnostik abschätzen zu können. Diese Aufklärungsarbeit liegt in der Hand des verantwortlichen Arztes.
Mögliche Maßnahmen in der Hausarztpraxis Stuhltest auf okkultes Blut Der Stuhltest auf okkultes Blut (z. B. Haemoccult) ist vom 45. bis 55. Lebensjahr jährlich, danach zweijährlich möglich. Alternativ kann ab dem 55. Lebensjahr die Koloskopieprophylaxe gewählt werden. Die Ergebnisse umfangreicher Versuche mit Screening auf okkultes Blut im Stuhl weisen auf eine Reduktion der Mortalität durch kolorektale Karzinome hin. Das ist der offensichtliche und gewünschte Erfolg dieser harmlosen Untersuchung. Bemer-
Jährlich sterben in Deutschland rund 30 000 Personen an Darmkrebs (Sterbehäufigkeit 2006 durch Herz-KreislaufErkrankungen: 359 000, davon Myokardinfarkt 65 000 [30]). Das kolorektale Karzinom ist bei Frauen wie Männern die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache. Darmkrebs kann weitgehend verhindert werden, wenn kolorektale Polypen und Adenome frühzeitig entdeckt und vor ihrer Entartung abgetragen werden. Im Umkehrschluss darf jedoch daraus nicht geschlossen werden, dass jedes Adenom auch entarten wird. Dies erschwert die Evaluation der im Oktober 2002 neu eingeführten Maßnahme. Die Akzeptanz ist groß: 2003 nahmen bereits ca. 500 000 Versicherte die neue präventive Darmspiegelung wahr. Aufgabe des Hausarztes ist es, seine Patienten zu informieren. Dies kann gezielt oder im Rahmen anderer kurativer Maßnahmen geschehen: ● 50. – 55. Lebensjahr: Information über das Programm und jährlich Stuhltest auf okkultes Blut ● ab dem 56. Lebensjahr: zweite Beratung zum Krankheitsbild und Motivationsgespräch, Ausgabe eines standardisierten Merkblattes und ggf. Überweisung zur ersten präventiven Koloskopie. Eine zweite Koloskopie ist nach zehn Jahren möglich, falls die erste Untersuchung vor dem 65. Lebensjahr stattfand.
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Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
Krebsvorsorge beim Mann
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Die Krebsvorsorge des Mannes kann jährlich ab dem 45. Lebensjahr durchgeführt werden und umfasst neben Anamnese, Untersuchung von Haut, Leistenregion, äußerem Genitale und Analregion die digitale Palpation der Prostata und des Rektums. Bei den zum Tode führenden Krebserkrankungen steht das Prostatakarzinom mit 10,4 % an dritter Stelle. Der Hausarzt hat durch Tastuntersuchung und Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) die Möglichkeit, diesen Tumor zu entdecken. Trotz dieser Untersuchungen ist die Sterberate an Prostatakrebs seit 1970 unverändert – bei steigender Zahl entdeckter Tumoren. Der Beleg für den bevölkerungsbezogenen Nutzen durch eine Senkung der Prostatakrebssterblichkeit steht somit aus [25]. Umstritten ist die Krebsvorsorge, weil bei vielen Männern zwar eine Prostatakrebserkrankung vorliegt, diese aber zu Lebzeiten nicht symptomatisch wird. Auch werden viele der erkrankten Patienten in einem nicht mehr kurablen Stadium entdeckt, sodass auch sie nicht von den eingeleiteten, nebenwirkungsbehafteten weiteren Untersuchungen oder Therapien profitieren – ebenso wenig wie die Männer mit einem falsch positiven Befund (s. Kap. 14).
VI Krebsvorsorge bei der Frau
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Die Krebsvorsorge der Frau wird in der Hausarztpraxis nur sporadisch durchgeführt. Der Hinweis auf die Vorsorgeuntersuchungen findet jedoch im Rahmen des CheckUp oder von kurativen Untersuchungen und Behandlungen statt. Während die Evidenz für das BrustkrebsScreening diskutiert wird, besteht eine sehr gute Evidenzlage für das jährliche Gebärmutterhalskrebs-Screening bei nicht hysterektomierten Frauen, die sexuell aktiv sind oder es waren [26] (s. Kap. 13).
Hautkrebs-Screening Das Hautkrebs-Screening wurde als Krebsfrüherkennung ab 2008 zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse eingeführt [26]. Es fehlen eindeutige wissenschaftliche Belege für eine Reduktion von Mortalität und/oder Morbidität durch diese Maßnahme. Ergebnisse des in Schleswig-Holstein durchgeführten Pilotprojektes weisen lediglich auf eine Vorverlegung des Diagnosezeitpunktes hin [31] (s. Kap. 9).
Erfolgreiches Umsetzen in der Praxis Der Hausarzt kann Krebsvorsorgeuntersuchungen selbst anbieten oder Patienten für Untersuchungen durch Spezialisten gewinnen. Diese Vorsorgen sind häufig an Alter und Geschlecht gebunden. Die einzelnen Patientengrup-
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pen sind umschrieben und können direkt oder indirekt angesprochen werden: ● strukturiertes Ansprechen beim Check-Up oder bei regelmäßigen DMP-Untersuchungen: „Wann waren Sie das letzte Mal bei der Krebsvorsorge?“ durch die Mitglieder des Praxisteams ● Markieren der infrage kommenden Patienten in der Karteikarte und Ansprechen auf die Früherkennung bei kurativen Anlässen ● Anschreiben von Patienten, die einen Anspruch auf eine Maßnahme haben, bspw. die Einladung zur Kolonkrebsprophylaxe für alle Patienten, die im vergangenen Jahr das 55. Lebensjahr vollendet haben ● Vorhalten objektiver Informationen für Patienten als Diskussionsgrundlage für das Beratungsgespräch
2.2.4
Schutzimpfungen
Impfungen werden häufig vernachlässigt, obwohl hierdurch Krankheiten auch im Erwachsenenalter vermieden werden können [15]. Die größten Impflücken bestehen bei den Erwachsenen. Sie erhalten (und verlangen) nur unzureichend die empfohlenen Auffrischungsimpfungen gegen Tetanus und Diphtherie. Auch Influenza- und Pneumokokkenschutzimpfungen werden von den Risikogruppen – ältere Personen und chronisch Kranke – nicht ausreichend genutzt. Bei den Kindern zeigen sich Impflücken besonders bei der zweiten Masern-Mumps-Röteln(MMR) und bei der Hepatitis-B-Impfung (Durchimpfungsraten bei Schuleingang 2002: 30 % zweite MMRbzw. 70 % Hepatitis-B-Impfung) [26]. Der Hausarzt ist im Rahmen seiner Tätigkeit in der Lage, durch gezielte und strukturierte Maßnahmen den Impfstatus seiner Patienten zu verbessern. Als Basis dienen ihm die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO), auf der ein Impfmanagement aufgebaut werden kann. Dennoch sollte auch jede dieser empfohlenen Impfungen von Arzt und Patient kritisch auf den individuellen Nutzen hin durchleuchtet und auf der Grundlage fundierter Analysen bewertet werden. Die rege Diskussion über einzelne Impfungen belegt den Beratungsbedarf.
Erfolgreiches Umsetzen in der Praxis Die sog. Impfmüdigkeit der Bevölkerung dürfte weniger inhaltlichen Vorbehalten als einer gewissen Trägheit geschuldet sein. Hausärzte können durch ein konsequentes Ansprechen auf sinnvolle Impfungen die Durchimpfungsrate ihrer Patienten verbessern helfen. ● Tipps, um die Impfbereitschaft zu steigern: EDV-Verwaltungssysteme halten unterschiedliche Funktionen vor, um den Impfstatus der Patienten zu dokumentieren. Darüber hinaus können saisonale Aktionen in der Praxis die Aufmerksamkeit der Patienten erregen.
Einzelne Präventionsmaßnahmen in der Hausarztpraxis
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Festlegen der notwendigen Impfungen: Als erster Schritt werden die bisherigen Impfungen gesichtet und nach ausführlicher Information des Patienten Impftermine festgelegt. Erinnern an Standardimpfungen: Die vereinbarten Impftermine werden nicht nur im Impfbuch vermerkt, sondern auch vom Arzt entweder in der EDV oder in Papierform verwaltet. Sobald die nächste Impfung ansteht, wird der Patient rechtzeitig informiert – eine Möglichkeit, um Impfabstände nicht zu überschreiten. Ansprechen auf saisonale Impfungen: Die Patientengruppe, die von einer Grippeimpfung profitiert ist umschrieben. Die Praxis hat die Möglichkeit, zur Halbzeit der entsprechenden Impfsaison in der Praxissoftware zu überprüfen, ob allen Patienten dieser Gruppe die Impfung empfohlen worden ist. Hat die Information über den Nutzen der Impfung alle DMP-Patienten erreicht? Wer von den über 60-Jährigen wurde noch nicht angesprochen? Die entsprechenden Patienten können dann entweder über eine Notiz in der Karteikarte, telefonmündlich oder schriftlich angesprochen werden. Hinweise in der Praxis: Plakate und Handzettel im Wartebereich machen es möglich, dass sich Patienten schon vor dem eigentlichen Konsultationstermin mit der aktuellen Impfthematik auseinandersetzen.
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Können zuverlässige Schätzungen aufgrund sorgfältiger, randomisierter kontrollierter Langzeitstudien gemacht werden? In wie vielen Fällen kann die Erkrankung durch die Vorsorge- und Screening-Maßnahmen verhindert werden? Was und wie zahlreich sind die Risiken und Belastungen der zur Diskussion stehenden Maßnahme und möglicher Folgeuntersuchungen? Ist der Aufwand an Kosten und Ressourcen vergleichsweise nutzbringend investiert? Können dem Patienten Nutzen und Risiken so kommuniziert werden, dass er mitreden und mitentscheiden kann?
Wenn diese Fragen positiv beantwortet werden, so steht der Implementierung dieses Angebotes in der Hausarztpraxis nichts entgegen.
Wichtige Internetadressen ● ● ● ●
Reiseimpfungen ●
Impfungen, die aus Anlass einer Fernreise notwendig werden und im Rahmen der Standardimpfungen nicht vorgenommen werden können, müssen vom Patienten selber veranlasst und als IGeL-Leistung bezahlt werden. Im Wesentlichen gehören hierzu Gelbfieber, Meningitis, Typhus, Hepatitis A und Cholera. Die Impfempfehlungen berücksichtigen das Gesundheitsrisiko im Reiseland, die Reisezeit und den individuellen Gesundheitszustand. Informationsmaterialien sind über die „Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin“ und das „Deutsche Grüne Kreuz“ zu erhalten.
2.2.5
IGeL-Prävention
Spezielle ärztliche Leistungen mit wissenschaftlich nachgewiesenem Nutzen, wie z. B. die Beratung vor Fernreisen wurden und werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung teilweise nicht übernommen. Diese Angebote können und sollen Patienten von ihrem Hausarzt erhalten. Werden jedoch individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten, für die es keine wissenschaftlich belastbaren Nachweise gibt, ist der Arzt in der Pflicht, sorgfältig den Nutzen für diese Interventionen zu belegen [20]. Fragen, die an eine IGeL-Präventionsleistung gestellt werden müssen [6]:
● ● ●
AHRQ-Guide to Clinical Preventive Services: www.ahrq.gov/clinic/cps3dix.htm Canadian Task Force on Preventive Health Care (CTFPHC): www.ctfphc.org Nationale VersorgungsLeitlinien: www.versorgungsleitlinien.de Horten-Zentrum für praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer: www.evimed.ch Scottish Intercollegiate Guidelines Network: www.sign.ac.uk Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWIG): www.iqwig.de Forum Gesundheitspolitik: www.forum-gesundheitspolitik.de ARRIBA: www.arriba-hausarzt.de
Literatur 1. Gemeinsamer Bundesausschuss: Bericht der Arbeitsgruppe Zuzahlung des UA Prävention zum Regelungsauftrag des § 62 Abs. 1 Satz 3 SGB V; Stand 30.05.2007, 4-5. 2. Grethe H, Große G, Junghanns G, Köhler Ch. Leitfaden der Allgemeinen Medizin. Berlin: VEB Verlag; 1984; 92-4. 3. Steuer J, Zürcher K. Grundsätze zur Check-up-Untersuchung. Praxis. 2006; 95: 55-9. 4. Ledig Th, Piechowiak H. Prävention, Sozialmedizin. In: Gesenhues S. Praxisleitfaden Allgemeinmedizin. 5. Auflage. München: Elsevier; 2006; 1554-63. 5. Braun RN, Fink W, Kamenski G. Lehrbuch der Allgemeinmedizin. Wien: Verlag Berger Horn; 2007: 145-50. 6. Schmidt JG, Früherkennung und Umgang mit Risikofaktoren. In: Kochen MM. Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Stuttgart: Thieme; 2006: 25-38. 7. Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten („Gesundheitsuntersuchungs-
25
2
Vorsorgeuntersuchungen in der hausärztlichen Praxis
I II III IV V VI VII
Richtlinien“) in der Fassung vom 24. August 1989, zuletzt geändert am 21. Dezember 2004. 8. Präventionsbericht der Spitzenverbände der Krankenkassen und MDS 2007. 9. Sönnichsen AC, Sperling T, Donner-Banzhoff N et al. Unterschiede zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern an der Gesundheitsuntersuchung. Zeitschrift für Allgemeinmedizin. 2007; 83 : 355-8. 10. Richter M, Brand H, Rössler G. Sozioökonomische Unterschiede in der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen und Maßnahmen der Gesundheitsförderung in NRW. Gesundheitswesen 2002; 64: 417-24.
21. Jugendarbeitsschutzgesetz vom 12. April 1976 (BGBl. I S. 965), zuletzt geändert durch Artikel 230 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2407).
11. Oboler SK, Prochazka AV, Gonzales R et al. Public expectations and attitudes for annual physical examinations and testing. Ann Intern Med. 2002;136(9):652-9.
25. Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. Krebs in Deutschland. 5. überarbeitete Ausgabe. 2006; 52-68.
12. Laine C. The annual physical examination: needless ritual or necessary routine? Ann Intern Med. 2002;136(9):701-3. 13. Rönsberg W. Gesundheitsberatung. In: Kochen MM. Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Stuttgart: Thieme; 2006: 39-46. 14. Feig DS, Palda VA, Lipscombe L. Canadian Task Force on Preventive Health Care. Screening for type 2 diabetes mellitus to prevent vascular complications: updated recommendations from the Canadian Task Force on Preventive Health Care. CMAJ 2005; 172(2): 177-80.
26. US Preventive Services Task Force. Guide to clinical preventive services. 2. Auflage. Baltimore: Williams & Wilkins; 1996.
15. Hunziker S, Hengstler P, Zimmerli L et al. Der internistische Check-up. Der Internist. 2006; 47: 44-68. 16. Egidi G. Brauchen wir den Oralen Glukose-Toleranz-Test? Zeitschrift für Allgemeinmedizin. 2005; 81: 423-8. 17. Sheridan S, Pignone M. Hypertonie: Primärprävention. In: Ollenschläger G. Kompendium evidenzbasierte Medizin; 6. Auflage. Bern: Hans Huber; 2007: 25. 18. Statistisches Bundesamt. Immer mehr Übergewichtige. Pressemitteilung Nr. 227 vom 6.6.06 (www.destatis.de) 19. Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krebserkrankungen („Krebsfrüherkennungs-Richtlinien“) in der Fassung vom 26. April 1976, zuletzt geändert am 21. Juni 2007. 20. Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL). Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Zeitschrift für Allgemeinmedizin. 2008; 84: 8f.
22. Walter U. Wahrnehmung und Umsetzung rechtlicher Bestimmungen zur Prävention in Deutschland: Expertise aus sozialmedizinischer Sicht im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung; November 2002. 23. Priem P. Das klassische Eigentor. Der Hausarzt. 2008; 1: 14-5. 24. Koch K, Windeler J. Untersuchungen zur Früherkennung Krebs. Berlin: Stiftung Warentest; 2005; 26-37.
27. Schützt den Einzelnen und die Gemeinschaft: Schwerpunktthema Impfen im Bundesgesundheitsblatt. Pressemitteilung des Robert Koch-Instituts vom 8. Dezember 2004. 28. Raspe H. Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin (EbM). In: Kunz R et. al. Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis. 2. Auflage. Köln: Deutscher Ärzte Verlag; 2007: 15-29. 29. Donner-Banzhoff N, Altiner A. ARRIBA (4. Aufl.; Dezember 2007); www.arriba-hausarzt.de. 30. Statistisches Bundesamt. Herz-/Kreislauferkrankungen weiterhin häufigste Todesursache. Pressemitteilung Nr. 385 vom 21.09.2007 (www.destatis.de). 31. Gemeinsamer Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Krebsfrüherkennungs-Richtlinie: Hautkrebs-Screening vom 15. November 2007. 32. Stiftung Warentest. Untersuchungen zur Früherkennung: Krebs – Nutzen und Risiken. 2005. 33. Schmidt, Johannes G. Früherkennung und Umgang mit Risikofaktoren. In: Kochen M, Hrsg. Duale Reihe Allgemeinmedizin, 3. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2006: 25-38. 34. Mader FH, Weissgerber H. Allgemeinmedizin und Praxis. 6. Aufl. Heidelberg: Springer; 2007: 456.
26
II
Organbezogene und allgemeine Check-UpMedizin
Herz-Kreislauf-Check-Up
3
Herz-Kreislauf-Check-Up U. Nixdorff
I
●
1.
II 2.
III IV
3.
V 4.
VI VII
5.
●
Das Wichtigste in Kürze Eine evidenzbasierte kardiovaskuläre Präventivmedizin basiert auf 5 wichtigen Erkenntnissen (LL1): Kardiovaskuläre Erkrankungen sind die häufigste Ursache von vorzeitigem Tod in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die zugrunde liegende Pathoanatomie und -physiologie ist die Atherosklerose, die sich langsam und schleichend über viele Jahre entwickelt. Im symptomatischen Stadium ist sie in der Regel weit vorangeschritten. Akute Koronarsyndrome und der Myokardinfarkt nach alter Terminologie treten meistens plötzlich auf. Therapeutische Interventionen erübrigen sich beim damit häufig auftretenden Todesfall, im anderen Fall sind sie palliativ. Der überwiegende Anteil kardiovaskulärer Erkrankungen ist wesentlich mit Lebensstil und modifizierbaren physiologischen Faktoren assoziiert. Für die Reduktion oder Beseitigung bekannter kardiovaskulärer Risikofaktoren ist es gesichert, dass Mortalität und Morbidität reduziert werden. Diese Erkenntnisse machen eine gezielte Check-UpUntersuchung des Herz-Kreislauf-Systems sinnvoll. Individuelle Befunde garantieren die Effektivität gezielter präventivmedizinischer Maßnahmen. Aus Effektivitätsund Effizienz-Gründen der Diagnostik, aber auch aus präventivmedizinischen Maßnahmen sollten dabei Evidenzen berücksichtigt werden. Dadurch entsteht das Konzept eines algorithmischen Vorgehens, das in diesem Beitrag dargestellt wird.
3.1
Ziele des Check-Ups: Verhinderung bzw. Stabilisierung der Atherosklerose und Vermeidung kardiovaskulärer Ereignisse
Eine effektive Verhinderung oder Stabilisierung einer bereits vorliegenden Atherosklerose ist nur möglich, wenn Verständnis zu den pathophysiologischen Ursachen inklusive kardiovaskulärer Risikofaktoren, Nachweisbarkeit des Vorliegens dieser Ursachen oder/und der eingetretenen (präklinischen) Erkrankung mittels bildgebender Verfahren und die Effektivität der präventivmedizinischen Maßnahmen vorliegen. Alle 3 Voraussetzungen wurden in den letzten Jahren so weit entwickelt, dass
28
heute die praktische Rationale für eine Check-Up-Medizin besteht. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Atherosklerose eine systemische Erkrankung ist, d. h. sie befällt die Koronararterien genauso wie hirnzuführende oder andere Arterien. Die Koinzidenz von Myokardinfarkten und Schlaganfällen ist hinreichend belegt. Dies wurde auch von den europäischen Präventionsleitlinien gewürdigt, indem in der 4. Auflage über die koronare Herzkrankheit (KHK) hinaus auch der thrombotische Schlaganfall und die periphere Verschlusskrankheit berücksichtigt wurden [LL1]. Trotz Fokussierung auf das Herz sollte daher der Check-Up das gesamte Herz-Kreislauf-System umfassen. Darüber hinaus wird trotz des Wissens um das pathophysiologische Kontinuum der Atherosklerose die Einteilung in Primärprävention (tatsächlich oder vermeintlich gesund), Sekundärprävention (asymptomatische oder symptomatische Atherosklerose ohne stattgehabte Ereignisse) und Tertiärprävention (Zustand nach Ereignissen wie z. B. einem Myokardinfarkt) aus pragmatischen Gründen der sich unterscheidenden leitliniengerechten, diagnostischen und präventivmedizinischen Maßnahmen aufrechterhalten.
3.2
Epidemiologie der koronaren Herzkrankheit und des Myokardinfarkts
Kardiovaskuläre Erkrankungen, speziell solche auf dem Boden einer Atherosklerose, sind die hauptsächliche Todesursache in den Industrieländern. Im anderen Fall resultieren sie häufig in einer substanziellen Behinderung und Verlust an Produktivität (DALY = disability adjusted life years). Die Erkrankungen tragen wesentlich zu den ansteigenden Kosten des Gesundheitssystems bei, speziell i.R. des demografischen Wandels immer älter werdender Menschen. Nach den aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes tragen die kardiovaskulären Erkrankungen zu 50 % der Todesfälle bei (gefolgt von 25 % der bösartigen Neubildungen). Das weibliche Geschlecht scheint eine Protektion gegenüber kardiovaskulären Erkrankungen darzustellen. Das kardiovaskuläre Ereignis bei Frauen wird vergleichsweise zu Männern um ca. 10 Jahre hinausgezögert. Über die gesamte Lebenszeit ist letztendlich die Erkrankung ähnlich häufig tödlich. Nach dem MONICA/KORA-Herzinfarktregister Augsburg [1] versterben bereits ca. ⅓ der Patienten mit Myokardinfarkt vor Einweisung ins Krankenhaus und ein weiteres Drittel verstirbt im Verlauf des 1. Tages (Abb. 3.1). Andere
Pathophysiologie der Atherosklerose und deren Folgen
Männer Überleben
Tag 2–28
7,2
%
42,8 %
34,0 %
Frauen vor Erreichen des Krankenhauses
29,9 %
39,0 %
dünne fibröse Kappe
Lipidpool
Entzündungszellen
30,9 % 10,7 %
43,2 % 1. Tag
instabile (vulnerable) Plaque Überleben
Tag 2–28
Abb. 3.1 Mortalitätsdaten des akuten Myokardinfarkts nach dem MONICA/KORA-Herzinfarktregister Augsburg [1]. Beachtenswert ist die relativ hohe Mortalität noch vor Erreichen des Krankenhauses und im 1. Behandlungstag. Die hohe Effizienz moderner Herzinfarkttherapie (Katheterinterventionen, Thrombolysetherapie) greift zu spät. Im Mittel überleben auch heute nur ca. ⅓ der Patienten das akute Ereignis.
Erosionen und Thrombus
stabile Plaque
Lipidpool
dicke fibröse Kappe
Angaben sprechen von mindestens einer 50%igen akuten Mortalität. Daran haben die Erfolge der Akutkardiologie (Herzkatheterintervention, Thrombolyse, Intensivmedizin) nichts ändern können.
3.3
Pathophysiologie der Atherosklerose und deren Folgen
Die Atherosklerose ist eine zwar asymmetrische, aber systemische Erkrankung, die die meisten arteriellen Gefäße des Körpers befällt. Die Veränderungen sind meistens lange Zeit stumm (asymptomatisch), bis sie oftmals plötzlich zu einem akuten Ereignis führen (akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt oder plötzlicher Herztod). Der akute Myokardinfarkt tritt in über 50% der Fälle ohne irgendwelche vorausgegangenen Symptome auf. Die Erklärung findet sich in der Pathophysiologie der atherosklerotischen Plaque. Unter Einwirkung der bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren [2] und Aktivierung inflammatorischer und immunologischer Prozesse kommt es zur Invagination von Monozyten in die Intima, die als Makrophagen oxidiertes LDL-Cholesterin aufnehmen [3]. Die damit einhergehende endotheliale Dysfunktion führt schließlich zur Intimaverdickung, sog. „Fatty streaks“ (kleine intrazelluläre Lipiddepots der glatten Muskelzellen), Atheromen (zunehmend und schließlich massiven konfluierenden, extrazellulären Lipidansammlungen), die sich im Rahmen der progredienten Entzündungsreaktion zu einer instabilen Plaque wandeln. Deren fibröse Kappe reißt plötzlich durch exogene Einflüsse und kann durch Freisetzung von Phospholipiden, Gewebsfaktoren und plättchenadhäsiven Matrixmolekülen zu einem thrombotischen Gefäßverschluss führen (Abb. 3.2, [3]). Teilweise kommt es aber auch „nur“ zu endothelialen Erosionen, die wiederum atheromatös verheilen. Ist die Progression der Atherosklerose eher „stabil“, so kommt es über ein Gefäßremodeling schließlich
aa
b Abb. 3.2 a Schematische Differenzierung von instabiler (vulnerabel, rupturgefährdet) und stabiler atherosklerotischer Plaque. Wichtig ist die fibröse Deckplatte, die den intimalmedialen Lipidpool überdeckt. b Darstellung einer aufgebrochenen atherosklerotischen Plaque mit konsekutivem thrombotischem Verschluss der Herzkranzarterie im Querschnitt (Mikroskopie eines gefärbten Gewebspräparats).
zu einer graduellen Lumeneinengung des Gefäßes, die schließlich hämodynamisch relevant wird und zur Myokardischämie führt (Stadien nach Stary, [4], Abb. 3.3, Abb. 3.4). Wenn auch die höhergradige Stenose eine höhere Inzidenz der Ruptur mit Infarktfolge aufweist, so ist in den meisten Fällen die Ursache des Myokardinfarktes eine hämodynamisch nicht relevante Plaque (Abb. 3.3, [5, 6]). Die Betroffenen haben dementsprechend keine Prodromi (wie z. B. Angina pectoris). Von daher besteht der
29
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
prozentuale Stenose 0%
50 %
100 %
Plaque-Häufigkeit
Ereignis besteht die prinzipielle Gelegenheit, die ersten Veränderungen festzustellen (Abb. 3.4) und sekundärpräventive Strategien zu initiieren. Im Stadium der Fatty streaks, wahrscheinlich aber auch partiell in fortgeschritteneren Stadien, ist der atherosklerotische Prozess prinzipiell reversibel [3].
Komplikationsrisiko je Plaque
I
3.4
II III IV
Abb. 3.3 Stenosegrad; Plaque-Vorkommen und Komplikation nach Plaque-Progression [5]. Wenn auch der höhere Stenosegrad komplikationsträchtiger ist, so zeichnet in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle die hämodynamisch nicht relevante Koronarstenose für Plaqueruptur mit konsekutivem akuten Koronarsyndrom und Myokardinfarkt verantwortlich. Es bestehen daher in vielen Fällen keine Prodromi (z. B. Angina pectoris).
EKG
V
Echokardiografie Szintigrafie
VI
nichtinvasive Methoden
PET MRT Angiografie EBCT/MSCT
VII
Vasomotionstestung invasive Methoden 0%
IVUS/ICD Koronarangiografie 20 %
45 %
60 %
70 %
90 %
Abb. 3.4 Pathophysiologische Kaskade der atherosklerotischen Plaque und Koronarstenose (schematischer Querschnitt des Gefäßes I-IV) [4]. Zugeordnet sind verschiedene bildgebende Verfahren und deren Nachweisgrenze der atherosklerotischen Veränderungen (mod. nach [40]). Die Elektronenstrahltomografie wird heute vorwiegend durch die Mehrschicht-Computertomografie ersetzt. EKG = Elektrokardiogramm; PET = Positronenemissionstomografie; MSCT = Mehrschicht-Computertomografie; EBCT = Elektronenstrahl-Computertomografie.
Bedarf einer präklinischen Diagnostik, um die katastrophalen Auswirkungen vorauszusehen und durch präventive Maßnahmen zu verhindern. Die fehlende Symptomatik darf in diesem Rahmen einer solchen Diagnostik nicht entgegenstehen. Bei der präklinischen Detektion ist die lange Latenzperiode des atherosklerotischen Prozesses zu berücksichtigen. Dieser beginnt bereits in der Kindheit und akzeleriert in der 2. und 3. Lebensdekade. In diesem Zeitfenster zwischen den ersten Fatty streaks und dem klinischen
30
Kardiovaskuläre Risikofaktoren/ -marker, Risiko-Scores
Die folgenden, allgemein bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren für die Entstehung und Progression einer Atherosklerose lassen sich entsprechend den Erkenntnissen der PROCAM-Kohorte ([7], PROCAM-Study = Prospective Cardiovascular Münster Study), aber auch vieler anderer epidemiologischer Studien wie folgt auflisten: ● Rauchen ● erhöhtes LDL-Cholesterin ● Diabetes mellitus/Insulinresistenz ● erniedrigtes HDL-Cholesterin ● erhöhter systolischer Blutdruck ● familiäre Belastung ● erhöhte Triglyzeride Die hinreichend etablierte, besonders gravierende prognostische Bedeutung des Alters und Geschlechts wird bei fehlender Beeinflussbarkeit hier nicht zum Thema gemacht. Hervorgehoben sei, dass dem Diabetes mellitus mittlerweile die prognostische Bedeutung einer manifesten KHK zugesprochen werden kann, wie es in den Leitlinien der AHA konstatiert wird [LL2]. Die Aggressivität präventivmedizinischer Maßnahmen sollte sich demgemäß zwischen diesen beiden Krankheiten nicht unterscheiden. Da die Risikofaktoren häufig mehrfach vorliegen und die Ätiopathogenese der Atherosklerose ein multifaktorielles Geschehen ist, wurde die relative, synergistische und z. T. multiplikative Wirkung dieser Faktoren in Risiko-Scores zusammengefasst. Diesen liegen i. d. R. Algorithmen oder Punktesystemen zugrunde, die in großen prospektiven, epidemiologischen Studien ermittelt wurden. Beispielsweise ist für Deutschland der in Münster entwickelte PROCAM-Score [7, Web1] maßgeblich, andere sind der ESC-Score der European Society of Cardiology (ESC, [8, LL1, Web2]) und der Framingham-Score aus den USA [9, Web3]. Für Deutschland ist die repräsentative deutsche PROCAM-Kohorte mit der umfangreichen Berücksichtigung des Lipidstatus vorteilhaft. Auch für den ESC-Score ist eine Adaptierung auf deutsche Verhältnisse errechnet worden, allerdings bezieht sich dieser Score nur auf die Mortalität und nicht die Morbidität (nichtfatale Myokardinfarkte, Schlaganfälle). Der Framingham-Score ist relativ alt (Rekrutierung der Kohorte Ende der Vierzigerjahre, als in der Infarktbehandlung weder Thrombolyse noch Herz-
Kardiovaskuläre Risikofaktoren/-marker, Risiko-Scores
katheter-Interventionen etabliert waren), zudem überschätzt er das Risikoniveau in Deutschland und Europa erheblich [Web3].
Weblinks ● Web1: International Task Force for Prevention of Coronary
Heart Disease: http://www.chd-taskforce.com ● Web2: ESC-HeartScore: http://www.escardio.org/policy/
prevention/tools/health-toolkit/pages/heartscore.aspx ● Web3: Risk Assessment Tool (Heart Attack): http://hin.nhlbi.
nih.gov/atpiii/calculator.asp ● Web4: CARRISMA: http://www.carrisma.net/ ● Web5: CARRISMA-Pocket-LL: http://www.carrisma-pocket-LL.
de ● Web6: ARRIBA: http://www.arriba-hausarzt.de/ ● Web7: Multi-Ethnic Study of Atherosclerosis (MESA):
http://www.mesa-nhlbi.org ● Web8: Heinz Nixdorf Recall Studie: http://www.recall-studie.
uni-essen.de ● Web9: IDF Consensus Metabolic Syndrome: http://www.idf.
org/webdata/docs/Metabolic_syndrome_definition.pdf ● Web10: DGK-Leitlinien: http://leitlinien.dgk.org/
Das CARRISMA-System (Cardiovaskuläres Risiko-Management in der Primärprävention, [Web4]) superponiert auf die genannten Scores die zusätzliche prognostische Bedeutung des Body-Mass-Index (BMI), die Anzahl der gerauchten Zigaretten und die körperliche Aktivität anhand der in multivariaten Regressionsanalysen erhobenen unabhängigen Bedeutung dieser Parameter. Ein hoher BMI und starker Zigarettenkonsum können das Gesamtrisiko gegenüber PROCAM, ESC-Score und Framingham-Score verdoppeln. Regelmäßige körperliche Aktivität kann je nach Intensität das Ausgangsrisiko um bis zu 40% vermindern [Web5]. Ein weiterer Score-Algorithmus, der die Erfahrungen der großen Studien zusammen mit Beratungselementen (Gesprächsleitfaden etc.) auf die hausärztliche Praxis transportiert ist ARRIBA-Herz (Web6; s. a. Kap. 2). Risikofaktoren sind per definitionem ursächliche Faktoren der Atherosklerose-Entstehung und -Entwicklung. Sie bleiben auch nach Berücksichtigung anderer Variablen statistisch signifikante Kontributoren des koronaren
Risikos. Demgegenüber repräsentieren Risikomarker den atherosklerotischen Prozess ohne ursächliche Bedeutung. Ihre Risikoassoziation verschwindet, wenn andere Variablen mitberücksichtigt werden. Diese Differenzierung der Termini technici ist seitens konsekutiver Interventionsmaßnahmen wichtig. Ein Beispiel ist die Hyperhomocysteinämie, die offensichtlich als Marker für KHK und insbesondere akute Koronarsyndrome gelten kann, aber deren Behandlung mittels Vitamin B6, B12 und Folsäure keinen prognostischen Benefit gezeigt hat (HOPE II-Studie [10]) und daher ihren Weg in die Leitlinien nicht finden konnte. Eine Darstellung der Risikofaktoren und -marker kann sich im Rahmen dieses Check-Up-Beitrags nur auf deren Nennung beschränken. Es wird auf evidenzbasierte Übersichten verwiesen, wie z. B. der demnächst in aktueller 2. Auflage erscheinende „Pocket Guide to Prevention of Coronary Heart Disease“ der International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease in Kooperation mit der International Atherosclerosis Society [LL 3], der unter www.chd-taskforce.de bezogen werden kann. Auch auf die deutschen [LL4, LL5], europäischen [LL1] und amerikanischen Leitlinien sei hingewiesen [LL2, LL6]. Biochemische Risikofaktoren und -marker sollten folgende Kriterien erfüllen [LL3]: ● Die Messungen müssen präzise, akkurat und international standardisiert sein. ● Die einzelne Messung des Faktors/Markers sollte repräsentativ sein und keine speziellen präanalytischen Erfordernisse haben. ● Es muss ein Konsens der diagnostischen Cut-off-Werte existieren. ● Insbesondere neue Faktoren/Marker müssen die diagnostische Effektivität der globalen Risikoabschätzung durch die klassischen Risikofaktoren/-marker verbessern und sollten von speziellem Interesse bei Subgruppen sein, wie z. B. Frauen, Diabetiker oder Niereninsuffiziente. ● Idealerweise sollte das Vorhandensein des Risikofaktors eine spezifische therapeutische Implikation aufweisen. ● Der Faktor/Marker sollte einen günstigen Kosteneffekt haben.
Leitlinienbox LL1. Graham I, Atar D, Borch-Johnson K et al. European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Fourth Joint Task Force of the European Society of Cardiology and other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice. Eur J Cardiovasc Prev Rehab 2007;14(Suppl 2):S1-S113.
LL2. Pearson TA, Blair SN, Daniels SR et al. AHA guidelines for primary prevention of cardiovascular disease and stroke: 2002 update; consensus panel guide to comprehensive risk reduction for adult patients without coronary or other atherosclerotic vascular disease – American Heart Association science advisory and coordinating committee. Circulation 2002;106 : 388-91.
31
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
II III IV V VI VII
LL3. International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease in cooperation with the International Atherosclerosis Society under the term of affiliation agreement between these organisations. Pocket Guide to Prevention of Coronary Heart Disease. 2. Auflage. Grünwald: Börn Bruckmeier; 2008. LL4. Gohlke H, Kübler W, Mathes P et al. Positionspapier zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Z Kadiol 2005;94 (Suppl 3):III/113-III/115; [auch Web10]. LL5. Gohlke H, Schuler (Hrsg). Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Z Kardiol 2005; 94 (Suppl. 3); [auch Web10]. LL6. Greenland P, Abrams J, Aurigemma GP et al. Prevention Conference V: beyond secondary prevention: identifying the high-risk patient for primary prevention: noninvasive tests of atherosclerotic burden: Writing Group III. Circulation 2000;101:E16-E22. LL7. Coretti MC, Anderson TJ, Benjamin EJ, et al. Guideline for the ultrasound assessment of endothelial-dependent flow-mediated vasodilation of the brachial artery: a report of the international brachial artery reactivity task force. J Am Coll Cardiol 2002;39 : 257-65. LL8. Cerqueria MD, Weissman NJ, Dilsizian V et al. Standardized myocardial segmentation and nomenclature for tomographic imaging of the heart. A statement of healthcare professional from the cardiac imaging committee of the Council on Clinical Cardiology of the American Heart Association. Circulation 2002; 105 : 539-42. LL9. Greenland P, Bonow RO, Brundlage BH et al. ACCF/ AHA 2007 Clinical expert consensus document on coronary artery calcium scoring by computed tomography in global cardiovascular risk assessment and in evaluation of patients with chest pain. J Am Coll Cardiol 2007;49 : 378402.
3.5
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
Verschiedene nichtinvasive Untersuchungsverfahren können präklinische atherosklerotische Veränderungen feststellen und messen. Hiermit gelingt eine individuelle Risikostratifikation im Verlauf des pathophysiologischen Kontinuums und gestattet gezielte präventive Maßnahmen. Wichtig ist die Berücksichtigung der Prätestwahrscheinlichkeit. Die genannten Maßnahmen kommen vor allen Dingen bei intermediären Risikogruppen zum Tragen. Große, prospektive Studien werden derzeit durchgeführt, um die relative Wertigkeit der verschiedenen Verfahren zu evaluieren. Erste Ergebnisse werden z. Zt. bereits präsentiert und publiziert, die insbesondere die Bedeutung der bildgebenden Verfahren unterstreichen. In USA findet derzeit die Multiethnic Study of Atherosclerosis (MESA) statt, die 6814 Individuen an 6 Orten einschließt [11, weitere 100 Arbeiten unter Web7]. Es wer-
32
LL10. Hendel RC, Patel MR, Kramer CM, Poon M. ACCF/ ACR/SCCT/SCMR/ASNC/NASCI/SCAI/SIR 2006. Appropriateness criteria for cardiac computed tomography and cardiac magnetic resonance imaging. J Am Coll Cardiol 2006;48 : 1475-97. LL11. Malik M, Writing Committee of the Task Force. Heart rate variability. Standards of measurements, physiological interpretation, and clinical use. Circulation 1996;93 : 1043-65. LL12. O’Brian E, Asnar R, Beilin L et al. European Society of Hypertension recommendations for conventional, ambulatory and home blood pressure measurements. J Hypertens 2003;21 : 821-48. LL13. Fletcher GF, Balady GJ, Amsterdam EA et al. Exercise standards for testing and training: a statement for healthcare professionals from the American Heart Association. Circulation 2001;104 : 1694-740. LL14. Grundy SM, Cleeman JI, Merz NB et al.; for the Coordinating Committee of the National Cholesterol Education Program. Implications of recent clinical trials for the National Cholesterol Education Program Adult Treatment Panel III Guidelines. Circulation 2004; 110 : 227-39. LL15. Bundesärztekammer (BÄK), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM), Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM), Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (DGK), Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation e. V. (DGPR), Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie e.V. (DGTHG). Nationale Versorgungs-Leitlinie Chronische KHK. Langfassung. Version 1.4, November 2006 (äzg); Zugang unter www.versorgungsleitlinien.de.
den neben der körperlichen Untersuchung und Labordaten der Knöchel-Arm-Index (ABI, ankle brachial index), Intima-Media-Komplex (IMT, intima media thickness), Kalzium-Score (CAC) in der Mehrschicht-Computertomografie (MSCT), brachioarterielle Reagibilität, arterielle Wellenform-Analyse, Magnetresonanztomografie (MRT) der Karotiden und der Koronarien untersucht [Web7]. In Deutschland läuft z. Zt. die Heinz-Nixdorf-Recall-(HNR-) Studie (RECALL, Risk Factors, Evaluation of Coronary Calcium and Lifestyle), die eine prospektive, bevölkerungsbasierte Kohortenstudie darstellt und bei der in einer Zufallsstichprobe von ca. 4814 ausgewählten Probanden (55,8 % der Angesprochenen) aus dem Ruhrgebiet verschiedene nichtinvasive Untersuchungsverfahren inklusive Elektronenstrahl-Computertomografie (EBCT) hinsichtlich der prädiktiven Information evaluiert wird [12, 13, Web8]. Weiterhin wurden auch psychosoziale und umweltbedingte Risikofaktoren erfasst. Wenn auch die 5-Jahres-Ergebnisse noch ausstehen, konnten bereits wichtige phänomenologische Befunde erhoben werden
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
[13]: Die Prävalenz von Adipositas war bei Männern 26,2 %, bei Frauen 28,1 %, von arterieller Hypertonie 46 % bzw. 31 %, von Diabetes mellitus 9,3 % bzw. 6,3 % und von Nikotinabusus 26 % bzw. 21 %. Eine subklinische Arteriacarotis-Plaquebildung zeigten 43,2 % der Männer und 30,7 % der Frauen, eine subklinische periphere Verschlusskrankheit 6,4 % bzw. 5,1 % und eine subklinische Koronarsklerose 82,3 % bzw. 55,2 %. Die koronare Kalkbildung, quantifiziert mit dem Agatston-Score, überstieg einen kritischen Wert von ≥ 100 bei 40 % der Männer und 15 % der Frauen sowie den Wert von ≥ 400 bei 17 % bzw. 5 % der Teilnehmer. Neben der Frage des rationellen und rationalen Prozederes werden diese Studien auch das grundsätzliche Kosten-Nutzen-Verhältnis klären.
3.5.1
Klinische Untersuchung inklusive Anthropometrie
Die prognostische Bedeutung anthropometrischer Parameter (Körpergewicht, Körpergröße, BMI als Quotient aus Körpergewicht und Körpergröße zum Quadrat, Bauchumfang) ist bekannt und deren Messung (keineswegs ledigliche Anamneseerhebung) gehört zu jedem kardiovaskulären Check-Up. Der BMI ist nach einer kürzlich durchgeführten Metaanalyse entgegen seiner bis dato etablierten prognostischen Bedeutung relativiert worden. Als Maßstab des viszeralen Fetts kommt diese eher dem Taillenumfang zu, der bei Männern ab Werten > 94 cm (> 102 cm) und bei Frauen > 80 cm (> 88 cm) als zu groß definiert wird. Der absolute Hüftumfang als Surrogat des viszeralen Fettgewebes ist dem Taillen-Hüftumfangs-Verhältnis („waist-to-hip ratio“ = WHR) vorzuziehen. Ein kritischer Umgang mit diesen Werten ist notwendig, da in letzter Zeit erhebliche Heterogenitäten zwischen subkutanem abdominellen und dem prognostisch bedeutsamen viszeralen Fett festgestellt wurden. Dies ist präventivmedizinisch insbesondere eine Herausforderung bei den dünnen Individuen mit reichlich viszeralem Fett (sog. TOFI, „thin outside, fat inside“), die meist wenig körperliche Belastung haben. Hier sind differenzialdiagnostisch meist die Triglyzeride erhöht. Die Bildgebung (CT oder MRT) belegt den Befund. Zweckmäßig ist die bioelektrische Impedanzanalyse (BIA), die mittels elektrischer Wechselstromimpulse den unterschiedlichen Spannungsabfall und die Phasenverschiebung der Signalspannung misst und somit prozentuale und absolute Aussagen der Körperkompartimente gestattet, insbesondere Körperfett, -muskulatur und -wasser. Subkutane Fettfalten können mit einer Caliper-Zange gemessen werden, was allerdings eine standardisierte Messmethode voraussetzt, wie sie z. B. die Cooper Clinic in Dallas/Texas (USA) lehrt. Ansonsten hat immer eine gewissenhafte internistisch-kardiologische körperliche Untersuchung zu erfolgen. Klinisch besonders wichtig sind Zeichen der fortge-
schrittenen Atherosklerose, wie etwa eingeschränkte Palpation und/oder Strömungsgeräusche der Aorta, Femoral-, Popliteal- und Fußarterien sowie auch der Karotiden.
3.5.2
Labordiagnostik und Genanalysen
Labordiagnostik Die Labordiagnostik beinhaltet die Werte der kardiovaskulären Risikofaktoren und -marker (s. o.). Die Blutentnahme erfolgt nüchtern (über Nacht). In erster Linie wird das Profil der Lipoproteine, i.e. Gesamtcholesterin, LDL- und HDL-Cholesterin und die Triglyzeride erhoben. LDL-Cholesterin kann nach der Friedewald-Formel bestimmt werden (Gesamtcholesterin-HDL-Cholesterin[Triglyzeride/5]). Point-of-Care-Geräte (POC) ermöglichen die sofortige Bestimmung mit einem Tropfen Blut aus der Fingerbeere. Der Nüchternblutzucker und HbA1c sollten insbesondere bei höherem Risiko-Score oder manifester KHK durch einen oralen oder besser intravenösen Glukosebelastungstest ergänzt werden (auch mittels POC). Eine Insulinresistenz wird am zweckmäßigsten durch die Bestimmung des Proinsulins evaluiert. Der HOMA-Index (homeostasis model assessment; Insulin nüchtern [μU/ ml] × Blutzucker nüchtern [mg/dl]/405] ist aufwendiger und nicht vorteilhafter. Die Bestimmung von „Emerging risk factors“ ist insbesondere bei mittlerem Risiko sinnvoll. Eine Erhöhung des Lipoprotein (a) (Lp[a]) zeigte in einer Metaanalyse eine 70%ige Erhöhung der kardialen Eventrate im oberen verglichen mit dem unteren Patientendrittel. Der Cut-offWert ist 30 mg/dl. Andere Risikofaktoren wie LDL- und HDL-Cholesterin sowie auch arterielle Hypertonie werden durch Lp(a) aggraviert. Lp(a) ist genetisch determiniert. Erhöhtes Homocystein ist ein unabhängiger Risikomarker. Cut-off-Werte variieren zwischen 10 und 16 μmol/l. Folsäure und die Vitamine B6 und B12 erniedrigen die Spiegel, reduzieren aber nicht das KHK-Risiko. Gering erhöhte Spiegel des „high sensitive“ C-reaktiven Proteins (CRP) stellen einen signifikanten und unabhängigen kardiovaskulären Risikofaktor dar. Ein Spiegel > 1 mg/l entspricht einem mäßigem Risiko, > 3 mg/l einem hohen. Da CRP sehr stark durch Entzündungen jeglicher Art erhöht wird, ist ein Spiegel > 10 mg/l nicht mehr gebrauchbar für die kardiovaskuläre Risikostratifikation. Viele Studien konnten zeigen, das CRP die globale Risikoabschätzung über die üblichen Risikofaktoren/-marker verbessert. Trotzdem ist die Messung nur bei Individuen mit mittlerem Risiko empfohlen. Erhöhtes Fibrinogen wurde ebenfalls als unabhängiger Risikofaktor identifiziert. Es ist wie CRP ein akutes Phaseprotein (Cut-off 350 mg/dl). Die Urinausscheidung von Albumin zwischen 30 und 300 mg/24 h (Mikroalbuminurie) ist ein Marker von mikro- und makrovaskulären Schäden, insbesondere bei
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3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
II III IV V
Diabetes mellitus oder arterieller Hypertonie. Da ACEHemmer oder AT-II-Rezeptorantagonisten belegte Therapieerfolge haben, sollte diese Erhebung zumindest bei Diabetikern und Hypertonikern respektive dem Verdacht auf diese Erkrankungen erfolgen. Die 24-h-Urinsammlung kann rational und rationell auf eine repräsentative Morgenurin-Messung verkürzt werden. Das B-Typ-natriuretische Peptid (BNP) zeigt eine erhöhte myokardiale Wandspannung an. Es wird mit einer inaktiven Form, dem N-terminalen proBNP (NT-proBNP) freigesetzt. Beide sind ein diagnostischer und prognostischer Marker für die Herzinsuffizienz und linksventrikuläre Dysfunktion. BNP ist allerdings auch bei Lungenembolie, chronischer Niereninsuffizienz und Sepsis erhöht. Der praktikabelste und bestuntersuchteste Biomarker der oxidativen Schädigung von Lipiden und Proteinen ist die lipoproteinassoziierte Phospholipase A2 (Lp-PLA2), die von verschiedenen Entzündungszellen (Monozyten, Makrophagen, T-Zellen) sezerniert wird. Die Assoziation zur KHK ist unabhängig von traditionellen Risikofaktoren und anderen inflammatorischen Markern. Lp-PLA2 ist auch ein Risikofaktor für rezidivierende Ereignisse bei bestehender KHK.
● ●
●
●
Genanalysen
VI VII
●
Derzeit existieren in der Literatur Berichte über Assoziationen zwischen Koronarsklerose und mindestens 150 Polymorphismen (meistens Einzelnukleotidpolymorphismen, engl. single nucleotide polymorphism = SNP) in mindestens 80 Genen. Die von der Task Force for the Prevention of Coronary Heart Disease [LL3] vorgeschlagene Auswahl der Polymorphismen (Tab. 27.1) basiert auf den kürzlich von Humphries et al. [14] vorgeschlagenen Kriterien (siehe detaillierte Ausführungen Kap. 27).
3.5.3
Bildgebende Diagnostik der Atherosklerose
Die Kenntnis der Pathogenese und Phänomenologie der Atherosklerose (z. B. Kalzifizierung) ermöglicht die gezielte Suche nach dem pathologischen Substrat der makroskopischen strukturellen Veränderungen, die nichtinvasiven Untersuchungen zugänglich sind. Die ESC und andere europäische Gesellschaften [LL1] als auch die American Heart Association (AHA, [LL6]) empfehlen von daher diese Untersuchungen, um die Risikoeinschätzung von asymptomatischen Individuen zu verbessern. Die medizintechnische Entwicklung hat seit Kurzem verschiedene Verfahren hervorgebracht, die sich für diesen Zweck anbieten. Diese sollten prinzipiell folgende Kriterien erfüllen:
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Das Verfahren sollte ausschließlich nichtinvasiv sein. Trotz interessanter Potenziale invasiver Bildgebung, insbesondere hinsichtlich der Plaque-Charakterisierung (intravaskulärer Ultraschall inklusive Radiofrequenzanalyse im Sinne der virtuellen Histologie oder Elastografie, Angioskopie, optische Kohärenztomografie, Thermografie), verbietet sich deren Einsatz in einem klinischen Präventionskonzept (Anm.: Diese Techniken werden von daher hier nicht dargestellt). Im Unterschied zur kurativen Medizin ist nur ein deutlich niedrigeres Risiko-Nutzen-Verhältnis verantwortbar. Relevante Nebenwirkungen der Verfahren sollten nicht bestehen. Die Technik zur Aufdeckung der arteriellen Erkrankung ist valide, präzise, einfach und akzeptabel. Die Beziehung zwischen nichtinvasiv aufgedeckter arterieller Erkrankung und der Entwicklung einer symptomatischen kardiovaskulären Erkrankung wurde quantifiziert. Es gibt ein rationales und rationelles Screening-Konzept (Algorithmus), das sowohl das diagnostische Vorgehen, das Follow-up als auch die interventionellen Konsequenzen impliziert. Es liegt Evidenz dafür vor, dass Screening- und Interventionsergebnisse kardiovaskuläre Ereignisse reduzieren.
Zur Abklärung einer hämodynamisch relevanten KHK als Folge einer koronaren Atherosklerose werden nichtinvasive Methoden wie das Belastungs-EKG, die Stressechokardiografie oder Myokardszintigrafie verwendet, die in der klinischen Routine etabliert sind und ggf. in der invasiven Herzkatheterdiagnostik und/oder -therapie münden. Diese etablierten Verfahren werden nicht als primäre Screening-Methoden in der Prävention verwendet, da ihre diagnostische Güte bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit schlecht sind (Abb. 3.4). Dahingegen bieten die im Folgenden porträtierten bildgebenden Methoden die Möglichkeit, die Pathoanatomie der Atherosklerose unmittelbar nachzuweisen (Tab. 3.1). Diese stehen zwar im pathogenetischen Zusammenhang mit traditionellen und sog. „Emerging“-Risikofaktoren, aber dieser ist erheblich variabel. Diese Variation in der Erkrankung und Erkrankungsausprägung ist wahrscheinlich durch genetische Prädispositionsfaktoren sowie auch durch Interaktionen von genetischen und umweltbedingten Faktoren (s. Kap. 27) bedingt. Von daher ist die quantitative Messung der subklinischen Erkrankung als tatsächliche Folge der Risikofaktoren-Exposition mittels der bildgebenden Methoden hilfreich.
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
Tabelle 3.1 Kardiovaskuläre, bildgebende Verfahren, welche die asymptomatische Atherosklerose untersuchen. MRT = Magnetresonanztomografie; MSCT = Mehrschicht-Computertomografie; ABI = Arm-Knöchel-Index (ankle brachial index); PVR = Pulswellendarstellung (pulse volume recording). Untersuchung
Untersuchungsgegenstand
brachioarterielle Reagibilität, koronare Flussreserve Carotis-Duplex, MRT koronares Kalziumscoring (MSCT) MRT ABI, PVR, Sonografie, MRT-Angiografie Belastungs-EKG oder -Echokardiografie, Adenosin-MRT
endotheliale Funktion atherosklerotische Schwelle Plaque-Belastung Plaque-Komposition Extremitätenischämie Myokardischämie
Ultraschallmethoden Brachioarterielle Reagibilität Der früheste nachweisbare Aspekt einer beginnenden atherosklerotischen Erkrankung ist die endotheliale Dysfunktion und eingeschränkte Flussreserve, welche den irreversiblen Läsionen vorausgehen. Die brachioarterielle Reagibilität (engl. „flow mediated dilatation“ = FMD) mittels Ultraschall ist die bekannteste klinische Untersuchung für diesen Nachweis, bei der die Reagibilität der Brachialarterie auf einen hyperämischen Reiz (Adenosin, reaktive Hyperämie nach Blutstau) gemessen wird [LL7]. Das Verfahren wurde in prospektiven Studien untersucht und besitzt einen prädiktiven Wert für das ereignisfreie Überleben [15]. Es hat den Vorteil der einfachen Durchführung, der Nichtinvasivität und hoher Sensitivität. Es besteht allerdings eine substanzielle biologische Variabilität, sogar bei vollkommen Gesunden. Leider ist der Test noch nicht gut standardisiert.
Flussreservenbestimmung mittels transthorakaler Echokardiografie Seit Kurzem bestehen auch Möglichkeiten seitens der hochauflösenden transthorakalen Echokardiografie, die endotheliale Funktion direkt nichtinvasiv in den Koronararterien zu messen [16]. Der R. interventricularis anterior, aber seit Kürzerem auch die rechte Koronararterie, ist mit oder ohne pharmakologische Vasodilatation (z. B. Adenosin), Ultraschallkontrastmitteln oder beidem untersuchbar. Die Flussbestimmung mit dem Doppler korreliert eng mit invasiv bestimmten Flusswerten mittels Doppler-Flusskathetern. Der diagnostische Endpunkt bezieht sich vornehmend auf die arterielle, mikrovaskuläre Endstrombahn und nicht auf die epikardiale Koronarstenose. Auch für echokardiografisch Erfahrene ist ein hoher Trainingslevel Voraussetzung.
Knöchel-Arm-Index (ABI, ankle brachial index) Der ABI ist ein äußerst einfach zu bestimmender Parameter, um eine asymptomatische Atherosklerose festzustellen. Die technischen Voraussetzungen beinhalten eine Blutdruckmanschette und einen Taschen-Doppler, um den systolischen Blutdruck an der rechten und linken Armarterie sowie an den Aa. tibialis posterior und dorsalis pedis zu messen. Ein ABI < 0,9 bedingt eine ≥ 50%ige Stenose zwischen der Aorta und den distalen Beinarterien. Bei der sehr hohen Sensitivität und Spezifität (> 90 %) ist ein ABI < 0,9 ein sehr zuverlässiger Hinweis für eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK; getABI-Studie [17]). Der pathologische ABI liefert eine wichtige, zusätzlich zur Symptomatik bestehende Information, da 50 – 89 % der Patienten mit einem ABI < 0,9 keine typische Claudicatio aufweisen [18]. Die Vorgeschichte einer Claudicatio unterschätzt dramatisch das Vorliegen einer pAVK, was die ABI-Methode in der Präventionsdiagnostik besonders bedeutsam macht. Prognostisch ist das Vorhandensein einer pAVK mit der Inzidenz von koronaren Ereignissen und Schlaganfällen eng korreliert [18]. Sogar Patienten mit koronarer Mehrgefäßerkrankung weisen bei reduziertem ABI ein zusätzliches Risiko auf.
Duplexsonografie der Karotiden Bei weiter voranschreitendem atherosklerotischen Prozess können die vermehrt in der Gefäßwand eingelagerten Lipid- und Fibrinanteile als verdickte Intima (engl. „Intima media thickness“ = IMT) in der Duplexsonografie der Karotiden gemessen werden (Abb. 3.5). Hierbei bedient man sich Schallköpfen mit einer Schallfrequenz ≥ 8 MHz, die heute eine örtliche Auflösung < 0,4 mm aufweisen. Automatische Konturdetektionsverfahren quantifizieren die IMT über längere Gefäßstrecken zur Erhöhung der Genauigkeit. Standardisiert werden beide Karotisarterien gemessen, und zwar die A. carotis communis 1 cm proximal der Bifurkation als auch die A. carotis interna 1 cm distal der Bifurkation. Acht Messungen (beide Seiten mit der schallkopfnahen und -fernen Gefäßwand)
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3
Herz-Kreislauf-Check-Up
A. carotis externa
A. carotis interna
Bifurkation
I
II
10 mm
Bifurkation
10 mm
Communis
10 mm
Echokardiografie
III IV
Interna
liegt in vielen Fällen keine eindeutige Koinzidenz der Befunde vor (Ergebnisse der Nixdorf-Recall-Studie [13]). Trotzdem wird er von der AHA empfohlen und die Food and Drug Administration (FDA) sieht die Validität für die Entscheidungsfindung einer Medikation. Die Methode ist ebenfalls einfach in der Anwendung und preiswert. Weiterhin kann in der Sonografie der Karotiden die Plaque-Charakteristik beurteilt werden, die prädiktiv für kommende zerebrale Ereignisse ist [19]. Patienten mit echofreier Plaque-Morphologie (Lipide, Thromben, Hämorrhagien) haben ein deutlich höheres Risiko als solche mit anderer Morphologie.
Hautoberfläche
a
A. carotis communis
V VI VII b Abb. 3.5 a Messorte zur Bestimmung der Intima-MediaDicke (IMT) entsprechend den Leitlinien der ESC [LL1] und der ARIC-Studie (The Atherosclerosis Risk Communities Study, [19]). b Praktische Vermessung der IMT mit einem automatischen Konturdetektionsprogramm, das eine Mittelung des IMT-Wertes über 30 mm vornimmt. Angabe des mittleren, maximalen und minimalen posterioren IMT-Wertes als auch dessen Standardabweichung (SD).
werden gemittelt. Diese Standardisierung garantiert einen validen und reproduzierbaren Messwert. Sorgfältig durchgeführte, prospektive Studien haben die Prädiktion des erhöhten IMT für kardiale und zerebrovaskuläre Ereignisse gezeigt [19]. Obwohl das relative Ereignisrisiko gering niedriger nach statistischer Korrektur klassischer Risikofaktoren ausfällt, bleibt das Risiko bei hohem IMT hoch [20]. Die ARIC-Studie [19] konnte eine Hazard-Ratio für eine IMT von ≥ 1 mm im Vergleich zu einer von < 1 mm von 5,07 für Frauen und 1,85 für Männer belegen. Dies ist nur ein Surrogatparameter für die KHK, der durch den besseren diagnostischen Zugangsweg im Vergleich zu Koronar- oder Zerebralarterien nutzbar ist. Allerdings
36
Prinzipiell sind die proximalen Koronarsegmente mit der transösophagealen Echokardiografie darstellbar, und der Koronarstenosennachweis gelingt bei vorliegender Expertise mit zuverlässiger diagnostischer Genauigkeit. Der semiinvasive Zugang limitiert diese Methode in der Präventivmedizin. Auch transthorakal können Koronarsegmente dargestellt werden. Bei schlechterer örtlicher Bildauflösung wird hierbei meist die o. g. koronare Flussreserve mittels Adenosin-Applikation gemessen. Wichtiger für die Risikostratifikation ist die Echokardiografie allerdings zur zuverlässigen Messung einer linksventrikulären Hypertrophie, z. B. bei arteriellem Hypertonus. In der Differenzialdiagnostik, Therapieüberwachung und Prognostik sollte dieser Befund evaluiert und quantifiziert werden. Regionale Wandbewegungsstörungen mit topografischer Zuordnung entsprechend dem 17Segmentmodell der AHA [LL8] sollten sorgfältig ausgeschlossen werden, wie auch eine globale systolische und/oder diastolische linksventrikuläre Dysfunktion. Eine Quantifizierung als auch höhere Sensitivität und Spezifität gestattet die Gewebe-Doppler-Echokardiografie und deren Weiterentwicklung des „Strain-“ und „Strain rate imagings“, die weitestgehend unabhängig von Rotations- und Translationsbewegungen des Herzens sind. Mit dieser Methode sind bereits früheste linksventrikuläre Störungen z. B. beim Diabetiker erkennbar, die in der konventionellen Echokardiografie noch unentdeckt bleiben. Das seit Kurzem verfügbare 2D-strain auf der Basis des „Speckeled imaging“ verbessert weiter die diagnostische Güte. Der etwaige Befund eines durchgemachten (stummen) Myokardinfarktes stellt den Untersuchten in den tertiärpräventiven Zusammenhang, welcher andere therapeutische Implikationen aufweist als die Primäroder Sekundärprävention.
Mehrschicht-Computertomografie (MSCT) Koronarkalzifizierungen repräsentieren Atherosklerose der Koronararterien. Sie kommen nicht in gesunden Arterien vor. Andererseits zeigen atherosklerotisch erkrankte
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
1,0 0,9
Sensitivität (richtig-positiv)
0,8 0,7 0,6 0,5
EBCT AUC = 0,91 NCEP II AUC = 0,74
0,4 0,3
3
0,2 0,1 0,0 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 1-Spezifität (falsch-positiv)
a
Abb. 3.6 ROC-Darstellung der diagnostischen Güte, die den prognostischen Informationsgehalt des CAC in der EBCT zusätzlich zur Risikostratifizierung eines Scores (Framingham nach NCEP) darstellt [22]. Endpunkte waren akute Koronarsyndrome. Die Auftragung verschiedener Cut-off-Werte der Sensitivität (Ordinate) vs. 1-Spezifität (Abszisse) zeigt die weiter nach links oben gelegene Kurvenbeugung des CAC (100%ige Genauigkeit in der Grafikecke links oben, 50%ige und damit rein zufällige „Genauigkeit“ bei geradem, diagonalem Kurvenverlauf). Die Autoren hatten 1173 asymptomatische Individuen untersucht, die über 3,5 Jahre verlaufskontrolliert wurden. ROC = receiver operator curve, AUC = area under the curve, CAC = Kalziumscoring, NCEP = National Cholesterol Education Program.
Koronararterien nicht immer Kalzifizierungen. Sie liegen erst bei weiter fortgeschrittener Atherosklerose vor. Kalzifizierungen sind kein Indikator für Stabilität oder Instabilität der atherosklerotischen Plaque [21]. Im akuten Koronarsyndrom zeigt sich allerdings nahezu immer Koronarkalk. Die Befunde sind unabhängig von den traditionellen Risikofaktoren und geben zusätzliche prognostische Informationen ([22, LL9], Abb. 3.6). Zwischen dem Grad der Koronarverkalkung und der IMT besteht nur ein schwacher Zusammenhang (Spearman-Korrelationskoeffizient bei Männern der Nixdorf-Recall-Studie [13] von nur 0,26). Die Elekronenstrahl-Computertomografie (EBCT) ist heute durch die MSCT (64-, 2 × 64-[Dual Source-] und 320-Zeiler) ersetzt worden. Sie erlaubt die nichtinvasive Detektion und Quantifizierung der koronaren Atherosklerose (Abb. 3.7). Andere Methoden zu dieser Diagnostik existieren nicht, die konventionelle Röntgen-Durchleuchtung ist nicht sensitiv genug für die Befunderhebung in frühen Stadien. Die überwiegende Mehrheit der zur Verfügung stehenden publizierten Daten bezüglich Vorhandensein oder Ausschluss von koronarer kalzifizierter Atherosklerose
b Abb. 3.7 a Dreidimensionale Rekonstruktion der Herzdarstellung (Volume rendering) mittels 2 × 64-Zeilen-Computertomografie (Dual Source Somatom Definition, Siemens AG Medical Solutions). Darstellung der unauffälligen RCA und des RIVA der linken Koronararterie, die nach Abgabe eines diagonalen Astes einen Kalibersprung aufweist, der auf das distale Ende eines Stents zurückzuführen ist. b Nichtinvasive Koronarangiografie in der axialen Schnittbilddarstellung. Es zeigen sich im Verlauf des RIVA multiple, umschriebene Kalzifizierungen als auch sog. „weiche“ Plaques. RCA = rechte Koronararterie, RIVA = R. interventricularis anterior.
(„Agatston-Score", s. u.) stammt von der EBCT. Bei der EBCT wird keine rotierende Röntgenröhre verwendet, sondern rasch rotierende Elektronenstrahlen zur Aktivierung der Röntgenstrahlung. Von daher ist die räumliche Auflösung gut (Akquisitionszeit 100 ms/Bild). Grenzen
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Herz-Kreislauf-Check-Up
I
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findet die Methode in den hohen Kosten und der eingeschränkten Verfügbarkeit. Daher wird heute der MSCT der Vorzug gegeben, deren ultraschnelle Rotationszeit (330 ms je Rotation) inzwischen bei 2 × 64 Zeilen eine zeitliche Auflösung von 83 ms und eine räumliche (isotrope) Auflösung von < 0,24 mm erlaubt. Zum Nachweis von Koronarkalzifizierungen können die Bilder bei einmaligem Luftanhalten und ohne Kontrastmittel akquiriert werden. Die Bestrahlungsexposition während des Kalziumscorings (CAC) beträgt ungefähr 1 mSv, wie sie auch für die Untersuchung für Schwangere zugelassen ist oder bei zwei Interkontinentalflügen auftritt. Seit Längerem wird die Menge an koronarer Kalzifizierung als Agatston-Score angegeben, welcher als einfacher Parameter das Areal und die Dichte des kalzifizierten Plaques angibt [23]. Seit Kurzem werden auch volumetrische Parameter angegeben, wie das totale Kalziumvolumen (mm³), die Kalziummasse (mg) oder die Kalziumdichte (mg/mm³). Für klinische Belange konnten diese Parameter ihre Überlegenheit gegenüber dem Agatston-Score nicht dokumentieren. Die Wertigkeit des Scores wird durch die Berücksichtigung von Alter und Geschlecht erhöht, was durch Nutzung von Nomogrammen wie z. B. aus der Nixdorf-Recall-Studie erleichtert wird. Der Nachweis von koronaren Kalzifizierungen korreliert nicht mit relevanten Koronarstenosen ≥ 50 %. Wenn auch in der nichtinvasiven CT-Angiografie (CTA) insbesondere bei erheblichen Verkalkungen kein sicherer Stenosebefund erfassbar wird, kann aus dem Koronarkalknachweis nicht unmittelbar die Herzkatheterindikation abgeleitet werden, sondern als nächster Schritt die Ischämiediagnostik. Hier bevorzugt man die Stressechokardiografie oder Adenosin- oder Dobutamin-MRT (prinzipiell auch die Myokardszintigrafie, deren zusätzliche Strahlenexposition im Gesamt-Workflow aber vermieden werden sollte), die im Gegensatz zum bisher üblichen Belastungs-EKG die topografische Zuordnung von Ischämie und Koronarläsion herstellen kann. Andererseits zeigt das CAC mittels MSCT einen extrem hohen negativen prädiktiven Wert. Ein Agatston-Score von 0 hat einen negativ prädiktiven Wert von nahezu 100 %. Von daher kann bei einem Patienten mit atypischen Beschwerden und einem Score von 0 auf eine invasive Diagnostik verzichtet werden. In anderen Fällen ist im Zusammenhang mit der o. g. bildgebenden Ischämiediagnostik die nichtinvasive Koronarangiografie mittels CTA zu überdenken, deren Sensitivität und Spezifität mit der modernen Gerätetechnologie heute > 90 % liegt [LL10]. Die prognostische Information des Nachweises von Koronarkalzifizierungen ist durch viele prospektive Studien belegt [LL9]. Patienten mit altersgemäß überdurchschnittlichem Verkalkungsgrad profitieren nachweislich von einer gezielten Statintherapie, sogar bei „normalen" Cholesterinwerten [24, 25]. Bei aggressiver Senkung des LDL-Cholesterins kann über die Reduktion der Kalzifizierungsprogression sogar eine Regression bestehender Ver-
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kalkungen nachgewiesen werden [24], wenn dieser Befund im Weiteren auch kontrovers berichtet wurde. Die vor Kurzem publizierte ASTEROID-Studie belegte allerdings im intravaskulären Ultraschall sogar die Möglichkeit eines Atheromrückgangs durch aggressive Statintherapie [25]. Neben dieser Tatsache können die anschaulichen, dem Patienten dargestellten und ausführlich erläuterten CT-Bilder eine erhebliche Motivation zur Lebensstilmodifikation darstellen [26].
Magnetresonanztomografie (MRT) Technisch kommt es in einem aufgebauten großen lokalen Magnetfeld (1,5 oder 3 Tesla) zu einer gerichteten Protonenausrichtung des Gewebes. Durch Erregung mittels eines Radiofrequenzpulses infolge der Rückstellbewegung der Protonen wird das Bild generiert. Vorteil der Methode ist die fehlende ionisierende Strahlung. Die MRT erlaubt die Bildgebung der Arterienwand und die Differenzierung von Plaquekomponenten. Auch eine nichtinvasive Koronarangiografie ist prinzipiell möglich, aber vergleichsweise zur MSCT nur mit deutlich schlechterer Bildauflösung. Sensitivität, Spezifität und Robustheit der Technik sind derzeit nicht hoch genug, um eine präventivmedizinische Diagnostik hinsichtlich koronarer Plaque- oder Koronarstenosennachweis zu gewährleisten. Eine angiografische Darstellung des gesamten arteriellen Systems ist in einer Ganzkörper-MRT-Angiografie mittlerweile in einem Untersuchungsgang möglich, was der Erfassung der Atherosklerose als systemischer, aber asymmetrischer Erkrankung entgegenkommt (Abb. 3.8). Es werden in ca. 7 % der asymptomatischen Check-UpIndividuen relevante, z. T. auch interventions- oder operationsbedürftige Befunde gefunden, wie ein Präventivzentrum in einer laufenden Serie von n = 1007 feststellen konnte (stumme Myokardinfarkte, Karotisstenosen, Aortenaneurysmen, zerebrale Aneurysmen, gleichzeitig vergleichsweise weniger häufig extrakardiovaskuläre Neubildungen, [27]). Wichtig sind die mehr oder weniger generalisierten Gefäßwandunregelmäßigkeiten von den Karotiden bis zur A. dorsalis pedis als Ausdruck und Ausmaß der vorliegenden Atherosklerose. Eine interessante, aber in der klinischen Routine noch nicht etablierte Möglichkeit ist die experimentelle Plaque-Charakterisierung (Differenzierung der PlaqueKomponenten nach biophysikalischen und -chemischen Parametern, z. B. Wassergehalt, physikalischer Status, Molekülbewegung, Diffusion). Die maximale örtliche Auflösung liegt bei 0,66 × 0,66 × 2 mm³, die derzeit relevant nur die Plaque-Charakterisierung peripherer Arterien gestattet.
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
Fusion Imaging Erhebliche Fortschritte der bildgebenden Modalitäten haben vor Kurzem auch dazu geführt, dass komplementäre diagnostische Aussagen verschiedener Bildgebungsmodalitäten in einem gemeinsamen Koordinatensystem auf einer Computerplattform integriert oder auch in einem Hybridgerät (Positronenemissionstomografie [PET], als PET-CT oder PET-MRT) zusammengeführt werden. Die Darstellung der Koronaranatomie zusammen mit der hiermit zusammenhängenden Koronarperfusion ist damit möglich. Für die molekulare Bildgebung atherosklerotischer Wandveränderungen der Koronararterien ist die möglichst genaue Überlagerung von Struktur und Radiopharmakonanreicherung angesichts der geringen Größe, der kardialen Bewegung und atemabhängigen Artefakten noch eine wissenschaftliche Herausforderung der Zukunft. Dennoch zeigen erste Daten, dass sich mit der PET die entzündliche Aktivität atherosklerotischer Plaques nachweisen lässt, insbesondere der aktivierten Makrophagen und Matrixmetalloproteinasen [28].
3.5.4
Funktionelle Untersuchungen
In Ergänzung der zuvor dargestellten Bildgebung der unmittelbaren atherosklerotischen Veränderungen sollte ein Herz-Kreislauf-Check-Up die funktionelle Komponente untersuchen. Neben der Objektivierung und Quantifizierung des Fitnesslevels sind die Befunde wichtig zur Beratung und des Follow-Up der umgesetzten Maßnahmen.
Elektrokardiografie und Herzratenvariabilität
a
b
Abb. 3.8 a Ganzkörper-MRT mit Kontrastmittel-Angiografie, Normalbefund (mittels Magnetom Avanto SQGerät, 3 Tesla, Siemens AG Medical Solutions). b Supraaortale Darstellung in 3-dimensionaler Rekonstruktion, Stenose der A. carotis interna links.
Das einfache und routinemäßig abgeleitete 12-KanalRuhe-EKG zeigt den Stromkurvenverlauf der Erregungsbildung und -leitung des Herzens. Durchgemachte Myokardinfarkte werden erkannt, Hinweise auf (sub-)akute Myokardischämien oder Myokarditiden werden gefunden und sowohl Erregungsblockierungen als auch Rhythmusstörungen festgestellt. Wichtig in der Präventivmedizin ist die Quantifizierung der Herzratenvariabilität (HRV, [LL11]), die als Ausdruck des autonomen Nervensystems eine prognostische Bedeutung (kardiovaskuläre Mortalität, plötzlicher Herztod) besitzt. Die leichte Bestimmung aus einem hochaufgelösten EKG resultiert in einer grafisch anschaulichen Spektralanalyse der RR-Intervallvariabilität (NN-Intervalle, „normal-to-normal“) respektive deren Standardabweichungen (SDNN, „time domain“). Eine 5-minütige Registrierung ist ausreichend, die auch unter Provokationsmanövern vorgenommen werden kann. Durch eine nonparametrische Fast-Fourier-Transformation können 2 Frequenzbanden dargestellt werden, eine niedrigfrequente (LF, mit Anteilen des Sympathikus) und eine hochfre-
39
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
quente (HF, mit Anteilen des Parasympathikus) (sog. „frequency domain“). Die Reduktion der HRV (bedingt durch Stress, myokardiale Perfusionsstörungen, linksventrikuläre Dysfunktion, schlechten Trainingszustand, auch durch chronische Entzündungskrankheiten, vielfach auch bei diabetischer Neuropathie etc.) hat eine schlechtere Prognose. Je höher die HRV ist, desto schneller und flexibler passt sich das Herz den internen und externen Einflüssen an und desto besser ist die Reaktion des gesamten Organismus auf die Umwelt.
II III IV V VI VII
Blutdruckwerte und Pulswellenanalyse Der erhöhte Blutdruck ist ein etablierter Risikofaktor der Atherosklerose und ihrer Folgen wie KHK, Herzinsuffizienz, zerebrovaskuläre Erkrankungen und Niereninsuffizienz. Der Pulsdruck (Differenz von systolischem und diastolischem Blutdruckwert) ist bei vermehrter arterieller Steifigkeit erhöht und geht mit einer schlechteren Prognose einher, er sollte daher gesondert dokumentiert werden. Die korrekte Messung der Blutdruckwerte bedarf der praktischen Berücksichtigung einiger Aspekte. Wegen der Blutdruck-Variabilität sind mehrere Messungen erforderlich, im Zweifelsfall immer und unbedingt auch eine 24Stunden-Messung. Die nichtinvasive Messung mittels eines konventionellen Sphygmomanometers nach RivaRocci erfolgt in sitzender Position am rechten und linken Arm (atherosklerotische Veränderungen der A. subclavia oder peripherer Arterien) mit einer umfangsadäquaten Manschettenbreite nach 5 min Ruhepause. Der diastolische Wert ist beim kompletten Verschwinden der Töne (Phase V) definiert. Insbesondere bei Älteren und Diabetikern muss zusätzlich im Stehen gemessen werden, um orthostatische Dysregulationen auszuschließen. Eine internistische Ursachenabklärung, Erfassung von Endorganschäden und Komorbiditäten sind zur fokussierten Behandlung erforderlich [LL12]. Mit speziellen Pulswellenanalyse-Messgeräten wird mittels einer Applanationstomometrie die Pulswelle der Aorta erfasst, aus der zum einen der Augmentationsindex (Verhältnis der Spitze der primär ausgeworfenen Welle und die der reflektierten Pulswelle) und zum anderen die Pulswellengeschwindigkeit vermessen wird. Diese Parameter quantifizieren das Ausmaß der systemischen, arteriellen Gefäßsteifigkeit oder reziproke Abnahme der Gefäßelastizität, also früheste Veränderungen der Atherosklerose. Auch der zentrale Aortendruck wird messbar, der zuverlässiger als der brachial gemessene ist. Wichtig bei solchen Messungen ist eine mindestens 10-minütige Ruhephase, ein möglichst nüchterner Zustand (als auch kein Rauchen oder Alkohol) und so weit möglich das Absetzen kardiovaskulär wirksamer und antihypertensiver Medikamente.
40
Fitness-Assessment, Ergospirometrie Die prognostische Bedeutung des Fitnesslevels ist außerordentlich groß und übertrifft – gemessen als aerobe Leistungskapazität – die etablierten kardiovaskulären Risikofaktoren [LL1]. Übergewicht wird verhindert, eine Dyslipoproteinämie und Insulinresistenz werden günstig beeinflusst, der Blutdruck erniedrigt und die endotheliale Funktion verbessert. Von daher ist i.R. eines Herz-Kreislauf-Check-Ups eine ergospirometrische Untersuchung angezeigt, in der unter kontinuierlicher Messung die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) gemessen wird, die den kardiopulmonalen Leistungsgrad angibt. In der Relation zur Kohlendioxidabgabe (respiratorischer Quotient = 1 bei Übertreffen von VO2) wird die anaerobe Schwelle angegeben, die ein objektives Maß der kardiopulmonalen Funktion darstellt. Belastungsprotokolle wurden in Leitlinien der AHA abgefasst [LL13]. In der Ergospirometrie ist dem Rampenprotokoll (kontinuierliche Steigerung der Belastung) der Vorzug zu geben, wenn auch der Nachteil einer schwierigeren Korrelation parallel bestimmter Laktatwerte (durch kapillare Punktion im Ohrläppchen) besteht.
3.5.5
Einbindung der Diagnostik in präventivmedizinische Algorithmen
Der präventivmedizinischen Diagnostik muss eine sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte und klinische Untersuchung vorausgehen. Besonderes Augenmerk muss auf die Konstellation klassischer kardiovaskulärer Risikofaktoren gelegt werden. Diese Erhebungen lassen sich im Punktesystem des PROCAM-Scores ([7]), der auf Deutschland abgestimmten Version des europäischen ESC-Scores [8] oder der das Risiko überschätzenden amerikanischen Variante des Framingham-Scores [9] zu einem Gesamtrisiko-Score kalkulieren. Die kardiovaskuläre Bildgebung hat in erster Linie ihre Bedeutung in der Dokumentation einer risikofaktorbedingten, sich entwickelnden Atherosklerose, um das Kontinuum des progressiven Prozesses zu verfolgen. Aufwendigere Methoden wie das CAC und die CTA mittels MSCT kommen bei Individuen mit mittlerer Risikokonstellation infrage [LL9, LL10]. Die MSCT ist nicht als unkritische Screening-Methode einzusetzen. Nach den ESC- [LL1] und ACC-/AHA-Leitlinien [LL9] ist das CAC bei selektionierten asymptomatischen Individuen mittlerer Risikoträchtigkeit durchzuführen, wenn im Vergleich zu klassischen Risikofaktoren eine zusätzliche Analyseinformation für die therapeutische Strategie zu erwarten ist. Die Ergebnisse neuerer Studien, insbesondere der „Heart Protection Study“ (HPS, [29]), der „Pravastatin or Atorvastatin Evaluation and Infection Therapy“-Studie (PROVE-IT, [30]) und der „Treating to New Targets“-Studie (TNT, [31]) legen nahe, dass bei Patienten mit besonders hohem Myokardinfarktrisiko ein LDL-Cholesterin-
Präklinische Diagnostik der Atherosklerose
Tabelle 3.2 Neue, sog. „Emerging risk factors“ entsprechend der Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease [LL3]. Das Vorhandensein des Risikomarkers unter A allein oder von mindestens zwei der Risikofaktoren unter B kann dazu führen, den Patienten in eine höhere Risikokategorie einzustufen. Diese kann auch das Behandlungsziel für das LDL-Cholesterin beeinflussen. Es ist möglich, dass sich die Bedeutung einzelner Risikofaktoren in den kommenden Jahren ändern wird. Da derzeit keine klare Evidenz aus der Epidemiologie bekannt ist, liegt die Verwendung dieser Risikofaktoren sowie der angegebenen Grenzwerte im Ermessen des behandelnden Arztes. A Hinweis auf Atherosklerose über nichtinvasive bildgebende Verfahren, z. B. ein Wert oberhalb der 75. Perzentile des alters- und geschlechtsadjustierten Kalziumscores der koronaren Arterien beziehungsweise der Karotis-Intima/ Media-Dicke. B und/oder ≥ 2 der folgenden Risikofaktoren: – Lipoprotein (a) ≥ 30 mg/l – CRP > 3 mg/l in Abwesenheit einer akuten Entzündung – Homocystein ≥ 12 μmol/l – ≥ 4 der 10 genetischen Risikofaktoren, v. a. bei Patienten mit positiver Familienanamnese für KHK CRP = C-reaktives Peptid, KHK = koronare Herzkrankheit
Zielwert von ≤ 70 mg/dl anstatt wie bisher ≤ 100 mg/dl indiziert sein könnte. Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Risikoprädiktion liegt in der Verwendung neuer Risikomarker. In einem kürzlich veröffentlichten Dokument schlägt die International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease vor, neuer definierte Risikofaktoren zu verwenden, um die Risikovorhersage zu verbessern
[LL3]. So wird zunächst eine Risikoeinteilung mittels des PROCAM-Algorithmus vorgenommen, um den symptomlosen Untersuchten in eine von drei Gruppen (niedriges/ moderates, intermediäres oder hohes Risiko) einzuteilen. Patienten mit einer manifesten Koronarsklerose gehören automatisch in die Hochrisikogruppe. Bei etwa ¾ aller männlichen Patienten, die ein 10-Jahres-Myokardinfarktrisiko unter 10 % haben, müssen keine weiteren Untersuchungen vorgenommen werden. Bei den Patienten in der intermediären oder hohen Risikogruppe kann es dagegen sinnvoll sein, die neuen Risikofaktoren zur genaueren Risikoeinteilung vorzunehmen. Hat ein Hochrisikokandidat oder ein solcher in der intermediären Risikogruppe Hinweise auf eine Atherosklerose mittels nichtinvasiver Methoden (IMT in der Ultraschalluntersuchung der A. carotis, CAC/Plaquedetektion in der MSCT) oder mindestens zwei der weiteren neuen Risikofaktoren/ -marker (Lipoprotein [a], CRP, Homocystein sowie genetische Faktoren), so wird er in die nächst höhere Risikogruppe eingestuft. Das heißt, ein Kandidat, der aufgrund der klassischen Risikofaktoren ein intermediäres Risiko aufweist, wird in die Hochrisikogruppe eingestuft, und ein anderer, der aufgrund der klassischen Risikofaktoren bereits ein hohes Risiko aufweist, wird in eine neue Gruppe mit sehr hohem Risiko eingestuft. Da der Zielwert für das LDL-Cholesterin von der Risikoeinstufung abhängt, hat diese Klassifikation auch direkte Implikationen für die präventivmedizinischen Maßnahmen (Tab. 3.2, Tab. 3.3). Ähnliche Überlegungen wurden auch vom „Adult Treatment Panel III“ (ATP III) des National Heart,
Tabelle 3.3 Risikostratifizierung und LDL-Cholesterin-Behandlungsziele nach der International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease [LL3]. In der PROCAM-Studie fielen etwa 8 % aller Männer in die Gruppen I und II. Etwa 15 % fielen in die Gruppe III und 77 % in die Gruppe IV. Bei Frauen in der PROCAM-Studie im Alter zwischen 45 und 65 Jahren war das KHK-Risiko mit 25 % so hoch wie bei Männern mit demselben Risikoscore. Bei Frauen mit Diabetes mellitus war das KHK-Risiko jedoch genauso hoch wie bei gleichaltrigen diabetischen Männern. Bei Patienten in der Risikogruppe IV erübrigt sich wegen des niedrigen Basisrisikos die Bestimmung weiterer Risikofaktoren. Klasse
Charakteristika
Risikokategorie
LDL-Zielwert
Symptomatische Patienten Ia
manifeste KHK plus schlecht kontrollierte Risikofaktoren wie z. B. Rauchen, Diabetes mellitus oder metabolisches Syndrom und/oder neue Risikofaktoren
sehr hohes Risiko
< 100 mg/dl < 70 mg/dl als therapeutische Option
Ib
manifeste KHK
hohes Risiko
< 100 mg/dl
Asymptomatische Patienten IIa
10-Jahres-KHK-Risiko > 20 % plus neue Risikofaktoren
sehr hohes Risiko
< 100 mg/dl < 70 mg/dl als therapeutische Option
IIb
10-Jahres-KHK-Risiko > 20 %
hohes Risiko
< 100 mg/dl
IIIa
10-Jahres-KHK-Risiko 10 – 20 % plus neue Risikofaktoren
hohes Risiko
< 100 mg/dl
IIIb
10-Jahres-KHK-Risiko 10 – 20 %
intermediäres Risiko
< 130 mg/dl
IV
10-Jahres-KHK-Risiko < 10 %
niedriges oder moderates Risiko
< 160 mg/dl
LDL = low density lipoprotein, PROCAM = Prospective Cardiovascular Münster Study, KHK = koronare Herzkrankheit
41
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
Lung and Blood Institute in Kooperation mit der American College of Cardiology Foundation und der AHA ausgesprochen [LL14]. Hier wurden auch die Lifestyle-Aspekte hervorgehoben sowie auch die Verwendung zusätzlicher Medikamente zu den Statinen (z. B. Fibrate und Nikotinsäure bei niedrigem HDL-Cholesterin und erhöhten Triglyzeriden in den sehr hohen Risikogruppen). Es sollte jedoch betont werden, dass aufgrund des derzeitigen Fehlens zwingender epidemiologischer Evidenz die Entscheidung zur Bestimmung dieser zusätzlichen Risikofaktoren im Ermessen des behandelnden Arztes liegt.
II 3.5.6
III IV V VI VII
Indikationen, Interpretationen und rechtliche Fragen
Die diagnostischen Verfahren haben nur eine klinisch brauchbare Güte, wenn sie bei Individuen mit einer mittleren Prätestwahrscheinlichkeit appliziert werden (s. o.). Von daher ist ein entsprechendes algorithmisches Vorgehen im Indikationsprozess und Workflow notwendig. Bei der Interpretation der Befunde ist die Möglichkeit falsch positiver und negativer Befunde zu bedenken, wenn diese auch durch das o. g. algorithmische Vorgehen bereits reduziert werden (hohe Rate falsch positiver Befunde bei niedriger Prätestwahrscheinlichkeit, hohe Rate falsch negativer Befunde bei hoher Prätestwahrscheinlichkeit). In Zweifelsfällen oder grenzwertigen Befundausprägungen kann eine andere, vergleichende Untersuchungsmodalität (z. B. Sonografie vs. MRT) helfen oder eine Follow-Up-Untersuchung projektiert werden. Wie oben erwähnt, ist in der Präventivmedizin das Risiko-Nutzen-Verhältnis niedriger als in der kurativen Medizin zu fordern. Sind trotzdem Untersuchungen mit potenziellen, unerwünschten Nebenwirkungen (Röntgenuntersuchungen) sinnvoll, so ist neben der medizinischen auch die rechtliche, speziell rechtfertigende Indikation zu wahren. Dies gilt besonders für die CT, die daher präventivmedizinisch niemals eine Screening-Untersuchung darstellt. In jedem individuellen Fall ist eine vorausgehende Risikostratifizierung erforderlich, die nach den Fachgesellschaften eine MSCT im intermediären Risikobereich erlaubt [LL1]. Dies steht dann im Zusammenhang mit den Vorschriften der Röntgenverordnung (RöV). (§ 2a Rechtfertigung: [2] Medizinische Strahlenexpositionen im Rahmen der Heilkunde, Zahnheilkunde oder der medizinischen Forschung müssen einen hinreichenden Nutzen erbringen, wobei ihr Gesamtpotenzial an diagnostischem oder therapeutischem Nutzen, einschließlich des unmittelbaren gesundheitlichen Nutzens für den Einzelnen und des Nutzens für die Gesellschaft, abzuwägen ist gegenüber der von der Strahlenexposition möglicherweise verursachten Schädigung des Einzelnen.).
42
3.6
Präventive Maßnahmen
Auf der Grundlage der Risikostratifikation und Check-UpDiagnostik sind gezielte Maßnahmen zu ergreifen. Da deren Wirkgrad bei manifester KHK [LL15], die auch bei Koronarkalzifierungen ohne hämodynamische Stenosierungen vorliegen kann, oder Hochrisikoindividuen deutlich höher ist als bei Menschen mit niedrigem Risiko, hat sich die Interventionsintensität daran zu orientieren. Es ist weitgehende Expertenmeinung, dass das präventivmedizinische Ziel ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Interventionsintensität und Schweregrad des kardiovaskulären Risikos beinhalten sollte. Dies gilt insbesondere für die gezielte Reduktion bestehender kardiovaskulärer Risikofaktoren und die Komplikationsprophylaxe einer bestehenden Atherosklerose. Für die Beeinflussung beider Komponenten ist die prognostische Bedeutung belegt.
3.6.1
Gezielte Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren
Abbruch des Nikotinabusus Eine differenzierte Abhandlung der Raucherentwöhnung findet sich in Kapitel 36. Seitens der Kardiologie gibt es keine lohnenswertere Präventivintervention als der wiederholte Zuspruch zur Enthaltsamkeit. Die ESC [LL1] empfiehlt die „5 A“: ● Ask: systematische Identifikation aller Raucher zu jeder Gelegenheit ● Assess: Bestimmung der Suchtausprägung und des Willens, mit dem Rauchen aufzuhören ● Advise: intensives Drängen auf alle Raucher, mit dem Rauchen aufzuhören ● Assist: Zustimmung zu einer Strategie der Einstellung des Rauchens inkl. Verhaltensberatung, Nikotinersatztherapie und/oder pharmakologische Intervention ● Arrange: Organisieren eines Terminfahrplans für Follow-Up-Besuche.
Übergewicht und Adipositas Gewichtsreduktion ist für adipöse (BMI ≥ 30 kg/m²) oder übergewichtige Individuen (BMI ≥ 25 und < 30 kg/m²) dringend zu empfehlen. Als Maßstab und Zielgröße des viszeralen Fetts sollte allerdings eher der Hüftumfang gemessen werden, der bei Männern mit > 94 cm (102 cm) und bei Frauen mit > 80 cm (> 88 cm) als zu groß definiert wird. Fitness- und Ernährungsempfehlungen zur Erreichung des Normgewichtes sind in Kapiteln 33 und 34 ausgeführt.
Präventive Maßnahmen
Arterieller Hypertonus Die Therapie des erhöhten Blutdrucks hängt ganz besonders von den Befunden des Check-Ups ab. Die Entscheidung einer Behandlung und Behandlungsart hängen von der Koinzidenz weiterer Risikofaktorenbefunde (insb. Diabetes mellitus), bereits vorliegender Endorganschäden oder auch der bereits vorliegenden Manifestation einer KHK ab. Präventivmedizinisch ist anzumerken, dass Lebensstilmodifikationen wie Raucherentwöhnung, Fitnesstraining und Gewichtsnormalisierung bereits deutliche Blutdrucksenkungen bewirken. Bei Hochrisikoindividuen sollte der Blutdruck < 140/90 mmHg eingestellt werden, ggf. durch zusätzliche medikamentöse Therapie (nach WHO normaler Blutdruck 130/85 mmHg). Bei der Wahl der Medikation sind Komorbiditäten zu berücksichtigen. Effektive Pharmaka, die zudem eine Senkung von Mortalität und Morbidität erzielen, sind Diuretika, Betablocker, ACE-Hemmer, Kalziumkanalblocker und Angiotensin-II-Antagonisten.
Dyslipoproteinämie Generell sollten das Gesamtcholesterin < 190 mg/dl und das LDL-Cholesterin < 115 mg/dl sein [LL3]. Bei manifester, stenosierender oder nichtstenosierender KHK, Hochrisikoindividuen mit einem Myokardinfarktrisiko > 20 % in 10 Jahren oder dem KHK-Äquivalent eines Diabetes mellitus sollte das LDL-Cholesterin < 100 mg/dl sein. Nach Modifikation der Bewegungs- und Ernährungsgewohnheiten ist die Wahl ein Statin-Präparat, das die größte prognostische Relevanz aufweist. Verfügbare Statine sind derzeit Atorvastatin, Fluvastatin, Lovastatin, Pitavastatin, Pravastatin, Rosuvastatin und Simvastatin. Die am stärksten wirksamen Präparate sind Atorvastatin (10 – 80 mg/d) und Rosuvastatin (5 – 40 mg/d). Mit den Erkenntnissen aus Lipidstudien wie HPS [29], PROVE-IT [30] und TNT [31] ist aber davon auszugehen, dass bei „Very-high-risk“-Individuen eine besonders aggressive Intervention mit dem LDL-Cholesterin-Zielwert < 70 mg/ dl prognostisch vorteilhaft ist [LL3]. Die ESC-Leitlinien haben den Zielwert < 80 mg/dl vorgegeben [LL1]. Insbesondere bei solchen engagierten Therapiezielen kann eine Kombination mit anderen lipidsenkenden Medikamenten sinnvoll sein (Gallensequestrant, Ezetimibe, Niacin). Das differenzialdiagnostische Vorgehen i.R. des entsprechenden Check-Ups ist in Kapitel 3.5.5 dargestellt. Die Behandlungsziele von erniedrigten HDL-Cholesterin- und Triglyzeridwerten sind weniger klar definiert, wenn auch HDL-Cholesterinwerte bei Männern < 40 mg/ dl und bei Frauen < 50 mg/dl und Nüchtern-Triglyzeridwerte > 150 mg/dl als Marker eines erhöhten kardiovaskulären Risikos gelten. Diese Werte sollten Eingang in den Entscheidungsprozess der Lipidtherapie erhalten. Mit Niacin kann das HDL-Cholesterin um ca. 10 – 25 % erhöht werden, mit Fibraten als auch Statinen um
5 – 15 %. Der selektive Cannabinoid-1-Rezeptorblocker, der primär zur Gewichtsreduktion eingesetzt wird, kann HDL um ca. 25 % erhöhen. Triglyzeride werden am besten mit Fibraten gesenkt. Lp(a) kann mit Nikotinsäure erniedrigt werden, verstärkt durch die Kombination mit Statinen.
Diabetes mellitus und Insulinresistenz Die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ II und prädiabetische Konditionen wie Insulinresistenz oder pathologische Glukosetoleranz können durch Lebensstilmodifikationen verhindert oder verzögert werden, damit auch die entsprechenden mikrovaskulären Komplikationen. Reduktion des Übergewichts und vermehrte körperliche Aktivität sind die primären Präventionsmaßnahmen, die auch bereits bei der Insulinresistenz gelten. Eine medikamentöse Therapie wird beim Diabetes zusätzlich initiiert, wenn diese Maßnahmen nicht zu einer zufriedenstellenden Reduktion der Hyperglykämie oder Hyperinsulinämie führen. Behandlungsziele zu Blutdruck und Fettstoffwechsel sind engagierter als sonst üblich (Tab. 3.4).
Metabolisches Syndrom Menschen mit einem metabolischen Syndrom (Abb. 3.9) haben ein hohes kardiovaskuläres Risiko [32]. Die Kriterien für die Diagnose eines metabolischen Syndroms der International Diabetes Federation (IDF) wurden 2005 wie folgt festgelegt: ● erhöhter Taillenumfang (≥ 94 cm bei Männern, ≥ 80 cm bei Frauen) ● plus zwei der folgenden Kriterien (bzw. bei * spezifischer Behandlung für diese Indikationen): – ↑ Triglyzeride (> 150 mg/dl)* – ↓ HDL Cholesterin* (Männer < 40 mg/dl, Frauen < 50 mg/dl) – ↑ Blutdruck* (≥130/85 mmHg) – ↑ Nüchternblutzucker (> 100 mg/dl) oder Diabetes
Tabelle 3.4 Behandlungsziele bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ II [LL1]. Parameter
Physikalische Einheit
Ziel
HbA1c venöse Glukose (Serum) selbst monitorisierte Glukose
% mg/dl
Blutdruck Gesamtcholesterin LDL-Cholesterin
mmHg mg/dl
≤ 6,1 < 110 (nüchtern/ präprandial) 70–90 (nüchtern/ präprandial) 70–135 (postprandial) < 130/80 < 175
mg/dl
< 100
mg/dl
43
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
II III IV V VI
Odds Ratio Myokardinfarkt
I
Neben subkutanem Fett kann man mithilfe eines MSCT (Abb. 3.10) auch ausgeprägte viszerale Fettanteile erkennen. Da der Lebensstil einen erheblichen Einfluss auf alle Komponenten hat, ist die wichtigste Maßnahme die professionelle Überwachung von Lebensstilmodifikationen. Im Vordergrund stehen die Gewichtsabnahme und Erhöhung körperlicher Aktivität. Der erhöhte Blutdruck, die Dyslipoproteinämie und Hyperglykämie/Hyperinsulinämie erfordern ggf. eine vorübergehende, zusätzliche medikamentöse Therapie entsprechend den vorhandenen Leitlinien [LL1]. Für die Rationale der Pharmakotherapie einer erhöhten Insulinresistenz mit nachweisbarer Hyperinsulinämie (z. B. PPARγ-Antagonisten = Glitazone oder CB1-Blocker) gibt es Belege, die aber noch keinen Eingang in Leitlinien gefunden haben.
5,0
4,50
4,29 3,76
4,0 3,0 2,22 2,0 1,0 0,0 abdominale Hypertonie Adipositas
VII
abnorme Lipide
Diabetes
Abb. 3.9 Odds Ratios der aktuell wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren entsprechend der INTERHEART-Study [32].
3.6.2
Lebensstilmodifkationen, LifestyleCoaching
Häufig indiziert der Check-Up-Befund die Änderung einer ungesunden Lebenshaltung. Dies stellt die Herausforderung einer effektiven Präventivmedizin dar. Leider haben große Register wie die EUROASPIRE-I- und -II-Surveys gezeigt, dass trotz aller Bemühungen ein beträchtlicher Optimierungsbedarf in der Lebenstilmodifikation besteht [33]. Daher ist eine verhaltenstherapeutische Kompetenz des Beraters erforderlich (s. a. Kapitel 38). Eine Beraterstrategie wie die der ESC [LL1] erscheint sinnvoll und erfolgversprechend: ● therapeutische Allianz mit dem Betreffenden herstellen und entwickeln ● Herbeiführung von Zugeständnissen des Betreffenden, Lebensstilveränderungen einzuleiten ● Vergewissern, dass der Betreffende den Zusammenhang von Lebensstil, Gesundheit und Erkrankung verstanden hat ● Hilfestellung für den Betreffenden zur Überwindung der Barrieren zur Lebensstilveränderung ● Involvieren des Betreffenden bei der Identifikation zu verändernder Risikofaktoren ● Entwurf eines Plans der Lebensstilveränderung ● Strategien entwerfen, wie eigene Kräfte des Betreffenden zur Veränderung reaktiviert werden können ● Monitorisierung des Fortschritts der Lebensstilveränderung durch Follow-Up-Kontakte ● Involvieren anderer Gesundheitsberufe wenn immer möglich Die Notwendigkeit des kontinuierlichen, repetitiven Prozesses dieser Maßnahmen darf allerdings nicht mit der früher üblichen Ermahnung (mit dem erhobenen Zeigefinger) verwechselt werden. Die Vermittlung muss sein, dass richtig umgesetzte Prävention nachhaltige Lebensfreude und -genuss bedeutet.
Bewegung und Fitness
Abb. 3.10 Das anliegende MSCT-Bild zeigt einen abdominellen Querschnitt bei metabolischem Syndrom, in dem ausgeprägte viszerale Fettmassen neben den subkutanen zu erkennen sind (Einzelheiten zu den IDF-Kriterien beim metabolischen Syndrom siehe Text).
44
Grundsätzliche Ausführungen zum Thema finden sich in Kapitel 33. Bei den kardiologischen Fachgesellschaften hat sich in den letzten Jahren eine recht übereinstimmende sportliche Empfehlung etabliert, die daher umso verbindlicher ist. Gesunde sollten für eine günstige präventive Zielsetzung einer Freude bereitenden Aktivität nachgehen, die einem Ausdauersport zugeordnet werden kann (Jogging, Nordic Walking, Spazierengehen oder Wandern, Fahrradfahren, Schwimmen etc.). Diese sollte sich regelmäßig in die tägliche Routine einbinden lassen und vorzugsweise 30 min nahezu täglich mit 3 – 6 MET (= „Metabolic equivalent“, 1 MET entspricht 1 kcal/kg/h; Schwitzen und Tachykardie, ca. 60 – 75%igen maximalen Herzfrequenz entsprechend) ausgeübt werden (American College of Sports Medicine [ACSM], Centers for Disease
Präventive Maßnahmen
Control and Prevention [CDC]). Zumindest gilt die Empfehlung einer Belastungsintensität, die ein Gespräch während des Sports zulässt. Optimaler und insbesondere bei Herzkranken empfohlen sollte die Intensität durch Leistungstests vorgegeben werden. Die Belastung sollte unterhalb der anaeroben Schwelle liegen. Ein individuelles Trainingsprogramm wie z. B. die Reduktion erhöhten Körperfettgewebes (Bestimmung mittels BIA-Methode) oder ein Aufbautraining kann anhand der ergospirometrischen Daten durch einen gezielten Trainingsfrequenzbereich effektiv gestaltet werden. Ein Verbrauch von ca. 3500 kcal/ Woche kann entsprechend der Harvard-Alumni-HealthStudie, in der 12 516 Teilnehmer in einem prospektiven Follow-Up über 16 Jahre kontrolliert wurden [34], als empfehlenswert betrachtet werden. Wenn bisher auch von wenigen Leitlinien getragen, kann der zusätzliche Kraftsport (Fitness-Studio, Workouts) in einer Frequenz von 2–3 ×/Woche empfohlen werden; dabei sollten Probleme des muskuloskelettalen Apparates (s. Kap. 10) fokussiert mitberücksichtigt werden.
Ernährung, Gewichtsreduktion Die Grundlagen einer allgemein gesunden Ernährung im Sinne der Salutogenese werden in Kapitel 34 ausgeführt. Aus kardiovaskulärer Sicht sind unter Berücksichtigung der kulturellen Gebräuche in Deutschland folgende wichtigen Aspekte zu nennen: ● Ernährung sollte abwechslungsreich sein, die Energieaufnahme sollte auf den Energieverbrauch und das ideale Körpergewicht abgestellt sein. ● Der Konsum der folgenden Nahrungsmittel ist zu empfehlen: Früchte und Gemüse, Produkte mit niedrigem oder keinem gesättigten Fettanteil, Fisch und weißes Fleisch (Geflügel), Vollkornprodukte (Brot). ● Öliger Fisch und pflanzliche Öle (z. B. Raps-, Lein- und Olivenöl) mit Omega-3-Fettsäuren sind protektiv wirksam. Omega-3-Fettsäuren maritimer Herkunft sind vorzuziehen. ● Der gesamte Fettanteil sollte nicht mehr als 30 % der Energieaufnahme beinhalten und der Anteil gesättigter Fette sollte nicht mehr als ⅓ der gesamten Fettaufnahme ausmachen. Die Aufnahme von Cholesterin sollte unter 300 mg/Tag liegen. ● Zucker und Kohlenhydrate mit hohem glykämischen Index sollten gemieden werden (cave: Insulinresistenz). ● Das (Nach-)Salzen sollte vermieden werden, auf schmackhafte Gewürze kann zurückgegriffen werden. ● Ausreichende bis großzügige Trinkmenge beachten, so weit keine Herzinsuffizienz vorliegt (2 – 3 l). ● Alkohol und insb. Rotwein mit einem hohen Anteil an Flavanoiden (Resveratrol) scheint in Maßen, d. h. ca. 20 – 30 g beim Mann und ca. 10 – 20 g bei der Frau (Frauen haben eine geringere Enzymkonzentration der Alkoholdehydrogenase in der Leber) atherosklero-
●
seprotektiv zu sein. Der Alkoholgehalt gebräuchlicher Getränke in g/100 ml liegt für Bier bei 2 – 5, für Wein bei 6 – 11, Sekt 7 – 10 und Branntwein bei 32 – 50. Wegen der schädlichen extakardialen Wirkungen höherer Dosierungen und der noch nicht genauer geklärten Wirkmechanismen sind die kardiovaskulären Fachgesellschaften derzeit in der proaktiven Empfehlung noch zurückhaltend. Nährstoff- und Vitaminsupplementierung haben bei Berücksichtigung der o. g. Ernährungsempfehlungen keine Indikation. Zum Teil bestehen kontraproduktive Effekte, wie etwa bei höher dosierter Vitamin-E-Applikation, da mehr pro- als antioxidative Effekte auftreten. Auch Beta-Carotin und Vitamin A scheinen die Mortalität zu erhöhen, wie eine kürzlich publizierte große Metaanalyse zeigen konnte [35]. Die Vitamin-B- und Folsäuregabe bei Hyperhomocysteinämie hat sich in den letzten großen Studien wie HOPE-II [10] und anderen als nicht effektiv herausgestellt. Die einzige sinnvolle Supplementierung scheint eine Omega-3-Fettsäureester-Gabe zu sein, wenn eine Nahrungsaufnahme von Fisch oder entsprechenden pflanzlichen Ölen nicht möglich ist [LL1].
Psychosoziale Balance Es liegen mittlerweile ausreichende Hinweise dafür vor, dass psychosoziale Aspekte eine signifikante präventive Bedeutung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen besitzen. In randomisierten Studien wurden mittlerweile mehrere 100 000 Patienten untersucht. Einer der wegweisenden Kardiologen auf diesem Gebiet ist Dean Ornish, der die epidemischen psychologischen Faktoren der modernen Industriekultur wie Einsamkeit, Isolation, Entfremdung, Feinseligkeit und Depression als Ursachen einer „Emotional and spiritual heart disease“ wissenschaftlich erarbeitet hat. In seinem Buch „Love & Survial, 8 Pathways to Intimacy and Health“ [36] räumt er dem psychologischen Ansatz eine größere Bedeutung ein als diätetischen Maßnahmen, Raucherentwöhnungs- und Fitnessprogrammen, der Genetik oder pharmakotherapeutischen, interventionellen und operativen Therapien. Es konnten sogar Verbesserungen der koronaren Pathoanatomie durch aggressive Lifestyle-Interventionen nachgewiesen werden, wie die Lifestyle Heart Trial [37] in einem 5-jährigen Beobachtungszeitraum zeigen konnte. Gleichzeitig wurde die kardiale Eventrate (Herztode, Bypassoperationen und PCI [= perkutane koronare Interventionen]) in der Interventionsgruppe halbiert. Aufsehen erregte das Multicenter Lifestyle Demonstration Project [38], in dem 80 % der Patienten mit Indikationen für eine koronare Bypassoperation oder Intervention in der Lage waren, auf diese durch aggressive Lebensstilmodifikationen zu verzichten. Der offensichtlich wichtigste psychologische, protektive Faktor ist Liebe und soziale Geborgenheit, deren Fehlen in vielen Studien ein reproduzierbares, im Mittel 2- bis 5-
45
3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
II III
faches Risiko für vorzeitigen kardiovaskulären Tod mit sich bringt. Weiterhin wird eine feindselige Persönlichkeitsstruktur als sehr wichtige Variable der KHK angesehen, die aber häufig eine Manifestation von Einsamkeit und Isolation ist und in einen Circulus vitiosus münden kann. Dies ist offensichtlich der entscheidende Faktor i.R. der früher als Typ-A-Verhalten (Zeitnot und Hetze, schnelles Sprechen, gleichzeitige Ausführung mehrerer Dinge) zugewiesenen höheren Infarktgefährdung [39]. Die Interventionskaskade von Ornish lautet: „commitment (Zusage) → trust (Vertrauen) → vulnerability (Verletzlichkeit) → initimacy (Intimität) → healing (Heilung)“, während die fehlende erfolgreiche Intervention in der folgenden Kaskade endet: „fear/no commitment (Angst/ keine Zusage) → mistrust/cynicism (Misstrauen/Zynismus) → hostility (Feindseligkeit) → closed off (Verschlossensein) → isolation (Isolation) → disease/premature death (Krankheit/vorzeitiger Tod)“ (s. a. Kapitel 35).
IV 3.6.3
V VI VII
Präventive Pharmakotherapie
Neben der gezielten, medikamentösen Therapie kardiovaskulärer Risikofaktoren, gibt es die Rationale präventiver Medikamente bei pathoanatomischem Nachweis einer Atherosklerose: ● Acetylsalicylsäure oder andere thrombozytenaggregationshemmende Medikamente (niedrigst dosiert, derzeit leitliniengerecht 100 mg) ● Statine, die durch ihre pleiotropen Wirkeffekte auch ohne vorliegende Dyslipoproteinämie bei Vorliegen einer Atherosklerose überdacht werden ● Betablocker nur in den Fällen, bei denen die koronare Atherosklerose bereits zu einem Myokardinfarkt oder einer sonstigen ischämischen linksventrikulären Dysfunktion geführt hat ● ACE-Hemmer nur in den Fällen mit genereller linksventrikulärer Dysfunktion (unabhängig ob diesbezügliche Symptome vorliegen oder nicht) und/oder arterieller Hypertonie ● Antikoagulation in den Fällen, bei denen die kardiovaskulären Folgen der Atherosklerose zu Zuständen einer erhöhten thromboembolischen Gefahr geführt haben Zur Acetylsalicylsäure ist zusätzlich anzumerken, dass die niedrig dosierte Applikation auch zur Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen bei Individuen ohne nachweisbare Atherosklerose führt, und zwar beim Vorliegen eines Diabetes mellitus, gut kontrolliertem arteriellen Hypertonus und bei Männern mit hohem multifaktoriellen kardiovaskulären Risiko.
46
Kasuistik Exemplarische Kasuistik eines Herz-Kreislauf-CheckUps Ein 56-jähriger Abteilungsdirektor eines großen Mischkonzerns stellt sich zum Herz-Kreislauf-Check-Up vor. Es bestehen lediglich stressabhängige wiederkehrende Verspannungen im Lendenwirbelsäulenbereich. Aus Zeitgründen wird kein Sport verübt, und es besteht kein gesundheitsbewusstes Ernährungsverhalten. Vorgeschichtlich ist er nie ernsthaft erkrankt, gibt aber in der Abfrage der kardiovaskulären Risikofaktoren folgende Angaben: Der Vater hatte im Alter von 53 Jahren einen Myokardinfarkt, auch ein Onkel litt an einer KHK. Weiterhin hatte er bis vor kurzem inhalativ 20 Zigaretten/Tag geraucht. Die körperliche Untersuchung erbringt einen BMI von 27,2 kg/ cm² (geringes Übergewicht), einen Bauchumfang von 102 cm (< 94 cm normal), in der BIA erhöhtes Körperfettkompartiment, ansonsten unauffälliger kardiologischer Untersuchungsbefund. Das LDL-Cholesterin war bei 135 mg/dl, das HDL-Cholesterin mit 40 mg/dl erniedrigt und die Triglyzeride bei 132 mg/dl. Der Blutdruck war wiederholt gemessen im Mittel 140/85 mmHg. Damit ergab sich nach dem PROCAM-Score ein intermediäres Risiko (Myokardinfarkt-Risiko 10,9 % für die nächsten 10 Jahre). Dies qualifiziert ihn für weitergehende präventivmedizinische Diagnostik. Während in der Ultraschalluntersuchung alters- und geschlechtsadjustierte durchschnittliche, gemittelte IMT-Werte gefunden werden (0,6 – 0,7 mm) zeigt sich im CAC der MSCT-Untersuchung ein Agatston-Score von 233 ohne hämodynamisch relevante Koronarstenosen in der CTA. In einer dem Fitness-Assessment dienenden Ergospirometrie konnte bei Ausbelastung zudem eine Myokardischämie ausgeschlossen werden. Der Agatston-Score liegt alters- und geschlechtsadjustiert über der 75. Perzentile (nach den Daten der Nixdorf-Recall-Studie), was eine Hochgruppierung in ein hohes kardiovaskuläres Risiko bedeutet. In einem ausführlichen Beratungsgespräch werden diesem Patienten die bildgebenden Befunde erklärend demonstriert, die ihn für die daraus erwachsenden Folgen motiviert machen. Die empfohlenen Lebensstilmodifikationen fokussieren sich unter Kenntnis des erhöhten BMI und Bauchumfangs und der in der BIA gemessenen erhöhten Körperfettkompartimentierung zunächst auf ein Fitnessprogramm. Der in der Ergospirometrie festgestellte VO2max- und anaerobe Schwellenwert erlauben die Definition eines frequenzdefinierten Trainingsbereichs zum Körperfettabbau. Es sollte als Basis eine tägliche halbe Stunde Ausdauersport (z. B. Jogging) unter Zuhilfenahme einer Sportpulsuhr ausgeführt werden. Zusätzlich wird ein Krafttraining in einem Fitnessstudio mit einer Frequenz von 2 Besuchen/Woche empfohlen, um durch einen gezielten Muskelaufbau die metabolische Funktion zu verbessern. Die ggf. im MRT gefundenen spezifischen Veränderungen des LWS-Syndroms werden in diesem Programm berücksichtigt, indem eine Auftrainierung der Lendenwirbelsäulenmusku-
Präventive Maßnahmen
latur durch den Personal Trainer anvisiert wird. Ad 2 erfolgt eine Ernährungsberatung, die insb. auf eine kalorische Reduktion als auch Verminderung der gesättigten Fette und Kohlenhydrate zugunsten von Obst, Salat und Gemüse („mediterrane“ Ernährung) abgestellt wird. Ad 3 wird ein Stressmanagement, das bisher nicht systematisch aufgestellt wurde, mit Entspannungstechniken (Muskelrelaxation nach Jacobson) eingeleitet und ein Occupational Health Management mithilfe eines der Firma nahestehenden Beratungsunternehmens vorgeschlagen. Je nach Bedarf werden für diese Lebenstilmodifikationen paramedizinische Kompetenzen (Personal Trainer, Ökotrophologen, Psychologen) involviert. Eine präventivmedizinische Pharmakotherapie besteht aus der Initiierung einer Thrombozytenaggregationshemmung mittels niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (100 mg) und einer Statintherapie, wobei ein LDL-Cholesterin von < 100 mg/dl, besser < 70 resp. 80 mg/dl angestrebt wird.
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3
Herz-Kreislauf-Check-Up
I
II III IV
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Pathophysiologie
4
Prävention des Schlaganfalls H. C. Diener
●
●
●
●
Das Wichtigste in Kürze Schlaganfälle sind die dritthäufigste Ursache von vorzeitigem Tod in Deutschland und die häufigste Ursache für permanente Behinderung. Dem Schlaganfall liegen entweder eine zerebrale Ischämie (80 – 85 %), eine zerebrale intraparenchymale Blutung (10 – 15 %) oder eine Subarachnoidalblutung (3 – 5 %) zugrunde. Beim Schlaganfall wird unterschieden zwischen der Primärprävention, die ein erstes Ereignis verhindern soll, und der Sekundärprävention, die ein Rezidivereignis nach erlittenem Schlaganfall oder transienter ischämischer Attacke (TIA) verhindern soll. Bezüglich der meisten kardiovaskulären Risikofaktoren ist gesichert, dass deren Beeinflussung sowohl die Häufigkeit primärer Ereignisse wie von Rezidivschlaganfällen verhindert.
4.1
Definitionen
Zerebrale Ischämie. Unter einer zerebralen Ischämie versteht man eine lokale Durchblutungsstörung des Zentralnervensystems (ZNS), die zu einem fokalen neurologischen Defizit führt, das länger als 24 Stunden anhält. Zeigen sich die Symptome weniger als 24 Stunden, spricht man von einer transienten ischämischen Attacke (TIA). Von einer Makroangiopathie spricht man, wenn durch Ultraschallverfahren, Katheter-, CT- oder MR-Angiografie über 50 %-ige Stenosen oder Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien nachgewiesen werden. Von kardialer Ursache spricht man, wenn der Schlaganfall durch eine Embolie aus dem Herzen bedingt ist, bspw. im Rahmen von Herzklappenfehlern oder Vorhofflimmern. Von einer Mikroangiopathie spricht man, wenn kleine lakunäre Infarkte im Rahmen einer Hyalinose penetrierender Hirnarterien auftreten. Unter der Rubrik „andere Ursachen“ werden seltene Ursachen wie Vaskulitiden oder Dissektionen hirnversorgender oder intrakranieller Arterien subsumiert. Intrakranielle Blutungen. Intrakranielle Blutungen werden nach anatomischen und ätiologischen Gesichtspunkten unterteilt. Unterschieden werden parenchymatöse, subarachnoidale, subdurale und epidurale Blutungen. Unter einer parenchymatösen Blutung versteht man eine Blutung in das Hirnparenchym. Diese können primär im Rahmen einer Hypertonie auftreten oder sekundär im
Rahmen einer Gerinnungsstörung, bspw. durch Antikoagulanzien. Parenchymatöse Blutungen kommen auch altersunabhängig durch Ruptur arteriovenöser Malformationen vor. Unter einer Subarachnoidalblutung versteht man eine Blutung in den Subarachnoidalraum, bedingt durch die Ruptur eines Aneurysmas. Weiter differenziert werden hier ● unrupturierte intrakranielle Aneurysmen mit dem Risiko einer Aneurysmaruptur und ● klinisch apparente Subarachnoidalblutungen. Subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie. Hier handelt es sich um eine Erkrankung kleiner Hirnarterien im Rahmen von Hypertonie und Diabetes mellitus. Dieses Krankheitsbild geht mit einer Trias aus progredienter Demenz, Gangapraxie und zentraler Blasenstörung einher.
4.2
Epidemiologie
Die Inzidenz der zerebralen Ischämie beträgt 300 pro 100 000 Einwohner pro Jahr, die der TIA liegt bei 100 pro 100 000 pro Jahr. Intrazerebrale Blutungen verursachen 10 – 17 % aller Schlaganfälle. In der Europäischen Union erleiden jährlich etwa 90 000 Menschen eine intrazerebrale Blutung. Die Inzidenz nichttraumatischer Subarachnoidalblutungen beträgt 6 – 7 pro 100 000 pro Jahr, die der atherosklerotischen Enzephalopathie mit vaskulärer Demenz 10 – 25 pro 1000 Einwohner. Die Prävalenz steigt mit dem Alter an. Schlaganfälle sind die dritthäufigste Todesursache und durch den Schlaganfall bedingte Behinderungen die häufigste Ursache für permanente Pflegebedürftigkeit. Dies erklärt, warum Schlaganfälle gesundheitspolitisch und sozialpolitisch die teuerste Krankheit in Deutschland sind.
4.3
Pathophysiologie
Die Klärung der Pathophysiologie spielt beim Schlaganfall eine besonders wichtige Rolle. Angesichts der ganz unterschiedlichen Erkrankungsmechanismen müssen auch verschiedenste präventive Maßnahmen ergriffen werden, um ein Ereignis zu verhindern oder bei einem eingetretenen Ereignis Rezidive zu vermeiden.
49
4
Prävention des Schlaganfalls
I
II III IV V VI VII
Zerebrale Ischämie. Bei der zerebralen Ischämie, bedingt durch eine Makroangiopathie, ist die Ursache der Erkrankung eine Atherosklerose der großen hirnversorgenden Gefäße. Besonders häufig betroffen sind die Abgänge der großen Arterien wie der A. carotis interna an der Karotisgabel, der A. vertebralis sowie der A. cerebri media. Für diese Entität sind die typischen Risikofaktoren für eine Atherosklerose wie Hypertonie, Rauchen und Diabetes mellitus verantwortlich. Die wichtigste Rolle in der Vorbeugung spielt daher die Behandlung dieser Risikofaktoren. Kardiale Ursachen sind in der Regel Krankheiten, die zur Thrombenbildung innerhalb des Herzens führen, wobei diese dann als Embolien ins Gehirn verschleppt werden. Die wichtigste Ursache ist hier das Vorhofflimmern, was auch erklärt, warum eine orale Antikoagulation zu einer dramatischen Reduktion von Schlaganfällen führt. Andere wichtige Ursachen sind Herzklappenfehler und der akute Myokardinfarkt. Die wichtigsten Ursachen für die zerebrale Mikroangiopathie sind arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus. Eine konsequente Behandlung dieser beiden Risikofaktoren kann sowohl das Erstauftreten der Mikroangiopathie wie die Progredienz verhindern. Intrakranielle Blutungen. Parenchymatöse Blutungen entstehen in aller Regel durch die Ruptur kleiner Arterien, die im Rahmen einer Atherosklerose und einer arteriellen Hypertonie vorgeschädigt sind. Deshalb spielt in der Prävention die konsequente Behandlung der arteriellen Hypertonie die wichtigste Rolle. Arteriovenöse Malformationen sind in der Regel angelegt und zum Teil genetisch bedingt. Für die Ruptur einer arteriovenösen Malformation spielt dabei ebenfalls die arterielle Hypertonie eine wichtige Rolle. Die Subarachnoidalblutung kommt durch die Ruptur eines Aneurysmas zustande. Bei Aneurysmen handelt es sich um anlagebedingte Aussackungen von Arterien in der Regel im Bereich der Hirnbasisarterien. Für das Rupturrisiko eines Aneurysmas spielen die initiale Größe des Aneurysmas, eine bestehende arterielle Hypertonie und Alkoholmissbrauch eine wichtige Rolle. Subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie. Die wichtigste Ursache der subkortikalen atherosklerotischen Enzephalopathie sind arterielle Hypertonie und schlecht eingestellter Diabetes mellitus. Hinzu kommen genetische Faktoren, deren genaue Bedeutung bisher nicht bekannt ist.
50
4.4
Anamnese und Klinik
4.4.1
Anamnese
Die Anamnese muss sich auf die Erfassung der wichtigsten Risikofaktoren für zerebrale Durchblutungsstörungen konzentrieren. Diese sind neben der Familienanamnese die arterielle Hypertonie, Rauchen, Dyslipoproteinämie, Diabetes mellitus, Übergewicht, Bewegungsmangel und das Vorliegen von Herzrhythmusstörungen. Darüber hinaus muss nach dem Vorliegen einer Migräne, der Einnahme von Geschlechtshormonen und eventuellen Gerinnungsstörungen gefragt werden. Zur Abschätzung des Blutungsrisikos muss auch eine Medikamentenanamnese erfolgen, mit gezielten Fragen nach der Einnahme von Thrombozytenfunktionshemmern oder Antikoagulanzien. Ferner stehen Risikoscores zur Verfügung, mit denen es möglich ist, das Risiko eines ersten Schlaganfalls bzw. einer rezidivierenden Ischämie zu berechnen. Der Framingham-Score beruht allerdings auf älteren Daten. Das beste Instrument, um in Deutschland das Risiko eines Schlaganfalls zu berechnen, ist der PROCAM-Score, der im Kapitel 3 ausführlich dargestellt ist. Das Risiko eines Schlaganfalls bei Vorhofflimmern lässt sich mit dem CHAD2-Score berechnen (Tab. 4.1). Die Risikoanalyse einer Rezidivischämie nach TIA oder ischämischem Insult erfolgt am besten mit dem Essener Risiko-Score (Tab. 4.2), die Berechnung des Risikos einer zerebralen Ischämie nach einer TIA mit dem ABCD 2-Score (Tab. 4.3).
4.4.2
Klinik
Bei der TIA kommt es für einen Zeitraum von weniger als 24 Stunden zu fokal-neurologischen Ausfällen wie Paresen, Sensibilitätsstörungen, Aphasie, Dysarthrie, Hemianopsie oder bei Hirnstamm-TIAs zu Drehschwindel mit Doppelbildern und Stand- und Gangataxie. Eine zerebrale
Tabelle 4.1 CHAD2-Score zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos bei Vorhofflimmern. Ab einem Score ≥ 1 sollte eine orale Antikoagulation erfolgen. Risikofaktor
bei Vorliegen von . . .
Punkte
C (chronic heart failure)
strukturelle Herzerkrankung, die Herzinsuffizienz verursacht
1
H (hypertension)
arterielle Hypertonie (auch behandelt)
1
A (age)
Alter > 75 Jahre
1
D (diabetes)
Diabetes mellitus
1
S (stroke)
durchgemachter Schlaganfall oder TIA
2
Diagnostische Optionen und instrumentelle Untersuchungen
Tabelle 4.2 Essener Risiko-Score: Modell zur Risikoabschätzung eines Rezidivinsultes nach einem ersten ischämischen Ereignis. Ab einem Punktwert von ≥ 3 besteht ein erhöhtes Rezidivrisiko von > 4 %/Jahr. Risikofaktor
Punkte
< 65 Jahre
0
65 – 75 Jahre
1
> 75 Jahre
2
arterielle Hypertonie
1
Diabetes mellitus
1
Myokardinfarkt
1
andere kardiovaskuläre Ereignisse (außer Myokardinfarkt und Vorhofflimmern)
1
pAVK
1
Raucher
1
zusätzliche TIA oder Insult zum qualifizierenden Ereignis
1
Tabelle 4.3 ABCD2-Score zur Risikoabschätzung nach stattgehabter TIA. Patienten mit bis zu drei Punkten haben ein niedriges 2-Tages-Risiko (1 %) für einen Schlaganfall. Ein mittleres Risiko (4,1 %) haben Betroffene bei 4 – 5 Punkten, 6 – 7 Punkte gehen mit einem hohen Schlaganfallrisiko von 8,1 % einher. A
(Age): Einen Punkt erhalten Patienten, die älter als 60 Jahre sind.
B
(Blutdruck höher als 140 /90 mmHg): Ist der Blutdruck bei der akuten Evaluation höher, gibt es einen Punkt.
C
(Clinical features): Patienten erhalten zwei Punkte für eine halbseitige Schwäche. Einen Punkt gibt es für verwaschene Sprache ohne Schwäche.
D
(Symptom Duration): Dauert die Symptomatik zehn bis 59 Minuten, erhalten Patienten einen Punkt, bei 60 Minuten oder mehr zwei Punkte.
D
(Diabetes): Patienten mit Diabetes erhalten einen Punkt.
Web-Links ●
● ●
Stroke Council der American Heart Association (AHA): http://www.americanheart.org/presenter.jhtml?identifier=1197 Deutsche Schlaganfallgesellschaft: http://www.dsginfo.de/ Deutsche Gesellschaft für Neurologie mit Leitlinien: http://www.dgn.org/
4.5
Im Rahmen der Primärprävention wird eine allgemeine klinische, internistische und neurologische Untersuchung durchgeführt. Besonders wichtig sind hier die Messung des Blutdrucks, des Körpergewichts, der Körpergröße und die Erhebung des Body-Mass-Index (BMI) und der „waste-to-hip ratio“.
4.5.1
Labordiagnostik
Im Bereich der Labordiagnostik sind die Marker der Atherosklerose von besonderer Bedeutung. Dazu gehören das Profil der Lipoproteine mit LDL- und HDL-Cholesterin sowie der Triglyzeride. Weitere wichtige Untersuchungen sind der Nüchtern-Blutzucker und der HbA1c-Wert. Erhöhtes Homozystein ist ein unabhängiger Risikomarker, der allerdings keine therapeutische Konsequenz hat. Weitere Risikofaktoren sind erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) sowie erhöhtes Fibrinogen. Beide können allerdings therapeutisch nicht beeinflusst werden. Genanalysen spielen im Moment bei der Vorbeugung des Schlaganfalls noch keine praktische Rolle.
4.5.2 Ischämie führt zu entsprechenden fokal-neurologischen Ausfällen, die länger als 24 Stunden anhalten. Zerebrale Blutungen führen akut zu in der Regel schweren neurologischen Ausfällen, häufig mit Bewusstseinstrübung und rascher Progredienz. Häufigstes Leitsymptom ist die Hemiplegie mit Blickwendung. Bei der Subarachnoidalblutung kommt es als Initialsymptom zu heftigsten unerträglichen Kopf- und Nackenschmerzen und bei Einbruch des Blutes in das Hirnparenchym auch zu fokal-neurologischen Ausfällen. Die subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie führt zu einer progredienten Demenz, einer Gangapraxie mit kleinschrittigem unsicherem Gang und Stürzen sowie einer neurogenen Blasenstörung.
Diagnostische Optionen und instrumentelle Untersuchungen
Bildgebende Verfahren
Bei symptomatischen Patienten hat die Bildgebung einen besonderen Stellenwert. Mithilfe der Computertomografie lassen sich sofort eine zerebrale Ischämie, eine zerebrale Blutung und eine Subarachnoidalblutung differenzieren. Die Kernspintomografie hat ihre besonderen Stärken beim frühen Nachweis einer zerebralen Ischämie, insb. auch in der hinteren Schädelgrube. Computertomografie (CT)- und Magnetresonanztomografie (MRT)-Angiografie eignen sich, um Stenosen und Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien nachzuweisen. Beide Methoden sind auch mit hohem Auflösungsvermögen in der Lage, größere Aneurysmen und arteriovenöse Malformationen zu identifizieren.
51
4
Prävention des Schlaganfalls
4.5.3
I
II III IV V VI VII
Ultraschallmethoden
Direktionelle Doppler-Sonografie, Duplex-Sonografie und transkranielle Doppler-Sonografie spielen eine besonders wichtige Rolle sowohl in der Primär- wie in der Sekundärprävention. Die traditionelle Doppler-Sonografie der hirnversorgenden Arterien ist in der Lage, Stenosen über 50 % und Verschlüsse mit hoher Sicherheit zu identifizieren. Die Duplex-Sonografie erlaubt darüber hinaus die Quantifizierung von Stenosen, den Nachweis atherosklerotischer Plaques, die Beurteilung der Plaqueoberfläche (rupturiert, glatt) und Aussagen über die Zusammensetzung einer Plaque (Fettgehalt, Kalkgehalt). Ferner erlaubt die Messung der Intima-media-Dicke in der Duplex-Sonografie eine Abschätzung des vaskulären Risikos. Mithilfe der transkraniellen Doppler-Sonografie können intrakranielle Stenosen und Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien nachgewiesen werden. Die Methode eignet sich überdies, um atraumatisch Kollateralkreisläufe bei bestehenden Stenosen und Verschlüssen nachzuweisen. Bei der Subarachnoidalblutung ist die transkranielle Doppler-Sonografie eine atraumatische Möglichkeit, Spasmen mit erhöhtem Risiko von ischämischen Insulten nachzuweisen. Die Echokardiografie spielt im Rahmen der Primärprävention eine untergeordnete Rolle. Lediglich bei Patienten mit neu aufgetretenem Vorhofflimmern dient sie zum Ausschluss intrakavitärer Thromben und bei Patienten mit klinischen Symptomen einer Herzinsuffizienz zur Beurteilung der Auswurffraktion. Eine schwere Herzinsuffizienz stellt einen erheblicher Risikofaktor für eine zerebrale Ischämie dar. Bei erlittenem Schlaganfall und insb. bei vermuteter kardialer Emboliequelle muss eine transösophageale Echokardiografie (TEE) zum Nachweis oder Ausschluss kardialer Emboliequellen durchgeführt werden. Besonders wichtig sind hier die Darstellung der Herzklappenfunktion und der Ausschluss von intrakardialen Thromben.
4.5.4
Elektrokardiografie (EKG)
Das EKG dient im Rahmen der Schlaganfallprävention dem Ausschluss von Herzrhythmusstörungen und hier insbesondere dem Vorhofflimmern. Dabei ist die Sensitivität des 24-Stunden-EKG deutlich höher als der Nutzen einzelner EKG-Ableitungen. Bei einer 72-stündigen Ableitung ist die Trefferquote nochmals signifikant höher als bei der 24-Stunden-Analyse.
4.5.6
Indikation zur Diagnostik
Bei entsprechender Familienanamnese sollten jährliche internistische bzw. allgemeinmedizinische Untersuchungen mit Erhebung der wichtigsten Risikofaktoren durchgeführt werden. Bei leerer Familienanamnese genügt dies ab dem 55. Lebensjahr. Eine ausgiebige Diagnostik mit MRT oder/und CT, Ultraschall, EKG und ggf. Echokardiografie ist in allen Fällen von zerebraler Ischämie, zerebraler Blutung und Subarachnoidalblutung notwendig. Bei einer beginnenden Demenz muss eine Differenzierung zwischen degenerativer und vaskulärer Demenz durchgeführt werden. Dies gelingt im Moment am besten durch die MRT, die bei den degenerativen Demenzen eine globale Hirnatrophie zeigt und bei vaskulären Formen den Nachweis von lakunären Infarkten sowie von Hyperdensitäten im Marklager bei den T 2-betonten Sequenzen. Einige Präventionsuntersuchungen haben keinen oder einen zweifelhaften Wert. Dazu gehört bspw. die Auskultation der Karotiden. Durch eine Auskultation allein lässt sich nicht differenzieren, ob eine Stenose im Bereich der A. carotis interna liegt und damit einen Risikofaktor für eine zerebrale Ischämie darstellt, oder im Bereich der A. carotis externa und somit ohne Krankheitswert ist. Noch relevanter ist die Tatsache, dass es bei einem verschlossenen Gefäß kein Gefäßgeräusch gibt. Die einzigen Methoden, mit denen Stenosen und Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien zuverlässig nachgewiesen werden können, sind die Ultraschallverfahren sowie die CToder MRT-Angiografie. Von einer routinemäßigen Genanalyse wird im Moment abgeraten, da es keinerlei Interventionsstudien gibt, die belegt hätten, dass dadurch die Prognose verbessert werden kann. Von zweifelhaftem Wert sind auch die Bestimmungen von Homozystein, CRP und Fibrinogen. Es gibt bisher keine Studien, die gezeigt hätten, dass eine Modifikation des CRP möglich ist. Studien zur Senkung des Fibrinogenspiegels liegen ebenfalls nicht vor. Alle großen Studien zur Senkung erhöhter Homozystein-Werte mit B-Vitamin und Folsäure zeigten zwar, dass dieser Laborwert signifikant gesenkt werden kann, dies aber keinen Einfluss auf Schlaganfälle hat (s. Kap. 3).
4.6
Präventive Maßnahmen
4.6.1
Zerebrale Ischämie
Einstellung der Risikofaktoren
4.5.5
Fitness-Assessment
Es ist zweifelsfrei belegt, dass körperliche Inaktivität das Schlaganfallrisiko erhöht und regelmäßiger Ausdauersport das Schlaganfallrisiko senkt. Der Nutzen eines formalen Fitness-Assessments ist allerdings in der Prävention des Schlaganfalls bisher nicht belegt.
52
Arterielle Hypertonie. Die Behandlung der arteriellen Hypertonie besitzt den höchsten Stellenwert in der Primärprävention des Schlaganfalls. Es ist durch viele Studien belegt, dass eine Behandlung des Bluthochdrucks zu einer Risikoreduktion des ischämischen wie auch des hämorrhagischen Schlaganfalls führt. Bereits eine Senkung
Präventive Maßnahmen
des systolischen Blutdrucks um 5 – 6 mmHg und des diastolischen Blutdrucks um 2 – 3 mmHg führt zu einer 40 %igen relativen Risikoreduktion. Die absolute Risikoreduktion beträgt etwa 0,5 % pro Jahr. Die präventive Wirkung gilt auch für Menschen im Alter über 80 Jahren. Der Zielbereich, bis zu dem der Blutdruck gesenkt werden soll, hängt vom Risikoprofil ab und liegt bei Patienten ohne Diabetes mellitus bei systolisch < 140 und diastolisch < 90 mmHg. Bei Diabetikern soll ein systolischer Blutdruckwert von < 130 mmHg erreicht werden. Patienten mit arterieller Hypertonie sollten mit Diät (sog. DASH-Diät = Dietary Approaches to Stop Hypertension), kochsalzarmer Kost, Ausdauersport und/oder Antihypertensiva behandelt werden. Hierbei ist der präventive Effekt der Antihypertensiva ausgeprägter, je stärker der Blutdruck reduziert wird. Die einzelnen Antihypertensiva unterscheiden sich dabei nur geringfügig in ihrer schlaganfallpräventiven Wirkung, Alpha-Blocker sind allerdings signifikant weniger wirksam als andere Antihypertensiva. Nikotinabusus. Rauchen erhöht das Schlaganfallrisiko um einen Faktor von 1,8 bis 3,7. Das gilt auch für das Passivrauchen. Bei Einstellung des Rauchens sinkt das Schlaganfallrisiko innerhalb von 5 Jahren auf das Niveau von Nichtrauchern. Die meisten Raucher schaffen es allerdings mit reiner Willensanstrengung nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Aus diesem Grund werden pharmazeutische Nikotinzubereitungen oder Pharmaka zur Unterstützung der Tabakabstinenz wie Buproprion empfohlen. Am besten wirksam ist allerdings eine verhaltenstherapeutisch orientierte Gruppentherapie (s. Kap. 36). Dyslipoproteinämie. Die Bedeutung der Dyslipoproteinämie in der Primärprävention des Schlaganfalls ist deutlich geringer als in der Primärprävention des Myokardinfarktes. Die Wirkung von Statinen wurde in einer Vielzahl von Primärpräventionsstudien untersucht. Zusammengefasst ergeben diese, dass Personen ohne koronare Herzerkrankung bei einem vaskulären Risiko und LDL-Cholesterin-Werten > 190 mg/dl, bei mittlerem Risiko und LDLCholesterin > 160 mg/dl und bei Vorliegen mehrerer vaskulärer Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen und LDL-Cholesterin > 100 mg/dl mit einem Statin behandelt werden sollten. Die Datenlage bezüglich der Schlaganfallprävention ist am besten für Simvastatin, Pravastatin und Atorvastatin. Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom. Diabetes mellitus ist ein relevanter und unabhängiger Risikofaktor für die zerebrale Ischämie und die zerebrale Mikroangiopathie. Diabetiker sollten daher mit Diät, regelmäßiger Bewegung und Antidiabetika behandelt werden. Eine zu aggressive Therapie verhindert allerdings zerebrale Ischämien nicht und kann potenziell zu einer erhöhten Mortalität führen. Bei Diabetikern ist die Bedeutung der antihypertensiven Therapie mit ACE-Hemmern, Sartanen
und der Gabe von Statinen bezüglich der Schlaganfallprävention von besonderer Bedeutung. Übergewicht ist definiert als ein BMI zwischen 25 und 30 kg/m² und Adipositas bei über 30 kg/m². Die Schlaganfallinzidenz übergewichtiger Personen ist auch bei Kontrolle anderer vaskulärer Risikofaktoren erhöht. Der protektive Effekt einer Gewichtsreduktion auf die Schlaganfallinzidenz und Letalität ist bisher in randomisierten Studien allerdings nicht untersucht worden. Sportliche Betätigung hat ähnlich wie die Beseitigung der Adipositas indirekte Effekte auf das Schlaganfallrisiko durch Modifikation anderer Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, Dyslipoproteinämie und Diabetes mellitus. Durch regelmäßige körperliche Aktivität findet sich eine geschlechtsunabhängige relative Risikoreduktion des Schlaganfalls um etwa 40 – 60 %. Im Bereich anderer Risikofaktoren spielen weibliche Geschlechtshormone eine Rolle. Diese erhöhen das Schlaganfallrisiko, wenn sie postmenopausal gegeben werden. Schwere Migräne mit Aura ist bei Vorliegen anderer vaskulärer Risikofaktoren ebenfalls ein Risikofaktor für den Schlaganfall. Hier ist es besonders wichtig, dass die betroffenen Frauen mit dem Rauchen aufhören und eine eventuell vorhandene arterielle Hypertonie konsequent behandelt wird. Zu weiteren derzeit diskutierten Risikofaktoren wie das obstruktive Schlaf-Apnoe-Syndrom, chronische Infektionen und Depressionen liegen noch keine Interventionsstudien vor.
Primärprävention mit Thrombozytenfunktionshemmern In mehreren großen Untersuchungen wurde der primärprophylaktische Einsatz von Acetylsalicylsäure (ASS) untersucht. Bei Männern konnte eine signifikante Risikoreduktion für Herzinfarkte, aber nicht für Hirninfarkte gezeigt werden. Darüber hinaus war das Risiko intrakranieller Blutungen unter ASS erhöht. Bei Frauen im Alter über 45 Jahren ergab sich ein genereller präventiver Nutzen ohne Vorteile in der Prävention des Herzinfarktes. Insgesamt wird aber angesichts des Blutungsrisikos von einem Einsatz von ASS in der Primärprävention abgeraten. Ob dies auch für sog. Hochrisikopatienten gilt, wird derzeit in einer randomisierten Studie untersucht.
Primärprävention/Vorhofflimmern Personen mit Vorhofflimmern haben ein um den Faktor 5 erhöhtes Schlaganfallrisiko. Dieses kann durch eine orale Antikoagulation mit einer Ziel-INR von 2,0 – 3,0 um 70 % relativ gesenkt werden. Die absolute Risikoreduktion beträgt 3 % pro Jahr und die „Numbers-needed-to-treat“ 33. Bei INR-Werten unter 1,5 ist der präventive Effekt nicht mehr nachweisbar und bei einer INR über 4 steigt das
53
4
Prävention des Schlaganfalls
I
II III IV V VI
Risiko zerebraler Blutungen exponenziell an. Acetylsalicylsäure in Dosierungen zwischen 75 und 325 mg/d führten nur zu einer relativen Risikoreduktion von 20 %. Die Empfehlung lautet daher, Patienten mit persistierendem oder paroxysmalem Vorhofflimmern und begleitenden vaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz und Alter über 75 Jahren oral zu antikoagulieren, mit einer Ziel-INR von 2,0 – 3,0. Bei der „Lown atrial fibrillation“, d. h. Vorhofflimmern im Alter unter 65 Jahren und fehlenden vaskulären Risikofaktoren, ist keine Antikoagulation oder Gabe von Thrombozytenfunktionshemmern notwendig. Bei Patienten ohne vaskuläre Risikofaktoren im Alter über 65 Jahren und Vorhofflimmern wird ASS in einer Dosis zwischen 100 und 300 mg/d empfohlen. ASS wird bei Patienten mit Kontraindikation für orale Antikoagulanzien wie ausgeprägter zerebraler Mikroangiopathie, manifester Demenz und erhöhter Sturzgefahr ebenfalls eingesetzt. Die Kombination einer oralen Antikoagulation mit Thrombozytenfunktionshemmern bei Patienten mit Vorhofflimmern und stabiler koronarer Herzkrankheit sollte vermieden werden, da es hierbei zu vermehrten Blutungskomplikationen ohne Reduktion vaskulärer Ereignisse kommt. Die Kombination von ASS und Clopidogrel ist bei Patienten mit Vorhofflimmern weniger wirksam als eine orale Antikoagulation bei identischer Rate an schwerwiegenden Blutungskomplikationen.
VII
Primärprävention bei Nachweis einer hochgradigen Abgangsstenose der A. carotis interna Personen mit asymptomatischen Abgangsstenosen der A. carotis interna haben ein insgesamt geringes Schlaganfallrisiko. Die Operation einer asymptomatischen Karotisstenose mit einem Stenosegrad von über 60 % nach doppler- oder duplexsonografischen Kriterien reduziert zwar signifikant das Schlaganfallrisiko, wenn man die relative Risikoreduktion von 30 – 40 % berücksichtigt. Die absolute Risikoreduktion beträgt allerdings nur 1 % und die „Numbers-needed-to-treat“ 100. Ein prophylaktischer Effekt ist allerdings auch nur dann gegeben, wenn die kombinierte Mortalität und Morbidität des Eingriffs innerhalb von 30 Tagen und 3 % liegt. Frauen profitieren nicht von dem Eingriff. Insgesamt wird hier eine deutliche Zurückhaltung empfohlen. Da bisher die Ergebnisse randomisierter Studien noch nicht vorliegen, wird auch von einer stentgestützten Ballonangioplastie abgeraten, insbesondere unter dem Aspekt, dass die Komplikationsrate hier mindestens genauso hoch ist wie die der Operation.
54
4.6.2
Sekundärprävention des Schlaganfalls
Einstellung der Risikofaktoren Hypertonie. Eine antihypertensive Therapie reduziert das Schlaganfallrisiko nach TIA und Schlaganfall. Welche Substanzklassen in der Sekundärprävention nach Schlaganfall am effektivsten sind, bleibt umstritten. Die Kombination von Perindopril und Intapamid ist signifikant wirksamer als Plazebo, und Eprosartan signifikant wirksamer als Nitrendipin. Ramipril reduziert bei Patienten nach Schlaganfall die Häufigkeit vaskulärer Endpunkte, aber nicht die Häufigkeit von Schlaganfällen. Telmisartan ist in der Sekundärprävention nach vaskulären Ereignissen signifikant wirksamer als Plazebo. Lebensgewohnheiten. Regelmäßige körperliche Betätigungen, ausgewogene Ernährung sowie Gewichtsabnahme reduzieren den Blutdruck und führen so zu einer Reduktion von Rezidivschlaganfällen. Dyslipoproteinämie. Erhöhte LDL-Cholesterinwerte spielen in der Sekundärprävention des Schlaganfalls eine wichtigere Rolle als in der Primärprävention. Bei Patienten mit fokaler zerebraler Ischämie und KHK sollten daher unabhängig vom Ausgangswert des LDL-Cholesterins Statine eingesetzt werden. Die Zielwerte für LDLCholesterin sollten zwischen 70 und 100 mg/dl liegen. Bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall oder TIA ohne KHK mit LDL-Cholesterin-Werten zwischen 100 und 190 mg/dl sind 80 mg/d Atorvastatin zur Reduktion eines Schlaganfallrezidivs und der kardiovaskulären Morbidität wirksam. Dies gilt insbesondere für Patienten mit einer Makroangiopathie. Die Senkung des LDL-Cholesterins ist hier aber wichtiger als der Einsatz eines bestimmten Statins. Andere Risikofaktoren. Die Behandlung einer Hyperhomozysteinämie mit Vitamin B6, B12 und Folsäure ist in der Sekundärprävention des Schlaganfalls nicht wirksam. Eine Hormonsubstitution bei Frauen in der Menopause ist in der Sekundärprävention des Schlaganfalls ebenfalls nicht wirksam und erhöht das Schlaganfallrisiko.
Sekundärprävention – Thrombozytenfunktionshemmer Bei Patienten mit fokaler Ischämie sind Thrombozytenfunktionshemmer in der Sekundärprävention wirksam. Dies gilt für ASS, für die Kombination von ASS und retardiertem Dipyridamol und Clopidogrel. Bei Patienten mit Kontraindikationen gegen oder Unverträglichkeit von ASS wird Clopidogrel 75 mg/d empfohlen. Die Kombination von retardiertem Dipyridamol und ASS ist in der Sekundärprävention des Schlaganfalls genauso wirksam wie eine Monotherapie mit Clopidogrel. ASS in Dosierun-
Präventive Maßnahmen
gen von über 150 mg pro Tag führt zu einem erhöhten Risiko von Blutungskomplikationen und sollte vermieden werden. Die Kombination von 75 mg ASS und 75 mg Clopidogrel ist nicht besser wirksam als eine Monotherapie mit Clopidogrel allein oder ASS allein, führt aber zu vermehrten Blutungskomplikationen.
Bei hochgradigen symptomatischen Karotisstenosen sollte eine Endarterektomie durchgeführt werden. Der Nutzen der Operation nimmt mit einem Stenosegrad von 70 – 95 % zu. Der Nutzen der Operation ist deutlich geringer bei einem Stenosegrad von 50 – 70 % sowie bei subtotalen Stenosen, bei Frauen und wenn die Operation jenseits der 12. Woche nach dem Indexereignis durchgeführt wird. Liegt die Komplikationsrate innerhalb der ersten 30 Tage über 6 %, ist der Nutzen der Operation nicht mehr vorhanden. ASS sollte vor, während und nach der Operation gegeben werden. Die stentgestützte Karotisangioplastie hat im Vergleich zur operativen Therapie in Bezug auf das periprozentuale Risiko bei der Behandlung symptomatischer Karotisstenosen ein leicht erhöhtes Kurzzeitrisiko. Das Langzeitrisiko und die Rezidivraten sind mit der Operation vergleichbar. Vor, während und nach Stenting erfolgt eine Prophylaxe mit Clopidogrel 75 mg + ASS 100 mg für 1 – 3 Monate.
ders sorgfältige Nutzen- (Verhinderung des Ereignisses) und Risikoabwägung (Risiko zerebraler Blutungen) erfolgen. Für die Primärprävention sind daher die konsequente Behandlung einer arteriellen Hypertonie, das Einstellen des Rauchens und die Behandlung eines Alkoholmissbrauchs von höchster Bedeutung. Für die Prävention der Rezidivblutung spielen dieselben Faktoren wie für die Prävention der Primärblutung die entscheidende Rolle. Eine antihypertensive Therapie nach einer zerebralen Blutung reduziert das Rezidivrisiko um relativ 50 %. Die „Numbers-needed-to-treat“ über 5 Jahre beträgt 14. Dabei besteht zwischen dem Ausmaß der Blutdrucksenkung und dem Risiko erneuter vaskulärer Ereignisse ein Zusammenhang. Trotz fehlender Evidenz sollten Patienten nach zerebraler Blutung mit erhöhtem BMI eine gewichtsreduzierende Diät einhalten und exzessiven Alkoholgenuss beenden. Dies gelingt allerdings nur durch eine strukturierte Therapie. Besonders schwierig ist die Nutzen-/Risiko-Abwägung nach zerebraler Blutung und gleichzeitig bestehendem Risiko für ischämische Ereignisse wie ein vorausgegangener ischämischer Insult oder eine TIA oder eine gleichzeitig bestehende KHK bzw. Vorhofflimmern. Hier müssen in einem dafür ausgewiesenen Zentrum Neurologen und Kardiologen gemeinsam die Therapiestrategie individuell festlegen. Bei Vorliegen einer zerebralen arteriovenösen Malformation als Blutungsursache muss in einem dafür ausgestatteten Zentrum mit interventionellen Neuroradiologen, Neurochirurgen und Strahlentherapeuten sowie Neurologen das therapeutische und prophylaktische Vorgehen interdisziplinär entschieden werden. Als präventive Maßnahmen stehen eine interventionelle neuroradiologische Behandlung mit vollständigem oder partiellem Ausschluss der arteriovenösen Malformation zur Verfügung, die operative Resektion durch den Neurochirurgen oder die fokale Bestrahlung.
4.6.3
4.6.4
Sekundärprävention – Vorhofflimmern Bei Patienten mit kardialer Emboliequelle, insb. mit Vorhofflimmern, ist eine orale Antikoagulation mit INR-Werten zwischen 2,0 und 3,0 empfohlen.
Sekundärprävention – hochgradige Karotisstenosen
Zerebrale Blutung
Die arterielle Hypertonie ist der häufigste Risikofaktor für spontane intrazerebrale Blutungen. Etwa 70 – 80 % aller Blutungen ereignen sich auf dem Boden einer Hypertonie. Andere Risikofaktoren sind Alter, ethnische Zugehörigkeit (Schwarze, Asiaten), Rauchen, Alkoholabusus und niedrige Cholesterinspiegel. Ein erhöhter BMI erhöht ebenfalls das Risiko zerebraler Blutungen. Ein weiteres Risiko sind Gerinnungsstörungen, die entweder spontan auftreten oder durch eine Therapie mit oralen Antikoagulanzien. Das Risiko zerebraler Blutungen ist insbesondere erhöht, wenn orale Antikoagulanzien mit Thrombozytenfunktionshemmern kombiniert werden. Es gibt ferner Hinweise darauf, dass eine Behandlung mit Statinen bei Patienten mit zerebralen Blutungen das Risiko rezidivierender Blutungen erhöht. Daher muss hier eine beson-
Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen
Für das Rupturrisiko eines nichtrupturierten intrakraniellen Aneurysmas, das zufällig im Rahmen einer konventionellen, CT- oder MRT-Angiografie entdeckt wird, sind die Größe, die Lage und die Frage einer früheren Blutung aus einem anderen intrakraniellen Aneurysma wichtig. Da hier eine außerordentlich sorgfältige Risiko-/NutzenAbwägung erfolgen sollte, müssen diese Patienten zu einem Zentrum, an dem interventionelle Neuroradiologen, Neurochirurgen und Neurologen interdisziplinär zusammenarbeiten, überwiesen werden. Bei symptomatischen aneurysmalen Subarachnoidalblutungen stehen heute mit dem Coiling und der neurochirurgischen Aneurysma-Ausschaltung zwei exzellente Verfahren zur Verfügung, die das Risiko einer erneuten Subarachnoidalblutung signifikant reduzieren können.
55
4
Prävention des Schlaganfalls
Diese Behandlung erfolgt durch interventionelle Neuroradiologen und Neurochirurgen. In der Sekundärprävention sind die Behandlung einer arteriellen Hypertonie und die Ausschaltung anderer vaskulärer Risikofaktoren besonders wichtig.
I
II
4.6.5
Subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie
Die wichtigsten Risikofaktoren für eine subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie sind arterielle Hyperto-
nie und Diabetes mellitus. Allerdings haben die Interventionsstudien zur Behandlung eines Diabetes mellitus bisher keinen überzeugenden Einfluss einer optimalen Diabetesbehandlung auf das Fortschreiten der Demenz belegen können. Ähnliches gilt für eine konsequente antihypertensive Behandlung. Die meisten Studien zeigten keine Beeinflussung der Entwicklung oder des Fortschreitens einer Demenz. Allerdings waren möglicherweise die Behandlungszeiträume in den entsprechenden Studien, die zwischen zwei und fünf Jahren lagen, zu kurz, um einen therapeutischen Effekt nachzuweisen.
Leitlinien
III IV V VI VII
LL1. Diener HC, Bode F, Bode C et al. Primär- und Sekundärprävention der zerebralen Ischämie: Gemeinsame Leitlinie der DGN und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft. In: Diener HC, Putzki N et al. Leitlinien zur Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2008. LL2. Berkefeld J, Forsting M, Hamann G et al. Unrupturierte intrakranielle Aneurysmen: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. In: Diener HC, Putzki N et al. Leitlinien zur Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008.
Kasuistik Ein 65-jähriger Patient wird in die Stroke Unit eingewiesen, weil er eine TIA mit einer Hemiparese rechts und einer Aphasie erlitten hat, die innerhalb von 10 min wieder abgeklungen ist. Bei der Aufnahmeuntersuchung ist der neurologische Befund wieder normal. Der Patient ist deutlich übergewichtig, hat eine arterielle Hypertonie und ist Raucher. Das Labor zeigt eine Dyslipoproteinämie und einen Hb1Ac von 8,0. Das Vorliegen eines Diabetes war dem Patienten bisher nicht bekannt. Die arterielle Hypertonie war bekannt, wurde aber nicht behandelt. Im Labor zeigt sich darüber hinaus ein LDL-Cholesterin von 240 mg/dl. Die Triglyzeride sind ebenfalls erhöht. In der Doppler- und Duplex-Sonografie der hirnversorgenden Arterien zeigt sich eine 80 %ige Abgangsstenose der A. carotis interna links. Die MRT zeigt mikrovaskuläre Veränderungen, und eine genaue Anamnese über die begleitende Ehefrau bringt hervor, dass in letzter Zeit kognitive Störungen aufgefallen sind. Das EKG ist unauffällig. Die Echokardiografie ergibt keine kardialen Emboliequellen.
56
LL3. Steinmetz H, Berkefeld J, Forsting M et al. Aneurysmale Subarachnoidalblutung: Leitlinie der DGN. In: Diener HC, Putzki N et al. Leitlinien zur Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008. LL4. Steiner T, Dichgans M, Forsting M et al. Intrazerebrale Blutungen: Leitlinie der DGN. In: Diener HC, Putzki N et al. Leitlinien zur Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008. LL5. Hamann H, Böhm M, Diener HC et al. Vaskuläre Demenzen: Leitlinie der DGN. In: Diener HC, Putzki N et al. Leitlinien zur Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008. Zusammengefasst zeigt sich hier eine TIA im Rahmen einer Makroangiopathie bei ausgeprägtem vaskulärem Risikoprofil mit Rauchen, arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Dyslipoproteinämie, Bewegungsmangel und Adipositas. Zur Schlaganfallprävention wird dem Patienten eine Karotis-Endarteriektomie empfohlen. Hierfür wird er zur Operation innerhalb von 3 Tagen in der Gefäßchirurgie angemeldet. Angesichts des Risikoprofils und der Tatsache, dass die Karotisstenose hochgradig verkalkt ist, kommt eine Ballondilatation mit Stentimplantation nicht in Betracht. Der Zeitraum bis zur Karotisoperation wird durch die Gabe von ASS überbrückt. Die arterielle Hypertonie wird mit einem ACE-Hemmer und einem Diuretikum behandelt. Angesichts der Dyslipoproteinämie wird eine Behandlung mit Simvastatin eingeleitet. Der Patient wird bei den Diabetologen zur Diät-Beratung und zur medikamentösen Einstellung vorgestellt. Darüber hinaus wird er bei den Sporttherapeuten zur Erarbeitung eines Ausdauersportprogramms vorgestellt. Weitere Beratungen erfolgen im Rahmen der Rauch-Abstinenz- und der Adipositas-Sprechstunde.
Präventive Maßnahmen
Weiterführende Literatur Diener HC, Hacke W, Forsting M (Hrsg). Schlaganfall. Stuttgart: Thieme; 2004. Ringelstein EB, Nabavi DN. Der ischämische Schlaganfall. Stuttgart: Kohlhammer; 2007. European Stroke Organisation (ESO) Executive Committee and ESO Writing Committee. Guidelines for management of ischaemic stroke and transient ischaemic attack 2008. Cerebrovasc Dis 2008;25(5):457 – 507. Sacco RL, Adams R, Albers G et al. Guidelines for prevention of stroke in patients with ischemic stroke or transient ischemic attack: a statement for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke
Association Council on Stroke: co-sponsored by the Council on Cardiovascular Radiology and Intervention: the American Academy of Neurology affirms the value of this guideline. Circulation 2006;113(10):e409 – 49. Fuster V, Ryden LE, Cannom DS et al. ACC/AHA/ESC 2006 guidelines for the management of patients with atrial fibrillation: full text: a report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on practice guidelines and the European Society of Cardiology Committee for Practice Guidelines (Writing Committee to Revise the 2001 guidelines for the management of patients with atrial fibrillation) developed in collaboration with the European Heart Rhythm Association and the Heart Rhythm Society. Europace 2006;8(9):651 – 745.
4
57
Prävention der Demenzen
5
Prävention der Demenzen V. Tesky, J. Pantel
I
●
II
●
III
● ●
IV V
●
VI VII
●
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Das Wichtigste in Kürze Demenzen zählen zu den häufigsten neuropsychiatrischen Erkrankungen und Todesursachen des höheren Lebensalters mit exponenziell steigendem Risiko ab dem 70. Lebensjahr. Primäre Demenzen sind durch einen progredienten Verlauf gekennzeichnet und zum bisherigen Zeitpunkt nicht heilbar. Zu den häufigsten primären Demenzen werden die Alzheimer-Demenz und die vaskuläre Demenz gezählt. Das Konzept der leichten kognitiven Beeinträchtigung (mild cognitive impairment = MCI) beschreibt ein Risikosyndrom für die Entwicklung einer Demenz (putatives präklinisches Frühstadium) und ermöglicht gezielte (sekundär-)präventive Intervention. Es gibt Hinweise für eine primär- bzw. sekundärpräventive Wirksamkeit antihypertensiver Therapie zur Vorbeugung der vaskulären Demenz. Darüber hinaus kennt man in der Demenzprävention bislang keine medikamentösen Interventionsmöglichkeiten mit ausreichender Evidenz. Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenz teilen eine Reihe von epidemiologisch abgesicherten Risikofaktoren, von denen viele potenziell beeinflussbar sind. Zu diesen gehören Aspekte des metabolischen Syndroms (Adipositas, Dyslipoproteinämie, Hypertonie, Diabetes mellitus Typ II) sowie weitere lebensstilbezogene Faktoren (geistige, soziale und körperliche Aktivität, Ernährungsgewohnheiten). Sekundäre Demenzen als Folge einer anderen Erkrankung sind u. U. ursächlich behandelbar bzw. vermeidbar. Durch gezielte Interventionen lassen sich beim manifest Erkrankten die Symptome der Demenz behandeln und erhöhen so Lebensqualität und Wohlbefinden des Betroffenen (tertiäre Prävention).
5.1
Stellenwert der DemenzPrävention
Da das Risiko für demenzielle Erkrankungen mit fortschreitendem Alter steigt und eine Heilung der häufigsten Demenzerkrankungen (Alzheimer-Demenz und vaskuläre Demenz) bisher nicht möglich ist, sollten die potenziellen Risikofaktoren für jedes Individuum so weit wie möglich reduziert werden. Erfolgreiche und aussagekräftige prospektive Interventionsstudien zur Prävention
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der Demenz liegen z. Zt. zwar nur für die adäquate Behandlung der arteriellen Hypertonie vor, es ist jedoch wahrscheinlich, dass das Risiko der Erkrankung durch die Ausschaltung der bekannten und epidemiologisch gut abgesicherten Risikofaktoren nennenswert minimiert werden kann. Auch die adäquate Behandlung der bei manifester Demenz bereits bestehenden oder zu erwartenden Symptome kann nur sichergestellt werden, wenn umfassende Untersuchungen zur Diagnosestellung bzw. zum Nachweis/Ausschluss sog. sekundärer Demenzen durchgeführt werden. Obwohl die Angst vor der Diagnose Demenz auch heute noch sehr verbreitet ist und viele Ärzte diese Diagnose gar nicht oder nicht adäquat mitteilen, so befürworten die meisten Betroffenen eine umfassende Aufklärung. Nicht die Diagnose Demenz, sondern die fehlenden Informationen lösen Angst bei Demenzerkrankten aus [1].
5.2
Epidemiologie
In Deutschland leiden zurzeit mindestens 1 Mio. Menschen an einer Demenz. Jährlich kommt es zu ca. 200 000 Neuerkrankungen und bis zum Jahr 2050 wird mit einer Verdoppelung der Demenzpatienten gerechnet [2]. Neben dieser Zahl ist auch die aus demografischen Gründen wachsende Anzahl der Patienten mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen (= mild cognitive impairment, MCI) zu beachten, da Personen mit MCI eine sinnvolle Zielgruppe für Sekundärprävention darstellen. Definitionsgemäß handelt es sich bei einer MCI um erstmalig im höheren Lebensalter aufgetretene leichtgradige, aber persistierende kognitive Defizite, die mit psychometrischen Verfahren nachweisbar sind, jedoch (noch) nicht das Ausmaß einer Demenz erreichen. Es wird allgemein angenommen, dass mit MCI ein stark erhöhtes Demenzrisiko, insb. gegenüber der Alzheimer-Demenz, einhergeht [3]. Nach Petersen et al. [4] besteht für 20 – 50 % der MCI-Patienten ein Risiko, innerhalb von 2 – 3 Jahren an einer Demenz zu erkranken. In Deutschland erfüllen ca. 2,4 Mio. der über 65-Jährigen die Kriterien einer MCI [5]. Da sich ein erheblicher Teil der Patienten mit MCI somit in einem präklinischen Zustand der Alzheimer-Demenz befindet, ist die reliable Identifikation von MCI ebenso wichtig, wie erfolgreiche Präventionsstrategien und frühe therapeutische Interventionen [6]. Die epidemiologisch identifizierbaren Risikofaktoren für die Entstehung einer MCI sind weitgehend deckungsgleich mit denen für Demenzen [5].
Risikofaktoren der Demenz
5.3
Pathologie
Der Alterungsprozess ist ein facettenreiches Phänomen, das mit einer Reihe von Defiziten wie der Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit, dem Nachlassen der Funktionen der Sinnesorgane, der Abnahme von Gedächtnisleistungen und anderer kognitiver Funktionen einhergeht. Das chronische Nachlassen der kognitiven Leistungsfähigkeit wird, wenn es in einem erheblichen Ausmaß zu Beeinträchtigungen der Lebensführung führt und auf eine organische Ursache zu beziehen ist, als Demenz bezeichnet [7]. Demenz – gekennzeichnet durch Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Verlust früherer intellektueller Fähigkeiten sowie Störungen anderer kognitiver und nichtkognitiver psychischer Funktionen (z. B. Affekt, Wahrnehmung) – ist altersassoziiert und weist ab dem 70. Lebensjahr ein exponenziell erhöhtes Risiko auf. Obwohl Demenz eine Erkrankung des höheren Lebensalters ist, spiegelt sie vermutlich nicht den natürlichen Alterungsprozess wider. Zu den häufigsten Demenzformen zählen die Alzheimer- (60 %) und die vaskuläre Demenz (20 %). Bei der Alzheimer-Demenz ist die Neurodegeneration von einer exzessiven Ablagerung von extrazellulärem Beta-Amyloid (A-beta) und intrazellulärem Tau-Protein in bestimmten Hirnregionen begleitet und vermutlich ursächlich auf diese zu beziehen. Aktuell werden den molekularen Vorläufern der Amyloid-Plaques – den löslichen Oligomeren eines aus 42 Aminosäuren komponierten Polypeptids (A-beta) – zentrale pathogenetische Eigenschaften zugeschrieben, während die TauPathologie vermutlich nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zusätzlich zur A-beta-Toxizität rufen die extrazellulären Amyloidplaques in ihrer Umgebung inflammatorische Reaktionen hervor und verstärken ebenso wie die Ablagerung von Neurofibrillenbündeln in Neuriten die synaptische und neuronale Degeneration. Der Prozess der A-beta-Bildung und Ablagerung wird durch eine Reihe genetischer, aber auch umweltbezogener Faktoren moduliert. Letztere bilden das Rational für lebensstilbezogene primäre und sekundäre Prävention. Die zerebrale Neurodegeneration folgt bei der Alzheimer-Demenz bestimmten Prädilektionsstellen, hierzu zählen der entorhinale Kortex, Hippocampus und Corpora amygdala (in denen der Krankheitsprozess vermutlich beginnt und auch früh sowie besonders ausgeprägt nachweisbar ist), der Gyrus cinguli, die temporalen, parietalen
und (später) auch frontalen Assoziationskortizes und die cholinergen Kerngebiete im basalen Vorderhirn (u. a. Ncl. basalis Meynert). Letzteres erklärt das erhebliche krankheitsbedingte cholinerge Defizit in Hirnregionen, die Efferenzen aus den cholinergen Kerngebieten erhalten, und stellt das Rational für die medikamentöse Therapie der ersten Wahl mit Cholinergika (Acetylcholinesterase-Inhibitoren) dar. Die Ursache der vaskulären Demenz besteht in einer sowohl mikro- als auch makroangiopathischen Schädigung hirnversorgender und hirneigener Gefäße, die wiederum auf unterschiedlichste Ursachen zu beziehen ist und letztlich durch eine pathologische Änderung der Blutversorgung eine chronische Hirnschädigung hervorruft [8]. Der wichtigste und am besten gesicherte Risikofaktor der vaskulären Demenz ist die arterielle Hypertonie.
5.4
5
Risikofaktoren der Demenz
Risikofaktoren für die Entstehung einer Demenz (insb. für die Alzheimer-Demenz und die vaskuläre Demenz) sind nach zahlreichen prospektiven epidemiologischen Studien die nachfolgenden Faktoren. Sie werden an dieser Stelle nur genannt, zur Ergänzung wird auf die deutschen Leitlinien hingewiesen [LL 1 – 4]: ● Alter ● Demenz bei Verwandten 1. Grades ● geringe Schulbildung ● Kopfverletzungen ● bestimmte neurologische Erkrankungen wie das Down-Syndrom ● vaskuläre Risikofaktoren wie Übergewicht, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Dyslipoproteinämie (metabolisches Syndrom), Hyperhomocysteinämie und Rauchen ● vorangegangener Schlaganfall ● Wegfall von sozialen, kognitiven und körperlichen Aktivitäten [9 – 11] Epidemiologisch weniger gut abgesicherte bzw. zweifelhafte Risikofaktoren sind Stress, der postmenopausale Östrogenstatus bei Frauen, Depressionen in der Vorgeschichte sowie bestimmte Nahrungsbestandteile (z. B. Aluminium, Zink).
59
Prävention der Demenzen
Leitlinienbox
I
II III IV V VI VII
LL1. Gaebel W. Falkai P. Behandlungsleitlinie Demenz. Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. In Abstimmung mit der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) sowie dem Bundesverband Deutscher Nervenärzte (BVDN). Darmstadt: Steinkopff Verlag; 2000. LL2. Medizinisches Wissensnetzwerk evidence.de der Universität Witten/Herdecke. Demenz: Evidenzbasierte Leitlinien zu Diagnose und Therapie. Version 5 /2005. (speziell für Allgemeinärzte, [Web6]).
5.5
Diagnostik
Subjektive Klagen über nachlassende kognitive Leistungsfähigkeit sind in der älteren Allgemeinbevölkerung sehr häufig. Entsprechend werden diese in der allgemeinärztlichen Praxis auch häufig vorgetragen. Nicht immer persistieren diese kognitiven Beschwerden, sie sollten gleichwohl als potenzielles Frühsymptom einer beginnenden hirnorganischen Erkrankung ernst genommen werden. Das diagnostische Vorgehen bei MCI bzw. Demenzverdacht wird ausführlich in Pantel und Schröder sowie den Leitlinien ([3], [LL 1 – 3]) dargestellt. Bei Vorliegen einer MCI wird für den primärärztlichen Bereich folgendes Vorgehen empfohlen: ● Durch sorgfältige Anamneseerhebung und entsprechende allgemeinärztliche Basisdiagnostik (körperliche Untersuchung, Labor-Screening, Screening auf Depression etc.) sollten eine potenziell behandelbare internistische (z. B. Hypothyreose, Anämie, kardiale Erkrankungen) sowie neurologische (z. B. Parkinson-Syndrom) oder psychiatrische Ursachen (z. B. Depression) der vorgetragenen Beeinträchtigungen ausgeschlossen bzw. identifiziert und einer entsprechenden Behandlung zugeführt werden. Als Screening-Instrumente für kognitive Defizite haben sich der Mini Mental Status Test (MMST), der Uhrentest und der DemTec (Demenz Detection Test) bewährt. ● Darüber sollte man die Patienten über mögliche (beeinflussbare) Risikofaktoren einer (fortschreitenden) Demenzerkrankung aufklären. Hierzu zählen insb. lebensstilbezogene und diätetische Faktoren (gesunde Ernährung, ausreichende Bewegung, Gewichtsreduktion, geistige und soziale Aktivität, Vermeidung von Genussgiften). ● Im Rahmen regelmäßiger Verlaufsuntersuchungen sollte die Entwicklung der kognitiven Beschwerden sorgfältig verfolgt werden. Bei Persistenz oder Progredienz (z. B. Konversion zur Demenz) sollte der Patient unbedingt an eine spezialisierte Einrichtung überwiesen werden (Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, „Gedächtnisambulanz“).
60
LL3. Diener HC, Putzki N et al. (Hrsg.). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2008. LL4. NICE-Guideline (National Institute for Health and Clinical Excellence). Dementia: Supporting people with dementia and their carers in health and social care. Version 11 /2006. [Web7].
Für die fachärztliche Ebene können nach gegenwärtigem Kenntnisstand die folgenden Empfehlungen ausgesprochen werden: ● Auch hier sollte zunächst eine suffiziente Ausschlussdiagnostik im Vordergrund stehen. Diese orientiert sich idealerweise an den diagnostischen Empfehlungen bei Verdacht auf eine Demenzerkrankung und umfasst mindestens auch eine ausführlichere neuropsychologische Testuntersuchung, mindestens eine strukturelle bildgebende Untersuchung des Gehirns (bevorzugt MRT) sowie die entsprechenden Labor-Screening-Untersuchungen. ● Im Rahmen der neuropsychologischen Diagnostik hat sich in Deutschland inzwischen die CERAD-NP-Testbatterie als Standard durchgesetzt, die zum einem international gebräuchlich ist und darüber hinaus altersund bildungsadjustierte Normwerte zur Verfügung stellt [Web5]. ● Weiterführende Diagnostik (z. B. Glukose-PET, Lumbalpunktion) sollte indikationsgeleitet erwogen werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass insb. MRT, Lumbalpunktion und PET nicht nur im Rahmen der erforderlichen Ausschlussdiagnostik aussagefähig sind, sondern auch – im Sinne einer Positivdiagnostik – in Hinsicht auf das Vorliegen einer frühen Alzheimer-Demenz im präklinischen Stadium wertvolle Informationen liefern kann. ● Hierbei besitzen v. a. das Vorliegen einer mesiotemporalen Atrophie im MRT, ein parietotemporal akzentuierter Glukosehypometabolismus im FDG-PET (Positronenemissionstomografie mit 18-Fluor-Deoxyglukose; weniger SPECT), eine Erhöhung des Tau-Proteins bzw. des hyperphosphorylierten Tau-Proteins sowie Veränderungen der A-beta-Protein-Fraktionen im Liquor nach gegenwärtigem Kenntnisstand eine positiv prädiktive Wirkung in Hinsicht auf eine Progredienz der leichten kognitiven Beeinträchtigung und Konversion zur Demenz. Ein genetisches Screening wird nur dann als sinnvoll erachtet, wenn die Familienanamnese das Vorliegen einer familiären Form der Alzheimer-Demenz nahelegt.
Präventive Maßnahmen
Weblinks ● Web1: Kompetenznetz Demenzen:
http://www.kompetenznetz-demenzen.de ● Web2: Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG):
http://www.deutsche-alzheimer.de ● Web3: Hirnliga e. v.: http://www.hirnliga.de ● Web4: Leuchtturmprojekt Demenz Quadem:
http://www.quadem.de ● Web5: CERAD-NP-Testbatterie:
http://www.memoryclinic.ch/tests/index.php ● Web6: NICE-Guidelines: http://www.evidence.de ● Web7: AKTIVA-Projekt: http://www.johannes-pantel.de
5.6
nen das Risiko für demenzielle Erkrankungen zu reduzieren. Bezweifelt wird, ob auch automatisierte Routinehandlungen wie Kreuzworträtsel lösen, dem Erhalt kognitiver Fähigkeiten dienen [15]. Gleiches gilt für überdurchschnittlichen Fernsehkonsum, dem eher ein negativer Effekt zugeschrieben wird (z. B. [13]). Kognitives Training (z. B. [16]) oder sog. „Gehirnjogging“, bei dem Rätsel oder verschiedene Aufgaben gelöst werden, wurden als Präventionsmaßnahme ebenfalls untersucht. Allerdings sind die Übungsgewinne zeitlich begrenzt, und es fehlen bisher Belege für die langfristige Wirksamkeit auf andere relevante Leistungsbereiche. Die positiven Effekte bleiben auf die trainierten Funktionen beschränkt [16]. Auch aus diesem Grund sollte die kognitive Aktivität möglichst alltagsrelevant sein.
Präventive Maßnahmen 5.6.2
Das individuelle Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ergibt sich letztlich aus einer Interaktion der Risiko- und Schutzfaktoren, denen das Individuum im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist. Viele dieser Faktoren sind vermutlich bereits im mittleren Lebensalter wirksam, können jedoch auch noch im höheren Lebensalter in Hinsicht auf eine Risikominimierung beeinflusst werden. Für die folgenden – potenziell beeinflussbaren – Risiko- und Schutzfaktoren liegen jeweils gute (und z. T. mehrfach replizierte) Belege aus umfangreichen bevölkerungsbasierten, prospektiven Beobachtungsstudien vor. Gleichwohl stehen prospektive kontrollierte Interventionsstudien für viele dieser Faktoren noch aus.
5.6.1
Kognitive Aktivierung
Die Modifikation von kognitiver, physischer (s. u.) und sozialer (s. u.) Aktivität scheint einen Einfluss auf die sog. „kognitive Reserve“ [12] zu haben. Sie bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, auf mentale Potenziale zurückzugreifen, wenn kognitive Fähigkeiten nachlassen. Individuen, die über viel kognitive Reserve verfügen, können Defizite erfolgreicher bewältigen bzw. bei bereits gegebener zerebraler Schädigung länger kompensieren. Geistige Tätigkeiten, Bildung und ein reges Sozialleben im Erwachsenenalter führen zu einer ausgeprägten kognitiven Stimulation und zu einer Vergrößerung der kognitiven Reserve. Diese ist aber keine feste Größe, die bei jedem Menschen immer gleich ist, sondern unterliegt einer gewissen Plastizität. Die kognitive Reserve kann bis ins Alter hinein durch Aktivitäten und Beschäftigung beeinflusst werden [10]. Praktisch kann kognitive Aktivierung im Alter durch alle Tätigkeiten mit hoher mentaler Aktivität erfolgen. Hierzu zählen Hobbys oder Unternehmungen wie Schach, Karten oder Bridge spielen, Musizieren, Lesen, Malen oder Museen besuchen [9, 10, 13, 14]. Auch produktive Alltagstätigkeiten wie Kochen, Nähen oder Stricken schei-
Körperliche Aktivität
Körperliche Aktivität hat eine präventive Bedeutung für die kognitive Leistungsfähigkeit, und eine Reduzierung dieser Aktivitäten kann oftmals als ein Frühindikator für eine künftige Demenz gesehen werden [14]. Physische Aktivitäten in Form von Spazierengehen, Jogging, Schwimmen, Fahrradfahren und Tanzen helfen präventiv, einen kognitiven Abbau zu vermeiden [9, 17, 18] und reduzieren das Demenzrisiko um bis zu 32 % [11]. Zwar gibt es auch Studien, die keinen Effekt von physischen Aktivitäten auf kognitive Prozesse nachgewiesen haben [19, 20], aber trotz inkonsistenter Ergebnisse lässt sich feststellen, dass körperliche Aktivität neben einem Einfluss auf Herz und Kreislauf, Kraft, Ausdauer und Gleichgewicht auch einen Einfluss auf höhere exekutive Denkleistungen im frontalen Kortex sowie im Hippocampus hat (Übersicht in [21]).
5.6.3
Soziale Interaktion
Epidemiologische Studien betonen den protektiven Effekt sozialer Netzwerke in Bezug auf demenzielle Erkrankung [9], da das Ausscheiden aus sozialen Kontakten einen Risikofaktor für das Entstehen von kognitiven Beeinträchtigungen darstellt [22]. Soziale Kontakte und Aktivitäten erschließen häufig erst kognitiv stimulierende Tätigkeiten (s. o.) und beinhalten u. U. emotionale Unterstützung und engen persönlichen Kontakt, die ebenfalls Gesundheit und Demenzrisiko positiv beeinflussen können [23].
5.6.4
Gesunde Ernährung
Für die schützende Wirkung vollwertiger und mediterraner Kost liegen ebenfalls mehrfache Belege aus prospektiven Beobachtungsstudien vor. Personen, die eine Ernährungsweise mit viel Obst und Gemüse, Olivenöl, Fisch, Getreideprodukten, wenig (rotem) Fleisch und tierischen
61
5
Prävention der Demenzen
Fetten, wenig Milchprodukten und wenig Alkohol praktizieren, haben ein geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken (z. B. [24]). Dabei scheint v. a. auch der Anteil einfach oder mehrfach ungesättigter Fettsäuren in der Nahrung eine Rolle zu spielen.
I
II III IV V VI VII
5.6.7
Präventive Pharmakotherapie
Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, kontrollierte Medikamenteneinnahme sowie eine gesundheitsbewusste Lebensführung – also die Behandlung und Vermeidung der bekannten Risikofaktoren für Demenz (Übergewicht, arterielle Hypertonie, Dyslipoproteinämie, Hyperhomocysteinämie, Diabetes mellitus) – sind als erster Schritt bei der Vorbeugung von demenziellen Erkrankungen anzusehen und können vom Einzelnen selbst beeinflusst werden. Dazu gehört auch der Verzicht auf Genussgifte (z. B. Nikotin, Alkohol). Die Wirksamkeit einer konsequenten antihypertensiven Therapie zur Vorbeugung der Demenz ist inzwischen gut belegt.
Die (sekundär-) präventive Wirksamkeit von zugelassenen Antidementiva bei MCI konnte bislang auch in mehreren randomisierten kontrollierten Studien nicht erbracht werden. Unzureichende oder fehlende Evidenz liegt darüber hinaus für eine präventive Wirkung von zahlreichen Nahrungsergänzungsstoffen, Statinen, Ginkgo-Extrakten, entzündungshemmenden Medikamenten oder Hormonen (z. B. postmenopausale Östrogengabe) vor. Dies gilt auch für Vitamine oder diverse Vitaminkombinationen, sofern ein Vitaminmangelzustand nicht eindeutig nachgewiesen wurde (z. B. Vitamin B12 oder Folsäure). Zu bedenken ist auch, dass die Einnahme verschiedener Substanzen zusätzliche Risiken bieten kann (z. B. hochdosiertes Vitamin E, Hormonpräparate). Folglich kann eine präventive Einnahme dieser Substanzen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht empfohlen werden. Eine demenzpräventive Wirkung kann bislang lediglich für eine antihypertensive Therapie bei Vorliegen eines behandlungsbedürftigen arteriellen Hypertonus als belegt gelten (s. o.).
5.6.6
Literatur
5.6.5
Behandlung bzw. Vermeidung von bekannten Risikofaktoren
Das AKTIVA-Projekt
Das am Universitätsklinikum Frankfurt a. M. entwickelte Gruppenprogramm „AKTIVA“ (Aktive kognitive Stimulation: Vorbeugung im Alter) wurde zur Vorbeugung kognitiver Defizite im Alter entwickelt und kann als prototypisch gelten, da es verschiedene der o. g. Ansätze kombiniert. Die Schwerpunkte des Programms, das sich insb. für den Einsatz z. B. in Seniorentreffs oder -tagesstätten sowie Sportvereinen eignet, liegen auf den Elementen kognitive Aktivierung, körperliche Aktivität und gesunde Ernährung. Die zentrale Trainingsmaßnahme von AKTIVA stellt eine Anleitung zu einer aktiveren, kognitiv stimulierenden Alltags- und Freizeitgestaltung dar. Diese wird mit einer sportmedizinischen Beratung im Bereich Bewegung und Ernährung kombiniert, um die Teilnehmer zu einem gesünderen und demenzvorbeugenden Verhalten zu führen. Die Teilnehmer werden in den einzelnen Sitzungen jeweils angeleitet, ihre individuellen Möglichkeiten der Prävention kennen und ausschöpfen zu lernen. Die Initiative, diese Anregungen und Ideen auch umzusetzen, liegt dabei in der Verantwortung der Teilnehmer. Diese werden animiert, von Anfang an aktiv die Trainingsinhalte in ihrem Alltag umzusetzen und diese individuell in ihren Alltag zu integrieren, ohne dass sie standardisierte Vorgaben bekommen, die eventuell einschränkend wirken könnten. Die Wirksamkeit wird aktuell in einer prospektiven, kontrollierten Studie untersucht. Weitere Informationen (z. B. das Trainingsmanual) können von den Autoren auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden [Web7].
62
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Präventive Maßnahmen
12. Stern Y. Cognitive reserve and Alzheimer disease. Alzheimer Dis Assoc Disord 2006; 20(2): 69 – 74. 13. Lindstrom HA, Fritsch T, Petot G et al. The relationships between television viewing in midlife and the development of Alzheimer’s disease in a case-control study. Brain and Cognition 2005; 58: 157 – 65. 14. Scarmeas N, Levy G, Tang MX et al. Influences of leisure activity on the incidence of Alzheimer’s Disease. Neurology 2001; 57: 2236 – 42.
19. Wilson RS, Bennett DA, Bienias JL et al. Cognitive activity and incident AD in a population-based sample of older persons. Neurology 2002; 59: 1910 – 4. 20. Frölich L, Jacob C, Lipka U et al. Gutachten zur Bewertung der epidemiologischen Evidenz von physischen Aktivitäten, psychosozialen Aktivitäten, Vitamin E und Omega-3Fettsäuren für die Prävention von Demenzen. Schriftenreihe der Hirnliga e. v., Band 3. 2007.
15. Verghese J, LeValley A, Derby C et al. Leisure activities and the risk of amnestic mild cognitive impairment in the elderly. Neurology 2006; 66: 821 – 27.
21. Oswald WD, Engel S. Demenz. Prävention. In: Oswald WD, Lehr U, Sieber C, Kornhuber J (Hrsg.). Gerontologie. 3. vollst. überarb. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2006: 149 – 53.
16. Ball K, Berch DB, Helmers KF et al. Effects of cognitive training interventions with older adults. JAMA 2002; 288: 2271 – 81.
22. Bassuk SS, Glass TA, Berkman LF. Social disengagement and incident cognitive decline in community-dwelling elderly persons. Ann Intern Med 1999; 131: 165 – 73.
17. Colcombe SJ, Kramer AF. Fitness effects on the cognitive function in older adults: A meta-analytic study. Psychol Sci 2003; 14: 125 – 30.
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24. Scarmeas N, Luchsinger JA, Mayeux R et al. Mediterranean diet and Alzheimer disease mortality. Neurology 2007; 69: 1048 – 93.
5
63
Prävention in der Augenheilkunde
6
Prävention in der Augenheilkunde G. Michelson, S. Wärntges
I
II III IV V VI VII
Das Wichtigste in Kürze Longitudinalstudien mit hohem Evidenzgrad zeigen, dass retinale Mikroangiopathien die Entwicklung einer arteriellen Hypertonie bei Personen, die initial als Nichthypertoniker definiert worden sind, vorhersagen und darüber hinaus die Auftretenswahrscheinlichkeit von zerebro- und kardiovaskulären Ereignissen unabhängig von traditionellen Risikofaktoren prognostizieren. Eine genaue Dokumentation der mikroangiopathischen Befunde und eine quantitative Beschreibung der Verengung der retinalen Arteriolen stellt damit eine wichtige medizinische Information für die derzeitige oder zukünftige Blutdrucksituation und für die Gefäßrisikoeinschätzung dar (z. B. auch durch die telemedizinische Untersuchung des Augenhintergrundes „TalkingEyes“). Neben den augenärztlichen Untersuchungsmöglichkeiten zur Prävention von systemischen Gefäßerkrankungen gibt es eine Reihe an Vorsorgeuntersuchungen, die Erkrankungen des Auges direkt betreffen. Als häufigste Erblindungsursachen müssen hier die altersassoziierte Makuladegeneration (AMD), das Glaukom und die diabetische Retinopathie näher betrachtet werden. Während man sich bei der AMD und der diabetischen Retinopathie vorrangig auf die Fundusdiagnostik konzentriert, stehen bei der Glaukomprävention die Bestimmung des intraokulären Drucks (IOD) sowie perimetrische Verfahren im Vordergrund.
6.1
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Systemerkrankungen
6.1.1
Netzhautgefäße sind Indikatorgefäße des Körpers
Die Verengung der retinalen Arteriolen ist ein häufiges und charakteristisches klinisches Zeichen bei Patienten mit arteriellem Hypertonus. Traditionsgemäß diagnostizierten Neurologen, Internisten und Augenärzte diese Symptomatik durch direkte Ophthalmoskopie, eine Technik, die jedoch eine schlechte Reliabilität aufweist. Die digitale Fundusfotografie und die Verwendung von computerassistierter Bildanalyse der retinalen Gefäße erlauben es nun, präziser den Grad einer Verengung von retinalen Arteriolen zu bestimmen. Eine Methode, die darauf basiert, die Durchmesser der retinalen Gefäße von digitalen Fundusfotografien zu bestimmen, wurde erstmalig in der „Atherosclerosis Risk in Communities-“ (ARIC-) Studie
64
verwendet. Hier wurde in verschiedenen Populationen die Netzhaut untersucht, um die Korrelation zwischen verengten retinalen Arteriolen, der arteriellen Hypertonie und zerebro- sowie kardiovaskulären Erkrankungen zu bestimmen. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass die Verengung der retinalen Arteriolen nicht nur assoziiert sind mit dem aktuellen Blutdruck, sondern auch mit den Blutdruckwerten, die 6 – 8 Jahre früher gemessen worden sind [1, 2]. Diese Studien zeigen weiterhin, dass verengte retinale Arteriolen das Risiko der späteren Entwicklung einer arteriellen Hypertonie bei Personen, die initial als Nichthypertoniker definiert worden sind, vorhersagen [3, 4, 5] und darüber hinaus die Auftretenswahrscheinlichkeit von wichtigen zerebro- und kardiovaskulären Ereignissen, wie z. B. einem Schlaganfall (unabhängig von traditionellen Risikofaktoren) [6] prognostizieren. Die Daten dieser Arbeiten demonstrieren, dass eine genaue Dokumentation der mikroangiopathischen Befunde und der quantifizierten Verengung der retinalen Arteriolen eine wichtige medizinische Information für die derzeitige oder zukünftige Blutdrucksituation und für die Gefäßrisikoeinschätzung darstellt. Studien in kleinen klinischen Fallserien deuten darauf hin, dass die Regression von retinalen Gefäßzeichen gleichzeitig mit der Normalisierung des Bluthochdrucks auftritt. Es wurde von unserer Arbeitsgruppe gezeigt, dass eine antihypertensive Therapie mit AT-I-Inhibitoren einen direkten vorteilhaften Effekt auf die mikrovaskuläre Struktur der Netzhaut hat [7], die über den rein blutdrucksenkenden Effekt mit morphologischer Verbesserung von Netzhautgefäßbefunden hinausgehen. Die retinalen Blutgefäße sind direkter, nichtinvasiver Visualisierung zugänglich und bieten damit eine einzigartige Möglichkeit, die Effekte des arteriellen Blutdrucks auf die Mikrozirkulation in vivo zu beobachten. Die derzeitige Technologie ermöglicht, präziser die Veränderungen von retinalen Gefäßen zu bestimmen, wie z. B. den Grad der generalisierten Einengung retinaler Gefäße, und schafft neue Möglichkeiten für das Verständnis der Ätiologie, der Wirkung und der Therapie des arteriellen Hypertonus [8, 4, 5, 9]. Es besteht breite Evidenz, dass ● die arterielle Hypertonie Veränderungen der retinalen Gefäße hervorruft, ● solche Veränderungen an Photographien des Augenhintergrundes erkannt werden können, ● diese telemedizinisch beurteilt werden können und ● retinale Gefäßveränderungen mit einem erhöhten Risiko für Neurodegenerationen (Schlaganfall, zerebrale
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Systemerkrankungen
Mikrogliosen) und für kardiale ischämische Erkrankungen (Herzinfarkt, kongestives Herzversagen) verbunden sind.
6.1.2
Entwicklung des Bluthochdrucks
Vergangener und aktueller Bluthochdruck Mehrere kürzlich erschienene populationsbasierte Studien verwendeten die digitale Fundusfotografie und computerunterstützte Bildanalysesysteme, um eine generalisierte arterioläre Einengung von retinalen Gefäßen zu messen [10, 11, 12]. Die ARIC-Studie zeigte eindrucksvoll, dass der Durchmesser retinaler Arteriolen signifikant invers mit ansteigenden Blutdruckwerten [1] korreliert. Dies wurde von 4 weiteren populationsbasierten Studien bestätigt [2, 13, 14, 8]. Die Beaver-Dam-Eye-Studie konnte nachweisen, dass nach Anpassung von Alter, Geschlecht, Diabetes, Rauchverhalten und anderen Gefäßrisikofaktoren ein Blutdruckanstieg um 10 mmHg mit einer Minderung des arteriolären Gefäßdurchmessers um 6 μm (oder 3 %) assoziiert war [14]. Dies zeigt einerseits den starken Zusammenhang zwischen generalisierter Verengung retinaler Arteriolen und arterieller Hypertension, und andererseits die Schwierigkeit, mit klinischem Blick solche subtilen Gefäßverengungen zu erkennen. Nur eine digitale und computerunterstützte Bewertung der Netzhautgefäßdurchmesser kann diese feinen Unterscheidungen treffen. Ein wichtiger Punkt ist die Frage, ob retinale mikrovaskuläre Abnormitäten Zeichen einer kumulativen Langzeitfolge eines erhöhten Blutdrucks oder ein kurzfristiger, vorübergehender Effekt eines akut erhöhten Blutdrucks sind. Frühere Studien zeigten eine starke Korrelation zwischen der Stärke der retinalen Mikroangiopathie und erstens einer Linksherzhypertrophie [15, 16, 17] sowie zweitens einer Mikroalbuminurie [18]. Die Linksherzhypertrophie und die Mikroalbuminurie sind 2 Langzeitmarker für Endorganschäden bei arterieller Hypertonie. In kürzlich erschienenen Publikationen wurde die Assoziation zwischen retinaler Mikroangiopathie und aktuellen Blutdruckwerten (Blutdruck bei Netzhautfotografie) bzw. vergangenen Blutdruckwerten (gemessen in den vergangenen 5 – 8 Jahren vor der Netzhautfotografie) untersucht [1, 2, 19]. Die Untersuchungen zeigten, dass eine generalisierte arterioläre Verengung und arteriovenöse Kreuzungszeichen mit vergangenen Blutdruckwerten korrelieren und damit einen persistierenden arteriolären Schaden durch einen Langzeithypertonus reflektieren [1, 2, 19]. Im Kontrast dazu zeigen fokale arterioläre Einengungen, retinale Blutungen, Mikroaneurysmen und Mikroinfarkte eine enge Korrelation zu aktuellen Blutdruckwerten. Diese Mikroangiopathien reflektieren damit eher kurzfristige Veränderungen bei akuten Blutdrucksteigerungen [1, 2].
Zukünftige Bluthochdruckentwicklung Drei neue Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen generalisierter arteriolärer Engstellung (erniedrigte av-Ratio) und einer zukünftigen Entwicklung einer arteriellen Hypertension [3, 4, 5]. Prospektive Daten der ARIC-Studie wiesen nach, dass normotensive Teilnehmer mit generalisierter arteriolärer Engstellung bei der Eingangsuntersuchung ein um 60 % höheres Risiko hatten, in den kommenden 3 Jahren eine arterielle Hypertension zu bekommen, als Teilnehmer ohne generalisierte arterioläre Engstellung bei der Eingangsuntersuchung. Das relative Risiko war 1,62 (95 % CI: 1,21 – 2,18) [3]. Teilnehmer mit den stärksten arteriolären Einengungen hatten auch den stärksten Blutdruckanstieg in der darauffolgenden 3-Jahres-Periode. Dieser Zusammenhang war nicht mit dem vorbestehenden Blutdruck, Body-Mass-Index (BMI) und anderen bekannten Bluthochdruckrisikofaktoren assoziiert. Die Daten der Beaver-Dam- und der BlueMountains-Eye-Studie zeigten die gleichen Ergebnisse [4, 5]. Zusammengefasst ergeben diese Daten eine starke Evidenz dafür, dass eine generalisierte arterioläre Engstellung der Netzhautgefäße (erniedrigte av-Ratio) der Ausdruck einer peripheren arteriolären Veränderung ist und einen präklinischen Marker für eine drohende arterielle Hypertension darstellt.
6.1.3
Therapiemonitoring
Es sind mehrere klinische Studien publiziert worden, in denen gezeigt worden ist, dass retinale mikrovaskuläre Abnormitäten unter Blutdruckoptimierung verschwinden [9, 20]. Es ist jedoch unklar, ob direkte Effekte der Blutdruckmedikamente einen positiven Effekt auf die Mikrogefäße der Netzhaut hatten (z. B. ACE-Hemmer) oder die reine Blutdrucksenkung [21, 22] wirksam war. In einer kleinen Studie mit 28 leichtgradigen Hypertonikern, die hinsichtlich einer Therapie mit Enalapril oder Hydrochlorothiazid randomisiert wurden, zeigte sich nach 26 Wochen Therapie mit Enalapril, dass sich die Sichtbarkeit der retinalen Gefäßwand signifikant verminderte [9]. Bei den Patienten, die mit Hydrochlorothiazid behandelt worden sind, gab es im Kontrast dazu keine Veränderung der Gefäßwand. Zusammengefasst stellt die retinale Strombahn einen idealen Indikator für systemische Mikroangiopathien dar. Die Tabelle 6.1 gibt eine Übersicht über die Korrelation zwischen retinaler Mikroangiopathie und systemischen Erkrankungen. In dieser Tabelle sind die einzelnen retinalen Mikroangiopathien, die dazu korrelierenden systemischen Erkrankungen, die dazugehörigen Relativen Risiken und das dazu passende Literaturzitat dargestellt.
65
6
Prävention in der Augenheilkunde
Tabelle 6.1 Korrelationen zwischen retinalen mikrovaskulären Abnormitäten und Systemerkrankungen in populationsbezogenen Studien [23]. Erhöhung des Relativen Risikos (RR): stark erhöht: RR > 2,0; moderat erhöht: 1,5 – 2,0; erhöht: RR 1 – 1,5.
I
Retinale mikrovaskuläre Abnormität
systemische Erkrankung
Erhöhung des Relativen Risikos (RR)
Studien und Referenzen
retinale Blutung
aktueller Blutdruck
stark erhöht
ARIC [1], BMES [24], BDES [14], CHS [2]
Mikroaneurysma
A.-carotis-Stenose
stark erhöht
ARIC [25], CHS [26]
Mikroinfarkt (Cotton-Wool-Herd)
zukünftiger Schlaganfall
stark erhöht
ARIC [6, 27], BMES [28]
subklinische zerebrale Veränderungen
stark erhöht
ARIC [27, 29]
kognitive Dysfunktion
stark erhöht
ARIC [30]
renale Dysfunktion
stark erhöht
ARIC [31]
kardiovaskuläre Mortalität
stark erhöht
BDES [32], BMES [28]
aktueller Blutdruck
stark erhöht
ARIC [1], BMES [24], BDES [33, 34], CHS [2]
Blutdruck in Vergangenheit
stark erhöht
ARIC [1], CHS [2]
Entzündungszeichen
erhöht
ARIC [35]
endotheliale Dysfunktion
erhöht
ARIC [35]
metabolisches Syndrom
erhöht
ARIC [36], BMES [37]
zukünftiger Schlaganfall
moderat erhöht
ARIC [6, 27], BMES [28]
subklinische zerebrale Erkrankungen
moderat erhöht
ARIC [27]
renale Dysfunktion
erhöht
ARIC [31]
aktueller Bluthochdruck
stark erhöht
ARIC [1], BMES [24], BDES [33, 34], CHS [2]
zukünftiger Bluthochdruck
moderat erhöht
ARIC [3]
metabolisches Syndrom
erhöht
ARIC [36]
aktueller Bluthochdruck
stark erhöht
ARIC [1], BMES [24], BDES [33], CHS [2], Rotterdam [8]
Bluthochdruck in Vergangenheit
stark erhöht
ARIC [1], BMES [19], CHS [2]
zukünftiger Bluthochdruck
moderat erhöht
ARIC [3], BDES [4], BMES [5]
Entzündungszeichen
erhöht
ARIC [35], Rotterdam [8]
A.-carotis-Atherosklerose
moderat erhöht
ARIC [35, 38], Rotterdam [8]
metabolisches Syndrom
erhöht
ARIC [36], BMES [37]
zukünftiger Schlaganfall
erhöht
ARIC [6, 27], BMES [28]
II III
arteriovenöse Kreuzungszeichen
IV V VI VII
fokale arterioläre Einengung
generalisierte arterioläre Einengung (erniedrigte arteriovenöse Ratio)
6.1.4
zukünftige Herzerkrankungen
moderat erhöht
ARIC [39]
kardiovaskuläre Mortalität
erhöht
BDES [32]
Erste telemedizinische Anwendungen in Deutschland „TalkingEyes“
Telemedizinische Fundusuntersuchungen könnten das Anwendungsgebiet der Augenärzte erweitern. Durch eine neue telemedizinische Methode erfolgen die augenärztliche Evaluation und die Messung der retinalen Gefäßdurchmesser anhand von digitalen Fundusfotos. Im Gegensatz zu früheren Techniken, die manuell die Gefäßgrenzen bestimmt haben, nutzt diese neue Methode eine computerassistierte Gefäßranddetektion zur Bestimmung der Gefäßgrenzen und der Durchmesser. Die individuellen Durchmesser werden als arteriovenöse Ratio (avRatio) zusammengefasst – ein Indikator für den relativen
66
Durchmesser der retinalen Arteriolen zu Venolen. Die Einschätzung des Grades der retinalen Mikroangiopathie beruht auf quantitativen und qualitativen Merkmalen wie generalisierte Einengung (av-Ratio), fokale Einengungen, retinale Blutungen, Mikroinfarkte, Mikroaneurysmen und harten Exsudaten. „TalkingEyes“ ist ein telemedizinisches Projekt der Universität Erlangen-Nürnberg und der Siemens AG, in dem seit 2001 ca. 50 000 Personen untersucht worden sind. Das Konzept zielt darauf, mittels Telemedizin den Augenhintergrund augenärztlich zu untersuchen. Derzeit sind ca. 70 Augenärzte von 14 Augendiagnostikzentren (ADC) an das Netzwerk angebunden. Dabei erfolgt eine standardisierte Bewertung von 3 verschiedenen Parametern:
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Systemerkrankungen
● ●
●
av-Ratio der retinalen Gefäße (quantitative Berechnung durch computerunterstützte Bildanalyse) mikrovaskuläre Veränderungen der Netzhaut (qualitative Beurteilung des Augenhintergrundes hinsichtlich fokaler Einengungen, Mikroinfarkte etc. durch einen augenärztlichen Experten) anamnestische Angaben des Patienten (Hypertonus, Diabetes, Dyslipoproteinämie, etc.)
Mittels dieser Angaben erfolgt unter Verwendung publizierter Risikoalgorithmen aus Longitudinalstudien eine Schätzung des individuellen Gefäßrisikos. Telemedizinische Übermittlung des Netzhautbildes. Die Anamneseerhebung und die Fundusfotografie erfolgt dezentral in verschiedenen Untersuchungsstätten mittels einer Non-Mydriatik-Funduskamera. Die quantitative und qualitative Analyse des Augenhintergrundes und die Schätzung des Schlaganfallrisikos erfolgt telemedizinisch mit einem standardisierten und qualitätskontrollierten Verfahren örtlich und zeitlich unabhängig von der Bildaufnahme. Die Befunde, Bilder und die Risikoeinschätzung werden per Internet dem telemedizinisch befundenden Augenarzt zugänglich gemacht. Die dazu notwendige Informationstechnologie (Prozesssicherung, Datenschutz etc.) wird von der Siemens AG geliefert (Abb. 6.1). Standardisierte Auswertung durch den Augenarzt. „TalkingEyes“ verwendet ein standardisiertes Untersuchungsprotokoll bei qualitativer und quantitativer Befun-
dung des Augenhintergrundes hinsichtlich von Zeichen einer hypertensiven Retinopathie. Abb. 6.2 stellt einen Screenshot des standardisierten Befundungsblattes bei „TalkingEyes“ dar. Die Parameter des Fundusbildes sind 45°-Bildwinkel, 3 Mio. Pixel, Möglichkeit des elektronischen Zooms und der Ansicht des rotfreien Bildes bei der Befundung. Reliabilität. Bei 91,4 % der Untersuchten war die Bildqualität gut oder zur Auswertung geeignet. Die Reproduzierbarkeit der Untersuchungsmethode (α-Cronbach-Koeffizient) war 0,77 bei 1332 Doppeluntersuchungen der avRatio. Häufigkeiten von retinalen mikrovaskulären Abnormitäten. Bei Untersuchungen in Betrieben fanden sich folgende Häufigkeiten von retinalen mikrovaskulären Abnormitäten: ● Cotton-wool-Herde 0,0015 %, ● retinale Blutungen 0,1 %, ● fokale Stenosen 3,4 % und ● arteriovenöse Kreuzungszeichen 11,2 %. Die av-Ratio war im Mittel 0,83 ± 0,09 und zeigte signifikante Zusammenhänge mit kausal gefäßverändernden Faktoren. Sie korrelierte multivariant, signifikant (R = 0,33) mit den Faktoren Alter, systolischer und diastolischer Blutdruck sowie Body-Mass-Index (BMI). Den stärksten Einfluss hatte der diastolische Blutdruck gefolgt vom Alter. Die retinalen mikrovaskulären Abnormitäten korrelierten signifikant (R= 0,38) mit den Faktoren anam-
elektronische webbasierte Patientenakte des TalkingEyes & More-Netzwerkes
Augenarzt
Eigen- oder Fremdbefundung
Allgemeinarzt/ Internist Abb. 6.1 TalkingEyes: Schematische Darstellung des Netzwerks.
67
6
Prävention in der Augenheilkunde
Abb. 6.2 TalkingEyes: standardisiertes Befundungsblatt.
I
II III IV V VI VII
nestisch bekannter Hypertonus, Alter, diastolischer Blutdruck, BMI und dem Geschlecht. Den stärksten Einfluss hatte das Vorliegen einer arteriellen Hypertonie gefolgt vom diastolischen Blutdruck. Die in 5 Quintilen aufgeteilte av-Ratio sowie die retinalen mikrovaskulären Abnormitäten korrelierten schwach, aber signifikant mit den anamnestisch berichteten Endorganschäden wie Herzinsuffizienz, Angina pectoris, Herzinfarkt und Herzrhythmusstörungen. Es zeigte sich eine ausgeprägte Altersabhängigkeit. Je älter der Patient, desto niedriger war die av-Ratio. Die Grenzwerte der 1. – 5. Quintile verringerten sich mit steigendem Alter. Nach Ausgleich des Faktors Alter zeigte die av-Ratio signifikante partielle Korrelationen zu Angina pectoris und arterieller Hypertonie sowie zu BMI und Dyslipoproteinämie. Patienten mit bekanntem Hypertonus wiesen signifikant häufiger retinale mikrovaskuläre Abnormitäten auf als Personen ohne Bluthochdruck.
6.1.5
Zusammenfassung
In vielen prospektiven Studien wurde ein Zusammenhang zwischen retinalen Mikroangiopathien und Schlaganfall, zerebralen Mikrogliosen und kardialen ischämischen Erkrankungen nachgewiesen. Für die genannten Erkrankungen wurde erkannt, dass die retinale Mikroangiopathie ein von traditionell bekannten Risikofaktoren unabhängiger Risikofaktor ist. Retinale mikrovaskuläre Abnormitäten wie eine generalisierte retinale arterioläre Gefäßverengung, fokale Gefäßverengungen, arteriovenöse Kreuzungszeichen, retinale Blutungen, Mikroaneurysmen und Mikroinfarkte sind nicht selten vorkommende Befunde in der allgemeinen Bevölkerung, sogar bei Indi-
68
viduen ohne arterielle Hypertension oder Diabetes. Kürzlich publizierte populationsbasierte Studien zeigten weitere Hinweise auf Verknüpfungen zwischen systemischen Erkrankungen und retinalen Zeichen. Retinale mikrovaskuläre Abnormitäten sind stark mit erhöhten aktuellen Blutdruckwerten assoziiert. Neue Studien zeigen darüber hinaus eine Evidenz dafür, dass eine generalisierte arterioläre Verengung von Netzhautgefäßen (= erniedrigte av-Ratio) ein präklinischer Marker für eine zukünftige Bluthochdruckentwicklung darstellt. Das Vorkommen von retinalen mikrovaskulären Abnormitäten wie retinale Blutungen, Mikroaneurysmen und Mikroinfarkten ist mit dem Auftretensrisiko von subklinischem Schlaganfall, kognitiver Dysfunktion, renaler Dysfunktion und kardiovaskulärer Morbidität assoziiert, unabhängig vom arteriellen Blutdruck und anderen kardiovaskulären Risikofaktoren. Es besteht Evidenz, dass Patienten, bei denen retinale mikrovaskuläre Abnormitäten gefunden worden sind, davon profitieren können, wenn sie einer sorgfältigen systemischen (internistisch und allgemeinärztlichen) Betreuung zugeführt werden. Die damit verbundene Reduktion des Gefäßrisikos verkleinert das Risiko für Schlaganfall, Demenz und ischämische Herzerkrankungen.
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Systemerkrankungen
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6
Prävention in der Augenheilkunde
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II III IV V VI VII
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6.2
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Augenkrankheiten
Im Gegensatz zum vorherigen Abschnitt, wo es bei den präventiven Untersuchungen um die ergänzende Vorsorge bei Systemerkrankungen ging, befasst sich dieses Kapitel mit Vorsorgeuntersuchungen, die vor speziellen Erkrankungen des Auges schützen sollen. Die wichtigsten Erblindungsursachen sind die Makuladegeneration, das Glaukom sowie die diabetische Retinopathie.
6.2.1
Makuladegeneration
Epidemiologie Die altersassoziierte Makuladegeneration (AMD) stellt in den westlichen Nationen die Hauptursache für eine irreversible Erblindung dar. In Deutschland wurden über 50Jährige telefonisch nach einer Makuladegeneration befragt. Die Prävalenz betrug bei den Frauen 2,8 % und bei den Männern 3,0 % [1]. In anderen europäischen Staaten sind ähnliche Prävalenzen zu finden. Bei der überwiegenden Zahl der AMD-Patienten bis zum 70. Lebensjahr handelt es sich um ein Frühstadium. Mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit früher und später Stadien der AMD. Für die späten Stadien in der Altersgruppe 65 – 74 Jahre beträgt sie ca. 1 % und für die 75- bis 84-Jährigen ca. 5 % [2]. Die zusammengefasste Prävalenz in 7 europäischen Staaten (Norwegen, Estland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Griechenland und Spanien) für die Grade 0, 1, 2, 3 und 4 der AMD betrugen 47,6 %, 36,5 %, 10,1 %, 2,5 % und 3,3 %: Die Prävalenz für ausschließlich vorhandene Drusen ≥ 125 μm lag bei 15,4 % und für die geographische atrophische AMD bzw. neovaskuläre AMD bei 1,2 % bzw. 2,3 %. Die beidseitige AMD war bei 1,4 % vorhanden [3].
70
Abb. 6.3 Fundus bei altersassoziierter Makuladegeneration (aus [31]).
Leitlinien für das Screening Deutschsprachige Leitlinien. Vom Berufsverband der Augenärzte Deutschlands (BVA) und der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) wurden Leitlinien für das AMD-Screening herausgegeben [LL 1]. Die obligatorische Anamnese soll auch die Frage nach einer Verschlechterung des Sehvermögens und nach Metamorphopsien einschließen. Eine Sehschärfenbestimmung unter Berücksichtung eventuell vorhandener Sehhilfen sowie eine Untersuchung der vorderen und mittleren Augenabschnitte mit der Spaltlampe schließen sich an. Weiterhin ist eine möglichst binokulare Untersuchung der Makula sowie die Befunddokumentation und -besprechung erforderlich. In Einzelfällen kann eine altersentsprechende Basisdiagnostik notwendig sein, außerdem der Amsler-Test zur frühzeitigen Erkennung von Metamorphopsien sowie eine Fluoreszeinangiographie bzw. eine Angiographie mit Indozyaningrün. Für die differenziertere Diagnostik stehen ferner Untersuchungen des Farbsinns, elektrophysiologische Untersuchungen, ein multifokales Elektroretinogramm (ERG) und/oder die funduskontrollierte Perimetrie sowie Ultraschalluntersuchungen zur Verfügung. Bei behandlungsbedürftigen internistischen Risikofaktoren sollte der Hausarzt mit einbezogen werden (s. Kap. 2). Europäische Leitlinien. Eine Studie aus dem Jahre 2004 [LL 2] stellte eine Modellrechnung über die Kosten-Nutzen-Relation des AMD-Screenings basierend auf der amerikanischen AREDS- (Age Related Eye Disease-) Studie und der australischen Blue-Mountains-Eye-Studie auf.
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Augenkrankheiten
Die Autoren nahmen an, dass diese Ergebnisse auch auf Europa übertragbar sind. Die Kosten für das Screening der frühen Form der AMD konnten um etwa 20 % pro Lebensjahr mit erhaltener Lebensqualität in der Altersgruppe der über 65-Jährigen gesenkt werden, wenn die eingesparten Therapien in die Rechnung mit einbezogen wurden. Aber auch die höheren Kosten ohne Einbeziehung der Therapie wurden als akzeptabel betrachtet, um weitere Erhebungen zu rechtfertigen.
Screening-Untersuchungen Für das Screening der AMD werden in erster Linie die im Folgenden genannten Untersuchungen eingesetzt. Visus. Der Visus wird durch den reziproken Wert des kleinsten Sehwinkels bestimmt, mit dem zwei Objektdetails noch getrennt wahrgenommen werden können. Vorhandene Refraktionsfehler werden mit dem Phoropter gemessen und die notwendige Korrektur durch Sehhilfen berechnet. Die Sensitivität und Spezifität der Visusmessung bei AMD-Patienten wurden vor einer Katarakt-Operation bestimmt. Die Spezifität für die Gruppen mit später AMD oder großen weichen Drusen betrug 100 % und für die Gruppe mit abnormem retinalen Pigmentepithel 77 %. Die Sensitivität lag bei 100 % für die neovaskuläre AMD und die geographische Atrophie, bei 94 % für die weichen Drusen und bei 69 % für das abnorme retinale Pigmentepithel [4]. Amsler-Netz. Der Amsler-Test ist einfach und vom Interessenten selbst durchführbar. Er dient der frühzeitigen Erkennung von Metamorphopsien. Werden bei Betrachtung der Gitterstruktur wellenförmige oder verschwom-
mene Linien wahrgenommen, kann dies der erste Hinweis auf eine durch AMD verursachte Sehstörung sein. Der Amsler-Test erreichte eine Sensitivität von 71 – 100 % bei einer Spezifität von 100 % [5]. Fundusbild (nonmydriatrische Funduskamera). Die Fotografie der Makula bzw. der Nervenfasern mit einer nonmydriatischen Funduskamera erlaubt die Beurteilung mithilfe einer hochauflösenden Farbfotografie. Der Verlauf der strukturellen Schädigungen sowie farbliche Auffälligkeiten können so dokumentiert werden. Die nonmydriatische Funduskamera erreichte für das AMDScreening eine Sensitivität von 82,1 % bei einer Spezifität von 79,1 %. Diese Zahlenwerte waren aber von den einzelnen Ausprägungen der Erkrankung abhängig (z. B. Vorhandensein einer Pigmentepithelablösung oder von choroidalen neovaskulären Membranen) [6]. Makulapigment (spektrometrische Bestimmung). Für eine detailliertere Diagnostik von Farbpigmenten am Augenhintergrund stehen spektrometrische Methoden zur Verfügung. Sie messen nichtinvasiv die wellenlängenabhängige Absorption oder Fluoreszenz der Pigmente sowie die Abnahme der Fluoreszenz im Zeitverlauf (Fluoreszein- oder Indozyaningrünangiografie). Die Sauerstoffsättigung kann aus der prozentualen Konzentration von Hämoglobin zu Oxyhämoglobin berechnet werden. Da die Autofluoreszenz des Fundus mit dem Alter korreliert, kann sie Hinweise auf altersassoziierte Pathomechanismen geben. Bei der trockenen Form der AMD wurde für die Autofluoreszenz untersucherabhängig eine Sensitivität bzw. Spezifität von 83 – 92 % bzw. 87 – 93 % für die topografische Darstellung gefunden, für 3D-Darstellung zwischen 58 und 83 % bzw. 53 und 60 % sowie für die Betrachtung der optischen Dichtewerte 75 – 83 % bzw. 67 – 80 % [7].
Leitlinienbox LL1. BVA und DOG. Praxisorientierte Handlungsleitlinien für Diagnose und Therapie in der Augenheilkunde. Leitlinie Nr. 21. Altersabhängige Makuladegeneration. http:// www.augeninfo.de/leit. LL2. Hopley C, Salkeld G, Wang JJ, Mitchell P. Cost utility of screening and treatment for early age related macular degeneration with zinc and antioxidants. Br J Ophthalmol 2004 Apr;88(4):450 – 4. LL3. BVA (Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e. v.), DOG (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft e. V): Detektion des primären Offenwinkelglaukoms (POWG): Glaukom-Screening von Risikogruppen, Glaukomverdacht, Glaukomdiagnose, Leitlinie Nr. 15c. [zitiert 02.02.2006]. www.augeninfo.de/leit/leit15c.htm. LL4. European Glaucoma Society. Terminologie und Handlungsrichtlinien zum Glaukom. 2. Aufl. 2004. http:// www.eugs.org/fullbook/deu.pdf
LL5. Hammes HP, Bertram B, Bornfeld N, Danne T, Kroll P, Lemmen KD. Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle der diabetischen Retinopathie und Makulopathie. Scherbaum WA, Kiess W (eds.). Update on „www.deutschediabetes-gesellschaft.de“/ Evidenzbasierte Leitlinien DDG/ Retinopathie. 2004 LL6. Harding SP, ed. Screening for diabetic retinopathy in Europe: 15 years after the Saint Vincent Declaration. Proceedings of the Liverpool Declaration, 17–18 November 2005, Liverpool, UK. 2005. LL7. A Desktop Guide to Type 1 (Insulin-dependent) Diabetes Mellitus: European Diabetes Policy Group 1998, International Diabetes Federation, European Region. Exp Clin Endocrinol Diabetes 1998;106(4):240 – 69. LL8. Alberti G. A Desktop Guide to Type 2 Diabetes Mellitus. European Diabetes Policy Group 1998 – 1999 International Diabetes Federation European Region. Exp Clin Endocrinol Diabetes 1999;107(7):390 – 420.
71
6
Prävention in der Augenheilkunde
6.2.2
Glaukom
Epidemiologie
I
II III IV V VI
Die progressiv verlaufenden Glaukome stellen einen bedeutenden Faktor im Gesundheitswesen dar, weil sie die dritthäufigste Erblindungsursache in Industrienationen repräsentieren. Die Prävalenz beträgt 2 – 3 % bei den über 40-Jährigen. Sie verdoppelt sich ab dem 60. Lebensjahr mit jeder Lebensdekade. Bei den 80-Jährigen beträgt sie bereits 9,7 %. In Deutschland wird die Zahl der Patienten mit primärem Offenwinkelglaukom (POWG) derzeit auf 950 000 geschätzt [8]. Ein erhöhter intraokulärer Druck (IOD) stellt einen von mehreren Risikofaktoren in Form der okulären Hypertension dar, die auch isoliert vorkommen kann. Bei der Glaukomerkrankung ist der IOD jedoch nicht notwendigerweise erhöht. Bei 25 – 50 % der Personen mit glaukomatöser Optikusatrophie liegt ein Normaldruckglaukom vor. Die jährliche Inzidenz der glaukombedingten Erblindungen in Deutschland steigt stetig an und wird im Jahr 2020 ca. 1900 Bürger betreffen. Nach den Prognosen wird es dann mindestens 165 000 Blinde und hochgradig Sehbehinderte in Deutschland geben [9]. Die beidseitige Erblindung aufgrund eines POWG schätzt man für 2010 bei weltweit 4,5 Mio. Patienten, die Zahl wird 2020 weiter auf 5,9 Mio. ansteigen [10].
VII
Leitlinien für das Screening Deutsch. Da erst ein mindestens 50 %iger Verlust der Nervenfasern den Nachweis eines Gesichtsfeldausfalls ermöglicht, wird gemäß den Leitlinien des BVA (Berufsverband der Augenärzte Deutschlands) und der DOG (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft) in Deutschland allen Personen zwischen 40 und 64 Jahren alle drei Jahre sowie Personen über 65 Jahre alle 1 – 2 Jahre ein Glaukom-Screening empfohlen. Falls weitere Risikofaktoren bestehen, sind entsprechend der individuellen Situation kürzere Screening-Intervalle notwendig [LL 3].
Abb. 6.4 Fundus bei Glaukom.
72
Zum Screening-Verfahren gehört zunächst die Erhebung der Anamnese einschließlich der Risikofaktoren wie ein hohes Alter, größere vertikale und horizontale C/D-Ratio der Papille, IOD-Werte > 21 mmHg, bei der automatischen Perimetrie eine erhöhte Pattern Standard Deviation (PSD) und die zentrale Hornhautdicke. Die Glaukom-Früherkennungsuntersuchung (Anamnese, allgemeine augenärztliche Untersuchung mit Sehnervencheck, Tonometrie) kann von Interessenten als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) in Anspruch genommen werden. Die Kosten werden nur bei konkreten Verdachtsmomenten für das Bestehen eines Glaukoms bzw. dem Vorliegen bestimmter Glaukomrisikofaktoren von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen [LL 3]. Europäisch. Die European Glaucoma Society (EGS) schließt sich der Empfehlung der EMGT (Early Manifest Glaucoma Treatment Study) an, dass ein Screening der Bevölkerung zur Erfassung unentdeckter Glaukompatienten empfohlen werden sollte, da in den Industrieländern etwa die Hälfte aller Glaukompatienten nicht diagnostiziert werden [LL 4].
Screening-Untersuchungen Papillenbild (nonmydriatische Funduskamera, ScanningLaser-Ophthalmoskopie). Die stereoskopische Befundung von Papille und peripapillärer Nervenfaserschicht mit einer nonmydriatischen Funduskamera wird herangezogen, um die Kontur des neuroretinalen Randsaums zu beurteilen sowie Papillenrandblutungen, eine peripapilläre Atrophie, sichtbar werdende offenliegende zirkumlineare Gefäße (eine kleine Arteriole oder Venole, die oberflächlich am Papillenrandsaum gelegen ist) und das Erscheinungsbild der retinalen Nervenfaserschicht („Kerben“) zu dokumentieren. Die quantitative Beurteilung umfasst die Vermessung des Sehnervenkopfs in Fläche und vertikalem Durchmesser, die C/D-Ratio (Verhältnis von Exkavation zur Papillengesamtfläche in vertikaler Ausrichtung), das Verhältnis von neuroretinalem Randsaum zur Papillengesamtfläche sowie die Höhe der retinalen Nervenfaserschicht. Die Sensitivität dieses Untersuchungsverfahrens liegt bei 78 – 90 % bei einer Spezifität von 60 – 91 % [11–13]. Werden alle zuvor genannten morphologischen Kriterien in die Beurteilung mit einbezogen, lässt sich die Sensitivität noch weiter steigern. Das Verfahren der konfokalen Scanning-Laser-Ophthalmoskopie (HRT, Heidelberger Retina Tomograph) misst die Stärke des reflektierten Lichts bei 670 nm in verschiedenen Gewebetiefen und liefert damit ein dreidimensionales Bild des Sehnervenkopfs. Dies ermöglicht die morphologische Quantifizierung der retinalen und papillären Strukturen. Bei einer Spezifität zwischen 65 und 95 % betrug bei den perimetrisch noch nicht messba-
Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Augenkrankheiten
ren Glaukomen die Sensitivität 26 % und bei den bereits perimetrisch erfassbaren Glaukomen 97 % [14]. Weiß-weiß-Perimetrie. Die Weiß-weiß-Perimetrie gilt als Standardperimetrie und misst die Fläche und die Lichtsensitivität des Gesichtsfeldes, die bei geöffneten Augen wahrgenommen wird. Beide Augen werden jedoch getrennt untersucht. Daneben gibt es auch Methoden, die glaukomatöse Gesichtsfeldausfälle früher erkennen lassen, wie die Blau-gelb-Perimetrie und den Frequenzverdopplungstest (FDT). Der Humphrey Field Analyzer entdeckte Glaukompatienten mit einer Sensitivität zwischen 58 und 96 % und einer Spezifität zwischen 90 und 99 % [15]. Örtlich-zeitliche Kontrastsensitivität (Frequenzverdopplungstest, FDT). Es werden niedrige räumliche und hohe zeitliche Frequenzstimuli angewandt, um den Verlust von speziellen retinalen Ganglienzellen, die bei der Entstehung eines Glaukoms zuerst betroffen sind, nachzuweisen. Bei der qualitativ besten Screening-Studie lagen die Sensitivität des FDT bei 92 % und die Spezifität bei 93 % [16]. Augeninnendruck (Pulse-Air-Tonometer, Goldmann-Tonometer). Die Messung des wichtigsten therapierbaren Risikofaktors, des Augeninnendrucks, erfolgt mittels Tonometrie, wobei die Goldmann-Applanations-Tonometrie der anästhesierten Kornea den derzeitigen Goldstandard bei normaler Hornhautdicke darstellt. Bei nach oben oder unten von der Norm abweichenden Hornhautdicken wird die berührungsfreie „Non Contact Pulse Air“-Tonometrie bevorzugt. Dabei wird ein kurzer Luftimpuls auf die Kornea geschossen. Da der dafür notwendige Druck proportional zum Augeninnendruck ist, gibt die verformte Hornhautkurvatur Aufschluss über den Augeninnendruck. Die Sensitivität und Spezifität betragen bei der Pulse-Air-Tonometrie 14 bzw. 98 % [17]. Das Grenzkriterium für die Applanationstonometrie ist ein IOD von ≥ 22 mmHg. Der biostatistische Normbereich reicht bis zu einem IOD von 21 mmHg. Vereinbarungsgemäß liegt der obere Grenzwert 2 – 3 mmHg (zwei Standardabweichungen) über dem statistischen Mittelwert in der Bevölkerung. Die Sensitivität für die Applanationstonometrie wird mit 50 % bei einer Spezifität von 90 – 95 % angegeben [18]. Nervenfaserschichtdicke (Polarisationsmessung, optische Kohärenztomographie). Die Scanning-Laser-Polarimetrie (GDx) analysiert die retinale Nervenfaserschicht unter Verwendung einer 780 nm polarisierten Lichtquelle und misst die Änderung der Polarisationsebene, verursacht durch die Längsstrukturen der Nervenfaserschicht. Die optische Kohärenztomomografie (OCT) bestimmt örtlich aufgelöst die Verzögerung des reflektierten Lichts von retinalen Strukturen. Beide Verfahren ermöglichen die Quantifizierung der retinalen Nervenfaserschichtdicke.
Die GDx erreicht eine Sensitivität von 62 – 100 % bei einer Spezifität von 73 – 100 %. Mit der OCT wurde eine Sensitivität von 92 % bei einer Spezifität von 95 % erreicht, wenn die retinale Nervenfaserdicke im inferioren Quadranten und die vertikale C/D-Ratio in die Auswertung einbezogen wurden [19, 20]. Zusammenfassend liefert kein Untersuchungsverfahren allein ausreichend gute Daten, um sie isoliert für das Glaukom-Screening verwenden zu können. Die lasergestützten Bildaufnahmegeräte (HRT, OCT, GDx) zeigten jedoch mit zunehmendem Stadium der Glaukomerkrankung und mit zunehmender Papillengröße eine gesteigerte Sensitivität. In der Praxis ermöglicht die Kombination von Ophthalmoskopie und Augeninnendruckbestimmung eine hohe Aufdeckungsrate mit einer Sensitivität zwischen 61 und 80 % bei einer Spezifität zwischen 84 und 99 %.
6.2.3
Diabetische Retinopathie
Epidemiologie Die diabetische Retinopathie entwickelt sich nach 5-jähriger Diabetesdauer in 20 – 25 % der Fälle. Nach 15 – 20 Jahren sind bereits 95 % der Diabetiker betroffen. Die proliferative Form der diabetischen Retinopathie tritt bei den Typ-I-Diabetikern bereits nach 5 – 8 Jahren mit einer Prävalenz von 5 – 7 % auf. Jedoch entwickelt sich selbst nach 40-jähriger Diabetesdauer in 20 % der Fälle nur eine milde, nichtproliferative Retinopathie. Da die Miterkran-
Abb. 6.5 Fundus bei diabetischer Retinopathie.
73
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Prävention in der Augenheilkunde
I
II III IV V
kung der Retina bei Diabetes mellitus ein Spätsyndrom darstellt, sind die Ergebnisse der Diabetes Control and Complication Study (DCCT) nicht verwunderlich, die eine diabetische Retinopathie beim Typ-I-Diabetes mithilfe der Fundusfotografie innerhalb von 5 Jahren bei 44,4 % der Patienten aufdecken konnte. Weitere 9,8 % wurden durch die Fluoreszenzangiographie ermittelt. Je früher sich die Retinopathie entwickelte, desto schneller wurden die fortgeschritteneren Stadien dieser Erkrankung erreicht [21]. Bei gut eingestellter Stoffwechsellage (HbA1c < 6,7 %) ließ sich in einer europäischen Studie nach 20-jähriger Diabetesdauer eine Prävalenz der Retinopathie von 82 % erreichen [22]. Die diabetische Makulopathie ist nach 15-jähriger Diabetesdauer bei 15 % der Diabetiker zu finden. In Bezug auf die Erblindungsrate infolge des Diabetes mellitus wurde eine Inzidenz von 60,6 auf 100 000 Personenjahre gegenüber 11,6 auf 100 000 Personenjahre bei der nichtdiabetischen Bevölkerung errechnet. Die WHO Multinational Study of Vascular Disease in Diabetes (WHO MSVDD) kam auf ein Risiko der schweren Sehminderung von 1,94 % in 8,4 Jahren [23]. Bei Patienten mit der proliferativen Form ist nach diesen 8,4 Jahren das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko um mehr als das 4Fache erhöht.
VI Leitlinien für das Screening
VII
Deutsch. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat evidenzbasierte Leitlinien zum Screening und der Behandlung der diabetischen Retino- und Makulopathie herausgegeben [LL 5]. Da ein qualitätsgesichertes Screening das Risiko der Erblindungen senken kann, führt es langfristig zu Kosteneinsparungen und zur Steigerung der Lebensqualität des Patienten [24, 25]. Die augenärztliche Untersuchung der diabetischen Retinopathie sollte mindestens die Refraktion, den vorderen Augenabschnitt ggf. mit Augeninnendruckmessung und die binokulare biomikroskopische Funduskopie bei dilatierter Pupille umfassen. Bei Typ-I-Diabetes werden Kontrollintervalle von einmal pro Jahr ab dem 5. bzw. ab dem 11. Erkrankungsjahr empfohlen. Bei Typ-II-Diabetes wird sofort bei Diagnosestellung und dann einmal jährlich eine Untersuchung auf eine diabetische Retinopathie empfohlen [26 – 28]. Im Falle der manifesten Retinopathie-Diagnose sind die Untersuchungsintervalle nach Maßgabe des Augenarztes anzusetzen. Bei schwangeren Diabetikerinnen sollten entsprechende Untersuchungen sofort bei Erstdiagnose und anschließend alle 3 Monate präpartal stattfinden. Falls bereits eine Retinopathie vorhanden ist, sollte man das Intervall auf einen Monat verkürzen. Europäisch. In der Liverpool-Deklaration von 2005 [LL 6] wurde angestrebt, bis zum Jahr 2010 mindestens 80 % der Patienten mit Diabetes durch systematische ScreeningProgramme für die diabetische Retinopathie zu erreichen.
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Die Untersuchung sollte mit dilatierter Pupille durchgeführt werden. Als akzeptabel für das Screening wurde die digitale Fundusfotografie beurteilt. Die direkte Ophthalmoskopie bei dilatierten Pupillen wurde als vorläufige Untersuchungsmethode nur dann zugelassen, wenn andere Technologien nicht zur Verfügung stehen. Die Augenuntersuchung sollte direkt nach Diagnosestellung der diabetischen Erkrankung erfolgen. Augenärzte sollten auch Zugang zu den internistischen Daten wie HbA1c (Grenzwert < 7 %), Blutdruck (< 135/80 mmHg) und Gesamtcholesterin (< 5 mmol/l) haben und sich mit Allgemeinmedizinern, Diabetologen, Endokrinologen und Notfallmedizinern austauschen. Die International Diabetes Federation (IDF) [LL 7, LL 8] empfiehlt zusätzlich noch eine jährliche Kontrolle des Visus und eine anamnestische Erhebung von Augensymptomen, Bluthochdruck und Rauchverhalten. Die Untersuchungen sollten jährlich stattfinden. Kürzere Intervalle können bei arterieller Hypertonie, Mikroalbuminämie, neu aufgetretener oder progressiver nichtproliferativer Retinopathie und Schwangerschaft notwendig werden.
Screening-Untersuchungen Netzhautbilder (nonmydriatische Funduskamera, Mydriatikkamera). Fotografien der Netzhaut sollten möglichst in pharmakologisch herbeigeführter Mydriasis angefertigt werden. Ein Vergleich von 9 sich überlappenden 45°-Fundusaufnahmen, gewonnen durch Vorgabe von 9 verschiedenen Fixationspunkten, wurden mit der EinFeld-nonmydriatischen Fotografie verglichen. Die Sensitivität der 9-Feld-Fotografie mit und ohne Mydriasis (78 bzw. 82 %) war der Ein-Feld-nonmydriatischen Fotografie (64 %) überlegen. Die Spezifität betrug bei der 9-FeldFotografie 82 % und bei der Ein-Feld-nonmydriatischen Fotografie 96 % [29]. Die exakte Beurteilung des diabetischen Makulaödems gelingt mit der OCT bei einer Sensitivität von 79 % und einer Spezifität von 88 % ebenfalls recht gut im Vergleich zu den Goldstandardtests wie der Fundusstereofotografie oder der Fundusbiomikroskopie [30].
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Vorsorgeuntersuchungen am Auge zur Prävention von Augenkrankheiten
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6
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern
7
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern J. H. Ficker, T. H. Fink
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Das Wichtigste in Kürze Das Lungenkarzinom ist die häufigste tödliche Krebserkrankung des Mannes und die dritthäufigste tödliche Krebserkrankung der Frau. Mindestens 85 % der Lungenkarzinome sind auf das Tabakrauchen zurückzuführen. Damit ist das Lungenkarzinom die bedeutsamste vermeidbare Krebstodesursache. Basis jeder ärztlichen Betreuung von Rauchern ist der dringende ärztliche Rat, das Rauchen zu beenden und ein qualifiziertes Unterstützungsangebot für die Tabakrauchentwöhnung. Zu den Frühsymptomen eines Lungenkarzinoms zählen neu auftretender Husten, Änderung des Hustencharakters und Blut im Sputum. Beim Auftreten dieser Symptome bei einem Raucher muss konsequent die notwendige Diagnostik zum Ausschluss/Nachweis eines Lungenkarzinoms veranlasst werden. Hierzu gehören CT-Thorax und Bronchoskopie in moderner Technik (Videochip-Bronchoskopie, Autofluoreszenz). CT und Bronchoskopie sind komplementäre Verfahren, die sich in der Diagnostik des Lungenkarzinoms ergänzen. Verdachtsunabhängige Screening-Untersuchungen, z. B. mit Röntgen- oder CT-Thorax haben bislang keinen gesicherten Stellenwert, da eine Verbesserung des Überlebens bislang nicht belegt werden konnte. Neben dem Lungenkarzinom ist die COPD eine tabakrauchinduzierte Lungenerkrankung mit höherer Morbidität und Mortalität als das Lungenkarzinom. Durch einfach klinische Untersuchungen und Lungenfunktionsanalysen ist eine zuverlässige Frühdiagnostik der COPD möglich.
7.1
Grundlagen und Hintergründe
Weltweit sind Inzidenz und Prävalenz des Lungenkarzinoms in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Trotz Weiterentwicklungen in Diagnostik und Therapie haben sich die mittleren Überlebenszeiten für diese Patienten nur gering verlängert und die 5-Jahres-Überlebensraten allenfalls nur um wenige Prozentpunkte erhöht. Die zunehmende Mortalität des Lungenkarzinoms korreliert eng mit dem Tabakrauchverhalten der Bevölkerung, besonders in den westlichen Industrienationen. Die gesundheitliche Aufklärung über die Folgen des Tabakrauchs, sowie das Angebot von Raucherentwöhnungsprogrammen und die Förderung von Präventionsprogram-
76
men für Kinder und Jugendliche sind daher ebenso wichtig wie die Weiterentwicklung von Früherkennungsmaßnahmen.
7.1.1
Epidemiologie des Rauchens und des Lungenkarzinoms
Das Lungenkarzinom zählt zu den häufigsten Tumorerkrankungen weltweit, insb. aber der westlichen Industrienationen. Es ist hier die häufigste tumorbedingte Todesursache des Mannes und nach dem Mammakarzinom und dem Kolonkarzinom die dritthäufigste tumorbedingte Todesursache der Frau. Während die Neuerkrankungsraten bei Männern in den letzten Jahren tendenziell abnehmen, nimmt die Rate der Frauen deutlich zu, und es ist zu erwarten, dass auch bei Frauen das Lungenkarzinom in den nächsten Jahren zur häufigsten tumorbedingten Todesursache wird. Insgesamt erkranken in Deutschland jährlich rund 32 000 Männer und 13 000 Frauen an Lungenkrebs – dies entspricht knapp 15 % aller Krebsneuerkrankungen beim Mann und 6 % bei der Frau. Der Altersgipfel liegt um das 60. Lebensjahr [1]. Diese Entwicklung korreliert eng mit dem Rauchverhalten der Bevölkerung. Mindestens 85 % der Lungenkarzinomerkrankungen sind durch Inhalationsrauchen verursacht. Das Risiko steigt mit der Anzahl der gerauchten Zigaretten (gemessen als „Pack Years“), aber auch das Alter, in dem zu rauchen begonnen wurde, beeinflusst das persönliche Risiko. Der Tabakkonsum hat seit den Siebzigerjahren bis Mitte der Neunzigerjahre langsam abgenommen, steigt seither aber tendenziell wieder an. Besonders der Anteil der rauchenden Frauen hat hierbei zugenommen und auch der Anteil der rauchenden Mädchen nimmt zu. Dabei werden vermeintlich „gesündere“ Light-Zigaretten bevorzugt, auch der Konsum von Zigarillos nimmt zu.
7.1.2
Das Lungenkarzinom
Nach histologischen Kriterien wird zwischen dem kleinzelligen Lungenkarzinom (weniger als 20 % der Fälle, mit fallender Tendenz) und dem nichtkleinzelligen Lungenkarzinom unterschieden. Die nichtkleinzelligen Lungenkarzinome werden in Plattenepithelkarzinome (ca. 30 %), Adenokarzinome (ca. 40 %, mit steigender Tendenz), großzellige Karzinome (ca. 10 %) und einige andere, seltene histologische Typen unterteilt. Diese Unterscheidung hat große Bedeutung für den Verlauf der Erkrankung und für die Therapiestrategie.
Grundlagen und Hintergründe
Symptomatik Die Symptome sind meist uncharakteristisch und können Zeichen auch vieler anderer Lungenerkrankungen sein. Meist treten Symptome erst spät auf, was die Früherkennung dieser Erkrankung erschwert. Die Diagnose wird deshalb häufig erst im fortgeschrittenen Stadium gestellt. Führendes Symptom des Lungenkarzinoms ist neu auftretender Husten oder eine Änderung des Hustencharakters bei chronischem Husten (Abb. 7.1). Aber auch Thoraxschmerzen, Dyspnoe, Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust, Leistungsknick, Hämoptysen (Abb. 7.2), wiederholte Pneumonien an gleicher Lokalisation und Heiserkeit können erste Symptome eines Lungenkarzinoms sein (Tab. 7.1). Beim schnell wachsenden kleinzelligen Lungenkarzinom können häufiger lokale Komplikationen wie das Vena-cava-superior-Syndrom (obere Einflussstauung durch Kompression der V. cava sup.) beobachtet werden. Insbesondere bei Patienten mit erhöhtem Risiko, also v. a. bei Rauchern sollte bei entsprechender Symptomatik an das Vorliegen eines Lungenkarzinoms gedacht werden.
Diagnostik Die Diagnostik lässt sich in vier Phasen unterteilen: die Basisdiagnostik, Maßnahmen zur Diagnosesicherung, das sog. Staging, sowie die Klärung der eventuellen Operabilität. Zur Basisdiagnostik gehören die klinische Untersuchung, Labordiagnostik, Röntgen-Thorax in 2 Ebenen,
Abb. 7.1 CT-Thorax mit einem Lungenkarzinom im rechten Lungenoberlappen. Einziges klinisches Symptom: Husten.
Tabelle 7.1 Typische Erstmanifestationen eines Lungenkarzinoms. Nur der „neu auftretende, anhaltende oder zunehmende Husten“ und der „blutige Auswurf“ sind mögliche Frühsymptome! Die übrigen Erstmanifestationen sind meist bereits Ausdruck einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
neu auftretender, anhaltender oder zunehmender Husten blutiger Auswurf zunehmende Luftnot Schmerzen im Thorax Lungenentzündung (verzögert, kompliziert, rezidivierend) häufige oder wiederkehrende Infekte (Bronchitiden) Gewichtsverlust allgemeine Leistungsschwäche Müdigkeit Nachtschweiß Appetitlosigkeit anhaltende Heiserkeit paraneoplastisches Syndrom
Lungenfunktionsprüfung (Bodyplethysmografie), EKG, und Computertomografie (CT) des Thorax mit Kontrastmittel. Die Histologiegewinnung zur Diagnosesicherung erfolgt meist bronchoskopisch oder durch sonografisch bzw. CT-gesteuerte transthorakale Biopsie, selten durch Mediastinoskopie oder Thorakotomie. Das Staging beinhaltet die Ultraschalluntersuchung des Abdomens, ggf. auch CT des Abdomens, Knochenszintigrafie, Computeroder Kernspintomografie (MRT) des Schädels. In ausgewählten Fällen kann eine Positronenemissionstomografie (PET od. PET-CT) das Staging verbessern. Die Klärung der funktionellen Operabilität erfolgt mittels Ergospirometrie, die technische Operabilität (Resektabilität) muss anhand des Thorax-CT und ggf. ergänzend
Abb. 7.2 Bronchoskopisches Bild eines Plattenepithelkarzinoms im linken Hauptbronchus. Einziges Symptom: Blutspuren im Auswurf.
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7
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern
durch MRT, weitere endoskopische Untersuchungen oder Mediastinoskopie beurteilt werden.
Hirnmetastasen, sowie eine optimale supportive Therapie einschließlich Schmerz- und Ernährungstherapie, Prophylaxe und Behandlung von Übelkeit und Erbrechen, Dyspnoe, Fatigue und Anämie eine wichtige Rolle.
Therapie Therapie des nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms
I
II III IV V VI VII
Lokal begrenzte Erkrankungen bedeuten eine potenziell kurative Situation. Primär ist möglichst ein operatives Vorgehen zu erwägen. Diese Patienten erreichen nach chirurgischer Resektion eine 5-Jahres-Überlebensrate von 30 – 75 %. Neuere Studien konnten belegen, dass für einen Teil dieser Patienten eine adjuvante Chemotherapie zu einer verbesserten 5-Jahres-Überlebensrate führt [2]. Bei lokal fortgeschrittener Erkrankung ist auch bei technisch resektablem Tumor bei einer alleinigen Operation die Prognose schlecht. Hier werden multimodale Therapiekonzepte eingesetzt, um die Prognose zu verbessern. Bei Patienten mit gutem Allgemeinzustand besteht die Möglichkeit einer simultanen Radiochemotherapie entweder als definitive Behandlung oder in einem neoadjuvanten Konzept [3]. Bei fortgeschrittener Erkrankung mit Fernmetastasierung handelt es sich um eine rein palliative Situation. Die platinhaltige Chemotherapie erreicht im Vergleich zu „best supportive care“ eine Verlängerung der Überlebenszeit von ca. 2 Monaten, eine Steigerung der 1-JahresÜberlebensrate um ca. 10 % und eine Verminderung der tumorbedingten Symptomatik [4]. Auch im Rezidiv können Patienten von einer Second-line-Therapie (Chemotherapie oder EGFR-Tyrosinkinasehemmer) profitieren. Die Remissionsraten liegen hier nur bei ca. 10 %, dennoch kommt es zu einer signifikanten Verlängerung des Überlebens sowie einer verbesserten Symptomkontrolle [5].
Therapie des kleinzelligen Lungenkarzinoms Standard im fortgeschrittenen Stadium ist ein platinhaltiges Chemotherapieschema (Carboplatin oder Cisplatin). Im lokal begrenzten Stadium sollte simultan oder sequenziell eine Radiotherapie verabreicht werden [6]. Bei Erreichen einer „guten" Remission ist eine prophylaktische Hirnbestrahlung indiziert [7]. Im Rezidiv ist das Vorgehen abhängig von der rezidivfreien Zeit. Bei sog. sensitiven Rezidiven, also einer rezidivfreien Zeit länger als drei, besser von sechs Monaten ist eine Wiederholung der First-line-Therapie möglich bzw. sinnvoll. In allen anderen Fällen ist aktuell eine Chemotherapie mit Topotecan Standard in der Second-lineTherapie [8]. Sowohl beim nichtkleinzelligen als auch beim kleinzelligen Lungenkarzinom spielen neben den systemischen Therapiekonzepten interventionelle Verfahren wie bronchologische Interventionen, Pleurodese, aber auch lokale Maßnahmen wie Strahlentherapie bei Knochen- oder
78
7.2
Risikofaktoren
7.2.1
Rauchen
Täglich werden in Deutschland mehr als 250 Mio. Zigaretten geraucht, das sind ca. 100 Milliarden Zigaretten im Jahr. Die Schäden durch aktives Rauchen sind allgemein gut bekannt, auch wenn sie weiterhin von vielen Betroffenen ignoriert werden. Aktives Rauchen ist die häufigste vermeidbare Ursache von Krankheit und Tod. Ca. 140 000 Raucher sterben jährlich in Deutschland an den Folgen des Rauchens. Mindestens 85 % der Lungenkarzinomfälle sind ursächlich auf Tabakrauchen zurückzuführen. Bei keiner anderen Tumorart könnte eine wirksame Tabakprävention so viele Todesfälle vermeiden [9]. Tabakrauch ist ein komplexes Gemisch aus weit über 4000 Substanzen, darunter Gifte wie Blausäure, Ammoniak und Kohlenmonoxid und über 70 krebserregenden Stoffen wie Nitrosamine, aromatische Amine, Dioxine, Formaldehyd, Acrylamid, Benzol, Vinylchlorid, Arsen, Blei, Cadmium, Chrom oder das radioaktive Isotop 210Polonium. Bereits kleinste Belastungen mit diesen krebserregenden Stoffen können zur Entstehung von Tumoren beitragen. Es gibt keine Menge Tabakrauch, die ungefährlich wäre. Die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft sah ausdrücklich und dezidiert von der Festlegung eines unteren Grenzwertes für eine Konzentration von Tabakrauch ab, die noch als akzeptabel angesehen werden kann. Wer über einen Zeitraum von 20 Jahren 20 Zigaretten täglich konsumiert, hat ein etwa 20-fach höheres Risiko, an einem Lungenkarzinom zu erkranken als ein Nieraucher. Nach Einstellung des Tabakkonsums nimmt dieses Risiko deutlich ab und nähert sich nach 16 Jahren dem Risiko eines Nierauchers an, sinkt jedoch nie mehr ganz auf diesen Wert ab. Aber auch andere Tumorerkrankungen werden durch Rauchen begünstigt: z. B. Larynx-, Ösophagus-, Pankreas-, Harnblasen- und Nierenkarzinome sind in absteigender Häufigkeit auf das Tabakrauchen zurückzuführen [10].
7.2.2
Passivrauchen
Die Schädlichkeit des Passivrauchens ist aus dem ärztlichen Alltag schon sehr lange bekannt, wurde aber in den letzten Jahren immer besser auch durch wissenschaftlich fundierte Studien belegt, sodass heute daran keine Zweifel mehr bestehen [11].
Risikofaktoren
Passivrauch besteht aus dem Nebenstromrauch, der beim Verglimmen der Zigarette zwischen den Zügen entsteht, sowie aus den vom Raucher wieder ausgeatmeten Bestandteilen des Hauptstromrauchs. Hauptstromrauch ist derjenige Rauch, den der Raucher aus dem Filter selbst einatmet. Beim „Ziehen“ an der Zigarette glimmt diese sehr stark auf, d. h. die Abbrandtemperatur steigt stark an. Zwischen den „Zügen“ fällt die Abbrandtemperatur der Zigarette wieder ab und es entsteht der Nebenstromrauch, der in den Raum entweicht. Dieser Nebenstromrauch entsteht bei einer deutlich geringeren Abbrandtemperatur und enthält aus diesem Grund wesentlich höhere Konzentrationen an Schadstoffen als der Hauptstromrauch. Damit wird verständlich, dass die relativ geringen Mengen von Rauch, die der Passivraucher im Vergleich zum Aktivraucher inhaliert, durchaus ernsthafte schädigende Effekte haben können [11]. Nach der teils heftigen öffentlichen „Feinstaub-Diskussion" der letzten Jahre ist für viele das Risiko durch die massive Feinstaubbelastung, die von glimmenden Zigaretten ausgeht, sehr anschaulich. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass diese sogar die Feinstaubemissionen eines Dieselmotors um ein Vielfaches übertreffen kann. Man hat hierzu einen modernen Diesel-PKW (2,0 Liter Hubraum, Euro-3-Norm) in einer geschlossenen Garage 30 Minuten im Leerlauf laufen lassen und die Feinstaubbelastung in der Garage gemessen. Dann hat man zum Vergleich 3 Zigaretten in der gleichen Garage verglimmen lassen. Die Feinstaubbelastung der Innenraumluft war nach dem Verglimmen der Zigaretten um das ca. 5Fache höher als nach 30 Min. Laufzeit des Dieselmotors [12]. Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass die in einem Raum durch Zigarettenrauchen entstandenen Luftschadstoffe auch wirklich von den „Passivrauchern“ in den Organismus aufgenommen werden. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat mehr als 10 große Studien zusammengestellt, in denen Abbauprodukte von Nikotin im Urin von Passivrauchern nachgewiesen wurden. Dabei war die Konzentration dieser Nikotinabbauprodukte im Urin von passivrauchexponierten Nichtrauchern bis 5-fach höher als im Urin von nicht passivrauchexponierten Nichtrauchern [13]. In anderen, deutlich aufwendigeren Studien hat man typische Kanzerogene im Urin oder im Blut von Passivrauchern bestimmt und auch hier deutlich erhöhte Werte im Vergleich zu nichtpassivrauchenden Nichtrauchern gefunden. Bei Kleinkindern von Rauchern wurden in einer US-amerikanischen Studie erhöhte Werte von krebsauslösenden Substanzen im Urin gefunden. Bei rund der Hälfte der untersuchten Babys, die zu Hause oder im Auto Zigarettenrauch ausgesetzt waren, entdeckte man Spuren von krebserregenden Substanzen aus dem Tabakrauch. Damit ist zweifelsfrei belegt, dass der Passivrauch auch wirklich in relevanten Konzentrationen im Organismus der Passivraucher „ankommt“ [13]. Vor diesem Hintergrund stufte eine Reihe nationaler und internationaler Gremien und Organisationen das
Passivrauchen als beim Menschen als krebserregend ein [14, 15].
7.2.3
Umweltfaktoren, berufliche Expositionen
Die Luftverschmutzung sowie die natürliche Radonexposition spielen eine geringe, aber doch erwähnenswerte Rolle. Insgesamt weniger als 15 % der Erkrankungen sind auf „Umweltfaktoren" im weitesten Sinne zurückzuführen. Ein wichtiger Vertreter ist hier die natürliche Radonstrahlung aus der Umwelt und in Wohnräumen. Wichtig sind die beruflich bedingten Faktoren, besonders die berufliche Asbestbelastung, da die Asbestexposition nicht nur in der Entstehung der malignen Mesotheliome (Pleura, Peritoneum) eine wichtige Rolle spielt, sondern auch eine deutliche Erhöhung des Lungenkarzinomrisikos mit sich bringt. Andere in diesem Zusammenhang wichtige berufliche Noxen sind Arsen, Chrom, Nickel, Beryllium und polyzyklische Kohlenwasserstoffe. Eine besonders deutliche Erhöhung des Risikos entsteht dann, wenn zusätzlich zu einer bekannten, evtl. beruflich bedingten Belastung aktiv Zigaretten geraucht werden, da diese Faktoren eine sich potenzierende kanzerogene Wirkung zeigen. So ist das Risiko eines Nierauchers, ein asbestbedingtes Lungenkarzinom zu entwickeln, abhängig vom Ausmaß der Asbestbelastung erhöht, steigt bei einem asbestbelasteten Raucher jedoch auf ein Vielfaches an. Lungenkarzinomrisiken aufgrund beruflicher Strahlenexposition werden in verschiedenen Arbeitsfeldern, nicht zuletzt auch bei der Anwendung von Röntgenstrahlen zur medizinischen Diagnostik und Therapie diskutiert. Fälle mit einer eindeutigen Auslösesituation durch berufliche Strahlenexposition wie früher in den Uranminen im Erzgebirge (sog. „Schneeberger Krebs“) sind erfreulicherweise extrem selten geworden.
7.2.4
Genetisches Risiko, „Raucherfamilien“
Genetische Faktoren bestimmen sicherlich das individuelle Erkrankungsrisiko mit, sind aber nur sehr selten als einzige Ursache anzusehen. So besteht unter Verwandten ersten Grades von Patienten mit Lungenkarzinom ein ca. 3- bis 4-fach höheres Erkrankungsrisiko, meist liegt jedoch auch dann eine positive Raucheranamnese vor (sog. „Raucherfamilien"). Neuere Daten sprechen aber auch klar dafür, dass unabhängig vom Rauchverhalten das Erkrankungsrisiko der Verwandten von Lungenkarzinompatienten erhöht ist. So untersuchten z. B. Garlova et al. das Risiko nichtrauchender Angehöriger von nichtrauchenden Lungenkarzinompatienten. Dabei fanden sie das Erkrankungsrisiko erstgradiger Verwandter um 25 % erhöht, das Lungenkarzinomrisiko der Kinder von nichtrauchenden Lungenkarzinompatienten war auf das Doppelte erhöht [16].
79
7
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern
7.3
I
II III IV V VI VII
Medikamentöse Tumorprophylaxe
Die Idee einer medikamentösen Vorsorge besteht darin, durch bestimmte Substanzen in den Prozess der Karzinogenese einzugreifen und diesen zu unterbrechen. In den letzten Jahrzehnten hat sich hierfür in Anlehnung an den Begriff Chemotherapie die Bezeichnung Chemoprophylaxe durchgesetzt. Primär muss natürlich immer die Beendigung des Tabakkonsums gefordert werden, aber auch dann besteht für den Exraucher noch für viele Jahre ein deutlich erhöhtes Risiko. Eine obst- und gemüsereiche Ernährung kann das relative Risiko, an einem Lungenkarzinom zu erkranken, sowohl bei Rauchern, als auch bei Ex- und Nierauchern reduzieren. Die meisten Studienergebnisse gibt es zum Einsatz der Retinoide (Beta-Carotin, Retinol u. a.). Hier existieren deutliche Unterschiede zwischen aktiven Rauchern und Exrauchern. So kam es in mehreren Studien bei Rauchern unter der Einnahme von Retinoiden sogar zu einer Zunahme der Lungenkrebsrate. Die Ursache hierfür ist bislang nicht geklärt. Selen wird in den letzten Jahren zunehmend als Chemoprävention eingesetzt. Durch seine antioxidative Wirkung und die Aktivierung der DNA-Reparaturmechanismen ist eine protektive Wirkung denkbar. Die Studien zum Lungenkarzinom zeigten bislang keine eindeutigen Ergebnisse, was möglicherweise daran liegt, dass im Allgemeinen genügend Selen über die Nahrung aufgenommen wird. Die Studienergebnisse zur medikamentösen Prophylaxe beim Lungenkarzinom sind insgesamt enttäuschend. Möglicherweise können hier zukünftig molekulargenetisch entwickelte Stoffe wie orale Enzymhemmer oder Rezeptorhemmer zum Einsatz kommen. Letztendlich ungeklärt ist auch die Frage, welche Risikogruppen von solchen Präventionsprogrammen profitieren können. Studien, die versuchten, mit inhalativen Steroiden das Fortschreiten von bronchialen Dysplasien hin zu invasiven Karzinomen zu verhindern, haben bislang keine überzeugenden Ergebnisse geliefert [17]. Zusammenfassend kann eine medikamentöse Primäroder Sekundärprävention bislang außerhalb von Studien nicht empfohlen werden.
Kasuistik Herr Huber (45 Jahre alt) berichtet über morgendlich betonten Husten und Auswurf seit vielen Jahren, in letzter Zeit jedoch sei das morgendliche Abhusten sehr viel mühsamer geworden, zweimalig habe er kleine Blutspuren im Auswurf beobachtet. Er habe seit dem 20. Lebensjahr etwa 1 Schachtel Zigaretten pro Tag geraucht, vor etwa fünf Jahren jedoch nach einem Herzinfarkt mit dem Rauchen aufgehört. Der körperliche Untersuchungsbefund ergab eine diskrete Lippenzyanose, Zwerchfelle beidseits
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tiefstehend, hypersonorer Klopfschall, geringes exspiratorisches Giemen rechts basal. In der Lungenfunktionsanalyse konnte eine Vitalkapazität von 74 %, eine FEV1 von 59 % sowie ein typischer „Emphysemknick“ in der Flussvolumenkurve nachgewiesen werden. Beurteilung: ● Herr Huber hat als Exraucher mit einer Dosis 20 Pack Years auch 5 Jahre nach der Beendigung des aktiven Rauchens noch ein hohes Risiko für ein Lungenkarzinom. ● Es besteht klinisch und lungenfunktionsanalytisch das Bild einer COPD im GOLD-Stadium II. ● Die Änderung des Hustencharakters und v. a. der intermittierend blutige Auswurf machen den konsequenten Ausschluss eines Lungenkarzinoms erforderlich. Hierzu sind CT-Thorax und Bronchoskopie sowie ggf. weitere Maßnahmen erforderlich.
7.4
Früherkennung
7.4.1
Bildgebende Verfahren
Die Tatsache, dass das Lungenkarzinom häufig erst in einem lokal fortgeschrittenen oder gar metastasierten Stadium diagnostiziert wird, in dem in der Regel keine kurativen Optionen mehr bestehen, hat frühzeitig dazu geführt, dass versucht wurde, durch systematisches „Screening“ von Risikokollektiven eine Frühdiagnose zu erreichen, wie dies bei anderen Tumorentitäten (z. B. Mammakarzinom, kolorektale Karzinome, Prostatakarzinom) durchaus erfolgreich praktiziert wird. Dabei wurden v. a. radiologische Verfahren intensiv untersucht. Insgesamt liegen vier große Studien vor, in denen versucht wurde, durch konventionelle Röntgendiagnostik eine effiziente Früherkennung zu erzielen. Bei der zusammenfassenden Auswertung (Metaanalyse) dieser randomisierten Studien konnte jedoch kein Überlebensvorteil der in das Screening-Programm eingeschlossenen Probanden im Vergleich zu den Kontrollpersonen nachgewiesen werden. Das 5-Jahres-Überleben derjenigen Patienten, bei denen durch Screening-Maßnahmen ein Lungenkarzinom nachgewiesen wurde, war geringfügig besser als das Überleben jener Lungenkarzinompatienten, die außerhalb des Screenings diagnostiziert wurden. Die Gesamtmortalität unterschied sich jedoch nicht [18]. Vier weitere Studien versuchten, die Ergebnisse des Lungenkarzinom-Screenings durch Kombination von konventioneller Röntgendiagnostik mit Sputumzytologie zu verbessern. Bei diesen Studien zeigte sich in den Gruppen, die zusätzlich einer sputumzytologischen Diagnostik zugeführt wurden, im Vergleich zu den Probanden, die eine allein radiologische Diagnostik erfuhren, eine geringe Reduktion des relativen Mortalitätsrisikos, diese Reduktion war jedoch nicht statistisch signifikant. Das 5Jahres-Überleben war in der zusätzlich mit Sputumdiag-
Früherkennung
nostik untersuchten Gruppe geringfügig höher, als in der Gruppe ohne Sputumdiagnostik. Die Gesamtmortalität war jedoch nur in einer dieser Studien ermittelt worden, sie war zwischen den beiden Screening-Strategien nicht signifikant verschieden [19]. Neuen Auftrieb erhielten die Bemühungen um ein effizientes Lungenkarzinom-Screening durch die technischen Fortschritte mit Entwicklung der Low-dose-Computertomografie. Vor allem die sog. ELCAP-Studie (early lung cancer action project) und ihre Nachfolgestudien lösten großes Interesse aus und stimulierten auch andere Studiengruppen. Bis heute liegen fast ein Dutzend, teilweise durchaus umfangreiche Studien zum Nutzen eines Lungenkarzinom-Screenings mittels CT bzw. CT plus Sputumzytologie vor. Diese Studien unterscheiden sich zum Teil erheblich hinsichtlich der verwendeten CT-Technologie und v. a. in Bezug auf das untersuchte Risikokollektiv. Diese Studien zeigen insgesamt, dass die Low-dose-CT tatsächlich in der Lage ist, eine größere Zahl kleiner, asymptomatischer, nichtkleinzelliger Bronchialkarzinome in frühen resektablen Stadien nachzuweisen. Dabei lag der Anteil im Stadium I (T1 – 2N0M0) bei 54 – 95 % beim Prävalenz-Screen. Abhängig von der Art und Weise, wie in den verschiedenen Studien die auffälligen Lungenrundherde weiter diagnostisch angegangen wurden (Größenkontrolle, Biopsie, Resektion), kam es zu einem Anteil an „unnötigen“ invasiven Maßnahmen wegen benigner Läsionen zwischen 9 und 60 %, im Mittel bei 34 % [20]. Diese Studien haben interessante Informationen zur Morphologie kleiner nichtkleinzelliger Lungenkarzinome erbracht. Diese stellen sich meist nicht als scharf begrenzte rundliche Läsionen, sondern häufiger als unscharf begrenzte, teilweise lobulierte oder auch länglich oder bizarr geformte, weichteildichte Läsionen dar. Die Dichte dieser Herde ist meist „weichteildicht“, teils aber auch partiell milchglasartig („part-solid nodules“). Bei diesen teilweise milchglasartigen Läsionen soll der Anteil maligner Herde deutlich höher sein als bei den komplett soliden Läsionen. Wenn sich bei den Verlaufskontrollen ein Wachstum nachweisen lässt, so liegt dieses meist in der Größenordnung einer Tumorverdoppelung zwischen 20 und 400 Tagen. Das Wachstum erfolgt dabei häufig exzentrisch. Der Nachweis von Wachstum bedeutet bei den weichteildichten Rundherden Malignitätsverdacht, sodass dann meist die histologische Klärung erforderlich ist. Beim Nachweis eines zunächst unklaren, nicht verkalkten peripheren Herdes wird entsprechend dem ELCAPProtokoll ein Vorgehen gewählt, das sich zunächst an der Größe der Herde orientiert. Herde unter 5 mm Durchmesser werden nach 3 und/oder 6, 12, 24 Monaten durch hochauflösendes CT kontrolliert, bei zunehmender Größe sollte die Biopsie bzw. Resektion erwogen werden. Herde zwischen 5 und 10 mm Durchmesser werden nach 3, 6, 12 und 24 Monaten kontrolliert und ebenfalls bei Wachstum ggf. biopsiert/reseziert. Bei Herden mit mehr als 10 mm Durchmesser soll primär die Biopsie aller Herde erwogen werden.
Die langfristigen Ergebnisse eines CT-Screening-Programmes sind nach wie vor umstritten. 2006 wurde eine Analyse der I-ELCAP-Studie veröffentlicht [21], die zu dem Ergebnis kam, dass CT-basierte Screening-Programme die Case-Fatality-Rate nach 10 Jahren, also die Wahrscheinlichkeit eines Patienten, am Lungenkarzinom zu sterben, um 88 % senken. Die I-ELCAP-Autoren hatten in den letzten Jahren mehr als 27 000 Menschen gescreent und nach der genannten Publikation vehement die Einführung flächendeckender Lungenkrebsfrüherkennungsprogramme gefordert. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Peter Bach et al. vom Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York kam nun zu einer völlig anderen Einschätzung [22]. Diese Studie beruht auf 3246 früheren oder aktiven Rauchern, die beschwerdefrei waren und seit 1988 an der Früherkennung teilnahmen. Die Studie wurde an zwei US-amerikanischen sowie einer italienischen Klinik durchgeführt. Anders als in der I-ELCAP-Studie haben Bach et al. nicht die Case-Fatality-Rate der einzelnen Patienten als Endpunkt gewählt, sondern die Sterblichkeit am Tumor. Dazu verglichen sie die Zahl der Lungenkrebstodesfälle unter den untersuchten Patienten mit der geschätzten Zahl der Todesfälle, zu denen es ohne Screening gekommen wäre. Von den gescreenten Patienten starben 38 am Lungenkrebs, ohne Screening wären 38,8 zu erwarten gewesen. Diese Berechnungen beruhen auf einem speziellen Modell, das die Autoren entwickelt haben, und an früheren Daten validierten. Entsprechend sahen die Autoren keinen Vorteil des Screening-Programmes. Diese Widersprüche lenken den Blick auf prinzipielle Probleme derartiger Lungenkarzinom-Screening-Programme. Denkbar ist z. B., dass viele kleine Tumoren, die mit dem Spiral-CT entdeckt werden, sich auch ohne Screening niemals zu einem klinisch auffälligen metastasierenden Bronchialkarzinom entwickelt hätten. Dieser sog. „Overdiagnosis Bias" würde z. B. die Diskrepanz zwischen der niedrigen Case-Fatality-Rate in der I-ELCAPStudie und der nicht verminderten Sterblichkeit in der Studie von Bach et al. erklären. Ein Screening würde dann zu einer „Überdiagnose" führen, was vor dem Hintergrund der Operationsmortalität möglicherweise für manche Patienten erhebliche Nachteile mit sich brächte. Vorstellbar ist auch ein sog. „Length Bias“. Er entsteht, weil jedes Screening-Programm prinzipiell das Risiko in sich birgt, bevorzugt langsam wachsende Tumoren zu entdecken, während schnell wachsende Tumoren im Intervall zwischen den Screening-Untersuchungen verpasst werden könnten. Schließlich könnte auch ein sog. „Lead Time Bias“ vorliegen. Er beschreibt eine nur scheinbar verlängerte Überlebenszeit bei Vorverlegung des Diagnosezeitpunkts verglichen mit Patienten, die erst nach klinischen Symptomen eine Diagnose gestellt bekommen. Die Diagnose wird also früher gestellt, und der Patient lebt nach Diagnosestellung länger, insgesamt besteht jedoch kein Gewinn an Lebenszeit durch Durchführung des Screenings.
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7
Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern
I
Die bis heute vorliegenden Studien zeigen bislang kein Ergebnis, das eine klare Empfehlung zu einem systematischen Lungenkarzinom-Screening erlaubt. Eine möglicherweise definitive Antwort wird von den Ergebnissen des US National Lung Screening Trial oder dem Europäischen NELSON-Trial erwartet. Bis dahin sollten v. a. die Ergebnisse aus der Studie von Peter Bach, die eine etwa 10-fache Zunahme von Lungenoperationen ohne Überlebensvorteil zeigte, sowie das mögliche Strahlenrisiko zur Zurückhaltung mahnen, bis vielleicht eines Tages andere Daten eine neue Orientierung erlauben.
II
7.4.3 7.4.2
III IV V VI VII
Neuere Untersuchungen konzentrieren sich auf den Nachweis von charakteristischen Mustern verschiedener löslicher organischer Verbindungen in der Ausatemluft von Patienten mit einem Lungenkarzinom. Neben der „elektronischen Nase“ kommen neuerdings auch relativ einfache und preiswerte kolorimetrische Verfahren zum Einsatz. Eine abschließende Beurteilung dieser Verfahren ist bislang nicht möglich, sie sind noch nicht für die Routineanwendung verfügbar.
Sputumzytologie
Vor allem vor dem Hintergrund der bislang nicht überzeugenden Ergebnisse der CT-Screening-Programme ist die Sputumdiagnostik zur Früherkennung des Lungenkarzinoms wieder mehr ins Interesse gerückt. Die oben erwähnten großen klassischen Screening-Studien hatten ergeben, dass bei geeigneter Technik etwa ¼ aller Lungenkarzinomfälle durch Sputumdiagnostik erkennbar waren. In 15 % der Fälle war dabei die Sputumdiagnostik das einzige positive Diagnoseverfahren. Die konventionelle sputumzytologische Diagnostik ist günstiger bei Plattenepithelkarzinomen, bei zentralen Raumforderungen bei Lokalisation der Tumoren in den Unterlappen sowie bei Läsionen über 2 cm. Bei Patienten mit auffälligen Sputumuntersuchungen entwickeln etwa 11 % derer mit mäßiger Dysplasie, 19 – 46 % derer mit schwerer Dysplasie und vermutlich noch mehr Patienten mit einem Carcinoma in situ ein Lungenkarzinom [23]. In einer neueren Studie mit bronchoskopischer Autofluoreszenzdiagnostik zeigte sich eine Progression der Carcinomata in situ in mehr als 50 % der Fälle [24]. Zurzeit werden weitere Verbesserungen der Sputumdiagnostik durch immunologische Färbetechniken, computerunterstützte zytometrische Bildanalyse und molekularbiologische Methoden versucht. So bietet z. B. die molekulare Analyse des Sputums auf Tumormarker (z. B. p53-Mutationen und andere) interessante Ansatzpunkte. Für die Beurteilung größerer Zahlen von Sputa sind automatisierte sputumzytometrische Verfahren notwendig, die z. B. auch nichtgenetische Veränderungen in normalen Zellen, die durch die Anwesenheit von malignen Zellen in der Nachbarschaft induziert werden (sog. malignitätsassoziierte Veränderungen). Entsprechend gibt es Überlegungen, die Sputumzytologie mittels automatisierter Sputumzytologie wieder an den Anfang der Screening-Untersuchungen zu stellen. Dies würde auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die CT offenbar schlecht geeignet ist, um endobronchiale Tumoren des zentralen Bronchialsystems nachzuweisen. Inwieweit derartige Studien letztlich zu Screening-Programmen führen werden, die dann tatsächlich dazu beitragen können, die Prognose der Probanden zu verbessern, ist im Augenblick schwer abzusehen.
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Bronchoskopische Diagnostik
Bei klinischem Verdacht oder verdächtigen Befunden in den nichtinvasiven Methoden ist eine bronchoskopische Diagnosesicherung erforderlich. Die klassische Weißlichtbronchoskopie ist zwar gut geeignet, manifeste endobronchiale Tumoren zu erkennen und so einer gezielten Biopsie zuzuführen, gelegentlich können jedoch diskrete Schleimhautveränderungen (Dysplasien, Carcinoma in situ, frühes endobronchiales Karzinom) übersehen werden. Hier hat die Entwicklung der Videochipendoskopie mit ihrer deutlich höheren Auflösung i.V. zur Weißlichtbronchoskopie sicher einen wesentlichen Fortschritt gebracht. Weitere Fortschritte können durch spezielle optische Verfahren wie v. a. die Autofluoreszenzbronchoskopie erwartet werden. Gerade die modernen Verfahren, die ohne pharmakologisch induzierte Fluoreszenz auskommen und damit den Aufwand bei der Bronchoskopie für Patient und Untersucher gegenüber einer klassischen Weißlichtbronchoskopie nicht mehr wesentlich erhöhen (Laserautofluoreszenz, Narrow-band imaging) sind vermutlich gut geeignet, z. B. bei Patienten mit positiven Befunden im Sputum-Screening auch diskrete Schleimhautbefunde zu lokalisieren, die möglicherweise der Weißlichtbronchoskopie entgehen. Eine ausführliche Übersicht hierzu findet sich bei Wagner u. Ficker 2007 [25].
7.4.4
Tumormarkerdiagnostik
Es ist bis heute nicht gelungen, einen nennenswerten Stellenwert der Tumormarkerdiagnostik in der Früherkennung des Lungenkarzinoms darzustellen. Schneider et al. [26] untersuchten z. B. ein Set verschiedener geläufiger Tumormarker bei 647 Patienten, von denen 200 an einem Lungenkarzinom erkrankt waren, mittels einer sog. Phasilogic-Analyse. Dabei lag die Sensitivität dieser Kombination von Tumormarkern für die Tumorstadien I und II zwischen 20 und 30 %, maximal bei 67 %. Mit Einsatz der Phasilogic-Analyse war die Sensitivität bei 75 %. Der positive prädiktive Wert lag bei 87 %, der negative prädiktive Wert bei 89 %. Überträgt man jedoch derartige Ergebnisse auf ein realistisches Screening-Kollektiv mit einer Punktprävalenz eines Lungenkarzinoms von sicher
Raucher-Check-Up
unter 2 %, so zeigt sich bei einer zugrunde gelegten Sensitivität von 75 % und einer Spezifität von 95 % ein positiver prädiktiver Wert nur noch bei 23 %, der negative prädiktive Wert liegt bei 99 %. Mit anderen Worten: in 77 % der „verdächtigen“ Fälle würde ein später unbegründeter Tumorverdacht ausgelöst werden, sodass dieses Verfahren zumindest für sich alleine genommen zum Screening großer Kollektive ungeeignet erscheint [26].
7.5
Raucher-Check-Up
Viele Raucher sind sich des Lungenkrebsrisikos durch das Rauchen durchaus bewusst und fragen ggf. aktiv nach Früherkennungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bislang Screening-Programme nicht sicher zeigen konnten, dass sie in der Lage sind, die individuelle Prognose des Betroffenen zu verbessern, gerät der beratende Arzt bei asymptomatischen Patienten in einen oftmals schwierigen Konflikt. Einerseits erwartet der besorgte Raucher eine möglichst rasche und einfache Diagnostik zur Beurteilung seines Lungenkarzinomrisikos und fordert ggf. nachdrücklich nach einer CT-Untersuchung. Andererseits kann die großzügige Indikationsstellung zur CT in dieser Situation zum Nachweis möglicherweise völlig irrelevanter Lungenrundherde führen, die dann durch Biopsie oder gar Resektion abgeklärt werden müssen. Gerade die Daten von Bach et al. [22], die eine immerhin auf das 10-fache erhöhte Operationsfrequenz ohne Verbesserung des Überlebens zeigten, sollten hier zur Zurückhaltung mahnen. Im Einzelfall wird es notwendig sein, den Patienten über diese Zusammenhänge sehr ausführlich zu beraten und erst nach einer solchen ausführlichen Beratung individuell zu entscheiden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine einmalige Computertomografie mit negativem Ergebnis sicher nicht als „Freibrief“ für weiteren Tabakkonsum missverstanden werden darf. Die Situation eines hinsichtlich seines Lungenkarzinomrisikos besorgten Rauchers sollte immer als Chance verstanden werden, den Betreffenden zum Rauchverzicht zu bewegen und auf diesem Weg ärztlich zu begleiten. So existieren heute wirksame Tabakrauchentwöhnungsstrategien, die neben verhaltenstherapeutischen und ggf. gruppendynamischen Maßnahmen auch eine wirksame pharmakologische Unterstützung beinhalten. Eine ausführliche Darstellung hierzu findet sich in Kap. 36. Thema dieses Beitrags ist die Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern, an anderer Stelle wird das kardiovaskuläre Risiko des Rauchers behandelt (s. Kap. 3). Dabei darf aber im Alltag nie außer Acht gelassen werden, dass der Raucher nicht nur ein erhöhtes Krebsrisiko sowie ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko trägt, sondern dass bei jedem Raucher darüber hinaus ein erhebliches Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko durch die Entwicklung einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) besteht.
Es besteht eine hohe Co-Prävalenz von COPD und Lungenkarzinom. Dabei scheint die COPD unabhängig von der gemeinsamen Ursache „Tabakrauch“ als unabhängiger Risikofaktor für das Lungenkarzinom zu wirken. Dabei besteht eine „Dosis-Wirkungs-Abhängigkeit", sodass mit zunehmender Einschränkung der Lungenfunktion (FEV1) auch das Risiko für ein Lungenkarzinom steigt, und deshalb manche Autoren in provokanter Weise von „two manifestations of the same disease“ sprechen [27]. Das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko durch die COPD wird nicht nur von Rauchern typischerweise unterschätzt („harmloser Raucherhusten“). Die WHO geht in ihren Berechnungen und Prognosen davon aus, dass die COPD bereits heute weltweit die vierthäufigste Todesursache darstellt und dass sie schon im Jahre 2020 die fünfthäufigste Todesursache weltweit sein wird [28]. Die Prävalenz der chronischen Bronchitis wird bei der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland auf mindestens 10 – 15 % geschätzt. Gemessen an der Summe aus den Jahren, die durch vorzeitigen Tod verloren gegangen sind, und aus den Jahren, die mit einer schweregradgewichteten Behinderung (DALY = disability adjusted life years) gelebt wurden, wird die COPD von Rang 12 auf Rang 5 der 15 weltweit häufigsten Erkrankungen vorrücken. Auch die COPD ist sehr eng mit dem Tabakrauchen als wesentlicher Risikofaktor assoziiert. Neben aktivem und passivem Tabakrauchen als Hauptursache der COPD spielen genetische Faktoren (z. B. Alpha-1-PI-Mangel), kindliche Störungen der Lungenreifung und berufliche bzw. Umweltstaubbelastungen eine deutlich geringere Rolle. Ziel präventiver Maßnahmen bezüglich der COPD ist die Verhinderung einer weiteren Schädigung der Lunge durch die Beseitigung von Risikofaktoren, d. h. v. a. durch Hilfe zur strikten Tabakrauchkarenz. Die Prognose bezüglich Morbidität und Mortalität der COPD kann durch strikte Tabakrauchkarenz deutlich verbessert werden. Ziel der Beratung muss dabei die komplette Tabakrauchkarenz sein, denn eine „Dosisreduktion", also eine Reduktion der pro Tag/Woche gerauchten Zigaretten zeigt vergleichweise geringe Morbiditäts- und Mortalitätsvorteile. Die entscheidende Maßnahme durch Frühdiagnose einer COPD ist der Nachweis einer obstruktiven Ventilationsstörung, der in der Regel durch eine einfache Spirometrie gut gelingt. Verschiedene Studien zeigen, dass verdachtsunabhängige spirometrische Lungenfunktionsanalysen bei Rauchern in einem hohen Prozentsatz obstruktive Ventilationsstörungen aufdecken, auch bei Individuen, die sich selbst einer Einschränkung der Lungenfunktion nicht oder kaum bewusst waren [29]. Zu einem „Raucher-Check-Up" muss daher immer auch eine Spirometrie gehören. Neben den medikamentösen Therapiemöglichkeiten, die sich ggf. aus einer Frühdiagnose der COPD ergeben, bietet der individuelle Nachweis einer obstruktiven Ventilationsstörung eine hervorragende Basis für eine erfolgreiche Tabakrauchentwöhnung. So konnte immer wieder gezeigt werden, dass dem Rat zur
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Lungenkrebsvorsorge bei Rauchern
I
II III IV V VI VII
Tabakrauchkarenz öfter und nachhaltiger gefolgt wird, wenn er auf der Basis bereits individuell nachgewiesener schädlicher Gesundheitseffekte erfolgt [30]. Entscheidend ist bei allen Bemühungen um eine Frühdiagnostik des Lungenkarzinoms, dass bei Rauchern mit ggf. auch nur diskreten neu auftretenden respiratorischen Symptomen immer die Möglichkeit eines Lungenkarzinoms erwogen wird. Die Tab. 7.1 (S. 77) zeigt eine Auflistung typischer Erstmanifestationen des Lungenkarzinoms. Nur der „neu auftretende, anhaltende oder zunehmende Husten“ und der „blutige Auswurf“ sind mögliche Frühsymptome. Alle übrigen Erstmanifestationen sind meist bereits Ausdruck einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung. Entsprechend muss jede anders nicht erklärbare Änderung des Hustencharakters beim Raucher zum Anlass genommen werden, ein Lungenkarzinom durch konsequente Diagnostik auszuschließen. Hierzu gehört in der Regel die Kombination aus CT und Bronchoskopie, ggf. auch Sputumdiagnostik. Die alleinige CT ist nicht in der Lage, kleine zentrale Lungenkarzinome mit hinreichender Sicherheit darzustellen. Die Bronchoskopie kann andererseits die Lungenperipherie nicht komplett erreichen. Entsprechend sind CT und Bronchoskopie komplementäre Verfahren, die sich in der Diagnostik des Lungenkarzinoms ergänzen. Gerade in der Selbstbeurteilung und in der ärztlichen Beratung des oligosymptomatischen Rauchers aber liegt das eigentliche Dilemma in der Früherkennung von Lungenkarzinomrisiko. Das häufigste Frühsymptom eines Lungenkarzinoms „Änderung des Hustencharakters“ ist äußerst unspezifisch und für die Betroffenen wenig eindrucksvoll. Umso schwerer fällt es oftmals auch dem betreuenden Arzt in dieser Situation, die notwendige Diagnostik aus CT und Bronchoskopie durchzusetzen. Letztlich kann aber nur eine konsequente Haltung in dieser Situation zu einer echten Verbesserung der Früherkennung beitragen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es sich in dieser Situation nicht um eine möglicherweise wissenschaftlich umstrittene Screening-Maßnahme handelt, sondern um eine diagnostische notwendige Maßnahme bei einem symptomatischen Patienten, die entsprechend klar indiziert ist. Die Erfahrungen im Alltag und verschiedene Studien weisen jedoch darauf hin, dass diese Chance zur „verdachtsabhängigen Frühdiagnostik“ oftmals nicht wahrgenommen wird und so liegen die Zeitintervalle zwischen dem Auftreten erster Symptome und der Diagnose eines Lungenkarzinoms oftmals im Bereich vieler Monate [31]. Es erfordert zweifelsohne vom betreuenden Arzt einiges an Sensibilität einerseits sowie professioneller Konsequenz andererseits, um bei einem Raucher z. B. eine „Änderung des Hustencharakters“ wahr- und als mögliches Frühsymptom eines Lungenkarzinoms entsprechend ernst zu nehmen und dann auch die notwendige Diagnostik zu veranlassen. Eine derartig konsequente Haltung ist jedoch vermutlich wirksamer als alle bislang bekannten „verdachtsunabhängigen“ Screening-Programme [31].
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Kasuistik Der 58-jährige Herr Müller macht sich Sorgen, nachdem er selbst Raucher ist und sein Arbeitskollege kürzlich an einem Lungenkarzinom verstorben ist. Er fragt nach Möglichkeiten zur Frühdiagnostik und zur Vorbeugung eines Lungenkarzinoms. Herr Müller hat im 18. Lebensjahr begonnen, regelmäßig Zigaretten zu rauchen, während der meisten Zeit hat er etwa „1 Schachtel“ Zigaretten pro Tag geraucht, in den letzten 10 Jahren etwa 1,5 Schachteln Zigaretten pro Tag. Er hat seit vielen Jahren morgendlich betonten Husten und Auswurf, die Hustencharakteristik hat sich in den letzten Wochen und Monaten weder quantitativ noch qualitativ verändert. Die körperliche Belastbarkeit hat in den letzten Jahren etwas abgenommen, z. B. beim Treppensteigen oder beim Fußballspielen gerät er schneller „außer Atem“ als früher. Bei der körperlichen Untersuchung fällt Tabakrauchgeruch auf, die Finger der rechten Hand sind gelblich verfärbt. Die Zwerchfelle stehen beidseits etwas tief, der Klopfschall ist leicht hypersonor, das Atemgeräusch beidseits ist etwas leiser als erwartet. In der Spirometrie zeigt sich die Vitalkapazität (VC) auf 72 % der Norm, die FEV1 auf 61 % der Norm reduziert. Die Flussvolumenkurve zeigt eine deutliche „flussabhängige Obstruktion“. Beurteilung: ● Herr Müller hat als langjähriger Raucher mit einer Dosis von 45 Pack Years ein hohes Risiko für tabakrauchinduzierte Erkrankungen. ● Es besteht die typische klinische Symptomatik einer COPD nach langjährigem Zigarettenrauchen (morgendlich betonter Husten, Auswurf, Belastungsdyspnoe, Lungenfunktionseinschränkung). Wenn die weitere Diagnostik keine andere Lungenerkrankung ergibt, wird die Diagnose einer COPD im GOLD-Stadium II gestellt. ● Es besteht kein positiver klinischer Hinweis auf ein Lungenkarzinom, „Screening-Untersuchungen“ wie z. B. CT-Thorax sind bei asymptomatischen Rauchern nicht indiziert. ● Herr Müller wird über die Zusammenhänge zwischen Rauchen, COPD und Lungenkarzinom hingewiesen. Es wird ihm explizit geraten, das Rauchen aufzugeben. Dabei werden ihm qualifizierte Hilfen angeboten (s. Kap. 36).
?
Häufige Patientenfragen
Was ist ein „Pack Year“? Um die Menge der bislang gerauchten Zigaretten grob abschätzen zu können, wird die Zahl der Jahre, die ein Raucher geraucht hat, mit der Zahl der „Schachteln pro Tag“ multipliziert. Beispiel: Ein Raucher hat zunächst 10 Jahre lang etwa eine halbe Schachtel pro Tag geraucht,
●
Raucher-Check-Up
karzinom vorliegt. Über die Zukunft ist damit keine Aussage möglich. Ein normales CT ist also kein Freibrief, weiter zu rauchen, sondern vielmehr die Chance, noch „rechtzeitig“ aufzuhören!
dann 20 Jahre lang eine Schachtel pro Tag, die Gesamtdosis beträgt damit 5 + 20= 25 Pack Years.
Mein Großvater hat jahrzehntelang heftig geraucht und wurde über 80 Jahre alt, ohne an einem Lungenkrebs oder einer COPD zu erkranken. Warum sollte ich mit dem Rauchen aufhören? ● Über das Risiko, als Raucher eine COPD zu entwickeln, entscheidet vor allem die genetische Ausstattung. Entsprechend entwickeln nur 10 – 15 % der regelmäßigen Raucher eine COPD. Diese genetisch bestimmte Empfindlichkeit ist nicht nach einem klassischen Mendelʼschen Erbgang vererblich und somit nicht individuell vorherzusagen. Ob ein Raucher diese genetische Empfindlichkeit hat, weiß er erst mit Sicherheit, wenn die Lungenfunktion bereits messbar einschränkt ist. Die bis dahin aufgetretenen Schäden sind jedoch nicht mehr komplett rückbildungsfähig, wenn er dann erst das Rauchen aufgibt. Ähnlich ist es beim Lungenkarzinom: Das Risiko des Rauchers ist abhängig von der gerauchten Dosis erhöht, ob bzw. wann ein einzelner Raucher erkrankt, ist nicht individuell vorherzusagen („stochastisches Risiko“). Mit dem Lungenkarzinomrisiko und dem Rauchen verhält es sich wie z. B. mit der Risikoreduktion durch den Sicherheitsgurt beim Autofahren: Durch regelmäßiges Anlegen des Sicherheitsgurtes kann das Verletzungs- und Todesrisiko von Autofahrern statistisch deutlich gesenkt werden. Wer im Einzelfall aber ganz persönlich davon profitiert, ist nicht vorherzusehen. Prinzipiell kann man auch ohne Sicherheitsgurt viele 100 000 Kilometer im Auto fahren, ohne Verletzungen davonzutragen. Vernünftig ist dies aber nicht. Wenn ich Blut im Auswurf bemerke, ist dann nicht schon alles zu spät? ● Auch sehr kleine Lungenkarzinome können blutigen Auswurf verursachen, in diesem Fall kann z. B. durch eine Operation der Betreffende geheilt werden. Auch in fortgeschrittenen Stadien gilt, dass selbst dann, wenn keine definitive Heilung mehr erzielt werden kann, in der Regel durch eine frühe Diagnose eine wirksame symptomatische Therapie mit einer Verbesserung der Lebensqualität erzielt werden kann. Ich habe vor drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, kann ich noch ein Lungenkarzinom bekommen? ● Glückwunsch, dass Sie es geschafft haben, drei Jahre rauchfrei zu bleiben! Ihr Risiko, an einem Lungenkarzinom zu erkranken, ist bereits deutlich gesunken und wird in den nächsten Jahren weiter sinken. Je nachdem, wie viel und wie lange Sie zuvor geraucht haben, kann es jedoch 10 und mehr Jahre dauern, bis das Lungenkarzinomrisiko wieder „normal“ ist. Ich habe ein CT der Lunge durchführen lassen, dieses war normal. Darf ich jetzt unbesorgt weiter rauchen? ● Das CT stellt eine Momentaufnahme dar, die uns „nur“ sagt, dass zurzeit kein durch ein CT erkennbares Lungen-
Ich lebe seit 20 Jahren mit meinem Mann in derselben Wohnung. Er raucht täglich ca. 20 Zigaretten, auch in der Wohnung. Unsere Kinder sind 12 und 8 Jahre alt. Mein Mann ist sich seines erhöhten Krebsrisikos bewusst, möchte aber dennoch nicht aufhören. Ist das Risiko für mich und meine Kinder ebenfalls erhöht? ● Auch Passivrauchen erhöht das Risiko, an einem Lungenkrebs zu erkranken, signifikant. Dies gilt insbesondere dann, wenn man bereits im Kindesalter dem Passivrauchen ausgesetzt ist und wenn dies auf sehr engem Raum passiert (z. B. in der Wohnung, im Auto). Ihr Mann sollte dringend nicht nur in seinem Sinne, sondern auch zu Ihrem und dem Wohl Ihrer Kinder mit dem Rauchen aufhören. Zumindest das Rauchen in der Wohnung ist indiskutabel! Ich habe die meiste Zeit „Light-Zigaretten“ geraucht. Habe ich damit nicht auch ein geringeres Karzinomrisiko? ● Die Bezeichnung „leicht“ oder „light“ ist inzwischen bei Zigaretten verboten, denn sie war irreführend. „Leicht“ bezieht sich in erster Linie auf die Menge Nikotin und Teer im Zigarettenrauch, ein geringeres Karzinomrisiko ist damit nicht verbunden. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die in den letzten Jahren v. a. bei Frauen vermehrt auftretenden Adenokarzinome mit ihrem oftmals sehr bösartigen Verlauf mit dem Rauchen von „Light-Zigaretten“ zusammenhängen.
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Epidemiologie des kolorektalen Karzinoms
8
Darmkrebsvorsorge J. Wessling, D. Domagk
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Das Wichtigste in Kürze Das kolorektale Karzinom ist die zweithäufigste Todesursache unter den Krebserkrankungen in Deutschland mit einem mittleren Erkrankungsrisiko in Deutschland von aktuell etwa 6 %. Etwa 70 – 90 % der kolorektalen Karzinome entstehen aus gutartigen, adenomatösen Polypen, ca. 10 % auf dem Boden einer genetischen, prädisponierenden Erkrankung. Individuelle Risikofaktoren wie hochkalorische und fleischreiche Kost, Alkoholkonsum und Rauchen tragen zur Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms bei. Insbesondere fortgeschrittene Adenome („advanced adenoma“) gelten als Risikoläsionen. Deren Kennzeichen sind neben einer Größe > 1 cm entweder ein hoher Anteil villös wachsenden Gewebes oder Areale mit hochgradigen Dysplasien. Der Anteil dieser Läsionen in der Normalbevölkerung liegt etwa bei 3 – 6 %. Die Entstehung eines Karzinoms über die AdenomKarzinom-Sequenz dauert in der Regel 10 – 15 Jahre. Die Abtragung singulärer Adenome innerhalb dieses breiten Zeitfensters reduziert das Risiko der Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms um bis zu 90 %. Die Vorsorge in Deutschland fußt gemäß evidenzbasierter Leitlinien der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) auf folgenden Verfahren: FOBT (fäkaler okkulter Bluttest), Sigmoidoskopie sowie Koloskopie. Die CTKolonografie befinden sich derzeit noch in der wissenschaftlichen Evaluierung. Die Darmkrebsfrüherkennung sollte ab dem Alter von 50 Jahren bei Patienten mit durchschnittlichem Risiko durchgeführt werden. Individuelle Maßnahmen der Prävention umfassen eine obst- und gemüsereiche Kost sowie Bevorzugung von Vollkornprodukten als auch Fisch und Geflügel. Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum sowie rotes Fleisch sollen vermieden werden. Zur medikamentösen Prävention existieren für die asymptomatische Bevölkerung keine validen Daten.
8.1
Definition des kolorektalen Karzinoms
Beim kolorektalen Karzinom (KRK) handelt es sich um einen bösartigen Tumor des Dick- oder Enddarms. Unter den malignen Erkrankungen nimmt das KRK eine besondere Rolle ein. So entstehen etwa 70 – 90 % der KRK nach
der Adenom-Karzinom-Sequenz-Theorie aus gutartigen, adenomatösen Vorstufen. Durch die konsequente Umsetzung der empfohlenen Frühvorsorgemaßnahmen kann bei Patienten eine effektive Prävention erfolgen, da durch endoskopische Detektion und anschließende Abtragung von zunächst gutartigen Adenomen die Entwicklung eines Karzinomstadiums verhindert werden kann. Als Rektumkarzinome werden bösartige Tumoren bezeichnet, deren proximaler Rand max. 16 cm von der Anokutanlinie entfernt ist. Aufgrund der besonderen Charakteristika der Rektumkarzinome hinsichtlich ihres invasiven Wachstumsmusters (Ausbreitung ins Mesorektum) und ihrer engen topografischen Beziehung zu den Nachbarorganen des kleinen Beckens, ergeben sich hinsichtlich der Diagnostik und Therapie Unterschiede im Vergleich zu den im Kolon lokalisierten Neoplasien.
8.2
Epidemiologie des kolorektalen Karzinoms
Die Bedeutung des kolorektalen Karzinoms ist unverändert hoch. In der Bundesrepublik erkranken gegenwärtig ca. 57 000 Patienten jährlich an einem kolorektalen Karzinom, 29 000 versterben an den Folgen der Erkrankung. Damit ist das kolorektale Karzinom unabhängig vom Geschlecht die zweithäufigste Todesursache unter den Krebserkrankungen in Deutschland [1] mit einem mittleren Erkrankungsrisiko in Deutschland von aktuell etwa 6 %. Die Erkrankung tritt bei Männern geringfügig häufiger auf als bei Frauen. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 5. und 7. Lebensjahrzehnt. Dabei verdoppeln sich Inzidenz und Mortalität ab dem 50. Lebensjahr mit jeder Lebensdekade. Die Inzidenz des Kolonkarzinoms steigt seit 30 Jahren kontinuierlich an, während das Rektumkarzinom eine gleichbleibende Inzidenz aufweist. Offenbar erhöht sich das Erkrankungsrisiko mit dem Entwicklungsgrad der Länder. So werden in Nordamerika, Australien und Europa mit bis zu 44 neuen Fällen pro 100 000 Einwohner die höchsten Inzidenzraten weltweit verzeichnet, während das KRK auf dem indischen Subkontinent und in Afrika mit jährlich 3 – 6 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner deutlich seltener ist. Ferner steigt das Erkrankungsrisiko bei Immigranten auf das Niveau der Einwanderungsländer, sodass Umweltfaktoren eine wichtige Rolle in der Karzinogenese zugesprochen wird.
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8
Darmkrebsvorsorge
8.3
I
II III IV V VI VII
Pathophysiologie: AdenomKarzinom-Sequenz, De-novoEntstehung, genetische Prädisposition
Als Paradigma der Entwicklung epithelialer Tumoren gilt die sog. Adenom-Karzinom-Sequenz. So ist bekannt, dass sich bis zu 90 % aller KRK auf dem Boden zunächst benigner adenomatöser Polypen entwickeln. Hierbei kommt es in der Entwicklung von Adenomen mit geringen bis mittelgradigen Atypien über hochgradige zelluläre und strukturelle Atypien bis hin zum invasiven Karzinom zu einer Reihe genetischer Veränderungen (sporadische Karzinogenese), die zu einer Aktivierung von Onkogenen und Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen führen. Der vollausgeprägte karzinomatöse Phänotyp erfordert demnach die Mutation von wenigstens vier von fünf Genen (u. a. p53, k-ras Onkogen, dcc-, mcc-, apc-Gen). Die beschriebenen Mutationen treten dabei keineswegs in immer gleicher Reihenfolge auf, noch stellt eine Mutation alleine eine „Conditio sine qua non“ in sporadischen Kolonadenomen dar. Im Rahmen des 2002 in der Bundesrepublik Deutschland eingeführten freiwilligen Koloskopie-Screenings für alle Individuen ab dem 55. Lebensjahr wurden bei insgesamt 28,3 % aller Teilnehmer (insgesamt 300 000) im Jahr 2003 Polypen jeder Größe und Histologie diagnostiziert [2]. Der Anteil von Individuen mit multiplen Läsionen (> 1) liegt altersabhängig bei etwa 41 – 48 %. Ab wann und bei welcher Polypengröße die Adenom-KarzinomSequenz ihre Dynamik entfaltet, ist unbekannt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Karzinom in einem Adenom entwickelt nimmt aber grundsätzlich mit der Größe des Adenoms zu. So liegt die Karzinomwahrscheinlichkeit bei Adenomen < 1 cm generell bei deutlich weniger als 10 %. Adenome mit einer Größe von über 2 cm zeigen jedoch bereits in über 30 % (tubuläre Adenome) bzw. in 50 % (villöse Adenome) einen Übergang in ein invasives Karzinom. Die Polypengröße wird aus diesem Grunde als Hauptkriterium zur Risikoabschätzung favorisiert. Etabliert ist die Differenzierung von kleinen Polypen (< 6 mm), intermediären Polypen (6 – 9 mm) und großen Polypen (≥ 10 mm). Der Anteil kleiner Polypen (hyperplastische und adenomatöse Polypen) liegt in den meisten Studien in einem relativ engen Intervall zwischen 75 und 80 %. Je nach Studie sind etwa 29 – 58 % dieser Polypen hyperplastischer Natur ohne malignes Entartungspotenzial. Kleine Adenome zeigen in ca. 1,5 bis 2 % der Fälle fortgeschrittene Atypien und entwickeln in weniger als 0,05 % der Fälle Karzinome, die durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit bemisst sich zu 0,4 mm über 2 Jahre. Damit ist das Risikopotenzial dieser kleinen Läsionen als sehr gering einzuschätzen. Kennzeichen eines fortgeschrittenen, d. h. an der Schwelle zur Entartung stehenden Ade-
88
noms sind neben einer Größe > 1 cm entweder ein hoher Anteil villös wachsenden Gewebes oder Areale mit „Highgrade“-Dysplasien. Der Anteil dieser fortgeschrittenen Adenome („advanced adenoma“) liegt etwa bei 3 – 6 %. Alle Maßnahmen zur Früherkennung müssen ad minimum in der Lage sein, diese „Risikoläsion“ sicher zu erkennen. Rein morphologisch betrachtet können kolorektale Karzinome nicht nur aus polypoiden, sondern auch aus eingesunkenen und ulzerierenden Läsionen oder aber auch aus flachen Prozessen entstehen, die auf dem Schleimhautniveau der übrigen, gesunden Darmwand wachsen. In den letzten Jahren hat man zunehmend die Bedeutung von flachen Adenomen erkannt [3]. Flache kolorektale Adenome wurden erstmals 1985 beschrieben und wurden lange Zeit als asiatisches Phänomen gewertet. Doch scheinen die flachen und eingesunkenen Läsionen in ihrer Häufigkeit auch in den westlichen Industrieländern zuzunehmen, möglicherweise wurden sie in früheren Jahren aufgrund schwieriger Darstellbarkeit u. a. bedingt durch eine ältere Endoskopietechnologie auch einfach endoskopisch nicht nachgewiesen. Inzwischen haben mehrere prospektive Studien das Vorkommen von flachen und eingesunkenen Neoplasien auch in Europa bewiesen, wobei diese Läsionen (ab einem Durchmesser von größer 10 mm) etwa zweimal so häufig die gefährlichen höhergradigen intraepithelialen Neoplasien oder Frühkarzinome enthalten als gleich große Prozesse polypoider Morphologie. Das Verteilungsmuster der Adenome und Karzinome ist häufig nicht deckungsgleich. Insbesondere in flachen Läsionen lässt sich häufig kein Adenomanteil nachweisen. Diese Beobachtungen führten zur Hypothese, dass KRK möglicherweise auch de novo aus flacher Kolonschleimhaut entstehen können. Über die Häufigkeit derartig entstandener Karzinome existieren in der Literatur bislang allerdings keine verlässlichen Daten. Etwa 10 % der kolorektalen Karzinome entstehen auf dem Boden einer genetischen, prädisponierenden Erkrankung, d. h. einer Keimbahnmutation, die das Genom in allen Zellen betrifft. Diese Formen sind abzugrenzen von der sporadischen Karzinogenese im Sinne der Adenom-Karzinom-Sequenz, die letztlich Folge einer klonalen Expansion einer lokal maligne gewordenen Schleimhautzelle ist. Bei den erblich bedingten KRK bestehen zumeist Defekte in Genen, die z. B. für DNA-ReparaturProteine kodieren und zu einer sog. Mikrosatelliten-Instabilität (MSI) führen.
8.4
Bedeutung der Frühvorsorge
Die Entstehung eines Karzinoms über die sog. AdenomKarzinom-Sequenz dauert in der Regel 10 – 15 Jahre. Die Abtragung kleiner, singulärer Adenome innerhalb dieses breiten Zeitfensters führt im Vergleich zur Normalbevöl-
Risikofaktoren und Risikostratifizierung
Tabelle 8.1 Stadieneinteilung des kolorektalen Karzinoms nach UICC/Dukes. UICC-Stadium
Dukes-Stadium
Befall von
TNM
I
Dukes A
● ●
Submukosa Muscularis propria
● ●
T1 T2
II
Dukes B
● ●
Subserosa oder perikolischem/perirektalem Gewebe anderen Organen per continuitatem oder Perforation des viszeralen Peritoneums
● ●
T3 T4
III
Dukes C
●
1 – 3 perikolischen/perirektalen Lymphknoten (von mindestens 12 LK) ● mehr als 3 perikolischen/perirektalen Lymphknoten (von mindestens 12 LK)
● ●
N1 N2
IV
Dukes D
Fernmetastasen
M1
kerung zu einem um bis zu 90 % verminderten Risiko, ein metachrones KRK zu entwickeln. Dies reflektiert den Vorsorgewert der Koloskopie im Rahmen der Adenom-Karzinom-Sequenz. Jedoch nutzt derzeit allerdings nur jede vierte Frau und jeder sechste Mann über 50 Jahre die jährliche, kostenlose Vorsorgeuntersuchung. Dies bedeutet, dass in Deutschland weniger als 10 % aller kolorektalen Karzinome im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung diagnostiziert werden. Für das bereits manifeste kolorektale Karzinom gilt, dass dessen Heilungsrate entscheidend von dem Stadium (Einteilung nach UICC = Union Internationale contre le cancer, bzw. nach Dukes) abhängt, in dem die Erkrankung diagnostiziert und therapiert wird (Tab. 8.1). So beträgt die relative 5-Jahres-Überlebensrate bei einem lokalisierten kolorektalen Karzinom im Stadium I/Dukes A ca. 90 %, im Stadium II/Dukes B noch ca. 50 – 60 %, im Stadium III/Dukes C hingegen lediglich ca. 25 – 35 % und im metastasierten Stadium IV/Dukes D nur noch ca. 6 %. Gegenwärtig werden allerdings kolorektale Tumoren zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, in dem nur 35 % der Patienten überhaupt heilbar sind. Von großer Bedeutung ist ferner die Identifikation von Risikogruppen, bei denen bereits eine frühzeitigere Durchführung von Screening-Maßnahmen erforderlich ist. So wirft insbesondere eine KRK-Diagnose vor dem 40. Lebensjahr die Frage nach genetischer Prädisposition auf.
Kost u. a. eine schnellere Darmpassage und damit verbundene kürzere Einwirkungszeit karzinogener Substanzen auf die Darmschleimhaut mitverantwortlich gemacht. Folgende Risikofaktoren bzw. Konstellationen bedürfen der gesonderten Erwähnung (Tab. 8.2): ● Verwandte von Patienten mit kolorektalen Karzinomen: Für Verwandte ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) ist das mittlere Risiko 2- bis 3-fach erhöht. Eine weitere, 3- bis 4-fache Risikosteigerung besteht, wenn bei dem Indexpatienten das KRK vor dem 60. Lebensjahr aufgetreten ist und/oder mehr als ein Verwandter ersten Grades von einem KRK betroffen ist. Verwandte zweiten Grades (Großeltern, Geschwister der Eltern, Enkel) von Patienten mit KRK haben ein leicht erhöhtes Karzinomrisiko. Die Datenlage hierzu ist derzeit allerdings unzureichend. ● Koloskopisch nachgewiesene Polypen mit histologisch gesichertem Adenomanteil stellen generell ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms dar (Evidenz 2b, [LL 1], [4, 5]). Die Abtragung
Tabelle 8.2 Risikostratifizierung für das kolorektale Karzinom. Durchschnittliches Risiko Alter über 50 Jahre leere Eigen- und Familienanamnese (kein Verwandter 1. oder 2. Grades mit KRK) oder keine Polypen/Adenome bzw. chronisch entzündliche Darmerkrankungen
● ●
Erhöhtes Risiko persönliche Anamnese positiv für: KRK, Adenome und chronisch entzündliche Darmerkrankungen sowie Endometrium- und Ovarialkarzinom mit einem Manifestationsalter unter 60 Jahren ● Familienanamnese positiv für: – einen Verwandten 1. Grades mit KRK oder – zwei Verwandte 2. Grades mit KRK, die untereinander verwandt sind ●
8.5
Risikofaktoren und Risikostratifizierung
8.5.1
Sporadische Faktoren
Als individuelle Risikofaktoren für die Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms gelten hochkalorische und fleischreiche Kost, Alkoholkonsum und Rauchen. Die Wirkmechanismen, über die sich diese Risikofaktoren realisieren, sind weitgehend unbekannt bzw. hypothetisch. So wird für den positiven Effekt gemüsereicher
Hohes Risiko (genetische Prädisposition) persönliche Anamnese positiv für: KRK unter 50 Jahren, HNPCC oder Polyposis-Syndrome ● Familienanamnese positiv für: mehrfache KRK oder HNPCC bei Verwandten 1. und 2. Grades ●
89
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Darmkrebsvorsorge
I
II III IV V VI VII
auch kleiner und singulärer Adenome vermindert gegenüber der Normalbevölkerung das Risiko, ein metachrones kolorektales Adenom zu entwickeln, um bis zu 90 %. Adenome größer als 1 cm sind mit einem etwa 4fach erhöhten Karzinomrisiko assoziiert. Auch bei multiplen Adenomen ist das Risiko, ein metachrones Karzinom zu entwickeln, deutlich (4- bis 6-fach) gesteigert. Hierbei dürfte das erhöhte Risiko einerseits auf einer stärkeren individuellen Disposition, andererseits auf einer höheren Prävalenz übersehener Polypen bei der initialen Koloskopie beruhen: Beim koloskopischen Nachweis von mind. 3 Polypen besteht eine signifikant größere Wahrscheinlichkeit, dass weitere Polypen übersehen wurden. Bei Polypen im Rahmen einer hyperplastischen Polypose konnte nach Ergebnissen neuerer molekulargenetischer Untersuchungen ein erhöhtes Entartungspotenzial nachgewiesen werden. Ob hyperplastische Polypen generell als präkanzeröse Läsionen angesehen werden können, wird derzeit allerdings noch kontrovers diskutiert.
8.5.2
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Patienten mit Colitis ulcerosa weisen ein erhöhtes Risiko für ein kolorektales Karzinom auf. Das Risiko ist abhängig von Ausdehnung, Manifestationsalter und Dauer der Erkrankung sowie dem Vorhandensein einer primär sklerosierenden Cholangitis (Evidenzstärke: 2a, [LL 1]). So betrug nach Ergebnissen einer Metaanalyse das kumulative Karzinomrisiko bei Pankolitis 2 % nach 10 Jahren, 9 % nach 20 Jahren und 18 % nach 30 Jahren. Beim Morbus Crohn ist ebenfalls von einem erhöhten kolorektalen Karzinomrisiko auszugehen, dieses ist jedoch im Vergleich zur Colitis ulcerosa noch unzureichend charakterisiert, möglicherweise aber geringer (Evidenzstärke: 2a, [LL 1]). So schwanken die Angaben zum KRKRisiko zwischen keinem und einem 3,5- bis 7-fach erhöhten Karzinomrisiko. Ferner besteht beim M. Crohn ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung eines Dünndarmkarzinoms. Ein erhöhtes KRK-Risiko auf dem Boden anderer entzündlicher Dickdarmerkrankungen ist nicht belegt.
Hereditäre Faktoren
Erkrankungen mit genetisch bedingt erhöhtem Kolonkarzinomrisiko lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen, nämlich solche mit Polypen (sog. Polyposis-Syndrome, z. B. familiär adenomatöse Polyposis einschließlich ihrer attenuierten Verlaufsform, Peutz-Jeghers-Syndrom, die juvenile Polyposis coli und das Cowden-Syndrom), und solche ohne Polypen, das sog. „Hereditary-nonpolyposis-colorectal-carcinoma“-Syndrom (HNPCC, LynchSyndrom). Letzteres macht nach neueren Untersuchungen etwa 2 – 3 % aller KRK aus. Die Diagnose hat erhebliche Konsequenzen für die Patienten und ihre Verwandten. Neben einem erhöhten KRK-Risiko haben alle Patienten und Risikopersonen dieser Gruppe ein zusätzlich erhöhtes Risiko an extrakolischen Neoplasien (insb. Endometrium, Ovar, Magen und ableitende Harnwege betreffend) zu erkranken. Aufgrund des autosomal-dominanten Erbganges haben erstgradig Verwandte von Betroffenen ein 50 %iges Risiko, diese genetische Disposition ebenfalls geerbt zu haben. Eine molekulargenetische Diagnostik bei erkrankten Patienten dient der Diagnosesicherung und ermöglicht die prädiktive Testung von Familienangehörigen. Letztere muss den Richtlinien entsprechend [LL 1, LL 2] an eine genetische Beratung gebunden sein und kann nur erfolgen, wenn eine zweifelsfrei pathogene Keimbahnmutation bei einem erkrankten Familienmitglied nachgewiesen wurde.
90
8.5.3
8.6
Maßnahmen zur kolorektalen Karzinomfrüherkennung
8.6.1
Fäkale okkulte Bluttestung (FOBT)
Grundlage für die Stuhltestung auf okkultes Blut (Hämoccult-Test, FOBT, Guajac-Verfahren, nicht rehydriert) ist die Tatsache, dass KRK häufiger bluten als die normale Darmmukosa. Da viele Karzinome intermittierend bluten, führt die wiederholte Testung zu einer zuverlässigeren Erkennung von KRK (Testung an drei aufeinanderfolgenden Tagen obligat). Zur Effektivität des FOBT als Screening-Methode für ein KRK liegen die Ergebnisse von drei großen randomisierten Studien vor. In ihnen konnte eine Senkung der KRK-bedingten Mortalität von 15 – 33 % gezeigt werden. Eine Metaanalyse der Studien ergab eine durchschnittliche Senkung der KRK-Mortalität um 23 %. Diese Mortalitätssenkung bestätigte sich auch nach längerem Follow-Up der Studien. Der Effekt des FOBT beruht auf einer Diagnose kolorektaler Karzinome in einem früheren prognosegünstigeren Stadium. Vorteile des FOBT sind die leichte Durchführbarkeit sowie die geringen Kosten. Nachteilig ist eine mäßige Sensitivität für Adenome und Karzinome, da diese nur intermittierend bluten (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 1a, starker Konsens, [LL 1, LL 4]).
Maßnahmen zur kolorektalen Karzinomfrüherkennung
Leitlinienbox LL1. Schmiegel W, Pox C, Reinacker-Schick A et al. S3Leitlinie „Kolorektales Karzinom“. Ergebnisse evidenzbasierter Konsensuskonferenzen am 6./7. Februar 2004 und am 8./9. Juni 2007. Z Gastroenterol 2008;46: 1 – 73, oder Internet: http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF LL2. Vasen HF, Moslein G, Alonso A et al. Guidelines for the clinical management of Lynch syndrome (hereditary non-polyposis cancer). J Med Genet. 2007;44: 353 – 62.
8.6.2
Immunologische Tests
Immunologische Tests auf Hämoglobin oder Hämoglobin/ Haptoglobin im Stuhl besitzen eine höhere Sensitivität als der Haemoccult-Test. Die Datenlage zur Spezifität ist hingegen uneinheitlich. Immunologische Stuhltests auf Albumin oder Calprotectin sind für das Screening derzeit nicht geeignet. Ebenso reicht die Datenlage zur M2-PKBestimmung im Stuhl nicht aus, um einen Einsatz außerhalb von Studien zu rechtfertigen. Gemäß der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS) stellen immunologische Verfahren derzeit keine Alternative zum FOBT in der Screening-Anwendung dar (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 3a, Konsens).
8.6.3
Molekulare Screening-Verfahren
Im Rahmen der Adenom-Karzinom-Sequenz kommt es zu einer Reihe charakteristischer genetischer Veränderungen. Eine Isolierung und Untersuchung von DNA aus Kolonepithelzellen im Stuhl ist möglich. Über die Detektion von APC-Mutationen konnten Karzinome bzw. Adenome mit einer Sensitivität von 61 % bzw. 50 % detektiert werden. In weiteren Studien mit ebenfalls kleinen Fallzahlen an Patienten mit bekannten Neoplasien wurden mehrere Marker im Stuhl untersucht. In diesen Untersuchungen wurde eine Sensitivität für Karzinome von 63 – 91 %, für fortgeschrittene Adenome von 57 – 82 % gefunden. Die Zahl falsch positiver Befunde betrug 4,8 – 5,6 %. Aufgrund fehlender Daten aus der asymptomatischen Bevölkerung sowie des hohen Aufwands und Kosten können Stuhluntersuchungen auf DNA-Veränderungen als KRK-Screening-Maßnahme derzeit außerhalb von Studien nicht empfohlen werden (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 4, starker Konsens, [LL 1, LL 4]).
LL3. Bond JH. Polyp guideline: Diagnosis, treatment, and surveillance for patients with colorectal polyps. Practice Parameters Committee of the American College of Gastroenterology. Am J Gastroenterol. 2000;95: 3053 – 63. LL4. Winawer S, Fletcher R, Rex D et al. Gastrointestinal Consortium Panel. Colorectal cancer screening and surveillance: clinical guidelines and rationale-Update based on new evidence. Gastroenterology. 2003;124: 544 – 60.
8.6.4
Sigmoidoskopie
Nach den Leitlinien der DGVS ist die Effektivität der Sigmoidoskopie als Screening-Methode für das KRK durch Studien bewiesen. Es wird jedoch in den Empfehlungen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch diese Untersuchungstechnik nicht alle Darmabschnitte eingesehen werden können und somit eine komplette Koloskopie der Sigmoidoskopie überlegen ist. Die Sigmoidoskopie sollte daher nur in Ausnahmefällen Personen angeboten werden, die eine Koloskopie ablehnen; in diesen Fällen müsste stattdessen alle 5 Jahre eine Sigmoidoskopie erfolgen. Zur möglichen Detektion proximaler Karzinome sollte zur Sigmoidoskopie zusätzlich jährlich eine fäkale okkulte Bluttestung (FOBT) erfolgen. Die Effektivität der Kombination ist jedoch nicht abschließend geklärt (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 3b, [LL 1, LL 4]). Verglichen mit dem FOBT besitzt die Sigmoidoskopie eine höhere Sensitivität für kolorektale Neoplasien. In drei randomisierten Studien, in denen die Kombination aus einmaligem FOBT und Sigmoidoskopie mit einem alleinigen FOBT verglichen wurde, wurden signifikant mehr Neoplasien durch die Kombination aus den beiden genannten Screening-Maßnahmen gefunden. Nach den Ergebnissen der S 3-Leitlinienkonferenz [LL 1] ist in den Fällen, wo eine Koloskopie abgelehnt wird, weiterhin ein jährlicher FOBT sinnvoll, da durch die Sigmoidoskopie isoliert proximal gelegene Tumoren nicht entdeckt werden können. Der FOBT sollte vor einer Sigmoidoskopie durchgeführt werden, da bei positivem Test eine Koloskopie erforderlich ist und dann die Sigmoidoskopie ersetzen sollte. Der zusätzliche Nutzen der Kombination im Sinne einer Mortalitätssenkung ist jedoch nicht gesichert. Eine prospektive, nichtrandomisierte Studie fand zwar eine niedrigere karzinombedingte Mortalität für die Kombination, das Ergebnis verfehlte jedoch grenzwertig die Signifikanz, und die Compliance war ausgesprochen niedrig. In mehreren Studien war jedoch eine Kombination aus Sigmoidoskopie und einmaligem FOBT der alleinigen Sigmoidoskopie nicht signifikant überlegen. Möglicherweise führt jedoch ein jährlich wiederholter FOBT zu einem Vorteil der Kombination verglichen mit der alleinigen Sigmoidoskopie.
91
8
Darmkrebsvorsorge
8.6.5
I
II III IV V VI VII
Koloskopie
Die Koloskopie hat innerhalb der Gastroenterologie seit ihrer Einführung in den Sechzigerjahren eine besondere Bedeutung erlangt und die Diagnostik und Therapie von Dickdarmerkrankungen überzeugend verbessert. Sie wird weltweit u. a. zur endoskopischen Früherkennung sowie zur Therapie neoplastischer Polypen und Karzinome eingesetzt. In einer Reihe von Studien konnte gezeigt werden, dass eine systematische endoskopische Vorsorge die Erkennung und auch die Prognose des kolorektalen Karzinoms signifikant verbessert [6]. Die Koloskopie wird daher auch in Deutschland seit 2002 als Screening-Verfahren zur Detektion neoplastischer kolorektaler Läsionen eingesetzt. Erfahrenen Untersuchern gelingt eine komplette Spiegelung mit Intubation der Bauhin-Klappe und Inspektion des terminalen Ileums in mehr als 90 % der Fälle. Von allen Maßnahmen zur Früherkennung kolorektaler Neoplasien (Adenome und Karzinome), besitzt die Koloskopie die höchste Sensitivität und Spezifität und ist daher als Goldstandard zu werten. Bei unauffälligem Befund sollte die Koloskopie im Abstand von 10 Jahren wiederholt werden. Bei Personen, die am KoloskopieScreening entsprechend dieser Richtlinie teilnehmen, erübrigt sich die Durchführung eines FOBT als Vorsorgemaßnahme (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 3b, [LL 1, LL 4]). In zwei Studien wurde gezeigt, dass die Inzidenz von Darmkrebs durch Polypektomie im Rahmen einer Koloskopie um 66 – 90 % gesenkt wird [6]. Hierfür existiert zwar keine randomisierte Studie als Beweis, die richtlinienkonform durchgeführte Untersuchung (nach den Krebsfrüherkennungsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen) wurde jedoch aufgrund der hohen Sensitivität und Spezifität und der Möglichkeit der Polypektomie von fast allen Konsensusteilnehmern der Leitlinienkonferenz von 2004 als die bevorzugte Vorsorgemethode für kolorektale Karzinome bewertet. Sie besitzt eine nachgewiesene hohe Sensitivität für Adenome und Karzinome des gesamten Kolons und erlaubt insbesondere eine Detektion proximaler Neoplasien. In 46 – 52 % der Fälle wiesen die Patienten mit proximalen Neoplasien keine zusätzlichen distalen Adenome auf. Bei diesen Patienten wäre eine Diagnose der Neoplasien demnach mittels Sigmoidoskopie unmöglich. Endoskopische Maßnahmen sind als einzige der Screening-Verfahren diagnostisch und therapeutisch wirksam und haben den Vorteil, dass durch sie auch nichtblutende Adenome und Karzinome mit hoher Sensitivität nachgewiesen werden können. Bei Nachweis von Adenomen kann durch ihre Abtragung zudem die Entstehung von Karzinomen im Sinne einer Unterbrechung der Adenom-Karzinom-Sequenz verhindert werden. Während polypoid- oder exophytisch wachsende Läsionen einer Polypektomie zugeführt werden sollten, können eingesunkene oder flache Prozesse mittels Mukosektomie endoskopisch abgetragen werden.
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In den letzten Jahren haben sich die endoskopischen Verfahren in erster Linie dahingehend weiterentwickelt, dass die Auflösung der Oberflächenstruktur deutlich verbessert wurde. Hierzu tragen neben den hochauflösenden Videoendoskopen v. a. auch die neuen Techniken der Zoom-Endoskopie sowie modernste Technologien wie „High definition television“ (HDTV) und „Narrow band imaging“ (NBI) bei, welche die Aussagekraft der endoskopischen Bilder signifikant erhöhen. Eine verbesserte Darstellung von Oberflächenstrukturen erhöht die Detektionsrate neoplastischer Läsionen. Ziel der endoskopischen Teildiagnostik sollte die Erkennung von kleinsten neoplastischen Veränderungen sowie die exakte Abgrenzung dieser Strukturen gegen die normale Mukosa sein. In den letzten Jahren haben hochauflösende elektronische Endoskope zur verfeinerten Diagnostik beigetragen. Klassische Fiberendoskope ermöglichen keine Lupenaufsicht auf die intestinale Schleimhaut. Hochauflösende Videoendoskope mit 410 000 – 850 000 Pixel bzw. Zoom-Endoskope mit Vergrößerung auf das 100-Fache lassen eine nahezu mikroskopische Detailstruktur erkennen, was besonders bei der Detektion flacher neoplastischer Läsionen klinisch von großer Bedeutung ist. Eine zusätzliche Verbesserung der Endoskoptechnologie stellen modernste Techniken wie High Definition Television (HDTV) dar. HDTV bietet eine besonders hohe Auflösung durch den Übergang auf 1080 Videozeilen im Vergleich zum herkömmlichen Fernsehbild mit 576 Zeilen. Die HDTV-Technologie arbeitet mit einer Auflösung von 1400 ×1080 im Zeilensprungverfahren und erzeugt damit extrem scharfe Bilder in einer vierfach höheren Auflösung, als dies bisher technisch möglich war. Eine zusätzliche Verbesserung in der Diagnostik erhofft man sich von der Verwendung von sog. Weitwinkelkoloskopen, die mit einem Blickwinkel von 170° im Vergleich zu den bisherigen 140°-Winkeln ein erweitertes Sichtfeld ermöglichen. Durch diese Neuentwicklung sollen auch Neoplasien, die sich im sog. toten Winkel der Kolonschleimhaut befinden, mitbeurteilt werden, welche zuvor nur durch Abwinkeln der Endoskopspitze erfasst werden konnten. Die Chromoendoskopie beschreibt ein Verfahren, mit dem eine direkte Einfärbung von Schleimhautarealen mit Vitalfarbstoffen durchgeführt wird. Ziel des Verfahrens ist eine verbesserte Detailkennung sowie die Abgrenzung dysplastischer und neoplastischer Areale von der normalen Mukosa. Ein wesentlicher Vorteil der Chromoendoskopie ist die Bestimmung der Ausdehnung von sichtbaren Läsionen, was insbesondere für eine Abtragung flacher Polypen wichtig ist. Durch Aufsprühen einer 0,1 – 1,0 %-igen Indigokarmin-Lösung auf die Schleimhaut kann ein plastischer Effekt im Sinne einer Strukturanhebung der Schleimhautoberfläche erzielt werden. Eine weitere Akzentuierung der Darmschleimhaut kann mithilfe von Kresylviolett (0,2 %ig) erfolgen. Im Gegensatz zu Indigokarmin wird Kresylviolett aktiv resorbiert und be-
Maßnahmen zur kolorektalen Karzinomfrüherkennung
tont besonders die Faltenränder der intestinalen Mukosa. Zusammen mit Indigokarmin ergibt sich ein eindrucksvolles Bild des Schleimhautoberflächenreliefs. Unter Leitung des japanischen Endoskopikers Kudo wurde aufgrund des angefärbten Schleimhautfaltenreliefs eine Einteilung erarbeitet, die sog. Pit-Pattern-Klassifikation, welche eine Korrelation der endoskopisch sichtbaren Oberflächenstruktur von Kolonläsionen mit der Histologie ermöglichen soll. Basis dieser endoskopischen Klassifikation ist die Verteilung, Größe und räumliche Struktur der Krypten, wie auch das Vorhandensein und der Aufbau villöser Anteile. Ziel der neuen Klassifikation ist es, eine Vorhersage der Dignität von Schleimhautläsionen im Kolon zu treffen und zwischen adenomatösen und nichtadenomatösen Veränderungen zu unterscheiden. Mithilfe dieser Klassifikation ist das Erkennen von Frühformen bzw. atypischen Formen des KRK möglich. In der Studie von Huang et al. [7] wurde eine Korrelation zwischen den endoskopisch sichtbaren Pit-Pattern-Läsionen (Typ III – V) und der Klassifizierung nach Stereomikroskopie der entfernten Polypen mit 75 – 88 % angegeben. Bei Pit-Pattern-Läsionen Typ I und II lag die Korrelation lediglich bei 60 %. Die Chromoendoskopie hat zusätzlich zur Differenzierung der flachen und eingesunkenen Läsionen beigetragen, da vor allem flache Adenome, das eingesunkene Adenom und das eingesunkene kolorektale Karzinom häufig nur mithilfe der Vitalfärbung der Kolonschleimhaut detektiert werden können. Da es sich bei bis zu 40 % der koloskopisch identifizierten Adenome um flache Adenome handelt, spielt dieses Verfahren diagnostisch eine immer größere Rolle. Eine weitere Indikation für die Chromoendoskopie ergibt sich bei der Kontrolle flacher kolorektaler Mukosaläsionen. Hier kann eine Färbung mit Indigokarmin hilfreich sein um zu überprüfen, ob nach Resektion noch Polypenreste vorhanden sind. Mithilfe der Chromoendoskopie in Verbindung mit hochauflösenden Endoskopen werden deutlich mehr Läsionen der kolorektalen Mukosa gesehen als bisher. Ob die Klassifikation mithilfe der typischen Pit-Pattern-Färbemuster zukünftig die histologische Aufarbeitung bestimmter Läsionen ersetzen wird, bleibt jedoch zukünftigen Studien vorbehalten. Es gibt jedoch zunehmend Hinweise, dass mithilfe der Chromoendoskopie auch Dysplasien, wie sie z. B. bei einer langjährigen Colitis ulcerosa entstehen, frühzeitiger identifiziert werden können [5]. Der Versuch, eine elektronische Chromoendoskopie zu etablieren und sich so die mühsame Anfärbung des Kolons zu ersparen, stellt das neue Untersuchungsverfahren des Narrow Band Imaging (NBI) dar. Mittels NBI können Gefäße und andere Strukturen auf und in der Schleimhautoberfläche kontrastiert werden. Hierzu wird ein speziell gefiltertes Licht verwendet, welches wegen seiner Spektralcharakteristik wenig gestreut, durch Hämoglobin weitgehend absorbiert und vom umliegenden Schleimhautgewebe stark reflektiert wird. Über einen Videoprozessor kann ein kontrastreiches Bild am Monitor entwor-
fen werden, das sogar die Differenzierung von mukosalen und submukösen Gefäßen erlaubt. Im unteren GI-Trakt hebt NBI morphologische Strukturen hervor und kann so beim Aufspüren von flachen Läsionen helfen. Die klinische Wertigkeit dieses Verfahrens muss jedoch durch Studien noch geklärt werden. Die Ergebnisse einer aktuell publizierten Studie deuteten allerdings schon an, dass das NBI-Verfahren der Chromoendoskopie vergleichbare Resultate hinsichtlich der Treffsicherheit liefert und der konventionellen Koloskopie (ohne HDTV) überlegen zu sein scheint [8]. Ein weiteres Verfahren, das in den letzten Jahren im Dickdarm zur Erkennung von Dysplasien bei der Colitis ulcerosa sowie zur Bestimmung von Dysplasien innerhalb von polypösen Arealen eingesetzt wurde, ist die Fluoreszenzendoskopie. Sowohl als Autofluoreszenz eingesetzt als auch durch Applikation exogener Substanzen (Porphyrine), können unterschiedliche Gewebe spektroskopisch erfasst werden. Mittels laserinduzierter Fluoreszenzspektroskopie können charakteristische Rotfluoreszenzen dysplastische Areale im entzündlich veränderten Kolon anzeigen. Leider liegen diesem aufwendigen und teuren Verfahren noch viele methodische Probleme zugrunde, sodass es noch zu den experimentellen Verfahren gezählt werden muss. Zusammenfassend trägt die Chromoendoskopie in Kombination mit modernen hochauflösenden Videoendoskopen jedoch zur besseren Detektion insb. flacher kolorektaler Neoplasien bei. Der Stellenwert der einzelnen Verfahren bei verschiedenen Indikationsstellungen muss jedoch durch zukünftige Studien noch geklärt werden.
8.6.6
Virtuelle Kolonografie
CT-Kolonografie Die CT-Kolonografie-Technik wurde 1994 erstmals von Vining beschrieben. Aus den englischen Begriffen „Spiral CT pneumocolon“, „CT colography“ und „Virtual colonoscopy“ hat sich die Bezeichnung „CT colonography“ abgeleitet. Gemäß der jährlich aktualisierten Konsensempfehlungen der internationalen Arbeitsgemeinschaft „Virtual colonography“, erfordert die CT-Kolonografie derzeit eine Darmvorbereitung des Patienten analog der Standardpräparation für die konventionelle Koloskopie. Bei der Untersuchung selbst wird der Dickdarm nach intravenöser Gabe von Butylscopolamin mit Raumluft oder alternativ mit Kohlendioxid distendiert. Eine Sedierung oder die Gabe von intravenösem Kontrastmittel sind grundsätzlich nicht erforderlich. Der Patient wird in der Regel in Bauchund – analog zum Abdomen-CT – in Rückenlage untersucht, damit eventuell noch vorhandene intraluminale Flüssigkeit oder Stuhlreste, die Kolonpolypen oder Tumoren verdecken oder vortäuschen können, verlagert werden. Mit den inzwischen breit verfügbaren Mehrschicht-
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8
Darmkrebsvorsorge
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Spiral-CT-Systemen (MSCT, sog. 2-, 4-, 16- und 64-Zeiler bzw. „Dual source CT“) werden pro Untersuchung auf diese Weise bis zu 1000 Bilder gewonnen, deren Auswertung den Einsatz zusätzlicher 2D- und 3D-Bildnachverarbeitungsverfahren erfordert. Sogenannte 2D-multiplanare Rekonstruktionen erlauben die Bildbetrachtung in beliebiger Schnittführung. 3D-endoluminale Ansichten werden auf der Basis von sog. Volumen- („volume rendering“) oder Oberflächenrekonstruktionstechniken („surface shaded display“) gewonnen. Die virtuelle Kolonografiekamera wird im Rektum platziert und findet entlang eines errechneten Zentralpfades automatisch ihren Weg durch das Darmlumen. Per Mausklick kann hiervon abweichend die Darmwandoberfläche manuell aus jeder beliebigen Blick- und Bewegungsrichtung in Echtzeit inspiziert werden. Zur klinischen Wertigkeit der CT-Kolonografie sind seit 1994 insgesamt 1398 Studien publiziert worden. Halligan und Mitarbeiter [4] fanden allerdings bei lediglich 24 Studien (1,7 %) die von der jährlich in Boston tagenden Arbeitsgruppe „Virtual colonoscopy“ vorgegebenen und publizierten Qualitätskriterien erfüllt. Im Ergebnis ließ sich für die CT-Kolonografie bei insgesamt 2610 Patienten eine Sensitivität von 93 % für Polypen über 10 mm sowie von 86 % bei Polypen von 5 – 9 mm Durchmesser ermitteln. Allerdings werden die Ergebnisse von Vergleichsstudien zur CT-Kolonografie und konventioneller Koloskopie kontrovers diskutiert. Da größtenteils Patienten mit bereits erhöhtem kolorektalen Risiko und entsprechend erhöhter Polypenprävalenz eingeschlossen wurden (je nach Studie Prävalenz von 14,7 – 72,2 %), können die ermittelten Detektionsraten grundsätzlich nicht auf die Normalbevölkerung und damit die übliche Vorsorgepopulation transferiert werden. Zwei Multicenterstudien untersuchten ausschließlich asymptomatische Patienten. Dabei fanden Pickhardt et al. [9] bei insgesamt 1233 Patienten für Polypen über 10 mm eine Sensitivität von 93,8 %, für Polypen über 8 mm von 93,9 % und für Polypen über 6 mm Durchmesser von 88,7 %. Im Vergleich hierzu betrug die Sensitivität für die ebenfalls evaluierte konventionelle Koloskopie 92,3 %, 91,5 % und 87,5 %. Diese Studie zeigt in Übereinstimmung mit früheren Ergebnissen, dass auch mit der konventionellen Koloskopie Polypen übersehen werden. Zu einer anderen Einschätzung kommen Cotton et al. [10], die in ihrer nicht randomisierten Studie eine Sensitiviät von lediglich 39 % für Polypen von 6 – 9 mm Durchmesser und 55 % für Polypen über 10 mm Durchmesser ermittelten. Demgegenüber betrug die Sensitivität für die konventionelle Koloskopie 99 bzw. 100 % in den vorgenannten Größenbereichen. Der Vergleich dieser Studie zeigt, dass die deutlich besseren Ergebnisse der Untersuchung von Pickhardt et al. in nicht unerheblichen Maße auf die Verwendung einer moderneren Technik zurückzuführen sind (u. a. ausschließlicher Einsatz von Mehrschicht CTs, primäre Analyse der 3D-Bilder sowie 2D zur Problemlösung, intensive Darmentleerung sowie zusätzlich Verwendung von sog. „Stuhlmarkierungstechniken“).
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Tabelle 8.3 Indikationen zur CT-Kolonografie. Methode der Wahl bei: abgelehnter oder technisch nicht bzw. nur unvollständig durchführbarer konventioneller Koloskopie (Stenosen, Verwachsungen, Elongationen) ● antikoagulativer Therapie bzw. erhöhtem Blutungsrisiko ● Tumorsuche und Staging ●
Nicht indiziert bei: Verlaufskontrolle nach erfolgter Polypektomie Diagnostik und Verlaufskontrolle chronisch entzündlicher Darmerkrankungen; u. a. die mit Colitis ulcerosa assoziierten DALM (dysplasia associated lesion or mass) bedürfen zwingend der konventionellen Koloskopie und Biopsie.
● ●
Basierend auf Daten einer umfangreichen Metaanalyse aus dem Jahr 2005 [4] liegen unter Berücksichtigung der Gruppe aller Polypen > 6 mm in 4 – 25 % falsch positive Befunde vor. Werden nur Polypen > 9 mm berücksichtigt, reduziert sich der Anteil falsch positiver Befunde auf 0 – 9 %. Allerdings nutzten nur ein geringer Anteil der erfassten Studien das Verfahren des sog. „Fecal tagging“, d. h. der Markierung residueller Stuhlreste mittels eines zuvor verabreichten oralen Kontrastmittels. Dieses Verfahren hält auch außerhalb von Studien zunehmend in der klinischen Routine Einzug. Nach derzeitiger Studienlage kann die Zahl der falsch positiven Befunde durch dieses Verfahren im Vergleich mit anderen Protokollen zur Kolonreinigung um ca. zwei Drittel gesenkt werden. Die Tab. 8.3 fasst die derzeitigen Indikationen zur Durchführung der CT-Kolonografie zusammen.
MRT-Kolonografie Alternativ zur CT-Kolonografie kann – wenngleich bislang deutlich seltener – die MRT-Kolonografie durchgeführt werden. Anders als bei der CT-Kolonografie kommt es bei diesem Verfahren zu keinerlei Strahlenexposition. Die ebenfalls intravenös applizierten MRT-Kontrastmittel (Gadoliniumkomplexe) zeichnen sich durch ihr hohes Sicherheitsprofil aus. Die überlegene Kontrastauflösung der MRT-Kolonografie, insbesondere nach Gabe von i. v. Kontrastmitteln, erlaubt grundsätzlich eine bessere Differenzierung von Polypen und Stuhlresten. Diese Vorteile werden durch vergleichsweise höhere Kosten, eine höhere Anfälligkeit gegenüber einer Vielzahl von Artefakten, insb. Bewegungsartefakten, und eine längere Untersuchungsdauer (ca. 20 – 40 min inkl. Darmdistension und Lagerung) relativiert. Einzelne Studien zur Wertigkeit der MRT-Kolonografie zeigen im Vergleich zur konventionellen Koloskopie ähnliche Ergebnisse für Polypen von ≥ 10 mm, während die Detektionsraten für kleinere Polypen tendenziell und insb. im Vergleich zur CT-Kolonografie niedriger bewertet werden Größere Studien zur Wertigkeit der MRT-Kolonografie in der asymptomatischen Bevölkerung über 50 Jahren liegen derzeit nicht vor.
Früherkennungsalgorithmen in der asymptomatischen Bevölkerung
Aufgrund der Datenheterogenität sowie uneinheitlicher Standards in der technischen Durchführung und Auswertung dieser Verfahren, wurden in den letzten Leitlinien der DGVS weder die CT-Kolonografie noch die MRT-Kolonografie außerhalb von Studien für das Screening in der asymptomatischen Bevölkerung empfohlen (Empfehlungsgrad: A, Evidenzstärke: 2b, starker Konsens, [LL 1]).
8.7
Früherkennungsalgorithmen in der asymptomatischen Bevölkerung
Die Darmkrebsfrüherkennung sollte ab dem Alter von 50 Jahren bei Patienten mit durchschnittlichem Risiko (leere Eigen-/Familienanamnese für KRK bzw. Polypen/Adenome) durchgeführt werden. Grundsätzlich ist eine ärztliche Beratung über Art und Umfang der Darmkrebsvorsorge indiziert. Derzeit ist die Koloskopie nach optimal gereinigtem Darm das Verfahren mit der höchsten Sensitivität und Spezifität zur Detektion kolorektaler Karzinome und Polypen und stellt deshalb das Standardverfahren dar. Die Koloskopie ermöglicht die zuverlässige Detektion kleiner und flacher Läsionen sowie darüber hinaus eine histologische Diagnostik und therapeutische Intervention. Auf die zusätzliche Durchführung einer FOBT kann ebenfalls verzichtet werden. Im Fall einer Ablehnung der Koloskopie kann alternativ die Sigmoidoskopie alle 5 Jahre sowie jährlich ein FOBT durchgeführt werden. Die Ablehnung sämtlicher endo-
a Abb. 8.1 Kolorektaler sessiler Polyp mit einem Durchmesser von 8 mm in der CT-Kolonografie mit endoluminaler 3D-Ansicht (a). Die multiplanare 2D-Rekonstruktion transversal (b)
skopischer Verfahren erfordert entweder a) die Durchführung einer jährlichen FOBT, wobei ein positives FOBT-Ergebnis nicht kontrolliert werden sollte, sondern in jedem Fall eine Koloskopie erfordert, oder alternativ b) radiologische Bildgebung. Die Durchführung einer Doppelkontrast-Untersuchung des Kolons ist weiterhin insbesondere in den Leitlinien angloamerikanischen Ursprungs verbrieft. Es ist bereits heute evident, dass diese Untersuchung zunehmend durch die CT-Kolonografie ersetzt wird. Die CT-Kolonografie findet derzeit regelhaft Anwendung insbesondere nach abgelehnter oder technisch nicht bzw. nur unvollständig durchführbarer konventionellen Koloskopie (endoskopisch nichtpassierbaren Stenosen, Verwachsungen, Elongationen) oder bei Patienten unter antikoagulativer Therapie bzw. erhöhtem Blutungsrisiko (Tab. 8.3). Die potenzielle Attraktivität der CT-Kolonografie im Rahmen der Früherkennung rührt nicht zuletzt daher, dass sich möglicherweise auch jene Patienten einer Vorsorge unterziehen, die bisherige kolorektale Vorsorgemaßnahmen, insbesondere die konventionelle Koloskopie, gemieden haben. Der Einsatz der CT-Kolonografie in der Früherkennung des kolorektalen Karzinoms kann jedoch nur auf der Basis einer noch zu verbessernden Datenlage zur virtuellen Kolonografie angedacht werden. In diesem Zusammenhang wurde in den USA im Jahre 2005 eine erste große CT-Kolonografie-Multizenterstudie (ACRIN Protocol 6664, 15 Zentren) initiiert. Ziel dieser Studie ist die Evaluierung einer standardisiert durchgeführten CT-Kolonografie in der asymptomatischen Bevölkerung über 50 Jahre im Vergleich zur konventionellen Koloskopie. Erste Ergebnisse dieser Studie werden 2008
b zeigt die typischerweise homogene Weichteildichte des Polypen (Pfeil) und erlaubt damit die Differenzierung von zumeist lufthaltigen Stuhlresten.
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Darmkrebsvorsorge
erwartet. Es ist davon auszugehen, dass die in dieser Studie gewonnenen Daten zur Leistungsfähigkeit und Kosteneffektivität der CT-Kolonografie und Koloskopie maßgeblich über die offizielle Anerkennung der CT-Kolonografie als Früherkennungsmaßnahme in der Darmkrebsvorsorge entscheiden werden. Dies gilt gleichermaßen für die Frage der Kostenerstattung in der Regelversorgung.
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Kasuistik Ein 54-jähriger Bauingenieur stellt sich zur Abklärung eines positiven Haemoccult-Tests vor. Die gemäß den Leitlinien indizierte koloskopische Abklärung wird vom Patienten zunächst abgelehnt. Mit seinem Einverständnis wird die Durchführung einer CT-Kolonografie vereinbart (Abb. 8.1). Die Teilabbildung a zeigt die endoluminale 3DAufnahme aus dem Colon transversum mit Nachweis einer glatt begrenzten Läsion. Eine 2D-CT-Aufnahme der Läsion wird in Teilabbildung b dargestellt. Die Läsion ist homogen weichteildicht. Lufteinschlüsse sind nicht nachweisbar, sodass ein kolorektaler Polyp vorliegt. Aufgrund der Polypengröße von 8 mm wurde eine Polypektomie empfohlen. Diese wurde auf Wunsch des Patienten am selben Tag erfolgreich und komplikationslos in Sedierung durchgeführt. Die histologische Aufarbeitung ergab den Befund eines tubulären Adenoms ohne Nachweis von Atypien.
8.8
Maßnahmen der individuellen Prävention
8.8.1
Allgemeine Ernährungsempfehlungen
Bei der Beurteilung von Ernährungsempfehlungen gibt es keine eindeutige, vollständig abgesicherte Datenlage hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Ernährungsfaktoren und der Karzinogenese im Kolon. Trotzdem wurden aufgrund der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse „Ernährungsempfehlungen zur Verminderung des Krebsrisikos“ durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und andere nationale und internationale Gremien formuliert. Danach sollen Gemüse und Vollkornprodukte in größeren Mengen verzehrt werden und zum Hauptbestandteil der Ernährung werden. Fisch und Geflügel sollten gegenüber rotem Fleisch bevorzugt werden. Der Alkoholkonsum sollte die Menge von 20 g/d nicht übersteigen. Eine exzessive Energieaufnahme sollte vermieden werden, zu körperlicher Aktivität wird jedoch geraten. Ferner sollte die Ernährung zur Karzinomreduktion folsäure- (bspw. enthalten in grünen Pflanzenblättern, Leber, Hefe und Kuhmilch) und kalziumreich (Milchund Molkereiprodukte) sein [11]. Eine Wirksamkeit von Mikronährstoffen zur KRK-Prävention konnte nicht nachgewiesen werden. Ebenso konnten in der Leitilinienkonferenz der DGVS zum kolorektalen Karzinom keine Empfehlungen zum Fischkonsum (starker Konsens), der Re-
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Tabelle 8.4 (Ernährungs-) Empfehlungen zur Verminderung des Krebsrisikos. ● ● ● ● ● ● ● ●
vermehrter Verzehr von Obst und Gemüse (5 Portionen/ d) sowie von Vollkornprodukten Bevorzugung von Fisch und Geflügel gegenüber rotem Fleisch („red meat“) Limitierung des Alkoholkonsums Vermeidung einer exzessiven Energieaufnahme Gewichtsreduktion bei übergewichtigen Personen Ernährung durch folsäure- und kalziumreiche Kost Nikotinkarenz regelmäßige körperliche Aktivität
duktion des Fettverzehrs (Konsens) und der Förderung der Aufnahme Vitamin-C-haltiger Nahrung (starker Konsens) gegeben werden.
8.8.2
Medikamentöse Prävention zur Risikoreduktion eines kolorektalen Karzinoms
Zum Einsatz von Sulindac, COX-2-Inhibitoren, 5-ASA (Mesalazin), Cholesterinsynstheseinhibitoren oder Ursodesoxycholsäure existieren keine Daten für die asymptomatische Bevölkerung, sodass diese Substanzen ebenfalls nicht als medikamentöse Prophylaxe zur Vermeidung eines KRK gegeben werden sollten. Eine Gabe von Acetylsalicylsäure für die Primärprophylaxe kolorektaler Neoplasien sollte nicht erfolgen. Auch existieren keine zuverlässigen Daten, die eine Hormonersatztherapie zur Risikoreduktion des KRK bei Frauen rechtfertigen würden.
Weblinks ● ● ●
Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS): http://www.dgvs.de/ National Cancer Institute (USA): http://www.cancer.gov Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ): Leitlinien-Clearingverfahren mit Übersicht bewerteter Leitlinien zum kolorektalen Karzinom: http://www.leitlinien.de/clearingverfahren/clearingberichte/ kolorektal/00kolorektal/view
Literatur 1.
Krebs in Deutschland – Häufigkeiten und Trends. 6. Auflage. Saarbrücken: Gesellschaft für Epidemiologische Krebsregister in Deutschland e. v. (GEKID) in Zusammenarbeit mit dem RKI. 2008.
2.
Knöpnadel J, Altenhofen L, Lichtner F et al. Früherkennung des Darmkrebses und möglicher Vorstufen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 2005: 57.
Maßnahmen der individuellen Prävention
3.
Rembacken BJ, Fujii T, Cairns A et al. Flat and depressed colonic neoplasms: a prospective study of 1000 colonoscopies in the UK. Lancet 2000;355: 1211 – 4.
4.
Halligan S, Altman DG, Taylor SA et al. CT colonography in the detection of colorectal polyps and cancer: systematic review, meta-analysis, and proposed minimum data set for study level reporting. Radiology 2005;237: 893 – 904.
5.
Kiesslich R, Fritsch J, Holtmann M et al. Methylene blueaided chromoendoscopy for the detection of intraepithelial neoplasia and colon cancer in ulcerative colitis. Gastroenterology 2003;124: 880 – 8.
6.
Winaver SJ, Zauber AG, Ho MN et al. Prevention of colorectal cancer by colonoscopic polypectomy. The National Polyp Study Workgroup. N Engl J Med 1993;329: 1977 – 81.
7.
Huang Q , Fukami N, Kashida H et al. Interobserver and intra-observer consistency in the endoscopic assessment
of colonic pit patterns. Gastrointest Endosc 2004 Oct;60 (4):520 – 6. 8. Chiu HM, Chang CY, Chen CC et al. A prospective comparative study of narrow-band-imaging, chromoendoscopy, and conventional colonoscopy in the diagnosis of colorectal neoplasia. Gut 2007;56: 373 – 9. 9. Pickhardt PJ, Choi JR, Hwang I et al. Computed tomographic virtual colonoscopy to screen for colorectal neoplasia in asymptomatic adults. N Engl J Med 2003;349: 2191 – 200. 10. Cotton PB, Durkalski VL, Pineau BC et al. Computed tomographic colonography (virtual colonoscopy): a multicenter comparison with standard colonoscopy for detection of colorectal neoplasia. JAMA 2004; 291(14): 1713 – 9. 11. Biesalski HK, Fürst P, Kasper H, Kluthe R, Pölert W, Puchstein C, Stähelein HB. Ernährungsmedizin. 2. Auflage. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag; 1999.
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Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
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Hautkrebs: Früherkennung und Prävention M. Möhrenschlager, F.-M. Köhn
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Das Wichtigste in Kürze Häufigste Hautkrebse sind das Basalzell- und Plattenepithelkarzinom sowie das maligne Melanom. Als präinvasive Vorstufen gelten die Keratosis actinica, Cheilitis actinica, Leukoplakie, Erythroplasie Queyrat und Lentigo maligna. Anhand der Klinik, dermatoskopischer sowie auch histomorphologischer Untersuchungen können benigne von präinvasiven Hautveränderungen abgegrenzt bzw. präinvasive Läsionen einer adäquaten Therapie zugeführt werden, sodass ein Voranschreiten der Erkrankung verhindert werden kann. Neben vermuteten alimentären Faktoren stehen v. a. Maßnahmen zum Lichtschutz zur allgemeinen Prävention zur Verfügung. Zu den potenziell protektiven Medikamenten gehören NSAR, Lipidsenker und Retinoide. Die Behandlung präinvasiver und maligner Veränderungen erfolgt durch chirurgische, physikalische, immunmodulierende und chemotherapeutische Verfahren.
VII 9.1
Definition präinvasiver und invasiver maligner Hautveränderungen
Keratose, Cheilitis actinica, Erythroplasie Queyrat oder Leukoplakie als „prämaligne“ bezeichnet. Da es sich aber histologisch um Carcinomata in situ handelt, ist der Begriff „präinvasive maligne epitheliale Tumoren“ korrekter. Diese Veränderungen können sich zu einem Plattenepithelkarzinom weiterentwickeln, während aus einer Lentigo maligna ein Lentigo-maligna-Melanom entstehen kann. Andere kutane Malignome wie das Merkelzell-, Kaposi-, Hämangio-, Fibro-, Neurofibro-, Lipo- und Leiomyosarkom, das Dermatofibrosarcoma protuberans sowie die kutanen Lymphome werden aufgrund ihres eher seltenen Auftretens hier nicht besprochen; es wird auf die einschlägige dermatologische Fachliteratur verwiesen.
9.2
Epidemiologie der malignen Hautveränderungen
Basalzellkarzinom. Das Basalzellkarzinom (Abb. 9.1) ist der häufigste Hautkrebs des Menschen. Die Inzidenz für Nord- und Mitteleuropa wird mit 20 – 50 Fällen pro 100 000 Einwohner (vgl. Australien: 250 Erkrankungen/ 100 000 Einwohner) angegeben.
Die Mehrzahl der Hautkrebserkrankungen wird durch Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome (syn. spinozelluläres Karzinom) sowie maligne Melanome verursacht. Früher wurden Veränderungen wie die aktinische
Plattenepithelkarzinom. Das Plattenepithelkarzinom (Abb. 9.2) zeigt eine Inzidenz in Deutschland von 6 – 12 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner (vgl. Australien: 50 Fälle/100 000 Einwohner). Männer sind häufiger als Frauen betroffen. Die Prävalenz von aktinischen Keratosen (Abb. 9.3) beträgt 3 – 46 %. Sie gehen in etwa 10 – 20 % der Fälle in Plattenepithelkarzinome über.
Abb. 9.1 Basalzellkarzinome (bei Gorlin-Goltz-Syndrom).
Abb. 9.2 Plattenepithelkarzinom.
98
Pathophysiologie
Abb. 9.3 Aktinische Keratose.
Abb. 9.4 Superfiziell spreitendes malignes Melanom.
Malignes Melanom. Die Inzidenz des malignen Melanoms (Abb. 9.4) beträgt in Mitteleuropa etwa 12 Fälle auf 100 000 Einwohner.
9.3
9.2.1
Syndrome mit erhöhtem Hautkrebsrisiko
Die Tab. 9.1 gibt eine Übersicht über wichtige Syndrome, welche mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Neoplasien des Hautorgans behaftet sind. Eine fachkundige genetische Beratung betroffener Merkmalsträger hilft bei der Einschätzung für das Wiederholungsrisiko bei bestehendem Kinderwunsch.
Pathophysiologie
Für die Entstehung von Basalzell- sowie Plattenepithelkarzinomen sind genetische und Umweltfaktoren von Bedeutung. Zu den genetischen Einflussgrößen wird u. a. der Hauttyp gerechnet, welcher die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Licht charakterisiert. Einen wesentlichen Umweltfaktor stellt die kumulative UV-Lichtexposition dar. Weitere bedeutsame Einflussgrößen umfassen Röntgenstrahlung (diagnostisch, therapeutisch, akzidentell), langzeitige Psoralen- plus UVA-Strahlen (= PUVA-Behandlung), chronische Arseningestation (z. B. über kontaminiertes Brunnenwasser) sowie Immunsuppression (z. B. nach Organtransplantation, HIV-Infektion). Für die Ent-
9 Tabelle 9.1 Syndrome mit erhöhtem Hautkrebsrisiko (Auswahl). Syndrom
Erbmodus
Hautmalignom
sonstige Symptome
Xeroderma pigmentosum (Inzidenz USA ca. 1 : 250 000)
AR
BCC
Lentigines
SCC
Hypopigmentation
MM
Hyperpigmentation
Sarkome
Teleangiektasien
Epidermodysplasia verruciformis
AR
SCC Bowen-Karzinom M. Bowen
Gorlin-Goltz-Syndrom (Inzidenz: 300 beschriebene Fälle in den letzten 10 Jahren)
AD
BCC
Kieferzyste Gabelrippe Kyphoskoliose Spina bifida Falx cerebri (Verkalkung) Palmargrübchen Ovarialfibrom Medulloblastom
Syndrom dysplastischer Nävi
?
MM
-
AD: autosomal-dominant; AR: autosomal-rezessiv; BCC: Basalzellkarzinom; MM: malignes Melanom; SCC: Plattenepithelkarzinom
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Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
I
II III IV V VI VII
stehung eines Plattenepithelkarzinoms von Bedeutung sind weiterhin Infektionen mit humanen Papillomaviren (HPV, besonders im Bereich des Genitale) sowie Exposition gegenüber Teerstoffen und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffverbindungen verantwortlich. Relevante Faktoren für die Entstehung eines malignen Melanoms umfassen den Hauttyp, die Anzahl kongenitaler Nävuszellnävi, die Anzahl erlittener Sonnenbrände in Kindheit und Jugend sowie intrafamiliäre Melanomerkrankungen. Nach Fitzpatrick werden 6 verschiedene Hauttypen unterschieden: ● Typ I: Hautrötung nach Sonnenexposition: immer; Bräunung: nie; helle Haut, Sommersprossen, blaue oder grüne Augen; rote oder blonde Haare ● Typ II: Hautrötung: immer; Bräunung: gelegentlich; helle Haut, blaue oder grüne Augen, blonde Haare ● Typ III: Hautrötung: gelegentlich; Bräunung: immer; dunkle Haare, braune Augen ● Typ IV: Hautrötung: nie; Bräunung: immer; dunkle Haut, schwarze oder braune Haare, braune Augen ● Typ V: z. B. mediterraner Hauttyp ● Typ VI: z. B. schwarzafrikanischer Hauttyp
9.4
Anamnese und Klinik
9.4.1
Basalzellkarzinom
Betroffen sind in der Mehrzahl ältere, lichtempfindliche Personen mit Läsionen an frei getragener Haut. Eine Beteiligung der Übergangsschleimhaut (Lippen) sowie der Mund- und Genitalschleimhäute fehlt regelhaft. Klinisch können folgende Typen unterschieden werden: ● noduläres Basalzellkarzinom mit initial glasigem, gelblich bis rötlichem Knötchen und einzelnen Teleangiektasien ● oberflächliches Basalzellkarzinom mit scharf begrenztem, erythematösem, flachen Plaque, z. T. mit Schuppung und perlschnurartigem Randsaum, gerne in rumpfbetonter Lokalisation (sog. Rumpfhautbasaliom) ● sklerodermiformes Basalzellkarzinom mit intradermalem Wachstum und schwer erkennbarer Grenze zur umgebenden gesunden Haut ● pigmentiertes Basalzellkarzinom mit verstärkter Pigmentbildung der Melanozyten, meist beim knotigen und oberflächlichen Basalzellkarzinom ● ulzeriertes Basaliom bei anhaltendem Tiefen- und Seitenwachstum mit Ausbildung eines Ulcus rodens bzw. Ulcus terebrans, häufig an Stirn, Kapillitium und zentrofazial
9.4.2
Häufig entsteht zunächst im höheren Lebensalter ein Carcinoma in situ (s. u.), welches sich häufig an lichtexponierten Stellen (Unterlippe, Handrücken, Ohrrand, Gesicht, zentrales Kapillitium (z. B. bei vorbestehender androgenetischer Alopezie) zeigt. Es findet sich eine umschriebene Keratose mit knotiger oder plattenartiger Basis. Bei weiterem Wachstum neigen diese Veränderungen zu oberflächlichen Erosionen, Ulzerationen und Schuppenkrusten. Eine Metastasierung ist bei einer Tumordicke > 2 mm möglich, wird jedoch häufiger ab einer Dicke von 4 mm und insgesamt in etwa 5 % aller Fälle gesehen (v. a. primär lokoregionär lymphogen). Nach Erstdiagnose eines Plattenepithelkarzinoms entwickeln sich in den 5 nachfolgenden Jahren gleichartige Läsionen bei bis zu 40 % der primär Erkrankten. Carcinoma in situ: aktinische Keratose. An chronisch lichtexponierter Haut, gehäuft bei hellhäutigen Individuen (Hauttyp I), finden sich meist in Mehrzahl scharf und unregelmäßig begrenzte erythematöse Makulä, Papeln und Plaques (Abb. 9.3, S. 99). Carcinoma in situ: Cheilitis actinica. Entsprechend der aktinischen Keratose findet sich diese Präkanzerose zumeist auf der Übergangsschleimhaut der Unterlippe bei hellhäutigen älteren Individuen mit positiver UV-Expositionsanamnese. Klinisch zeigen sich Fissuren und Krustenauflagerungen. Carcinoma in situ: Leukoplakie. Diese Läsion ist durch umschriebene, weiß gefärbte, nicht abwischbare Epithelhyperplasien und Epitheldysplasien der Schleimhaut des Mundes sowie des Genitales (Klitoris, Labia minora, Vagina, Portio, Präputium, Glans) gekennzeichnet, meist im Alter zwischen 40 und 70 Jahren. Anamnestisch ergeben sich vielfach Hinweise für chronische, physikalische und/ oder chemische Noxen (z. B. Inhalation von Tabakrauch). Die Bedeutung onkogener Viren ist nicht hinreichend geklärt. Carcinoma in situ: Erythroplasie Queyrat. Diese Veränderung betrifft die Schleimhaut von Glans, Präputium, Vulva und selten Anus und Cavum oris. Klinisch finden sich rundliche oder unregelmäßig konfigurierte, scharf begrenzte erythematöse Herde, deren Oberfläche samtartig imponiert. Eine Blutungsneigung kann bestehen. Genitale Läsionen finden sich gehäuft bei nicht zirkumzidierten Männern ab der 5. Lebensdekade.
9.4.3 Die Metastasierungshäufigkeit wird auf unter 0,025 % geschätzt. Nach Erstdiagnose eines Basalzellkarzinoms entwickeln sich in den 5 nachfolgenden Jahren gleichartige Läsionen bei bis zu 40 % der primär Erkrankten.
100
Plattenepithelkarzinom
Malignes Melanom
Im Kindesalter stellt das maligne Melanom eine Rarität dar; es betrifft v. a. Kaukasier im höheren Lebensalter. Eine Häufung akraler Lokalisationen (Hände, Füße), der
Diagnostik
Mundschleimhaut sowie der Retina findet sich bei Farbigen. Maligne Melanome können de novo (~ 50 %) oder auf präexistierenden kongenitalen Nävuszellnävi (~ 3 %), atypischen Nävuszellnävi (~ 25 %) oder einer Lentigo maligna (~ 5 %) entstehen. Eine klinische Diagnosestellung gelingt mit der ABCDRegel, welche die Kriterien der Asymmetrie, Begrenzung, Farbe (Color) und Durchmesser benützt (Evidenzgrad III [LL 1]). Folgende klinische Läsionen können unterschieden werden: ● oberflächlich spreitendes Melanom (Abb. 9.4, S. 99) mit scharf begrenzter, hellbraun bis schwärzlicher, z. T. auch bläulich-grauer Verfärbung (Melanomanteil ~ 50 %) ● primär knotiges Melanom mit schwärzlicher, halbkugeliger Erhebung bei erhaltener glatter Oberfläche (~ 30 %) ● Lentigo-maligna-Melanom (~ 10 %) mit unregelmäßig begrenzter, hellbraun bis schwarz pigmentierter Makula, meist im Gesicht, seltener am Unterschenkel ● akral-lentiginöses Melanom (~ 5 %) mit unregelmäßig begrenzter, hellbraun bis schwarz pigmentierter Makula an den Handinnenflächen und Fußsohlen, welche gehäuft bei dunkelhäutigen Individuen gesehen wird. Sonderformen (5 %) sind: amelanotisches malignes Melanom als hautfarbener Nodus, z. T. erosiv ● desmoplastisches malignes Melanom mit großer Ähnlichkeit zum Lentigo-maligna-Melanom ● verruköses oder papillomatöses Melanom als Papel oder Nodus, meist ohne Pigmentierung ● Schleimhautmelanom (Schleimhaut von Mundhöhle, Pharynx, Trachea, Genitale, Magen, Darm, Anus) ● Aderhautmelanom (Choroidea), welches gehäuft bei dunkelhäutigen Individuen gesehen wird ●
Die 10-Jahres-Überlebensraten betragen > 95 % bei einer Tumordicke von bis zu 1 mm, 85 % bei einer Tumordicke > 1 mm < 2 mm, 70 % bei > 2 mm < 4 mm, und 55 % bei > 4 mm.
9.4.4
Melanoma in situ: Lentigo maligna
Durch Proliferation atypischer Melanozyten in der Epidermis entsteht diese in der Regel langsam wachsende präinvasive Veränderung (Abb. 9.5), welche unbehandelt in ein Lentigo-maligna-Melanom (s. o.) übergehen kann. Bevorzugt betroffen sind Kaukasier, weibliche Individuen, Personen > 60 Jahre. Lokalisationsschwerpunkt ist die Gesichtsregion, seltener bei der Frau auch der Unterschenkel. Klinisch zeigt sich eine braun-schwärzliche Makula ohne epidermale Beteiligung.
Abb. 9.5 Lentigo maligna.
9.4.5
Atypischer Nävuszellnävus
Der atypische Nävuszellnävus repräsentiert einen benignen melanozytären Tumor, welcher morphologisch zwischen dem gewöhnlichen Nävuszellnävus und dem malignen Melanom steht. Klinisch zeigt sich häufig eine asymmetrische Form, polyzyklische und verwaschene Randbegrenzung sowie eine unregelmäßige Pigmentierung. Wie oben dargelegt haben etwa 25 % aller malignen Melanome ihren Ursprung in atypischen Nävuszellnävi.
9.5
Diagnostik
9.5.1
Dermatoskopie
9
Dieses nichtinvasive Verfahren erlaubt die In-vivo-Beurteilung von melanozytären, nichtmelanozytär pigmentierten sowie nichtpigmentierten Läsionen des Hautorgans mittels Dermatoskop (Handgerät mit achromatischer Linse und Halogenbeleuchtung bzw. LED-Beleuchtung; 10-fache Vergrößerung). In Abhängigkeit von der Erfahrung des Untersuchers liegt die diagnostische Genauigkeit, ein Melanom im Rahmen der klinischen Untersuchung zu entdecken, zwischen 65 und 80 % [LL 1, 1]. Durch Einsatz der Dermatoskopie kann die Sensitivität gegenüber der makroskopischen Inspektion um 10 – 27 % erhöht werden (Evidenzgrad III) [LL 1, 1]. Am Beispiel eines Melanomvorläufers (atypischer Nävuszellnävus) soll die makroskopisch schwierige Abgrenzung zum Melanoma in situ aufgezeigt werden (Tab. 9.2).
101
Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
Tabelle 9.2 Dermatoskopische Kriterien zur Differenzialdiagnostik atypischer Nävuszellnävus vs. Melanoma in situ (nach [2]). Atypischer Nävuszellnävus retikuläres Pigmentmuster unregelmäßiges, über die Läsion verteiltes Pigmentnetz Verdünnung des Pigmentnetzes in der Peripherie
● ● ●
I
II III IV V
Melanoma in situ retikuläres Pigmentmuster grobtrabekuläres, irreguläres Pigmentnetz abrupter Abbruch des Pigmentnetzes in der Peripherie evtl. klassische Melanomkriterien nachweisbar (wie black dots, irreguläre Ausläufer)
● ● ● ●
9.5.2
Die feingewebliche Analyse einer läsionalen Biopsie oder Exzision ist der Goldstandard in der Diagnostik von Hautveränderungen. Neben der Dignitätsbeurteilung erlaubt dieses Verfahren auch eine Aussage, ob die Läsion in toto entfernt werden konnte [3, 4].
9.5.3
VI VII
Histologischer Befund
Fluoreszenzdiagnostik
Bei diesem neuartigen Verfahren [5] wird ein Farbstoff (Fotosensibilisator) lokal verabreicht, welcher sich selektiv in Zellen eines Carcinoma in situ (z. B. aktinische Keratose) oder einer schon invasiven epithelialen Neoplasie (z. B. Basalzellkarzinom) anreichert. Durch eine nachfolgende Anleuchtung mit Licht werden die Farbstoffmoleküle zum Fluoreszieren gebracht. Die entstehende Fluoreszenz kann schließlich durch ein optisches System detektiert und das Carcinoma in situ bzw. der Hauttumor somit lokalisiert werden. Das Verfahren ist limitiert durch die Penetrationstiefe des Farbstoffs und die Eindringtiefe der anleuchtenden Lichtquelle. In praxi können durch das vorgenannte Verfahren Veränderungen der Epidermis und Dermis dargestellt werden. Neben der Identifikation präinvasiver und invasiver Läsionen eignet sich die Fluoreszenzdiagnostik auch für die sog. fluoreszenzgestützte Biopsie, insb. in anbehandelten oder vernarbten Hautgebieten.
9.5.4
Tumormarker
Mit S 100-beta, „Melanoma inhibitory antigen“ (MIA) und Laktatdehydrogenase (LDH) stehen für das maligne Melanom mehrere Marker zur Bestimmung im Serum zu Verfügung. Klinische Einsatzgebiete für S 100-beta und MIA sind die Früherkennung einer Erkrankungsprogression in der Nachsorge klinisch tumorfreier Patienten sowie das Monitoring von Patienten mit Fernmetastasen unter Therapie. Das LDH wird v. a. zum Monitoring und zur Prognoseerstellung nach Erstdiagnose einer Fernmetastase eingesetzt. Keine Indikation zum Einsatz von
102
S 100-beta, MIA und LDH sind allgemeine MelanomFrüherkennungsuntersuchungen oder bei Verdacht auf ein Primärmelanom ohne Metastasierung [5].
Kasuistik Wegen einer dunkel gefärbten Hauterhebung am rechten Oberschenkel stellt sich ein 70-jähriger Patient in der Sprechstunde vor. Die kutane Veränderung bestehe seit vielen Jahren, habe kaum an Größe zugenommen und rufe keinen lokalisierten Juckreiz hervor. Gleichfalls sei an der Läsion bislang keine spontane Blutung bemerkt worden. Früher seien beim Patienten gelegentlich milde Sonnenbrände erfolgt. In der Familie sei kein Fall einer Hautkrebserkrankung bekannt. Makroskopisch zeigt sich am rechten Oberschenkel eine 8 mm durchmessende braun-schwarze Papel mit einer wie gepunzt erscheinenden Oberfläche. Die dermatoskopische Untersuchung zeigt Pseudohornzysten sowie keinerlei Hinweiszeichen für ein malignes Melanom (z. B. Netzabbrüche, irreguläre dots, grau-schwarzer Schleier). Diagnose: pigmentierte seborrhoische Keratose. Therapie: keine.
9.6
Präventionsmaßnahmen
Die Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln sowie der Einsatz verschiedenster Therapiemodalitäten hilft, die Entstehung bzw. die Progression einer präinvasiven malignen Hautveränderung in ein invasives Karzinom sowie eine lokoregionale oder metastatische Ausbreitung eines diagnostizierten Hautkrebses zu verhindern. Bei der Auswahl der Behandlung müssen Gewebeeigenschaften, Stadium, Lokalisation, Lebensalter des Patienten, Begleiterkrankungen sowie Medikamentenunverträglichkeiten Beachtung finden. Nachfolgend werden einige Empfehlungen und Verfahren näher erläutert.
9.6.1
Alimentäre Faktoren
Ethanolhaltige Getränke Alkoholische Getränke sollen durch Beeinträchtigung der Entgiftungsfunktion der Leber sowie Einflussnahme auf das Immunsystem (zellulär, humoral) karzinogene sowie mutagene Veränderungen induzieren. Untersuchungen hinsichtlich der Entstehung von Hautkrebs nach Gebrauch von ethanolhaltigen Getränken kommen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Für das maligne Melanom konnte sowohl ein erhöhtes Entstehungsrisiko (z. B. nach Gebrauch von mehr als 3000 g Alkohol pro Jahr bzw. 10 g pro Tag) als auch eine fehlende Assoziation in verschiedenen Studien aufgezeigt werden. Gleiches gilt für das Basalzellkarzinom. Während das Auftreten eines Plattenepithelkarzinoms im Bereich der Schleimhäute von Cavum oris und weiter aboral nach chronischem Al-
Präventionsmaßnahmen
koholgebrauch als gesichert gilt, fehlen entsprechende Belege für das Hautorgan [5].
Nutritiva Es bestehen Hinweise, dass durch Reduktion des Fettanteils an der aufgenommenen Nahrung sowie durch Zufuhr von antioxidativ wirksamen Stoffen (wie Karotinoide, Retinol, Ascorbinsäure, Tokopherol-Derivate) einer Hauttumorentstehung entgegengewirkt werden kann. Diesbezüglich sind evidenzbasierte Studien mit hohen Fallzahlen zu fordern [5].
9.6.2
Tabakrauch
Offenbar besteht kein Zusammenhang zwischen Nikotinkonsum und der Entstehung eines primären malignen Melanoms, wenngleich Hinweise gefunden wurden, dass Raucher mit einem primären malignen Melanom mit einem höheren Risiko für eine nachfolgende Metastasenbildung behaftet sind. Spinozelluläre Karzinome der Haut, der Übergangsschleimhaut (Lippenrot), sowie der Schleimhäute (wie Cavum oris, Penis, Vulva, Anus) werden statistisch signifikant häufiger bei Rauchern gesehen. Bei Basalzellkarzinomen ist die Datenlage uneinheitlich. Es scheint, dass der Tabakkonsum keinen oder allenfalls einen geringen Einfluss auf die Entstehung dieser Entität hat.
9.6.3
seiner Eigenschutzzeit entspricht. Die Eigenschutzzeit wiederum bezeichnet die Zeit pro Tag, für die man seine nicht gebräunte Haut der Sonne gegenüber exponieren kann, ohne dass es zur Rötung der Haut kommt. Sie hängt vom Hauttyp ab. Hauttyp I hat bspw. eine Eigenschutzzeit von 3 – 10 Minuten, Hauttyp III von 20 – 30 Minuten. Beträgt die Eigenschutzzeit 10 Minuten und wird ein Lichtschutzfaktor von 6 aufgetragen, wäre die Zeitspanne bis zum Auftreten eines Sonnenbrandes auf 60 Minuten verlängert. Hierbei handelt es sich aber nur um eine theoretische Größe, da die optimale Wirkung nur gewährleistet ist, wenn die gleichen Bedingungen erfüllt sind, wie sie unter Laborkautelen bei der Bestimmung des Lichtschutzfaktors berücksichtigt worden sind. So kann eine nicht ausreichende oder nicht gleichmäßig aufgetragene Sonnenschutzcreme den Schutz erheblich vermindern. Gemäß den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Prävention (ADP) sollte gerade am Anfang des Urlaubs auf einen höheren Sonnenschutzfaktor zurückgegriffen und nur 60 % der kalkulierten Besonnungszeit ausgenutzt werden. Für weitere Hinweise zur Prävention sei auf die Homepage der Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Prävention verwiesen [Web1].
Weblinks ● ●
Web1: Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Prävention (ADP): http://www.unserehaut.de Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG): http://www.derma.de/
9
Lichtschutz
Durch das eigene Verhalten (wie „between eleven and three stay under a tree“) kann die UV-Lichtexposition vermindert werden. Wie durch Studien gezeigt wurde, kann hierdurch das Auftreten von aktinischen Keratosen und Plattenepithelkarzinomen verringert werden. Für das Basalzellkarzinom sowie das maligne Melanom stehen klinisch-prospektive Studien, welche die protektive Wirkung von Lichtschutzmitteln hinsichtlich der Tumorentstehung belegen, noch aus [6]. Säuglinge und Kleinkinder sollten nicht der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt werden!
Topika: chemische Filter Diese absorbieren energiereiche UV-Strahlung und geben energieärmere Strahlung in Form von Wärme und Fluoreszenz ab. Beispielhaft für die zahlreichen Filtersubstanzen sei das 2-Hydroxy-4-methoxybenzophenon genannt, welches im UVA- und UVB-Bereich absorbiert. Die Lichtschutzfaktoren geben an, wie viel länger sich ein Mensch theoretisch der Sonne gegenüber bis zum Auftreten eines Sonnenbrandes exponieren kann als es
Lichtschutz-Topika: physikalische Filter Durch mineralische Pigmente wird über eine Reflektion, Streuung und Absorption die UV-Strahlung reduziert. Als Beispiel hierfür sei das Titandioxid genannt, welches UVA- und UVB-Licht absorbiert.
Camouflage Abdeckende, wasser- und abriebfeste Make-ups, welche zur Minimierung von störenden kutanen Farb-, Konturund Texturveränderungen aufgetragen werden, besitzen – entsprechend den oben dargelegten physikalischen Filtersystemen – zusätzlich eine hohe Lichtschutzwirkung [4].
Lichtschutz-Textilien Bei Aufenthalt im Freien in Freizeit und Beruf kann durch das Tragen von geeigneter Bekleidung (z. B. Mütze, Hemd, Hose) der UV-Exposition begegnet werden. Allerdings
103
Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
I
II III IV V VI VII
schützen nicht alle Textilien gleich gut vor dem UV-Licht, und der Einfluss des Gebrauchs unter Praxisbedingungen (z. B. Dehnung des Bekleidungsstücks bei Inkongruenz der gewählten Größe mit der Körperproportion, Verhalten des Bekleidungsstücks nach Feuchtigkeitskontakt) ist bedeutsam. Die Durchlässigkeit eines Textilstücks für UV-Licht wird durch den sog. „Ultraviolet protection factor“ (UPF) angegeben. Eine 100 %ige Transmission des einfallenden Lichts kennzeichnet den UPF 1, eine 20 %ige Transmission den UPF 5, eine 10 %ige den UPF 10, usw. Bei Zunahme der Dichte eines Textilstoffes kann weniger UV-Licht transmittieren, und es resultiert ein erhöhter UPF. Weiterhin ist von Bedeutung, dass der UPF umso höher ausfällt, je dunkler die gewählte Textilfarbe ist. Fasermaterialien wie das Polyethylenterephthalat (PET) vermögen aufgrund ihrer chemischen Struktur (aromatisches Ringsystem) optische Strahlung zu absorbieren. Titandioxid kann darüber hinaus in Form von Mikro- und Nanopigmenten zur Mattierung der Faser eingesetzt werden, was das UV-Absorptionsvermögen steigert. Durch Dehnung, Durchnässung, Abnutzung und Reinigung – um nur einige Alltagsbedingungen zu nennen – kann sich eine Verringerung des UPF ergeben. Dies wird (im Gegensatz zum australisch-neuseeländischen (AS/NZS 4399) und europäischem (EN 13 758) Standard) im UV-Standard 801 abgebildet, welcher den UPF von Bekleidungs- und Beschattungstextilien gerade unter diesen Bedingungen misst [5].
sie auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Peniskarzinomen geimpfter Jungen reduzieren.
9.6.5
Medikamentöse Maßnahmen
Systemische nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR) Über eine Hemmung des induzierbaren Isoenzyms der Cyclooxygenase (Cox-2) soll es zu einer Abnahme von Hautkrebserkrankungen kommen. So mehren sich Hinweise, dass unter einer dauerhaften Einnahme von Acetylsalicylsäure, Celecoxib, Ibuprofen, Diclofenac sowie weiteren NSAR signifikant weniger aktinische Keratosen und Plattenepithelkarzinome entstehen [7]. Weitere Studien müssen die gewonnenen Hinweise bestätigen.
Topische nichtsteroidale Antiphlogistika Diclofenac, ein wie oben bereits dargelegt potenter Cox2-Inhibitor, eingearbeitet in eine Gelgrundlage mit 3 %igem Diclofenac- und 2,5 %igem Hyaluronsäure-Anteil, soll nach topischer Applikation über eine Inhibierung von Tumor-Promotor-Substanzen aktinische Keratosen zur Rückbildung bringen.
Lipidsenker
9.6.4
Besonderheiten bei der Prävention von epithelialen Karzinomen im Genitalbereich
Die zwei wichtigsten präventiven Maßnahmen zur Verhinderung epithelialer Karzinome im Genitalbereich von Mann und Frau sind die im Neugeborenenalter durchgeführte Zirkumzision des Mannes und eine noch vor Aufnahme sexueller Aktivitäten erfolgende Impfung gegen onkogene humane Papillomviren von Frauen. Peniskarzinome sind in ca. 95 % Plattenepithelkarzinome; ungenügende Hygiene, Phimosen, Nikotinkonsum und chronische entzündliche Veränderungen des Penis (z. B. Lichen sclerosus et atrophicus; chronische Balanoposthitis) gelten als Provokationsfaktoren für eine Auslösung. Infektionen mit HPV (Condylomata acuminata) erhöhen das Risiko für das Auftreten eines Peniskarzinoms um den Faktor 3 – 5. Erfolgt die Zirkumzision im Neugeborenenalter, ist das entsprechende Risiko um den Faktor 3 reduziert. Präventive Maßnahmen müssen daher die o. g. Aspekte berücksichtigen. Seit Kurzem stehen in Deutschland auch Impfstoffe gegen einige, z. T. onkogene Typen humaner Papillomviren zur Verfügung. Ihre Wirksamkeit zur Prophylaxe des Zervixkarzinoms ist erwiesen. Noch ist nicht bekannt, ob
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Lipidsenker wie Statine oder Fibrate nehmen durch Beeinflussung des ras-Signaltransduktionswegs Einfluss auf die Entstehung u. a. des malignen Melanoms. Mehrere Studien belegen hierunter einen Trend zur Abnahme der Melanominzidenz, ohne dass allerdings eine statistische Signifikanz erreicht wurde [8].
Retinoide Über eine Hemmung der Zellproliferation, eine Förderung der Zellreifung und eine Apoptose-Induktion können Retinoide bei immunkompetenten als auch bei immunsupprimierten Personen Einfluss auf die Entstehung von Hauttumoren (z. B. Plattenepithelkarzinom) sowie deren Vorläuferläsion (z. B. aktinische Keratose) nehmen. Einschränkend muss erwähnt werden, dass die Abnahme der Inzidenz der präinvasiven und invasiven Neoplasien des Hautorgans durch nicht unerhebliche Nebenwirkungen unter der Behandlung (wie Xerosis cutis, Epistaxis, Hypertriglyzeridämie, Transaminasenanstieg, Effluvium) sowie einer häufig beobachteten Zunahme von aktinischen Keratosen und Plattenepithelkarzinomen bei immunsupprimierten Patienten nach Beendigung der Retinoideinnahme begleitet wird [9].
Präventionsmaßnahmen
Leitlinienbox LL1. Dummer R, Panizzon R, Bloch PH, Burg G. Updated Swiss guidelines for the treatment and follow-up of cutaneous melanoma. Dermatology. 2004;210: 39 – 44.
9.6.6
Topische und chirurgische Maßnahmen
Exzision Dieses klassische Verfahren vermag durch operative Entfernung präinvasiver und invasiver maligner Läsionen ein Voranschreiten der Erkrankung zu verhindern. Nach Desinfektion und lokaler Anästhesie wird in Abhängigkeit von der klinisch diagnostizierten Hautveränderung mit einem Sicherheitsabstand von 2 – 4 mm bei einem dysplastischen Nävus, Erythroplasie Queyrat, Leukoplakie, Basalzell- und Plattenepithelkarzinomen operiert. Für ausgeprägte Läsionen einer Cheilitis actinica kann eine Vermillonektomie erforderlich werden. Für das maligne Melanom sind die zu wählenden Sicherheitsabstände Gegenstand der Diskussion. Bei einem Melanoma in situ wird ein Sicherheitsabstand von 5 mm empfohlen (Evidenzgrad III), 10 mm bei einer Melanomdicke von bis zu 2 mm (Evidenzgrad II), 20 mm bei einer Dicke von > 2 mm (Evidenzgrad III, [LL 1]. Falls möglich sollten Metastasen der Haut und der inneren Organe zur Reduktion der Tumormasse entfernt werden. Für das maligne Melanom ist nach Dummer et al. [LL 1] die Operation Mittel der Wahl bei wenigen Intransit-Metastasen (Exzision; Evidenzgrad III), lokoregionaler Lymphknotenbefall (radikale Lymphadenektomie; Evidenzgrad III), solitären ZNS- und Lungenherden (Exzision; Evidenzgrad III).
Wächterlymphknotenbiopsie Bei malignen Melanomen > 1 mm Tumordicke wird mittels läsionaler Applikation von 99mTechnetium und/oder Patentblau V (E 131) der erste drainierende Lymphknoten markiert, exzidiert und histologisch untersucht (Evidenzgrad III, [LL 1]). Bei Tumorfreiheit können andere Lymphknotenmetastasen nahezu ausgeschlossen werden. Bei positivem Befall wird eine En-bloc-Resektion der drainierenden Lymphknotenloge empfohlen. Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass es nicht klar ist, ob bei Nachweis einer Mikrometastasierung im Wächterlymphknoten die radikale Lymphadenektomie einen prognostischen Vorteil erbringt [LL 1]. Ob und unter welchen Bedingungen auch für das Plattenepithelkarzinom entsprechende Verfahren sinnvoll eingesetzt werden können, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Aufarbeitung [10].
LL2. Elsner P, Hölzle E, Diepgen T et al. Täglicher Lichtschutz in der Prävention chronischer UV-Schäden der Haut. Leitlinien der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). 2005. [s. a. Web2]
Kürettage Nach Desinfektion und lokaler Anästhesie kann mittels einer ringartigen oder oval geformten Kürette eine aktinische Keratose abgetragen werden. Das abgetragene Gewebe steht der feingeweblichen Analyse zur Verfügung. Die Blutstillung kann mit topischer Eisen(III)-Chlorid(FeCl3-) Applikation erfolgen. Aufgrund der geringen Eindringtiefe ist das kosmetische Ergebnis – eine komplikationsfreie Wundheilung vorausgesetzt – zumeist hervorragend.
Laserung Mittels ablativer Behandlung (z. B. CO2-Laser) können prämaligne Läsionen wie aktinische Keratosen, Cheilitis actinica, Erythoplasie Queyrat oder Leukoplakien angegangen werden. Nachteil dieses Behandlungsmodus ist der fehlende histologische Nachweis bezüglich der Dignität der Läsion sowie einer vollständigen Abtragung (Fragestellung: in sano?). Eine örtliche Betäubung ist meist erforderlich.
9
Kryochirurgie Die kontrollierte Kälteanwendung bewirkt eine schichtweise Nekrose läsionaler Haut. Eine örtliche Betäubung ist entbehrlich. Das kosmetische Ergebnis – eine komplikationsfreie Wundheilung vorausgesetzt – ist zumeist günstig. Als nachteilig müssen die fehlende histopathologische Aufarbeitung (Dignität, in sano?), der Kälteschmerz sowie mögliche Hyper- und Hypopigmentierungen angemerkt werden. Zur Anwendung kommt dieses Verfahren bei aktinischen Keratosen, Lentigo maligna, Erythroplasie Queyrat und initialen Basalzell- und Spinalzellkarzinomen.
Elektrochirurgie Nach lokaler Anästhesie kann durch Dehydrierung von oberflächlichen Hautzellen eine Destruktion der Läsion erzielt werden. Verwendet werden Hochspannungen (≥ 2000 Volt) mit niedriger Stromstärke (100 – 1000 mA). Domäne dieses Verfahrens ist die Behandlung aktinischer Keratosen. Eine histopathologische Aufarbeitung der behandelten Läsion ist gleichfalls nicht möglich (Dignität, in
105
Hautkrebs: Früherkennung und Prävention
sano?). Beschränkt sich die gewählte Behandlungstiefe auf die Epidermis, so ist mit einer kosmetisch ansprechenden Wundheilung zu rechnen.
Peeling
I
II
Die topische Applikation von Trichloressigsäure, Glykolsäure und anderer Säuren vermag großflächige aktinische Keratosen zu beseitigen. Eine histopathologische Aufarbeitung der behandelten Läsion ist gleichfalls nicht möglich (s. o.). Beschränkt sich die gewählte Behandlungstiefe auf die Epidermis, so ist mit einer kosmetisch ansprechenden Wundheilung zu rechnen.
III Dermabrasio
IV V VI VII
Hochtourige Fräsen vermögen nach örtlicher Betäubung aktinische Keratosen abzutragen. Eine histopathologische Aufarbeitung der behandelten Läsion ist nicht möglich (s. o.). Beschränkt sich die gewählte Behandlungstiefe auf die Epidermis, so ist mit einer kosmetisch ansprechenden Wundheilung zu rechnen.
Topische Immunmodulatoren: Imiquimod Durch Interaktion mit den Toll-like-Rezeptoren 7 und 8 wirkt Imiquimod als Immunstimulator. Die Substanz besitzt eine Zulassung für die topische Behandlung von Condylomata acuminata im Genital- und Perianalbereich sowie kleiner superfizieller Basalzellkarzinome bei Erwachsenen. Auch aktinische Keratosen gehören zu den in Studien gut belegten Indikationen, wenngleich eine Zulassung hierfür in Deutschland nicht besteht. Nach histologischer Sicherung der Diagnose wird die Creme üblicherweise 3-mal pro Woche für 12 Stunden appliziert. Nachfolgend tritt eine z. T. ausgeprägte Entzündungsreaktion auf, auf welche der Patient ausdrücklich hingewiesen werden sollte. Die Behandlungsdauer beträgt mehrere Wochen. Die Kosten für dieses Topikum sind nicht unerheblich. Wenngleich auch melanozytäre Neoplasien erfolgreich mit Imiquimod behandelt werden konnten (z. B. Lentigo maligna, Melanommetastasen), so müssen in weiteren Studien Kriterien für einen wirkungsvollen und sicheren Einsatz erarbeitet werden (z. B. Tiefenausdehnung der Lokalisation, [6]).
eine Hemmung der Thymidylatsynthetase blockiert. Für den Patienten nachteilig erscheint die z. T. heftig verlaufende Entzündungsreaktion, welche als Indikator einer erfolgreich durchgeführten Behandlung angeführt wird. Ein weiteres Anwendungsgebiet der topischen 5-FU-Applikation sind oberflächliche Basalzellkarzinome, wenngleich in Deutschland die Indikation auf nicht operable bzw. nicht bestrahlbare Tumoren eingeschränkt ist.
Röntgentherapie Nach histologisch gesicherter Diagnose, bei Patienten über 65 Jahren sowie erkennbaren Vorteilen gegenüber einer operativen Versorgung (z. B. anatomische Lokalisation der Läsion, Allgemeinzustand des Patienten, Operationsablehnung durch den Patienten) kann bei einer Lentigo maligna, Erythroplasie Queyrat sowie Basalzell- und Plattenepithelkarzinomen eine sog. Röntgenweichstrahltherapie (z. B. Dermopan) eingesetzt werden. Das kosmetische Ergebnis – eine komplikationsfreie Wundheilung vorausgesetzt – ist zumeist hervorragend. Nachteilig ist die Möglichkeit einer radiatioinduzierten Neoplasie im Bestrahlungsfeld viele Jahre nach Durchführung der Maßnahme [4]. Zur Verhinderung einer weiteren Metastasenabsiedelung beim malignen Melanom wird bei In-transit-Metastasen, lokoregionalem Lymphknotenbefall (bei inkompletter Resektion) sowie bei solitären ZNS- und schmerzhaften Knochenmetastasen eine Bestrahlung (zumeist mit schnellen Elektronen) durchgeführt.
Extremitätenperfusion, Chemotherapie, Interferontherapie Bislang konnten Extremitätenperfusion und Chemotherapie (z. B. Dacarbazin) bei Hochrisikomelanomen (Tumordicke > 4 mm) keinen signifikanten Zuwachs des postoperativen rezidivfreien Zeitraums und der Überlebensrate zeigen. Möglicherweise – wie einige Studien belegen – vermag eine adjuvante Interferonbehandlung bei Hochrisikomelanomen und Lymphknotenmetastasen eine signifikante Verbesserung der Überlebensrate zu erzielen, wenngleich nicht unerhebliche Nebenwirkungen (z. B. grippeähnliche Symptome mit Körpertemperaturerhöhung, Kopf- und Gliederschmerzen) auftreten können. Weitere diesbezügliche Studien in Form von randomisierten Untersuchungen sind zu fordern.
Topische Antimetaboliten: Fluorouracil Bei großflächiger Aussaat von aktinischen Keratosen hat sich die topische Applikation von fluorouracilhaltigen Topika (5-FU) bewährt. Vorteilhaft hierbei ist die Mitbehandlung subklinischer aktinischer Keratosen durch den Pyrimidinantagonisten, welcher die DNS-Synthese über
106
9.7
Nachsorge
Da 90 % der Metastasen innerhalb der ersten 5 Jahre nach diagnostischer Sicherung des primären Melanoms auftreten, werden – in Abhängigkeit von der Tumordicke sowie
Nachsorge
weiterer prognostischer Parameter – für diesen Zeitraum Nachsorgeuntersuchungen empfohlen, um Rezidive, Zweittumoren sowie Metastasen früh zu erkennen und zu behandeln (Evidenzgrad III). Inhaltliche und zeitliche Vorgaben entsprechen der interdisziplinären Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft [5] oder der Schweizer Krebsliga [LL 1]. Die Nachsorge beinhaltet die körperliche Untersuchung einschließlich Dermatoskopie (Evidenzgrad III), Lymphknotensonografie (Evidenzgrad III), Blut- (z. B. S100-beta; Evidenzgrad V) sowie weitere bildgebende Untersuchungen (CT-Thorax, CT-Abdomen [Evidenzgrad IV], CT- bzw. MRT-Schädel, PET [Evidenzgrad IV]) [LL 1, 5]. Für eine Tumordicke < 1 mm werden bildgebende Untersuchungen im Rahmen der routinemäßig durchgeführten Nachsorge nicht gefordert.
?
Häufige Fragen
Können Besuche eines Solariums die Entstehung von Hautkrebs fördern? ● Ja. Soll man Hautveränderungen, welche an ein malignes Melanom erinnern, mittels Lasertherapie entfernen? ● Nein, da der Laser das Gewebe zerstört, ohne dass eine exakte dermatohistologische Einordnung erfolgen kann. Eine Aussage, ob sämtliche Tumorzellen entfernt werden konnten, ist nicht möglich. Auf einem lange bestehenden bräunlichen Fleck hat sich nunmehr ein kleiner, schwärzlicher Fleck ausgebildet. Darf dieser schwärzliche Fleck mittels Exzisionsbiopsie entfernt und histopathologisch untersucht werden, ohne dass nachteilige Folgen für den Patienten durch diese Biopsie befürchtet werden müssen? ● Ja. Ein Elternteil ist an einem malignen Melanom erkrankt. Haben Kinder aus dieser Beziehung ein erhöhtes Risiko, gleichartige Läsionen zu entwickeln? ● Ja. Eine Hautbiopsie erbringt den histopathologischen Befund „malignes Melanom, nicht in sano.“ Wie viele Wochen dürfen bis zur Nachexzision maximal vergehen, ohne nachteilige Folgen für den Patienten befürchten zu müssen? ● 4 bis 6 Wochen. Ein hautgesunder Patient möchte wissen, welche Tumormarker für Hautkrebs routinemäßig bei ihm im Blut untersucht werden sollten, um beginnende kutane Malignome rasch zu erfassen.
●
Derzeit steht für diese Fragestellung kein Tumormarker zur Verfügung.
Wie lange vor Erreichen des Badestrandes soll eine Lichtschutzcreme mit chemischem Filtersystem aufgetragen werden, um einen effektiven Lichtschutz zu erzielen? ● 20 bis 30 Minuten. Nachdem ich mein Kind durch Auftragung einer Lichtschutzcreme mit physikalischem Filter beim Strandaufenthalt geschützt hatte, sah das Kind wie ein „Gespenst“ aus. Gibt es physikalische Lichtschutzcremes ohne die weißliche Tingierung der Haut? ● Nein. Vorteil der weißlichen Tingierung: man sieht sofort die Hautareale, welche beim Eincremen nicht mit Lichtschutzcreme versorgt wurden. Kann auf einer Narbe ein Plattenepithelkarzinom entstehen? ● Ja. Kann innerhalb eines Beinulkus ein Plattenepithelkarzinom entstehen? ● Ja.
Literatur 1. Mayer J. Systemic review of the diagnostic accuracy of dermatoscopy in detecting malignant melanoma. Med J Austr 1997;167: 206 – 10. 2. Kerl H. Diagnose und Therapie dysplastischer melanozytärer Nävi: Schluss der Debatte. In Plewig G, Degitz K (Hrsg.) Fortschritte der praktischen Dermatologie und Venerologie 2000. Berlin: Springer; 2001. 3. Elder D, Elenitsaas R, Jaworsky C, Johnson B Jr. Lever’s histopathology of the skin, 8th ed. Philadelphia: LippincottRaven; 1997. 4. Köhn FM, Ring J. Fallstricke und Fehlerquellen in der Dermatologie. Wien: Springer; 2003. 5. Reinhold U, Breitbart E. Hautkrebsprävention. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft; 2007. 6. Gallagher RP. Sunscreens in melanoma and skin cancer prevention. CMAJ 2005;173: 244 – 5. 7. Butler GJ, Neale R, Green AC et al. Nonsteroidal anti-inflammatory drugs and the risk of actinic keratoses and squamous cell cancers of the skin. J Am Acad Dermatol 2005: 53: 966 – 72. 8. Demierre MF, Merlino G. What about chemoprevention for melanoma? Curr Opin Oncol 2006;18: 180 – 4. 9. Kovach BT, Sams HH, Stasko T. Systemic strategies for chemoprevention of skin cancers in transplant recipients. Clin Transplant 2005; 19: 726 – 34.1 10. Wehner-Caroli J, Breuninger H. „Sentinel node“-Biopsie (SNB) bei Plattenepithelkarzinom mit erhöhtem Metastasierungsrisiko. Z Hautkr 2000;75: 300f.
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Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose
10 Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose D.H.W. Grönemeyer, Y. K. Maratos, S. Schirp, T. Hinrichs, P. Platen
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Das Wichtigste in Kürze Ziel des Check-Ups in der Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen ist die frühzeitige Erkennung von Dysfunktionen des Bewegungsapparates durch die sorgfältige Analyse des Bewegungsverhaltens eines (noch) nicht erkrankten Menschen. Zentrale Punkte sind ● das Arzt-Patienten-Gespräch und die körperliche Untersuchung als Grundsäulen des Check-Ups und ● Information und Bewegung als zentrale Elemente des Vorsorgeprogramms muskuloskelettaler Erkrankungen. Hierbei gilt: ● Unspezifische Schmerzen des Bewegungsapparates sind ungefährlich! Sie erfordern in der Regel keine Intervention. ● Röntgen ist eine Intervention! Ohne Indikation ist keine Intervention notwendig. Was ist zu tun? ● Erkennen Sie Dysfunktionen des Bewegungsapparates und die Zusammenhänge und Auswirkungen auf andere Körperregionen. ● Evaluieren Sie Risikofaktoren (z. B. im Hinblick auf Osteoporose). ● Bewegung ist der Kern der Prävention. Nehmen Sie dem Patienten die „Angst vor Aktivität“. ● Formulieren Sie Ziele (z. B. Stärkung einer bestimmten Muskelgruppe, Entlastung am Arbeitsplatz).
10.1 Erhaltung der muskuloskelettalen Funktion Die Erhaltung der Funktion des Bewegungsapparates ist das primäre Ziel der Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen. Aufgrund der demographischen Veränderungen und zunehmender körperlicher Inaktivität im westlichen Kulturkreis kommt es zu einer Zunahme der Erkrankungen des Bewegungsapparates. Wir alle haben das Bedürfnis, bis ins hohe Alter aktiv sein zu können. Voraussetzung dafür ist ein gut funktionierendes MuskelSkelett-System. In diesem Zusammenhang gewinnt der Stellenwert der Vorsorge an großer Bedeutung. Ein Präventionsprogramm schließt einen sog. CheckUp, auch bei asymptomatischen Patienten, ein, bei denen es primär darum geht, Prädispositionen für eine verfrühte Degeneration der Wirbelsäule und der Gelenke
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zu erkennen. Patienten mit länger anhaltenden Beschwerden müssen gezielt beraten werden und entsprechend diagnostisch und therapeutisch betreut werden. Letztendlich ist es Aufgabe des Arztes, dem Patienten eine Anleitung zur Eigeninitiative bereitzustellen und zu motivieren, an der Präventionsarbeit aktiv mitzuwirken.
10.2 Epidemiologie der Wirbelsäulenund Gelenkerkrankungen sowie der Osteoporose Nach koronaren Herzkrankheiten und zerebrovaskulären Erkrankungen rangierten im Jahr 2000 laut WHO (World Health Organization) die Erkrankungen des Bewegungsapparates auf dem dritten Platz der Rangliste „Verlust von Lebensqualität“. Die Erkrankungen des Bewegungsapparates sind unter den chronischen Krankheiten mit dem höchsten Verlust an Lebensqualität verbunden. Das weltweit erhöhte Vorkommen muskoskelettaler Erkrankungen hat die WHO dazu veranlasst, den Jahren 2000 bis 2010 eine Dekade der Knochen und Gelenke zu widmen. Dabei nehmen unter den über 150 Krankheitsbildern die Osteoporose, Erkrankungen der Gelenke, Gelenkschmerzen, Erkrankungen des Rückens und Rückenschmerzen aufgrund ihrer Häufigkeit eine besondere Stellung ein [1]. Die Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerz beträgt für Menschen aus den westlichen Industrieländern 60 – 90 % [2]. Für den erwachsenen Deutschen liegt sie bei etwa 80 % [3]. In nahezu allen Leistungsstatistiken des Gesundheitswesens sind Rückenschmerzen in den oberen Plätzen der Gesundheitskosten zu finden (Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitation, Berentung wegen Erwerbsunfähigkeit, [4]). Epidemiologische Studien zur Arthrose (engl. auch „osteoarthrosis“) können sehr unterschiedliche Ergebnisse zeigen. Im Zwischenergebnis der Herner Arthrose-Studie (HER-AS) hatten mehr als die Hälfte der befragten Personen akute Gelenkbeschwerden. Die Daten der Studie weisen darauf hin, dass Gelenkschmerzen in Deutschland zu den häufigsten Krankheitssymptomen bei Menschen über 40 Jahren zählen. Dabei nehmen Knieschmerzen mit etwa einem Drittel vor den Hüftbeschwerden den größten Anteil ein. Laut WHO hat die Arthrose bei Erkrankungen des Bewegungsapparates den größten Anteil [5].
Pathogenese der Rückenschmerzen, Gelenksarthrose und Osteoporose
Die Zahl der Menschen mit Osteoporose ist ebenfalls steigend. Dies hängt mit der im Allgemeinen steigenden Lebenszeit zusammen. In Deutschland waren im Jahre 2003 7,8 Mio. Menschen (davon 6,5 Mio. Frauen) von Osteoporose betroffen. 4,3 % dieser Menschen haben bereits mindestens eine Fraktur erlitten, nur 21,7 % wurden wegen ihrer Osteoporose medikamentös behandelt [6]. Aufgrund dieser epidemiologischen Daten werden die Wichtigkeit und der besondere Stellenwert des CheckUps im muskuloskelettalen Bereich deutlich.
Tabelle 10.2 Ursachen radikulärer und nichtradikulärer Schmerzen. Radikuläre Schmerzen (Symptomatik entlang des Dermatoms einer Nervenwurzel): ● Diskusprotrusion oder -prolaps, Sequester ● Spinalkanalstenose, Stenose des Recessus lateralis, Spondylolisthesis ● postoperative Vernarbungen Nichtradikuläre Schmerzen: Facettengelenksdegeneration/-entzündung (Spondylarthrose) ● Degeneration/Entzündung des Iliosakralgelenks (ISG) ● Bandapparat (funktionelle Ungleichgewichte wie z. B. Verkürzungen der Fascia thoracolumbalis) ● weitere diskogene Ursachen (Chondrosen, Osteochondrosen) ●
10.3 Pathogenese der Rückenschmerzen, Gelenksarthrose und Osteoporose ●
10.3.1 Rückenschmerzen Bedingt durch die funktionelle Einheit von Bandscheiben, Wirbelgelenken, ossären und ligamentären Strukturen und des Muskelapparates sind die Ursachen von Rückenschmerzen vielfältig und nehmen meist mit zunehmender Chronifizierung an Komplexität zu: Dabei müssen pathologische und degenerative Prozesse an der Wirbelsäule nicht zwingend auch zu Rückenschmerzen führen (Tab. 10.1). Treten Beschwerden auf, kann eine grobe Einteilung in radikuläre und nichtradikuläre Schmerzen helfen, die spezifischen Beschwerden zu differenzieren (Tab. 10.2). Dabei ist zu beachten, dass etwa nur 5 % aller Rückenschmerzen eine radikuläre Ursache haben. Im Allgemeinen können Rückenschmerzen ● funktionell (z. B. Haltungsinsuffizienzen, muskuläre Dysbalancen, segmentale Funktionsstörungen) in 70 % der Fälle, ● degenerativ (z. B. bei Spondylarthrosen, Bandscheibendegenerationen [Chondrosen, Osteochondrosen], Protrusionen oder Bandscheibenvorfälle) in 15 % der Fälle,
entzündlich (z. B. bei Spondylodiszitis) in < 1 %, metabolisch (z. B. bei Osteoporose) in 4 %, ● traumatisch (z. B. bei Wirbelkörperfrakturen) in < 1 % der Fälle und ● psychosozial (häufig in Kombination) bedingt sein. ●
Der Mangel an ausreichender Bewegung, ist ebenfalls ein wichtiger prädisponierender Faktor für Rückenbeschwerden, sowohl bei jungen Patienten, wie auch bei älteren Bevölkerungsschichten. Ein effektiver präventiver Ansatz kann die zunehmende Chronifizierung von Rückenbeschwerden verhindern. Die relativ lange „Anlaufzeit“ insbesondere unspezifischer Rückenbeschwerden ermöglicht es, gezielt dem Kreislauf der Genese von Rückenbeschwerden vorzubeugen (Abb. 10.1).
Stress, Fehlhaltung, Überlastung
1 2
degenerativer Prozess
Tabelle 10.1 Ursachen für vorzeitigen Verschleiß an der Wirbelsäule. ●
● ● ● ● ●
anatomische Fehlstellungen, Anomalien (angeboren, nach Trauma oder degenerativ) – Skoliose, Schon- und Fehlhaltungen – Spondylolisthesis: durch Lyse der Pedikel (angeboren oder erworben) oder degenerativ durch Spondylarthrose (Facettengelenksarthrose) muskuläres Ungleichgewicht und Asymmetrien der paravertebralen Muskulatur Beinlängendifferenz (anatomisch oder funktionell) Beckenschiefstand schwere körperliche Arbeit, sportliche Betätigungen berufsbedingte Fehlhaltungen
Belastung von Wirbeln und Gelenken durch mangelnden Tonus der Muskeln
Anspannung einzelner Muskelgruppen
Schmerzen 9
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3
Verkrampfung
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6 Tonusverlust des Muskels
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Unterversorgung eines Muskels
Atrophie der Muskulatur
Abb. 10.1 Vertebraler Circulus vitiosus.
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Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose
10.3.2 Arthrose
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Die Arthrose ist eine degenerative Erkrankung, bei der die mechanische Abnutzung des Gelenkknorpels im Vordergrund steht. Arthrose wird daher allgemein als eine Erkrankung des höheren Lebensalters angesehen. Allerdings sind z. B. auch bereits bei 5 % der 35 – 54-jährigen Bevölkerung röntgenologische Zeichen einer Kniegelenksarthrose nachzuweisen. Bei jungen Menschen entsteht die Arthrose in der Regel auf dem Boden angeborener Gelenkfehlstellungen (z. B. Hüftdysplasien, Varus- oder Valgusfehlstellungen der Kniegelenke) oder erworbener Gelenkschäden (z. B. Kreuzbandrupturen und nachfolgende Gelenkinstabilität, Meniskusrisse bzw. -resektionen). Wenn diese anatomischen Fehlstellungen und Verletzungen des Bewegungsapparates nicht muskulär kompensiert werden können, resultiert – getriggert über einen Entzündungsvorgang im Gelenk und den periartikulären Muskelansätzen – ein chronischer Schmerz. Als Folge führt der Schmerz zur Immobilisation, Fehl- und Schonhaltung und zu Muskelatrophien (gleicher Mechanismus bei Rückenschmerzen). Deshalb muss bei der klinischen Untersuchung, wie im folgenden Kapitel weiter ausgeführt, besonders auf muskuläre Asymmetrien geachtet werden. Die entscheidende Größe ist dabei stets das Verhältnis zwischen Beanspruchung und Belastbarkeit eines Gelenkes. Dies ist für die Entstehung einer Arthrose entscheidend. Somit kann es auch durch repetitive Mikrotraumen, die im Training und bei Wettkämpfen von Hochleistungs- und Freizeitsportlern auf das Gelenk einwirken, zu vorzeitigem Verschleiß kommen. Hier ist in besonderem Maße im Training auf eine ausreichende muskuläre Stabilisierung der besonders beanspruchten Strukturen (Gelenke und Wirbelsäule) zu achten. Durch falsche bzw. gesteigerte Beanspruchung von Gelenken kommt es zu einer verfrühten Knorpelabnutzung (Abb. 10.2).
Überlastung (harte körperliche Belastung, Sport) repetitive Mikrotraumen
Knorpelschaden
muskuläre Ungleichgewichte und Asymmetrien (z. B. des M. vastus medialis Knorpelbei chronischer Gonalgie degeneration aufgrund einer Distorsion des medialen Kollateralbandes; Asymmetrien des Schultergürtels)
Adipositas genetische Faktoren
anatomische Fehlstellungen (Achsenfehlstellung)
Verletzungen, z. B. mit sekundären Fehlstellungen Arthrose
Abb. 10.2 Entstehung von Arthrose.
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systemische Erkrankungen
Diese und die in der Tab. 10.1 (S. 109) dargestellten Ursachen von verfrühter Degeneration des Bewegungsapparates sollten bei der klinischen Untersuchung des Patienten berücksichtigt werden. Auch intrinsische Faktoren, wie rheumatische Erkrankungen, können ursächlich sein (M. Bechterew, rheumatoide Spondylarthritis, M. Reiter etc.) und müssen deshalb in der Eingangsuntersuchung gezielt erfragt werden (vgl. Anamnese und körperliche Untersuchung). Generelle Übersäuerung des Körpers (ernährungsbedingt oder durch anaerobes Training) kann den Abbau von Toxinen verlangsamen und degenerative Prozesse schneller vorantreiben. Diese Theorie wird sowohl im Bereich der Naturheilverfahren und der Leistungsphysiologie vertreten. Einseitige Ernährung mit vermehrter Zufuhr von Eiweiß, Zucker oder weizenhaltigen Produkten weisen auf eine Übersäuerung des Gewebes hin.
10.3.3 Osteoporose Die Osteoporose ist definiert als eine systemische Skeletterkrankung, die durch einen Mangel an normal mineralisiertem Knochengewebe charakterisiert ist. Sowohl Knochenmasse als auch Knochenqualität sind reduziert, was eine erhöhte Knochenbrüchigkeit mit sich bringt. Nach dem 35. Lebensjahr nimmt bei jedem Menschen die Aktivität der knochenbildenden Zellen und somit die Knochenmasse ab. Prävention von Osteoporose beginnt also bereits in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter mit der Förderung einer möglichst hohen maximalen Knochenmasse. Zu beachtende Risikofaktoren für die spätere Entwicklung einer Osteoporose und Ursachen von Osteoporose sind ● positive Familienanamnese, ● genetische Faktoren, ● weibliches Geschlecht, Mangel an Sexualhormonen, ● Östrogenmangel (Menopause oder Ovarialinsuffizienz), ● Alter, ● Medikamente (wie eine systemische Kortikoidtherapie), ● exogene Toxine (Nikotin), ● niedriges Körpergewicht, ● Mangel an Vitamin D und Kalzium (ernährungsbedingt oder gestörte Resorption bei gastrointestinalen Erkrankungen) sowie ● körperliche Inaktivität oder Minderbeanspruchung. In bestimmten Fällen kann sich sehr hohe körperliche Aktivität wiederum negativ auswirken. Insbesondere bei Hochleistungssportlerinnen in Ausdauersportarten, bei denen das Körpergewicht einen leistungsbegrenzenden Faktor darstellt (z. B. Laufen, Triathlon), kommt den medizinischen Betreuern eine besondere Verantwortung in der Ernährungssteuerung zu (Zufuhr von Kalzium, Vitamin D). Eine besonders gute Entwicklung der Knochenmasse wird bei Sportlern in Kraftsportarten und Mann-
Muskuloskelettale Diagnostik in der Prävention
schaftssportarten beobachtet. Axiale Krafteinwirkung, Biegekräfte und Sehnenzug am Knochen werden hierbei als die entscheidenden Stimuli für die Entwicklung der Knochenmasse angesehen. Nicht zu vernachlässigen sind sekundäre Osteporosen, die durch exogen zugeführte Medikamente verursacht werden (Hochdosis-Kortison bei Asthma bronchiale oder Autoimmunerkrankungen). Zu den primären Osteoporosen sind auch Erkrankungen wie Osteogenesis imperfecta zu zählen, bei denen genetisch bedingt die Kollagensynthese gestört ist. Die Minderung des Knochenmineralgehaltes führt besonders an der Wirbelsäule zu Deformitäten und veränderten mechanischen Belastungen der anatomischen Strukturen, insb. den Facettengelenken. Schonhaltungen und muskuläre Ungleichgewichte führen dann sekundär zu Schmerzen (vgl. Abb. 10.2).
10.4 Muskuloskelettale Diagnostik in der Prävention 10.4.1 Klinische Untersuchung in der Prävention Kern der Präventionsarbeit, wie auch bei allen medizinischen Maßnahmen, ist das Arzt-Patienten-Gespräch, welches ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten aufbaut und die danach durchgeführte klinische Untersuchung. Erkennen Sie relevante Ressourcen und binden Sie sie in die Präventionsarbeit ein! Eine detaillierte Erfassung (Assessment) des Ist-Zustandes und eine klare Definition von Zielen sind die Voraussetzungen für das Aussprechen geeigneter Empfehlungen (Assignment) und die spätere Verlaufsbeurteilung (Evaluation).
Anamnese Beim Erstkontakt sollten in der präventiven Anamneseerhebung folgende Punkte besondere Beachtung finden: ● Grund der Vorstellung, Erwartungen und Ziele des Patienten ● aktuelle Beschwerden, vorangegangene Erkrankungen, Rekonvaleszenzphase(n) und Operationen ● Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel ● Allgemeinsymptome (Schlaf, Appetit) ● Sozialanamnese inklusive Erfassung der körperlichen Aktivität bzw. Belastung im Beruf, Erfassung der familiären Situation ● Risikofaktoren (Rauchen, Alkohol, familiäre Vorgeschichte hinsichtlich Osteoporose und rheumatischer Erkrankungen) ● detaillierte Erfassung der körperlichen Aktivität (Stunden und Intensität pro Woche) im Sport (Joggen,
● ●
Schwimmen, Zugehörigkeit zu Vereinen), sowie bei Freizeitbeschäftigungen (Wandern), Haus- und Gartenarbeit Erfassung von Ernährungsgewohnheiten und des Gewichtsverlaufs Regelmäßigkeit der Menstruation, Zeitpunkt der letzten gynäkologischen Kontrolle
Klinische Untersuchung des Bewegungsapparates Die Inspektion des Patienten erfolgt im entkleideten Zustand und gibt dem Arzt die Möglichkeit, folgende Parameter auf einen Blick zu erfassen: ● normale Körperstellung, Haltung ● muskuläres Ungleichgewicht ● Asymmetrien ● Oberflächenkonturen ● Beweglichkeit Die Inspektion ist zusammen mit dem Gespräch das Schlüsselelement der Untersuchung. Durch die Beurteilung von Haltung und die Haltungsqualität werden muskuläre Ungleichgewichte deutlich, die möglicherweise die aktive Rumpfaufrichtung, sowohl im Stand wie auch beim Gehen beeinträchtigen können. Die Stabilität des Rumpfes („core stability“ im Englischen) wird gerade bei Sportlern gezielt gefördert und trainiert. Wenn sie fehlt oder eingeschränkt ist, kann dies zur verfrühten Degeneration des Bewegungsapparates führen. Bei der klinischen Untersuchung eines Menschen, der sich unter präventiven Gesichtspunkten vorstellt und beschwerdefrei ist, sollten die in Tab. 10.3 dargestellten Punkte, neben Größe, Gewicht und Body-Mass-Index (BMI), abgearbeitet und dokumentiert werden [6]. Die Funktionsprüfung der entsprechenden Körperregionen muss danach erfolgen. In Tab. 10.4 ist die gezielte Untersuchung der Wirbelsäule dargestellt. Wenn Problemzonen erkannt werden, sollte eine gezielte Untersuchung dieser Körperregionen erfolgen. Das Bewegungsausmaß (nach der Neutral-Null-Beurteilung) der Gelenke und muskulärer Tonus müssen dokumentiert werden. Bei neurologischen Auffälligkeiten sollte man eine orientierte neurologische Untersuchung durchführen (Prüfung der Sensibilität, Motorik und der Reflexe). Bei vorangegangenen Operationen am Bewegungsapparat können Einschränkungen des Bewegungsausmaßes entstehen, die zwar primär nicht zu Schmerzen führen, aber im Rahmen von Aktivität oder Überlastung zu schnellerer Degeneration und somit zu verfrühten arthrotischen Veränderungen führen können. Deshalb sollte gerade „auffälligen“ (voroperierten, schmerzhaften, funktionell eingeschränkten) Gelenken besonderes Augenmerk geschenkt werden.
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Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose
Tabelle 10.3 Klinische Untersuchung des Patienten. Inspektion: Haltungsbeurteilung, Haltungsvarianten (Haltungsinsuffizienzen) – Becken-, Schultergürtelstellung – Achsenstellung der Extremitäten – Stellung des Kopfes (Protraktion?) ● Formensymmetrie des Rumpfes und Haltungskriterien – Wirbelsäulenform (z. B. Kyphose bei Osteoporose, Skoliose) – Fehlhaltungen – Fuß-, Gelenkstellung ● Gangbeurteilung ● Entzündungszeichen im Gelenkbereich (Erguss, Kapselschwellung, Rötung, Überwärmung, Schmerz) ● Beinlängendifferenz (anatomisch oder funktionell) ●
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Palpation: Stabilitätstests (gegen die Kraft des Untersuchers) muskulärer Tonus Reibephänomene an Gelenken Druck- oder Klopfschmerz der Processus spinosi, der paravertebralen Muskulatur, der ISG, der Triggerpunkte der Wirbelsäule sowie der Gelenke ● Verschieblichkeit des Bindegewebes (bei Reizzuständen verklebt) ● ● ● ●
Tabelle 10.4 Funktionsprüfung der Wirbelsäule. ● ● ● ●
●
● ●
Entfaltbarkeit der Wirbelsäule bei normaler Rumpfbeugung Finger–Boden-Abstand bei Vorneigung des Rumpfes Wirbelsäulenkrümmungen in allen Ebenen (Seit-, Rückneigung) BWS-Vorneigung (Zeichen nach Ott): Dehnung der Haut von 30 auf 32 – 34 cm gemessen vom HWK 7 (Processus spinosus) nach kaudal Lendenwirbelsäulenvorneigung (Schober-Zeichen): Dehnung der Haut von 10 auf 15 – 16 cm, gemessen vom Processus spinosus von S 1 nach kranial Vorneigung der HWS: Kinn-Sternum-Abstand (0 cm) Funktionsstörung der ISG: Bei einseitiger Hypomobilität im ISG kann bei Rumpfvorbeugung das Os sacrum auf dieser Seite gegenüber dem Os ilium nicht nach kranial gleiten. Dieses Phänomen kann über die Spinae iliacae dorsales craniales als sog. „Vorlaufphänomen“ am stehenden oder sitzenden Patienten palpiert werden.
Testverfahren Das Assessment der muskuloskelettalen Leistungsfähigkeit kann durch verschiedene Testverfahren ergänzt werden. Tests bieten die Möglichkeit, die Leistungskomponenten Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Flexibilität und Koordination zu quantifizieren. Je nach Alter und Leistungsstand des Patienten sind sinnvolle Testverfahren auszuwählen. Unter präventiven Gesichtspunkten kommt zum Beispiel der Leistungskomponente „Schnelligkeit“ wenig Bedeutung zu. Die Quantifizierung von Defiziten bildet die Grundlage für die Entwicklung eines individuellen Trainingspro-
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gramms, kann dem Patienten als Motivationshilfe dienen und dem Arzt als Mittel zu Diagnostik und Verlaufsbeurteilung. Beispiele für Tests der Kraft, Koordination und Ausdauer, die ohne wesentlichen Gerätebedarf durchgeführt werden können, sind: ● Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik nach Janda: Hierbei werden in vorgegebenen Ausgangsstellungen gezielt einzelne Muskeln bzw. Muskelgruppen auf ihre Kraftentwicklung getestet. Die Muskelkraft kann auf diese Weise ohne technische Hilfsmittel in 6 Stufen (Stufe 0: „Beim Bewegungsversuch wird nicht die geringste Muskelkontraktion erkennbar“ bis Stufe 5: „Normal kräftige Muskulatur, die bei vollkommener Bewegungsfreiheit dazu in der Lage ist, einen beträchtlichen äußeren Widerstand zu überwinden“) eingeteilt werden. Durch weitere manuelle Tests können Muskelverkürzungen ermittelt werden [7]. ● Einbeinstand: Bei dieser statischen Gleichgewichtsmessung soll sich die Testperson auf das bevorzugte Bein stellen und das andere Bein hinter das Standbein einhaken. Die Arme dürfen frei eingesetzt werden. Gemessen wird die Zeit, die die Person auf einem Bein stehen kann. Schafft es die Person, eine Minute lang auf einem Bein zu stehen, so wird der Test beendet und mit geschlossenen Augen wiederholt. Wiederum endet der Test, wenn die Person mit dem zweiten Bein den Boden berührt oder nach einer Minute. ● Timed up and go (TUG): Der TUG dient der Beurteilung der allgemeinen funktionalen Beweglichkeit und der Sturzgefährdung. Bei diesem Test steht die Testperson von einem Stuhl auf, geht 3 m nach vorne bis zu einer Markierung, dreht sich um, kehrt zum Stuhl zurück und setzt sich wieder hin. Die benötigte Zeit wird gemessen. ● Timed stands: Der Timed stands dient der Erfassung der Beinmuskelkraft. Hierbei wird die Testperson aufgefordert, so schnell wie möglich 10-mal von einem Stuhl aufzustehen und sich wieder hinzusetzen, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Die benötigte Zeit wird dokumentiert. ● 6-Minuten-Gehtest: Dieser Test dient der Ermittlung der allgemeinen Ausdauerleistungsfähigkeit bei körperlich eingeschränkten Personen. Die Testperson wird gebeten, sechs Minuten zu gehen und dabei eine möglichst große Strecke zurückzulegen. Pausen sind erlaubt. Die zurückgelegte Wegstrecke wird erfasst. ● Rumpfhaltetest: Dieser Test prüft die isometrische Haltefähigkeit der Rückenmuskulatur. Beine und Becken werden hierbei bis zu den Beckenkämmen mit einer Liege unterstützt und fixiert, der Oberkörper wird von der Testperson frei in der Luft in der Waagerechten gehalten. Die Haltezeit wird gemessen. Das Assessment kann ggf. durch standardisierte Fragebögen zu körperlicher Aktivität, Ernährungsverhalten oder psychosozialem Wohlbefinden gezielt ergänzt werden [8].
Muskuloskelettale Diagnostik in der Prävention
10.4.2 Bildgebende Diagnostik In der Regel sollte im Rahmen eines Präventiv-Check-Ups auf mit Röntgenstrahlung verbundene bildgebende Untersuchungen verzichtet werden. Zumeist genügen Anamnese, körperliche Untersuchung und einfache Testverfahren, um dem Patienten geeignete Empfehlungen geben zu können. Sollte sich der Verdacht auf entzündliche, metabolische oder gar traumatische Ursachen von Beschwerden des Bewegungsapparates ergeben, so ist eine bildgebende Diagnostik indiziert. Dabei ist auf die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission (SSK) hinzuweisen [9], in denen für jede Pathologie das entsprechende diagnostische Verfahren dargelegt wird. Konventionelles Röntgen erlaubt es, Frakturen, Fehlstellungen und arthrotische Veränderungen darzustellen. Veränderungen der Weichteile lassen sich nur in sehr beschränktem Maße darstellen (z. B. Weichteilvermehrung bei Kapselschwellung, Sehnenansatzverkalkungen). Die Ultraschalluntersuchung ist ein einfach zugängliches und nichtinvasives diagnostisches Verfahren, das besonders zur Abklärung von Weichteilveränderungen benutzt werden kann. Sie erlaubt eine dynamische Untersuchung des Bewegungsapparates, der Bänder und Muskeln (z. B. zur Darstellung von Sehnenverkalkungen im Bereich der Rotatorenmanschette). Selbstverständlich ist der diagnostische Nutzen dieses Verfahrens stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Die Magnetresonanztomografie (MRT) erlaubt aufgrund ihres ausgezeichneten Weichteilkontrasts und der verschiedenen Sequenzen die beste Möglichkeit zur Darstellung von Weichteil-, Gelenks- und Knochenveränderungen in sehr frühen Stadien. Bei allen unklaren Befunderhebungen und bei therapieresistenten Beschwerden ohne röntgenologisches Korrelat sollte auf dieses bildgebende Verfahren zurückgegriffen werden. Mittlerweile sind neben statischen auch dynamische MRT-Untersuchungen möglich. Eine MRT-Untersuchung im Stehen (Upright-MRT) erlaubt z. B. die dynamische Beurteilung der Neuroforamina in verschiedenen Funktionsstellungen der Wirbelsäule. Bei gezielten Fragestellungen mit unauffälligem MRT-Befund kann auf solche Spezialuntersuchungen zurückgegriffen werden.
Messverfahren. Die Knochendichte des untersuchten Patienten wird als T-Score mit der durchschnittlichen Knochendichte einer altersentsprechenden Population verglichen. In SD (standard deviation) erfolgt der Vergleich zu dieser Population. Entsprechend der Definition der WHO entspricht ein T-Score von oder über -1 SD einem Normalbefund, ein T-Score zwischen -1 und -2,5 SD einer Osteopenie und ein T-Score von oder unter -2,5 einer Osteoporose. Computertomographische Techniken (sog. qCT) werden ebenfalls eingesetzt und erlauben es, den Knochenmineralgehalt spongiöser und kompakter Knochenstrukturen getrennt voneinander zu bestimmen. Die gemessenen Werte werden auch hier entsprechend der Standardabweichung von der Allgemeinbevölkerung des entsprechenden Alters dargestellt. Als Screening-Methode sind Ultraschallverfahren zu erwähnen, die die Knochendichte üblicherweise am Kalkaneus bestimmen. Diese Messverfahren haben allerdings nicht die Validität des DXA-Scans. Eine Reihe von Blutuntersuchungen (Tab. 10.5) ist ebenfalls sinnvoll, um über Laborparameter eine Osteoporosediagnostik vor Therapie zu erstellen. Die Bestimmung von 25-Hydroxy-Vitamin-D 3 im Blut kann die Steigerung des Knochenumsatzes erklären. Weitere Ursachen für osteoporotische Veränderungen können sein [10]: ● sekundärer Hypogonadismus: Ausschluss einer Hypophysenstörung (Prolaktinom, Nebennierenrinden- oder Schilddrüsensteuerungsstörung) ● hormonsensibel wachsende Tumoren (Mamma-, Prostatakarzinom) ● andere endokrinologische Erkrankungen: CushingSyndrom, Hyperthyreose ● Chromosomenanomalien: Klinefelter-Syndrom beim Mann, Turner-Syndrom bei der Frau.
Tabelle 10.5 Laboruntersuchungen in der Osteoporosediagnostik [LL 2]. ● ● ●
10.4.3 Osteoporosediagnostik
●
Sowohl zur Diagnosestellung, wie auch zur Kontrolle der Knochendichte unter Therapie stehen Verfahren der Knochenmineralometrie zur Verfügung. Zum Goldstandard der Diagnostik gehört der DXA-Scan (Dual-X-Ray-Absorptiometrie). Diese planare Messtechnik erlaubt die Bestimmung der Knochendichte an der Wirbelsäule und dem peripheren Skelett und gilt international als valides
● ● ● ●
Blutbild und Differenzialblutbild (hämatologische Systemoder Tumorerkrankungen) BSG/CRP (Marker der Aktivität bei entzündlichen Erkrankungen) Elektrolyte und Kalzium im Serum (Hyperparathyreoidismus, Tumorhyperkalzämie) Leberenzyme (γGT), Bilirubin (gastrointestinale Erkrankungen) Phosphat, Kreatinin, AP Immunelektrophorese bzw. Bence-Jones-Protein (Plasmozytom) Hormone (bei Verdacht auf eine endokrinologische Erkrankung) Sexualhormonbestimmung bei postmenopausaler Osteoporose (primärer Hypogonadismus, Anorexia nervosa, endokrinem Hodenausfall beim Mann)
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Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose
Leitlinienbox LL1. Burton AK, Eriksen HR, Leclerc A et al. European Guidelines for Prevention in Low Back Pain. November 2004. www.backpaineurope.org
LL2. Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei Frauen ab der Menopause, bei Männern ab dem 60. Lebensjahr, Leitlinien Osteologie – Empfehlungen des Dachverbandes der dt.spr. osteologischen Fachgesellschaften (DVO), http://www.dv-osteologie.de.
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10.5 Präventive Maßnahmen 10.5.1 Wirbelsäule
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Maßnahmen, die vorzeitige degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheiben und der Zwischenwirbelgelenke verhindern, sind: ● regelmäßige Bewegung (2- bis 3-mal die Woche eine halbe Stunde mindestens) ● Schwimmen, Walking oder Nordic Walking als Ausdauertraining ● rumpfstabilisierende Übungen ● Gymnastik nach der Methode von Pilates ● Dehnen vor und nach dem Training (um Muskelverkürzungen und Verletzungen vorzubeugen) ● Rückenschule ● Yoga ● Krafttraining nach Anweisung (um Verletzungen zu vermeiden) Wenn bei einer Eingangsuntersuchung anatomische Anomalien wie Skoliose, Beinlängendifferenzen, Spondylolisthesis etc. festgestellt werden, muss gezielt darauf eingegangen werden, um vorzeitigem Verschleiß vorzubeugen. Ein weiterer Stützpfeiler der muskuloskelettalen Prävention neben Bewegung und gesundem, ausreichendem Schlaf ist eine „ausgewogene“ Ernährung, reduziert an gesättigten Fettsäuren, reich an frischem Obst und Gemüse und Ballaststoffen [11] (s. Kap. 34).
10.5.2 Gelenke Zur Vorbeugung von vorzeitiger Arthrose der Gelenke können die oben erwähnten Maßnahmen aufgegriffen werden. Zusätzlich sollte man folgende Punkte beachten: ● Vermeidung einseitiger, repetitiver Bewegungen ● Stärkung der Muskulatur der Extremitäten ● Dehnen ● sorgfältiges Ausheilen von Reizzuständen und Verletzungen, wie Sehnenscheidenentzündungen Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel sind i. d. R. nicht notwendig. Die Wirksamkeit von speziellen Nahrungsergänzungsmitteln wie Chondroitin und Glukos-
114
amin zur „Unterstützung des Knorpels und der Gelenke“ ist nicht nachgewiesen.
Kasuistik Herr M., 58 Jahre, möchte wieder mit Sport beginnen, um seine körperliche Kondition zu verbessern. Er hat bis vor 10 Jahren regelmäßig trainiert, aber seit einer Knieoperation rechts (Meniskuseinriss nach einem Skiunfall) und außergewöhnlichen beruflichen und familiären Belastungen das aktive Training nicht mehr aufgenommen. Des Weiteren hat er intermittierend Rückenschmerzen der unteren Lendenwirbelsäule bei langen Autofahrten. Er berichtet, seinen Kardiologen bereits konsultiert zu haben. Dieser habe ihn gründlich untersucht und ihm kardiovaskuläres Training erlaubt und empfohlen. Herr M. hat einen BMI von 25,5 kg/m2 und einen guten Allgemeinzustand. Die Stellung der Wirbelsäule ist regelrecht, leichter funktioneller Beckenschiefstand mit ISGBlockade rechts (positives Vorlaufphänomen) ohne anatomische Beinlängendifferenz. Leichte Atrophie des M. vastus medialis rechts mit Lateralisierung der Patella, stabiler Bandapparat, negative Meniskuszeichen bei der Untersuchung des rechten Knies. Da keine Schmerzen im Bereich des Knies bestehen, wird keine bildgebende Diagnostik angeordnet. Da die Beschwerden der LWS sehr selten sind, nur bei mehrstündigen Autofahrten und die klinische Untersuchung der LWS unauffällig (außer dem ISG) ist, wird primär ebenfalls keine Diagnostik angeordnet. Wir empfehlen Herrn M. gezielte Übungen zur Aktivierung und Stärkung der Oberschenkelmuskulatur, insb. des M. vastus medialis. Des Weiteren sollte das ISG manualtherapeutisch/osteopathisch deblockiert und mobilisiert werden, kombiniert mit Dehnung des M. iliopsoas. Es wird empfohlen, bei langen Autofahrten Pausen mit Dehnübungen einzulegen. Weiteres Prozedere: Anordnung stabilisierender isometrischer Übungen zur Stärkung der unteren LWS. Schwimmen, Walking, Fahrradfahren und Spazierengehen als Ausgleichssport. Progressive Leistungssteigerung über die nächsten Wochen. Wiedervorstellung nach 2, 4 und 6 Monaten, um nachzuhalten, ob die bei der Primärkonsultation aufgestellten Ziele erreicht wurden.
Präventive Maßnahmen
10.5.3 Osteoporose
Wann muss ich Kalzium zu mir nehmen? Falls man zu einer Risikogruppe gehört (GlukokortikoidTherapie, starke Bewegungseinschränkung und Alter > 65 bei Frauen etc.) und wenn die Kalziumaufnahme nicht über die Ernährung gewährleistet ist.
●
Zur Vorbeugung von Osteoporose sind folgende Maßnahmen sinnvoll: ● regelmäßige Bewegung (2- bis 3-mal die Woche eine halbe Stunde mindestens) ● ausreichende Versorgung mit Kalzium (1500 mg/d), idealerweise durch entsprechende Ernährung (Milch/ Milchprodukte, grünes Gemüse, kalziumreiches Mineralwasser) ● Nikotinkarenz ● Alkoholkonsum unter 30 g pro Tag ● ausreichende Ernährung mit einem BMI > 20 kg/m2 ● Supplementierung von bis zu 1500 mg Kalzium + 400 – 800 IE Vitamin D3 p. o. täglich nur bei stark in ihrer Mobilität eingeschränkten Frauen über 65 Jahren, oder wenn eine entsprechende Ernährung nicht möglich ist ● postmenopausale Hormontherapie nicht generell zur Primärprophylaxe der Osteoporose zu empfehlen, sondern erst nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiken gemeinsam mit der Patientin ● bei hohem Sturzrisiko: Sturzabklärung und -intervention
10.5.4 Check-Ups Die Frequenz und Notwendigkeit von Check-Ups sollte individuell entsprechend der Bedürfnisse des Patienten bestimmt werden.
?
Häufige Patientenfragen
Wann brauche ich ein Röntgenbild? Nur zum Frakturausschluss, als erste Diagnostik bei Beschwerden des Bewegungsapparates, bei Tumorverdacht.
●
Wann ist eine Magnetresonanztomografie sinnvoll? bei unauffälligem Röntgenbild und therapieresistenten Beschwerden ● bei konkreten Fragestellungen an Gelenken und Wirbelsäule (Bandscheiben, Meniskus-, Labrum- oder Sehnenläsionen) ● bei Tumor- oder Metastasenverdacht und anderen unklaren Befunderhebungen. ●
Was ist die einfachste Maßnahme, um Rückenschmerzen vorzubeugen? ● Viel Bewegung (Walking, Schwimmen, Spazierengehen), ergonomisches Arbeiten entsprechend der Rückenschule, Stärkung der Rücken- und Bauchmuskulatur, genügend Schlaf und mediterrane Ernährung.
Wie viel Bewegung wird zur Prävention des verfrühten Verschleißes des Bewegungsapparates empfohlen? ● Mindestens 3-mal in der Woche eine halbe Stunde. Wichtig ist die Regelmäßigkeit der körperlichen Betätigung. Wie viel Bewegung ist gesund? Entsprechend des Alters und des körperlichen Zustandes eines Menschen kann dies sehr unterschiedlich sein. „Gesund“ ist Bewegung, wenn sie den Körper nicht überfordert, was normalerweise zu Beschwerden führt. Nach Abklärung des kardiovaskulären Zustands und einer Grunduntersuchung des muskuloskelettalen Systems kann eine Leistungssteigerung erfolgen. Diese sollte immer progredient gestaltet sein.
●
Muss eine Beinlängendifferenz ausgeglichen werden? Wenn Beschwerden bestehen bzw. durch Ausgleich der Beinlängendifferenz die Stellung der Wirbelsäule signifikant verbessert wird. Eine fachorthopädische Untersuchung wird diesbezüglich empfohlen.
●
Wann ist ein muskuloskelettaler Check-Up angezeigt? Er kann sowohl bei asymptomatischen wie auch symptomatischen Patienten erfolgen. Motivation kann eine Leistungssteigerung bzw. Leistungserhalt sein, besonders bei Menschen in höheren Altersgruppen. Sinnvoll ist der Check-Up auch bei Patienten mit mangelnder Bewegung.
●
Was kann ich für meine Gelenke tun? Übergewicht vermeiden, regelmäßige Bewegung, Dehnen, gesunde ausgewogene Ernährung.
●
Ist Joggen ungesund? Wenn ein Patient keine höhergradigen anatomischen Fehlstellungen hat, nicht extrem übergewichtig ist (weil sonst die axiale Belastung der Kniegelenke zu groß ist), keine Beschwerden des Bewegungsapparates und keine kardiovaskulären Kontraindikation für Ausdauersport bestehen, dann ist Joggen eine sehr gute Bewegungsmaßnahme, sowohl für Körper, wie auch für den Geist. Es ist für die Wirbelsäule förderlich, zusätzlich rumpfstabilisierende Übungen zu praktizieren, sowie vor und nach dem Training die Muskulatur zu dehnen. Auf gutes Schuhwerk und weichen Boden beim Joggen sollte ebenfalls geachtet werden. Es ist wichtig, auf ein mäßiges Tempo hinzuweisen. Kann man sich sich beim Laufen noch gut unterhalten, ist das Tempo gut!
●
115
10
Muskuloskelettaler Funktionserhalt und Osteoporose
Literatur 1. Bulletin of the World Health Organization. 2003: 81 (9);629 – 97. 2. Van Poppel MN, Hooftman WE, Koes BW. An update of a systematic review of controlled clinical trials on the primary prevention of back pain at the workplace. Occup medicine (Lond). 2005; 54 (5):345 – 52.
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3. Raspe H. Back pain. In: Silman A, Hochberg MC (eds.). Epidemiology of rheumatic diseases. Oxford: Oxford University Press; 2001: 309 – 38. 4. Kohlmann T, Schmidt CO. Epidemiologie des Rückenschmerzes. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten M: Die Lendenwirbelsäule. München: Elsevier; 2004: 3 – 13. 5. Reginster JY, Khaltaev NG. Introduction and WHO perspective on the global burden of musculoskelettal conditions. Rheumatology. 2002;41 Supp 1: 1 – 2.
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6. Häussler B, Gothe H, Göl D et al. Epidemiology, treatment and costs of osteoporosis in Germany – the BoneEVA Study. Osteoporos Int. 2007;18(1):77 – 84. 7. Janda V. Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. 4. Auflage. München: Urban & Fischer; 2000. 8. Oesch et al. Assessment in der muskuloskelettalen Rehabilitation. Bern: Hans Huber; 2007. 9. Berichte der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Orientierungshilfe für radiologische und nuklearmedizinische Untersuchungen. Berlin: H. Hoffmann GmbH – Fachverlag; 2006: 51. http://www.ssk.de/pub/ volltext/h51.pdf 10. Weiske R, Linngg G, Glueer CC (Hrsg.). Osteoporose. Atlas der radiologischen Diagnostik und Differenzialdiagnose. Jena: Gustav Fischer; 1998. 11. Grönemeyer DHW. Mein Rückenbuch. Das sanfte Programm zwischen High Tech und Naturheilkunde. München: Verlag Zabert Sandmann; 2006.
Entstehung akuter und chronischer Hörschäden
11 Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden F. Wagner, A. Ernst
Das Wichtigste in Kürze Die Prävention von Hörstörungen basiert auf folgenden Erkenntnissen: ● Neben der beruflichen Lärmexposition, die professionell durch die gewerblichen Berufgenossenschaften überwacht wird, spielt die Lärmexposition im privaten Bereich bzw. häuslichen Umfeld eine immer größere Rolle. ● Die einmal eingetretene Lärmschwerhörigkeit ist irreversibel, führt zu einer erheblichen Einschränkung des Kommunikationsvermögens, häufig tritt ein Tinnitus (Ohrgeräusch) begleitend auf. ● Limitierte Therapiemöglichkeiten nach Eintritt einer lärmbedingten Schwerhörigkeit (i. d. R.: Hörgeräteversorgung) verdeutlichen die Notwendigkeit präventivmedizinischer Maßnahmen. ● Die Prävention beruht auf der Verhinderung von Lärmentstehung und -ausbreitung, individuellem Gehörschutz, der Früherkennung von lärmbedingten Hörschäden sowie der Identifikation besonders lärmempfindlicher Personen, um diese besser schützen zu können. ● Ototoxische Medikamente sowie die normale Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) stellen weitere Ursachen für die Entwicklung einer Schwerhörigkeit dar. Neben dem Ton- und Sprachaudiogramm stehen diverse objektive Hörprüfverfahren zur Verfügung (z. B. Ableitung otoakustischer Emissionen), die die Früherkennung von Hörstörungen ermöglichen.
11.1 Einleitung Die Prävention von Hörstörungen ist seit Jahren ein besonderes Anliegen, das im gewerblichen Bereich professionell und vehement von den gewerblichen Berufsgenossenschaften zur Verhinderung des Auftretens der Lärmschwerhörigkeit vertreten und mit Präventionsprogrammen in den Unternehmen umgesetzt wird. Weniger erfreulich ist dagegen die Situation im privaten Bereich, sodass einige wenige Berufsverbände (z. B. die HNOÄrzte-Kampagne „Gutes Hören“) oder einzelne Selbsthilfeorganisationen (z. B. Deutsches Grünes Kreuz, Deutsche Tinnitus-Liga) sich um Aufklärung bzw. öffentliche Bewusstseinsbildung bemühen. Dies tut aber dringend not, wie aktuelle Studien zeigen. Diese gehen davon aus, dass bis zu ⅓ aller Jugendlichen bereits eine beginnende In-
nenohrschwerhörigkeit („Sozioakusis“) aufgrund ihres exzessiven Musikkonsums haben. Diese Schwerhörigkeit ist in der Regel irreversibel und führt zu einer frühzeitigen Einschränkung des Sprachverstehens und damit der Kommunikation und ist gerne von Ohrgeräuschen (Tinnitus) begleitet. Aufgrund der limitierten Therapiemöglichkeiten irreversibler Hörstörungen (i. d. R. Hörgeräteversorgung) ist aus medizinischer, gesundheitspolitischer, gesundheitsökonomischer sowie aus Jugendschutzgründen eine wirksame, möglichst individualisierte Prävention von Hörschäden wünschenswert. Diese beruht auf vier wesentlichen Säulen: ● Verhinderung von Lärmentstehung und -ausbreitung (bauliche Maßnahmen) ● Tragen von passendem, individuellem Gehörschutz bei Lärmexposition (z. B. Rockkonzert) ● Früherkennung von lärminduzierten Hörschäden (HNO-ärztliche Untersuchung, Hörtests) ● Identifikation von Personen mit individueller (genetisch bedingter) Disposition für die Entstehung von Hörstörungen (sog. „vulnerables Innenohr“).
11.2 Entstehung akuter und chronischer Hörschäden Unter bestimmten Umständen kann Schall zu einer Schädigung des Innenohrs führen. Entscheidend sind dabei die Schallintensität und die Einwirkzeit sowie die Erholungsphase nach der Lärmbelastung. Eine entsprechende Lärmexposition führt dann anfangs zu einer vorübergehenden Innenohrschwerhörigkeit (temporary threshold shift = TTS), häufig begleitet von einem Tinnitus. Ursächlich sind direkte mechanische Schäden an den Sinneszellen (Abb. 11.1) dafür verantwortlich. Dabei kommt es zu charakteristischen Veränderungen der im physiologischen Zustand aufrecht stehenden Stereozilien, die elektronenmikroskopisch sichtbar sind ([1, 2], Abb. 11.2). Wenn in der Erholungsphase nach der Lärmexposition eine erneute Beschallung erfolgt, besteht die Gefahr eines irreversiblen Hörschadens (permanent threshold shift = PTS, [3]). Dabei werden die durch alltägliche bzw. übermäßige Lärmbelastung verursachten Hörstörungen als „Sozioakusis“ bezeichnet [4]. Es sind vor allem Kinder, Teenager und junge Erwachsene gefährdet. Epidemiologische Studien stützen den Verdacht, dass die Zahl irreversibel Hörgeschädigter in dieser Population steigt. So
117
11
Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden
I
II III IV V VI VII
Abb. 11.1 Darstellung einer normalen äußeren (a) und inneren (b) Haarzelle.
konnte Hoffmann [5] innerhalb Deutschlands bei einer Untersuchung von 424 Jugendlichen bei ca. 40 % auffällige Hörverluste um 4 kHz nachweisen („c5-Senke“, Abb. 11.3). Andere Studien belegen bereits deutlich bestimmbare Innenohrschwerhörigkeiten schon bei Kindern im Vorschulalter [6]. Als ursächlich für derartige Hörstörungen werden vor allem Kinderspielzeug (z. B. Knackfrösche und Spielzeugwaffen), Explosiva (Feuerwerkskörper) sowie Musik (angeboten über Kopfhörer, bei Rockkonzerten und in Diskotheken) genannt [3, 7]. Von der chronischen Schädigung des Innenohres durch kontinuierliche Lärmexposition im o. g. Sinne zu unterscheiden ist das akute Lärmtrauma („akutes akustisches Trauma“). Dabei tritt ein Hörschaden plötzlich durch sog. „Impulslärm“ auf [8]. Die gehörschädigende Wirkung des Impulslärms wird häufig unterschätzt [9, 10]. Ein typisches Beispiel sind die Silvesterknallkörper, die in Deutschland alljährlich zum Jahreswechsel mit einer Inzidenz von 9,9 auf 100 000 Einwohner zum akustischen Trauma führen ([11], Abb. 11.3). Auch hierbei sind v. a. Jugendliche gefährdet, die Inzidenz für ein akustisches Trauma durch Feuerwerkskörper liegt in Deutschland in der Altersgruppe von 6 bis 25 Jahren etwa 3-mal so hoch im Vergleich zur Gesamtpopulation. Männer sind vom akuten Lärmtrauma durch Feuerwerkskörper etwa 3mal so häufig betroffen wie Frauen [11-13]. Die Hörverluste bei der Lärmschädigung des Innenohres sind in den Messungen des Gehörs („Reintonaudiogramm“) gut zu erkennen. Typisch für eine Lärmschwerhörigkeit ist die sog. „c5-Senke“ im Reintonaudiogramm (Abb. 11.3), später kommt es dann zum Hochtonsteilabfall
Abb. 11.2 Darstellung von lärmgeschädigten Stereozilien („floppy“) von äußeren Haarzellen (a) durch Zerreißen der interfilamentären Fasern (b). L = „tip links; S = aufrecht stehende, normale Stereozilien; V = Verbindungsfasern.
a
118
b
Entstehung akuter und chronischer Hörschäden
–10
125
250
500
1000
2000
4000
8000 Hz
–10
0
0
10
10
20
20
30
30
40
40
50
50
60
60
70
70
125
250
500
1000
80
Knochenleitung
80
Knochenleitung
90
Luftleitung
90
Luftleitung
100
100
dB
dB
2000
4000
8000 Hz
Abb. 11.3 C 5-Senke im Reintonaudiogramm bei Z. n. Lärmtrauma.
Abb. 11.4 Audiogramm: Typische Hörverlustkurve bei der lärminduzierten Innenohrschwerhörigkeit (BK 2301). BK = Berufskrankheit.
(Abb. 11.4). Dies ist dadurch zu erklären, dass die jeweiligen Frequenzen unterschiedlich stark vom Schädigungsrisiko durch Lärm betroffen sind [14]. Am stärksten ist die Region um 4 kHz betroffen (entsprechend der Stimmgabel c5), dann folgen die benachbarten Frequenzen 2 und 6 kHz [15]. Neben dem Freizeitlärm kann im beruflichen Umfeld, v. a. in Industrieunternehmen, Lärm auftreten. Unter den entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten in der Bundesrepublik steht die lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit (Berufskrankheit [BK] 2301 in der Liste der Berufskrankheiten) immer noch an erster Stelle. Trotz umfangreicher arbeitsmedizinischer Präventionsuntersuchungen der Berufsgenossenschaften im Rahmen der arbeitsmedizinischen Prävention (sog. Grundsatz 20 zur Verhütung des Auftretens von Berufskrankheiten, der die unterschiedlichen inhaltlich aufeinander aufbauenden und je nach Befundlage anzuwendenden Untersuchungen Lärm I-III umfasst), sind die gemeldeten Verdachtsfälle auf eine BK 2301 sowie die anerkannten Fälle einer lärmbedingten Innenohrschwerhörigkeit nur leicht rückläufig [16]. Das deutet darauf hin, dass möglicherweise eine individuelle Prädisposition beim Menschen („vulnerables Innenohr“) zur Entstehung der Lärmschwerhörigkeit mit beitragen kann. Im medizinischen Alltag gibt es eine Reihe von Arzneimitteln, die zu einer (reversiblen, gelegentlich auch irreversiblen) Hörschädigung führen können. Heutzutage sind mehr als 130 ototoxische Substanzen bekannt [17]. Meist ist eine schädigende Einwirkung auf das Innenohr durch Beachten von Tagesmaximaldosierung, Vermeidung der Kombination verschiedener ototoxischer Substanzen sowie die Gabe von prophylaktisch wirkenden Medikamenten zu vermeiden. Da man aber eine Reihe von solchen ototoxischen Substanzen bei lebensbedroh-
lichen, ansonsten tödlich verlaufenden Erkrankungen verabreichen muss, können diese Regeln im Interesse des Überlebens des Patienten nicht immer eingehalten werden. Die am häufigsten verwandten ototoxischen Medikamente sind Aminoglykosidantibiotika (z. B. Gentamicin), platinhaltige Zystostatika (z. B. Cisplatin), Schleifendiuretika, Salicylate und Chinine [18]. Physiologisch tritt im Alter die sog. Altersschwerhörigkeit („Presbyakusis“) auf. Sie ist gekennzeichnet durch eine zunehmende symmetrische Schwerhörigkeit zunächst im Hochtonbereich (Abb. 11.5). Zugrunde liegend
0,125
0,25
0,5
Frequenz in kHz 1 1,5 2 3
4
6
8 10
–10 0
Hörverlust in dB HL
10 20 30 40 50 60 70 80
30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Alter
90 100
Abb. 11.5 Audiogramm: Altersbegleitende HochtonSchwerhörigkeit [19], statistisch ermittelte Normkurven von Hörverlusten männlicher Probanden mit zunehmendem Alter.
119
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Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden
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ist ein meist symmetrischer Verlust von äußeren und inneren Haar- sowie Nervenzellen und zudem eine Atrophie von Ganglienzellen. In einer Erhebung des Deutschen Grünen Kreuzes von 1988 innerhalb der Bundesrepublik zeigte sich bei einer repräsentativen Anzahl von Personen im 3. Lebensjahrzehnt bei 7 % eine Hörminderung, im Altersbereich über 60 Jahren lag der Anteil der Personen mit nachweisbarer Hörminderung bei 40 %. Therapeutisch kommt im Falle der Presbyakusis vorwiegend eine Hörgeräteversorgung in Frage.
II 11.3 Erkennen von Hörschäden
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Zur Diagnostik von Hörschäden stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung. Die subjektive Testung des Gehörs findet zumeist im Alltag durch die Betroffenen und deren Angehörige statt. So wird häufig zuerst ein Lauterstellen von Radio- und Fernsehgeräten beobachtet, bei stärker ausgeprägter Hörstörung kann das Telefonieren mit dem betroffenen Ohr erschwert sein. Diese Beobachtungen, aber auch ein begleitender Tinnitus, der wie die Hörminderung auf einen Innenohrschaden hinweist, führen häufig zu einer Vorstellung beim HNO-Facharzt und dann zur weiteren Abklärung der Beschwerden. An weiterführender Diagnostik stehen dem HNO-Arzt neben dem Reinton- und dem Sprachaudiogramm auch Methoden zur Verfügung, die eine Differenzierung zwischen peripherer und zentraler Schädigung des Hörsystems (d. h. Innenohr-/Nervenschädigung) erlauben. Mithilfe der objektiven Testverfahren ist auch eine Einschätzung des Hörvermögens bei Kindern sowie im Neugeborenen-Hörscreening möglich. Die Aufzeichnung otoakus-
tischer Emissionen (OAE) (Abb. 11.6) ermöglicht eine objektive Kontrolle der Innenohrfunktionsfähigkeit der äußeren Haarzellen. Da diese zumeist der Hauptschädigungsort sind, bietet sich diese Methode als ein Instrument zur Früherkennung und damit auch zur Individualprävention an. Innenohrschäden können so durch otoakustische Emissionen nachgewiesen werden, bevor sie sich im Tonaudiogramm zeigen [17, 20]. Dabei scheinen die TEOAE (transitorisch evozierte otoakustische Emissionen) eine sensitivere Methode als die DPOAE (Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen) darzustellen [21]. Die äußeren Haarzellen (Abb. 11.1, S. 118) sind in der Lage, sich wie Muskelzellen zu kontrahieren. Sie führen beim Hörvorgang so durch eine aktive mechanische Vorverarbeitung des Schallsignals zu einer Verstärkung der Schallwelle im Innenohr. Die Kontraktion der äußeren Haarzellen löst aber auch eine retrograde Wanderwelle aus dem Innenohr aus; der so vom Ohr aktiv ausgesandte Schall kann im äußeren Gehörgang durch feine Mikrofone registriert werden [22]. Kommt es zu einer Schädigung der äußeren Haarzellen, fällt damit die kochleäre Verstärkung, der „Motor“ der aktiven Wanderwellenbewegung, aus. Dies äußert sich im Verlust der OAE [3, 23]. Mittels der OAE scheint in der Frühphase nach akutem Lärmtrauma sogar eine prognostische Aussage über die Erholung der Innenohrfunktion im Verlauf möglich zu sein [24]. Bei Personen, die eine erhöhte Vulnerabilität des Innenohrs aufweisen [25, 26], wird davon ausgegangen, dass schon eine Lärmexposition unterhalb der zugelassenen Grenzen zu einer temporären oder permanenten Schädigung des Gehörs führt. Es wird angenommen, dass ca. 5 – 10 % aller Menschen eine solche Vulnerabilität aufweisen [27].
Abb. 11.6 Typisches Messbeispiel der Ableitung otoakustischer Emissionen [22]. 1 = Sondenton zur akustischen Stimulation (dB SPL), 2 = Patientenangaben, 3 = OAE-Spektrum (weiß) über Hintergrundrauschen (background noise, schwarz), 4 = OAE-Reproduzierbarkeit (frequenzspezifisch), 5 = Stabilität des Stimulus (Sondenton), 6 = Originalregistrierung der OAE. dB = Dezibel, SPL = Schalldruckpegel, OAE = otoakustische Emissionen.
120
Individualprävention von Hörschäden
11.4 Individualprävention von Hörschäden Entscheidend für die Prävention akuter und chronischer Hörschädigungen – v. a. durch Lärm – ist die Aufklärung der Bevölkerung und insb. der Risikogruppen. Erste Zeichen einer Gefährdung des Hörvermögens sind Ohrgeräusche und ein dumpfes Hörempfinden nach Lärmexposition. Ist erst einmal eine Schädigung des Hörorgans eingetreten (z. B. nach einem Rockkonzert oder durch einen Silvesterknallkörper), sollte zügig ein medikamentöser Therapieversuch eingeleitet werden. Gerade die Hörstörungen durch Lärmexposition stellen irreversible Schäden dar, die zu Kommunikationsproblemen und einer Veränderung der Lebensqualität führen. Diese Schädigungen laufen schmerzfrei und zunächst unbemerkt ab, eine Hörgeräteversorgung führt zur Verbesserung des Hörvermögens, kann aber das physiologische Hören und damit den „normalen“ Höreindruck nicht ersetzen. Es tragen sowohl die Intensität als auch die Dauer der Lärmexposition zur Schädigung des Innenohrs bei. Bei präventiven Ansätzen muss bedacht werden, dass eine Hörminderung erst bemerkt und audiometrisch erfasst wird, wenn bereits die Hälfte der Haarzellen eines Frequenzbereichs geschädigt sind. Daher verläuft der Prozess der Innenohrschädigung lange unbemerkt. Jährliche Hörtests und auch die Messung von otoakustischen Emissionen gerade nach einer akuten Lärmbelastung geben die Möglichkeit zur Früherkennung von Schädigungen des Innenohrs, zur Abschätzung der Erholung und in der Folge die Möglichkeit zu frühzeitigem Eingreifen in den Prozess der Degeneration [28]. Damit stellen regelmäßige Kontrollen beim HNO-Facharzt und v. a. ein frühzeitiger Behandlungsbeginn nach akuter Lärmschädigung des Innenohrs einen wichtigen Faktor in der Prävention lärmbedingter Hörschädigungen dar [Web1].
Weblinks ● ● ●
Web1: Deutsche Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie: www.hno.org Web2: Institut für Arbeitsschutz, St. Augustin: www.dguv.de/bgia Web3: Gehörschutzprofi: www.gehoerschutzprofi.de
Wie einleitend beschrieben, stellen gerade Kinder und Jugendliche eine Risikogruppe für Freizeitlärm dar. Hier sollte schon auf lärmarmes Spielzeug zurückgegriffen und beim Musikhören über Kopfhörer die Lautstärke minimiert werden. Für den Besuch von Konzerten stehen Gehörschützer zur Verfügung, die als Gehörschutzstöpsel in den Gehörgang eingeführt werden und somit auch für Jugendliche ästhetisch vertretbar sein sollten. Bei öffentlichen Großveranstaltungen sollten Gehörschutzmittel am Veranstaltungsort vertrieben oder kostenlos angebo-
ten werden. Zusätzlich sollte man in der öffentlichen Diskussion über Schallpegelbegrenzungen für Orte mit Lärmexposition sowie für Musikgeräte nachdenken [7]. Vor allem sei hier die Einführung von Pegelbegrenzungen in Diskotheken und bei Großveranstaltungen genannt. In einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit [29] wird der ungenügende Wissensstand von Schülern bezüglich der potenziellen Gefahren durch überhöhte Lautstärken beim Musikkonsum beklagt, die Integration einer diesbezüglichen Aufklärung in den Rahmenplan von Grund- und Oberschulen wird dringlich empfohlen. In der Studie konnte gezeigt werden, dass Schüler durch Wissensvermittlung ihr Verhalten gegenüber einer Lärmexposition nachhaltig ändern. Im Projekt „Lärmampel“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit wird an einer Reduzierung der Lärmbelastung im Schulunterricht gearbeitet. Dazu werden aktuelle Lärmpegelbereiche durch eine optische Anzeige verdeutlicht, begleitend kommt ein didaktisches Konzept zur Anwendung. Die von den Berufgenossenschaften seit vielen Jahrzehnten erfolgreich betriebenen Präventionsmaßnahmen am Arbeitsplatz können nur wirksam werden, wenn neben dem regelmäßigen Gebrauch individuellen Gehörschutzes die notwendige Gehörerholung in der Freizeit nicht durch Freizeitlärm unterbrochen wird [3]. Sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld stellt das Tragen von Gehörschutz bei Lärmexposition eine essenzielle Präventionsmaßnahme dar (s. a. [Web2] und [Web3]). Eine weitere neuartige und sehr erfolgreiche Präventionsmaßnahme ist das universelle Neugeborenen-Hörscreening mittels otoakustischer Emissionen zur frühzeitigen Diagnostik bei angeborenen Hörstörungen. Durch eine frühzeitige Therapie kann eine normale Hör- und Sprachentwicklung der betroffenen Kinder erreicht werden [30-32]. Entscheidend für den Erfolg des Neugeborenen-Screenings ist dessen Verfügbarkeit für die gesamte Bevölkerung, eine flächendeckende und vollständige Erfassung inkl. eines Rückmeldeverfahrens, die Information der Öffentlichkeit sowie die Aufklärung der Eltern. Zudem sollte eine unnötige Belastung von Familien hörgesunder Neugeborener vermieden werden und ein regionales Screening-Zentrum zur Sicherung der frühzeitigen und sachgemäßen Intervention gebildet werden [33]. Die Ergebnisse sollten im gelben Untersuchungsheft dokumentiert werden. Eine Kontrolle, ob überhaupt ein Screening in der Geburtsklinik durchgeführt wurde, erfolgt bei der U3 (4. – 6. Lebenswoche) durch den Kinderarzt. Damit werden auch Kinder erfasst, die nicht in einer Klinik entbunden wurden.
121
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Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden
11.5 Prävention von Hörschäden als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
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Aufgrund der eingeschränkten Therapiemöglichkeiten irreversibler Hörstörungen ist aus medizinischer, gesundheitspolitischer, gesundheitsökonomischer sowie aus Jugendschutzgründen eine wirksame Prävention wünschenswert. Die Berufsgenossenschaften haben für die berufliche Lärmexposition umfangreiche Präventivmaßnahmen erarbeitet und etabliert (unter Zugrundelegung der EU-Richtlinie „Lärm“ 2003/10/EG). Unabhängig davon stellt der Freizeitlärm eine Gefährdung für einen Großteil der Bevölkerung dar. Die wachsende Anzahl hörgeschädigter Jugendlicher macht ein Eingreifen vonseiten der Politik, aber auch von Eltern und Pädagogen notwendig. Eine öffentliche Diskussion (Bilden von Problembewusstsein) ist notwendig, um die Bevölkerung für die Gefahren durch Lärm zu sensibilisieren. Hier sind an erster Stelle die vorbildlichen Informationskampagnen des Deutschen Grünen Kreuzes und des HNO-Berufsverbandes zu nennen. Ist eine Lärmvermeidung nicht möglich, müssen Schutzmaßnahmen (z. B. baulicher Art) ergriffen werden. Mit Veranstaltungen wie dem bundesweiten „Tag des Lärms“ sowie dem internationalen „Tag gegen Lärm“ wird die Bevölkerung für das Thema sensibilisiert. In Anbetracht der steigenden Zahlen der von Hörstörungen betroffenen Personen, die v. a. auf eine Freizeitlärmbelastung zurückzuführen sind, ist das Erarbeiten präventiver Maßnahmen unerlässlich. Ohne das individuelle Bewusstsein für die Schädlichkeit ungeschützten Lärmkonsums wird jedoch echte Individualprävention schwer durchsetzbar sein.
Kasuistik Am ersten Januar stellt sich der 19-jährige Benjamin K. über die Rettungsstelle vor. Er beklagt ein pfeifendes Ohrgeräusch sowie einen dumpfen Höreindruck rechts. Auf Nachfrage wird berichtet, dass es im Vorfeld im Rahmen der Silvesterfeierlichkeiten zur Detonation eines Feuerwerkkrachers dicht am rechten Ohr kam. Schmerzen oder Ausfluss aus dem Ohr bzw. Schwindelbeschwerden bestehen nicht. Klinisch finden sich keine Verletzungszeichen am Ohr oder dem Trommelfell. Im Tonaudiogramm zeigt sich eine für ein Knalltrauma typische c5-Senke mit einem Hörverlust bis 50 dB bei 4 kHz. Es erfolgt die stationäre Aufnahme zur hochdosierten intravenösen Medikamententherapie. Im Verlauf kommt es zur Verbesserung des Hörvermögens sowie einer Besserung der Tinnitusbeschwerden. Es verbleibt jedoch die c5-Senke rechts (mit 25 dB Hörverlust) und einem sehr leisen Ohrgeräusch, was den Patienten beim Einschlafen und unter Stress stört. Der Patient trägt ab sofort konsequent Gehörschutz bei Lärmexposition und lässt sich jährlich beim HNO-Arzt untersuchen.
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Die 10 wichtigsten Patientenfragen und -antworten
1. Können Hörstörungen bei Säuglingen frühzeitig erkannt werden? ● Ja, im Rahmen des Neugeborenen-Hörscreenings können Hörstörungen schon früh erkannt und so eine Therapie baldmöglichst eingeleitet werden. Auch bei Kleinkindern können und sollten – wenn der Verdacht auf eine Hörstörung besteht – diese objektiven Hörtests durchgeführt werden. 2. Welche Ursachen hat ein Tinnitus? Tinnitus kann durch unterschiedliche Ursachen bedingt sein. Hierzu gehören Entzündungen des Ohres, Lärmbelastung, Tubenventilationsstörungen, akute und chronische Durchblutungsstörungen, Tumoren u. a. Veränderungen am Hörnerv. Aufgrund der Vielfalt der möglichen Ursachen sollten eine umfassende HNO-Diagnostik sowie – bei Bedarf – die Einleitung einer geeigneten Therapie erfolgen.
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3. Welche Therapiemöglichkeiten stehen bei Vorliegen einer Altersschwerhörigkeit zur Verfügung? ● Bei der reinen Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit) bleibt zur Verbesserung des Hörvermögens in der Regel die Hörgeräteversorgung, in Ausnahmefällen eine Versorgung mit Hörimplantaten. Im Vorfeld sollten durch eine HNO-Diagnostik andere Ursachen einer Hörstörung ausgeschlossen werden. 4. Was ist ein Hörsturz? Ein „Hörsturz“ bezeichnet eine akute Innenohrschwerhörigkeit, zumeist unklarer Ursache, gerne jedoch durch physische oder psychische Überlastung ausgelöst („Stress“). Bevor diese Diagnose gestellt wird, müssen nachweisbare Ursachen wie Entzündungen, Tubenventilationsstörungen, Cerumen obturans, Tumoren oder akute Lärmtraumen ausgeschlossen werden. So ist beispielsweise die akute Innenohrschwerhörigkeit schmerzlos, ganz im Gegensatz zu der durch eine Mittelohrentzündung mit Übergreifen auf das Innenohr ausgelösten Hörminderung. Eine akute Innenohrschwerhörigkeit kann auch mit einem Ohrgeräusch einhergehen.
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5. Welche Therapieoptionen stehen bei einer akuten Hörminderung („Hörsturz“) zur Verfügung? ● Nach eingehender Diagnostik erfolgt eine Therapie der akuten Hörminderung mit innenohraktiven Medikamenten, die sowohl oral (als Tablette) oder parenteral (als Tropfinfusion) verabreicht werden können (u. a. Rheologika, durchblutungsfördernde Medikamente, Glukokortikoide). Allgemein empfiehlt man dem Patienten einige Tage Stressvermeidung (deshalb Krankschreibung), ausreichend Schlaf und körperliche Erholung.
Prävention von Hörschäden als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
6. Gibt es eine genetische Veranlagung für eine Schwerhörigkeit? ● Ja, es gibt diverse genetisch bedingte Veränderungen, die sich in Schwerhörigkeiten äußern (typisch: mit Connexin assoziierte, nichtsyndromale Schwerhörigkeit). Zudem gibt es Patienten, die ein sog. „vulnerables“ Innenohr aufweisen. Dieser Begriff bezieht sich auf eine (genetisch determinierte) erhöhte Empfindlichkeit der Sinneszellen des Innenohrs gegenüber Lärm. 7. Was kann ich tun, um mich vor einer Schwerhörigkeit zu schützen? ● Zur Prävention im Privatbereich stehen diverse Mittel zum Gehörschutz zur Verfügung (z. B. Ohrenstöpsel oder Kapselgehörschutz). Die Entscheidung einzelner Personen, sich ungeschützt Freizeitlärm auszusetzen, muss jedes Mal hinterfragt und durch gezielte Aufklärung ein individuelles Bewusstsein für die Spätfolgen geschaffen werden. Im beruflichen Umfeld sind durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (früher: gewerbliche Berufsgenossenschaften) Lärmpräventionsprogramme installiert worden, die einen individuellen Schutz vor Arbeitslärm sowie die Früherkennung von lärmbedingten Hörschäden ermöglichen. 8. Wie kann eine Schwerhörigkeit erkannt werden? Es stehen dazu einfache Hörprüfverfahren zur Verfügung, wie z. B. die Ton- und Sprachaudiometrie. Zudem können zusätzlich objektiv-audiometrische Messungen durchgeführt werden, die bei Säuglingen und Kleinkindern zum Einsatz kommen. Dazu zählen die sog. otoakustischen Emissionen (OAE) zur Überprüfung der Innenohrfunktion. Diese bieten sich zudem als Instrument zur Früherkennung und damit auch zur Individualprävention an, da eine lärmbedingte Hörschädigung dabei früher als im Tonaudiogramm auffällig wird.
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9. Gibt es Hinweise auf ein akutes Lärmtrauma, die ich selber beurteilen kann? ● Ja, ein einfacher Hinweis für das Vorliegen eines akuten Lärmtraumas ist der sog. „Telefontest“: Auf dem betroffenen Ohr höre ich schlechter mit dem Telefonhörer als auf dem anderen Ohr (akute Hörminderung). Zusätzlich tritt in absoluter Stille (beim Zubettgehen) ein hochfrequenter Ton auf (begleitendes Ohrgeräusch).
15. Passchier-Vermeer W. Hearing loss due to exposure to steady-state broadband noise. Sound & Light Division 35 1968.
10. Hörminderung nach Gehörgangsreinigung, was ist passiert? ● Die häufigste Ursache dafür ist das Vorschieben von Ohrenschmalz (Zerumen) direkt vor das Trommelfell mit einem Wattestäbchen (sog. Q-tips) beim Versuch, den Gehörgang zu reinigen.
19. Spoor A. Presbyakusis values in reaction to noise induced hearing loss. International Audiology. 1967;6:48-57.
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Hörtests in der HNO-Heilkunde: Prävention von Hörschäden
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Epidemiologie der Parodontitis
12 Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe B. Dannewitz, P. Eickholz
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Das Wichtigste in Kürze Parodontitis ist eine multifaktorielle Erkrankung, deren primärer Auslöser bakterielle Zahnbeläge sind. Der Verlauf und die Schwere der Erkrankung werden durch verschiedene genetische, umweltbedingte und erworbene Risikofaktoren beeinflusst. Patienten mit einem hohen Risiko für Parodontitis lassen sich bereits aufgrund von Angaben in der Anamnese identifizieren. Klinische Zeichen für eine Erkrankung sind Zahnfleischbluten und bei fortgeschrittenen Fällen Zahnwanderung und Zahnlockerung. Parodontitis bleibt aber für die Betroffenen oft asymptomatisch, deshalb sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen wichtig. Präventive Maßnahmen beschränken sich vorwiegend auf die Beeinflussung der bakteriellen Beläge und das frühzeitige Erkennen der Erkrankung.
12.1 Definition der Parodontitis Der Begriff Parodontitis umfasst eine Gruppe von verschiedenen Krankheitsbildern, bei denen der Zahnhalteapparat (Parodont) angegriffen wird. Das Parodont besteht aus vier anatomischen Elementen: dem Zahnfleisch (Gingiva), dem Alveolarknochen, dem Wurzelzement und den Bindegewebsfasern zwischen Knochen und Zement (Desmodontalfasern, s. Abb. 12.1 a). Der Zahn ist nicht direkt mit dem Alveolarknochen verwachsen, sondern seine Verankerung erfolgt über die Desmodontalfasern (bindegewebiges Attachment). Der einzige Anteil des Parodonts, der klinisch sichtbar ist, ist das Zahnfleisch, das im gesunden Zustand straff um den Zahn herum anliegt (epitheliales Attachment). Auch wenn die Verankerung des Zahnes überwiegend durch die Bindegewebsfasern erfolgt, ist dieser epitheliale Haftmechanismus eine wichtige Barriere gegen ein Eindringen von Mikroorganismen aus der Mundhöhle. Das Zahnfleisch reagiert auf bakterielle Beläge spätestens nach 3 Wochen mit einer Entzündung (Gingivitis). Hier kommt es zu keiner irreversiblen Zerstörung von parodontalem Gewebe, und sie kann nach Beseitigung der Zahnbeläge vollkommen ausheilen. Ist die Infektionsabwehr an dieser Stelle gestört, kann diese entzündliche Abwehr aber früher oder später entgleisen und in eine Parodontitis übergehen. Die Parodontitis ist eine bakteriell bedingte Entzündung des gesamten Zahnhalteappa-
rates, bei der es zum Abbau von Desmodontalfasern (Attachmentverlust) und Alveolarknochen (Abb. 12.1 b), Vertiefung der Zahnfleischtaschen bzw. Zahnfleischrückgang und damit zur Lockerung des Zahnes kommt. Dabei unterscheidet man hauptsächlich zwischen einer chronischen (überwiegend bei Erwachsenen, eher langsamer Verlauf) und aggressiven (zumeist schon bei Kindern und Jugendlichen, rasche Progression) Form der Parodontitis.
12.2 Epidemiologie der Parodontitis Im Jahr 2006 wurden die Daten der 4. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS IV) veröffentlicht [1]. Die DMS IV ist eine bevölkerungsrepräsentative Querschnittsstudie, bei der vier ausgewählte Alterskohorten zahnmedizinisch untersucht wurden. Die Ergebnisse der DMS IV bezüglich der Prävalenz von Gingivitis und Parodontitis lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen: ● Plaque und Entzündungszeichen der Gingiva können zumindest lokalisiert bei annähernd 100 % der Kinder und Jugendlichen beobachtet werden. Dabei sind massive bakterielle Ablagerungen und eine klinisch deutliche Entzündung auf eine Gruppe von etwa 25 % der 12- bzw. 15-Jährigen beschränkt. ● Die Prävalenz von schweren Parodontalerkrankungen beträgt bei Jugendlichen nur 0,8 %, bei Erwachsenen 20,5 % und bei Senioren 39,8 %. Allerdings sind mittelschwere Formen von Parodontitis in Deutschland weit verbreitet: 12,6 % der Jugendlichen, 52,7 % der Erwachsenen und 48,0 % der Senioren zeigen Zeichen einer moderaten Parodontitis. Parodontalerkrankungen sind unmittelbar nicht lebensbedrohlich, aber aufgrund ihrer weiten Verbreitung in der Bevölkerung (ca. 28 Mio. Bundesbürger sind an einer mittleren bis schweren Formen der Parodontitis erkrankt) und der Behandlungskosten von großer klinischer und gesundheitspolitischer Bedeutung. Schließlich gibt es viele Hinweise, dass die Parodontitis einen pathogenetischen Faktor für andere Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen) darstellt.
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12
Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
Abb. 12.1 Bestandteile des Zahnhalteapparats. a Im klinisch gesunden Zustand können um den Zahn herum Taschentiefen von 2-4 mm gemessen werden. b Bei der Parodontitis werden Knochen und Desmodontalfasern abgebaut, es kommt zu sog. Attachmentverlusten. Das Zahnfleisch zeigt meist deutliche Entzündungszeichen, und die gemessenen Sondierungstiefen um den Zahn herum sind erhöht.
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12.3.1 Mikrobielle Plaque
12.3 Pathophysiologie und Risikofaktoren für Parodontitis Die Pathogenese der Parodontitis ist multifaktoriell. Subgingivale Mikroorganismen sind der primäre ätiologische Auslöser des Vorläufers dieser Erkrankung, der Gingivitis. Die Anwesenheit von Mikroorganismen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entstehung einer Parodontitis. Es handelt sich vielmehr um eine opportunistische Infektion, bei deren Pathogenese Einschränkungen der körpereigenen Abwehrmechanismen eine bedeutende ätiologische Rolle spielen. Diese können auf genetische Ursachen (endogene Risikofaktoren) oder umweltbedingte und erworbene (exogene) Risikofaktoren zurückzuführen sein (s. Abb. 12.2, [2]).
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Die Mundhöhle ähnelt anderen Körperstellen darin, dass sie eine natürliche Mikroflora mit einer typischen Zusammensetzung hat. Durch die stetige Erneuerung des Schleimhautepithels bleibt seine mikrobielle Besiedlung begrenzt. Die sich nicht erneuernden Zahnoberflächen bieten dagegen ideale Voraussetzungen für die Akkumulation großer Mengen von Mikroorganismen. Diese Plaque ist ein typisches Beispiel für einen sog. Biofilm [3], die nur schwer medikamentös beeinflussbar ist. Daher ist die Parodontaltherapie auch heute noch primär auf die mechanische Zerstörung des Biofilms ausgerichtet. Die überwiegende Zahl der Parodontalerkrankungen wird durch eine Mischung unspezifischer (v. a. gramnegativer) Bakterien verursacht. Epidemiologische Studien konnten zeigen, dass eine schlechte individuelle Mundhygiene mit einer höheren Prävalenz der Parodontitis kor-
Pathophysiologie und Risikofaktoren für Parodontitis
Umwelt- und erworbene Risikofaktoren Antigene, Lipopolysaccharide (LPS), Virulenzfaktoren mikrobielle Plaque Antikörper, polymorphkernige Granulozyten (PMN)
Zytokine, Prostanoide körpereigene Abwehrmechanismen, immunentzündliche Wirtsantwort
Bindegewebs- und Knochenstoffwechsel
anatomische Veränderungen → klinische Krankheitssymptome: Abbau von Parodont und Knochen, Taschenbildung
Matrixmetalloproteinasen (MMP) genetische Risikofaktoren
Abb. 12.2 Multifaktorielles Pathogenesemodell der Parodontitis [nach 2].
reliert. Aber auch wenn durch eine intensive Mundhygiene Entzündungen der Gingiva reduziert werden können, kann damit dem Auftreten von aggressiven Formen von Parodontitis nicht vollständig vorgebeugt werden. In den letzten Jahrzehnten konnten Bakterien identifiziert werden, die an Stellen mit schweren oder aggressiven Formen von Parodontitis gehäuft zu beobachten waren, u. a. Aggregatibacter actinomycetemcomitans (A.a.), Porphyromonas gingivalis (P.g.) und Tannerella forsythensis (T.f.). Diese Parodontalpathogene gehören, wenn auch in äußerst geringer Anzahl, zur oralen Mikroflora klinisch gesunder Menschen. Durch Veränderungen der lokalen Umweltbedingungen am Zahn kann allerdings das Wachstum dieser opportunistischen Keime selektiv begünstigt werden. Das Kriterium „parodontalpathogen“ stützt sich hauptsächlich auf die Fähigkeit dieser Bakterien, im Parodont durch die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine sowie gewebeschädigender Enzyme eine schwere Zerstörung des Zahnhalteapparates herbeizuführen. Parodontalpathogene Keime zeichnen sich aber auch durch die Fähigkeit aus, die Immunabwehr zu umgehen. Gerade die Fähigkeit zur Gewebeinvasion setzt der mechanischen Parodontaltherapie Grenzen. Parodontalerkrankungen, die mit bestimmten Pathogenen assoziiert sind (z. B. A.a.), sprechen daher besser auf eine kombiniert mechanischantibiotische Behandlung an. Es ist unklar, ob das Vorhandensein dieser Parodontalpathogene alleine das Risiko für Parodontitis signifikant erhöht. Zumindest wird das Vorhandensein der Bakterien in erhöhter Zahl an bereits erkrankten Stellen als prognostischer Faktor für eine weitere Progression der Erkrankung beschrieben [4].
12.3.2 Körpereigene Abwehrmechanismen Die Entzündungsreaktion auf bakterielle Plaque ist ein grundlegender Abwehrmechanismus, allerdings tragen diese eigentlich protektiven Reaktionen indirekt auch zur Zerstörung des parodontalen Gewebes bei [5]. Vor allem die bakteriellen Lipopolysaccharide (LPS) der gram-
negativen Bakterien induzieren über die Bindung an wirtseigene Rezeptoren (u. a. LPS-bindende Proteine) eine starke Sekretion spezifischer Entzündungsmediatoren, die die entzündliche Abwehrreaktion in Gang setzen. Polymorphkernige neutrophile Granulozyten (PMN) und Makrophagen sind die primären Effektorzellen der unspezifischen Immunabwehr. Funktionsstörungen, die die Chemotaxis und/oder die Phagozytose von PMNs betreffen (z. B. beim Papillon-Lefèvre-Syndrom), Störungen in der Diapedese (LAD-Syndrom = Leukozytenadhärenzdefektsyndrom) oder Abweichungen von der normalen Zellzahl (z. B. zyklische Neutropenie) sind starke Risikofaktoren, die mit oft früh einsetzenden und dramatisch fortschreitenden Formen von Parodontitis einhergehen, die, wenn sie nicht adäquat therapiert werden, schon im Kindesalter zum Verlust aller Zähne führen können. Auf der anderen Seite mehren sich aber die Hinweise, dass nicht nur hyporeaktive PMNs ein Risikofaktor für Parodontitis sind, sondern insbesondere auch chronisch hyperreaktive Zellen zu einer ausgeprägten Gewebezerstörung beitragen können [6]. In der zweiten Abwehrlinie des Immunsystems werden spezifische Antikörper von B-Lymphozyten gebildet, die dafür allerdings die Hilfe von T-Zellen benötigen. Das Zytokinmuster der T-Helferzellen (TH) ist unterschiedlich, und es wird diskutiert, dass das quantitative Verhältnis von TH1- zu TH2-Zellen und deren entsprechend freigesetzte Zytokine im entzündlichen Infiltrat Einfluss auf die Progression der Parodontitis haben [7]. Parodontitispatienten können beträchtliche Mengen an Antikörpern gegen parodontalpathogene Bakterien bilden. Hohe AK-Serumtiter bedeuten aber lediglich die Identifikation dieser Keime durch das Immunsystem, implizieren aber nicht automatisch eine Verringerung der parodontalen Destruktion oder dass vor Ort wirklich genügend Immunglobuline vorhanden sind, da parodontalpathogene Bakterien Immunglobuline enzymatisch abbauen können. Patienten mit Parodontitis haben darüber hinaus oft Antikörper mit einer verminderten Avidität gegenüber den parodontalpathogenen Keimen.
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Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
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Die körpereigene Abwehrreaktion nimmt in der Pathogenese eine mindestens gleichwertige Rolle gegenüber den Mikroorganismen ein. Allerdings sind die Entzündungsreaktionen bisher therapeutisch nur schwer oder gar nicht beeinflussbar. Im Tierversuch konnten erstmals Lipoxine, die als antiinflammatorische Metaboliten beim Arachidonsäurestoffwechsel freigesetzt werden, erfolgreich angewendet werden, um die Zerstörung des Parodonts trotz experimentell induzierter Gingivitis zu verhindern [8]. Die Anwendung solcher Mediatoren könnte zukünftig eine Möglichkeit darstellen, zur Auflösung der Entzündung therapeutisch beizutragen.
12.3.3 Endogene und exogene Risikofaktoren Die Unterschiede in Schwere und Verlauf parodontaler Erkrankungen gehen zu einem großen Teil (bis zu 50 %) auf genetische Faktoren zurück. Die Beobachtung, dass die Zerstörung des Zahnhalteapparates vielmehr durch eine unangemessen regulierte Immunantwort verursacht wird, hat dazu geführt, v. a. nach Polymorphismen in Genen zu forschen, die an der körpereigenen Abwehrfunktion beteiligt sind. Die Suche nach dem „auslösenden“ Gen ist aber schwierig, da Parodontitis keine Erkrankung ist, die durch Mutation eines einzelnen Genes verursacht wird, sondern bei der wahrscheinlich Polymorphismen in unterschiedlichen Gensequenzen zusammenkommen und sich in ihrer Wirkung addieren. Im Vordergrund stehen dabei Polymorphismen in pro- und antiinflammatorischen Zytokinen, Zytokinrezeptoren sowie Immunglobulinrezeptoren, Hormonen und Hormonrezeptoren, HLA-Antigenen oder dem Formylpeptid(fMLP-)Rezeptor. Bisher gibt es allerdings nur einen kommerziell erhältlichen Test, mit dem Polymorphismen im Interleukin-1(IL-1-)Gencluster untersucht werden können. IL-1β nimmt eine zentrale Stellung in der Pathogenese der Parodontitis ein. Die Bildung von IL-1β im Parodont wird z. B. durch die Anwesenheit v. a. gramnegativer Mikroorganismen induziert. IL-1β hat vielfältige biologische Funktionen, u. a. induziert es die Expression von Matrixmetalloproteinasen (MMP) in Fibroblasten, wodurch der Abbau von parodontalem Bindegewebe und die Knochenresorption stimuliert werden. Ein positiver IL-1β-Polymorphismus alleine scheint aber das Risiko für Parodontitis
nicht deutlich zu erhöhen, sondern erst in der Interaktion mit weiteren Risikofaktoren, wie z. B. Rauchen (s. Tab. 12.1, [4, 9]). Daneben können genetische Erkrankungen, die die Funktion bzw. Zahl der PMN oder den Bindegewebsund Knochenstoffwechsel (u. a. Ehlers-Danlos-Syndrom, Hypophosphatasie) betreffen, ebenfalls das Risiko für Parodontitis erhöhen. Nikotinkonsum ist der erworbene Risikofaktor, der wissenschaftlich anerkannt den stärksten negativen Einfluss auf den Verlauf und die Schwere der Parodontitis hat [4, 9, 10]. In verschiedenen Studientypen konnte eine moderate bis starke Assoziation zwischen Nikotinkonsum und Parodontitis gezeigt werden, darüber hinaus war der Therapieerfolg bei Rauchern deutlich geringer als bei Nichtrauchern bzw. ehemaligen Rauchern. Raucher haben ein 3- bis 4-fach höheres Risiko, an Parodontitis zu erkranken, als Nichtraucher. Dabei ist der negative Effekt des Rauchens stark dosisabhängig (starke Raucher haben ein 7- bis 8-fach höheres Risiko für Parodontitis). Bei ehemaligen Rauchern sind geringere Attachmentverluste als bei aktiven Rauchern zu beobachten, 5 – 10 Jahre nach Raucherentwöhnung ist das Risiko des ehemaligen Rauchers mit dem des Nichtrauchers vergleichbar. Verschiedene Faktoren tragen zur negativen Wirkung des Rauchens auf die parodontalen Gewebe bei. Neben den lokalen Effekten auf die Mundschleimhaut beeinträchtigt der Nikotinkonsum v. a. Aspekte der unspezifischen und spezifischen Immunreaktion. Auch wenn Raucher generell nicht mehr bakterielle Plaque an den Zähnen haben als Nichtraucher, gibt es Hinweise darauf, dass qualitativ mehr parodontalpathogene Keime in der subgingivalen Plaque nachweisbar sind. Rauchen reduziert die Blutversorgung des Parodonts. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf die Phasen des Rauchens einer Zigarette, sondern ist ein langfristiger chronischer Effekt. Daher zeigen Raucher an der Gingiva oft weniger ausgeprägte Entzündungszeichen als Nichtraucher (z. B. weniger Blutung auf Sondieren oder geringere Rötung der Gingiva). Da viele Menschen sehr viel regelmäßiger ihren Zahnarzt als ihren Hausarzt aufsuchen, wird zunehmend über die Möglichkeiten des zahnärztlichen Teams in der Rauchentwöhnung diskutiert ([LL 3], s. a. Kap. 36). Fall-Kontroll- und Querschnittsstudien haben gezeigt, dass Menschen unter psychosozialem Stress verstärkt klinische Attachmentverluste und Knochenabbau erleiden.
Tabelle 12.1 Beispiel für Erhöhung des Parodontitisrisikos durch die synergistische Interaktion von Risikofaktoren (RF) [4, 9]. 0 RF
1 RF
IL-1-Polymorphismus positiv
-
+
+
+
+
+
+
+
pathogene Bakterien
-
-
+
-
-
+
-
+
starker Raucher
-
-
-
+
-
+
+
+
schlechte Mundhygiene
-
-
-
-
+
-
+
Odds ratio
128
1,0
2,7
2 RF
3 RF
ca. 7–15
4 RF
ca. 15–20
+ > 20
Paradontitis als Risikofaktor für die allgemeine Gesundheit
Eine mögliche Erklärung dafür ist die durch Stress verstärkte Produktion von Zytokinen. Generell schwächt insbesondere chronischer Stress die Immunabwehr. Stress beeinflusst aber auch das menschliche Verhalten (Ernährungs- und Mundhygienegewohnheiten, Nikotinkonsum) und damit indirekt die Entzündungsreaktion. In longitudinalen oder Interventionsstudien konnte Stress zwar bisher nicht eindeutig als unabhängiger Risikofaktor für Parodontitis bestätigt werden, es gibt aber Hinweise darauf, dass die Bewältigungsstrategie für Stress ein weiterer wichtiger Einflussparameter ist ([4, 9], s. a. Kap. 35). Auch Osteoporose wird bisher nur als Risikoindikator für Parodontitis eingeschätzt. Zahlreiche Querschnittsstudien zeigen zwar, dass die Dichte des Alveolarknochens bei Patienten mit Osteopenie bzw. -porose geringer ist als bei Gesunden und auch alveolärer Knochenabbau mit der Erkrankung korreliert. Bisher konnte aber ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Attachmentverlusten und Osteoporose nicht belegt werden [4, 9]. Zunehmendes Alter ist zwar epidemiologisch mit einer höheren Prävalenz und einem stärkeren Ausmaß von Parodontalerkrankungen assoziiert. Allerdings ergibt sich dieser Zusammenhang eher aus dem kumulativen Effekt anderer Risikofaktoren über die Zeit als durch den Alterungsprozess selbst [4, 9]. Das Ausmaß der parodontalen Zerstörung in Bezug zum Alter des Patienten kann allerdings ein guter Prädiktor für die weitere Progression der Erkrankung sein.
12.4 Parodontitis als Risikofaktor für die allgemeine Gesundheit Systemische Erkrankungen können sich an oralen Geweben manifestieren. Umgekehrt sind die Auswirkungen chronischer oraler Infektionen auf die allgemeine Gesundheit bis heute nicht vollständig geklärt. Parodontitis ist ätiologisch mit dem Vorhandensein eines subgingivalen Biofilms mit überwiegend gramnegativen anaeroben Bakterien assoziiert. Bei zahnärztlichen Maßnahmen, aber auch beim Kauen oder Zähneputzen kann es zum Eindringen der Mikroorganismen (Bakteriämie), deren Virulenzfaktoren und proinflammatorischer Zytokine aus dem Gewebe in die Blutbahn kommen, die sich dann im Organismus verteilen können. Zu den mit Parodontitis in Verbindung gebrachten systemischen Erkrankungen gehören kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen, Schwangerschaftskomplikationen (Präeklampsie, Frühgeburten, niedriges Geburtgewicht) und Diabetes mellitus.
12.4.1 Parodontitis und kardio-/ zerebrovaskuläre Erkrankungen Zahlreiche Querschnittsstudien konnten eine Assoziation zwischen Parodontitis und kardio- sowie v. a. zerebrovaskulären Erkrankungen (z. B. Atherosklerose) zeigen. Da sich viele Untersuchungen allerdings auf unspezifische klinische und radiologische Parameter zur Beurteilung der parodontalen Erkrankungen stützen, ist nicht eindeutig klar, ob der Zusammenhang wirklich kausaler oder nur zufälliger Natur ist, da beide Erkrankungen viele Risikofaktoren miteinander teilen (z. B. Rauchen). Die Bestätigung von Parodontitis als möglicher, unabhängiger Risikofaktor für kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen im Rahmen von Interventionsstudien ist problematisch, da sich diese über einen sehr langen Zeitraum erstrecken müssten, bis es zu einer der Erkrankungen kommt. Daher wird zumeist der Einfluss der Parodontaltherapie auf anerkannte Risikofaktoren für kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen untersucht. Erste Studien konnten zeigen, dass es durch eine Parodontitistherapie zu einer signifikanten und stabilen Reduktion des CRP-Serumspiegels kommt [11]. Auch der IL-6-Spiegel wird durch eine Parodontaltherapie reduziert und die Behandlung hat einen signifikant positiven Effekt auf die Elastizität der Gefäße [11] (s. a. Kap. 3).
12.4.2 Parodontitis und Schwangerschaftskomplikationen Schwangere haben generell kein erhöhtes Risiko für Parodontitis, können aber aufgrund der hormonellen Umstellung eine verstärkte Entzündungsreaktion auf bakterielle Plaque entwickeln. In tierexperimentellen, FallKontroll- und Kohortenstudien konnte allerdings ein Zusammenhang zwischen Parodontitis und dem Auftreten von Schwangerschaftskomplikationen wie Präeklampsie, Frühgeburt und zu niedrigem Geburtsgewicht beobachtet werden. Das Risiko von parodontal erkrankten Schwangeren, Kinder zu früh und/oder untergewichtig zur Welt zu bringen, war in diesen Untersuchungen um das 2,3bis 5,8-Fache gegenüber parodontal gesunden Schwangeren erhöht [12]. Durch eine Parodontalbehandlung konnte die Rate von Frühgeburten zwar reduziert werden, allerdings war dieser Unterschied nicht in allen Studien statistisch signifikant. In mikrobiologischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass es bei parodontal erkrankten Schwangeren häufiger zu Frühgeburten kam, wenn sie keine protektive Abwehrreaktion gegen Parodontalpathogene entwickelt hatten. Das Risiko stieg deutlich, wenn fetale Antikörper gegen Parodontalpathogene und darüber hinaus Entzündungsmediatoren im Nabelschnurblut nachweisbar waren.
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Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
12.4.3 Parodontitis und Diabetes mellitus
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Der Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Parodontitis ist bidirektional. Patienten mit Diabetes mellitus haben ein bis zu 3-fach höheres Risiko, an Parodontitis zu erkranken, als Gesunde. Dabei haben Typ-1- und Typ-2-Diabetes den gleichen negativen Einfluss. Das Risiko für Knochen- und Attachmentverluste hängt bei Diabetespatienten aber auch wesentlich von der Einstellung des Blutzuckerspiegels ab. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Hinweise, dass auch eine Parodontitis wie andere chronische Entzündungen die Ausprägung des Diabetes mellitus verstärkt und dessen Kontrolle erschwert.
12.5 Anamnese und Klinik Die Anamnese des Patienten ergibt bereits wichtige Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Parodontitis und sollte daher Fragen über das Vorliegen folgender Erkrankungen bzw. Verhaltensweisen enthalten: ● Liegt ein Diabetes mellitus vor und wenn ja, wie ist der Blutzuckerspiegel eingestellt? ● Raucht der Patient und wenn ja, wie lange und wie viele Zigaretten pro Tag? ● Sind Erkrankungen oder Dysfunktionen der Leukozyten bekannt? ● Leiden andere Familienangehörige an Parodontitis (als Hinweise auf eine genetische Prädisposition oder die Übertragung von Keimen)? ● Leidet der Patient an Osteoporose? Zu den klinischen Symptomen der Parodontitis, die der Patient selbst beobachten kann, gehört z. B. Zahnfleischbluten bei normaler mechanischer Beanspruchung. Zahnfleischbluten kann bereits bei einer Gingivitis vorliegen, diese geht aber zumeist einer Parodontitis voraus und sollte daher auch behandelt werden. Parodontitis ist eine Erkrankung, die meist ohne Beschwerden zu verursachen über einen langen Zeitraum voranschreitet. Erst im fortgeschrittenen Stadium kann es zu spezifischen Symptomen wie Zahnfleischrückgang, Zahnlockerung, Wanderung der Zähne oder spontanem Zahnverlust kommen.
12.6 Diagnostik und instrumentelle Untersuchung in der Parodontologie Trotz des zunehmenden Wissens um die Pathogenese der Parodontitis basieren Diagnose und Klassifikation dieser Erkrankung weiterhin vorwiegend auf klinischen Messungen. Darüber hinaus gibt es weiterführende diagnostische Testverfahren, die bei bestimmten Indikationen oder zur genaueren Risikobeurteilung selektiv angewendet werden. Wirtsbasierte Testverfahren haben bisher noch nicht ihren Weg in die zahnärztliche Routine gefunden. In Abb. 12.3 werden die diagnostische Sequenz als Flussdiagramm dargestellt und die Verfahren im Weiteren kurz erläutert. Alle diagnostischen Tests können in der zahnärztlichen Allgemeinpraxis durchgeführt werden. Allerdings sollte bei Verdacht auf eine fortgeschrittene Parodontitis, auch in Hinblick auf die Therapie, die Überweisung an einen überwiegend parodontologisch tätigen Zahnarzt (Spezialist der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie oder Fachzahnarzt für Parodontologie) erfolgen.
12.6.1 Parodontaler Screening Index (PSI) Der PSI ist der wichtigste diagnostische Routinetest in der zahnärztlichen Praxis, um Parodontalerkrankungen frühzeitig zu erkennen. Er umfasst 5 Grade, aus denen sich unterschiedliche Therapieempfehlungen ableiten. Für die Messung wird das Gebiss in Sextanten eingeteilt, die Erhebung des Index erfolgt am besten mit einer speziellen Sonde (WHO-Sonde), die die Zuordnung zu den verschiedenen Graden vereinfacht. Jeder Sextant wird durch den höchsten gemessenen Grad charakterisiert. Sobald man in einem Sextanten den höchsten Grad erreicht hat, kann ohne die Messung der restlichen Zähne in den nächsten Sextanten übergegangen werden. Der PSI eignet sich daher zur raschen Diagnostik. Innerhalb weniger Minuten lassen sich Patienten mit Parodontalerkrankungen identifizieren und einer weiterführenden Diagnostik – eventuell durch einen Spezialisten – zuführen.
12.6.2 Parodontalstatus Weblinks ● ●
130
Deutsche Gesellschaft für Parodontologie: www.dgparo.de Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde: www.dgzmk.de
Zeigt sich durch den PSI bei einem Patienten der Verdacht auf eine Parodontalerkrankung, müssen alle Zähne eingehend untersucht werden, um das Ausmaß der Erkrankung beurteilen und eine konkrete Diagnose sowie Prognose für die Zähne stellen zu können. Der Parodontalstatus umfasst die folgenden Befunde: Messung der Taschentiefen und der Attachmentverluste, Bluten nach Sondieren, Lockerung der Zähne und Furkationsbeteiligung. Beim Menschen sind die großen Ba-
Diagnostik und instrumentelle Untersuchung in der Parodontologie
Anamnese (Risikofaktoren oder -indikatoren für Parodontitis: Nikotinkonsum, Diabetes mellitus, Erkrankungen/Dysfunktionen der Leukozyten, Osteoporose, Stress und familiäre Häufungen von Parodontitis
Abb. 12.3 Flussdiagramm zur parodontalen Diagnostik. PSI = parodontaler Screening Index, PZR = professionelle Zahnreinigung, IL-1β = Interleukin-1β.
PSI (regelmäßig, mind. alle 2 Jahre)
keine anamnestischen Risikofaktoren, klinisch gesund
anamnestische Risikofaktoren und/oder klinische Zeichen für eine Gingivitis
Verdacht auf eine Parodontitis
regelmäßige Kontrolle des zahnärztlichen und parodontalen Befundes, z. B. in jährlichen Abständen
Aufklärung über Risikofaktoren für Parodontitis und Möglichkeiten diese zu beeinflussen (z. B. Raucherentwöhnungsprogramme), Demonstration und Instruktion zu einer effektiven individuellen Mundhygiene, PZR
Parodontalstatus zur Beurteilung der klinischen Situation ggf. Röntgenbilder zur Beurteilung des Knochenabbaus Diagnose ggf. Bestimmung parodontalpathogener Keime bei bestimmten Indikationen/Diagnosen
regelmäßige Kontrolle des zahnärztlichen und parodontalen Befundes, z. B. in halbjährlichen Abständen mit Reevaluation der Mundhygiene und PZR
Parodontitistherapie Bestimmung des individuellen Parodontitisrisikos (ggf. IL-1β β-Polymorphismus) Nachsorge/Recall in risikoorientierten Intervallen
ckenzähne (Molaren) und häufig die ersten kleinen Backenzähne (Prämolaren) im Oberkiefer mehrwurzlig. Die Stelle, an der sich die Zahnwurzel dieser Zähne teilt, bezeichnet man als Furkation. Wenn durch Parodontitis der Zahnhalteapparat (Bindegewebe und Knochen) zerstört wird, kann dies bei den mehrwurzeligen Zähnen auch zwischen den Wurzeln stattfinden. Es entstehen dadurch sehr schwer zugängliche und therapierbare Nischen, und man spricht von Furkationsbeteiligung. Bei der Einschätzung der Schwere und des Ausmaßes der Parodontitis stehen die Sondierungstiefen und der Attachmentverlust im Vordergrund, beide werden in mm an mehreren Stellen pro Zahn gemessen. Der Schwellenwert bei Sondierungstiefen liegt bei ≥ 4 mm und bei einem Attachmentverlust von > 0 mm. Die Erhebung dieser Werte unterliegt aber verschiedenen Fehlerquellen (u. a. Lokalisation der Messung, Messdruck), die sich negativ auf die Reproduzierbarkeit auswirken können [LL 5]. Ein weiterer wichtiger Parameter für das Vorliegen einer aktiven Entzündung am Boden der Tasche ist, ob es nach der Messung zu einer Blutung kommt (Bluten auf Sondieren: bleeding on probing = BOP). Allerdings unterliegt auch der BOP verschiedenen Fehlerquellen, daher
hat nur ein wiederholt negativer BOP einen guten Vorhersagewert für parodontale Stabilität an dieser Stelle [12].
12.6.3 Röntgenbilder zur Beurteilung des Knochenabbaus Eine Parodontitisdiagnose kann nie allein aufgrund eines röntgenologischen Befundes gestellt werden, auf der anderen Seite müssen die klinischen Befunde durch Röntgenaufnahmen ergänzt werden. Auf Röntgenbildern lässt sich zwar das Ausmaß des Knochenabbaus beurteilen, aber nicht, wann dieser Abbauprozess abgelaufen ist [LL 5]. Röntgenbilder sind weiterhin dadurch limitiert, dass die dreidimensionale Patientensituation auf eine zweidimensionale Abbildung reduziert wird, und so bestimmte Zahnflächen nicht beurteilt werden können. Darüber hinaus kann es zu projektionsbedingten Überlagerungen und Artefakten kommen, daher sind Röntgenbilder zwar sehr sensitiv, aber wenig spezifisch für Knochenabbau.
131
12
Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
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12.6.4 Nachweis von parodontalpathogenen Mikroorganismen
12.6.5 Bestimmung von genetischen Polymorphismen
Wenige Formen der Parodontitis stehen im Zusammenhang mit spezifischen Bakterien, die auf eine mechanische Therapie schlecht ansprechen. Der Nachweis von parodontalpathogenen Mikroorganismen in der subgingivalen Mikroflora dient also primär nicht der Diagnosestellung, sondern unterstützt die weitere Therapieplanung [LL 2]. Eine Reihe von Firmen bieten für die zahnärztliche Praxis Entnahme- und Analysekits zur Untersuchung von parodontalpathogenen Mikroorganismen an, deren Auswertung auf molekularbiologischen Verfahren basieren. Diese bieten gegenüber der konventionellen Kultivierung einige Vorteile. Der Transport der Proben ist unkompliziert, da für die Analyse keine lebenden Bakterien benötigt werden. Die Auswertung erfolgt innerhalb weniger Tage, und die Verfahren haben abhängig von der verwendeten Methode eine sehr niedrige Nachweisgrenze. Auch die Spezifität dieser Tests konnte in den letzten Jahren deutlich verbessert werden. Die Kultivierung findet aber weiterhin Anwendung für spezielle Fragestellungen oder wissenschaftliche Untersuchungen, da mit ihr ein größeres Spektrum von Bakterien nachgewiesen und charakterisiert werden kann. Da Parodontitis eine zyklisch verlaufende Erkrankung mit Aktivitäts- und Ruhephasen ist, werden die Proben aber möglicherweise zu einem Zeitpunkt entnommen, an dem keine aktive Mikroflora vorliegt. Mikroorganismen, die an erkrankten Stellen scheinbar vorherrschen, halten sich dort vielleicht aufgrund der veränderten Lebensbedingungen auf, statt die Erkrankung tatsächlich verursacht zu haben, wodurch wichtige Zusammenhänge verschleiert werden können. Da einige Parodontalpathogene nicht gleichmäßig über das Gebiss verteilt sind, sind auch die Probenanzahl und die Auswahl der Stellen, an denen Proben entnommen werden, potenzielle Fehlerquellen für den fehlenden Nachweis von Parodontalpathogenen.
Der Test zur Bestimmung von Polymorphismen im IL-1Gencluster kann ohne großen Aufwand durchgeführt werden, indem Zellen von der Mundschleimhaut mittels eines Schaumstoffträgers abgewischt werden. Das Testergebnis hat allerdings keinen Einfluss auf den Ablauf der aktiven Therapie, kann aber zur genauen Bestimmung des individuellen Parodontitisrisikos und damit der Bestimmung der Intervalle der Nachsorgebehandlung (unterstützende Parodontitistherapie, Recall) sinnvoll sein [LL 5].
12.6.6 Enzyme und Entzündungsmediatoren in der Sulkusflüssigkeit Durch die Notwendigkeit, sich kontinuierlich der mechanischen Belastung anzupassen, unterliegt das parodontale Ligament ständigen Umbauvorgängen. Dabei bleiben der Ab- und Aufbau von extrazellulären Matrixkomponenten im Gleichgewicht. In pathologischen Zuständen ist dieses Gleichgewicht zwischen Synthese und Degradation gestört. Die Degradation von Kollagen erfolgt durch extrazelluläre MMP und anschließendem intrazellulärem Abbau. MMP können endogen oder durch Gewebeinhibitoren (TIMP) blockiert werden. Spezifische MMP können in der Sulkusflüssigkeit von Patienten mit Gingivitis oder Parodontitis im Vergleich zu Gesunden in großen Mengen nachgewiesen werden [13]. Auch der Gehalt der Inhibitoren sowie pro- und antiinflammatorischer Zytokine oder bakterieller LPS in der Sulkusflüssigkeit sind typisch für eine Entzündung. Sowohl für die Enzyme als auch für die Entzündungsmediatoren besteht aber das Problem, dass sie bei allen entzündlichen Prozessen, physiologischen Umbauvorgängen und z. T. der Wundheilung gebildet werden und daher nicht spezifisch für Parodontitis sind [LL 5].
Leitlinienbox LL 1: American Academy of Periodontology. Guidelines for the management of Patients with periodontal diseases. J Periodontol. 2006;77:1607-11. LL 2: Beikler T, Karch H, Flemmig TF. Mikrobiologische Diagnostik in der Parodontitistherapie. Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DGP) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK). Dtsch Zahnärztl Z. 2005;60:660-2.
132
LL 3: American Academy of Periodontology. Position paper: Tobacco use and the periodontal patient. J Periodontol. 1999;70:1419-27. LL 4: American Academy of Periodontology. Position paper: Periodontal maintenance. J Periodontol. 2003;74:1395-1401. LL 5: American Academy of Periodontology. Position paper: Diagnosis of periodontal diseases. J Periodontol 2003; 74:1237-47.
Präventive Maßnahmen
ver Parodontitistherapie kommt es sehr wahrscheinlich zu erneuten Infektionen und fortschreitenden parodontalen Destruktionen. Die Nachsorge von parodontal erkrankten Patienten sollte daher ein Leben lang erfolgen, um die Zähne langfristig erhalten zu können. Unter der Voraussetzung einer solchen Nachsorge sind weitere Attachment- oder Zahnverluste selbst bei parodontal stark vorgeschädigten Patienten seltene Ereignisse [LL 4]. In der aktiven Parodontitistherapie werden die parodontalpathogenen Keime zwar reduziert, jedoch können sie nie ganz eliminiert werden. Aus diesem Grund bedarf die Effektivität der individuellen Plaquekontrolle auch bei anfänglich hoch motivierten Patienten einer lebenslangen Kontrolle. Daher ist die Erhebung von Indizes zur Beurteilung der gingivalen Entzündung und der Plaqueakkumulation am Zahn ein fester Bestandteil jeder Recallsitzung. Im Anschluss werden sämtliche Zähne sorgfältig von supragingivaler Plaque sowie Zahnstein gereinigt und die Zahnoberflächen gründlich poliert. Anschließend erfolgt eine ausführliche Erhebung des oralen und parodontalen Befundes. Nach Abschluss der Befunderhebung werden Resttaschen sowie reinfizierte Stellen ggf. subgingival gereinigt. Der Zeitbedarf für eine Recall-
12.7 Präventive Maßnahmen Das Risiko, an Parodontitis zu erkranken, und der Verlauf und die Schwere der Erkrankung sind individuell unterschiedlich. Allerdings werden Patienten mit einem erhöhten Risiko für Parodontitis oft erst als solche erkannt, wenn sich die Erkrankung manifestiert hat. Dabei können bereits Informationen aus der Anamnese des Patienten oder Verhaltensweisen auf ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von Parodontitis hinweisen. Obwohl die Parodontitis eine multifaktorielle Erkrankung mit unterschiedlichen Risikofaktoren ist, beschränken sich die präventiven Maßnahmen in der zahnärztlichen Praxis bis heute auf die Beeinflussung der mikrobiellen Plaque als dem Auslöser der Erkrankung. Auch Patienten, die bereits eine systematische Parodontitistherapie erfolgreich abgeschlossen haben, müssen anschließend in eine regelmäßig organisierte und strukturierte Nachsorgetherapie eingegliedert werden. Der Langzeiterfolg einer Parodontitistherapie hängt von der Qualität dieser unterstützenden Parodontitistherapie (UPT, Recall) ab. Ohne konsequente Nachsorge nach akti-
Tabelle 12.2 Modifizierter Bogen zur Bestimmung des individuellen Parodontitisrisikos [nach 14]. Beispiel für die Risikobestimmung eines Patienten (Individualwerte mittelblau) in der unterstützenden Parodontitistherapie (Recall). Auf Grund von klinischen und radiologischen Parametern (22 % der gemessenen Stellen mit positiven BOP, 3 Stellen mit Sondierungstiefen von ≥ 5 mm, Verlust von einem Zahn und einem mittleren Knochenabbau in Bezug zu seinem Lebensalter) und der Anamnese des Patienten (Zigarettenkonsum und Diabetes mellitus als systemischer Faktor) ergibt sich bei dem Patienten ein mittleres Parodontitisrisiko. Das Recall sollte daher in halbjährlichen Abständen stattfinden. Prüfe diese Risikofaktoren, trage die Werte in Spalte 2 ein und markiere die entsprechenden Schwellenwerte in den Spalten 3–8
niedriges Risiko
mittleres Risiko
hohes Risiko
1. Bluten auf Sondieren (BOP) in %
22
≤4
5–9
10–16
17–25
25–35
≥ 36
2. Zahl der Stellen mit ST ≥ 5 mm
3
≤2
4
6
8
9
≥ 10
3. Zahl der verlorenen Zähne (ohne 8er)
1
≤2
4
6
8
9
≥ 10
4. Knochenabbau (Index)
0,63
≤ 0,25
0,26– 0,5
0,51–0,75
0,76–1,0
1,1–1,24
≥ 1,25
5. Zigarettenkonsum
5
Nichtraucher
ehemaliger Raucher
≤ 10/Tag
10–19/ Tag
≥ 20/Tag
Vorläufige Risikoeinschätzung
niedriges Risiko
mittleres Risiko
hohes Risiko
6. systemische/genetische Faktoren: Diabetes mellitus HIV-Infektion gingivoparodontale Manifestation systemischer Erkrankungen ● Interleukin-1β-Polymorphismus
Faktor nicht vorhanden
Faktor wurde nicht verzeichnet
Faktor vorhanden
endgültige Risikoeinschätzung
niedriges Risiko
mittleres Risiko
hohes Risiko
● ● ●
12
niedriges Parodontitisrisiko
mittleres Parodontitisrisiko
hohes Parodontitisrisiko
alle Parameter in der niedrigen Kategorie, max. 1 Parameter in der mittleren Kategorie
2 Parameter in der mittleren Kategorie, max. 1 Parameter in der hohen Kategorie
mind. 2 Parameter in der hohen Kategorie
133
Zahnerhalt und Parodontitisprophylaxe
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sitzung wird oft unterschätzt. Die diagnostischen, prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen können bis zu einer Stunde dauern und die Umsetzung eines strukturierten Recallsystems in der zahnärztlichen Praxis erfordert daher eine gute Organisation. Die Festlegung der Recallintervalle sollte risikoorientiert erfolgen. Die Interpretation der unterschiedlichen Faktoren und Indikatoren für die Bedeutung des individuellen Risikoprofils ist aber oft schwierig, da sich die Faktoren in ihrem Effekt nicht nur einfach addieren, sondern synergistisch wirken können. Erschwerend kommt hinzu, dass lokale Faktoren das Risiko an einzelnen Zähnen bzw. Zahnflächen zusätzlich stark beeinflussen können, sodass bei der Risikobeurteilung mehrere Ebenen innerhalb des Patienten berücksichtigt werden müssen. In Tab. 12.2 wird eine Möglichkeit zur Erfassung des individuellen Parodontitisrisikos erläutert. Dieser Bogen bezieht anerkannte Risikofaktoren für Parodontitis auf verschiedenen Ebenen in die Analyse mit ein [14, LL 1, LL 4]. Individuelle Mundhygiene, also Zähneputzen und Zahnseide, wirkt sich mit einer gewissen Trägheit auf den Entzündungszustand des Parodonts aus. Diese Auswirkung wird mittelbar aber zuverlässig über den Parameter Bluten auf Sondieren (BOP) erfasst.
?
Häufige Patientenfragen
Bekommt jeder Mensch im Laufe des Lebens eine Parodontitis? ● Nein, allerdings erkrankt doch ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70 %) mit zunehmenden Alter an einer leichten oder moderaten Form von Parodontitis. Nur wenige Menschen entwickeln eine sehr schwere Form (ca. 10 – 15 %). Wie bemerke ich selbst, dass ich Parodontitis habe? Parodontitis ist eine Erkrankung, die meist nicht schmerzhaft voranschreitet und daher lange unbemerkt bleibt. Das erste sichtbare Symptom dafür, dass der Zahnhalteapparat entzündlich geschädigt ist, ist Zahnfleischbluten. Schwellungen, Zahnwanderungen, der Rückgang des Zahnfleischs oder auch Lockerung der Zähne, sind ebenfalls typisch für diese entzündliche Erkrankung, weisen aber schon auf ein fortgeschrittenes Stadium hin.
●
Ist Parodontitis erblich? Der Verlauf und die Schwere der Parodontalerkrankung wird durch erbliche Faktoren beeinflusst. Der Auslöser für Parodontitis sind aber in erster Linie bakterielle Ablagerungen auf den Zähnen.
●
Was kann ich zu Hause dagegen tun? ● Parodontitis wird durch bakterielle Zahnplaque verursacht, und eine effektive häusliche Mundhygiene ist der beste Schutz vor dieser Erkrankung. Ein weiterer wichtiger erworbener Risikofaktor, den Sie selbst beeinflussen können, ist das Rauchen.
134
Ich putze sehr gründlich meine Zähne und habe trotzdem eine Parodontitis bekommen. Woran liegt das? ● Ob Ihre Mundhygiene wirklich effektiv ist, kann der Zahnarzt durch Anfärben der bakteriellen Beläge überprüfen. Es gibt aber auch wenige Menschen, die trotz einer ausgezeichneten Mundhygiene an Parodontitis erkranken. Oft verursachen dann besonders aggressive Bakterien die Parodontitis, die schon in geringen Mengen eine starke Entzündung induzieren. Aber auch Menschen mit Erkrankungen, die die körpereigene Abwehrreaktion negativ beeinflussen, haben ein höheres Risiko für Parodontitis. Ist Parodontitis ansteckend? Erwachsene Menschen besitzen meist eine stabile orale Mikroflora, die eine Besiedlung und Infektion mit neuen Bakterien verhindert. Anders verhält es sich im Kindesalter, dort kann es zu einer Übertragung von Mikroorganismen, gerade von der Mutter auf das Kind, kommen.
●
Beeinflusst eine Parodontitis meine allgemeine Gesundheit? ● Die Bakterien, die Parodontitis verursachen, und deren Entzündungsmediatoren können in die Blutbahn gelangen und damit systemische Erkrankungen auslösen. Es gibt Hinweise darauf, dass Parodontitis das Risiko für kardiound zerebrovaskuläre Erkrankungen erhöht. Parodontitis hat auch Einfluss auf die Kontrolle des Diabetes mellitus. Ich bin schwanger und habe Parodontitis, soll ich eine Parodontaltherapie durchführen lassen? ● Da bestimmte Formen von Parodontitis durch sehr aggressive Bakterien verursacht werden können, die nach der Geburt übertragen werden können, ist es sinnvoll eine Parodontaltherapie möglichst vor der Schwangerschaft durchzuführen. Darüber hinaus wird Parodontitis als Risikofaktor für Schwangerschaftskomplikationen diskutiert. Falls eine Parodontaltherapie in der Schwangerschaft notwendig ist, kann sie im 2. Trimenon durchgeführt werden. Was kann mein Zahnarzt gegen Parodontitis tun? Die Aufgabe des Zahnarztes ist es in erster Linie, einer Erkrankung vorzubeugen bzw. eine mögliche Parodontitis frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Parodontitis ist eine Erkrankung, die man allein durch die Inspektion der Zähne und des Zahnfleisches oft nicht erkennen kann. Daher ist es notwendig, die Zahnfleischtaschen regelmäßig zu messen, um beurteilen zu können, ob sie pathologisch vertieft bzw. entzündet sind.
●
Ist der Zahnfleischrückgang nach der Therapie wieder reversibel? ● Durch die Parodontaltherapie soll erreicht werden, dass die Erkrankung zum Stillstand kommt. Die bereits eingetretenen Schäden sind leider in den allermeisten Fällen therapeutisch nicht rückgängig zu machen.
Präventive Maßnahmen
Literatur 1. Micheelis W, Schiffner U (Hrsg.). Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV). Materialienreihe Band 31 des Instituts der Deutschen Zahnärzte. Köln: Deutscher Zahnärzte Verlag; 2006. 2. Page RC, Kornman KS. The pathogenesis of human periodontitis: an introduction. Periodontol 2000. 1997; 14:8-11. 3. Listgarten MA. The structure of dental plaque. Periodontol 2000. 1994;5:52-65. 4. Heitz-Mayfield LJA. Disease progression: identification of high-risk groups and individuals for periodontitis. J Clin Periodontol. 2005;32(Suppl. 6):196-209. 5. Ishikawa I, Nakashima K, Koseki T et al. Induction of the immune response to periodontopathic bacteria and its role in the pathogenesis of periodontitis. Periodontol 2000. 1997;14:79-111. 6. Meyle J, Gonzáles JR. Influences of systemic diseases on periodontitis in children and adolescents. Periodontol 2000. 2001;26:92-112.
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12
135
Vorsorge für Frauen
13 Vorsorge für Frauen M.W. Beckmann, G. Mehlhorn, H. Binder, R. Schulz-Wendtland, B. Meurer
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Das Wichtigste in Kürze Die Vorsorgeuntersuchungen für Frauen umfassen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Aspekte, u. a. die 3 folgenden Hauptgebiete: ● gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP) ● Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen ● allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) mit speziellem Aspekt der Hormonersatztherapie Das GKFP schließt knapp 45 % der weiblichen Karzinome mit Ausrichtung auf die Brust und das weibliche Genitale ein. Das Mammografie-Screening wird derzeit etabliert, die übrigen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sind bereits seit Langem Standard. Zur Effektivität fehlt dem derzeitigen GKFP neben der Integration von neuen Methoden die Teilnahmequote von mindestens 70 %. Bei den Schwanger- und Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen ist die Teilnahmerate mit 90 % die höchste Rate an einer Vorsorgeuntersuchung überhaupt. Der klar vorgegebene Zeit- und Untersuchungskatalog ist effektiv sowohl für die Kinder als auch die Mütter. Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) sind ab dem 35. Lebensjahr indiziert. Ein besonderer Aspekt ist in Ergänzung die Diskussion um die Hormonersatztherapie in der Peri- und Postmenopause. Diese sollte aufgrund der derzeitigen Datenlage sowohl was die Zeitdauer als auch die Dosis und Präparatewahl angeht, nur bei vorliegender Indikation eingeleitet werden. Jährliche Überprüfung der Indikation und Diskussion über Variationen des Risikos sind notwendig.
13.1 Einführung Die Vorsorgeuntersuchungen für Frauen umfassen im Gegensatz zu anderen medizinischen Gebieten und dem männlichen Geschlecht alle Zeitpunkte des Lebens einer Frau. Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) stehen normalerweise Versicherten, die das 35. Lebensjahr vollendet haben, jedes zweite Jahr zu. Diese sind auf die Früherkennung von internistischen Krankheiten wie v. a. von Herz-Kreislauf-, Nieren- und Zucker-Erkrankungen fokussiert. Nach SGB 5 § 25 haben Frauen auch einen jährlichen Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krebserkrankungen (gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm = GKFP). Neben diesen beiden Formen der Gesundheitsuntersuchungen kommt durch die einzigartige Lebenssituation der Schwangerschaft die Schwangerenvorsorge hinzu, deren gesetzliche Grundlage die Mutterschaftsrichtlinien darstellen.
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Somit gliedert sich das Gebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe in drei präventive Versorgungsbereiche: ● gesetzliche Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (GKFP) ● Schwanger- und Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen (Mutterschaftsrichtlinien) ● allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU; insb. auch in der Menopause) Voraussetzung für die Durchführung dieser Untersuchungen ist, dass (1) es sich um Zielkrankheiten handelt, die wirksam behandelt werden können, (2) dass Vor- und Frühstadium dieser Krankheiten durch diagnostische Maßnahmen erfassbar sind, (3) dass Krankheitszeichen medizinisch-technisch genügend eindeutig festgestellt werden können und (4) dass genügend Ärzte und Einrichtungen vorhanden sind, um die aufgefundenen Verdachtsfälle eingehend zu diagnostizieren und zu behandeln. Für diese drei Versorgungsbereiche in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe sind diese Voraussetzungen gegeben, sodass eine flächendeckende Durchführung dieser Vorsorgeuntersuchungen gegeben ist. Der synonyme Gebrauch verschiedener Begriffe ist sowohl für Laien wie auch im Fachgebiet Tätige verwirrend. Vorsorge ist hierbei als übergreifender Begriff zu sehen, der nicht synonym mit der Früherkennung, dem Screening und dem allgemeinen Begriff der Prävention zu sehen ist. Alle Begriffe haben eine unterschiedliche Definition, die bedingt deckungsgleich ist. Die Begriffe der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention werden in Kapitel 1 definiert und umfassen in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe folgende Aktivitäten: Als Primärprävention (zur generellen Senkung von Neuerkrankungen) sind beispielhaft die Impfung gegen das humane Papillomavirus (HPV) zur Senkung der Zervixkarzinominzidenz, die präkonzeptionelle Einnahme von Folsäure zur Reduktion der Neuralrohrdefekte oder die präventive Einnahme von Vitamin D und Kalzium zur Reduktion der Osteoporoseerkrankung zu nennen. Sekundärprävention (Entdeckung klinisch asymptomatischer Krankheitsstadien zur Senkung der Inzidenz manifester oder fortgeschrittener Erkrankungen) umfasst z. B. die Implementierung des Mammografie-Screenings zur Früherkennung des Mammakarzinoms, die Durchführung von Ultraschalluntersuchungen bei Rhesus-Blutgruppeninkompatibilität oder die krankengymnastische Behandlung der Beckenbodeninsuffizienz nach operativer Inkontinenzoperation. Tertiärprävention in weiterem Sinne ist die wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkran-
Gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP)
kung mit dem Ziel, Verschlimmerung und bleibende Funktionsverluste zu verhüten. Gesundheitspolitisches Ziel von Tertiärprävention im Sinne von Rehabilitation ist es, die Leistungsfähigkeit so weit wie möglich wiederherzustellen und die Inzidenz bleibender Einbußen und Behinderungen abzusenken. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, die im Gebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe subsumierten drei Versorgungsbereiche in Bezug auf die Primärprävention und Sekundärprävention darzustellen und kritisch zu diskutieren.
13.2 Gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP) Hauptteil der täglichen Arbeit in der frauenärztlichen Praxis sind u. a. Untersuchungen zu Genitalkarzinomen, wie Vulva-, Vagina-, Zervix-, Endometrium- bzw. Ovarialkarzinom sowie zum Mammakarzinom sowohl im Rahmen der Krebsfrüherkennung wie auch der Nachsorge [1]. Die AG „Bevölkerungsbezogene Krebsregister in Deutschland“ aus dem Jahr 2006 weist die geschätzte Zahl der Karzinomneuerkrankungen am weiblichen Genitale in Deutschland im Jahr 2002 mit 84 550 Fälle (43 % der Gesamtinzidenz von Karzinomen bei Frauen) aus. Das Mammakarzinom ist mit 55 150 Fällen (Todesfälle 17 780), das Endometriumkarzinom mit 11 350 (2678), das Ovarialkarzinom mit 9950 (5910), das Zervixkarzinom mit 6500 (1763) und Vulva- bzw. Vaginalkarzinom mit 1609 (620) beteiligt. Patientinnen mit Zervixkarzinom haben ein relativ niedriges Durchschnittsalter von 52 Jahren bei Diagnose, wohingegen Patientinnen mit Mammakarzinom ein Erkrankungsalter von 63 Jahren, Ovarialkarzinompatientinnen von 66 Jahren und Endometriumkarzinompatientinnen eines von 67 Jahren haben. Bezogen auf 100 000 Fälle ist die Mortalität für das Zervixkarzinom am niedrigsten (4,5/100 000 Patientinnen) und für das Mammakarzinom am höchsten (42,3/ 100 000). Während die Mortalität für Patientinnen mit Mammakarzinom in den letzten fünf Jahren international um fast 18 % durch die Einführung des Screenings, bzw. innovativer Therapiemethoden gesenkt werden konnte, so hat z. B. für Patientinnen mit Endometriumkarzinom die Mortalität in den letzten Jahren im Vergleich zu den Neunzigerjahren zugenommen. Die Mortalität für Zervixkarzinompatientinnen stagniert, wobei das Alter sich aus der mittleren Menopause in die sehr frühe Menopause, bzw. ins prämenopausale Alter verlagert hat [2]. Ziel der Krebsvorsorge ist die Senkung der Inzidenz, der Morbidität, der Mortalität, der Verbesserung der Lebensqualität und natürlich Senkung der Kosten. Primärpräventive Maßnahmen zur Karzinominzidenzreduktion
wie die HPV-Impfung (HPV, Zervixkarzinom, Vulvakarzinom, Vaginalkarzinom), die Einnahme von oralen Kontrazeptiva (OCP; Ovarialkarzinom, Endometriumkarzinom), sowie präventive Medikamenteneinnahme (Antiöstrogene für Mammakarzinom) oder prophylaktische Operationen für Hochrisikofrauen sind nicht Bestandteil des GKFP. Die HPV-Impfung ist mit Zulassung zweier Impfstoffe vorrangig gegen die HPV-Typen 16/18 gerichtet. Die STIKO hat die Empfehlung zur Impfung zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr bei noch nicht sexuell aktiven jungen Mädchen ohne vorhandene HPV-Infektion empfohlen. Der Sekundäreffekt der längerfristigen Einnahme von OCP ist die Reduktion der Ovulation im Ovar, beziehungsweise Proliferation des Endometriums. Beides führt sekundär zur Reduktion der Inzidenz von Endometriumbzw. Ovarialkarzinomen. Die präventive Einnahme von Tamoxifen bzw. anderen Antiöstrogenen oder Aromatasehemmern, ist für Frauen mit niedrigem bzw. mittlerem Risiko belegt, darüber hinaus derzeit Gegenstand von größeren Studien. Tamoxifen ist in den USA zur Prävention, basierend auf dem „Gail-Modell“ zur Prävention zugelassen. In Deutschland besteht diese Zulassung derzeit nicht, sodass die Einnahme indikationsbedingt als individueller Heilversuch abgewogen werden muss. Untersuchungen zur Eignung von Aromatasehemmern sowohl in der Prävention des invasiven Karzinoms als auch der Prävention von präinvasiven Läsionen, wie z. B. des duktalen Carcinoma in situ (DCIS), werden derzeit in der IBIS-II-Studie untersucht. Das GKFP zielt darauf hin, Karzinome in einem frühen Stadium bzw. vor der klinischen Manifestation zu detektieren. Die Effektivität der Krebsfrüherkennung ist von zwei Dingen wesentlich beeinflusst: den eingesetzten Methoden und der Teilnahmerate [1]. Der zentrale Anspruch an die eingesetzten Methoden muss im Wesentlichen einen medizinischen Vorteil bei geringer Belastung für die Teilnehmerin zeigen. Sie sind nur dann effektiv, wenn eine hohe Vorhersagbarkeit für den Erkrankungsprozess und entsprechende frühzeitige Interventionsmöglichkeiten gegeben sind. Die Methoden müssen gut reproduzierbar sein, eine hohe Sensitivität, Spezifität, hohen negativen bzw. positiven prädiktiven Wert haben und insbesondere auch eine gute Dokumentationsmöglichkeit aufweisen. Darüber hinaus ist eine gute Zugängigkeit der Teilnehmerinnen zum GKFP für das Erreichen einer hohen Teilnahmerate unumgänglich. Der Erfolg der Früherkennung ist neben den Spezifika der eingesetzten Methoden abhängig von der Teilnahmerate. In Bezug auf die Gesamtheit einer Population zeigt das GKFP aber nur dann einen nachweisbaren Erfolg, wenn es mit einer hohen Teilnahmerate oder im Rahmen eines speziellen Screening-Programmes eingesetzt wird. Für Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Beteiligungsrate am GKFP in den letzten 10 Jahren von 33 % (alte Bundesländer) auf 56, bzw. von 18 auf 54 % (neue Bundesländer) gestiegen. Wird über die jährliche Beteiligung hinaus die 2-Jahres-Teilnahmerate herangezogen,
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Vorsorge für Frauen
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so nehmen in der Altersklasse der 25- bis 54-jährigen Frauen mindestens bis zu 65 % der Frauen am GKFP teil. Mit zunehmendem Alter nimmt die Teilnahmerate drastisch ab und ist bei Frauen über 65 Jahren deutlich unter 30 %. Die Gründe für oder gegen eine Teilnahme sind vielfältig und häufig rational nicht nachvollziehbar. Eine mögliche Form zur Durchführung von Früherkennungsuntersuchung ist das Screening. Screening bedeutet die Durchführung einer speziellen Untersuchung unter Einschluss der Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement. Sämtliche Schritte einer Versorgungskette, z. B. insbesondere die persönliche Einladung und Information der Frauen, die Erstellung und Befundung von diagnostischen Screening-Untersuchungen sowie die ggf. notwendige Abklärungsdiagnostik und Überleitung in die Therapie, müssen gewährleistet sein. Im Gegensatz zu den allgemeinen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen ist bei den Screening-Untersuchungen die anonymisierte Einladung möglich und zumeist eine Doppelbefundung gefordert. Darüber hinaus sind im Screening-Programm die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität hinsichtlich einer Leistungsbeurteilung der beteiligten Personen- und organisatorischen Strukturen unabdingbare Notwendigkeit. Im Rahmen von Screening-Programmen ist eine Mindestteilnahmerate von 70 – 75 % notwendig, um den gewünschten Effekt – insbesondere die Reduktion der Mortalität – zu erreichen. Screening ist dann sinnvoll, wenn eine Krankheit häufig ist und die Früherkennung zu einer nachweisbaren Senkung der Mortalität an der betreffenden Krankheit führt. Beides trifft für das Mammakarzinom zu. Von den diagnostischen Verfahren ist die Röntgenmammografie die Methode der Wahl, zur Erkennung sowohl präinvasiver Vorstufen – welche sich in über 80 % mit Mikrokalzifikationen (Einzelpartikelgröße unter 100 μm) zeigen – als auch kleiner präklinischer Mammakarzinome. Während bei klinisch symptomatischen Patientinnen in ca. 50 % befallene Lymphkonten vorliegen, sind bei im Rahmen eines Mammografie-Screenings gefundenen Tumoren nur 20 % der Patientinnen oder gar weniger betroffen. Dadurch ist unter den Teilnehmerinnen „in der Altersgruppe von 50 – 69 Jahren durch ein ausschließliches Mammografie-Screening mit einer Reduktion der Mortalität um 35 % zu rechnen“, so der Konsens der Expertengruppe der International Agency for Research on Cancer (IARC) der World Health Organisation (WHO) aus dem Jahr 2002 – nach Auswertung aller vorliegender randomisierter Studien zum Mammografie-Screening [3]. Nach dem Allparteienbeschluss des Deutschen Bundestages vom 24. 10. 2000 wurde die deutsche Bundesregierung aufgefordert, „die Qualitätssicherung der Brustkrebsfrüherkennung durch Modellprojekte, unter Einschluss von radiologischem Screening-Verfahren, fachübergreifend zu fördern“, unter der Maßgabe, dass dieses „jetzt in Anlehnung an die Leitlinien der Europäischen Kommission“ zu erfolgen hat. Auf diesen Grundlagen wurden 3 Modellprojekte zur Einführung eines qualitäts-
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gesicherten Mammografie-Screenings im Jahr 2001/2002 etabliert (Bremen, Wiesbaden, Region Weser/Ems). Grundlage zur Durchführung dieser Modellprojekte war einerseits eine Gesetzesnovelle und zum anderen für die Qualitätssicherung die „Europäische Leitlinie für die Qualitätssicherung des Mammogrpahie-Screenings“. Inzwischen können die Modellprojekte mit Beteiligungsraten von 50 % bis über 60 % und Karzinomentdeckungsraten (invasive Karzinome wie Carcinomata in situ) im Bereich der Europäischen Vorgabe nachweisen. Anhand dieser 3 Modellprojekte konnte eindrucksvoll aufgezeigt werden, dass auch in einem dezentralen Gesundheitssystem ein Mammografie-Screening auf europäischem Niveau möglich ist. 2004 wurde durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung ein Programm mit dem Titel: „Einführung eines bundesweiten Mammografie-Screening-Programmes“ publiziert, um dann dieses in die Regelversorgung zu übernehmen. Das Konzept sieht vor, auf der Basis von Referenzzentren (Berlin, Bremen, München, Münster, Marburg/Wiesbaden) 80 –100 Mammografie-ScreeningEinheiten zu etablieren [4]. Hierbei ist sowohl der stationäre als auch der mobile Einsatz möglich. Bis zum 31. 3. 2007 sind inzwischen 63 Mammografie-ScreeningEinheiten zertifiziert. Innerhalb des deutschen Mammografie-Screenings stellt die Kooperationsgemeinschaft Mammografie-Screening die Dachorganisation dar, unter welcher dann als nächste Stufe die Referenzzentren anzusehen sind. Eine Mammografie-Screening-Einheit sichert im Wesentlichen Erstellung, Befundung sowie Abklärung (Assessment) der Mammografien, Voraussetzung hierfür ist eine generelle Doppelbefundung. Eine wichtige Änderung im Vergleich zu allen anderen europäischen Mammografie-Screening-Programmen stellt die Einführung eines bundesweiten Mammografie-Screenings mit der Möglichkeit zur Durchführung der MammografieScreening-Aufnahmen sowohl in analoger als auch in digitaler Technik dar. Auf den nun vorliegenden sowohl gesetzlich als auch finanziell geschaffenen Grundlagen ist das Ziel auf der Basis der europäischen Qualitätsrichtlinie in Deutschland mit seinem dezentralen Gesundheitssystem ein flächendeckendes Mammografie-Screening bis einschließlich im Jahr 2008 zu etablieren. In der BRD wurde das flächendeckende gesetzliche Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP) im Jahr 1971 eingeführt. Seitdem hat es ergänzende Modifikationen in Bezug auf das Kolonkarzinom und auf das Mammakarzinom gegeben. Das GKFP ist auf Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen ausgerichtet, die derzeit ungefähr 85 % der erwachsenen Bevölkerung einschließen. Im Rahmen des GKFP werden für Frauen und Männer ca. 10 Mio. Untersuchungen pro Jahr durchgeführt. Methoden und Untersuchungszeitpunkt für die einzelnen Organe werden altersspezifisch eingesetzt (Tab. 13.1). Die im GKFP untersuchten Organe sind das äußere und innere Genitale, die Mammae, die Haut sowie das Rektum und das Kolon (Tab. 13.2).
Gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm (GKFP)
Tabelle 13.1 Zeitrahmen und untersuchte Organe des GKFP. ● ● ●
ab 20 Lj.: inneres und äußeres Genitale ab 30 Lj.: Mamma und Haut ab 50 Lj.: Rektum und Kolon
Tabelle 13.2 Methoden des GKFP (jährlich angewendet, falls nicht anders angegeben). BIRADS = Breast Imaging Reporting and Data System. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
gezielte Anamnese (Blutungen, Hautveränderungen, Blut/ Schleim im Stuhl) Spiegeleinstellung der Portio Entnahme/Fixierung von Portio-/Zervikalkanal-Abstrichen bimanuelle gynäkologische Untersuchung Abtasten der Mammae und der regionären Lymphknoten Anleitung zur Selbstuntersuchung der Mammae (wiederholt) Untersuchung der Haut digitale Untersuchung des Rektums Test auf okkultes Blut im Stuhl (50. – 55. Lj. jährlich, ab 56. Lj. zweijährlich) Koloskopie (ab 56. Lj. erstmalig, ab 65. Lj. zweites Mal) Screening-Mammografie (50. – 69. Lj. zweijährlich) kurative Mammografie (familiäre Mammakarzinombelastung, Eigenbelastung mit Malignom, Primärtumorsuche, path. Mamillensekretion, Mastodynie, Kontrolle nach Vorbefund mit BIRADS III, BIRADS IV und V nach OP; 6-monatlich bzw. jährlich)
Die zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden umfassen die gezielte Anamnese, die körperliche Untersuchung, die Anleitung zur Selbstuntersuchung der Mammae [5, 6], den zytologischen Zervixabstrich [2] und die Testung auf Blut im Stuhl. Zur Kolonkarzinomfrüherkennung wurde 2002 zusätzlich die Koloskopie eingeführt.
Die Empfehlung zur Durchführung der Screening-Mammografie wurde erst im Jahre 2004 integriert und ist derzeit noch nicht flächendeckend umgesetzt. Seit der Einführung des GKFP haben sich neue Aspekte zur Sensitivität und Spezifität des alleinigen Einsatzes der Methoden des GKFP ergeben. Zusätzlich sind andere Untersuchungsmethoden entwickelt worden, die die Kenntnisse über die Ätiopathologie der Karzinogenese verschiedener Tumortypen mit aufnehmen oder insb. auf die Identifikation von Risikopatientinnen für die Entwicklung eines speziellen Tumortyps fokussieren. Dies schließt z. B. für Risikopatientinnen mit familiärem Mammakarzinom die Durchführung eines Mamma-MRT [7] oder für Risikopatientinnen mit Z. n. zervikaler intraepithelialer Neoplasie (CIN) II oder III die Durchführung der postoperativen HPV-Diagnostik [8] mit ein. Insbesondere mit zunehmendem Alter der Frau und der somit altersbedingten Zunahme der Genitalkarzinome wie auch des Mammakarzinoms, ist es notwendig, neben anderen Methoden (Tab. 13.3) die Compliance der älteren Frau an der Teilnahme des GKFP zu erhöhen. Das Wissen um Karzinominzidenz, Morbidität und Mortalität, Risikomodulatoren und -determinanten, die Definition von Hochrisikogruppen, neue Untersuchungsmethoden, die Variation der Therapieformen und die Fokussierung auf Lebensqualität mit und ohne Krebserkrankung, sind heutzutage Faktoren, die bei der Implementierung von Krebsfrüherkennungsmethoden in das GKFP mit bedacht werden müssen [1]. Das derzeit etablierte GKFP ist ein zeitlich rigides Programm, in dem Methoden mit teilweise niedriger Sensitivität und Spezifität eingesetzt werden. Es erfolgen nicht risikoadaptierte Untersuchungen, d. h. das Screening trifft häufig nicht die Risikogruppen. Es ist keine Haushaltung
Tabelle 13.3 Diskutierte Methoden im GKFP. Diagnostik zur Früherkennung
Mamma
Uterus
Zervix
Ovar
Vulva
Vagina
eingesetzte Diagnostik
●
vaginale Untersuchung
●
vaginale Untersuchung ● Zytologie
vaginale Untersuchung
keine
keine
Risikopatientinnen: postop. HPVDiagnostik (bei CIN II oder III)
Risikopatientinnen: TVUS
● ●
postmenopausale Patientinnen: ● TVUS ● CA 125 ● prädiktive genetische Diagnostik
Tastuntersuchung ● Mammografie Risikopatientinnen: ● Mamma-Sono ● Mamma-MRT
diskutierte Diagnostik
● ● ●
Mamma-Sono Mama-MRT prädiktive genetische Diagnostik
Hochrisikopatientinnen: ● TVUS ● Zytologie
Kolposkopie HPV-Diagnostik
13 ●
Kolposkopie bei prämalignen Veränderungen ● Gewebeentnahme
●
Kolposkopie ● Gewebeentnahme
MRT = Kernspintomografie, CIN = zervikale intraepitheliale Neoplasie, TVUS = transvaginaler Ultraschall, GKFP = gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm, HPV = humanes Papillomavirus.
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mit den zur Verfügung stehenden Finanzen möglich, um neben einer gezielten Beratung über Risikomodulation und Prävention auch das Screening der Risikogruppen durchzuführen bzw. die reduzierte Teilnahmerate der älteren Frau zu verhindern. Die Ausrichtung und die Ansprüche an das gesetzliche Krebsfrüherkennungsprogramm haben sich deshalb zu ändern und sich den aktuellen Gegebenheiten anzupassen [9]. Als Hauptproblem der Umsetzung ist zu sehen, dass das GKFP insb. unter dem Gesichtspunkt der reduzierten finanziellen Ressourcen im Gesundheitssystem und der berechtigten Frage nach Kosten-Nutzen-Relation überprüft werden muss. Dieser kritischen Hinterfragung müssen sich nicht nur die Methoden, sondern auch die Zeitintervalle und die durchführenden FachkollegInnen stellen. Das derzeit durchgeführte GKFP muss sich erweitern und zu einem echten Krebsvorsorgeprogramm mit Aspekten der Risikobeurteilung, Aufklärung, Anleitung und Information neben der reinen Durchführung der vorgeschlagenen Methoden erweitern. Den Zielsetzungen – Verbesserung der allgemeinen Compliance und der individuellen Information und Risikovermittlung für Ratsuchende – ist die gleiche Aufmerksamkeit und Wertigkeit zu geben, wie der mögliche Einsatz neuer Früherkennungsuntersuchungen. Ein allgemeines Screening aller Bevölkerungsgruppen erscheint, insb. unter den gesundheitspolitischen Aspekten, nicht durchführbar und zum anderen nicht sinnvoll. Die Aufgabenstellungen der betreuenden Ärztinnen und Ärzte wird vielfältiger, wobei eine höhere Beteiligungsrate am GKFP angestrebt wird und die durchgeführten Untersuchungen risikoadaptiert einzusetzen sind. Nur so sind die Zielsetzungen der primären und sekundären Prävention, der Reduktion der Karzinommorbidität und -mortalität und die Verbesserung der Lebensqualität im Falle der Erkrankung erreichbar.
Kasuistik Krebsfrüherkennung beim Mammakarzinom Eine 58-jährige Patientin, die noch nie eine Mammografie hatte, wird durch das Einwohnermeldeamt angeschrieben, am Mammografie-Screening teilzunehmen. Die mobile Mammografieeinheit (Mammobil) wird über einen Zeitraum von zwei Wochen auf dem Marktplatz der Kreisstadt anwesend sein. Die Frau ist völlig verunsichert, da sie seit 20 Jahren nicht zur Krebsfrüherkennung beim Frauenarzt war und eigentlich keinen Anlass zur Teilnahme sieht, da sie keine Beschwerden hat. In ihrer Tageszeitung vom Wochenende erfährt sie von einer Informationsveranstaltung. An dieser nimmt sie im Rahmen des Treffens der Landfrauen am Samstagnachmittag teil. Hier erfolgt eine Information von den programmverantwortlichen Ärzten des Mammografie-Screenings bzw. von Selbsthilfegruppen über Nutzen und Risiken der Teilnahme am Mammografie-Screening. Die anstehenden Fragen können nicht alle geklärt werden, sodass die Frau einen Termin beim Frauenarzt ausmacht.
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Im Rahmen der gesetzlichen Krebsfrüherkennungsuntersuchung erfolgt eine Tastuntersuchung beider Brüste bzw. der Lymphknotenstationen. Diese ergeben einen unauffälligen Befund. Da die Patientin seit 20 Jahren nicht beim Frauenarzt war, erfolgt zusätzlich hier die gynäkologisch vaginale Untersuchung mit Spekulumeinstellung, Darstellung der Portio sowie eine getrennte Abstrichentnahme. In einem ausführlichen Gespräch über ihre Anamnese, Darstellung der Risikofaktoren, Nutzen-Risiko-Beurteilung der Mammografie inkl. der Folgen bei positivem Befund legt der Frauenarzt der Patientin nahe, dass sie sich aufgrund ihres Alters, der Familienanamnese und der bis dato nie durchgeführten Mammografie am Mammografie-Screening beteiligt. Die Ratsuchende nimmt den ihr angebotenen Termin wahr. Nach Doppelbefundung durch die programmverantwortlichen Ärzte zeigt sich im rechten unteren Quadranten eine Mikroverkalkung. Aufgrund der fehlenden Voruntersuchung kann eine zeitlich dynamische Entwicklung der Mikroverkalkung nicht ausgeschlossen werden, sodass der Patientin zu einer interventionellen Abklärung geraten wird. Diese erfolgt bei Mikrokalk durch die Vakuumstanze. Histologisches Ergebnis: hyperproliferative Mastopathie mit feinem Mikrokalk, kein Anhalt für duktales Carcinoma in situ (DCIS). Bei unauffälliger Histologie erhält die Patientin die Information, am weiteren Mammografie-Screening, das heißt in zwei Jahren, wieder teilzunehmen.
13.3 Schwangerenvorsorge Seit 1966 zählt die Schwangerenvorsorge zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. 1968 wurde der Mutterpass eingeführt, der bis heute der standardisierten und transportablen Dokumentation der Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft dient. Er gibt zudem Auskunft über die Ergebnisse der im Rahmen der Schwangerenvorsorge durchgeführten Untersuchungen und eine weiterführende Diagnostik. Vorsorgeuntersuchungen sind essenzieller Bestandteil jeder Schwangerenbetreuung und Geburtsplanung und als solche gesetzlich fest in den Mutterschaftsrichtlinien [10] verankert. Primäres Ziel ist es, die perinatale und mütterliche Morbidität und Mortalität zu senken, Risikoschwangerschaften und -geburten frühzeitig zu erkennen und die weitere ärztliche Tätigkeit individuell und risikoadaptiert zu gestalten. Die Prinzipien der Schwangerenvorsorge basieren auf einer kontinuierlichen Betreuung durch eine oder wenige Bezugsperson(-en) mit Aufbau einer Beziehung zwischen der Schwangeren und dem Betreuer. Zur Sicherung des medizinischen und wissenschaftlichen Standards sollen nur Maßnahmen angewendet werden, deren diagnostischer und präventiver Wert gewährleistet ist.
Schwangerenvorsorge
Schwangerenvorsorge ist nicht nur durch ärztliches Personal, sondern auch durch Hebammen möglich, die Untersuchungen im Umfang ihrer beruflichen Befugnisse allein oder in Zusammenarbeit mit Ärzten durchführen. In diesem Zusammenhang sollte die Verzahnung der Arbeit von niedergelassenen Ärzten, Hebammen und Geburtskliniken ein vorrangiges Ziel darstellen. Unverzichtbarer Bestandteil jeder Schwangerenbetreuung sollte laut Mutterschaftsrichtlinien die ausführliche Anamneseerhebung (Eigen- und Familienanamnese) sein, die eine Risikoabschätzung für den weiteren Schwangerschaftsverlauf ermöglicht. Neben unterschiedlichen Basisuntersuchungen bei der Erstvorstellung der Schwangeren (Bestimmung von Blutgruppe, Rhesusfaktor, Hämoglobinwert, Antikörpersuchtest [Screening auf irreguläre Antikörper im maternalen Blut, die zu einer Blutgruppeninkompatibilität führen können], Chlamydienabstrich, Röteln- und Lues-Screening), deren Wertigkeit im Hinblick auf die Sekundärprävention außer Zweifel steht, gliedert sich die Schwangerenvorsorge in weitere Folgeuntersuchungen, die bis zur 34. Schwangerschaftswoche (SSW) vierwöchig und danach alle zwei Wochen empfohlen werden (Tab. 13.4). Als weitere Maßnahmen der Sekundärprävention sind ein zweiter Antikörpersuchtest in der 24. – 27. SSW und die routinemäßige Anti-D-Prophylaxe bei negativem Rhesusfaktor in der 28. – 30. SSW vorgesehen (Tab. 13.4). Durch ein generelles HbS-Antigen-Screening, welches in den Mutterschaftsrichtlinien festgelegt ist und ggf. durch die kombinierte aktive und passive Immunisierung des Neugeborenen können 95 % aller postnatalen Hepatitis-B-Infektionen vermieden werden [11]. Bei jeder Vorstellung der Schwangeren sollte auch bezüglich der Lebensführung (Ernährungs- und Sozialberatung, Hygienehinweise) und Maßnahmen der Gesundheitsförderung beraten werden, die letztlich der Primärprävention dienen. Laut Mutterschaftsrichtlinien werden regelmäßige Messungen von Blutdruck und Körpergewicht sowie Urinuntersuchungen empfohlen. Zu Beginn der Schwangerschaft sollten Größe und Gewicht der Schwangeren gemessen und die Körpermasse (BodyMass-Index, BMI) berechnet werden. Weitere Gewichtsbestimmungen im Verlauf der Schwangerschaft sind bei unauffälligem Verlauf nicht evidenzbasiert, sondern können unter Umständen zu mütterlicher Besorgnis und Verunsicherung führen. Routinemäßige digitale Vaginaluntersuchungen sind u. a. in Deutschland fester Bestandteil der Schwangerenbetreuung, werden in anderen europäischen Ländern jedoch nicht praktiziert. Eine randomisierte Multicenterstudie, die die Frühgeburtenrate in beiden Gruppen verglich, konnte keine signifikanten Unterschiede feststellen [13]. Vor diesem Hintergrund ist eine routinemäßige vaginale digitale Untersuchung aller Schwangeren zu überdenken. Auch der Stellenwert der sonografischen Zervixlängenmessung im 2. Trimenon wird kontrovers diskutiert, sodass daraus aktuell keine eindeutige Empfehlung
Tabelle 13.4 Empfohlenes Vorgehen laut deutschen Mutterschaftsrichtlinien [10]. Zeitraum (SSW)
Diagnostik
Erstvorstellung
6–10
Anamnese, Sonografie, Blutgruppenbestimmung, 1. Antikörpersuchtest, Lues-, Röteln-Screening, Hämoglobinwert
2. Termin
9–12
Mutterpass, zytologischer Abstrich, Chlamydienabstrich, 1. Ultraschalluntersuchung
3. Termin
15–16
ggf. weiterführende Diagnostik (z. B. Amniozentese)
4. Termin
19–22
2. Ultraschalluntersuchung
5. Termin
24–27
Hämoglobinwert, 2. Antikörpersuchtest
6. Termin
28–30
ggf. Anti-D-Prophylaxe, 3. Ultraschalluntersuchung
7. Termin
32–34
Hämoglobinwert, Hepatitis-B-Serologie
8. Termin
36
CTG
9. Termin
38
CTG, Hämoglobinwert
10. Termin
40
CTG, ggf. sonografische Fruchtwasserbestimmung
Terminüberschreitung
40–42
Vorstellung in Entbindungsklinik, CTG, engmaschige Kontrollen
SSW = Schwangerschaftswoche, CTG = Kardiotokografie.
zur Sekundärprävention (Senkung der Frühgeburtenrate) ableitbar ist. Insgesamt weisen 5 – 10 % aller Schwangeren eine asymptomatische Bakteriurie auf. Eine Cochrane-Übersicht [14] konnte zeigen, dass durch eine gezielte antibiotische Therapie sowohl die Manifestation symptomatischer Pyelonephritiden als auch die Frühgeburtenrate effizient gesenkt werden konnte. Somit ist der Nutzen der in der Schwangerschaft empfohlenen regelmäßigen Urinuntersuchungen belegt. Bei Risikokonstellation oder Auffälligkeiten im Verlauf der Schwangerschaft sollten Konsiliaruntersuchungen veranlasst bzw. die Schwangere abhängig vom Schweregrad der Erkrankung und der jeweiligen Schwangerschaftswoche in einem Perinatalzentrum der Stufe I bzw. II vorgestellt werden. Deutschlandweit wurden Perinatalzentren verschiedener Stufe festgelegt, die eine optimale geburtshilfliche Versorgung in den einzelnen Regionen ermöglichen. In diesem Zusammenhang stellt das Perinatalzentrum der Stufe I die höchste Stufe dar. Die Anzahl der empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen variiert in vielen Ländern. Eine Metaanalyse [15] über die erforderlichen pränatalen Untersuchungen bei Niedrig-
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Risiko-Schwangeren kam zu dem Ergebnis, dass eine reduzierte Anzahl an Vorsorgeuntersuchungen zwar nicht den Erwartungen der Schwangeren entspricht, aber weder das maternale noch das perinatale Outcome beeinflusst. Insbesondere in Bezug auf die Früherkennung von intrauteriner Wachstumsrestriktion und Präeklampsie zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Ein Minimum von 4 Untersuchungsterminen sollte jedoch eingehalten werden. In den Mutterschaftsrichtlinien sind insgesamt 3 Ultraschalluntersuchungen im Verlauf der Schwangerschaft empfohlen. Durch eine gezielte Sonografie im 1. Trimenon kann das Gestationsalter exakt bestimmt werden und sollte deshalb die ungenaue Berechnung basierend auf der Zyklusanamnese ersetzen [16]. Die Zahl von Geburtseinleitungen wegen vermeintlicher Terminüberschreitung könnte auf diese Weise reduziert werden. Weitere Vorteile einer frühen sonografischen Diagnostik sind die Detektion von Mehrlingsschwangerschaften, schweren fetalen Anomalien und Extrauteringraviditäten. Eine zweite detaillierte Ultraschalluntersuchung zum Ausschluss struktureller fetaler Anomalien sollte allen Schwangeren zwischen der 19. und 22. SSW angeboten und von speziell geschultem Personal mit moderner Ultraschalltechnik durchgeführt werden. Zusätzlich ist eine routinemäßige dritte Ultraschalluntersuchung in der 29. – 32. SSW vorgesehen, deren Nutzen umstritten ist [17]. Jede Schwangere sollte frühzeitig über die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik aufgeklärt werden. Im Rahmen dieser Beratung sollte die Entdeckungs- und Falsch-positiv-Rate der einzelnen Tests, z. B. zur Erkennung einer fetalen Trisomie 21, dargestellt und die weiterführende Diagnostik bei auffälligem Befund thematisiert werden. Die höchste Detektionsrate in der 12. SSW weist nach aktuellem Stand das kombinierte Ersttrimester-Screening (NT, PAPP-A und freies β-HCG) auf [18]. Der Kostendruck und die Umstrukturierungen im Gesundheitssystem in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass bisherige Standards kritisch hinterfragt wurden. Einige Aspekte der Schwangerenvorsorge (Untersuchung auf B-Streptokokken, HIV, Toxoplasmose, Zeitpunkt und Inhalt der Ultraschalluntersuchungen, oraler Glukosetoleranztest, Folsäuregabe) werden seit Jahren diskutiert, ohne dass es bisher zu durchgreifenden Änderungen der Mutterschaftsrichtlinien gekommen ist. Nicht alle der routinemäßig durchgeführten und gesetzlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen basieren auf guter Evidenz. In Deutschland existiert derzeit kein flächendeckendes Gestationsdiabetes-Screening-Programm (oraler Glukosetoleranztest = OGTT). Aktuelle Arbeiten zu Kurz- und Langzeitfolgen eines unbehandelten Gestationsdiabetes für Mutter und Kind unterstreichen jedoch die dringliche Notwendigkeit eines nationalen Screening-Programmes [16].
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Das Screening auf eine vaginale oder rektale Besiedlung mit B-Streptokokken (32. – 36. SSW) zur Vermeidung einer Neugeborenensepsis durch Antibiotikatherapie unter der Geburt ist in einigen Ländern Standard [14]. In Deutschland wird dieses Vorgehen von den Fachgesellschaften empfohlen, in den Mutterschaftsrichtlinien ist es bisher nicht vorgesehen. Besonders die Früherkennung lokaler und aufsteigender vaginaler Infektionen sowie deren gezielte Behandlung stellen wichtige Optionen zur Vermeidung von Frühgeburtlichkeit dar. In der Literatur [19, 20] wird diese Fragestellung kontrovers diskutiert. Kiss et al. [20] konnten belegen, dass mit einem universalen Screening im 2. Trimenon und konsekutiver medikamentöser Behandlung die Frühgeburtenrate um fast 50 % gesenkt wurde. Ein frühes flächendeckendes Toxoplasmose-Screening vor oder in der Schwangerschaft, welches in den Mutterschaftsrichtlinien nicht vorgesehen ist, kann gefährdete Frauen identifizieren und somit eine gezielte Expositionsprophylaxe ermöglichen. Um eine Serokonversion in der Schwangerschaft aufzudecken, müssen jedoch regelmäßig nachfolgende Verlaufskontrollen alle 8 – 12 Wochen stattfinden [21]. Die maternofetale Transmissionsrate der HIV-Infektion beträgt ohne antepartale Intervention ca. 25 %. Durch eine antiretrovirale Medikation kann diese auf 8 % und durch die Kombination mehrerer Therapieoptionen (Sectio caesarea als Entbindungsmodus, Abstillen) auf bis zu 1 % gesenkt werden [22]. In den deutschen Mutterschaftsrichtlinien ist eine freiwillige Teilnahme am HIVScreening vorgesehen. Gerade die effektiven Therapiemöglichkeiten zur Prävention der perinatalen HIV-Infektion lassen ein generelles Screening in der Schwangerschaft jedoch dringend erforderlich erscheinen. Durch prä- und perikonzeptionelle Substitution von Folsäure (0,4 – 0,8 mg/d) kann fetalen Neuralrohrdefekten vorgebeugt werden. Die Risikoreduktion beträgt ca. 70 %. Hinsichtlich der Primärprävention stellt die Folsäuregabe eine hocheffiziente Maßnahme dar. Die Empfehlung zur Folsäuresupplementierung gilt prophylaktisch für alle Frauen mit Kinderwunsch bzw. im gebärfähigen Alter und insbesondere nach vorausgegangenen Schwangerschaften mit Neuralrohrdefekt (4 mg/d) [12]. Nicht alle der diskutierten Aspekte der Vorsorge in der Schwangerschaft sind evidenzbasiert. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt eine deutliche Erweiterung der Ziele der Schwangerenvorsorge hin zu einer Verringerung der maternalen und perinatalen Mortalität und Morbidität und Förderung der Entwicklungsfähigkeit des ungeborenen Kindes. Individuelle Beratung und risikoadaptierte Betreuung sollten deshalb im Mittelpunkt jeder Schwangerenvorsorge stehen.
Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) und die Hormontherapie
13.4 Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen (AGU) und die Hormontherapie In den letzten 100 Jahren ist die Lebenserwartung in den westlichen Industrienationen deutlich angestiegen, beispielsweise in Deutschland um 50 %. In Deutschland leben etwa Ende 2005 42 Mio. Frauen, davon 9,2 Mio. im Alter von 60 – 79 Jahren und 2,9 Mio. über 80. Der Frauenanteil in dieser Gruppe beträgt bereits 72 % [23]. Der Alterungsprozess ist durch spezifische Veränderungen zellulärer und extrazellulärer Funktionen gekennzeichnet. Bei der Frau kommt es infolge des Ausfalls der ovariellen Funktion zu einem raschen Absinken der Sekretion von Hormonen wie Östradiol und Progesteron und häufig zu einer hieraus abzuleitenden spezifischen Symptomatik. Östron (E1) ist neben Östradiol (E2) und Östriol (E3) eines der drei Hauptöstrogene des menschlichen Organismus. Während der fertilen Phase der Frau stellt Östradiol das mengenmäßig häufigste Östrogen dar, da die Ovarien vorwiegend Östradiol und nur zu einem geringen Teil Östron produzieren [24]. Die Phasen des Klimakteriums und der Postmenopause werden in drei Bereiche eingeteilt: das vegetative, psychische und organische Menopausensyndrom (MPS). Das vegetative MPS umfasst Hitzewallungen (50 – 90 %), Schweißausbrüche (50 – 90 %), Erröten/Erblassen = „Flushes“ (50 %), Schwindel und Kopfschmerzen (50 %), Tachykardien, Palpitationen (35 %), abdominelle Beschwerden, Gelenkschmerzen und Sensibilitätsstörungen. Das psychische MPS zeichnet sich durch Schlaflosigkeit (50 – 70 %), Depressionen, Verlassenheitsängste, Karzinophobie, Affektinkontinenz (50 %), neurotisches Verhalten (10 %), Reizbarkeit, Stimmungslabilität, Nervosität, Antriebsarmut sowie Konzentrationsschwäche aus, und das organische MPS durch Osteoporose, kardiovaskuläre und zerebrale Erkrankungen, Stoffwechselstörungen (Fett-, Kohlenhydratstoffwechsel) und die Organinvolution
(Mamma, Uterus, Atrophie der Haut und Schleimhäute, Deszensus und Inkontinenz). Hinzu kommen allgemeine Alterungsprozesse und Veränderungen der psychosozialen Situation. Für die Bedeutung psychosozialer Faktoren in dieser Übergangszeit spricht auch die Tatsache, dass Frauen in anderen Kulturkreisen das Klimakterium anders erleben als Frauen aus westlichen Ländern. Manche Autoren führen das auf kulturell unterschiedliche Lebensbedingungen und Essgewohnheiten (pflanzliche, insb. sojareiche oder fischhaltige Nahrung) zurück [25]. Vorsorge hat somit eine zunehmende Relevanz. Sie ist aber trotz des unbestreitbaren Nutzens bei Männern und Frauen unbeliebt. Auch Frauen, denen ihre Gesundheit meist mehr am Herzen liegt als Männern, nehmen solche Gesundheitsuntersuchungen (Tab. 13.5) zu selten in Anspruch. Dabei können die meisten Krankheiten nur erfolgreich behandelt werden, wenn man sie rechtzeitig erkennt. Das gilt sowohl für Krebs- als auch für HerzKreislauf-Erkrankungen. Beispielsweise war die häufigste Diagnose bei Frauen im Krankenhaus 2003 die chronisch ischämische Herzkrankheit [26]. Die Möglichkeiten der Medizin suggerieren, Mittel gegen das Altern gefunden zu haben, unabhängig von möglichen direkten Ansätzen (z. B. die Wirkung der Telomerase zu verändern), die Antiaging-Therapie. Mit den Methoden der plastischen Chirurgie kann darüber hinaus Frauen ein verjüngtes äußeres Erscheinungsbild zurückgeben werden. Doch die äußere Veränderung allein ist nicht ausschlaggebend für ein verbessertes Wohlbefinden im Alter. Bei den Antiaging-Therapien wird versucht, physiologische Prozesse so zu beeinflussen, dass das Altern verlangsamt wird. Dabei wird nach der Devise verfahren, dem Alterungsprozess frühzeitig entgegenzuarbeiten, anstatt die Folgen zu therapieren. Dieser Ansatz bezieht sich auf viele Substanzen ohne sicheren Nachweis einer Wirksamkeit. Hormone sollen ursächlich für ein gesundes, jugendliches und strahlendes Aussehen sein. Dabei wird häufig die genetisch festgelegte Zellalterung „vergessen“. Die
Tabelle 13.5 Allgemeine Gesundheitsuntersuchungen ab dem 35. Lebensjahr. Zeitraum
Untersuchungsform
Diagnostik
ab 35. Lebensjahr
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) – alle 2 Jahre
Anamnese und Erfassung des Risikoprofils
13
körperliche Untersuchung, mit Blutdruckmessung Blut- und Urinuntersuchungen Gesamtcholesterin Glukose Eiweiß, Glukose, Erythrozyten, Leukozyten, Nitrit (Harnteststreifen) Beratung über das Ergebnis
ab 45. Lebensjahr
eigenverantwortlich
HDL- und LDL-Cholesterin, Triglyzeride, CRP
eigenverantwortlich
vaginale Ultraschalluntersuchung in Abhängigkeit der Anamnese mögliche Zusatzuntersuchungen (z. B. Hormonprofil, EKG, Echokardiografie, Urodynamik)
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Vorsorge für Frauen
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II III IV V VI VII
Hormontherapie (HT) mit Östrogenen, Gestagenen, aber auch anderen Hormonen wird seit mehr als 40 Jahren zur Behandlung klimakterischer Beschwerden oder auch zur „Verjüngung“ eingesetzt [27]. Die HT mit Östrogenen oder als kombinierte Östrogen-Gestagen-Therapie kann als wirkungsvolle Behandlung von vasovegetativen Symptomen sowie von Beschwerden der urogenitalen Atrophie angesehen werden. Kaum ein Thema des gynäkologisch-endokrinologischen Fachgebiets wird so kontrovers diskutiert wie die HT. In den letzten Jahren sind mit der Veröffentlichung mehrerer prospektiv-randomisierter Studien (z. B. Heart and Estrogen/Progestin Replacement Study, die Womens’ Health Initiative Study, One Million Women Study) hinsichtlich der Risiken und des Nutzens der HT deutliche Bedenken erhoben worden. Der Nutzen einer HT zur Behandlung vasovegetativer Beschwerden ist unbestritten. Die vermuteten präventiven Eigenschaften der HT in Bezug auf die Reduktion der Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder des Schlaganfallrisikos haben sich hingegen nicht bestätigt. Auch die Problematik eines erhöhten Karzinomrisikos stellt sich aktuell anders dar. Die lokale Anwendung bei Symptomen aufgrund einer urogenitalen Atrophie ist eine effektive Therapieform. Die Osteoporoseprotektion allein sollte aber nicht als Indikation zur Verordnung einer HT angesehen werden, hier sollten Alternativen wie Bisphosphonate, selektive Modulatoren der Östrogenrezeptoren oder die Lifestyle-Medizin erwogen werden [28]. Für die Praxis bedeutet dies, dass der Einsatz einer HT eine Risikoerhöhung darstellt, das im Gegensatz zu Alter und genetischer Disposition jedoch variabel zu sein scheint. Zusammen mit der Ratsuchenden muss individuell eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen [28]. Nachfolgende Grundsätze sollten dabei beachtet werden: ● Eine HT im Klimakterium und in der Postmenopause darf nur bei bestehender zugelassener Indikation eingesetzt werden. ● Eine Nutzen-Risiko-Abwägung und Entscheidung zur Therapie muss gemeinsam mit der ratsuchenden Frau erfolgen. Diese muss jährlich überprüft werden. ● Derzeit besteht keine ausreichende Evidenz für die Bevorzugung bestimmter für die HT zugelassener Östrogene oder Gestagene bzw. ihrer unterschiedlichen Darreichungsformen. ● Die Östrogendosis sollte so niedrig wie möglich gewählt werden. ● Bei nicht hysterektomierten Frauen muss die systemische Östrogentherapie mit einer ausreichend langen Gabe von Gestagenen (mind. 10 Tage pro Monat) in suffizienter Dosierung kombiniert werden. ● Hysterektomierte Frauen sollten nur eine Monotherapie mit Östrogenen erhalten. ● Die HT ist die wirksamste medikamentöse Behandlungsform vasomotorischer Symptome. Damit können assoziierte klimakterische Symptome verbessert werden.
144
Die Basis jeder Konsultation bei klimakterischen Beschwerden oder abnehmender körperlicher Leistungsfähigkeit sollte eine Lebensstilberatung sein. Auch wenn durch Änderungen des Lebensstils nicht bei jeder symptomatischen Frau eine sofortige und ausreichende Besserung der klimakterischen Symptome oder Alterserscheinungen zu erreichen ist, tragen eine gesunde Ernährung mit Gewichtsregulation, regelmäßige sportliche Aktivität und ein gutes Stressmanagement nicht nur zu einer langfristig verbesserten Lebensqualität, sondern auch zur Prävention häufiger Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte bei. Nichthormonelle Therapieoptionen sollten bei ausgeprägter und lebensqualitätseinschränkender Symptomatik diskutiert werden (Tab. 13.6). Zur Zugabe von Vitaminen während einer AntiagingTherapie liegen keine guten Daten zur Wirksamkeit vor. Die Ernährung sollte ausgewogenen und knochengesund sein, mit einem geringen Anteil an gesättigten Fettsäuren wie tierischen Fetten oder gesättigten Pflanzenölen (Sonnenblumenöl) und einem hohem Anteil an obst- und gemüsereicher sowie vollkornhaltiger Kost. Der Anteil an ungesättigten Fettsäuren, z. B. den Omega-3-Fettsäuren in Oliven-, Rapsöl oder fettreichem Fisch sollte hochgehalten werden. Eine Erhöhung der Zufuhr an Phytoöstrogenen wird vorzugsweise durch die Erhöhung des Anteils an isoflavon- und lignanreichen Lebensmitteln (Leinsamen und Sojaprodukte) gewährleistet, auch wenn die Daten hierfür z. T. widersprüchlich sind [29]. In der Zusammenfassung aller Pro- und Kontraargumente kann das Schema in Abb. 13.1 zur Entscheidungsfindung herangezogen werden.
13.5 Ausblick Vor dem Hintergrund, dass die Teilnahmerate an den gesetzlichen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, insb. in der Alterskategorie über 60 Jahren mit der höchsten Karzinominzidenz, deutlich unter 40 % liegt (ähnlich wie die der allgemeinen Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen in der Menopause mit < 50 %), sind gesundheitspolitische Ziele schwer zu erreichen. Lediglich die Schwangerenvorsorge mit bis zu 90 % Teilnahme (bezogen auf die erfassten Fälle der Bayerischen Perinatalstatistik 2005) und die Teilnahme am aktuell in der Implementierung befindlichen Mammografie-Screening erreichen mit mehr als 70 % die Teilnahmeraten, die für eine Effektivität und damit auch positive Kosten-Nutzen-Relation sprechen. Die Schwangerschaft ist eine einzigartige, sehr emotionale Situation im Leben einer Frau, was diese hohe Teilnahmerate unterstützt. Das Mammografie-Screening hingegen ist eine vom Arzt unabhängige, über Einladungen der Einwohnermeldeämter durchgeführte medizinische Maßnahme, die entgegen anderer Strategien eine hohe Teilnahmerate erreicht.
Ausblick
Tabelle 13.6 Nichthormonelle Möglichkeiten der Behandlung des vegetativen Menopausensyndroms. Wirkstoff
Handelsname (Beispiele)
Plazebo (Reduktion der vasomotorischen Symptome: 20-22 %) Hormonelle Therapien Tibolon (2,5 mg/d) Megestrolacetat (2 x 20 mg/d) Medroxyprogesteron (5 – 10 mg/d)
● ● ●
Liviella Megestat Climopax, Gianda, Osmil, MPA
Alternative und komplementäre Therapien Vitamin E (800 IE/d) Traubensilberkerze (Cimicifuga racemosa, 40 mg) Rotklee (Trifolium pratense; Isoflavone, 40 – 80 mg) Soja (Soja hispida; Isoflavone, 40 – 80 mg; 60 g Sojaprotein) chinesische Engelswurz (Angelica sinensis, Dong Quai; 4,5 g/d)
E Vitamin E, Vitamin E AL u.v. a. Cefakliman mono, Cimicifuga AL Menoflavon, Rotklee Kapseln Alsifemin, Femi Flavon
● ● ● ● ●
Lifestyleveränderungen und nichtpharmakologische Interventionen Akupunktur Atemübungen, Biofeedback Entspannungstechniken (20 min/d) gezielte körperliche Aktivität BMI-Regulation
● ● ● ● ●
Neuroendokrine Substanzen Clonidin (α-adrenerger Rezeptoragonist; 0,1 mg/d) Methyldopa (antidopaminerg; 250 mg/d) Gabapentin (GABA-Analogon; bis 900 mg/d) Kombination aus Phenobarbital, Ergotamin und Belladonna
● ● ● ●
Clonistada, Haemiton, Paracefan Presinol mite, Methyldopa-Generika Neurontin, Gabapentin-Generika
SSRI und SNRI Venlafaxin (37,5 mg/d, 75 mg/d (!)) Paroxetin (20 mg/d) Fluoxetin (10 – 30 mg/d)
● ● ●
Trevilor Tagonis, Seroxat, Paroxat, Paroxetin-Generika etc. Fluctin, Fluoxetin-Generika
BMI = Body-Mass-Index, GABA = Gammaaminobuttersäure, SSRI = selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SNRI = selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
klimakterisches Syndrom?
ja
relative/absolute Kontraindikationen?
nein
nein
manifeste KHK?
nein
Urogenitalatrophie? nein
ja
keine HT, jährliches GKFP!
topische HT, jährliches GKFP
Soja, kompl. Medikation, Clonidin, SSRI, jährliches GKFP
ja
ja
erhöhtes MammaCA-Risiko? nein
ja
erhöhtes Osteoporoserisiko? nein
ja
Vitamin D, Kalzium, ? syst. HT/Tibolon (< 5 J.), Raloxifen, Bisphosphonate, jährliches GKFP
13
syst. HT/Tibolon (< 5 J.), jährliches GKFP
Abb. 13.1 Therapiealgorithmus für den Einsatz der Hormontherapie. HT = Hormontherapie, GKFP = gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm, KHK = koronare Herzkrankheit, SSRI = selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
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Vorsorge für Frauen
Diese unterschiedlichen Strategien, die zur Verbesserung der Teilnahmerate führen, müssen in das Gesamtkonzept integriert werden, um zukünftig das Ziel einer effektiven Vorsorge zu erreichen.
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I
II III IV V VI VII
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Einführung: Männergesundheit – Männermedizin
14 Präventive Männermedizin: Prostatakrebs und Aging-Male-Syndrom G. Jacobi, H. Rübben
Das Wichtigste in Kürze Eine evidenzbasierte urologisch-andrologische Präventivmedizin basiert auf fünf wichtigen Erkenntnissen: ● Entgegen dem tradierten Bild vom starken Geschlecht sind Männer gesundheitlich benachteiligt: Sie sind häufiger arbeitsunfähig, schneller krank und sterben 5 Jahre früher als ihre Frauen. Während die Fehltage am häufigsten durch Muskel- und Skeletterkrankungen, Erkrankungen des Atmungssystems und Leberstörungen hervorgerufen werden, sind kardiovaskuläre Erkrankungen und Prostatakrebs wichtige Todesursachen. ● Das Prostatakarzinom ist der zweithäufigste Krebs des Mannes bei stetig steigender Inzidenz; die Prävalenz beträgt etwa 30 %, ebenso die Mortalität. Dank der weit verbreiteten Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) im Serum bei der Präventivuntersuchung ist die Rate von heilbaren Frühfällen von ehemals 20 % auf heute 75 % angestiegen. Die Radikaloperation ist die erfolgversprechendste kurative Therapieform. ● Bestimmte Veranlagungsmuster weisen den Prostatakrebs als sog. „häufige, komplexe Erkrankung“ mit multifaktorieller Ätiologie aus. Umweltfaktoren, Ernährungsgewohnheiten und genetische Faktoren (Polymorphismen) sind maßgebend. ● Die sexuelle Potenzstörung (organische erektile Dysfunktion; ED) wird, falls hormonelle und neurogene Ursachen ausgeschlossen sind, heute als Manifestation einer generalisierten Endothelerkrankung angesehen. Sie wird häufig als Vorbote einer koronaren Herzkrankheit (KHK) diagnostiziert. Die beste Prävention einer vaskulären ED ist die Vorbeugung einer KHK. ● Das frühe Aufspüren partieller Androgendefizite macht die Präventivuntersuchung des Mannes zu einem Paradebeispiel für eine einfache Intervention mit hohem Heilungspotenzial. Die gezielte Testosteronsubstitution verhindert bedrohliche Zustände wie Depressionen und Osteoporose und fördert somit Lebensqualität und glückliches Älterwerden. Diese Erkenntnisse machen eine gezielte Check-Up-Untersuchung der Genitalorgane, der Prostata und des Endokriniums sinnvoll. Die Präventivuntersuchung der Prostata hat im beschwerdefreien Stadium jährlich, bei besonderen Risikofaktoren auch öfter zu erfolgen. Beim partiellen Androgenmangelsyndrom müssen die individuellen objektiven Labordaten stets im Kontext zu den geklagten Beschwerden gesehen werden. Hormonsubstitution ist
ausschließlich Sache des andrologisch versierten Urologen und Andrologen.
14.1 Einführung: Männergesundheit – Männermedizin Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themenfeldes „Männergesundheit“ hinkt gut 20 Jahre hinter den Problemlösungen bei Frauen hinterher. Das Szenario ist gut dokumentiert und das Nettoergebnis auf einen simplen Nenner zu bringen: Männer sind schnelllebiger, gleichzeitig weniger gesund und sterben daher gut 5 Jahre früher als ihre Frauen. Es gilt als gesichert, dass dieser Unterschied der Lebenserwartung keine anthropologische Konstante, d. h. keine Erbschaft aus der Steinzeit ist [1]. Denn vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert (und der damit sich ändernden Männerrolle) lagen Männer in ihrer Lebenserwartung noch nicht hinter den Frauen zurück. Es gibt Hinweise dafür, dass der Boden zum Unterschied der geschlechtsspezifischen Lebenserwartung schon in der Jugend bereitet wird [2]. Männerheilkunde oder Männermedizin hat nicht seine Entsprechung in der Frauenheilkunde anerkannter Prägung. Frauenmedizin ist eine über mehrere Lebensdekaden durch die Bereiche Reproduktionsdrang und Geburtshilfe wesentlich mitgeprägte geschlechtsspezifische Medizin. In der Praxis ist somit zunehmend zu beobachten, dass sich der Frauenarzt als Hausarzt der Frau versteht. Männermedizin verfolgt hingegen eine eher „geschlechtssensible“ Herangehensweise an Gesundheitsverständnis und präventives Verhalten (d. h. Gesundheitsbildung) des Mannes. Am Ende der Männermedizin wäre eine über Risikoverminderung erreichte nachhaltige Verbesserung der Gesundheitssituation der Männer wünschenswert [3]. Der objektive Gesundheitsstatus weicht bei Männern deutlich von ihrem subjektiven Empfinden ab. Selbst manifeste Gesundheitsprobleme werden von Männern aus Angst, für schwach gehalten zu werden, bagatellisiert. Krankheit und Rollendruck werden für nicht zusammenpassend gehalten [4]. Schließlich bedeutet Krankheit in vielen Fällen die definitive Unmöglichkeit, die gesellschaftliche oder berufliche Rolle wie gewohnt auszufüllen, von der partnerschaftlichen bzw. familiären ganz abgesehen. Die 3 K (Konkurrenz – Karriere – Kollaps) finden
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14
Präventive Männermedizin: Prostatakrebs und Aging-Male-Syndrom
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nicht selten in den 3 M (Muskeln – Macho – Midlifecrisis) ihre Entsprechung. Bei älteren Männern ist das Gesundheitsbewusstsein ausgeprägter als bei jüngeren. Die Bedrohung ihrer Gesundheit wird von Männern v. a. im Stress, Schlafdefizit, Bewegungsmangel und in ungesunder Ernährung gesehen. Andererseits gehen Männer nur ungern offen mit ihrer Risikokarriere um, sehen sie darin doch zu gern ein ungehöriges Ausspähen ihrer Schwächen. Die Wahrnehmungsschwelle der Männer im Hinblick auf Gesundheit allgemein, gesunden Lebensstil und frühzeitige Therapien hängt von vielerlei Faktoren ab: ● Gesundheitserziehung in der Familie und später ● Gesundheitsbildung durch Ausbildung oder Beruf ● Wahrnehmung durch Initiative der Partnerin. Leider kommt jedoch immer noch das Gesundheitsthema erst zum Vorschein, wenn Krankheit beim Mann selbst oder seinen Nächsten eintritt oder zumindest droht: Schmerz, Einschränkung von Funktion, Siechtum, Elend, Tod. Kurz gesagt, Männer kommen im Allgemeinen zum Arzt, wenn Not am Mann ist. Die Todesursachenstatistik in Deutschland weist für 2007 mit über 50 % die Herz-Kreislauf-Krankheiten als prädominierendes männermedizinisches Problem aus. Krebserkrankungen der Lunge, der Prostata und des Dickdarms sowie alkoholtoxische Krankheiten folgen. Männer im Alter von derzeit 60 haben laut Statistischem Bundesamt (2007) eine Lebenserwartung von 84 Jahren. Diese Erwartung lässt sich durch Sozialstatus und Bildung sowie bisher achtsamen Lebensstil noch um mehrere Jahre erhöhen. Auch damit ist die „Zielgruppe Mann“ im Rahmen der Präventivmedizin klar ausgewiesen.
14.2 Prävention beim Prostatakrebs 14.2.1 Die Prostata – das männliche Krebsproblem Nummer 1: Epidemiologie und Ätiologie Prostatakrebs galt immer als Alterskrebs. In den letzten 20 Jahren wurde dieser Tumor aber zum Paradebeispiel für Früherkennung, exzellente Heilungschance und präventive Herangehensweise. Immer mehr Männer in den Fünfzigern werden heute mit diesem potenziell tödlichen Tumor gefunden. Zu den Besonderheiten zählen: ● das heute zunehmende Erkennen bei Männern schon kurz nach der Lebensmitte, ● die familiäre Häufung bzw. bekannte Gen-Polymorphismen, ● die mit der heute möglichen Früherkennung erreichbare Heilung im operablen Stadium,
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●
●
die therapiebedingten Einschnitte in der Lebensqualität durch Veränderungen der Sexualfunktionen in einer noch sexualaktiven Lebensphase, die auf ethnographischen und epidemiologischen Studienergebnissen fußenden erfolgversprechenden Ansätze zu einer primären Prävention.
Das Prostatakarzinom ist in den westlichen Industrieländern bei stetig steigender Inzidenz nach dem Bronchialkarzinom der zweithäufigste Krebs des Mannes. Bei den über 10 Mio. deutschen Männern zwischen 50 und 75 Jahren beträgt die Prävalenz etwa 30 %. Von diesen etwa 3 Mio. „prävalenten“ Prostatakarzinomen werden derzeit aber „nur“ 40 000 in Deutschland pro Jahr quasi inzident. Hochrisikoland ist die USA mit häufigstem Vorkommen bei den Afroamerikanern. Bei ihnen hat der Prostatakrebs das Bronchialkarzinom bereits von der ersten Stelle der Krebsmortalität verdrängt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 2004 bei über 30 000 Männern ein Prostatakarzinom neu diagnostiziert. Die Mortalität hat in den vergangenen 25 Jahren um 16 % zugenommen. Die tumorspezifische Mortalität liegt heute bei 30 %. Damit ist der Prostatakrebs in der BRD die dritthäufigste Krebstodesursache bei Männern. Die Ätiologie des Prostatakarzinoms ist wie für die meisten Malignome im Einzelnen unbekannt. Ethnografische Daten mit hochsignifikant unterschiedlicher Häufigkeit in südostasiatischen Niedrigrisikoländern wie China, Japan und bei den Mittelmeervölkern einerseits sowie Hochrisikoregionen wie Zentral- und Nordeuropa, Nordamerika und Australien andererseits legen nahe, dass Umwelteinflüsse und Faktoren des Lebensstils (Ernährung, körperliche Aktivität, Anpassung an Stress) eine ursächliche Rolle spielen. Die Prostatakrebshäufigkeit variiert rund um den Globus um mehr als den Faktor 15. So liegt in den südostasiatischen Ländern die Häufigkeit der Krebstodesfälle bei unter 10 pro 100 000 Männer pro Jahr. Die höchste Häufigkeit findet sich in den westlichen Industrieländern, allen voran bei der schwarzen Bevölkerung in den USA mit über 100 pro 100 000. Mitteleuropa nimmt mit dem Prostatakrebsrisiko von um die 40/ 100 000 eine Mittelstellung ein. Eine attraktive These zur ausgesprochenen Variabilität des Prostatakrebsrisikos unter den west-östlichen Ethnien betrifft die unterschiedliche Erkrankungsanfälligkeit (Suszeptibilität) aufgrund prädisponierender Genpolymorphismen. Solche Genvariabilitäten sind für die Regulation zellulärer Wachstumsfaktoren und verschiedene Rezeptoren (Androgene, Progesteron, Vitamin D u. a.m.) Gegenstand intensiver Forschung [5].
14.2.2 Symptome, Befunde, Verlauf Es gibt keine spezifischen Beschwerden oder Frühsymptome des Prostatakrebses. Die Symptome unterscheiden sich nicht von den Beschwerden der gutartigen Prostata-
Prävention beim Prostatakrebs
vergrößerung (s. S. 153). Im Vordergrund stehen obstruktive Miktionsveränderungen durch Blasenauslassverengung mit Pollakisurie, vermehrtem Drang, Nykturie und Harnstrahlabschwächung. Restharnmengen über 100 ml oder akute Harnsperre (Harnverhalt), Harnaufstau in die Nieren mit Nierenfunktionseinschränkung, Blutung, Blasensteinbildung und bakterielle Harnwegsinfektion sind untrügliche Zeichen der fortschreitenden Krankheit. Im späten Stadium (Skelettmetastasierung) dominieren diffuse Knochenschmerzen mit Nervenkompression an der Wirbelsäule. Die Allgemeinsymptome gleichen dann denen anderer Krebserkrankungen. Der Verlauf richtet sich maßgeblich nach dem Stadium (Tumorausdehnung) zum Zeitpunkt der Erstdiagnose und der primären Therapieoption, i. e. Operation/Bestrahlung versus Palliation durch androgenoprive Maßnahmen [6].
14.2.3 Prostatakrebsrisiken Prostatakrebsrisiko durch genetische Prädisposition Prostatakrebs ist keine Erbkrankheit. Er gehört aber wegen bestimmter Veranlagungsmuster (Umweltfaktoren, Lebensstil, Polymorphismen) zu den sog. „häufigen, komplexen Erkrankungen“ mit multifaktorieller Ätiologie [7]. Hochrechnungen belegen, dass ¾ der Fälle sporadisch durch schicksalhafte und den Lifestyle mitverursachte Faktoren auftreten. Ein Viertel tritt im Erbmaterial assoziiert auf. Vier von 5 Tumorentstehungen in dieser Gruppe folgen lediglich einer „familiären Häufung“, bei nur einer von 5 liegt ein auf einem oder mehreren Genloci nachweisbarer Defekt vor. Das Risiko für einen Mann mit belasteter Familienanamnese für Prostatakrebs, ebenfalls an einem solchen Karzinom zu erkranken, ist in Tab. 14.1 zusammengefasst. Brüder oder Söhne erkranken etwa 10 Jahre früher. Veränderungen an definierten Genloci sind belegt.
Tabelle 14.1 Risiko, bei Familienbelastung für Prostatakrebs ebenfalls an Prostatakrebs zu erkranken (nach [8]). Diagnose eines klinisch manifesten Prostatakrebses
relatives Risiko
absolutes Risiko [%]
keine Familienanamnese bei Vater oder Bruder bei Vater oder Bruder < 60 Jahren bei Vater und Bruder hereditäres Prostatakarzinom
1 2 3
8 15 20
4 5
30 35 – 45
Spekulative Prostatakrebsrisiken Prostatakrebs und periphere Androgene. Ohne suffizientes Androgenangebot ist Prostatawachstum und Funktion nicht möglich. Innerhalb des altersadaptierten Normbereichs von Testosteron korreliert jedoch die Hormonkonzentration nicht mit dem Prostatakrebsrisiko. Auch andere Androgene im Serum sind nicht prädiktiv für ein erhöhtes Prostatakrebsrisiko. Prostatakrebs unter Testosteronsubstitution. Zugeführtes Testosteron kann die Krebsvorstufe „prostatische intraepitheliale Neoplasie“ (PIN) in malignes Prostatawachstum transformieren oder einen latenten (klinisch nicht in Erscheinung getretenen) Prostatatumor in ein klinisch manifestes Karzinom überführen. Vor einer Testosteronsubstitution bei „Late onset hypogonadism“ (LOH, s. S. 155) ist sicherzustellen, dass der PSA-Wert unterhalb des Cut-Off-Limits von 3,8 ng/ml liegt. Nach 3 und 6 Monaten der Testosteronsubstitution wird die Prostata klinisch und durch Messung des PSA-Spiegels kontrolliert. Der Patient wird aufgeklärt, dass durch diese Präventivmaßnahme und regelmäßige Kontrollen eine Früherkennung bösartigen Wachstums zuverlässig möglich ist. Prostatakrebs und Sexualverhalten. Weder die sexuelle Aktivität oder Enthaltsamkeit, noch unterschiedliche Sexualpraktiken haben einen nachweislichen fördernden oder protektiven Effekt auf das spätere Auftreten eines Prostatakrebses. Vasektomie. Bei Männern nach Vasektomie im jungen Erwachsenenalter wird ein Prostatakarzinom nicht häufiger diagnostiziert als bei nichtsterilisierten Männern.
14.2.4 Primäre Prävention Das Prostatakarzinom mit seiner Inzidenzdynamik der vergangenen Jahrzehnte ist über die demographischen Besonderheiten, Ernährungsfaktoren und validen Früherkennungsmaßnahmen ein Paradebeispiel für Prävention mit – hieraus folgend – individuellem wie absehbar auch volkswirtschaftlichem Benefit geworden: ● Das Prostatakarzinom ist eine bedeutende Krebskrankheit. ● Epidemiologische Unterschiede sind gut belegt. ● Genpolymorphismen sind nachgewiesen. ● Studien belegen Risiken des Lebensstils. ● PSA-Bestimmung ist ein sensitiver Früherkennungstest.
Rationale Basis Die epidemiologischen Besonderheiten beim Prostatakarzinom legen nahe, dass Lifestylefaktoren bei seiner Entstehung eine signifikante Rolle spielen. Auffallend, und
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mit Besonderheiten des Lebensstils in Zusammenhang zu bringen ist die Tatsache, dass Volksgruppen, die sich durch eine besondere Langlebigkeit auszeichnen wie etwa die Bewohner im Hunza-Tal im Himalaja, im Vilcabamba-Tal in Ecuador, in den Tälern des Kaukasus in Georgien, im Bergdorf Campodimele südlich von Rom, auf der Insel Okinawa im ostchinesischen Meer, auch extrem selten an Prostatakrebs erkranken [7]. Erfolgten allerdings eine Änderung der Lebensgewohnheiten und ein Ortswechsel durch Auswanderung in ein Land mit hoher Prostatakrebsinzidenz, so zeigt sich ein Anstieg der Krebshäufigkeit bei der eingewanderten und angepassten Bevölkerungsgruppe. So haben Japaner, die in die USA eingewandert sind, in der 2. Generation (sog. Issei) ein Prostatakrebsrisiko, das sich dem der weißen amerikanischen Bevölkerung annähert. Ähnliche Ergebnisse sind von eingewanderten Chinesen bekannt. Besondere Bedeutung für die nahrungsvermittelte Prävention wird bei diesem Beispiel der im Mutterland üblichen faserreichen, fettarmen, gemüse- und phytoöstrogenhaltigen Kost der Asiaten sowie den pflanzlichen Lignanen und Isoflavonoiden, die besonders in Reis und Soja enthalten sind, zugesprochen. Asiaten in den großen Metropolen, deren Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten mehr und mehr von ihren alten Traditionen abdriften und verwestlichen, erkranken nun häufiger an Prostatakrebs als früher.
Karzinogenese Aus epidemiologischen Untersuchungen und Autopsiestudien lässt sich ableiten, dass die Karzinogenese beim Prostatakrebs wahrscheinlich 10 – 20 Jahre dauert. An welchen kritischen Stellen Präventions- bzw. Reparaturmechanismen angreifen könnten, ist in Abb. 14.1 vereinfacht dargestellt. Die Karzinogenese folgt beim Prostatakarzinom in aufeinanderfolgenden Schritten und mit einer für einen präventiven Ansatz maßgeblichen Besonderheit. Demnach könnten natürliche, in der Nahrung vorkommende Stoffe an einem oder mehreren Schritten der Karzinogenese (1-2-3-4, Abb. 14.1) angreifen. Nahrungssup-
Initiation 1 Promotion
Klinisch manifestes Karzinom
2 Progression in drei prognostisch unterschiedlichen Varianten
Oxidativer Stress Exogen zugeführtes Vitamin E, die Spurenelemente Selen und Zink sowie das Karotinoid Lykopin haben als antioxidative Schutzmechanismen experimentell nachgewiesene hemmende Wirkungen auf die Karzinogenese beim Prostatakrebs. In Fallkontrollstudien wurde deren Effekt auf die Reduzierung des Prostatakrebsrisikos belegt. Der Organismus kann mithilfe von Enzymen (Superoxiddismutase, Katalase, Glutathionperoxidase) zusammen mit den genannten Antioxidanzien und sekundären Pflanzenstoffen freie Radikale binden und so die Zellen vor maligner Entartung schützen. Die Ergebnisse randomisierter Studien hierzu sind allerdings bisher nicht schlüssig.
Beeinflussung der Karzinogenese durch Lifestyle Lebensstilfaktoren, hier v. a. Essgewohnheiten, sind mittlerweile für den präventiven Nutzen beim Prostatakrebs gut belegt. Hierzu gehören sekundäre Pflanzenstoffe, Carotinoide, Vitamine und Spurenelemente. Heranzuziehen sind Kohortenstudien, Fallkontrollstudien und plazebokontrollierte Studien. Zur wissenschaftlichen Beweisführung (Evidenzniveau) und zur Validität der derzeitigen Datenlage haben das National Cancer Institute in den USA und die Deutsche Krebsgesellschaft im „Nutritional Cancer Prevention Program“ Stellung genommen und positive Empfehlungen ausgesprochen.
Sekundäre Pflanzenstoffe 4 latenter Tumor
3 PIN
Abb. 14.1 Karzinogeneseschritte beim Prostatakarzinom und Ansatzpunkte für eine Prävention; PIN (prostatische intraepitheliale Neoplasie) und der latente Tumor treten nicht als Krebs in Erscheinung (aus: [7]).
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plemente sind quasi als „Präventoren“ im Tierexperiment in der Lage, die Initiation und Promotion zu unterdrücken, sowie die Progression zu verhindern. Eine überzeugende Rationale für eine lebensstilgeführte Prävention in diesem Modell ist der gut belegte Befund, dass bei Niedrigrisiko-Männern (Asien) eine gleich hohe Häufigkeit des latenten (lediglich in der Autopsie auffindbaren) Karzinoms beobachtet wird wie bei Hochrisikomännern (Nordamerika). Aber nur im Ausnahmefall (oder nach Migration und Lebensstilangleichung) entsteht bei Asiaten aus dem latenten Tumor das klinisch manifeste Karzinom. Damit Präventoren die Karzinogenese beeinflussen können, müssen sie wahrscheinlich dem Organismus jahrzehntelang natürlicherweise zur Verfügung stehen oder ergänzend aufgenommen werden.
Es handelt sich um eine chemisch sehr heterogene Stoffgruppe bisher nicht im Einzelnen charakterisierter Substanzen verschiedenster Wirkspektren. Sie haben in der Pflanze die unterschiedlichsten Funktionen und dienen u. a. als Abwehrstoffe gegen Strahlung, als Wachstums-
Prävention beim Prostatakrebs
regulatoren und als Farbstoffe. Sie sind nur in geringer Menge und nur in bestimmten Pflanzen vorhanden. Mit einer gemischten Kost wird täglich nur etwa 1,5 g aufgenommen. Ihre Eigenschaften als Krebsschutz der Prostata beruhen auf antioxidativer Wirkung, Immunmodulation, enzymatischem Abbau von Präkanzerogenen und Kanzerogenen, Unterdrückung der Androgenwirkung sowie Modulation von Zellwachstum und Zelldifferenzierung. Polyphenole. Zu den bekanntesten Polyphenolen gehören die Cumarine, Lignane und Phenolsäuren. Hinzu kommen auch die Flavonoide (bisher ca. 4000 – 5000 unterschiedliche Verbindungen bekannt): ● Flavone (gelb-orange Färbung von Früchten und Beeren) ● Flavonole (gelbe Färbung) ● Anthozyane (rote, blaue und violette Färbung) Am bekanntesten ist das Quercetin (v. a. in Zwiebeln und Grünkohl). Die Isoflavonoide und Lignane gehören chemisch gesehen zwar zur Gruppe der Polyphenole, jedoch werden sie aufgrund ihrer Eigenschaften zu Phytoöstrogenen (s. u.) gezählt. Flavonoide hingegen supprimieren die LDL-Oxidation und wirken antikarzinogen. Phytoöstrogene. Sie haben eine sehr schwache östrogene Wirkung und zeichnen sich durch vielfältige antiprostatische Effekte in vitro und in vivo aus. Die wichtigsten Lieferanten von Phytoöstrogenen sind: ● Isoflavone (Flavonoide): in Sojabohnen, Leguminosen (Bohnen, Linsen, Erbsen), Tee, Wein ● Lignane: in Getreide, Samen, ölhaltigen Früchten (Oliven), Nüssen, Obst, Gemüse, Beeren ● Cumestane: in Gemüsekeimlingen (Soja-, Alfalfasprossen) Daidzein und Genistin sind zwei der aktivsten Flavonoide. Sie sind in zigtausendfach höherer Konzentration in Sojaprodukten (Sojamehl, Tofu, Sojamilch) als in der üblichen westlichen Kost enthalten. Mittlerweile sind sie Bestandteil einiger Nahrungsergänzungsmittel. Während in der westlichen Ernährung mit 40 % der Anteil tierischer Produkte dominiert und nur ein Drittel aus Getreide stammt, liegt in der fernöstlichen Ernährung der Getreideanteil bei 80 %, der Anteil tierischer Produkte bei nur 6 %.
Antioxidativ wirksame Substanzen Carotinoide. Carotinoide, hier insb. das Lycopin, sind als Prostataschutzfaktor allgemein akzeptiert. Lycopin gehört wie andere Carotinoide zu den für Menschen essenziellen Mikronährstoffen. Die wichtigste Lycopinquelle für den Menschen sind Tomaten, v. a. aber daraus gewonnene Produkte. Werden Tomaten erwärmt oder anderweitig
verarbeitet, so nimmt die Aufnahme bioverfügbaren Lycopins stark zu. Daher wird zur Prostatakrebsprävention Tomatenmark, Tomatensauce oder Saft empfohlen. Relativ hohe Lycopingehalte finden sich noch in Melonen und pinkfarbenen Grapefruits. Zentrale Bedeutung für die Funktionalität der Carotinoide ist deren antioxidative Eigenschaft. Die Produktion freier Sauerstoffradikale, auch „Reactive oxygen species“ (ROS) genannt, gehört zum normalen oxidativen Stoffwechsel. Die ROS stammen hauptsächlich aus der Atmungskette in den Mitochondrien und von Leukozyten (Immunabwehr). Tabakrauchen, Alkohol, bestimmte Medikamente oder UV-Strahlung generieren im Übermaß freie Radikale. Der Organismus besitzt Enzymsysteme und nichtenzymatische Mechanismen, welche die Ausbreitung der ROS in Zellen und Geweben kontrollieren. Beim Lycopin scheint die Schutzfunktion vor Membran-, Lipid- und DNA-Schäden in seiner Eigenschaft als Antioxidans zu beruhen. Außerdem kann Lycopin in den mitotischen Wirkungskreis des IGF-I (insulin-like growth factor) eingreifen und den Zellzyklus verlangsamen. Bisher liegen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) keine empfohlenen Zufuhrmengen vor. Die übliche Dosis wird in einem Bereich von 6 – 60 mg pro Tag gesehen. Vitamine. Insbesondere Vitamin E hat ausgeprägte antioxidative Eigenschaften. Ein chronisch niedriger VitaminE-Plasmaspiegel korreliert mit einem hohen Erkrankungsrisiko für Prostatakrebs. In der „Alpha-Tocopherol Beta-Carotene Cancer Prevention–Studie“ konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass Supplementierung mit 50 mg/d Vitamin E die Inzidenz des Prostatakarzinoms um ein Drittel, die Prostatakrebsmortalität um 41 % gesenkt wird [7]. Epidemiologische und genetische Studien weisen auch Vitamin D einen möglichen Prostatakrebs-Schutzfaktor zu. Der hohe Melaninbesatz in der pigmentierten Haut afroamerikanischer Männer hemmt die Synthese von Provitamin D. Ihr resultierendes Vitamin-D-Defizit wird mit dem hohen Prostatakrebsrisiko in Zusammenhang gebracht. Für Vitamin D sind spezifische Rezeptoren im Prostatagewebe bekannt. Männer mit bestimmten Genpolymorphismen am Vitamin-D-Rezeptorgen (z. B. Taq I) haben ein mehrfach höheres Prostatakrebsrisiko als Männer ohne diesen Polymorphismus. Ob die weltweit geringere Prostatakrebsinzidenz bei der Bevölkerung südlicher Breitengrade (höhere UV Strahlung) auf eine bessere Vitamin-D-Versorgung zurückzuführen ist, oder ob Lifestylefaktoren die maßgebliche Rolle spielen, ist unklar. Auch Vitamin C inaktiviert freie Radikale. Für Vitamin C sind in Bezug auf Prostatakrebs protektive Effekte bisher nicht erwiesen. Spurenelement Selen. Selen ist ein Spurenelement, das normalerweise in den mitteleuropäischen Agrarböden in ausreichender Menge vorkommt. Wie Vitamin E
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wirkt Selen als Antioxidans und stärkt die Immunabwehr. Einige Vitamin-E-Mangelerscheinungen lassen sich durch Selen beheben oder verhindern. Mehrere antioxidativ bedeutsame Stoffe wirken synergistisch, d. h. im Verein miteinander am stärksten. So wirkt die kombinierte Einnahme von Selen und Vitamin E stärker in der Prostatakrebsprophylaxe als einer der beiden Stoffe für sich allein. Selen gehört beim Menschen zu den essenziellen Spurenelementen. In mehreren Fallkontrollstudien wurde eine geringere Inzidenz für Prostatakrebs bei Männern unter einer Selensupplementierung gezeigt. Bei Männern mit sehr niedrigem Selenspiegel im Serum ist die Prostatakrebsinzidenz doppelt so hoch wie bei Männern mit hohem Spiegel. Einen hohen Selengehalt haben z. B. Fisch (v. a. Rotbarsch, Bückling, Hummer, Scholle, Tunfisch), Eigelb, Kokosnüsse, Steinpilze, Kohlrabi und Weizen.
Körpergewicht – BMI In prospektiven Studien findet sich mit einer Odds Ratio von 1,5 ein leicht erhöhtes Prostatakarzinomrisiko bei Adipositas. Im Gegensatz hierzu werden mit zunehmendem BMI tiefere PSA-Werte beobachtet, und zwar unabhängig vom Auftreten eines Prostatakarzinoms [12].
Ernährungs- und Lifestyle-Empfehlungen für die Praxis Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) hat gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) das 6 Punkte umfassende NCP-Programm (Nutritional-CancerPrevention-Programm) als Empfehlung veröffentlicht. Es handelt sich hier um allgemeine gesundheitsfördernde Maßnahmen, die eine unspezifische Krankheitsprävention verfolgen: ● Vermeiden von Übergewicht ● Einschränken des Fettkonsums, v. a. von tierischen Fetten ● ausreichende Zufuhr von Radikalfängern (Antioxidanzien) ● hoher Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen ● Alkoholkonsum: je weniger, desto besser ● 30 Minuten Sport, 3-mal pro Woche
Mahlzeiten unter Einschluss von Tomatenprodukten ausreichend hoch aufgenommen werden. Melonen haben ebenfalls einen relativ hohen Lycopingehalt.
Beeinflussung der Karzinogenese durch Medikamente (Chemoprävention) Unter dem an sich wenig vertrauenswürdigen Begriff Chemoprävention wird die Möglichkeit verstanden, mit synthetischen Substanzen die Karzinogenese und die maligne Transformation zu verhindern oder zumindest zeitlich zu prolongieren. Bisher hat sich diese Art der Prostatakrebsprävention auf die Anwendung von Blockern des 5α-Reduktasesystems des Androgenstoffwechsels beschränkt. Androgene sind der wirksamste Wachstumspromotor der normalen wie der entarteten Prostatazelle. Krebswachstums lässt sich durch Blockade der Androgenverwertung in der Zielzelle (Antiandrogene) oder durch Androgenentzug („pharmakologische Kastration“) unterdrücken. Finasterid und Dutasterid sind zwei Enzymblocker (5α-Reduktase), die ohne einen Kastrationseffekt bei der gutartigen Prostatahyperplasie (BPH) als wirksame Wachstumshemmer Anwendung finden. In einer an rund 18 000 Männern durchgeführten plazebokontrollierten Studie (Prostate Cancer Preventive Trial, PCPT) wurde 7 Jahre lang der 5α-Reduktasehemmer Finasterid zur Prävention von Prostatakrebs eingenommen [10]. Die Inzidenz des Prostatakarzinoms sank von 24,4 % (Plazebo) auf 18,4 % (5α-Reduktasehemmung). Weiteren Aufschluss über den präventiven Effekt der 5α-Reduktasehemmung auf das Auftreten eines Prostatakarzinoms wird durch eine noch nicht abgeschlossene Langzeitstudie mit dem Typ-1 + 2-Enzymhemmer Dutasterid erwartet. Hiermit werden derzeit Männer mit erhöhtem Prostatakrebsrisiko (PSA-Wert zwischen 2,5 und 10 ng/ml) behandelt. Auf der Basis der PCPT-Studie ist es derzeit verfrüht, Finasterid oder Dutasterid allgemein zur Chemoprävention des Prostatakrebses zu empfehlen. Bei Männern mit familiärem Prostatakrebsrisiko oder erhöhtem PSA-Wert ohne bisherigen Krebsnachweis sollte Finasterid jedoch in die präventiven Erwägungen einbezogen werden.
Krebsfrüherkennungsmaßnahmen Die Arbeit mit Männern im Praxisalltag zeigt, dass präventive Allgemeinplätze erfolglos bleiben. Mit Empfehlungen wie „mehr Sport“, „weniger rotes Fleisch“ oder „runter mit dem Bauchumfang“ fangen Männer meist wenig an. Außerdem ist der Effekt nicht evaluierbar und der direkte Nutzen dem Klienten nicht zu vermitteln. Die derzeitige Datenlage erlaubt es, eine hohe Zufuhr an Lycopin und Selen als präventive Essgewohnheit zu empfehlen. Während Selen als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich ist, kann Lycopin zunächst in Form regelmäßiger
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Während die primäre Prävention eine Inzidenzminderung der Krebserkrankung zum Ziel hat, bewirkt die sekundäre Prävention im Sinne gezielter Krebsfrüherkennung bei gleicher Krebsentstehung zunächst einen statistischen „Inzidenzanstieg“. Denn Früherkennung deckt Krebsfälle auf, die sonst unerkannt (klinisch inapparent) geblieben wären. Die herkömmliche rektale Prostatabetastung vom Enddarm her kann das Karzinom meist erst im fortgeschrit-
Gutartige Prostatavergrößerung – benigne Prostatahyperplasie (BPH)
tenen Stadium aufdecken. Denn eine die Organkapsel einbeziehende Drüsenverhärtung bedeutet meist organüberschreitendes Krebswachstum. Damit ist die Fingerbetastung als alleinige Früherkennungsmaßnahme nicht geeignet und sollte für optimale Ergebnisse mit einer Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) einhergehen! Die moderne Krebsfrüherkennungsmaßnahme schließt heute die Serumbestimmung des Tumormarkers PSA (prostataspezifisches Antigen) ein. Denn über 70 % aller Patienten mit histologisch gesichertem Prostatakarzinom haben einen initialen PSA-Wert oberhalb des CutOff-Wertes von 4 ng/ml. Daher erfolgt die verantwortungsvolle Früherkennung mittlerweile praktisch nur noch PSA-geführt. In einer großen, noch nicht abgeschlossenen europäischen Multicenter-Studie (European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer, ERSPC), an der derzeit über 40 000 Männer teilnehmen, liegen vorläufige Ergebnisse vor, welche den Wert der PSA-geführten Vorsorgeuntersuchung im Sinne einer sehr effektiven sekundären Prävention unterstreichen. Der Anteil der primär bereits metastasierten und damit unheilbaren Prostatakrebse (vor 20 Jahren noch bei 70 %) ist durch die PSA-geführte Vorsorge auf 30 % gesunken. Das bedeutet, dass durch die Früherkennung mittels PSA die Rate der potenziell unheilbaren Krebse mehr als halbiert wird. Eine Verringerung der Krebsmortalität ist durch eine konsequente Sekundärprävention unter Einschluss des PSA-Testverfahrens langfristig zu erwarten. Erhöhte PSA-Werte können neben einem Prostatakarzinom durch eine proliferative Hyperplasie (benigne Prostatahyperplasie, BPH), PIN (prostatische intraepitheliale Neoplasie) und Entzündung (Prostatitis) verursacht werden. Da die Häufigkeit des Prostatakarzinoms etwa um den Faktor 10 größer ist als die Sterblichkeitsrate, zielt die moderne Früherkennung darauf, nur die therapiebedürftigen Karzinome, an denen der Patient auch sterben würde, zu identifizieren. Zu diesem Zweck sollte die PSA-basierte Früherkennung im Alter von 40 Jahren begonnen werden. Die Indikation zur Prostatabiopsie wird dabei heute nicht mehr nur an einem starren Schwellenwert von 4 ng/ml festgemacht, sondern wird zunehmend durch die Betrachtung des PSA-Verlaufes über die Zeit ersetzt [13]. Die tertiäre Prävention (Verhütung oder Linderung der Krankheitsprogression) ist nicht Gegenstand der Präventivmedizin, sondern der Uroonkologie [6, 13].
Kasuistik Prävention beim Prostatakarzinom Ein 56-jähriger Hotelier wird im Rahmen eines Check-Ups zur Erhöhung seiner Risikolebensversicherung einem Urologen vorgestellt. Eine fachärztliche Präventivuntersuchung war bisher nie durchgeführt worden. Seitens der Miktion und der Sexualfunktion bestehen keine Beschwerden. Während bei der klinischen Untersuchung und der transrektalen Sonografie an Prostata und Samenblasen
außer einer beginnenden Prostatahyperplasie keine pathologischen Befunde zu erheben sind, ist im SerumCheck ein PSA-Wert von 10,9 ng/ml auffällig. Die transrektale Prostatabiopsie ergibt in 2 von 8 Stanzzylindern eines Prostatalappens ein Adenokarzinom vom Differenzierungsgrad II mit einem Gleason-Score von 6. Die radikale Prostatektomie mit regionaler Lymphadenektomie unter Schonung des Gefäß-Nerven-Bündels der nicht befallenen Prostataseite ist kurativ. Sechs Jahre nach Operation ist das PSA-Monitoring weiterhin negativ. Der Betroffene war innerhalb von 3 Wochen postoperativ komplett harnkontinent und 4 Monate postoperativ zufriedenstellend sexuell potent.
14.3 Gutartige Prostatavergrößerung – benigne Prostatahyperplasie (BPH) Die gutartige Prostatavergrößerung tritt mit Symptomen (benignes Prostatasyndrom = BPS) immer in der zweiten Lebenshälfte auf. Die medikamentöse Behandlung (α1Adrenorezeptorenblocker, 5α-Reduktasehemmer) kann jahrelang einen beschwerdearmen Zustand gewährleisten. Operative Therapieverfahren (transurethrale Resektion = TURP) sind effizient im Lindern der Symptome meist für den Rest des Lebens. Primäre präventive Ansätze sind spärlich. Die sekundäre Prävention zielt v. a. auf eine lange intakte Sexualfunktion ab.
14.3.1 Klinik, Nomenklatur, Diagnostik Es handelt sich um eine Vermehrung der Gewebsanteile der Drüsen und des fibromuskulären Stromas. Die Hauptsymptome sind entweder obstruktiver Art mit Harn-
Tabelle 14.2 Standarddiagnostik beim BPS und Prostatakrebs. Diagnoseverfahren
im Einzelnen
Anamnese
Miktion, Medikamente, ZNS
Symptomen-Score
z. B. IPSS (International Prostate Symptome Score)
körperliche Untersuchung
digitorektale Palpation, Neurostatus
Labor
Urinstatus, Nierenparameter i. S., PSA
Funktionsdiagnostik
Uroflowmetrie, Restharnbestimmung
Organdiagnostik
Sonographie Prostata, Blase, Nieren; bei bestimmter Indikation Röntgen und Endoskopie
Prostatabiopsie
bei PSA-Wert > 4 ng/ml
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strahlabschwächung und inkompletter Blasenentleerung oder irritativer Art mit imperativem Harndrang bis hin zur Dranginkontinenz. Beide Symptommuster sind meist vermischt und werden beherrscht von Pollakisurie und Nykturie. Zur objektiven Erfassung der subjektiven Beeinträchtigung ist ein Fragenkatalog (Symptomen-Score) hilfreich. Das Ausmaß der Symptome korreliert nicht mit der Größe der veränderten Prostata. Außer bei diagnostischen Maßnahmen wegen entsprechender Symptomatik wird die BPH bei der Krebsvorsorgeuntersuchung gefunden. Bei großvolumiger BPH kann der PSA-Wert in der Grauzone zwischen 4,0 und 10,0 ng/ml im Sinne der Krebsfrüherkennung falsch positive Resultate ergeben.
wie etwa sparsamer Fleischverzehr, reduzierter Alkoholkonsum, Cholesterinsenkung, Regulierung des Körpergewichts, Verbesserung der Körperfitness, viel Obst und andere vitaminreiche, ballaststoffreiche und phytoöstrogenhaltige Kost, sowie bestimmte Pflanzenheilstoffe (z. B. Kürbiskernextrakt). Sie mögen zu einer gesunden Verhaltensweise beitragen, haben aber im Hinblick auf die Prävention der BPH keinen evidenzbasierten präventiven Effekt. Die Früherkennung der BPH (sekundäre Prävention) spielt in der Praxis keine entscheidende Rolle, da das Krankheitsbild v. a. von den Symptomen diagnostisch wie therapeutisch bestimmt wird.
14.3.4 Tertiäre Prävention der BPH 14.3.2 Risikofaktoren, Pathophysiologie Alter. Hauptrisikofaktor ist das Alter, ohne dass der Pathomechanismus geklärt ist. Von allen experimentell verfolgten Theorien zur Initiierung und Entwicklung der BPH hat sich die mit zunehmendem Alter in Zusammenhang bringende Pathophysiologie von Androgenen und Östrogenen im Drüsenanteil bzw. im Stromaanteil der Prostata bestätigen können. Die normale Prostataentwicklung und die Hyperplasie im Alter hängen von der Testosteronsekretion der Hoden ab. Männer mit primärem Hypogonadismus sind von einer BPH nicht betroffen. Werden sie hingegen mit Testosteron substituiert, so nimmt ihr Prostatavolumen bis in den Bereich gesunder Männer zu. Verminderung des Dihydrotestosterongehalts (DHT) in der Prostata (5α-Reduktasemangel, medikamentöse Blockade der 5α-Reduktase) verhindert die Hyperplasie der Prostata bzw. unterdrückt sie. In der Prostata des älteren Mannes findet sich trotz reduziertem Serumspiegel von Testosteron ein erhöhter Gehalt an Dihydrotestosteron (DHT). Die Akkumulation von DHT kann durch eine erhöhte Androgenrezeptorbindung und eine aktivierte 5α-Reduktase erklärt werden. Der Zusammenhang mit dem Alter ist unklar. Andere Faktoren. Ethnische Unterschiede wie beim Prostatakrebs gibt es nicht. Lifestyle-Hypothesen (Ernährung, Alkohol, Adipositas, Körperfitness) haben sich ebenso wenig bestätigt wie sexuelle Aktivität und genetische Prädisposition. Die altersspezifische Prävalenz der BPH ist in Amerika, Europa und Japan vergleichbar.
14.3.3 Primäre und sekundäre Prävention der BPH Eine primäre Verhütung oder Verlangsamung der Prostatahyperplasie ist, da über den Androgenstoffwechsel hinausgehende ätiologische und pathogenetische Kenntnisse fehlen, nicht gegeben. Gern werden in den Laienmedien Lebensstiländerungen zur Prävention angegeben,
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Sie zielt darauf ab, im Krankheitsfall eine Progression zu verhindern und damit die Lebensqualität mindernde Begleiterscheinungen zu verhüten. Zahlreiche Pflanzenextrakte werden zur Tertiärprophylaxe empfohlen, ohne dass ihre Wirkung erwiesen ist. Die am häufigsten angewandten Phytopräparate stammen aus: ● der Sägezahnpalme (Serenoa repens, Sabal serrulata), ● der Brennnesselwurzel (Urtica dioica), ● Roggenpollenextrakt (Secale cereale), ● Phytosterolen und β-Sitosterin (Hypoxis rooperi) und ● dem Kürbis (Curcubita pepo). Empfohlen werden zur Unterstützung eines günstigen Krankheitsverlaufs ebenfalls das Vermeiden von scharfen Gewürzen, konzentrierten Alkoholika sowie die ungeschützte Kälteeinwirkung.
14.4 Wenn Männer in die Jahre kommen: Prävention des Aging-Male-Syndroms 14.4.1 Ausgangssituation Funktionen männlicher Geschlechtshormone Die moderne Sichtweise im Hormonstoffwechsel des älter werdenden Mannes bewegt sich zwischen der Überzeugung, die Veränderungen seien physiologisch und damit normal, und der Meinung, ein Hormonabfall stelle in jedem Fall ein Defizit dar und gehöre immer behandelt, aufgefüllt, substituiert [9]. Sexuelle Prävention beim älter werdenden Mann heißt vordergründig Erhalt der erektilen Funktion, der männlichen Potenz. Dabei ist etwa die Hälfte der Männer ab 40 Jahren mit Potenzstörungen konfrontiert und dadurch in der Lebensqualität beeinträchtigt. Bekannt ist der soziale Nutzen eines normalen, gesunden Sexuallebens auch für ältere Menschen, seine
Wenn Männer in die Jahre kommen: Prävention des Aging-Male-Syndroms
Bedeutung für das emotionale Wohlbefinden sowie die Kraft und den Erhalt der partnerschaftlichen Beziehungen. Demgegenüber ist bei Männern die Funktion zur Reproduktion bis ins höhere Alter gut belegt. Zwei Formenkreise, welche eine Gesundheitsprävention durch den Mann selbst oder seine Partnerin auf den Plan rufen, werden jenseits der Lebensmitte in der Praxis beobachtet. Die sexuelle Potenzstörung (erektile Dysfunktion = ED) und die Symptome der schleichenden Minderung des männlichen Hormonangebots (Hypogonadismus). Beide Konditionen können, müssen aber keineswegs miteinander verquickt sein. Beide können bereits in der Lebensperiode, in dem der Mann ansonsten „voll seinen Mann steht“, langsam beginnen.
Hormonveränderungen und Alterungsprozess des Mannes Im Serum des Mannes sinkt das bioaktive männliche Hormon Testosteron bereits ab dem 25. Lebensjahr um ca. 1 % pro Jahr und ist nach dem 60. Lebensjahr auf ca. 40 – 50 % der in jungen Jahren vorhandenen Hormonspiegel abgesunken. Hierbei ist eine erhebliche individuelle Variabilität anzutreffen. Der zu erwartende Befund beim älteren Mann ist also der eines partiellen Androgenmangels (partielles Androgendefizit des alternden Mannes = PADAM): Das Gesamttestosteron liegt dann unter 12 nmol/l bzw. 300 ng/dl. Durchgesetzt hat sich für diese später im Leben einsetzende Funktionseinschränkung der Gonadenfunktion der Terminus „Late onset hypogonadism“ (LOH). Im Vordergrund der Pathogenese des PADAM/LOH steht die Reduktion der Leydig-Zellen in den Hoden (testikuläre Insuffizienz) und die damit eingeschränkte Testosteronproduktion. Eine Fehlfunktion des komplizierten Regelkreises von Hypothalamus und Hypophyse ist die Folge. Normalerweise wird Testosteron zu Hormonen umgewandelt, die erst in bestimmten Zielorganen ihre spezifische Wirkung entfalten (Abb. 14.2). Aus deren Mangel lassen sich so die komplexen Wechselwirkungen, Effekte und möglichen Beschwerden bei Männern mit LOH ermessen. Nach der ISSAM-Leitlinie (International Society for the Study of the Aging Male) liegt ein PADAM dann vor, wenn folgende Veränderungen zu beobachten sind [11]: ● Verminderung der Sexualfunktion, Libido und Erektion betreffend Dihydrotestosteron (DHT)
Prostata, Haut, Haare, Knochen
Testosteron Östradiol
Zentralnervensystem, Keimdrüsen, Knochen, Gefäßendothel
Abb. 14.2 Zielorgane der Geschlechtshormone beim Mann.
● ● ● ● ●
psychische Symptome wie Depression Verminderung der Muskelkraft Zunahme des viszeralen Fettanteils Abnahme der Knochendichte Veränderungen an Haut und Haar
Über den Testosteronmangel hinausgehende Hormonveränderungen bei Männern im Verlauf des Lebens sind für präventive Gesichtspunkte nicht richtungsweisend.
14.4.2 Der betroffene Mann als Klient und Patient Männer suchen dann medizinischen Rat, wenn ihre Funktion an für sie essenzieller Stelle gestört ist oder wenn irgendwo im Körper bedrohliche Symptome oder Schmerzen auftreten. Dabei wird über längere Zeit die Konsultation herausgeschoben, sei es, weil man die Situation für normal („altersentsprechend“) hält, oder weil man lieber die Spontanheilung abwartet. So vergehen mitunter Monate bis Jahre einer Diagnoseverschleppung und einer Behandlung. Meist sind es unspezifische, wechselnd stark ausgeprägte, kommende und wieder gehende Veränderungen, die teils mit viel oder wenig Leidensdruck verbunden auftreten. Oft haben sie den Charakter von Befindlichkeitsstörungen, weswegen Männer nicht zwangsläufig einen Arzt aufzusuchen gedenken.
Die häufigsten Symptome und Befunde beim LOH Die am häufigsten genannten Beschwerden bei Männern nach der Lebensmitte sind: ● allgemeiner Leistungsknick, Antriebsschwäche ● Libidomangel, Potenzschwäche ● Konzentrations- und Gedächtnisstörungen ● Schlafstörungen ● vegetative Symptome (Schwitzen, Hitzewellen) ● Gemütsveränderungen, depressive Stimmungslage ● Gelenk-, Skelett- und Muskelschmerzen ● unklare Kreislaufbeschwerden ● Gynäkomastie ● abdominale Fettzunahme (viszerale Adipositas) Nicht selten wird der Mann von seiner Ehefrau/Partnerin/ Lebensgefährtin überhaupt erst motiviert, ärztlichen Rat zu suchen. Aus Symptomen können erst dann Beschwerden werden, wenn der Betroffene beginnt, sich darüber zu beschweren! Beim Hormonmangel sind keineswegs immer alle Beschwerden/Symptome anzutreffen. Außerdem können sie auch ohne Hypogonadismus vorhanden sein. Des Weiteren mangelt es an standardisierten Diagnoseverfahren und in vielen Fällen an objektivierbaren Krankheitskriterien. Daher ist an erster Stelle immer der biochemische
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Nachweis des LOH mit einem Serumtestosteron von unter 11 nmol/l bzw. einem freien Testosteron von unter 0,225 nmol/l zu fordern, an dem die Diagnose festzumachen ist.
Riskanter Lebensstil
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Die genannten Symptome, Beschwerden und Funktionseinschränkungen sind eng verquickt mit einem riskanten Lifestyle. Das macht einerseits ihre Abgrenzung zum Hormonmangel so problematisch, eröffnet aber andererseits ein weites Feld für präventive Maßnahmen dieser Männerbeschwerden. Zu den hauptsächlichen Lifestylerisiken zählen: ● Fehlernährung als Über-, Falsch- oder Mangelernährung (was Vitamine und Spurenelemente anbetrifft) ● Trainingsmangel bis hin zur körperlichen Untätigkeit ● Rauchen ● Alkoholkonsum
sende Rigidität, zu schnellen Erektionsabfall und damit verbunden zu kurzem und zu wenig lustbetontem Geschlechtsakt. Nachlassende Libido und „schlechter Orgasmus“ legen nahe, dass psychogene Faktoren wie Stress oder partnerschaftliche/familiäre Überforderung mit im Spiel sind. Bei Männern über 50 überwiegen manifeste Dauersymptome: ● geringere Kontumeszenz (Blutfülle mit Zunahme von Penislänge und -umfang), Gefühl der Gliedverkleinerung, ● nachlassende bis völlig fehlende Rigidität, oder ● zu schneller Abfall einer flüchtig (und mit Mühe) aufgebauten Rigidität, ● Unvermögen, einen Geschlechtsverkehr zu initiieren oder aufrechtzuerhalten, ● nachlassende oder fehlende spontane nächtliche Erektionen.
Um den herabwürdigenden Begriff Impotenz (Unfähigkeit) zu vermeiden, hat sich in der Fachsprache der Terminus erektile Dysfunktion (ED) eingebürgert. Sexuelle Funktionsstörungen des Mannes lassen sich je nach gestörtem Erlebnis einteilen in ● gestörte Erektion (erektile Dysfunktion), ● Verlust der sexuellen Appetenz (Libidomangel/Alibidinie), ● Orgasmusstörungen, ● verfrühter Orgasmus mit oder ohne Ejakulation (Ejaculatio praecox)
Eine psychogene Potenzstörung wird immer dann angenommen, wenn keine entsprechenden somatischen Befunde zu erheben sind. Andererseits wird sofort eine gestörte Erektion als somatische ED eingestuft, wenn entsprechende systemische Körperbefunde (KHK, Diabetes) vorliegen. Die organische ED wird, falls hormonelle und neurogene Ursachen ausgeschlossen sind, heute zunehmend als Ausdruck einer übergeordneten, also generalisierten Endothelerkrankung aufgefasst. So können manifeste Erektionsstörungen erstes frühes klinisches Zeichen von Gefäßerkrankungen sein: Atherosklerose auf dem Boden von Hypertonie, Dyslipoproteinämie oder koronarer Herzkrankheit. Die ED gilt daher als Vorbote einer KHK. Im Allgemeinen treten die Symptome der verminderten Erektionsfähigkeit 1 – 5 Jahre vor den durchblutungsbedingten Herzbeschwerden (Angina pectoris) auf. Die Grundlagenforschung weist die ED mit wenigen Ausnahmen (neurogen-traumatische oder toxische Ursachen) als ein Symptom in einer meist multifaktoriellen Kette von Funktionsstörungen aus. Paradebeispiel ist der Diabetes mellitus mit Stoffwechsel-, Durchblutungs- und Neuroeffekten an der Reizübertragung und Reizvermittlung in der Schwellkörpermuskulatur. In einer urologischen Männersprechstunde wird die ED-Ursache in folgender Reihenfolge der Häufigkeit angetroffen: ● vaskulär bedingt ● Diabetes, metabolisches Syndrom ● Arzneimittelnebenwirkungen ● psychogen, psychosomatisch ● neurogen ● andere Erkrankungen und Noxen ● hormonell bedingt ● Mischformen
Bei Männern zwischen 25 und 40 dominiert die zeitlich wechselnde Insuffizienz des Sexuallebens durch nachlas-
Ein in der Praxis stereotypisch anzutreffender Hilfesuchender ist der adipöse Hypertoniker unter blutdruck-
Resultate dieses riskanten Lebensstils sind Adipositas, ● Fettstoffwechselstörung mit Auswirkung auf die Herzund Gefäßfunktion, ● Hypertonie, ● Insulinresistenz mit Diabetesrisiko. ●
Präventionstipp für die Praxis. Fast die Hälfte aller Männer, die eine Sexual- oder Präventivsprechstunde mit vermeintlichen Symptomen des partiellen Hormonmangels aufsuchen, hat diesen auch, aber gleichzeitig mit dem Vollbild des metabolischen Syndroms. Hier setzt Prävention an erster Stelle an und reduziert häufig die Notwendigkeit einer Hormonsubstitution. Zu bedenken ist, dass Prävention fast immer mit Forderung nach Verhaltensänderung einhergeht. Bei der Umsetzung ist daher immer essenziell: der Wille des Klienten zum Umdenken!
Risiken für hormonunabhängige Potenzstörungen (ED)
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Wenn Männer in die Jahre kommen: Prävention des Aging-Male-Syndroms
senkender Medikation. Weitere Diagnostik demaskiert dann die Fettstoffwechselstörung und die beginnende KHK und leitet nahtlos zum metabolischen Syndrom als Kernrisiko über.
14.4.3 Prävention des Aging-Male-Syndroms Die oben geschilderten Beschwerden auf Basis des LOH oder der organisch verursachten ED lassen sich nur durchgreifend und langfristig durch eine ganzheitliche Strategie verhindern und günstig beeinflussen. Komplexen Herangehensweisen stehen Männer erfahrungsgemäß zunächst immer kritisch gegenüber, was das Vorgehen erschwert. Denn reparaturverwurzelte Männer erfragen zunächst Medikamente in Form von Tabletten oder Injektionen, bevor die Änderung eines riskanten Lebensstils akzeptiert wird.
Spezielle Prävention der Symptome durch Hormonsubstitution Die Substitution von männlichen Hormonen setzt (wie auch bei Frauen) voraus, dass ein nachgewiesenes Hormondefizit im Blut zusammen mit den o. g. typischen Symptomen gegeben ist [3]. Jegliche Hormonbehandlung bedarf daher zuvor einer verantwortungsbewussten Abklärung durch einen andrologisch tätigen Facharzt. Substitution heißt, dass ein Mangel ausgeglichen wird. Hieraus ergibt sich die regelmäßige Hormonkontrolle des Androgenspiegels im physiologischen Bereich (s. a. Kap. 16). Als am häufigsten angewandten Applikationsformen für Testosteron stehen ● Testosteroninjektionen (als Monats- oder 3-Monatsdepot), ● Testosteron-Hautpflaster sowie ● Testosterongel zur transkutanen Anwendung zur Verfügung.
Allgemeine Prävention durch Lifestyleänderung Faktum: Die männliche, biertrinkende, rauchende, fettleibige „Couch Potatoe“ am abendlichen Fernseher verstoffwechselt im viszeralen Fettgewebe das zirkulierende Testosteron durch die überaktive Aromatase eher zu in diesem Fall schädlichem Östradiol, als dass ihn sein verbleibendes Resttestosteron zu sexueller Höchstleistung antörnt. In Ergänzung, besser noch vor der Therapie eines nachgewiesenen Hormonmangels, sollten Schritt für Schritt andere gesundheitsfördernde Maßnahmen und präventive Interventionen ins Auge gefasst werden. Hierzu gehören: ● Ernährungsumstellung mit Gewichtsregulierung, ● Einschränkung des Alkoholkonsums (Genussniveau!), ● Aufgeben des Rauchens, ● Verbesserung der Körperfitness durch Bewegung und Trainingsprogramm, ● konsequente Kontrolle von Risikofaktoren wie Fettund Zuckerstoffwechsel und Bluthochdruck, ● Stresskontrolle sowie ● Verbesserung der „sozialen Fitness“ (Ehe, Freunde, Kollegen). Es ist wenig erfolgversprechend und daher meist sinnlos, betroffene Männer mit einer Liste von Verhaltensmaßregelungen zu konfrontieren, mit dem Hinweis, hiermit zunächst in quasi Eigenvorlage zu treten. Vielmehr sollte bei nachgewiesenem Testosteronmangel eine parallele Therapie verfolgt werden, da nur so der Betroffene in seinem Präventionsbestreben gehalten werden kann.
Hormonpräparate sind Medikamente von großem Nutzen, aber auch mit potenziell empfindlichen Nebenwirkungen und Komplikationsmöglichkeiten. Es handelt sich nicht um Lifestyle-Supplemente. Daher ist eine Beschaffung solcher Therapeutika durch Dritte, über den Versandhandel im Internet oder über andere Kanäle nicht vertretbar.
Behandlung der ED durch PDE5-Inhibitoren Drei PDE5- (Phosphodiesterase-5-) Inhibitoren sind derzeit am Markt erhältlich und mittlerweile vielmillionenfach eingesetzt: Cialis (Tadalafil), Levitra (Vardenafil) und das als Erstes verfügbar gewesene Viagra (Sildenafil). Diese oral eingenommenen Substanzen setzen nach sexueller Stimulation über komplexe Mechanismen an der Schwellkörpermuskulatur (Zunahme der intrazellulären cGMP-Konzentration; cGMP = zyklisches Guanosinmonophosphat) eine der natürlichen Erektion identische Kontumeszenz und Rigidität des Penis in Gang, was als lustbetonte Erektion über längere Zeit gehalten werden kann. Bei sachgemäßer Einnahme und sorgfältiger Würdigung von Risiken durch den Arzt sind Unverträglichkeiten gering. Die genannten Mittel dürfen nicht als Lebensstildrogen aufgefasst werden. Es handelt sich um Arzneimittel im strengen Sinne.
Kasuistik Aging-Male-Syndrom Der 61-jährige Personalchef einer Reederei hat vor 8 Monaten seine Frau an einer längeren Krebserkrankung verloren. Die hieraus erwachsene seelische Belastung, der berufliche Stress sowie die medikamentöse Therapie bei Bluthochdruck haben den Hausarzt dazu veranlasst, die sexuelle Potenzstörung anlässlich des Kennenlernens
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Präventive Männermedizin: Prostatakrebs und Aging-Male-Syndrom
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einer neuen Partnerin als vaskulär und psychogen einzustufen und entsprechend zu therapieren. Erst zusätzliche depressive Verstimmung, Schlafstörungen, vermehrtes Schwitzen, Leistungsknick und Libidoverlust führten den Betroffenen zu einem Urologen. Die andrologische Diagnostik mit zweimaliger Bestimmung des morgendlichen Serum-Testosterons deckte bei Werten von 2,1 bzw. 2,9 mg/dl Testosteron zusätzlich ein partielles Androgenmangelsyndrom auf. Die Substitution mit zunächst täglicher Testosteron-Hautgel-Applikation, nach einigen Wochen Umsetzen auf ein Testosteron-Dreimonatsdepot führte zur Symptomlinderung innerhalb weniger Wochen, wobei Testosteronwerte zwischen 4,2 und 5,0 ng/dl erreicht wurden. Durch ein Trainingsprogramm konnte das Körpergewicht innerhalb eines halben Jahres um 6 kg reduziert, der Blutdruck gesenkt, Antihypertensivum eingespart und eine zufriedenstellende sexuelle Potenz wieder erreicht werden.
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14.5 Schlusswort Einerseits hat der Lebensstil einen erwiesenen Einfluss auf das Körperbewusstsein, den sozialen Erfolg und die sexuelle Attraktivität. Andererseits werden in unserer Gesellschaft Lebensqualität, ja Lebensgenuss zu Leitbildern für Gesundheit, Fitness und erfolgreiches Älterwerden. Männer möchten hieran besonders teilhaben. Prävention muss vordringlich den Mann in den Fokus rücken, da hier die größten Defizite zu überwinden und so Erfolge zu erwarten sind. Gesundheitsaufklärung und Prävention bewirken eine Verkürzung der Krankheitsphase des Lebens (Morbiditätskompression) und verbessern somit die Lebensqualität.
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Die genetische Grundlage der atopischen Trias
15 Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter D. Abeck
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Das Wichtigste in Kürze Allergische Erkrankungen sind häufige Krankheitsbilder, die sich v. a. in den ersten 10 Lebensjahren manifestieren. Das Allergierisiko eines Neugeborenen ist v. a. von der Atopiebelastung der Familie abhängig. Eine genetische Vorbelastung ist jedoch im Einzelfall keine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer allergischen Erkrankung. Passive und aktive Nikotinexposition sind belegte Provokationsfaktoren für das atopische Ekzem und das Asthma. Konsequentes Stillen in den ersten 4 – 6 Lebensmonaten ist bei Risikokindern ein belegter Schutzfaktor für das spätere Auftreten eines atopischen Ekzems und allergischen Asthmas. Bei erhöhtem genetischen Risiko senkt eine Hausstaubmilbenreduktion das Risiko für die Entwicklung eines atopischen Ekzems, Asthma- oder anderer atopischer Erkrankungen. Die spezifische Immuntherapie (SIT) ist die derzeit einzige kausale Möglichkeit, den Etagenwechsel von der Rhinoconjunctivitis allergica zum Asthma zu verhindern.
15.1 Allergien und Atopie Nahrungsmittelallergien, atopisches Ekzem, Asthma und allergische Rhinokonjunktivitis sind die für das Säuglings- und Kindesalter wichtigen Erkrankungen, bei denen allergische Realisations- oder Provokationsfaktoren bedeutend sind. Die genannten Krankheiten werden auch als atopische Erkrankungen zusammengefasst, wobei Atopie die bestehende Bereitschaft des Immunsystems, auf exogenen Allergenkontakt mit einer überschießenden IgE-Produktion zu reagieren, bezeichnet. Tab. 15.1 nennt den prozentualen Anteil der IgE-vermittelten Erkrankungsfälle.
15.2 Epidemiologie der atopischen Erkrankungen Für alle vier atopischen Erkrankungen gilt, dass sie in den letzten Jahrzehnten, welt- wie auch deutschlandweit, an
Tabelle 15.1 Allergieprävalenz bei Kindern mit atopischen Erkrankungen. Art der atopischen Erkrankung
gesichert IgE-vermittelt (%)
Nahrungsmittelallergie atopisches Ekzem Asthma bzw. wiederholtes Giemen < 5 Jahre Asthma > 5 Jahre
40 – 60 20 – 70 30 – 50 60 – 90
Häufigkeit deutlich zugenommen haben. Ihre Häufigkeit liegt in Deutschland jeweils bei ca. 10 %. Umweltfaktoren kommt als Auslöser eine entscheidende Bedeutung zu. Dies verdeutlichen auch vergleichende epidemiologische Untersuchungen zur Entwicklung allergischer Erkrankungen aus den alten und neuen Bundesländern: Gab es unmittelbar nach der Wende noch signifikante Unterschiede zwischen Ost und West, wobei Kinder aus den industriellen Ballungsgebieten Ostdeutschlands seltener an allergischen Erkrankungen litten, im Vergleich zu ihren Altersgenossen aus vermeintlich weniger schadstoffbelasteten Gebieten in München oder Düsseldorf, finden sich diese Unterschiede heute nicht mehr.
15.3 Die genetische Grundlage der atopischen Trias Atopisches Ekzem, allergisches Asthma und allergische Rhinokonjunktivitis bilden die klassische Trias der atopischen Erkrankungen. Alle 3 Krankheitsbilder manifestieren sich erstmals überwiegend im Säuglings- und Kindesalter. Den Erkrankungen liegt ein polygener Vererbungsmechanismus zugrunde [1]: Geringfügige Veränderungen vieler Gene beeinflussen hierbei die Krankheitsentstehung, ohne dass einzelnen Genen ein überproportionaler Anteil an der Krankheitsentstehung zufällt. Für alle 3 Erkrankungen wie auch der den Erkrankungen zugrunde liegenden atopischen Grunddisposition, d. h. die bei den atopischen Erkrankungen bestehende Bereitschaft des Immunsystems, auf exogenen Allergenkontakt mit einer überschießenden IgE-Produktion zu reagieren, sind heute Kandidatengene bekannt. Hierbei handelt es sich um Gene, in denen mithilfe von Kopplungsstudien Verände-
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Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter
rungen identifiziert werden konnten, die möglicherweise für die Entstehung der Erkrankungen bedeutsam sind. Jedoch spielen Umwelteinflüsse bei der Expression der atopischen Erkrankungen eine entscheidende Rolle und unterstreichen ihre multifaktorielle Determinierung.
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15.4 Pathophysiologie der allergischen Erkrankungen Die Pathophysiologie der allergischen IgE-vermittelten Reaktionen ist heute sehr gut untersucht und umfasst eine asymptomatische Sensibilisierungsphase neben den dann auch klinisch relevanten allergenausgelösten Akutsymptomen. Auf diese kann dann insb. bei nichtadäquater Therapie eine Phase der unspezifischen Hyperreaktivität folgen [2]. In der Sensibilisierungsphase spielen Langerhans-Zellen für die Allergenaufnahme und -verarbeitung eine wichtige Rolle. In den Lymphknoten erfolgt das „Priming“ der für die Atopie charakteristischen TH2-Zellen, deren Zytokinprofil durch eine hohe IL-4-, IL-5- und IL-13-Sekretion gekennzeichnet ist und die für das Reifen von B-Zellen zu IgE-produzierenden Plasmazellen verantwortlich zeichnen. Bei jetzt erneutem Allergenkontakt wird spezifisches IgE auf Mastzellen vernetzt, was die Freisetzung einer Kaskade von Mediatoren mit inflammatorischer, vasodilatatorischer und gewebedestruierender Wirkung bedingt und für die klinischen Symptome der einzelnen allergischen Erkrankungen verantwortlich ist. Das geschädigte Epithel ist im weiteren Verlauf für unspezifische Reize wie Kälte oder Ozon empfindlich, die unspezifisch die Erkrankungssymptomatik unterhalten können.
15.5 Atopisches Ekzem 15.5.1 Diagnostik Wichtige anamnestische Angaben und klinische Symptome Die Diagnosestellung erfolgt klinisch [3]. Entzündliche Hautveränderungen in Form von Erythemen, Papeln, Papulovesikeln sowie fein lamellär schuppenden, nässenden oder exkoriierten Erythemen kennzeichnen das klinische Bild, das altersabhängige Unterschiede hinsichtlich Verteilungsmuster und klinischer Ausprägung aufweist. Im Säuglingsalter sind v. a. das Gesicht (vorwiegend die Wangen) und der behaarte Kopf betroffen. Kommt es zur Dissemination des Ekzems, sind häufig auch die Streckseiten der Extremitäten betroffen. Ab dem 2. Lebensjahr entwickeln die Kinder zunehmend die typischen Beugenekzeme mit Befall vorwie-
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gend der großen Körperbeugen (Ellenbeugen, Kniekehlen). Ab diesem Alter zeigen die Läsionen auch bei chronischen Verläufen eine deutliche Lichenifikation. Neben dem klinischen Bild ist der Juckreiz für die Diagnose wichtig. Trockene Haut und ein evtl. bestehendes Asthma oder Heuschnupfen sind weitere klinisch und anamnestisch relevante Angaben.
Apparative Verfahren Einen krankheitsspezifischen Laborparameter gibt es nicht. Ein stark erhöhtes Gesamt-IgE (> 1000 IU/ml) korreliert jedoch gut mit der Schwere des Ekzems. Mittels Prick-Test oder RAST (Radio-Allergo-Sorbent-Test) können Sensibilisierungen nachgewiesen werden, die dann hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz weiter abgeklärt werden müssen.
15.5.2 Behandlung des atopischen Ekzems Eine stadiengerechte Therapie und die Provokationsfaktorenerkennung und -meidung sind bis heute die wirksamsten Bausteine im Management des atopischen Ekzems.
Basistherapie als entscheidender Baustein einer erfolgreichen Behandlung Die Basistherapie ist der entscheidende Grundstein jeder Behandlung und dient der Wiederherstellung der natürlichen Hautbarriere. Auch für klinisch unbefallene Haut ist eine Barrieredysfunktion typisch, die durch einen erhöhten transepidermalen Wasserverlust gekennzeichnet ist. Eine gestörte Hautbarriere erleichtert auch das Eindringen von Allergenen in die Haut mit nachfolgender Sensibilisierung. Die Basistherapie wird auch dann durchgeführt, wenn die Ekzeme bereits abgeheilt sind und erfüllt somit auch wichtige Präventivaufgaben. Geeignet sind insb. W/Ö-(Wasser-in-Öl-)Emulsionssysteme. Harnstoff wird gerne wegen seiner keratolytischen Eigenschaften sowie der Fähigkeit, Wasser im Stratum corneum zu binden, den Basistherapeutika zugesetzt. Vorsicht ist jedoch beim Einsatz von Harnstoff im Kindesalter geboten: Wegen der kurzfristigen Reizung der Haut nach dem Auftragen mit subjektivem Brennen (sog. „Stinging“-Effekt) sollten harnstoffhaltige Externa bei Kindern unter 5 Jahren vermieden werden. Glycerin ist eine ideale Alternative und kann in Konzentrationen zwischen 5 und 10 % eingesetzt wird.
Atopisches Ekzem
Antientzündliche Behandlung des atopischen Ekzems Topische Glukokortikoide: Substanzklasse der 1. Wahl Topische Steroide sind bis heute die Substanzen der ersten Wahl zur antientzündlichen Behandlung. Der therapeutische Index (TIX) ist ein im Rahmen einer Konsensusfindung ermittelter Wert, der die Ratio zwischen objektiv erfassten, erwünschten Wirkungen und unerwünschten Wirkungen angibt und liegt für die am häufigsten (Verkaufseinheiten) angewandten topischen Glukokortikoide vor [LL 5]. Unter den sog. „Soft-Steroiden“ weisen hierbei insb. Prednicarbat und Methylprednisolon(aceponat) die höchsten TIX auf und sollten deshalb, v. a. bei Kindern, zur antientzündlichen Behandlung bevorzugt eingesetzt werden. Ebenfalls über ein sehr gutes Wirkungs-Nebenwirkungs-Verhältnis verfügt Momethason.
Stellenwert der topischen Calcineurininhibitoren Seit 2002 stehen in Deutschland die topischen Calcineurininhibitoren (TCI) Pimecrolimus (Elidel Creme) und Tacrolimus (Protopic Salbe) bislang ausschließlich zur Behandlung des atopischen Ekzems ab dem vollendeten 2. Lebensjahr zur Verfügung. Somit ist jedoch für über 80 % aller betroffenen Kinder der Einsatz dieser Substanzen bei Erkrankungsbeginn rechtlich nicht zugelassen, und für viele betroffene Kinder besteht aufgrund einer bis zu diesem Zeitpunkt bereits eingetretenen Abheilung auch kein Bedarf mehr. Der große Vorteil der auch als topische Immunmodulatoren (TIM) bezeichneten Substanzen ist die fehlende atrophogene Potenz, da sie nicht mit den Fibroblasten interagieren. Somit stellen sie eine therapeutische Alternative insb. im Bereich von den Hautarealen dar, in denen Steroide nur sehr kurzfristig eingesetzt werden sollten: Gesicht, Intertrigines (Körperfalten), Genitalbereich. Tacrolimus ist hinsichtlich der Wirkstärke Pimecrolimus überlegen. Im Vergleich zu den topischen Steroiden ist auch das Irritationspotenzial von Pimecrolimus und Tacrolimus signifikant höher. Dies gilt speziell für die Tacrolimus-Salbenformulierung. Obwohl die derzeitige Situation keine Hinweise für eine potenzielle kanzerogene Wirkung der TIM zeigt, kann insbesondere aufgrund tierexperimenteller Daten ein erhöhtes Krebsrisiko bei langfristigem Einsatz von TIM bis heute nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, was v. a. für die Substanz Tacrolimus gilt.
Antibakterielle Maßnahmen In den letzten Jahren konnte die Bedeutung von Staphylococcus aureus (S. aureus) sowohl als Verursacher einer bekannten Komplikation des atopischen Ekzems als auch als Stimulus für die Initiierung und Unterhaltung entzündlicher Hautreaktionen aufgezeigt werden. Gegen S. aureus gerichtete Therapiemaßnahmen umfassen den Einsatz von Antiseptika, v. a. Triclosan und Chlorhexidin oder auch sog. intelligenter Textilien, die als Unterwäsche über eine antimikrobielle Beschichtung verfügen.
Kasuistik Im Oktober stellt sich der 6-jährige Thomas mit seinen Eltern erstmals in der Praxis vor. Eigenanamnese. Im Alter von 5 Monaten wurde ein atopisches Ekzem diagnostiziert. Die allergologische Abklärung ergab damals eine relevante Milcheiweißallergie. Unter strikter Karenz und phasengerechter Behandlung bis zum Alter von 2 Jahren zeigte sich eine deutliche Besserung der Hautveränderungen. Jetzt immer mal wieder gelegentliches Auftreten von Ekzemen im Bereich der großen Beugen, v. a. in den Wintermonaten. Im letzten Jahr traten erstmals im Juni und Juli gehäuft Niesanfälle und verstärkte wässrige Sekretion von Nasensekret auf, dieses Jahr gleichartige Beschwerden, jedoch zusätzlich auch immer wieder heftige Juckreizattacken im Augenbereich. Die Mutter gibt an, dass Thomas „ständig gerötete Augen“ habe. Familienanamnese. Weder bei der 8-jährigen Schwester noch bei der Mutter liegen atopische Erkrankungen vor. Der Vater litt für einige Jahre an Heuschnupfen, ist derzeit jedoch beschwerdefrei. Dermatologische Untersuchung. Bei der körperlichen Untersuchung finden sich im Bereich der Gelenkbeugen leichte Beugenekzeme bei einer insgesamt trockenen Haut. Diagnostische Maßnahmen. Prick-Testung mit saisonalen und ganzjährigen Allergenen: positive Reaktionen gegenüber Gräsern. Ansonsten keine weiteren positiven Reaktionen, insb. auch nicht gegenüber den Milben Dermatophagoides farinae und pteronyssinus. Diagnosen. 1. disseminiertes atopisches Ekzem ohne Hinweis für ekzemrelevante allergische Provokationsfaktoren, 2. Rhinoconjunctivitis allergica saisonalis mit Auslösung durch Gräserpollen Therapie. ad 1: Verordnung eines Klasse-II-Steroids, Besprechung und Empfehlung von hautpflegerischen Maßnahmen, Nennung relevanter irritativer Provokationsfaktoren, ad 2: Einleitung einer SIT gegenüber Gräserpollen zur Behandlung des Heuschnupfens und Vermeidung einer Asthmaentstehung
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Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter
15.5.3 Provokationsfakoren
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Der Aufdeckung und Vermeidung von Provokationsfaktoren kommt eine entscheidende Bedeutung zu, wobei allgemein gültige irritative, z. B. Textilien oder Schwitzen, von individuell gültigen allergischen Faktoren, z. B. Nahrungsmittel, Hausstaubmilben, unterschieden werden (Abb. 15.1). In einer walisischen Untersuchung zur Bedeutung von Provokationsfaktoren des atopischen Ekzems wurden Schwitzen (im Rahmen körperlicher Anstrengung), Kleidung (v. a. Wolle) sowie heißes Wetter mit 41,8 %, 40 % und 39,1 % als die drei am häufigsten genannten Verschlechterungsfaktoren genannt.
der Einsekundenkapazität (FEV1) von ≥ 12 % (oder ≥ 200 ml) nach Gabe eines Bronchodilatators, wodurch die für das Asthma typische Reversibilität der Flusslimitierung (Atemwegsobstruktion) gezeigt ist. Die Testung der bronchialen Hyperreagibilität mit z. B. Metacholin oder Histamin kann im Rahmen der Diagnosestellung dann von Bedeutung sein, wenn die vorliegenden Symptome für ein Asthma sprechen, die Lungenfunktion jedoch unauffällig ist.
15.6.2 Behandlung des allergischen Asthmas Medikamentöse Behandlung
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15.6 Asthma 15.6.1 Diagnostik Wichtige anamnestische Angaben und klinische Symptome Anamnestisch verdächtig auf das Vorliegen von Asthma sind ● Husten, verstärkt besonders während der Nacht, ● rezidivierendes Giemen („wheezing“), das v. a. bei Kindern beobachtet wird und als hochfrequentes pfeifendes Geräusch bei der Ausatmung imponiert, ● rezidivierende erschwerte Atmung sowie ● rezidivierendes thorakales Engegefühl.
Apparative Verfahren Die Spirometrie gilt heute als das Verfahren der Wahl, um durch den Nachweis der Flusslimitierung und deren Reversibilität die Asthmadiagnose zu sichern. Charakteristisch für das Vorliegen eines Asthmas ist die Zunahme
Nahrungsmittel
Aeroallergene
mikrobielle Faktoren
Pseudoallergene
hormonelle Faktoren
Irritanzien
psychosomatische Faktoren
Schadstoffe
Abb. 15.1 Provokationsfaktoren der Neurodermitis.
162
Die verwendeten Asthmamedikamente richten sich nach dem Ausmaß der Erkrankung, bei der heute 4 Stufen unterschieden werden. Lediglich für Stufe 1, definiert als gelegentlich auftretendes (intermittierendes) Asthma, in einer Häufigkeit von nicht mehr als einmal pro Woche Atemnot und nächtliche Atemnot nicht öfter als 2-mal im Monat, ist keine Dauermedikation erforderlich. Hier ist die Bedarfsmedikation mit einem kurzwirksamen Beta2-Sympathikomimetikum Therapie der Wahl. Eine Dauermedikation ist hingegen für Stufe 2 (leicht anhaltendes [persistierendes] Asthma), Stufe 3 (mittelschwer anhaltendes Asthma) und Stufe 4 (schweres anhaltendes Asthma) erforderlich, wobei Patienten innerhalb der Stufen auf- und absteigen können. Die medikamentöse Therapie fußt auf der Kombination von antientzündlichen (inhalatives Kortikoid) und bronchodilatatorisch (langwirksame Beta-2-Sympathomimetika) wirkenden Pharmaka, die individuell oder in fester Kombination verabreicht werden. Für die Stufe 3 stehen optional Theophyllin als Retardtablette oder Antileukotriene (Montelukast) zur Verfügung, für Stufe 4 neben Theophyllin auch orale Kortikoide.
Unterstützende Maßnahmen Regelmäßiger Sport, eine Normalisierung des Körpergewichts, Atem- und Physiotherapie sowie eine gute Patientenschulung sind die medikamentöse Behandlung unterstützende wichtige Maßnahmen. Hierzu zählen auch Konzentrations- und Entspannungsübungen wie z. B. autogenes Training.
Allergische Rhinokonjunktivitis
15.7 Allergische Rhinokonjunktivitis 15.7.1 Diagnostik
Symptomen der allergischen Rhinokonjunktivitis. Diese Untersuchungsmethode kommt v. a. zum Einsatz, wenn der Hauttest z. B. wegen Einnahme interferierender Pharmaka nicht möglich ist oder bei Säuglingen und Kleinkindern.
Wichtige anamnestische Angaben und klinische Symptome Nasaler und konjunktivaler Provokationstest Typische Heuschnupfensymptome sind die durch die angeschwollenen Schleimhäute verstopfte Nase und dort ein starker Juckreiz. Letzterer besteht bei Augensymptomen auch dort, wobei nicht selten auch über Augenbrennen und eine ausgeprägte Lichtempfindlichkeit geklagt wird. An Allgemeinsymptomen können Abgeschlagenheit, schnelle Ermüdung sowie ein Krankheitsgefühl auftreten. Typischerweise verschlechtern sich die Beschwerden während der Pollenflugzeit tagsüber, wohingegen schlechtes Wetter und v. a. längere Regenphasen mit einer Beschwerdebesserung korrelieren. Symptomatisch zeigen sich im Nasenbereich eine verstärkte Sekretion (Fließschnupfen) sowie im Augenbereich gerötete Augen mit einer massiven konjunktivalen Injektion. Auch eine Schwellung im Lidbereich ist möglich.
Testverfahren Hauttestungen Als Goldstandard gilt der Prick-Test, für den für die meisten Allergene standardisierte Lösungen zur Verfügung stehen. Bei der Austestung von Nahrungsmitteln wird auch der Prick-zu-Prick-Test häufig eingesetzt, insb. bei selteneren Nahrungsmitteln. Jedoch ist zu beachten, dass der Hauttest lediglich eine Empfindlichkeit (Sensibilisierung) gegenüber einem Allergen nachweist und hinsichtlich der Relevanz mit den anamnestischen und klinischen Daten abgeglichen werden muss.
In-vitro-Verfahren
Diese Verfahren kommen immer dann zum Einsatz, wenn Widersprüche zwischen Anamnese und spezifischen Nachweisverfahren bestehen. Durch gezielte Provokation an den Erfolgsorganen kann die Relevanz eines Allergens ermittelt werden.
15.7.2 Behandlung der allergischen Rhinokonjunktivitis Medikamentöse Behandlung Für die Behandlung stehen unterschiedliche Substanzgruppen zur Verfügung. Cromome sind weniger wirksam als orale oder topische Antihistaminika und topische Glukokortikoide, im Augenbereich jedoch deutlich wirksamer als im Nasenbereich. Die Wirksamkeit der oralen Gabe von Antihistaminika ist gut dokumentiert. Insbesondere die neueren Substanzen wie Desloratadin, Levocetirizin und Fexofenadin verfügen neben der direkten antihistaminergen Wirkung auch über relevante antientzündliche Effekte. Der Einsatz topischer Antihistaminika, die einen raschen Wirkungseintritt zeigen, ist insb. bei intermittierend auftretenden Beschwerden zu überlegen. Die topischen Steroide gehören neben den oralen Antihistaminika zu den Substanzen der ersten Wahl zur Behandlung allergischer Beschwerden im Nasenbereich. Mometason, Budenosid und Fluticason-17-propionat überzeugen durch eine hohe therapeutische Sicherheit und führen auch in der Langzeitbehandlung nicht zu Atrophien der Nasenschleimhaut. Obwohl die nasale Applikation auch zu einer Verbesserung der konjunktivalen Beschwerden führt, ist die Wirkung auf die Augensymptome schwächer im Vergleich zu oralen Antihistaminika.
Der Nachweis spezifischer IgE-Antikörper in vitro ist neben der Hauttestung ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik, wobei er hinsichtlich Sensitivität und Spezifität dem Prick-Test nicht überlegen ist. Auch besteht keine Korrelation zwischen Höhe des spezifischen IgE und den
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Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter
Leitlinienbox
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LL 1: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAI), in Abstimmung mit der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG): Allergische Rhinoconjunctivitis. JDDG. 2006; 3:264-75. LL 2: Nationale Versorgungsleitlinien. Asthma. Verfügbar unter www.asthma.versorgungsleitlinien.de oder AWMFLeitlinien-Register Nr. nvl-002k. LL 3: Berdel D. Nationale Leitlinie für Asthma bei Kindern. 40. Kongress der Ärztekammer Nordwürttemberg. Stuttgart; 2005. Verfügbar unter: http://www.aerztekammerbw.de/25/15medizin05/B26/5.pdf.
LL 4: Korting HC, Callies R, Reusch M, Schlaeger M, Sterry W (Hrsg.). Dermatologische Qualitätssicherung: Leitlinien und Empfehlungen. 5. Auflage. Berlin: ABW Verlag; 2007. LL 5: Luger T, Loske KD, Elsner P et al. Topische Dermatotherapie mit Glukokortikoiden – Therapeutischer Index. JDDG. 2004; 2: 629-34. (s. a. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 013/034)
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15.8 Maßnahmen zur primären Prävention allergischer Erkrankungen Die empfohlenen Maßnahmen zur Primärprävention (Übersicht s. Tab. 15.2) richten sich v. a. an Familien mit anamnestisch erhöhtem genetischen Risiko. Dieses genetische Risiko ist abhängig von der Atopiebelastung der Familie (Abb. 15.2). Natürlich können zumindest ein Teil der Maßnahmen, sofern sie sich einfach durchführen lassen, auch von Familien ohne erhöhtes Risiko übernommen werden, zumal die größere Anzahl von Allergikern aus der Gruppe der nicht vorbelasteten Familien stammt, wie die Ergebnisse der deutschen Multizentrischen Allergie Studie (MAS) zeigten.
15.8.1 Stillen Muttermilch ist die optimale Ernährung für Säuglinge und wird als ausschließliche Ernährung des Säuglings in den ersten 4 – 6 Monaten empfohlen. Eine Übersichtsarbeit konnte einen protektiven Effekt aufzeigen. Neben dem atopischen Ekzem ist das Stillen auch für das Asthma im Rahmen der Primärprävention gut dokumentiert. Eine Metaanalyse unter Auswertung 12 prospektiver Studien zeigte einen eindeutig positiven Effekt von Stillen auf die Entstehung von Asthma in der Kindheit.
Hydrolysatnahrung zum Stillersatz Während für nicht genetisch vorbelastete Kinder außer der Stillempfehlung keine weiteren Ernährungsmaßnahmen zur Prävention allergischer Erkrankungen indiziert sind, sollten Risikokinder mit hypoallergener Säuglings-
Tabelle 15.2 Primärprävention allergischer Erkrankungen. Nahrungsmittelallergie
atopisches Ekzem
Asthma
Rhinoconjunctivitis allergica
Stillen
+
+
+
+ (bei Risikokindern)
allergiereduzierte mütterliche Diät während der Schwangerschaft
0
0
0
0
allergiereduzierte mütterliche Diät während der Stillzeit
+*
+*
+*
+*
Rauchen
+
+
Gabe von Lactobazillen
?+
0
Hausstaubmilbenreduktion
+*
+*
allergenspezifische Immuntherapie
+
Hundehaltung
?+
0
Katzenhaltung
–
–
+ = positiver Einfluss allgemein belegt; +* = positiver Einfluss belegt für Risikokinder; 0 = keine Beeinflussung; – = negativer Einfluss belegt; ?+ = positiver Effekt fraglich
164
Maßnahmen zur primären Prävention allergischer Erkrankungen
postpartal ist eine rauchfreie Umgebung unbedingt zu gewährleisten.
kein Elternteil allergisch (5 – 15 %) ein Elternteil allergisch (20 – 40 %)
15.8.3 Gabe von Probiotika
ein Geschwisterkind allergisch (25 – 35%) beide Eltern allergisch (40 – 60 %) beide Eltern allergisch mit gleicher Manifestation (60 – 80 %) 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Abb. 15.2 Bedeutung der Genetik für das Auftreten allergischer Erkrankungen.
nahrung ernährt werden. Die Ergebnisse der German Infant Nutrition Intervention Study (GINI-Studie) konnten eindeutige Unterschiede zwischen verschiedenen Hydrolysatnahrungen aufzeigen: Sowohl ein Vollhydrolysat auf Casein-Basis als auch eine partiell hydrolysierte MolkeFormula zeigten nach 3 Jahren eine signifikante Verringerung der Ekzemhäufigkeit ohne Beeinflussung der Asthmahäufigkeit [4].
Weblinks ●
●
www.rund-ums-baby.de: vielfältige Informationen zu allen Fragen allergischer Erkrankungen; Möglichkeit zur direkten Befragung von Experten (Kinderarzt, Hautarzt, Hebamme, Ökotrophologin, etc.) www.allergie-ratgeber.de
Einführung von Beikost Die Ergebnisse der GINI-Studie ergaben kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines atopischen Ekzems im Falle der Einführung von Beikost nach dem 4. Lebensmonat. Ab dem 6. Lebensmonat hat der Verzehr von potenziellen Nahrungsmittelallergenen keinen Einfluss mehr auf das Ekzemrisiko [5].
Klinische Untersuchungen zum Stellenwert des therapeutischen Potenzials von Probiotika resultieren aus dem wachsenden Interesse der therapeutischen Beeinflussung von Vorgängen, die der aktiven Manifestation der ersten atopischen Erkrankung, dem atopischen Ekzem, vorangehen: intestinale Kolonisation und TH1/TH2-Reifung. Eine finnische Arbeitsgruppe konnte erstmals in einer doppelblinden, randomisierten und plazebokontrolliert durchgeführten Untersuchung zeigen, dass die Gabe von Probiotika in Form von Lactobacillus rhamnosus GG (LGGKapseln) bei Schwangeren mit positiver atopischer Familienanamnese während des 3. Trimenons und weitere 6 Monate nach Geburt das Auftreten eines atopischen Ekzems bei ihren Kindern bis zum 2. Lebensjahr signifikant verringern konnte, wobei dieser Effekt auch noch nach 4 Jahren nachweisbar war [6]. Eine Metaanalyse, der insgesamt 6 Präventionsstudien zugrunde lagen, stimmte mit der Aussage der finnischen Arbeitsgruppe überein [7]. Demgegenüber lassen die bisher publizierten Daten eine Empfehlung zum Einsatz von Probiotika zur Therapie des atopischen Ekzems nicht zu [7, 8].
15.8.4 Hausstaubmilbenreduzierende Maßnahmen Die Ergebnisse der 2007 erschienen Isle-of-White-Präventionsstudie zeigten für Risikokinder, dass durch akarazide Behandlung der Teppiche und Möbel im Kinderzimmer und der Verwendung von für Hausstaubmilben undurchlässigen polyvinylhaltigen Überzügen für die kindliche Matratze ein signifikanter präventiver Effekt für Asthma und atopisches Ekzem in den ersten 8 Lebensjahren erreicht werden konnte [9]. Dies galt auch für Nahrungsmittelallergien und allergische Rhinitis.
15.8.5 Allergenspezifische Immuntherapie 15.8.2 Vermeidung von Aktiv- und Passivrauchen Für Tabakrauch wird eine Adjuvanswirkung beim Sensibilisierungsprozess angenommen. In einer multivarianten Analyse anhand von Daten zu 421 Kindern und deren Müttern konnte gezeigt werden, dass das Rauchen in der Schwangerschaft und Stillzeit die Rate von Atopiemanifestationen signifikant (52,2 % vs. 35,7 %) erhöht. Überdies ist Rauchen während der Schwangerschaft ein eindeutiger Risikofaktor für eine verringerte Lungenfunktion und ein erhöhtes Asthmarisiko des Kindes. Auch
Die spezifische Immuntherapie (SIT; Hyposensibilisierung) ist neben der Allergenkarenz die einzige kausale Therapie allergischer Erkrankungen. Ihr Einsatz sollte möglichst früh im Krankheitsverlauf erfolgen. Die präventive Wirkung auf die Vermeidung von Neusensibilisierungen und die Entwicklung eines allergischen Asthmas ist gut dokumentiert [10]. Saisonale und ganzjährige Allergene eigen sich für die SIT, die derzeit etwa ab dem 5. Lebensjahr durchgeführt wird. Neben der subkutanen Applikation der Allergene, die als die Standardtherapie anzusehen ist, steht seit einigen Jahren auch die Möglichkeit der sublingualen Applikation (SLIT) zur Verfügung.
165
15
Vorsorge atopischer Erkrankungen im Kindesalter
I
II III
Hier stellt bei Kindern jedoch die Compliance häufig ein großes Problem dar (tägliche Applikation!), und im Vergleich zur subkutanen Applikation fehlen Langzeitstudien.
●
15.8.6 Haustierhaltung
Bei unserem 6 Monate alten Kind wurde ein atopisches Ekzem diagnostiziert. Sind Besuche bei der Großmutter, die eine Katze hält, möglich? ● Ja, wenn keine Allergie gegenüber Katzenepithelien besteht. Hinweise hierfür wären eine deutliche Verschlechterung des Ekzems nach einem Besuch bei der Großmutter. In diesem Fall macht eine allergologische Abklärung Sinn.
Ein negativer Effekt der Haustierhaltung auf die Entwicklung von atopischem Ekzem oder Asthma konnte nicht gezeigt werden. Daten aus der GINI-Studie zeigen im Alter von 6 Jahren bei den Kindern mit Hunden im Haushalt eine signifikante Verringerung der Pollensensibilisierung [11]. Insbesondere für Risikokinder sprechen aktuelle Daten für einen protektiven Effekt, wenn Katzen nicht als Haustiere gehalten werden. Dies gilt auch für felltragende Nagetiere [12].
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V VI VII
Häufige Patientenfragen
Spielt die zunehmende Umweltbelastung die entscheidende Rolle für die hohe Zunahme der allergischen Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten? ● Dies ist sicherlich nicht der Fall, da in weltweiten Studien keine Korrelation zwischen der Häufigkeit allergischer Erkrankungen und der Belastung mit Schadstoffen nachgewiesen werden konnte. Sollen Kinder mit allergischen Erkrankungen trotzdem geimpft werden? ● Die STIKO (Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts) empfiehlt auch für Kinder mit bestehenden allergischen Erkrankungen die Durchführung aller Impfmaßnahmen. Kann man eine spezifische Immuntherapie auch bei einer kombinierten allergischen Rhinitis gegen Baumpollen und Hausstaubmilben durchführen? ● Auch dies ist bei nachgewiesener Relevanz möglich, wobei die Allergene nicht gemischt werden, sondern für beide Allergengruppen jeweils eigene Zubereitungen verwendet werden. Diese werden jedoch am selben Tag verabreicht. Darf man bei Einnahme von Antihistaminika am Straßenverkehr teilnehmen? ● Ja. Die heute zum Einsatz gelangenden Substanzen haben keine sedierenden Eigenschaften mehr. Sie dürfen sogar von Piloten bei entsprechenden Beschwerden eingenommen werden. Mein Kind leidet an einem leichten atopischen Ekzem. Alle Allergietestungen verliefen negativ. Kann das sein?
166
Allergische Faktoren sind nur für einen Teil der Fälle von atopischem Ekzem relevant, meistens auch nicht ausschließlich. Irritative Provokationsfaktoren wie Schwitzen oder klimatische Einflüsse können immer wieder zu Ekzemschüben führen.
Literatur 1. Wahn U, von Mutius E, Lau S et al. The development of atopic phenotypes: genetic and environmental determinants. Nestle Nutr Workshop Ser Pediatr Program. 2007; 59:1-11. 2. Mamessier E, Botturi K, Vervloet D et al. T regulatory lymphocytes, atopy and asthma: a new concept in three dimensions. Rev Mal Respir. 2002; 22 :305-11. 3. Abeck D. Diagnose und Therapie der Neurodermitis. Der niedergelassene Arzt. 2005; 54: 30-4. 4. von Berg A, Koletzko S, Filipiak-Pittroff B et al. Certain hydrolysated formulas reduce the incidence of atopic dermatitis but not that of asthma: three-years results of the German Infant Nutritional Intervention Study. J Allergy Clin Immunol. 2007;119:718-25. 5. Filipiak B, Zutavern A, Koletzko S et al. Solid food introduction in relation to eczema: results from a four-year prospective birth cohort study. J Pediatr. 2007;151:352-8. 6. Kalliomäki M, Salminen S, Poussa T et al. Probiotics and prevention of atopic disease: 4-year follow-up of a randomized placebo-controlled trial. Lancet. 2003; 361:186971. 7. Lee J, Seto D, Bielory L. Meta analysis of clinical trials of probiotics for prevention and treatment of pediatric atopic dermatitis. J Allergy Clin Immunol. 2008;121:116-21. 8. Taylor AL, Dunstan JA, Prescott SL. Probiotic supplementation for the first 6 months of life fails to reduce risk of atopic dermatitis and increases risk of allergen sensitization in high-risk children: a randomized controlled trial. J Allery Clin immunol. 2007;119;184-91. 9. Arshad SH, Bateman B, Sadeghnejad A et al. Prevention of allergic diseases during childhood by allergen avoidance: The Isle of Wight prevention study. J Allergy Clin Immunol. 2007; 119:307-13. 10. Passalacqua G, Durham SR. Allergic rhinitis and its impact on asthma update: allergen immunotherapy. J Allergy Clin immunol. 2007; 119: 881-9. 11. Chen CM, Verena M, Bischof W et al. Dog ownership and contact during childhood and later allergy development. Eur Respir J. 2008 May;31(5):963-73. 12. Schäfer T. Prävention des atopischen Ekzems. Hautarzt. 2005; 56:232-40.
Präventive Maßnahmen mit Anti-Aging-Wirkung
16 Anti-Aging-Medizin C. M. Bamberger
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Das Wichtigste in Kürze Unter Prävention wird die Vermeidung von Erkrankungen verstanden, Anti-Aging wird definiert als eine den negativen Folgen des normalen Alterungsprozesses entgegenwirkende, auf Erhalt der Lebensqualität ausgerichtete Medizin. Rauchfreiheit, regelmäßige Bewegung und kalorienbewusste, antioxidanzienreiche Ernährung sind nicht nur die wichtigsten Präventiv-, sondern zugleich auch die wirksamsten Anti-Aging-Maßnahmen. Hormone sollten in der Anti-Aging-Medizin nur beim symptomatischen Patienten mit nachgewiesenermaßen erniedrigtem Hormonspiegel und nach Ausschluss von Kontraindikationen verordnet werden.
16.1 Anti-Aging: Versuch einer Definition Um den inflationär verwendeten Begriff „Anti-Aging“ verstehen oder gar definieren zu wollen, bedarf es zuvor einer wissenschaftlich fundierten Definition von „Aging“, also des Alterns. Eine solche Definition liegt nur scheinbar auf der Hand. Mehrere Dutzend einander zum Teil widersprechende Definitionen sind gebräuchlich, wissenschaftlichen Kriterien entsprechen jedoch nur wenige. Die nachfolgende Definition des amerikanischen AntiAging-Mediziners Stephen Coles findet gemeinhin die größte Akzeptanz, da sie spekulative Elemente vermeidet. Sie lautet: „Altern ist ein natürlicher Prozess, der mit einer fortschreitenden Funktionseinschränkung sämtlicher Organsysteme einhergeht, und der mit einer stetig zunehmenden Wahrscheinlichkeit, zu erkranken und zu sterben, verbunden ist.“ Diese Definition enthält zwei zum Verständnis einer seriösen Anti-Aging-Medizin wichtige Elemente: ● Altern wird nicht per se als Krankheit angesehen, sondern als natürlicher Prozess. Dieses festzuhalten ist insofern sinnvoll, als dass der Alterungsprozess ausnahmslos alle Menschen betrifft und somit keine krankhafte Abweichung von der Norm bedeuten kann. ● Es wird zwischen der normalen altersbedingten Funktionseinschränkung auf der einen und echter altersbedingter Morbidität und Mortalität auf der anderen Seite unterschieden. Wie aber unterscheiden sich vor diesem Hintergrund die Begriffe „Anti-Aging“ und „Prävention“? In diesem Kapi-
tel soll immer dann von Anti-Aging die Rede sein, wenn es darum geht, den unerwünschten Erscheinungen des normalen Alterungsprozesses zu begegnen. Es geht also um solche Maßnahmen, die den alternden Menschen jünger aussehen, sich jünger fühlen und hinsichtlich des biologischen Alters jünger sein lassen. Die Verbesserung der Hautqualität ist dieser Definition zufolge beispielsweise keine echte Präventions-, sondern eine AntiAging-Maßnahme. Ähnlich verhält es sich mit Maßnahmen zur Verbesserung der Sexualfunktion. Hier geht es also nicht primär um Krankheitsprävention, sondern um Verbesserung der Lebensqualität im Alter.
16.2 Präventive Maßnahmen mit Anti-Aging-Wirkung Nachdem wir „Prävention“ und „Anti-Aging“ nunmehr begrifflich voneinander getrennt haben, ist doch festzustellen, dass sie sich zu einem erheblichen Teil überlappen. Insbesondere gilt das für präventive Maßnahmen, die – quasi als Nebenprodukt – auch eine Anti-AgingWirkung haben. Auf diese Maßnahmen soll an dieser Stelle eingegangen werden.
16.2.1 Bewegung Die präventive Wirkung regelmäßiger Bewegung ist sehr gut dokumentiert, v. a. was die Risikoreduktion für kardiovaskuläre Erkrankungen durch leichten Ausdauersport angeht. Auch der Benefit hinsichtlich Osteoporosevorbeugung und Sturzprävention sei in diesem Zusammenhang genannt. Auf diese präventiven Effekte wird detailliert in Kapitel 3 und 10 eingegangen. Ein wesentlicher Teil der präventiven Wirkungen regelmäßiger Bewegung beruht auf ihrem Beitrag zur Gewichtsreduktion und -stabilisierung und damit auf der Durchbrechung der zu Atherosklerose und schließlich zu Myokardinfarkt und Apoplex führenden pathogenetischen Kaskade. Der rein kosmetische Effekt der bewegungsinduzierten Gewichts-/Körperfett-Reduktion steht jedoch für viele Menschen im Vordergrund, sodass hier gleichzeitig auch von einer echten Anti-Aging-Maßnahme zu sprechen ist, die der normalen altersbedingten, durch eine schrittweise Reduktion des Grundumsatzes (insgesamt 15 – 20 %!) verursachten Gewichtszunahme entgegenwirkt.
167
16
Anti-Aging-Medizin
I
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Gleiches gilt auch für die muskelaufbauende Wirkung regelmäßigen Krafttrainings. Der normale Alterungsprozess ist durch einen Verlust an Muskelmasse (ca. 2 %/Jahr) durch Abnahme sowohl der Gesamtzahl als auch des Durchmessers der Muskelfasern gekennzeichnet. Durch Training kann die Zahl der Muskelfasern zwar nicht erhalten werden, wohl aber deren Durchmesser. Auf diese Weise kann der altersbedingte Verlust der Muskelmasse um ca. 50 % reduziert werden. Auch andere funktionelle und zur allgemeinen Fitness beitragende Parameter werden durch regelmäßiges körperliches Training in ihrem Abwärtstrend zumindest aufgehalten, ebenfalls zu etwa 50 %. Beispiele sind die Vitalkapazität, maximale Sauerstoffaufnahme, die Koordinationsfähigkeit und die durch standardisierte Fragebögen abgefragte sexuelle Zufriedenheit. Diagnostisch haben sich v. a. die Ergospirometrie als sauberste Methode zur Messung der individuellen Fitness (wichtigster Parameter: maximale Sauerstoffaufnahme) und die Messung der Handkraft als Ausdruck der allgemeinen Muskelkraft bewährt.
16.2.2 Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel Für eine kalorienbewusste Ernährung gilt Ähnliches wie für das unter 16.2.1 für die Bewegung Gesagte. Da es trotz der unterschiedlichsten Diätansätze bei der Gewichtskontrolle nach wie vor nur auf das langfristige Verhältnis von Kalorienzufuhr und -verbrauch ankommt, ist hier auf eine dauerhaft moderate Zufuhr zu achten. Eindrucksvoll sind die Ergebnisse von Experimenten zur kalorischen Restriktion. Es handelt sich hierbei um sehr robuste und vielfach reproduzierte Experimente zur Lebenserwartung von ad libitum gefütterten Mäusen versus solchen mit einer 30 %igen Reduktion der Kalorienzufuhr. Letztere haben durchschnittlich eine um 30 % längere Lebenserwartung. Eine echte Verzögerung des Alterungsprozesses durch kalorische Restriktion ist inzwischen auch bei Primaten nachgewiesen. Die Zwischenergebnisse eines laufenden Experiments an Rhesusaffen weisen daraufhin, dass Altersmarker wie Melatonin und Dehydroepiandrosteron (DHEA) in der Gruppe der kalorisch restriktiv ernährten Tiere langsamer abfallen als in der Kontrollgruppe. Aufgrund dieser Ergebnisse an Primaten ist eine Übertragbarkeit auf die Situation beim Menschen wohl gegeben [1]. Entscheidende Bedeutung für die gesunderhaltende und Anti-Aging-Wirkung der gemeinhin empfohlenen fisch-, ballaststoff-, obst- und gemüsereichen und zugleich fleischarmen Ernährung hat aber nicht nur deren moderater Kaloriengehalt, sondern vor allem auch ihr Gehalt an Antioxidanzien. Diese greifen protektiv in einen der zentralen Mechanismen des Alterungsprozesses ein, nämlich den oxidativen Stress. Hierbei handelt es sich um ständig im aeroben Stoffwechsel anfallende, pro-
168
tein-, membran- und DNA-schädigende freie Sauerstoffradikale. Es scheint jedoch so zu sein, dass durch hohe Dosen einzelner antioxidativ wirkender Substanzen wie Vitamin C oder Vitamin E kein altersverzögernder – und im Übrigen auch kein präventiver – Effekt zu erzielen ist [2]. Studien, in denen die Antioxidanzien in ihrer komplexen natürlichen Form zugeführt wurden, weisen hingegen positivere Ergebnisse auf. So konnte bspw. kürzlich gezeigt werden, dass sich die Hautqualität durch regelmäßige Einnahme eines auf Extraktbasis hergestellten Nahrungsergänzungsmittels signifikant verbessern ließ. Ob vor einer geplanten Ernährungsoptimierung eine über die Bestimmung der Routinelaborparameter hinausgehende Untersuchung des Vitamin- und Antioxidanzienstatus sinnvoll ist, kann derzeit nicht durch Studien belegt werden. Aus einem Routinelaborstatus können bereits Rückschlüsse über die Versorgung z. B. mit Eisen, Vitamin B12, Folsäure und Vitamin B6 gezogen werden. Gegen eine detailliertere Diagnostik in diesem Bereich spricht die Tatsache, dass durch eine ausgewogene Ernährung – ggf. um ein naturnahes Nahrungsergänzungsmittel sowie Kalzium, Vitamin D und Jodid erweitert – ohnehin alle notwendigen Vitamine, Antioxidanzien und Spurenelemente aufgenommen werden.
16.2.3 „Weiser“ Genussmittelkonsum Inhalatives Zigarettenrauchen ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für die Atherosklerose und der entscheidende Risikofaktor für pulmonale Erkrankungen wie die COPD und das Bronchialkarzinom. Die präventive Wirkung des Nikotinverzichts ist daher unstrittig. Ebenso gut dokumentiert ist auch die altersbeschleunigende Wirkung des Tabakkonsums. Sie betrifft alle Organsysteme und äußert sich v. a. in einer signifikant beschleunigten und in den meisten Fällen auch primär sichtbaren Hautalterung, einer um 100 % erhöhten Inzidenz der erektilen Dysfunktion bei Männern, im Durchschnitt 4 – 5 Jahre früher einsetzenden Wechseljahren bei Frauen und einer messbaren Veränderung der allgemeinen Fitness. So lag die durch ergospirometrische Untersuchungen ermittelte maximale Sauerstoffaufnahme bei Rauchern im Mittel ca. 30 % unter der von Nichtrauchern. Nichtrauchen ist mithin eine echte Anti-Aging-Maßnahme. Hinsichtlich eines – moderaten – Alkoholkonsums ist die Studienlage uneinheitlicher. Alkohol selbst beschleunigt zwar als zelluläres Toxin die meisten Alterungsprozesse, hat aber in geringen Dosen (Frauen: 20 g pro Tag = 0,2 l Wein, Männer 40 g pro Tag = 0,4 l Wein) einen günstigen Einfluss auf Blutdruck und Fettstoffwechsel und somit einen präventiven Effekt auf das kardiovaskuläre System. Oberhalb dieser Grenze wird in der allgemein akzeptierten WHO-Leitlinie von einem „riskanten Alkoholkonsum“ gesprochen [LL 1]. Vor diesem Hintergrund wurde auch der Begriff des „French Paradox“ (also das
Hormonsubstitution versus Hormontherapie: Was ist gesichert?
verminderte koronare Risiko bei verstärkt rotweintrinkender Bevölkerung und sonst gleicher epidemiologischer Risiken wie in anderen Ländern) kreiert. Es gibt hingegen keine nachgewiesenen Anti-Aging-Effekte des Alkohols selbst. Dieser könnte jedoch auf in alkoholischen Getränken vorhandenen Zusatzstoffen beruhen. Prominentester Vertreter ist das Resveratrol im Rotwein, welches antioxidative Wirkungen besitzt [3].
16.3 Hormonsubstitution versus Hormontherapie: Was ist gesichert? Eine gegenwärtig diskutierte Alternstheorie ist die Hormontheorie des Alterns, welche besagt, dass bestimmte Hormone mit Anti-Aging-Wirkung im Verlauf des Lebens in ihrer Konzentration stark nachlassen. Die Theorie ist deswegen so populär, weil sie eine einfache Lösung des Problems verspricht, nämlich eine Steigerung der Lebenserwartung und der Lebensqualität durch den simplen Ausgleich eines Hormonmangels. Interessanterweise fallen jedoch nicht alle Hormone im Laufe des Lebens ab, für Kortison und Schilddrüsenhormone gilt das beispielsweise nicht. Die klassischen fünf im Rahmen des Alterungsprozesses abfallenden Hormone sind Östrogene, Testos-
teron, Dehydroepiandrosteron (DHEA), Melatonin und Wachstumshormon (STH). Es ist nach wie vor ungeklärt, ob der Abfall dieser Hormonspiegel mit zunehmendem Alter nicht nur eine Folge – das ist gut belegt –, sondern möglicherweise auch eine Ursache des Alterungsprozesses ist. Dafür mindern sich in letzter Zeit jedoch die Hinweise: Weder für eine lebensverlängernde noch für eine präventive Wirkung der genannten Hormone finden sich verlässliche Belege. Insofern sind Hormone eher als AntiAging-Substanzen zur Verbesserung der Lebensqualität bei gleichzeitig fehlender präventiver Wirkung einzustufen. Bei beiden Geschlechtern erreichen Wachstumshormon, Melatonin, DHEA und sein Sulfat (DHEA-S) ihre maximalen Spiegel in der 3. Lebensdekade, um danach progressiv abzufallen. Bei Männern ist zudem ein stetiger Rückgang der Testosteronproduktion festzustellen, wobei das biologisch wirksame freie Testosteron um ca. 1 % pro Lebensjahr abfällt. Das plötzliche Versiegen der Sexualhormonproduktion, wie es bei postmenopausalen Frauen auftritt, ist bei Männern nicht nachzuweisen. Der vielfach verwendete Terminus „Andropause“ ist daher zumindest ungenau. Unabhängig vom substituierten Hormon sollte man sich immer vergegenwärtigen, dass nicht nur das hormonproduzierende Organ, sondern auch das Zielgewebe gealtert ist und insofern anders auf das zugeführte Hormone reagieren könnte, als das jugendliche Gewebe.
Leitlinienbox LL 1: Edwards G, Arif A, Hodgson R. Nomenclature and classification of drug and alcohol-related problems: A WHO Memorandum. Bulletin of the World Health Organization. 1981; 59: 225-42. LL 2: Konsensusempfehlungen zur Hormontherapie (HT) im Klimakterium und in der Postmenopause. Frauenarzt. 2004; 45: 620 ff.
16.3.1 Östrogentherapie der postmenopausalen Frau Bis Anfang dieses Jahrhunderts noch sprach man bei der zahlenmäßig am stärksten ins Gewicht fallenden und daher stellvertretend für alle anderen Formen der Hormongabe stehenden Östrogenbehandlung postmenopausaler Frauen von einer „Substitutionstherapie“, ein Begriff, welcher den Ausgleich eines pathologischen Hormonmangels suggerierte. Die One-Million-Women-Studie [4] und die WHI-Studie [5] haben jedoch dazu geführt, solche Hormongaben kritischer zu sehen, sodass sich mehr und mehr der Begriff der „Hormontherapie“ durchsetzt. Obgleich das für andere Hormone, wie z. B. Testosteron, noch nicht so im Sprachgebrauch verankert ist, soll in diesem Kapitel grundsätzlich der Begriff Hormontherapie verwendet werden, nicht zuletzt um auch an das notwendige ärztliche Know-how bei der Gabe die-
LL 3: Bhasin S, Cunningham GR, Hayes FJ et al. Testosterone therapy in adult men with androgen deficiency syndromes: an endocrine society clinical practice guideline. J Clin Endocrinol Metab. 2007; 91: 1995-2010.
ser hinsichtlich ihrer Wirkungen ambivalenten Substanzen zu erinnern. Durch die erwähnten großen Studien zur Östrogentherapie der postmenopausalen Frau findet sich heute in Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften ein wesentlich restriktiveres Indikationsspektrum für die Therapie mit Östrogenen in der Postmenopause [LL 2]. Östrogene – bei der nicht hysterektomierten Frau in Kombination mit Gestagenen – sollen demzufolge nicht mehr rein präventiv eingesetzt werden, weder zur kardiovaskulären Prävention, bezüglich derer sie eher einen gegenteiligen Effekt gezeigt haben, noch zur Vorbeugung der postmenopausalen Osteoporose. Die antiosteoporotische Wirkung ist zwar gut belegt, steht aber für die Fachgesellschaften in keinem Verhältnis zum Risiko einer Herzinfarkt-, Apoplex- oder Mammakarzinominduktion. So sollen Östrogene heutzutage nur noch den postmenopausa-
169
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Anti-Aging-Medizin
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len Frauen verordnet werden, die einen erheblichen Leidensdruck aufgrund klimakterischer Beschwerden aufweisen. Hier sind v. a. Hitzewallungen, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen zu nennen. Weiterhin wird gefordert, dass keine Kontraindikationen vorliegen (Mammakarzinom bei der Patientin oder einer nahen Verwandten, Risikokonstellation für kardiovaskuläre Erkrankungen). Schließlich soll eine solche Hormontherapie auch nur vorübergehend erfolgen, realistisch ist hier ein Minimum von zwei Jahren. Die tägliche Praxis stellt Gynäkologen und Endokrinologen dadurch vor erhebliche Herausforderungen. Statt Östrogene nach dem Gießkannenprinzip zu verschreiben, ist heute eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung bei jeder einzelnen Patientin gefragt. Die Messung des Östrogen- sowie des LH- und FSHSpiegels ist im Übrigen nur in der Perimenopause sinnvoll, wenn geklärt werden soll, inwiefern von der Patientin beklagte Beschwerden oder Zyklusunregelmäßigkeiten bereits die bevorstehende Menopause ankündigen. Nach der Menopause sind die Bestätigung des in jedem Fall niedrigen Östrogenspiegels und der in jedem Fall erhöhten Gonadotropinspiegel überflüssig.
VI
16.3.2 Testosteron – eine adäquate Therapie des altersbedingten Androgenmangels
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Der Anteil der formal hypogonadalen Männer im Alter von 60 Jahren beträgt ca. 20 %, im Alter von 70 Jahren sogar 30 %. Es konnte gezeigt werden, dass eine Testosteronsubstitution beim symptomatischen alternden Mann dann sinnvoll ist, wenn die endogenen Spiegel unter die Marke 12 nmol/l gefallen sind ([LL 3], Kap. 14). Beim Mann ist die Messung des Testosteronspiegels also in jedem Fall eine Voraussetzung für die Entscheidung und Einleitung einer Hormontherapie. Für diese stehen neben dem intramuskulären Applikationsweg auch transdermale Systeme in Form eines Pflasters oder seit Kurzem auch eines Gels zur Verfügung. Ein weiterer wesentlicher Fortschritt ist die Einführung der „Dreimonatsspritze“ (Nebido), durch die zugleich seltenere Arztbesuche und konstantere Wirkspiegel erzielt werden können. Durch eine solche Therapie können jugendliche Testosteronwerte erreicht und Sexualität, Knochendichte und Muskelkraft verbessert werden [6]. Die bisher längste plazebokontrollierte Testosteronsubstitutionsstudie erstreckte sich über 3 Jahre. Die langfristigen Effekte einer solchen Therapie sind daher noch nicht sicher abzuschätzen. Eine engmaschige sonografische Kontrolle der Prostata und eine regelmäßige (mindestens halbjährliche) Messung des PSAWerts sind daher unter einer Testosteronsubstitutionstherapie obligat, da davon auszugehen ist, dass vorhandene Prostatakarzinomzellen unter dem Einfluss von Testosteron wachsen, da sie in hohem Maße Androgenrezeptoren exprimieren.
170
Kasuistik Ein 58-jähriger Geschäftsmann, Inhaber eines mittelständischen Unternehmens, stellt sich wegen einer komplexen Symptomatik mit im Vordergrund stehender Abgeschlagenheit, Antriebsarmut, depressiver Verstimmung (von ihm als „Burn-out“ bezeichnet) vor. Ein RoutineCheck-Up beim Internisten (Routinelabor, EKG, Oberbauchsonografie) hatte keinen wegweisenden Befund ergeben. Es wird nunmehr ein umfangreicherer Check-Up einschließlich der Erhebung einer ausführlichen Ernährungsanamnese, eines umfangreichen Labor- und Hormonstatus (TSH, Testosteron, DHEA-S), Körperkompositionsanalyse, ultraschallbasierter Knochendichtemessung, Ergospirometrie, Ultraschall von Schilddrüse und Halsarterien, Herz und des gesamten Abdomens sowie Ganzkörper-MRT durchgeführt. Hierbei finden sich: ● ein unzureichender Obst- und Gemüsekonsum (max. 2 x tägl.) ● ein erhöhter Körperfettanteil in der Körperkompositionsanalyse ● ein erniedriger DHEA-Spiegel bei sonst normalen Laborparametern ● unauffällige Befunde in der bildgebenden Diagnostik Der Patient erhält daraufhin eine ausführliche Ernährungsberatung, in deren Rahmen er angibt, die empfohlenen 5 Portionen Obst und Gemüse täglich nicht erreichen zu können. Ihm wird daraufhin ein naturnahes, auf Extraktbasis hergestelltes Nahrungsergänzungsmittel zum täglichen Konsum empfohlen. Weiterhin erfolgt eine Ernährungsberatung auf der Basis der detaillierten Ernährungsanamnese. Auf der Basis der Ergospirometriedaten erfolgt in Kooperation mit einem Sportmediziner ein Personal Training, in diesem Fall auf Wunsch des Patienten Nordic Walking. Da keine Kontraindikationen für eine DHEA-Gabe, insbesondere kein Anhalt für ein Prostatakarzinom (normaler PSA-Wert, morphologisch unauffällige Prostata in der Sonografie und in der MRT), bestehen, wird ein Therapieversuch mit DHEA 25 mg tägl. eingeleitet (Privatrezept mit dem Hinweis, dass dieses Medikament von der Hausapotheke über die internationale Apotheke zu bestellen ist). Es wird ein Wiedervorstellungstermin in 3 Monaten zur Therapiekontrolle vereinbart. Bezüglich anderer Ängste, z. B. einer Tumorangst, kann der Patient auf der Basis der umfangreichen Diagnostik beruhigt werden.
16.3.3 DHEA: Nur ein Prohormon oder Wunderwaffe gegen das Altern? DHEA und DHEA-S werden in der Zona reticularis der Nebennierenrinde produziert. DHEA-S ist das mit Abstand höchstkonzentrierte Steroidhormon im menschlichen Plasma. Junge Frauen mit Nebenniereninsuffizienz, die sich u. a. durch einen schweren DHEA-Mangel aus-
Hormonsubstitution versus Hormontherapie: Was ist gesichert?
zeichnet, profitieren eindeutig von einer DHEA-Substitution. Beim alternden Menschen ist dieses nicht so eindeutig der Fall. Die größte Studie auf diesem Gebiet, die französische DHEAge-Studie, untersuchte den Effekt von DHEA vs. Plazebo über ein Jahr bei 140 Frauen und 140 Männern [7]. DHEA verbesserte in dieser Studie signifikant die Hautqualität, die sexuelle Zufriedenheit und die Knochendichte. Diese Effekte waren allerdings bei Frauen ausgeprägter nachweisbar als bei Männern. Die erektile Dysfunktion kann ebenfalls erfolgreich mit DHEA behandelt werden, vorausgesetzt, dass ein DHEAMangel die einzige zugrunde liegende Ursache dieser Störung ist, und nicht etwa ein Testosteronmangel. Ein Therapieversuch mit DHEA (Frauen 10 – 25 mg/d, Männer 25 – 50 mg/d) ist dann zu erwägen, wenn Symptome eines DHEA-Mangels (Abgeschlagenheit, Neigung zu depressiven Verstimmungen, nächtliches Schwitzen) vorliegen, der DHEA-S-Spiegel unter 1 mg/l liegt und andere Ursachen für diese Symptomkonstellation ausgeschlossen wurden. Regelmäßige gynäkologische bzw. urologische Kontrollen sind selbstverständlich auch unter einer DHEA-Substitution angezeigt, da die Substanz sowohl zu Östrogenen als auch zu Androgenen konvertiert werden kann.
16.3.4 Melatonin: Mehr als ein schwaches Schlafmittel? Wenige plazebokontrollierte Studien haben den Effekt von Melatonin beim alternden Menschen untersucht. Allgemein akzeptiert ist seine milde schlafanstoßende Wirkung. Der Einsatz von Melatonin beim sog. Jetlag ist ebenfalls sinnvoll. Im Tierexperiment nachgewiesene positive Effekte wie Tumorprävention bedürfen noch einer Bestätigung beim Menschen [8]. Somit sind der Jetlag und milde Schlafstörungen die derzeit einzigen Einsatzgebiete von Melatonin (1,5 – 3 mg/d). Eine Messung des Melatoninspiegels im Serum ist wegen seiner kurzen Halbwertszeit nicht sinnvoll und üblich. Die verfügbare Messung im Urin hat ebenfalls eine nachgeordnete Bedeutung, da auch bei normalen Spiegeln bereits Störungen des Sekretionsmusters vorliegen können. Ein Therapieversuch „ex juvantibus“ ist daher ebenso sinnvoll.
16.3.5 Wachstumshormon: Gibt es eine Indikation in der Anti-Aging-Medizin? Die Behandlung mit Wachstumshormon führt zu einer Zunahme der Muskel- und einer Abnahme der Fettmasse bei alternden Menschen. Die Muskelkraft konnte allerdings durch eine solche Behandlung nicht verbessert werden. Die Tatsache, dass wachstumshormondefiziente Mäuse länger leben als Wildtyp-Mäuse, sowie die gut dokumentierte Zunahme maligner Tumoren bei Patienten mit Akromegalie sollte zu einem sehr zurückhalten-
den Umgang mit dieser Art Substitutionstherapie führen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollte die Wachstumshormongabe beim alternden Menschen aus unserer Sicht nur im Rahmen kontrollierter Studien erfolgen.
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Häufige Patientenfragen
Welches sind die drei wichtigsten Anti-Aging-Maßnahmen? ● Rauchfreiheit, regelmäßige Bewegung (mind. 3 x 30 min pro Woche), kalorienbewusste und antioxidanzienreiche Ernährung. Prävention und Anti-Aging sind mithin weitgehend deckungsgleich. Durch welche Maßnahmen konnte eine echte Lebensverlängerung belegt werden? ● Bei Tieren durch kalorische Restriktion, beim Menschen durch Nikotinverzicht und durch obst- und gemüsereiche Ernährung. Worauf beruht der Anti-Aging-Effekt regelmäßiger Bewegung? ● Auf dem auch kosmetisch relevanten Beitrag zur Gewichtskontrolle und dem besseren Verhältnis zwischen Körperfett- und Muskelmasse. Warum wird die Alterung durch Bewegung und den dabei entstehenden oxidativen Stress nicht beschleunigt? ● Der oxidative Stress steigt in den Bewegungsphasen tatsächlich. Exzessiver Leistungssport hat daher auch keinen verjüngenden Effekt. Moderater Sport schon, weil beim Sportler systemischer und oxidativer Stress außerhalb der Bewegungsphasen niedriger sind als beim nicht körperlich Aktiven. Worauf beruht der Anti-Aging-Effekt mediterraner und/ oder asiatischer Ernährung? ● Auf den in Obst und Gemüse reichlich vorhandenen Antioxidanzien, die jedoch offensichtlich nur im Zusammenspiel wirken. Die Zufuhr von Einzelstoffen hat in bisherigen Studien enttäuscht. Ist die komplette Abstinenz einem moderaten Alkoholkonsum vorzuziehen? ● Hier ist die Studienlage uneinheitlich, d. h. es gibt auch keine Belege für eine Anti-Aging-Wirkung kompletter Abstinenz. Insofern ist gegen moderaten Alkoholkonsum (Frauen < Männer) zumindest nichts einzuwenden. Gibt es Hormone mit nachgewiesener lebensverlängernder Wirkung? ● Im Tierversuch ja (DHEA), beim Menschen nicht. Hier steht die Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund.
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Anti-Aging-Medizin
Was ist die Indikation für eine Östrogengabe bei postmenopausalen Frauen? ● Klimakterische Beschwerden (Hitzewallungen, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen); die Hormone sollten jedoch nur vorübergehend (bis zu einigen Jahren) und nur nach Ausschluss von Risikofaktoren für Atherosklerose, Thrombose und Mammakarzinom verordnet werden.
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Was ist die Indikation für eine Testosterongabe beim alternden Mann? ● Ein symptomatischer Testosteronmangel (< 12 nmol/l ≙ ca. 3,0 µg/l) nach Ausschluss von Kontraindikationen (Prostatakarzinom, Polyglobulie, Schlafapnoe). Sollen DHEA, Melatonin und Wachstumshormon in der Anti-Aging-Medizin eingesetzt werden? ● DHEA kann bei erniedrigtem Spiegel und anders nicht erklärbarer Abgeschlagenheit, Antriebsarmut und Depressivität, Melatonin bei Schlafstörungen eingesetzt werden. Für Wachstumshormon gibt es aufgrund der nicht abschätzbaren Risiken derzeit keine Indikation in der AntiAging-Medizin.
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Literatur 1. Speakman JR, Hambly C. Starving for life: what animal studies can and cannot tell us about the use of caloric restriction to prolong human lifespan. J Nutr. 2007. 137 (4):1078-86. 2. Bjelakovic G, Nikolova D, Gluud LL et al. Mortality in randomized trials of antioxidant supplements for primary and secondary prevention: systematic review and metaanalysis. JAMA. 2007; 297(8):842-57. 3. Baur JA, Sinclair DA. Therapeutic potential of resveratrol: the in vivo evidence. Nat Rev Drug Discov. 2006; 5(6):493506. 4. Million Women Study Collaborators. Breast cancer and hormon-replacement therapy in the Million Women Study. Lancet. 2003; 362:419-27. 5. Chlebowski RT, Hendrix SL, Langer RD et al. Influence of estrogen plus progestin on breast cancer and mammography in healthy postmenopausal women. JAMA. 2003; 289:3253. 6. Wald M, Meacham RB, Ross LS et al. Testosterone replacement therapy for older men. J Androl. 2006; 27 (2):126-32. 7. Baulieu EE, Thomas G, Legrain S et al. Dehydroepiandrosterone (DHEA), DHEA sulfate, and aging: contribution of the DHEAge Study to a sociobiomedical issue. Proc Natl Acad Sci. 2000; 97(8):4279-84. 8. Karasek M. Melatonin, human aging, and age-related diseases. Exp Gerontol. 2004; 39(11-12):1723-9.
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Spezielle Check-Up-Medizin
Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin
17 Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin H. Mück, M. Mück-Weymann
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Das Wichtigste in Kürze Psychosoziale Belastungen sind nachweislich für Befindlichkeitsstörungen verantwortlich oder an der Genese und Aufrechterhaltung somatischer Leiden beteiligt. Ihre „psychosomatischen Folgen“ rechtfertigen oftmals – im Sinne einer Komorbidität – weitere eigenständige Diagnosen. Da Inzidenz und Prävalenz psychischer Erkrankungen („Spitzenreiter“: Depression) beängstigend zunehmen und psychische Leiden zu einem immer bedeutsameren Grund von Arbeitsunfähigkeit werden, ist die Integration eines geeigneten psychosozialen Check-Ups in die Primärdiagnostik ein fachliches und ethisches Muss. Vielfach genügen schon die mit geringem Aufwand verbundenen 5 WHO-Fragen, um erste Hinweise auf eine psychosoziale Belastungssituation oder gar eine psychische bzw. psychosomatische (Mit-) Erkrankung zu erhalten. Mindestens eine offene Frage zu psychosozialen Belastungen sollte obligatorischer Bestandteil eines jeden Anamnesegesprächs sein. Sofern sich Hinweise auf psychische Probleme ergeben, stehen spezifischere Befragungsinstrumente zur Verfügung. Derzeit werden psychosoziale Screening-Instrumente überwiegend in der Diagnostik bereits manifester Erkrankungen angewandt (z. B. bei Verdacht auf Depressionen) und ermöglichen dann allenfalls noch sekundärpräventive Maßnahmen. Es ist wünschenswert, psychosoziale Check-Ups bereits primärpräventiv einzusetzen, um so die Chance auf eine rechtzeitige Erfassung „struktureller Vulnerabilitäten“ des Untersuchten zu eröffnen. Denn oft lassen sich durch Psychoedukation, Psychotherapie oder gezieltes Training (Coaching) solche „strukturellen Schwächen“ beheben, die „Krisenkompetenz“ des Patienten verbessern und damit seelischen Dekompensationen und Manifestationen psychosomatischer Störungen vorbeugen. Somit bietet diese Vorgehensweise auch für Diagnostik, Therapie und Sekundärprävention wesentliche Hilfen. Im Hinblick auf stressbedingte Erkrankungen überprüft psychosoziales Screening bzw. Diagnostik, erstens inwieweit die eigenen Fähigkeiten schon optimal funktionieren bzw. wo sie noch optimiert werden können, zweitens ob die eigene „innere Programmierung“ unnötig zum Entstehen und Aufrechterhalten von „Stress“ beiträgt und drittens inwieweit äußere Belastungen subjektiv als relevante „Stressoren“ mit möglichen negativen Folgen für Wohlbefinden und Gesundheit empfunden werden.
Kasuistik Die 33-jährige bildhübsche Marketingleiterin eines aufstrebenden Unternehmens bleibt seit Wochen immer wieder ihrem Arbeitsplatz fern, weil eine schwere Angina der nächsten auf dem Fuß folgt. Sie wirkt müde, angespannt und ängstlich. Die Halslymphknoten sind massiv geschwollen und veranlassen ihren Hausarzt, „Lymphdrüsenkrebs“ auszuschließen. Die Untersuchungen liefern keinen pathologischen Befund. Obwohl alle körperlichen Symptome abgeklungen sind, „schleppt“ sich die Patientin monatelang weiterhin zur Arbeit, um abends sofort erschöpft, lust- und interesselos in ihr Bett zu fallen und dennoch keinen erholsamen Schlaf zu finden. Vor diesem Hintergrund überweist sie der Hausarzt als „Ultima ratio“ an einen Kollegen, der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist. Dort stellt sich schon im Erstgespräch heraus, dass die Patientin seit Monaten unter ihren Arbeitsbedingungen massiv leidet. Es ist offensichtlich, dass man ihre Leistungen nicht würdigt und sich ihrer entledigen will. Die Situation hat ihr ohnehin labiles Selbstvertrauen komplett erschüttert und ihre Fähigkeiten zur Abgrenzung und Selbstbehauptung überfordert. Erstes Fazit: Möglicherweise hat der permanent erlebte „Stress“ (im Sinne einer „Gratifizierungskrise“ und bei stattgehabtem „Mobbing“) dauerhaft den Kortisolspiegel erhöht, dadurch Immunfunktionen beeinträchtigt und Infektionen begünstigt. Als ICD-Diagnosen schlägt der konsiliarisch befragte Kollege „mittelgradige depressive Episode“ (F32.1) mit dem Zusatz „Burn-out“ (Z73.0) vor.
17.1 Vorbemerkung Bei vielen überwiegend somatisch einzustufenden Erkrankungen wird über Sinn und Notwendigkeit von Vorsorgeuntersuchungen heute allenfalls noch in Hinsicht auf Kosten-Nutzen-Abwägungen debattiert. Wegen hoher und weiter steigender Prävalenz psychischer Störungen in der Bevölkerung erscheint es durchaus sinnvoll, sich nicht nur in Psychiatrie und Psychotherapie, sondern auch in anderen medizinischen Bereichen für psychosoziale Check-Ups einzusetzen. Obgleich der begriffliche Rahmen mit „Früherkennung von Krankheiten“ erfreulich weit gehalten ist, sieht auch der seit 1989 von
Epidemiologie und Definition („Stresskrankheiten“)
der GKV zweijährlich vorgesehene „Gesundheitscheck“ für Versicherte ab dem 35. Lebensjahr (§ 25 SGB V) bislang aber v. a. somatische Untersuchungen vor. Wörtlich heißt es dort in Abs. 1: Versicherte, die das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet haben, haben jedes zweite Jahr Anspruch auf eine ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von HerzKreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit. Wie das eingangs beschriebene Fallbeispiel verdeutlicht, machen psychosoziale Screening-Maßnahmen grundsätzlich Sinn, da sich die meisten Krankheiten als bio-psycho-soziale Prozesse verstehen lassen. Dem Patienten ist nämlich nicht optimal geholfen, wenn ihm eine Behandlung eines möglichen psychischen Leidens erst dann angeboten wird, wenn eine zuvor erfolgende mitunter wochenlange somatische Diagnostik und Behandlung keine optimalen Resultate erzielt (vgl. auch einleitendes Fallbeispiel). Leider besteht immer noch die Tendenz, psychische Krankheiten wie Depression oder Angststörungen erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn deren somatische Korrelate (wie Herzbeschwerden, Kreislaufstörungen, Schwächezustände) vorher ausreichend organmedizinisch „abgeklärt“ wurden. Eine solche Vorgehensweise verleiht psychischen Krankheiten nicht nur das Etikett, „Phänomene zweiten Ranges“ zu sein, sie mutet dem Patienten auch eine oft unnötige Verlängerung seines Leidens zu und suggeriert ihm, dass psychische Probleme medizinisch als weniger wichtig gelten. Dem Patienten ist in der Regel mehr gedient, wenn Psycho-Check-Ups bereits integraler Teil der „First-line“Diagnostik sind. Dann können psychosoziale Belastungsfaktoren von Anfang an erkannt und entschärft werden (multimodales Vorgehen). Auch psychosoziale Screening-Maßnahmen müssen sich den Forderungen stellen, ● durch ihre Anwendung zur Verringerung der Krankheitslast beizutragen, ● klinisch, sozial und ethisch anwendbar und vertretbar zu sein, sowie ● mehr Nutzen als Schaden zu bewirken.
Überlegungen dieses Beitrags beziehen sich daher ausschließlich auf psychosoziale Check-Ups bei Personen, die bereits aufgrund von (mitunter „unspezifischen“) Beschwerden vorstellig werden und daher schon als Risikogruppe für die Entwicklung psychosomatischer Störungen zu betrachten sind.
17
17.2 Epidemiologie und Definition („Stresskrankheiten“) Inzidenz und Prävalenz von psychischen Erkrankungen und Leiden mit einem deutlichen psychischen Anteil nehmen seit Jahren kontinuierlich zu. Experten gehen heute davon aus, dass im Jahr 2020 nicht nur fünf psychische Störungsbilder zu den 10 häufigsten Krankheitsursachen zählen werden, sondern dass Depressionen und Suchterkrankungen dabei einen Spitzenplatz einnehmen [1]. Berechnungen der Deutschen Angestellten Krankenversicherung (DAK) ergaben, dass die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen allein zwischen 1997 und 2001 – also im Verlauf von lediglich vier Jahren – um 51 % zunahm. Dabei führen psychische Leiden zu besonders langen Fehlzeiten. Während Arbeitsunfähigkeitstage in ihrer Gesamtzahl seit Jahren kontinuierlich abnehmen, wächst die Zahl der auf psychischen Ursachen beruhenden Arbeitsunfähigkeitstage kontinuierlich (s. Abb. 17.1). Auch für Ursachen von Frühberentungen wegen Erwerbsunfähigkeit zeichnen psychische Störungen immer häufiger verantwortlich, bei Frauen stellen sie mittlerweile sogar schon den Hauptgrund (s. Abb. 17.2). Es kommt hinzu, dass bei einigen – primär organisch erscheinenden – weit verbreiteten Beschwerdebildern (z. B. Rückenproblemen) psychosoziale Aspekte ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen. Auch wurde in verschiedenen Studien gezeigt, dass „Depressivität“ z. B. die Genese und Prognose der korona-
150 Tage 130
In diesem Zusammenhang muss sich das DepressionsScreening beispielsweise der Frage stellen, ob ein „unspezifisches Screening“ (als Befragung der gesamten Bevölkerung) Sinn macht, da voraussichtlich viele falsch positive Fälle „erkannt“ werden, bei denen die Symptome schon innerhalb von 1 – 2 Wochen wieder verschwinden. Hier würde eine zu früh einsetzende vertiefte Diagnostik unnötige Kosten verursachen und die Patienten möglicherweise unnötig stigmatisieren. Während solche Maßnahmen der „Universalprävention“ sicher sehr kritisch zu betrachten sind, dürfte der zu erwartende Nutzen von Screening-Maßnahmen bei Personen mit bereits manifester Symptomatik („selektive Prävention“) in aller Regel mögliche Nachteile deutlich überwiegen. Die weiteren
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Abb. 17.1 Arbeitsunfähigkeitstage der Frauen nach Krankheitsarten (1995 – 2003, Indexdarstellung: 1994 = 100 %; [2]).
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Neubildungen Kreislauf
Psyche
Abb. 17.2 Anteil der Rentenzugänge nach ausgewählten Diagnosehauptgruppen bei den Frauen (bis 1992: alte Bundesländer, ab 1993: Gesamtdeutschland; [2]).
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ren Herzkrankheit (KHK) wesentlich mitbestimmen kann. In einer 2001 vorgelegten Arbeit von Bush et al. [3] wurde festgestellt, dass bereits ein „Hauch von Depressivität“ bei Patienten nach durchgemachtem Myokardinfarkt die Mortalität steigert. In Tab. 17.1 sind derzeit favorisierte Hypothesen zu möglichen Pathomechanismen zur Interaktion zwischen „Psyche“ und „HerzKreislauf-System“ zusammengefasst. Vor einem solchen Hintergrund leuchtet ein, warum über Sinn und Nutzen psychosozialer Check-Ups eigentlich kaum noch gestritten werden kann (s. Kap. 3). Der vorliegende Kurzbeitrag kann sich nicht mit dem gesamten Spektrum psychischer Störungen befassen. Insbesondere gehören einige psychische Störungen (z. B. Psychosen, Suchtkrankheiten, Zwangsstörungen, Demenzen und andere zerebrale Störungen), sobald sich ein entsprechender Verdacht abzeichnet, zur Differenzialdiagnostik und Optimierung der Therapie, aber auch wegen möglicher Behandlungskomplikationen (z. B. Suizidalität) unbedingt in die Hand des Fachmanns. Abwendbare ge-
Tabelle 17.1 Pathophysiologische Hypothesen zur Interaktion zwischen „Psyche“ und „Herz-Kreislauf-System“ (nach [4]). Auf welchen Wegen können psychosoziale Belastungen auf das Herz-Kreislauf-System wirken? Pathophysiologische Hypothesen: genetische Assoziation (z. B. Polymorphismen der Serotonin-Transporter-Gene) ● Depression als „chronische Stresserkrankung“ (u. a. sympathoadrenale Überaktivität) ● Störungen des Fettstoffwechsels (u. a. Erniedrigung der Omega-3-Fettsäuren) ● Störungen der Hämostase (u. a. erhöhte Thrombozytenaggregation) ● Störungen der autonomen Funktionsfähigkeit (u. a. verminderte kardiovagale Modulation) ● Verhaltensfaktoren (u. a. ungesunde Ernährung, Rauchen) ●
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fährliche Verläufe müssen entsprechend bedacht und behandelt werden. In diesem Zusammenhang soll auch nicht der Hinweis versäumt werden, dass verschiedene organische Krankheiten (Hirntumoren, Epilepsien, Leber-, Nieren- und Schilddrüsenerkrankungen u.v.m.) psychische Symptome verursachen können und daher initial auszuschließen oder zu erkennen und ggf. – sofern möglich – zu behandeln sind. Beispielhaft seien hier die relativ häufigen Störungen der Schilddrüsenfunktion hervorgehoben. So kann eine Unterfunktion mit Symptomen wie Antriebsmangel und Interessenverlust eine Depression imitieren, Symptome wie innere Unruhe und Ängstlichkeit bei einer hyperthyreoten Stoffwechsellage können ggf. mit einer Angststörung verwechselt werden. Bleibt zu erwähnen, dass natürlich auch alle seelischen Prozesse und Störungen eine (neuro-) physiologische Basis haben (z. B. vermehrte Freisetzung von Adrenalin und/oder Kortisol unter „Stress“, veränderte Neurotransmitterfunktionen bei Depression). Schwerpunkt der weiteren Betrachtung bzw. Gegenstand psychosozialer Check-Ups sollen v. a. diejenigen Krankheitsbilder sein, bei denen auch der Hausarzt oder Internist, ebenso aber Ärzte anderer Fachrichtungen, zusätzlich zur Diagnosestellung auch therapeutische Hilfestellungen anbieten können. Hierzu rechnen insb. Depressionen leichter Ausprägung, Angst-, Anpassungs-, Somatisierungsstörungen, Neurasthenie sowie das sog. Burn-out-Syndrom. Viele der hier ins Auge gefassten „Stresskrankheiten“ zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Zuordnung zu spezifischen Diagnosen einen „gewissen diagnostischen Spielraum“ offenlässt. Dies liegt an der Vielfalt von möglichen Symptomen, die letztlich Ausdruck unterschiedlicher Erkrankungen sein können und somit gewissermaßen unspezifisch sind. So passen „typische“ und häufige Symptome wie Erschöpfung, innere Unruhe, Ängstlichkeit, Konzentrationsprobleme, Traurigkeit, Besorgnis, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Schmerzen oder Herzbeschwerden zu so unterschiedlichen Diagnosen wie Depression, Angststörung, Somatisierungsstörung oder Burn-out-Syndrom. Ob eine Symptomgruppierung vom Arzt dann eher als Depression, Somatisierungsstörung oder Burn-out klassifiziert wird, kann von vielen Umständen abhängen, u. a. auch von der vom Patienten ausgewählten Fachrichtung (also seinem subjektiven Krankheitsmodell) oder den Erfahrungs- und Interessensschwerpunkten des Arztes. „Stresskrankheiten“ gehören somit sicher zu denjenigen Diagnosen, bei denen – aus wissenschaftstheoretischer Sicht – der „Konstrukt-Charakter“ am offensichtlichsten ist. Gleichzeitig ist in der Praxis – im Sinne einer „diagnosenahen Zuordnung“ – eine „genaue Festlegung“ der Diagnose mitunter auch sogar so lange entbehrlich, wie die therapeutischen Konsequenzen weitgehend die gleichen sind. So kann eine therapeutisch angestrebte Ver-
Patho-psycho-sozio-Physiologie
besserung der Stressbewältigungskompetenz bei allen vier der o. g. Diagnosen dem Patienten weiterhelfen. Auch kann die medikamentöse Therapie – als Baustein eines multimodalen Behandlungskonzepts – einer Depression oder Angstkrankheit mit einem SSRI-Antidepressivum (selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) erfolgen. Vor diesem Hintergrund kann man dann durchaus auch „Vorlieben“ des Patienten berücksichtigen, für den die Diagnosen Burn-out-Syndrom oder Anpassungsstörung in seinem konkreten Lebensumfeld vielleicht „salonfähiger“ ist als die Diagnose Depression. Wenn das Spektrum der Symptome von Patient zu Patient variiert, dürfte das oft mit individuellen Vulnerabilitäten bzw. Widerstandskräften („Resilienz“) des Patienten zu tun haben, mitunter erst in zweiter Linie mit den Besonderheiten der Belastungssituation. So erklärt sich beispielsweise, warum oft ein erstaunlich großer Anteil Betroffener selbst schwerste Traumen weitgehend heil übersteht, während andere völlig aus der Bahn geraten. Wie man diesen Zusammenhang dem Patienten verdeutlichen kann, erläutert der nachstehende „Beratungstipp“ zur Begriffserklärung von Vulnerabilität: Stellen Sie sich vor, dass verschiedene Autotypen „überladen“ werden. Obwohl alle Autos mit derselben Zusatzlast überfrachtet wurden, werden sich die Folgen oft unterscheiden. So wird bei dem einen Wagen die Achse brechen, beim nächsten die Stoßdämpfer ihren Geist aufgeben, beim dritten die Bremsen versagen usw., wieder andere werden
a Wahrnehmung von Stressoren
b
aber auch trotz Überlast heil bleiben. Ähnlich ist es bei den Menschen, deren „Schwachstellen“ sich von Person zu Person unterscheiden. Was dem einen „auf den Magen schlägt“, daran hat der andere „am Kreuz zu tragen“. Wieder anderen „bricht dauernd der Schweiß aus“, „wird der Schlaf geraubt“ oder „fängt die Haut an, zu jucken“. Wie sich Stress bei einem bestimmten Menschen bemerkbar macht, hat also auch mit Veranlagung oder seinen bisherigen Bewältigungsmöglichkeiten zu tun. Natürlich hängt die Art des Symptoms auch mit der Art der Belastung zusammen: Wer unter Lärmstress steht, wird eher einen „Infarkt des Ohres“ (Hörsturz) erleiden, als die Sachbearbeiterin, der immer mehr Akten aufgehalst werden und die dadurch Kreuzschmerzen und Bluthochdruck entwickelt.
17.3 Patho-psycho-sozio-Physiologie Bei „Stresskrankheiten“ im oben erwähnten Sinne ist die Pathophysiologie im engeren Sinne bereits seit Längerem gut erforscht und prägnant beschrieben. Zusammengefasst: Äußere oder innere Reize werden vom limbischen System (insb. der Amygdala) vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen als „gefährlich“ interpretiert und setzen „Alarmreaktionen“ in Gang. Diese lassen sich auf der Verhaltensebene den drei Grundmustern Angreifen, Fliehen und Erstarren zuordnen.
Stressoren sind „subjektiv“!
Hypothalamus Hypophyse
Sympathikus
Botenstoff ACTH
Nebennieren
Kortison
Katecholamine (Adrenalin & Noradrenalin) Infektanfälligkeit, Leistungsminderung
Mobilisierung von Glukose und Fetten Abbau durch Muskelleistung
oder
„Ablagerung“ in Arterienwänden (Atherosklerose)
SCL
Physiologische Reaktionen sind auch „subjektiv“!
Abb. 17.3 Schematische Darstellung des Stressbewältigungssystems und der individuellen Reizantworten auf einen Stressor. a Einfaches anatomisches Stressmodell. Ob „Stressoren“ allerdings als solche wahrgenommen werden, ist von subjektiven Bedingungen und Bewertungen (u. a. persönliches Interesse, Lerngeschichte bzw. Biographie, Traumatisierung) abhängig, die auch nur zum Teil „psycho-mental steuerbar“ sind. Auch physiologische Reaktionen auf „Stres-
soren“ sind somit je nach (unbewusster oder bewusster) subjektiver Bewertung höchstpersönliche Phänomene. b Gleiche Reize („Stressoren“, hier das Bild einer Schlange) können bei unterschiedlichen Betrachtern, in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen, Erwartungen, Reagibilität etc. unterschiedlich starke physiologische Reaktionen (hier: Anstieg des Skin Conductance Levels [SCL] als Indikator der sympathisch vermittelten akralen Schweißbildung) hervorrufen.
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17
Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin
I II
III IV V VI VII
Auf physiologischer Ebene kommt es unmittelbar zur Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin, die vagale Aktivität wird vermindert und die sympathische gesteigert. Bei anhaltender Aktivierung kommt es zur vermehrten Freisetzung von Kortisol. Diese Prozesse können – sofern sie keine befriedigende Lösung erzielen – zu einer oft unbewussten Daueraktivierung führen, die sich nicht nur in vielfältigen Symptomen (Klinik s. u.), sondern über kurz oder lang auch in organischen Veränderungen manifestieren kann. Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist die Erweiterung auf eine patho-psycho-sozio-physiologische Betrachtungsweise durchweg hilfreich. Eine solche Perspektive erfasst v. a. auch das Umfeld und akzeptiert, dass wesentliche Störungsanteile auch von dort kommen können (also nicht schwerpunktmäßig in der Person des „Kranken“ begründet sein müssen). So braucht ein gezielt betriebenes „Mobbing“ nicht unbedingt etwas mit den Qualitäten des „Gemobbten“ zu tun haben, oder kann sich eine drohende Firmenschließung als kaum abzuwendende Dauerbelastung auf die Angestellten auswirken. Unter patho-psycho-physiologischen Gesichtspunkten lohnt sich es sich fast immer, mindestens drei miteinander verwobene und zur Pathologie beitragende Komponenten zu berücksichtigen: ● äußere Belastungsfaktoren („Umwelt“) ● innere Stressverarbeitungskompetenzen („Software“) ● die körperliche Verfassung („Hardware“) Therapeutisch zugänglich sind v. a. die beiden letztgenannten Punkte, bei denen sich Fähigkeiten (wie Selbstregulation, Kommunikation, Selbst- und Fremdbewertung) und Zustände (körperliche Fitness, Entspannungsmöglichkeiten) in den meisten Fällen verbessern lassen.
17.4 Klinik Die Beschwerdebandbreite bei „Stresskrankheiten“ reicht von „Befindlichkeitsstörungen“ wie Schlafproblemen, Müdigkeit, Erschöpfung, Schwindel über die berühmten Magenschmerzen bis hin zu Muskelverspannungen, Kopf-, Rücken- und Kieferschmerzen, Luftnot, nächtlichem Zähneknirschen, Albträumen, Übergewicht, erhöhtem Blutdruck, Myokardinfarkt, sexueller Lustlosigkeit, vermehrten Infekten, Hauterkrankungen und Verhaltensstörungen (wie Nägelbeißen, Haare ausreißen, zwischenmenschlicher Gewalt). Auch Müdigkeit, Energiemangel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Denkblockaden, Gedankenkreisen, Nervosität, Gereiztheit, Aggressivität, Lustlosigkeit und sozialer Rückzug sind typische Zeichen eines Körpers, der die weitere Mitarbeit verweigert und die Betroffenen mithilfe der erwähnten Symptome gleichsam aus dem Verkehr zieht. Zumindest vorübergehend wird der Körper so zur Ruhe gezwungen und dem Geist die Möglichkeit geboten, aus
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einer gewissen Distanz die Vergeblichkeit oder Einseitigkeit des bisherigen Einsatzes zu überdenken. Manche Symptome sind auch deswegen nicht immer sofort als „Stressfolgen“ zu erkennen, weil sie das Ergebnis einer längeren Ursachenkette sind. So führt Stress sehr häufig zu ungünstigen Ernährungsgewohnheiten (zu viel, zu wenig, zu einseitig, etwa in Form von Fastfood) oder übermäßigem Genussmittelkonsum. Übergewicht, Folgen einseitiger Ernährung (Vitamin- und andere Mangelzustände), Leberschäden nach Alkoholkonsum, Angst und Medikamentenabhängigkeit nach längerer Beruhigungsmitteleinnahme sowie Atemwegserkrankungen bei starken Rauchern können alle das Endergebnis einer Entwicklung sein, die mit vermehrtem „Stress“ begann oder von diesem gefördert wurde.
17.5 Diagnostische Optionen und ihre Indikation Berufserfahrene Ärzte mit häufigem Patientenkontakt entwickeln im Allgemeinen ein verlässliches Gespür dafür, ob Patienten zusätzlich zu den meist vorgetragenen organischen Beschwerden auch unter seelischen Belastungen leiden. In solchen Fällen gilt die Empfehlung, diesen Eindruck nicht für sich zu behalten, sondern ausdrücklich mit dem Patienten zu thematisieren. Die Sorge, sich durch ein vertiefendes Gespräch zu verzetteln und unnötig Zeit zu „verschwenden“, ist durchweg unbegründet: Die durch das Gespräch erhaltenen Informationen verkürzen in aller Regel die weitere Diagnostik, ermöglichen gezieltere und schneller anzubietende therapeutische Interventionen und verbessern – aufgrund des erlebten „Verständnisses“ – auch die Arzt-Patient-Beziehung. Möglicher Formulierungsvorschlag: „Wenn ich Ihr sorgenvolles Gesicht sehe, frage ich mich, in welcher Weise vielleicht auch Alltagsprobleme oder seelische Sorgen zu Ihren Beschwerden beitragen könnten.“ Wer mit Anamnesebögen arbeitet, die der Patient schon im Wartezimmer ausfüllt, kann die fünf Fragen des WHO-5-Fragebogens zum Wohlbefinden in das Dokument integrieren und so erste Hinweise auf eine „Stresskrankheit“ erfragen (Tab. 17.2). Geringe „Wohlfühlwerte“ rechtfertigen natürlich noch keine Diagnose. Sie sind jedoch ein ausreichender Grund, eine gezielte Diagnostik mit spezifischeren Instrumenten durchzuführen und gegebenenfalls einen Kollegen mit psychopathologischer Expertise hinzuzuziehen. Neben den 5 WHO-Fragen gibt es eine Fülle nützlicher, einfach zu handhabender sowie gut validierter Befragungsinstrumente (Tab. 17.3). So liegt der für Deutschland validierte PHQ-D (Patients Health Questionnaire, [5]) in einer Kurz- und einer Langversion vor. Orientiert an DSM-IV liefert er in seiner Kurzform mit nur drei Fragen Hinweise auf eine Major-Depression, andere depres-
Diagnostische Optionen und ihre Indikation
Tabelle 17.2 WHO-5 Fragebogen [Web1] zum Wohlbefinden (als Screening-Instrument). Hier zählt man einfach Punkte aus, wobei „Die ganze Zeit ….“ mit 5 Punkten belegt wird, „meistens …“ mit 4 Punkten usw.; die „negativste Äußerung“ („zu keinem Zeitpunkt …“) wird mit 0 Punkten gewertet. Bei „vollständigem Wohlbefinden“ kann man 25 Punkte erreichen, im ungünstigsten Fall ergeben sich 0 Punkte. Als ein realistischer „Cut off“ für deutlich reduziertes Wohlbefinden gilt eine Summe < 13 Punkten. In den letzten zwei Wochen
die ganze Zeit
meistens
über die Hälfte der Zeit
weniger als die Hälfte der Zeit
ab und zu
zu keinem Zeitpunkt
5
4
3
2
1
0
17
....war ich froh und guter Laune ....habe ich mich ruhig und entspannt gefühlt ....habe ich mich energetisch und aktiv gefühlt ....habe ich mich bei Aufwachen frisch und ausgeruht gefühlt ....war mein Alltag voller Dinge, die mich interessieren
Tabelle 17.3 Beispiele für psychosoziale Screening-Fragebögen (kein Anspruch auf Vollständigkeit). Test
testet auf
Anzahl der Fragen
Bearbeitungszeit (min)
Literatur
BDI
Depressivität
20
5 – 10
[Web2]
BSI
subjektive Beeinträchtigung
53
7 – 10
HADS-D
Ängstlichkeit und Depressivität
14
2–5
EBF 24
Belastungen, Erholungsfähigkeit
24
4–5
PSSI
relative Ausprägung von Persönlichkeitsstilen
120
20 – 30
SOMS
Screening für somatoforme Störungen
68 (53)
5 – 10
SVF78
positive und negative Stressverarbeitungsweisen
78
ca. 10
MDI
Depressivität
10
1–3
WHO-5
Wohlbefinden
5
1–2
SOC
Kohärenzgefühl, Resilienz
29 (9)
10 (3)
[Web3]
MBI
„Burn-out-Symptomatik“
22
5 – 10
[Web4, Web5][6]
ÜS
„Überdrussskala“
21
5 – 10
SBS-HP
„Burn-out bei Health Professionals“
30
7 – 15
sive Symptome und/oder ein Paniksyndrom. Die ausführlichere Version mit 19 Fragen differenziert zusätzlich zwischen somatoformem Syndrom, anderen Angstsyndromen, V. a. Bulimia nervosa, V. a. Binge-Eating-Störung und Alkoholsyndrom.
Weblinks ● ● ● ●
Web1: WHO-5-Fragebogen: www.who-5.org Web2: Testzentrale Göttingen: www.testzentrale.de Web3: Testverfahren nach J. Schumacher: www.praxis-schumacher.net/publ_tests.html Web4: www.hilfe-bei-burnout.de
● ● ●
[Web1]
Web5: www.burnoutnet.at Web6: Forum Stressmedizin: www.stressmedizin.de Web7: Herzratenvariabilität: www.hrv24.de
Psychophysiologische und psycho-neuroimmunologische Untersuchungen können das Bild über individuelle „Stressfolgen“ beim bio-psycho-sozialen Check-Up abrunden. Hierbei gewinnt die „Herzratenvariabilität“ (HRV) als einfach und kosteneffizient zu messender Globalindikator zunehmend an Bedeutung (s. Kap. 3), da sie auch als Maß für die Anpassungsfähigkeit an innere und/oder äußere Belastungen gilt [7]. Im Rahmen von Vorsorgeuntersu-
179
Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin
I II
III
chungen und in der Stressmedizin können HRV-Messungen die Standarddiagnostik sinnvoll ergänzen und Patienten vielleicht frühzeitig zu korrigierenden Maßnahmen (z. B. Gewichtsreduktion, sportliche Betätigung, „Work-life-Balance“) motivieren. Die HRV (s. a. [Web7]) beschreibt die mehr oder weniger rhythmischen Schwankungen der Herzrate, die sich z. B. schon beim Pulsfühlen als „respiratorische Sinusarrhythmie“ (RSA) ertasten lassen: Bei Inspiration steigt die Herzfrequenz an, bei Exspiration sinkt sie, wobei eine hohe RSA typischerweise als Indikator für einen hohen Vagotonus gilt. Internisten und Neurologen nutzen die HRV-Messung seit Langem z. B. zur Diagnostik und Risikostratifikation der diabetischen Neuropathie, infolge derer kardiale Vagusanteile strukturell geschädigt und in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Bei intaktem autonomem Nervensystem spiegeln sich in der HRV aber auch autonome und humorale Regelprozesse wider.
IV V
„Bürotätigkeit“ versus „Entspannung“ im Spiegel des Herzschlags „gesund“ „adaptiv“
VI
140 120 100 80 60 40
VII
Anspannung
Herzfrequenz [bpm] 120 90 60 30 0 00:00 00:40
01:36 02:24 Zeit [mm:ss]
Entspannung „Ankündigung“ Stress
„starr“ „krank“
140 120 100 80 40 0 0–5 h
5–10 h
Entspannung a
03:12
04:00
Erholung b
10–14 h
Dauerstress (z. B. Manager mit psychophys. Schlafstörung) c
Abb. 17.4 Schematische Darstellung des Zusammenhangs von Herzratenvariabilität (HRV) und Stressniveau. Die Schwankung der Herzfrequenz ist umso geringer, je höher der Stresslevel liegt. In der stressmedizinischen Diagnostik lässt sich deshalb aus der HRV auch abschätzen, ob bei einem Patienten gerade eine sympathische oder vagale Dominanz der neurokardialen Funktionslage besteht (a). Durch Vorankündigung und Applikation eines „milden Stressors“ (z. B. „Rechentest“) können beim Gesunden Übergänge zwischen „entspannter Ruhe“, „Erwartungshaltung“, „Stressreaktion“ und „Erholung“ provoziert werden (b). Dabei kann eine sympathisch dominierte „Schieflage“ unter Ruhebedingungen (c) durch mangelnde Entspannungsfähigkeit, chronische Erschöpfung oder auch durch Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. anticholinerg wirksame Psychopharmaka) bedingt sein [7].
180
Eine verminderte HRV ist dabei als eingeschränkte Regelfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems zu verstehen, bei eigentlich notwendigen Anpassungen an veränderte innere Zustände (z. B. depressive Grundstimmung) oder äußere Bedingungen (z. B. Anforderungen der Umwelt). Da eine sympathische Dominanz (HRV ↓) tachyarrhythmische Ereignisse bahnen kann, vagale Dominanz (HRV ↑) hingegen eher kardioprotektiven Charakter hat, kommt der sympathovagalen Steuerung eine gewisse Mittlerrolle zwischen Psyche und Soma zu. Es ist deshalb gut vorstellbar, dass die HRV – als Globalindikator auch der sympathovagalen Balance – zum bio-psycho-sozialen Screening potenziell gefährdeter Patientengruppen (z. B. psychosoziale Risikofaktoren bei Patienten mit bekannter KHK) und allgemein für präventivmedizinische Belange einsetzbar ist [8]. In der Therapie kann die HRV als Biofeedback-Parameter zur Steigerung einer „krankheitsbedingt eingeschränkten Anpassungsfähigkeit“ eingesetzt werden [9]. Dabei lernt der Patient, die Möglichkeiten eigener Einflussnahme (z. B. durch Atem- bzw. Entspannungstechniken) auf psychophysische Prozesse spielerisch auszuloten, er kann sich so ein psychosomatisches Krankheitsverständnis erschließen und eigenständig primär- oder sekundärpräventiv tätig werden. Biofeedbacktechniken eröffnen für Patienten die Möglichkeit, „unbewusste“ bzw. „unwillkürliche“ Körperprozesse „wahrnehmbar“ zu machen, ggf. in eine „günstige Richtung“ zu verändern und so zum kompetenten Fachmann für sein Vegetativum bzw. seine Stressantworten zu werden. Der Patient erlebt psychophysiologische Zusammenhänge, er erlernt neben einer allgemeinen Entspannungsreaktion eine bessere Wahrnehmung und Kontrolle über bestimmte Körperfunktionen, er gewinnt neue Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und kann „ungünstige“ kognitive Überzeugungen verändern. Oft trägt Biofeedback – gerade bei primär auf somatische Genese ausgerichteten Patienten – zum Aufbau einer positiven therapeutischen Beziehung bei, ermöglicht eine Öffnung für bio-psycho-soziale Bedeutungsgefüge und fördert die Compliance.
17.6 Präventive Maßnahmen Herkömmlicherweise dienen psychosoziale Check-Ups überwiegend der Krankheitsdiagnostik (z. B. Depressionen), ermöglichen hierbei jedoch allenfalls eine Sekundärprävention. Wünschenswert wäre, entsprechend konzipierte Check-Ups rechtzeitig (also vor Eintritt eines Schadens bzw. einer manifesten „Stresskrankheit“) als Instrument der Primärprävention zur Erfassung „struktureller Vulnerabilitäten“ einzusetzen (bspw. indem sie ein mangelndes Selbst- und Fremdvertrauen oder Schwächen bei der Impulsregulation aufzeigen). Oft lässt sich nämlich durch rechtzeitige Psychoedukation, Psychotherapie oder gezieltes Training (Coaching) eine evtl. bestehende
Präventive Maßnahmen
„strukturelle Schwäche“ beheben, so die „Krisenkompetenz“ des Patienten verbessern und seelischen Dekompensationen vorbeugen. Diese Ansätze machen selbstverständlich auch in der Sekundär- und Tertiärprävention Sinn, wobei sie derzeit leider in der Praxis meist auch erst dann zum Tragen kommen. Der Begriff „strukturelle Schwäche“ bezieht sich auf die „seelische Struktur“ eines Menschen (im weitesten Sinne könnte man auch von der „Persönlichkeit“ sprechen). Mit „seelischer Struktur“ meint man insbesondere die Art und Weise, ● wie wir uns selbst und andere wahrnehmen, ● wie wir auf gefühlsmäßiger Ebene mit uns selbst kommunizieren bzw. umgehen, ● wie wir unsere Impulse, Gefühle und unseren Selbstwert regulieren bzw. wie wir unsere Beziehungen zu anderen gestalten und ● wie gut unsere „Bindungsfähigkeit“ ist (ob wir uns z. B. an andere binden und ggf. von diesen wieder lösen können, ob wir gute Modelle von Beziehungen verinnerlicht haben und diese zur Selbststeuerung nutzen können). Ein ausführlicheres und für psychotherapeutisch Interessierte gut handzuhabendes diagnostisches Inventar hat der Arbeitskreis „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD) in Form des OPD-Interviews entwickelt, bei dem die strukturelle Diagnostik einen wichtigen Schwerpunkt bildet. Als weiteres Beispiel eines hilfreichen Instruments für die „Persönlichkeitsdiagnostik“ seien die von Robert S. Wallenstein entwickelten „Skalen psychischer Kompetenzen“ (SPK) erwähnt. Diese fokussieren auf folgenden 17 psychischen Kompetenzen: ● Hoffnung ● Lebensfreude ● Zuweisung von Verantwortlichkeit ● Flexibilität ● Beharrlichkeit ● Bindung an Normen und Werte ● Bindung in Beziehungen ● Gegenseitigkeit ● Vertrauen ● Empathie ● Affektregulation ● Impulsregulation ● Umgang mit sexueller Erfahrung ● Selbstbehauptung ● sich auf sich und andere verlassen können ● Selbstachtung ● Selbstkohärenz Mithilfe der genannten Instrumente können den Patienten vorbeugend „Defizite“ aufgezeigt und ggf. auch geeignete Vorgehensweisen zu deren Bewältigung angeboten werden. Zumindest für Stresskrankheiten ist auf der Ebene „struktureller Fähigkeiten“ und durch eine Optimierung der körperlichen Verfassung (Verbesserung der
„Stresstoleranz“) durch Bewegung, Ernährung und Entspannung eine echte und wirksame Prävention möglich. In Deutschland bestehen hier mittlerweile vielfältige Hilfsangebote. Sie reichen von einem gut entwickelten Psychotherapiesystem bis hin zu den Angeboten von Krankenkassen, die ihre Versicherten über entsprechende Kurse in Bewegung, Ernährung und Entspannung (bzw. Stressmanagement) zu gesünderem Verhalten anleiten wollen. Als für den „Alltagsgebrauch“ besonders hilfreich hat sich darüber hinaus das von Aaron Antonovsky 1979 entwickelte Konzept der Salutogenese bewährt. Dieses betrachtet den Patienten als mündigen Partner im Gesundheitswesen und zielt darauf ab, ihn als Sachwalter seiner eigenen Gesundheit zu befähigen (andere benutzen in diesem Zusammenhang auch den Begriff des „Empowerments“). Nach Antonovsky ist Gesundheit kein Kapital, das man zu Beginn des Lebens erhält und dann aufzehren kann. Vielmehr gilt es, Gesundheit immer wieder durch aktives und sinnvolles Bemühen neu zu erschaffen. Dabei hilft besonders, ein „Kohärenzgefühl“ („Sense of Coherence“) zu entwickeln. Dieses fand und beschrieb Antonovsky bei Personen, die trotz extremster Belastungen (wie KZ-Erfahrungen) erstaunlich gesund blieben. Nach Antonovsky ist das Kohärenzgefühl eine stark handlungsgerichtete Grundorientierung. Diese drückt – verkürzt gesagt – ein umfassendes, dauerhaftes und gleichzeitig dynamisches Vertrauen darauf aus, dass die Phänomene dieses Lebens verstehbar, handhabbar und sinnvoll sind. Wer über diese Einstellung verfügt, ist in aller Regel „stressresistenter“ als Personen, die über diese Grundorientierung nicht verfügen. Das Ausmaß des Kohärenzgefühls lässt sich mithilfe verschiedener Fragebögen erfassen, anschließend mit dem Patienten thematisieren und durch Motivationsarbeit oder gezielte psychoedukative bzw. psychotherapeutische Intervention günstig beeinflussen. Ein dem Kohärenzgefühl ähnliches Konstrukt beschreibt der Begriff „Resilienz“, der häufig auch als „psychische Widerstandsfähigkeit“ übersetzt wird. Er bildet gleichsam das Gegenstück zur „Vulnerabilität“ und befasst sich ebenfalls mit dem Phänomen, dass manche Menschen trotz starker Belastungen und Risiken gesund bleiben bzw. sich von körperlichen Störungen vergleichsweise schnell erholen. Zur Erfassung und Beurteilung der Resilienz eines Menschen gibt es neuerdings eine für die Praxis sehr geeignete und bereits validierte Kurz-Skala (RS-11, Tab. 17.4) mit nur 11 abgefragten Items [10]. Sie stützt sich auf die besonders im angloamerikanischen Bereich weit verbreitete „Resilience-Scale“ von Wagnild und Young [11] mit insgesamt 25 Items. Der auf der RS-11 erzielte Summenwert (maximal 77 Punkte, minimal 11 Punkte) lässt Rückschlüsse auf das Ausmaß der psychischen Widerstandsfähigkeit der befragten Person zu. An den hier nur skizzierten Konzepten (Salutogenese, Resilienz) besticht, dass sie den Patienten als Experten und Sachwalter seiner Gesundheit ernst nehmen. Eine
181
17
Psychosozialer Check-Up als multimodaler Bestandteil der Präventivmedizin
Tabelle 17.4 Kurzform der Resilienz-Skala (RS-11, nach [10]). Im folgenden Fragebogen finden Sie eine Reihe von Feststellungen. Bitte lesen Sie sich jede Feststellung durch und kreuzen Sie an, wie sehr die Aussagen im Allgemeinen auf Sie zutreffen, d. h. wie sehr Ihr übliches Denken und Handeln durch diese Aussagen beschrieben wird.
I II
III IV V
1 = nein
7 = ja
stimme nicht zu
stimme völlig zu
1
Wenn ich Pläne habe, verfolge ich sie auch.
1
2
3
4
5
6
7
2
Normalerweise schaffe ich alles irgendwie.
1
2
3
4
5
6
7
3
Es ist mir wichtig, an vielen Dingen interessiert zu bleiben.
1
2
3
4
5
6
7
4
Ich mag mich.
1
2
3
4
5
6
7
5
Ich kann mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen.
1
2
3
4
5
6
7
6
Ich bin entschlossen.
1
2
3
4
5
6
7
7
Ich behalte an vielen Dingen Interesse.
1
2
3
4
5
6
7
8
Ich finde öfter etwas, worüber ich lachen kann.
1
2
3
4
5
6
7
9
Normalerweise kann ich eine Situation aus mehreren Perspektiven betrachten.
1
2
3
4
5
6
7
10
Ich kann mich auch überwinden, Dinge zu tun, die ich eigentlich nicht machen will.
1
2
3
4
5
6
7
11
In mir steckt genügend Energie, um alles zu machen, was ich machen muss.
1
2
3
4
5
6
7
Summe
VI VII
mit ihrer Hilfe gelungene ärztliche Aufklärung ermöglicht es diesem, bio-psycho-soziale Zusammenhänge zu verstehen, mit ihnen dadurch künftig besser umzugehen und in der momentanen Situation letztendlich vielleicht sogar einen Sinn zu erkennen.
?
Häufige Patientenfragen
Warum soll ich Fragebögen zu meinem Wohlbefinden ausfüllen, wenn ich doch eindeutig wegen zahlreicher und von mir genau beschriebener Beschwerden um Ihre Hilfe bitte? ● Ihre Beschwerden nehme ich ernst und sie stehen ganz im Vordergrund des Beratungsgesprächs. Der Fragebogen erleichtert es uns beiden, wichtige Zusatzgesichtspunkte nicht zu übersehen. Vielleicht wird Ihnen selbst schon beim Ausfüllen bewusst, dass körperliche Beschwerden oft mehrere Ursachen haben, zu denen auch Alltagsbelastungen und unsere Art darüber zu denken gehören. Fragebögen haben zudem den Vorteil, dass man sie in größeren Abständen erneut beantworten kann, um so mögliche Fortschritte zu erkennen und zu dokumentieren.
182
Wenn meine Beschwerden offenbar mit Stress zusammenhängen, wie kann ich diesen dann verringern? ● Am Phänomen Stress wirken meist drei Faktoren gleichermaßen zusammen: 1. äußere oder innere Herausforderungen, 2. unsere bisherigen Fähigkeiten, mit Belastungen umgehen zu können, und 3. die Belastbarkeit unseres Körpers. Äußeren Anforderungen (z. B. Mobbing am Arbeitsplatz, Verlust eines Partners, schwierige Nachbarschaft) kann man sich nicht immer ohne Weiteres entziehen. Manchmal können allerdings geschulte Berater hier noch Lösungen aufzeigen, an die man vielleicht selbst nicht gedacht hat. Bei inneren Anforderungen, wie körperlichen Symptomen, kann ich Ihnen helfend zur Seite stehen. Ihre Fähigkeiten, mit Belastungen umzugehen, lassen sich bspw. durch einen Stressbewältigungskurs Ihrer Krankenkasse, durch Biofeedbackübungen oder durch eine Psychotherapie verbessern. Auch Ihren Körper können Sie widerstandsfähiger gegen Stress machen, indem Sie dessen Zustand durch ausreichende Bewegung, gesunde Ernährung und genügend Entspannungspausen optimieren. Auch wenn meine Beschwerden vor allem auf Stress beruhen, hätte ich doch am liebsten ein Medikament, um meine Symptome so schnell wie möglich loszuwerden. ● Ihr Wunsch ist verständlich. Auch kann ich Ihnen Medikamente verschreiben, die vorübergehend die Symptome mildern. Der Effekt ist letztlich aber ähnlich wie bei
Präventive Maßnahmen
einem Brand, den Sie nicht dadurch löschen, indem Sie die Sirene abstellen. Eine langfristig befriedigende Lösung werden Sie vor allem dann erzielen, wenn Sie Ihre Stresskompetenz verbessern.
Literatur 1. Hohagen F, Nesseler T (Hrsg.). Wenn Geist und Seele streiken. Handbuch psychische Gesundheit. München: Südwest Verlag; 2006. 2. Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut (Hrsg); 2006. 3. Bush DE, Ziegelstein RC, Tayback M et al. Even minimal symptoms of depression increase mortality risk after acute myocardial infarction. Am J Cardiol. 2001; 88: 337-41. 4. Agelink MW, Baumann B, Sanner D et al. Komorbidität zwischen kardiovaskulären Erkrankungen und Depressionen. Dtsch Med Wochenschr. 2004; 129: 697-700.
6. Enzmann D, Kleiber D. Helfer-Leiden: Streß und Burnout in psychosozialen Berufen. Heidelberg: Asanger; 1989. 7. Mück-Weymann M. Die Variabilität der Herzschlagfolge – Ein globaler Indikator für Adaptivität in bio-psycho-sozialen Funktionskreisen. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation. 2002; 60: 324-30. 8. Mück-Weymann M. Depressionen und Herzratenvariabilität: Seelentief zwingt Herzschlag in enge Bahnen. Der Hausarzt. 2005; 3: 64-9. 9. Mück-Weymann M, Einsle F. Biofeedback. In: Köllner V, Broda M (Hrsg.). Praktische Verhaltensmedizin. Stuttgart: Thieme; 2005. 69-74. 10. Schumacher J, Leppert K, Gunzelmann T et al. Die Resilienz-Skala – Ein Fragebogen zur Erfassung der psychischen Widerstandsfähigkeit als Personmerkmal. Z. f. Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 2005; 53: 1639. 11. Wagnild GM, Young HM. Development and psychometric evaluation of the Resilience Scale. Nurs Meas. 1993; 1: 165-78.
5. Spitzer RL. Validation and utility of a self-report version of PRIME-MD: the PHQ primary care study. Primary Care Evaluation of Mental Disorders. JAMA 1999; 282: 1737-44.
183
17
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
18 Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik W. Kindermann, S. Schwarz, M. Halle
I ●
II
III ●
IV ●
V VI VII ●
184
Das Wichtigste in Kürze Die sportärztliche Gesundheitsuntersuchung dient der Erkennung latenter oder vorhandener Erkrankungen, die gerade bei sportlicher Betätigung eine Gefährdung darstellen könnten. Zusätzlich werden dem Sporttreibenden in einer sportmedizinischen Gesundheitsuntersuchung Hinweise für eine optimale Ausübung von Sport und körperlicher Aktivität gegeben. Differenzialdiagnostisch ist eine ausführliche Anamneseerhebung bedeutend für die Diagnosefindung. Hierzu können standardisierte Fragebögen hilfreich sein. Zu den obligaten Bestandteilen der sportmedizinischen Gesundheitsuntersuchung zählen nach ESC-Kriterien: Anamnese, körperliche Untersuchung und Ruhe-EKG. Ein Belastungs-EKG ist im Spitzensport zumindest in Deutschland ein weiterer obligater Bestandteil. Bei Freizeitsportlern sollte ein Belastungs-EKG zumindest bei Männern ab einem Alter von 40 Jahren (bei Frauen > 55 Jahren) und einem kardialen Risikoprofil von einem ausgeprägten oder zwei kardialen Risikofaktoren (nicht Alter oder Geschlecht) durchgeführt werden. Eine Echokardiografie wird bei Kadersportlern und im Profifußball durchgeführt. Die Durchführung einer leistungsdiagnostischen Untersuchung eröffnet dem Untersucher die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit des Sportlers im Vergleich zu Gleichaltrigen einzuschätzen, optimale Trainingsbereiche anzugeben und zusätzlich bei Folgeuntersuchungen Trainingseffekte dokumentieren zu können. Dabei wird die Belastungsuntersuchung mit einer Laktatdiagnostik oder spirometrischen Messung kombiniert.
18.1 Gesundheitsuntersuchung 18.1.1 Ziele Die zentrale Bedeutung einer aktiven Lebensweise in Verbindung mit gezielter, möglichst täglicher körperlicher Belastung mäßiger Intensität von mindestens 30 Minuten Dauer zur Primär- und Sekundärprävention chronischer Krankheiten ist wissenschaftlich unumstritten [LL 1, 1]. Körperliche Aktivität zur Prävention ist v. a. bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems von zentraler Bedeutung, aber auch bei anderen Erkrankungen wie Stoffwechselstörungen, orthopädischen Erkrankungen und Karzinomen. Daher empfehlen medizinische Fachgesellschaften regelmäßige körperliche Aktivität als wichtigen Bestandteil der Lebensstilintervention zur Prävention und Therapie zahlreicher Krankheiten [LL 1, LL 2, 1 – 3]. Trotzdem birgt jede sportliche Aktivität auch ein potenzielles Risiko. Kosten-Nutzen-Analysen belegen, dass der Nutzen regelmäßiger körperlicher Aktivität deutlich größer ist als eine mögliche Gefährdung. Dennoch ist bekannt, dass insbesondere Untrainierte eine deutlich erhöhte Mortalität unter Belastung haben als Trainierte [4, 5]. Insbesondere jenseits des 35. Lebensjahres ist die koronare Herzerkrankung (KHK) die häufigste Ursache, während bei Jüngeren angeborene Herzerkrankungen sowie hypertrophe Kardiomyopathie, Koronaranomalien, arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie bzw. Myokarditiden im Vordergrund stehen [LL 3, 6]. Die sportärztliche Vorsorgeuntersuchung im Sinne einer Gesundheitsuntersuchung dient der Erkennung latenter oder bereits vorhandener Krankheiten, die eine Gefährdung darstellen können. Die Vorsorgeuntersuchung soll gesundheitliche Risiken mindern oder vermeiden helfen, und eine optimale Ausübung von Sport und körperlicher Aktivität für jeden Sporttreibenden ermöglichen. Bei unauffälligem Ergebnis der Vorsorgeuntersuchung ist das gesundheitliche Risiko minimiert, wenngleich eine absolute Sicherheit nicht gegeben werden kann.
Gesundheitsuntersuchung
Leitlinienbox LL1: Haskell WL, Lee IM, Pate RR et al. Physical activity and public health: updated recommendation for adults from the American College of Sports Medicine and the American Heart Association. Circulation. 2007; 116 (9):1081-93. LL2: Smith SC Jr., Allen J, Blair SN et al. AHA/ACC guidelines for secondary prevention for patients with coronary and other atherosclerotic vascular disease: 2006 update: endorsed by the National Heart, Lung, and Blood Institute. Circulation. 2006; 113(19):2363-72. LL3: Pelliccia A, Fagard R, Bjornstad HH et al. Recommendations for competitive sports participation in athletes with cardiovascular disease: a consensus document from the Study Group of Sports Cardiology of the Working Group of Cardiac Rehabilitation and Exercise Physiology and the Working Group of Myocardial and Pericardial Diseases of the European Society of Cardiology. Eur Heart J. 2005; 26(14):1422-45.
18.1.2 Krankheits- und Sportanamnese Die Anamnese (gr. anamnesis = Erinnerung) dient dazu, die Vorgeschichte des Patienten im Kontext seiner aktuellen Beschwerden zu erheben und steht dabei am Beginn der ärztlichen Untersuchung. Eine gut geführte Anamnese gibt differenzialdiagnostisch entscheidende Hinweise und hilft, den weiteren Untersuchungsgang optimal zu planen. Um die Anamneseerhebung zu erleichtern, sollten Sportler und Patienten im Vorfeld der Untersuchung darauf hingewiesen werden, für einen evtl. vorhandenen Krankheitsverlauf relevante medizinische Befunde zum Untersuchungstermin mitzubringen. Des Weiteren ist es sinnvoll, dem Sportler und Patienten vor der Untersuchung einen standardisierten Fragebogen ausfüllen zu lassen, durch den alle relevanten Fragen zum Gesundheitszustand und Risikofaktoren abgedeckt sind (Abb. 18.1). Anhand der Antworten muss dann im Gespräch differenziert nachgefragt werden. Hierbei sollten alle in Abb. 18.2 und Tab. 18.1 genannten Aspekte berücksichtigt werden. In diesen Inhalten unterscheidet sich die sportärztliche nicht von der allgemeinärztlichen Gesundheitsuntersuchung. Zusätzlich zur allgemeinen Anamnese werden in der sportärztlichen Untersuchung im Rahmen der Sportanamnese die Sportart mit Anzahl der Trainingsjahre, Kaderzugehörigkeit, sportlichen Erfolgen sowie aktuellen Trainingsinhalten und -umfängen erfragt. Im Rahmen der Beschwerdeanamnese sollten immer aktuelle oder in der Vergangenheit während sportlicher Betätigung aufgetretene Symptome erfragt werden. Durch dezidierte Fragen können Hinweise auf sportbezogene Krankheitsbilder wie belastungsinduziertes Asthma bronchiale und
LL4: Corrado D, Pelliccia A, Bjornstad HH et al. Cardiovascular pre-participation screening of young competitive athletes for prevention of sudden death: proposal for a common European protocol. Consensus Statement of the Study Group of Sport Cardiology of the Working Group of Cardiac Rehabilitation and Exercise Physiology and the Working Group of Myocardial and Pericardial Diseases of the European Society of Cardiology. Eur Heart J. 2005; 26 (5):516-24. LL5: Maron BJ, Thompson PD, Ackerman MJ et al. Recommendations and considerations related to preparticipation screening for cardiovascular abnormalities in competitive athletes: 2007 update: a scientific statement from the American Heart Association Council on Nutrition, Physical Activity, and Metabolism: endorsed by the American College of Cardiology Foundation. Circulation. 2007; 115 (12):1643-455.
kardiovaskuläre Erkrankungen sowie ein erhöhtes kardiales Risiko von Freizeit- und Leistungssportlern ermittelt werden. Die Bedeutung der Anamnese wird durch Untersuchungen bekräftigt, die zeigen, dass ein hoher Prozentsatz von Athleten, die später an einem plötzlichen Herztod verstarben, vorher typische Beschwerden oder eine positive Familienanamnese schilderten. Hierzu zählen in der Familienanamnese Fälle von Kardiomyopathien, Marfan-Syndrom, frühe Atherosklerose oder plötzliche Herztodfälle in einem Alter < 55 Jahren; in der Eigenanamnese ist auf Synkopen und Präsynkopen sowie Palpitationen unter Belastung und thorakale Schmerzen zu achten.
18.1.3 Körperliche Untersuchung Die körperliche sportmedizinische Untersuchung umfasst immer eine allgemeinmedizinisch-internistische, orthopädische und orientierende neurologische Untersuchung des Sporttreibenden. Die orthopädische Untersuchung kann dabei – je nach Belastungsmuster der einzelnen Sportart und bestehenden Beschwerden – umfangreicher ausfallen und sollte insbesondere die sportartspezifisch beanspruchten Gelenke und den Muskel-Sehnen-Apparat berücksichtigen. Als orthopädische Basisuntersuchung werden bei jedem Freizeit- und Leistungssportler muskuläre Dysbalancen, Flexibilität und Stellung der Körperachse untersucht, um korrigierbare Fehlstellungen wie einen bestehenden Knick-Senk-Spreizfuß ausgleichen zu können. Die großen Gelenke müssen inspiziert, auf Mobilität getestet und mittels weiterer spezifischer Tests (z. B. Lachman-Test am Kniegelenk) untersucht werden. Von
185
18
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
Abb. 18.1 PAR-Q-Fragebogen.
PAR-Q-Fragebogen Dieser Fragebogen soll Ihnen helfen herauszufinden, ob Sie vor Beginn der körperlichen Aktivität oder Sport einen Arzt aufsuchen sollten. In einem Alter von 35 bis 60 Jahren ist eine sportärztliche Vorsorgeuntersuchung sinnvoll. Bei einem Alter über 60 Jahren sollten Sie in jedem Fall eine solche ärztliche Untersuchung vornehmen lassen. Beantworten Sie die untenstehenden Fragen nach bestem Wissen und Gewissen und mit etwas „gesundem“ Menschenverstand.
I
Name:
Vorname:
Geburtsdatum:
Anschrift:
II
III IV V VI VII
Hat Ihnen jemals ein Arzt gesagt, Sie hätten „etwas am Herzen“ und Ihnen Bewegung und Sport nur unter ärztlicher Kontrolle empfohlen?
ja
nein
Hatten Sie im letzten Monat Schmerzen in der Brust in Ruhe oder bei körperlicher Belastung (Anstrengung)?
ja
nein
Haben Sie Probleme mit der Atmung in Ruhe oder bei körperlicher Belastung?
ja
nein
Sind Sie jemals wegen Schwindel gestürzt oder haben Sie schon jemals das Bewusstsein verloren?
ja
nein
Haben Sie Knochen- oder Gelenkprobleme, die sich unter körperlicher Belastung verschlechtern könnten?
ja
nein
Hat Ihnen jemals ein Arzt ein Medikament gegen hohen Blutdruck oder wegen eines Herzproblems oder Atemproblems verschrieben?
ja
nein
Kennen Sie irgendeinen weiteren Grund, warum Sie nicht körperlich/ sportlich aktiv sein sollten?
ja
nein
Falls Sie eine oder mehrere Fragen mit JA beantwortet haben, sollten Sie, bevor Sie sportlich aktiv werden, Ihren Arzt aufsuchen und sich untersuchen und beraten lassen.
Datum ...........................................
Unterschrift ................................................................
Tabelle 18.1 Wichtige Fragen bei der Sportanamnese. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Wurde Ihnen jemals schwindelig oder unwohl unter oder nach einer Belastung? Hatten Sie jemals Brustschmerzen während oder nach einer Belastung? Ermüden Sie schneller als Ihre Sportkameraden während einer Belastung? Hatten Sie jemals Herzrasen oder Herzstolpern? Haben Sie einen erhöhten Blutdruck, auffällige Cholesterinwerte oder einen Diabetes? Hat Ihnen jemals ein Arzt gesagt, Sie hätten ein Herzgeräusch? Ist einer Ihrer Verwandten vor dem 50. Lebensjahr verstorben? Hat einer Ihrer Verwandten eine Kardiomyopathie, ein Marfan-Syndrom oder Herzrhythmusstörungen? Hatten Sie eine schwere Virusinfektion wie ein PfeifferDrüsenfieber oder eine Herzmuskelentzündung? Wurde Ihnen in der Vergangenheit ein ärztliches Attest zur sportlichen Teilnahme verweigert?
186
neurologischer Seite ist eine orientierende Testung von Sensibilität, Kraft und Reflexen sinnvoll. Insbesondere bei bestehenden Erkrankungen wie z. B. dem metabolischen Syndrom oder einem langjährigen Diabetes mellitus ist eine ausgedehnte, auf mögliche Komplikationen der Grunderkrankung ausgerichtete, spezifische Diagnostik (in diesem Fall KHK, Retinopathie, Neuropathie) notwendig.
Anthropometrie Zur Einschätzung des Ernährungs- und Trainingszustandes sollten verschiedene Parameter der Anthropometrie erhoben werden. Hierzu zählen die Körpergröße, das Gewicht, der Bauchumfang und der Körperfettgehalt. Aus diesen Parametern lässt sich – teils alterskorrigiert – die Körperkomposition bestimmen. Dabei sollten die Größe und das Gewicht gerade bei Kindern in Bezug zur Altersperzentile gesehen werden, um das Wachstum adäquat beurteilen zu können. Des Weiteren hat sich als Bezuggröße von Gewicht zu Körpergröße weltweit der Body-Mass-Index (BMI) durch-
Gesundheitsuntersuchung
Angaben zur Person Name, Vorname: Geburtsdatum: PLZ/Ort: Straße: Telefon: weiblich
Fragebogen für den Sportler
Datum:
Abb. 18.2 Anamnesefragebogen für den Sportler (Empfehlungen der DGSP).
männlich
Erkrankungen in der Familie (Familie bedeutet: Mutter, Vater, Geschwister, Großeltern) ja
nein
ja
nein
ja
nein
4 Liegt bei einem nahen Verwandten eine auffällige Herzkrankheit vor? Wenn ja, welche
ja
nein
5 Ist ein Schlaganfall in der Familie aufgetreten? Bei wem? In welchem Alter?
ja
nein
ja
nein
ja
nein
ja
nein
10 Ist bei Ihnen eine Herzkrankheit bekannt? Wenn ja, welche/seit wann?
ja
nein
11 Sind Ihnen sonstige Krankheiten bekannt? Wenn ja, welche/seit wann?
ja
nein
12 Fühlen Sie sich jetzt gesund? Wenn nein, welche Beschwerden haben Sie?
ja
nein
ja ja ja ja ja
nein nein nein nein nein
1 Starb ein naher Verwandter unter 55 Jahren an Herzinfarkt? Wenn ja, wer? In welchem Alter?
18
Jahre
2 Ist ein Familienmitglied zuckerkrank (Diabetes mellitus)? Wenn ja, wer? In welchem Alter?
Jahre
3 Hat sich in der Familie ein plötzlicher Herztod ereignet? Wenn ja, wer? In welchem Alter? ja, welche? Ursache bekannt:
Jahre nein
Jahre
Eigene frühere Erkrankungen 6 Sind Ihnen Kinderkrankheiten bekannt? Masern
Mumps
Röteln
Windpocken
Scharlach
Keuchhusten
Sonstige:
7 Bisherige Operationen Mandeloperation Blinddarmoperation Leistenbruchoperation Sonstige:
wann? wann? wann? wann?
8 Unfälle/Brüche Wenn ja, welche/wann? Krankheiten 9 Hat ein Arzt Ihnen gesagt, Sie hätten ein vergrößertes Herz? Wenn ja, wann?
Spezielle Fragen 13 Hatten Sie in den letzten zwei Jahren: – Plötzliche Ohnmachten beim Sport (Kollaps)? Wenn ja, wann? – Bewusstlosigkeit oder Schwindel beim Sport? Wenn ja, wann? – Herzschmerzen beim Sport? Wenn ja, seit wann? – Herzstolpern beim und nach dem Sport? Wenn ja, seit wann? – Ungewöhnliche Luftnot beim Sport? Wenn ja, seit wann? 14 Besteht ein erhöhter Blutdruck?
Wenn ja, seit wann?
15 Haben Sie Beschwerden an Muskeln oder Gelenken? Wenn ja, wo?
ja nein unbekannt ja nein
16 Fühlen Sie Unsicherheiten bei körperlicher Belastung?
ja
nein
17 Bei Frauen: Sind Sie schwanger?
ja
nein
Fortsetzung auf der nächsten Seite
187
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
Abb. 18.2 Fortsetzung. Fortsetzung des Fragebogens 18 Haben Sie irgendwelche Beschwerden?
ja
nein
ja
nein
20 Leiden Sie unter Herzschmerzen (Enge im Brustkorbbereich)?
ja
nein
21 Sind Ihnen Allergien bekannt? Wenn ja, welche?
ja
nein
22 Haben Sie in den letzten Wochen deutlich an Gewicht verloren (> 2 kg)?
ja
nein
23 Hatten Sie in den letzten Wochen einen Infekt/Erkältung ?
ja
nein
ja ja ja ja ja
nein nein nein nein nein
ja
nein
ja
nein
ja
nein
Wenn ja:
Schlafstörungen
Appetitmangel
Verstopfung
Beschwerden beim Wasserlassen
Sonstiges
I II
III IV V
19 Leiden Sie unter Atembeschwerden? Atemnot
Husten
Auswurf
Risikofaktoren 24 Bestehen – Rauchen – Übergewicht – Fettstoffwechselstörung – Zuckerkrankheit – Trinken Sie regelmäßig Alkohol? Bier Wein Schnaps Gläser pro
Tag
Woche?
Bisherige Impfungen 25 Nur Ihnen bekannte Impfungen eintragen Tetanus, zuletzt am?
VI
Masern
Tuberkulose Keuchhusten
Hepatitis (Leberentzündung):
VII
A
Windpocken
B
Sonstige:
Medikamente 26 Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein? Wenn ja, welche? Vorgeschichte zum Sport Sportart
von
bis
(Jahr)
(Jahr)
Trainingseinheiten pro Woche
Zeit pro Trainingseinheit pro Minuten
regelmäßig unregelmäßig regelmäßig unregelmäßig regelmäßig unregelmäßig regelmäßig unregelmäßig
27 In welcher Trainingsperiode befinden Sie sich? Vorbereitung
Wettkampf
Übergangsperiode
Übungsleiter
Sportlehrer
28 Sind Sie selber? Trainer
29 Bestand in der letzten Zeit eine Sportpause von mehr als zwei Wochen? Wenn ja, warum? Bestleistungen Disziplin
188
Leistung
Platzierung
Jahr
Gesundheitsuntersuchung
gesetzt. Ein Wert zwischen 19 – 24,9 kg/m2 wird bei Erwachsenen als normalgewichtig angesehen. Zwischen 25 – 29,9 kg/m2 spricht man von Übergewicht, ab 30 kg/ m2 von Adipositas. Bei Athleten und ambitionierten Freizeitsportlern – v. a. aus dem Kraftbereich – ergibt sich aufgrund einer erhöhten Muskelmasse häufig das Problem eines erhöhten BMI trotz niedrigem Körperfettgehalt. Daher sollte die Messung des BMI immer durch weitere, die Fettverteilung bestimmende, Parameter ergänzt werden. In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass v. a. das abdominale (viszerale) Fett, das sich um die inneren Organe ablagert, mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko assoziiert ist. Eine einfache Methode, das viszerale Bauchfett abzuschätzen, ist die Messung des Bauchumfanges. Dabei sollte das Maßband in der Mitte zwischen der Spina iliaca anterior superior und dem unteren Rippenbogen um den Bauch in Exspiration geführt werden (Normalwerte < 80 cm bei Frauen, < 94 cm bei Männern). Ist der Umfang größer, besteht ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Zur Bestimmung des Körperfettanteils haben sich in der sportmedizinischen Praxis aufgrund ihrer Praktikabilität die Calipermethode mit Messung der Hautfettfaltendicke, die Bioimpedanzanalyse (BIA) und Luftverdrängungsplethysmografie (BodPod) bewährt. Die beiden letzteren Methoden sind aber eher ungenau oder anfällig für Anwendungsfehler. Calipermessung. Mit einem Caliper, d. h. einer speziellen Zange zur Messung der Hautfettfaltendicke, lässt sich der Körperfettanteil des Unterhautfettgewebes ermitteln. Hierzu werden die Hautfettfalten an mehreren anatomisch definierten Messpunkten (Hüfte, Bizeps, Trizeps, unterhalb des Schulterblatts, thorakal, paraumbilikal und am Oberschenkel) erfasst. Über die Summe der Messpunkte kann dann nach Umrechnung über ein alters-, geschlechts- und gewichtskorrigiertes Nomogramm eine Aussage über den Körperfettgehalt getroffen werden. Dabei sollte beachtet werden, dass mittels Calipermethode das Unterhautfettgewebe gemessen wird und daher nur ein ungenauer Bezug zum Gesamtkörperfettgehalt besteht. Der gemessene Körperfettanteil sollte daher immer in Bezug zum Bauchumfang gesehen werden, der eine grobe Abschätzung des viszeralen Fettanteils ermöglicht. Bioimpedanzanalyse (BIA). Die Impedanzmessung bestimmt mittels eines geringen Stromflusses die elektrische Leitfähigkeit des Körpers. Das magere Muskelgewebe hat wegen des höheren Flüssigkeits- und Elektrolytgehalts eine größere elektrische Leitfähigkeit als das Fettgewebe, sodass durch den gemessenen Widerstand auf die im Organismus vorhandene Fett- und Magermasse geschlossen werden kann. Die Normwerte für das Körperfett sind abhängig von Alter, Geschlecht und Aktivitätslevel. Diese Methode ist durch viele Störfaktoren nur eingeschränkt beurteilbar und sollte nach Möglichkeit
immer unter vergleichbaren Bedingungen durchgeführt werden. Körperkompositionsbestimmung mittels BodPod. Eine weitere Methode ist die Luftverdrängungsplethysmografie, mit deren Hilfe das Körpervolumen durch Luftverdrängung ermittelt wird. Die neuesten Geräte benutzen eine Zweikammertechnik, die Änderungen des Druckes in einer geschlossenen Kammer ins Körpervolumen umrechnen können (BodPod). Die Methode hat den Nachteil, dass sie technisch relativ aufwendig und anfällig ist.
Allgemeinmedizinische Untersuchung Die sportmedizinische klinische Untersuchung unterscheidet sich nicht wesentlich von der allgemeinen Ganzkörperuntersuchung. Unterschiede bestehen in zusätzlichen präventiv-medizinischen Aspekten (dermatologische Untersuchung, u. U. Initiierung weiterer onkologischer Diagnostik wie rektale Untersuchung, FOBT (fäkaler okkulter Bluttest, z. B. Haemoccult) oder Koloskopie und Erhebung des Impfstatus) und spezifischen sportmedizinischen Fragestellungen insbesondere orthopädischer Genese. Allgemeine Untersuchungsschwerpunkte sind hier: ● Gesamteindruck: Bezug Größe zu Gewicht, bei auffälligem Größenwuchs sollte die Diagnose eines MarfanSyndroms klinisch ausgeschlossen werden (Arachnodaktylie, Pectum excavatum und Spannweite Arme > Körpergröße). ● Augen: Visus, Linsendeformation, ausgeprägte Myopie, Schielen ● Herzauskultation: im Liegen, Stehen und bei ValsalvaManöver; Hinweis auf pathologisches Herzgeräusch ● Pulsstatus: abgeschwächter Femoralarterienpuls als Hinweis auf eine Aortenisthmusstenose ● Blutdruck: Messung nach Riva-Rocci an beiden Armen, Beurteilung sollte gerade bei Kindern und Jugendlichen immer in Bezug auf das Alter, die Größe und das Geschlecht des Sporttreibenden erfolgen. ● Lunge: Perkussion und Auskultation (Giemen, vermehrter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, verlängertes Exspirium); bei anamnestischem Verdacht auf Asthma bronchiale ist eine weiterführende apparative Untersuchung notwendig (Lungenfunktion, Metacholinprovokationstest, Belastungsspirometrie). ● Abdomen: Hepatomegalie, Splenomegalie, Resistenzen ● Bewegungsapparat: orthopädische Basisuntersuchung mit Test der Flexibilität (Finger-Boden-Abstand), Fußdeformitäten, Rumpf und Wirbelsäule (Skoliose, Hyperlordose, Kyphose), Untersuchung folgender Gelenkregionen: Schulter, Ellenbogen, Hand, Finger, Hüfte, Knie, Sprunggelenke, Ermittlung des Muskelstatus und muskulärer Dysbalancen ● Haut: Hautveränderungen (Nävuszellnävi, Exantheme, Pilzinfektionen)
189
18
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
18.1.4 Technische Diagnostikverfahren Ruhe-EKG
I II
III IV V VI VII
Ein 12-Kanal-EKG ist nach Empfehlung der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) und der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) eine obligate Untersuchung im Rahmen der sportmedizinischen Gesundheitsuntersuchung [LL 4]. Ein Ruhe-EKG sollte daher zumindest alle 2 Jahre im Rahmen der sportmedizinischen Untersuchung bei allen Sportlern durchgeführt werden, denn es kann mit Veränderungen auf viele den plötzlichen Herztod auslösende Herzerkrankungen hinweisen. Hierzu zählen bspw. das Long-QTSyndrom, Brugada-Brugada-Syndrom, Präexzitationssyndrome wie das WPW-Syndrom, eine hypertrophe Kardiomyopathie, eine arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie und bei älteren Sportlern die KHK mit Zeichen der myokardialen Schädigung. Ergibt das Ruhe-EKG einen pathologischen Befund, so sollte eine weiterführende kardiologische Abklärung (Belastungs-EKG, Echokardiografie, Langzeit-EKG etc.) erfolgen. Wichtig zu beachten ist die Tatsache, dass insb. ausdauertrainierte Sportler ein Vagotonie-EKG haben, welches durch Bradykardie, in den Brustwandableitungen überhöhte R-Zacken und einen erhöhten ST-Streckenabgang, seltener AV-Blockierungen oder AV-Dissoziation (Abb. 18.3) charakterisiert ist. Ein wesentliches Kriterium des pathologischen EKG sind Repolarisationsstörungen, die aber ebenfalls bei Sportlern vorkommen können. Vagotonieinduzierte Veränderungen des Ruhe-EKG konvertieren unter Belastung, sodass bei Auffälligkeiten auch immer eine Belastung mit EKG-Registrierung durchgeführt werden sollte.
18.1.5 Belastungs-EKG Im Spitzensport sollte das Belastungs-EKG obligater Bestandteil einer sportmedizinischen Gesundheitsuntersuchung sein. Für alle anderen Sporttreibenden unter 35 Jahren wird diese Untersuchung nur als optional betrachtet. Die American Heart Association (AHA) [LL 5] empfiehlt die zusätzliche Durchführung eines BelastungsEKG unter folgenden Voraussetzungen: Wettkampfsportler über 40 Jahre (Frauen > 55 Jahre), wenn ein kardiovaskuläres Risikoprofil mit zwei kardialen Risikofaktoren oder einem deutlich pathologischen Risikofaktor vorliegt. Besonders sollten kardiale Prodromi wie Brustschmerzen oder Luftnot bei Belastung für eine Indikationsstellung beachtet werden. Belastungsmethode der Wahl in Mitteleuropa ist die Fahrradergometrie in sitzender Position [7]. Diese Belastungsform ist gut standardisierbar, dosierbar und reproduzierbar. Da es sich um eine Gesundheitsuntersuchung handelt, muss die Belastung nicht sportartspezifisch durchgeführt werden. Leistungsdiagnostische Ableitungen sind daher gerade bei Läufern nur sehr eingeschränkt
190
möglich. Die Belastung erfolgt als Stufentest. Je nach Leistungsfähigkeit ist die Eingangsstufe 25 W (Patienten) bis 150 W (hochtrainierte Sportler), bei Sportlern wird in der Regel um jeweils 50 W gesteigert, die Stufendauer beträgt gewöhnlich 2 oder 3 Minuten. Die Belastung erfolgt drehzahlunabhängig; Drehzahlen zwischen 60 und 90 pro Minute werden empfohlen. Es erfolgt eine kontinuierliche EKG-Registrierung. Am Ende jeder Belastungsstufe wird der Blutdruck gemessen. Grundsätzlich ist eine Ausbelastung anzustreben. Das wichtigste subjektive Kriterium der Ausbelastung ist das Anstrengungsempfinden, das anhand der Borg-Skala von 6 – 20 eingeschätzt wird. Eine Erschöpfung ist ab einem Borgwert von ≥ 17 erreicht. Weitere Ausbelastungskriterien erfordern zusätzliche Messungen (Laktat, Spiroergometrie). Der Gesunde ermüdet bei der Fahrradergometrie in der Regel muskulär, während eine deutliche Dyspnoe meist pathologisch ist. Angina pectoris, erhebliche Dyspnoe, Schwindel, EKG-Veränderungen einschließlich höhergradige Rhythmusstörungen und hoher Blutdruckanstieg sind Gründe, die Belastung vorzeitig abzubrechen. Die genannten Symptome und Befunde sind keine Ausbelastungs-, sondern Abbruchkriterien. Der systolische und diastolische Blutdruck ist in der Regel auch unter Belastung manuell zuverlässig messbar. Allgemein gilt ein systolischer Blutdruck ≥ 250 mmHg und diastolisch von ≥ 120 mmHg als Abbruchkriterium. Zum Belastungs-EKG gehört auch eine mindestens 5minütige Erholungsphase mit EKG und Blutdruckmessung. Der Blutdruck sollte 5 min nach Belastungsende unter 140/90 mmHg liegen. Unmittelbar nach Belastung sollte der Sportler aufgefordert werden, bei niedriger Intensität 1 – 2 min weiterzutreten, um eine orthostatische Reaktion infolge eines venösen „Pooling“ zu vermeiden. Bei der Beurteilung des Belastungs-EKG hat der Ischämienachweis mittels ST-Strecken-Analyse wesentliche Bedeutung. Horizontale oder deszendierend verlaufende ST-Strecken-Senkungen in den Brustwandableitungen von > 0,1 mV oder ST-Strecken-Hebungen gelten als pathologisch. Eine Ischämielokalisation anhand der Ableitungen mit ST-Strecken-Senkungen ist nicht möglich. Sensitivität und Spezifität werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Wichtige Ursachen für falsch negative Befunde sind fehlende Ausbelastung und Medikamente wie Betablocker oder Kalziumantagonisten. Bereits im Ruhe-EKG bestehende Veränderungen (z. B. Linksschenkelblock, WPW-Syndrom, ST-Senkungen), andere kardiale Erkrankungen (z. B. Hypertonie, Aortenvitium, Mitralklappenprolaps) oder bestimmte Medikamente (z. B. Digitalis) können zu falsch positiven Befunden führen. Frauen zeigen häufiger falsch positive Befunde als Männer. ST-Senkungen und gleichzeitig Angina pectoris erhöhen die Aussagekraft. Alleinige T-WellenVeränderungen unter Belastung sind vieldeutig und häufig nicht pathologisch. Rhythmusstörungen, die unter Belastung zunehmen oder neu auftreten (ausgenommen vereinzelte Extrasystolen), sind bei sportmedizinischen
Gesundheitsuntersuchung
Abb. 18.3 Ruhe-EKG-Beispiele einer Normalperson (a) und eines Ausdauersportlers (b).
18
a
b
Gesundheitsuntersuchungen bedeutungsvoll und weiter abzuklären. Leistungsbeurteilung und Trainingsempfehlungen werden im Abschnitt 18.2 (S. 193) dargestellt.
Echokardiografie Die Echokardiografie, in der Regel als Farb-Doppler-Echokardiografie durchgeführt, wird für Spitzensportler empfohlen. Die Kosten-Nutzen-Relation ist zwar ungünstig, aber die hohen Belastungen, die öffentliche Aufmerksam-
191
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
I II
III IV V VI VII
keit und der häufig als Beruf ausgeübte Sport rechtfertigen diesen Aufwand. Bei allen anderen Sportlern wird eine Ultraschalluntersuchung des Herzens nicht routinemäßig durchgeführt, sondern nur zur Abklärung auffälliger Beschwerden und Befunde. Die Echokardiografie ermöglicht in den meisten Fällen die Differenzierung zwischen physiologischer und pathologischer linksventrikulärer Hypertrophie. Sie ist die Referenzmethode für die Diagnostik der hypertrophen Kardiomyopathie, die bei jüngeren Sportlern die häufigste Ursache für den plötzlichen Herztod darstellt. Bei einer physiologischen Sportherzhypertrophie sind die Kammerwände selten dicker als 13 mm, ein Innendurchmesser des linken Ventrikels von über 60 mm ist auch bei hoch ausdauertrainierten Sportlern nicht häufig. In Einzelfällen wurden bei großen Körperdimensionen (Ruderer) bis zu 67 mm gemessen (Tab. 18.2). Eine konzentrische linksventrikuläre Hypertrophie ist nicht sportbedingt. Auch Kraftsport per se führt zu keinen verdickten Kammerwänden. Bei Sportlern weisen verdickte Kammerwände bei nicht vergrößertem linkem Ventrikel auf eine pathologische Hypertrophie hin. Die häufigsten Ursachen sind hypertrophe Kardiomyopathie, pathologische Druckbelastungen oder auch Doping, insb. bei Missbrauch von Anabolika. Ein recht zuverlässiges differenzialdiagnostisches Kriterium zwischen physiologischer und pathologischer Hypertrophie ist die diastolische Funktion, die bei der Sportherzhypertrophie immer normal bis hoch normal ist (Tab. 18.2). Die GewebeDoppler-Echokardiografie mit Bestimmung der Herzmuskelgeschwindigkeiten und dem hieraus abgeleiteten Strain rate imaging ist hierbei sehr hilfreich (s. Kap. 3). Bei Sportlern mit überdurchschnittlicher Körpergröße (Basketball, Volleyball, Hochsprung) besteht eine höhere Inzidenz kardialer Marfan-Manifestationen (Aortenektasie, Mitralklappenprolaps). Diese Veränderungen können durch die Echokardiografie zuverlässig nachgewiesen werden. Hingegen sind angeborene fehlerhafte Koronararterienabgänge oder die arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie als potenzielle Ursachen für einen
plötzlichen Herztod beim Sport nur unter außergewöhnlich guten Schallbedingungen echokardiografisch festzustellen. Bei Verdacht auf Myokarditis gibt es keine charakteristischen echokardiografischen Befunde, aber nicht selten wichtige Hinweise wie Perikarderguss, eingeschränkte globale systolische Funktion, regionale systolische oder auch diastolische Wandbewegungsstörungen oder Ventrikeldilatation. In diesen Fällen können weitere schnittbilddiagnostische Methoden wie die MRT oder CT aufschlussreich sein (s. Kap. 3). Schließlich kann echokardiografisch das Herzvolumen zur Beurteilung der kardialen Adaptation bestimmt werden. Die normale Herzgröße beträgt bei Männern und Frauen 10 – 12 bzw. 9 – 11 ml/kg, im Extremfall können Sportherzen doppelt so groß sein (Tab. 18.2). Darüber hinaus kann die linksventrikuläre Muskelmasse bestimmt werden, die in der klinischen Kardiologie wesentlich verbreiteter ist als das Herzvolumen.
Laboruntersuchungen Eine Gesundheitsuntersuchung bei Sportlern sollte auch Laborwerte beinhalten. Das diesbezügliche Spektrum wird im Spitzensport am größten sein. Neben kardiovaskulären Risikofaktoren (Triglyzeride und Cholesterin inkl. Unterfraktionen, Glukose), Leber- und Nierenfunktionswerten, Harnsäure (erhöhte Verletzungsanfälligkeit bei Hyperurikämie!) ist bei Sportlern auch das rote Blutbild einschließlich des Eisenhaushalts relevant. Insbesondere bei Ausdauersportlern, v. a. bei Langstreckenläufern, sind Eisenmangelzustände relativ häufig. Deshalb gehört die Bestimmung von Ferritin als Marker für das Speichereisen zum Laborspektrum im Spitzensport. Auch wichtige Elektrolyte wie Kalium, Natrium und Magnesium werden routinemäßig bestimmt. Die Messung der Kreatinkinase-(CK-)Aktivität stellt einen Laborparameter zur Beurteilung der muskulären Beanspruchung dar. Aus diagnostischer Sicht kann die CK bei der Abklärung erhöhter Transaminasen weiterhel-
Tabelle 18.2 Echokardiografische Grenzwerte bei Sportlern [12].
Herzvolumen (ml/kg)
Männer
Frauen
20
19
Herzgewicht (g/kg)
7,5
7
LVMM (g/m2)
170
135
LVEDD (mm)
63 (–67*)
60 (–63*)
LV-Wanddicken (mm)
13
12
Verkürzungsfraktion (%)
> (22–) 27 ↑Belastung
> (22–)27 ↑Belastung
E/A-Verhältnis
> 1,0
> 1,0
linker Vorhof (mm)
45 (–48*)
43 (–45*)
LVMM = linksventrikuläre Muskelmasse; LVEDD = enddiastolischer Durchmesser des linken Ventrikels; LV = linker Ventrikel; E/A = Verhältnis zwischen früh- und spätsystolischer transmitraler Flussgeschwindigkeit; *bei großen Körperdimensionen
192
Leistungsdiagnostik
fen. Sportliche Belastungen führen häufig zu Transaminasenerhöhungen, insb. der GOT (Glutamat-Oxalat-Transaminase), da der Skelettmuskel über eine entsprechende Aktivität verfügt. Bei gleichzeitiger deutlicher Erhöhung der CK ist eine pathologische Ursache erhöhter Transaminasen unwahrscheinlich, sodass sich eine ausführliche Leberdiagnostik erübrigt.
18.2 Leistungsdiagnostik 18.2.1 Aktuelle Leistungsfähigkeit, Leistungsprognose und Trainingssteuerung Die Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit mittels Ergometrie erfolgt sowohl über maximale als auch submaximale Parameter. Die Validität von Maximalmessungen wird v. a. vom Ausbelastungsgrad beeinflusst. Einfach messbare maximale Parameter bei der Fahrradund Laufbandergometrie sind die maximale Leistung (Wattmax) und maximale Geschwindigkeit (Vmax). Wird eine Spiroergometrie durchgeführt, kann die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) bestimmt werden. Der wesentliche Vorteil submaximaler Parameter zur Beurteilung der ergometrischen Leistungsfähigkeit liegt in der Unabhängigkeit von der Ausbelastung und damit von der Motivation oder Tagesform. Die Bestimmung über unterschiedliche Schwellenkonzepte ist aber komplexer und benötigt einige Erfahrung. Grundsätzlich unterscheidet man Laktatschwellen (ermittelt über die Laktatleistungskurve), ventilatorische Schwellen (spiroergometrische Bestimmung) und über die Herzfrequenzleistungskurve ermittelte submaximale Parameter wie PWC (power work capacity, zugeordnet einer bestimmten Herzfrequenz) oder Conconi-Schwelle. Im Leistungssport werden überwiegend Laktatschwellen angewandt, deren Reliabilität gegenüber den ventilatorischen Schwellen höher eingeschätzt wird. Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit sind nicht identisch. Die Belastbarkeit entspricht einer Belastungsintensität, die symptomfrei und ohne Auftreten von krankhaften Befunden geleistet werden kann. Sportler mit Herzerkrankungen (z. B. hypertrophe Kardiomyopathie) können sehr gut leistungsfähig sein, ohne dass volle Belastbarkeit besteht. Bei Patienten ist die beschwerdefreie Leistungsfähigkeit entscheidend für die Belastbarkeit. Einmalige Ergometertests erlauben keine Leistungsprognose. Solche sind in gewissen Grenzen nur im Längsschnitt und im Kontext mit der Trainingsanamnese möglich. Wenn ein Ausdauersportler nach jahrelangem Training eine VO2max von 60 ml/min/kg aufweist, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden, dass Spitzenwerte von über 75 – 80 ml/min/kg nicht erreicht werden können.
Bei der einfachen Fahrradergometrie orientiert man sich für die Beurteilung der maximalen Leistungsfähigkeit an der maximalen Wattzahl. Für gesunde Untrainierte beträgt die normale maximale Leistung 3 W/kg (Männer) und 2,5 W/kg (Frauen). Jenseits des 3. Lebensjahrzehnts fällt die Leistung um ca. 10 % pro Lebensdekade ab. Hochausdauertrainierte Sportler können bis 6 W/kg (Männer) bzw. 5 W/kg (Frauen) erreichen. Ergometrische Daten bilden die Grundlage für Trainingsempfehlungen. Das betrifft sowohl präventive und rehabilitative Aktivitäten als auch den Leistungssport. Bei Letzterem spricht man von Trainingssteuerung. Im Gesundheitssport werden bestimmte Prozentsätze der VO2max oder der maximalen Herzfrequenz für das Training vorgegeben. Derartige Ableitungen sind ungenau, insbesondere wenn berücksichtigt wird, dass der Bezugspunkt vom Grad der Ausbelastung abhängig ist. Außerdem konnte gezeigt werden, dass bei fixen Prozentsätzen der VO2max oder der maximalen Herzfrequenz die metabolische Beanspruchung interindividuell erheblich streut [8]. Eine Trainingssteuerung auf der Basis von Schwellen scheint hingegen valider zu sein. Der aerob-anaerobe Übergang, d. h. der Bereich zwischen erstem Anstieg von Laktat und maximalem Laktat-Steady-State bzw. aerober und anaerober Schwelle (auch über ventilatorische Schwellen bestimmbar), ist für den Gesundheitssport und auch für die meisten Ausdauertrainingsformen im Leistungssport der adäquate Trainingsbereich. Aber auch überschwellige Intensitäten für ein Intervalltraining, wie im Leistungssport üblich, können über dieses Konzept abgeleitet werden (s. u. Laktatdiagnostik).
18.2.2 Geeignete Ergometrieformen Ist eine Leistungsdiagnostik das primäre Ziel, wird die Wahl der Belastungsform von der betriebenen Sportart bestimmt. Es müssen jene Muskelgruppen im Test eingesetzt werden, die spezifisch trainiert sind. Deshalb ist in den leichtathletischen Laufdisziplinen, den großen Sportund den Rückschlagspielen die Laufbandergometrie die Methode der Wahl. Radsportler werden auf dem Fahrradergometer belastet, Triathleten führen meist zwei Tests durch (Fahrrad- und Laufbandergometrie). Darüber hinaus gibt es weitere spezifische Testverfahren, bspw. für Ruderer die Ruderergometrie. Im Rahmen von gesundheitssportlichen Aktivitäten wird man in der Regel eine Fahrradergometrie durchführen. Hinsichtlich der Belastungsprotokolle unterscheidet man im wesentlichen Stufen- und Rampentests. Für die Laktatdiagnostik werden Stufentests bevorzugt, da damit die Laktatschwellen am besten abgebildet werden können. Hingegen werden rampenartige Belastungsprotokolle, bei denen die Belastung gleitend oder in sehr kurzen Stufen ansteigt, zur Bestimmung spiroergometrischer Parameter und ventilatorischer Schwellen bevorzugt.
193
18
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
Laktatdiagnostik
III IV V
16
200
14
180
12
160 140 120
regeneratives Training (KB) extensives Grundlagentraining (GA1) intensives Grundlagentraining (GA2) Herzfrequenz
10 Laktat 8 6
100
4
80
2
60
0
Schwellentraining (EB) 0
50
100
150
a
Herzfrequenz (Schläge/min)
VII
Herzfrequenz (Schläge/min)
VI
220
Laktat (mmol/L)
II
Die Laktatdiagnostik, bis vor wenigen Jahren meist Leistungssportlern vorbehalten, wird zur Ermittlung optimaler Trainingsbereiche immer häufiger auch im Freizeitsportbereich angewendet. Wie zuvor beschrieben, lässt sich die Ausdauerleistungsfähigkeit am besten durch einen Belastungstest auf dem Fahrrad oder Laufband mit stufenförmig steigender Belastungsintensität ermitteln. Dabei werden auf jeder Stufe der Belastung die Herzfrequenz mittels EKG (oder auch über drahtlose Herzfrequenzmesser, sog. Pulsuhren) und die Laktatkonzentration durch Entnahme von 20 μl Kapillarblut aus dem hyperämisierten Ohrläppchen ermittelt. Aus der Beziehung zwischen Belastungsintensität und gemessener Laktatkonzentration (Laktatleistungskurve) lassen sich dann je nach Trainingsziel individuelle optimale Belastungsintensitäten ableiten und Herzfrequenzen zuordnen. Mit steigender Belastungsintensität kommt es in Abhängigkeit vom Trainingszustand zu einer mehr oder weniger starken Bildung von Laktat, das aus den an der
220
16
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14
180
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160 140 120
Laktat (mmol/L)
I
Muskelarbeit beteiligten Muskelzellen ins Blut diffundiert und dort zu einer Erhöhung der Blutlaktatkonzentration führt. Das im Blut zirkulierende Laktat kann z. T. von anderen Organen (Leber, Herz und nicht arbeitender Muskulatur) energetisch verwertet bzw. oxidiert oder zu Glukose resynthetisiert werden, sodass es bei jeder Belastung neben der Laktatproduktion auch zu einer Laktatelimination kommt. Solange sich Laktatbildung und -elimination die Waage halten, steigt die Blutlaktatkonzentration nicht an („Laktat-Steady-State“). Dies entspricht dem aeroben Stoffwechselbereich. Interessant zur Trainingssteuerung ist der Punkt des maximalen Laktat-Steady-State, dem die höchste Belastungsintensität bei maximalem Gleichgewicht zwischen Laktatbildung und -elimination entspricht. Dieser Bereich wird auch als anaerobe Schwelle bezeichnet, der früher im Mittel bei 4 mmol/l angenommen wurde, aber meistens niedriger, seltener auch höher liegt, was zur Bestimmung der individuellen anaeroben Schwelle geführt hat [9]. Wird darüber hinaus die Belastungsintensität weiter gesteigert, kommt es zu einem überproportionalen Anstieg der sys-
regeneratives Training (KB)
intensives Grundlagentraining (GA2) Herzfrequenz Laktat
8 6 4
80
2
60
0
Schwellentraining (EB) 0
194
extensives Grundlagentraining (GA1)
400 450 500 Leistung (Watt)
10
100
b
200 250 300 350 indiv. anaerobe Schwelle
50
100
150 200 250 300 indiv. anaerobe Schwelle
350
400 450 500 Leistung (Watt)
Abb. 18.4 Vergleich der Laktatleistungskurven eines Freizeitsportlers (a) und eines Ausdauerathleten (b). Es zeigen sich die deutlich geringeren Laktatwerte beim Athleten im Vergleich zum gering Trainierten bei gleicher Belastungsstufe. Dies verdeutlicht die größere aerobe Kapazität des Sportlers (a).
Leistungsdiagnostik
temischen Laktatkonzentration, die Energie wird zunehmend zusätzlich anaerob bereitgestellt. Ein klarer Vorteil der Laktatdiagnostik gegenüber einer reinen Belastungsuntersuchung besteht darin, dass anhand des Kurvenverlaufs eine objektive Einschätzung des Trainingszustandes möglich ist und durchgeführte Trainingsprogramme auf Wirksamkeit im Längsschnitt überprüft werden können. Bei einer Verbesserung der Ausdauerleistungsfähigkeit verschiebt sich die LaktatLeistungskurve nach rechts, d. h. die anaerobe Schwelle wird bei einer höheren Leistung erreicht (Abb. 18.4).
Spiroergometrie Die Spiroergometrie ist ein diagnostisches Verfahren, anhand dessen das gesamte System, bestehend aus Herz, Kreislauf, Atmung und Energiestoffwechsel beurteilt werden kann. Über eine Atemmaske werden während der Spiroergometrie unter ansteigender Belastung der Sauerstoffgehalt der eingeatmeten Luft (VO2), der Kohlendioxidgehalt der ausgeatmeten Luft (VCO2) und das Atemminutenvolumen (VE) pro Atemzug (Breath-by-breathAnalyse) gemessen. Zusätzlich zu den spirometrischen Daten wird die Herzfrequenz gemessen, sodass sich weitere herzfrequenzbezogene Parameter ergeben. Durch die Bestimmung der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2max) kann die aerobe Gesamtkapazität und damit die maximale körperliche Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Der Normalwert der VO2max ist geschlechtsabhängig und nimmt mit zunehmendem Alter ab (s. u.). Der Vorteil der gemessenen maximalen Sauerstoffaufnahme gegenüber anderen maximalen Leistungskriterien wie der maximal erreichten Wattstufe oder Laufgeschwindigkeit besteht darin, dass die VO2max weniger vom Belastungsprotokoll und der Art der Belastungssteigerung abhängig ist. Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Test in 8 – 17 min abgeschlossen sein sollte. Die VO2max ist das international am häufigsten benutzte Kriterium zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die höchste VO2max, also die reale VO2max, wird bei der Laufbandergometrie erreicht. Das ist in erster Linie auf die große aktive Muskelmasse zurückzuführen. Wegen der hohen kardiopulmonalen Beanspruchung wird bspw. die Laufbandergometrie in Nordamerika zur Koronardiagnostik bevorzugt eingesetzt. Bei der Fahrradergometrie liegen die maximal erreichte Sauerstoffaufnahme und die maximale Herzfrequenz ca. 10 % niedriger als bei der Laufbandergometrie. Nur hochtrainierte Radrennfahrer sind in der Lage, bei der Fahrradergometrie ähnliche maximale Werte wie bei der Laufbandergometrie zu erreichen. Bei der Handkurbelergometrie als weitere mögliche Belastungsform werden nur ca. 65 – 70 % der VO2max der Laufbandergometrie erzielt. Die VO2max beträgt bei jüngeren Untrainierten im Mittel 40 – 45 ml/min/kg (Männer) bzw. 35 – 40 ml/min/kg
(Frauen) und fällt oberhalb des dritten Lebensjahrzehnts um ca. 10 % pro Lebensdekade ab, bei Frauen etwas weniger. Ähnlich wie bei der Laktatdiagnostik können auch bei der Spiroergometrie sog. ventilatorische Schwellen abgeleitet werden. Stellt man die Kohlendioxidabgabe als Funktion der nahezu linear ansteigenden Sauerstoffaufnahme dar, ergibt der erste „Knickpunkt“ der Beziehung die ventilatorische Schwelle, ursprünglich als „anaerobic threshold“ bezeichnet [10, 11]. Diese entspricht dem Punkt des ersten Laktatanstiegs, der in der Laktatdiagnostik als aerobe Schwelle bezeichnet wird. Ein weiterer „Knick“, genannt respiratorischer Kompensationspunkt, ergibt sich an der Stelle des überproportionalen Anstiegs der Ventilation gegenüber der Abgabe von Kohlendioxid. In diesem Bereich ist die anaerobe Laktatschwelle, die das maximale Laktat-Steady-State repräsentiert, zu lokalisieren. Bei einem Vergleich von Laktat- und ventilatorischen Schwellen wird die Reliabilität der anaeroben Laktatschwelle insb. im Leistungssport höher eingeschätzt. Der erste Punkt des Laktatanstiegs (nicht gleichbedeutend mit der anaeroben Schwelle) ist aber wahrscheinlich mit der ventilatorischen Schwelle zuverlässiger bestimmbar.
18.2.3 Feldtests Ergometrische Tests können auch als Feldtests in der Trainings- und Wettkampfumgebung von Sportlern durchgeführt werden. Die Belastungsprotokolle sind denen unter Laborbedingungen angeglichen, Stufentests dominieren. Laufgeschwindigkeiten werden durch akustische oder optische Signale vorgegeben, an Fahrrädern erfolgt eine mobile Leistungsmessung. Die Herzfrequenz wird üblicherweise drahtlos über sog. Pulsuhren ermittelt. Da es sich bei Feldtests um eine ausschließliche Leistungsdiagnostik handelt, sind EKG-Ableitungen und Blutdruckmessungen nicht notwendig. Laufstufentests sind gut standardisierbar und reproduzierbar. Koordinative Schwierigkeiten, die bei manchen Sportlern bei der Laufbandergometrie beobachtet werden, entfallen. Aber je komplexer, d. h. je sportartspezifischer Feldtests konzipiert sind, umso problematischer wird die Einhaltung von Gütekriterien wie Reliabilität und Objektivität. Feldtests werden v. a. in Ausdauersportarten (z. B. Laufsport, Nordischer Skisport, Radsport, Triathlon), Sportspielen (z. B. Fußball, Handball, Hockey, Badminton), aber auch Schwimmen und Rudern durchgeführt. Bei den beiden letztgenannten Sportarten erfolgen die Tests im bzw. auf dem Wasser. Im Fußball hat sich eine Feldtestkombination aus Stufentest zur Beurteilung der Ausdauer und Sprinttest zur Beurteilung der Schnelligkeit bewährt. Mit einem fußballspezifischen Score, in dem die Daten aus der Testkombination gewichtet werden, können dem Trainer in grafisch ansprechender Form die Ergebnisse der Mannschaft auf einen Blick transparent darge-
195
18
Sportler-Check-Up: Gesundheitsuntersuchung und Leistungsdiagnostik
stellt werden. Feldtests sind in den großen Mannschaftssportarten gegenüber Labortests wesentlich praktikabler, weil mehrere Spieler gleichzeitig getestet werden können, sodass innerhalb einer relativ kurzen Zeit die komplette Mannschaft untersucht werden kann.
I II
III IV V VI VII
18.3 Sportmedizinische Empfehlungen Nach jeder sportmedizinischen Untersuchung sollte ein klares Statement zur Sportfähigkeit bezogen werden. Waren sämtliche Untersuchungsbefunde unauffällig, so kann die Empfehlung „sportgesund“ ohne Einschränkung ausgesprochen werden. Sind die Befunde im Einzelnen pathologisch, sollte das weitere diagnostische Vorgehen gezielt festgelegt und eine klare Empfehlung erst nach Abschluss aller Untersuchungen ausgesprochen werden. Dabei sollte man mit dem Sportler besprechen, welche Einschränkungen der Sportfähigkeit seine Erkrankung nach sich zieht. In den meisten Fällen muss dabei kein absolutes Sportverbot ausgesprochen werden (entsprechend „nicht sportgesund“), allerdings sollte die erlaubte körperliche Aktivität in Zusammenarbeit mit allen beteiligten Fachdisziplinen genau festgelegt und die gesundheitliche Verfassung in zunächst engmaschigen Kontrollen überprüft werden. Bei sehr schwerwiegenden Erkrankungen, v. a. im instabilen Zustand oder bei akuten Infektionen (z. B. Myokarditis, komplexe ventrikuläre Arrhythmien, instabile Angina pectoris), muss – in einigen Fällen nur vorübergehend – ein absolutes Sportverbot („nicht sportgesund“) erteilt werden. Nachuntersuchungen oder Wiederholungsuntersuchungen sollten bei Personen unter 35 Jahren alle 2 Jahre und bei Personen über 35 Jahren sowie bei vorliegenden Risikofaktoren oder Auffälligkeiten bei der Untersuchung jährlich stattfinden. Diese Empfehlung ist allerdings nicht evidenzbasiert.
196
Literatur 1. Nelson ME, Rejeski WJ, Blair SN et al. Physical activity and public health in older adults: recommendation from the American College of Sports Medicine and the American Heart Association. Circulation. 2007; 116(9):1094-105. 2. Williams MA, Haskell WL, Ades PA et al. Resistance exercise in individuals with and without cardiovascular disease: 2007 update: a scientific statement from the American Heart Association Council on Clinical Cardiology and Council on Nutrition, Physical Activity, and Metabolism. Circulation. 2007; 116(5):572-84. 3. Thompson PD, Buchner D, Pina IL et al. Exercise and physical activity in the prevention and treatment of atherosclerotic cardiovascular disease: a statement from the Council on Clinical Cardiology (Subcommittee on Exercise, Rehabilitation, and Prevention) and the Council on Nutrition, Physical Activity, and Metabolism (Subcommittee on Physical Activity). Circulation. 2003; 107(24):3109-16. 4. Mittleman MA, Maclure M, Tofler GH et al. Triggering of acute myocardial infarction by heavy physical exertion. Protection against triggering by regular exertion. Determinants of Myocardial Infarction Onset Study Investigators. NEJM. 1993; 329(23):1677-83. 5. Siscovick DS, Weiss NS, Fletcher RH et al. The incidence of primary cardiac arrest during vigorous exercise. NEJM. 1984; 311(14):874-7. 6. Corrado D, Migliore F, Basso C et al. Exercise and the risk of sudden cardiac death. Herz. 2006; 31(6):553-8. 7. Trappe HJ, Löllgen H. Guidelines for ergometry. German Society of Cardiology–Heart and Cardiovascular Research. Z Kardiol. 2000; 89(9):821-31. 8. Meyer T, Gabriel HH, Kindermann W. Is determination of exercise intensities as percentages of VO2max or HRmax adequate? Med Sci Sports Exerc. 1999; 31(9):1342-5. 9. Kindermann W. Anaerobe Schwelle. Dtsch Z Sportmed. 2005; 55:161-2. 10. Wasserman K, Beaver WL, Whipp BJ. Gas exchange theory and the lactic acidosis (anaerobic) threshold. Circulation. 1990; 81(1 Suppl):1114-30. 11. Wasserman K, Whipp BJ, Koyl SN et al. Anaerobic threshold and respiratory gas exchange during exercise. J Appl Physiol. 1973; 35(2):236-43. 12. Kindermann W, Dickhuth HH, Niess A et al. Sportkardiologie – Körperliche Aktivität bei Herzerkrankungen. Darmstadt: Steinkopff; 2007.
Warum Schutzimpfungen?
19 Impfstatus und Schutzimpfungen W. Jilg
● ●
●
●
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Das Wichtigste in Kürze Heute zugelassene und empfohlene Impfungen sind hochwirksam und gut verträglich. Impfungen können bei den allermeisten Menschen durchgeführt werden; nicht geimpft werden sollte lediglich bei akuten hochfieberhaften Infekten, während der Rekonvaleszenz nach schweren Erkrankungen, bei Vorliegen von Allergien gegen Impfstoffbestandteile sowie bei vorausgegangenen Impfkomplikationen. Lebendimpfstoffe dürfen nicht bei Schwangeren und Immunsupprimierten eingesetzt werden. Entsprechend den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sollen alle Kinder in den ersten beiden Lebensjahren gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Haemophilus-influenzae-Typ-b-(Hib-)Infektionen, Poliomyelitis, Hepatitis B, Pneumokokken, Meningitis C, Masern, Mumps, Röteln und Varizellen geimpft werden, im Alter von 5 – 6 Jahren noch einmal gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis. Bei Jugendlichen wird ca. 10 Jahre später eine Auffrischimpfung gegen Tetanus, Diphtherie, Poliomyelitis und Pertussis durchgeführt, Mädchen im Alter von 12 – 17 Jahren erhalten eine Grundimmunisierung gegen Humane Papillomaviren (Typ 16 und 18). In der Kindheit nicht durchgeführte Impfungen sollten nachgeholt werden! Erwachsene erhalten in 10-jährigem Abstand eine Auffrischimpfung gegen Tetanus und Diphtherie, ab
●
einem Alter von 60 Jahren die Influenza- und Pneumokokkenimpfung. Indikationsimpfungen sind angezeigt bei besonderer Infektionsgefahr: bei Angehörigen bestimmter Berufsgruppen (v. a. medizinische Berufe), bei Patienten mit bestimmten Grunderkrankungen, bei besonderen Lebensumständen (Kinderwunsch; Drogenabhängigkeit; Homosexualität) und vor Fernreisen.
19.1 Warum Schutzimpfungen? Impfen ist die kostengünstigste und effektivste Maßnahme zur Verhütung von Infektionskrankheiten. Durch eine konsequente weltweite Impfaktion gelang es, die Pocken auszurotten; mit der endgültigen Elimination der Poliomyelitis dürfte in wenigen Jahren zu rechnen sein. Krankheiten wie Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Masern, Mumps oder Röteln konnten in vielen Teilen der Welt fast völlig zum Verschwinden gebracht werden (Tab. 19.1, [1]). Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Erreger der letztgenannten Erkrankungen noch vorhanden sind. Wir sehen diese Infektionen kaum mehr, weil wir dagegen impfen! Nachlassen der Impfbereitschaft kann daher rasch zu einem Wiederauftreten dieser Krankheiten führen, wie die Anfang der Neunzigerjahre in Russland wieder ausgebrochene Diphtherie zeigte. Bei allen Infektionskrankhei-
Tabelle 19.1 Rückgang impfpräventabler Erkrankungen von 1900 – 1998 in den USA [1]. Erkrankung
gemeldete Fälle/Jahr vor Einführung der Impfung
gemeldete Fälle 1998
Abnahme [%]
Pocken
48 164*
0
100
Diphtherie
175 885
1
> 99,9
Pertussis
147 271
6 279
95,7
Tetanus
1314
34
97,4
Poliomyelitis
16 316**
0
100
Masern
503 282
89
> 99,9
Mumps
152 209
606
99,6
Röteln
47 745
345
99,3
kongenitale Röteln
823**
5
99,4
Infektionen mit Haemophilus influenzae Typ b (invasiv)
20 000**
54
99,7
* 1900 – 1904, ** hochgerechnet
197
19
Impfstatus und Schutzimpfungen
I
ten, für die der Mensch einziger Wirt ist, tritt bei einer weitgehend geimpften Bevölkerung der sog. Herdeneffekt ein: Die Erkrankungsfrequenz nimmt auch unter den Nichtgeimpften ab, weil der Erreger nicht mehr zirkuliert. Es ist beim Impfen also von besonderer Bedeutung, nicht nur den Einzelnen möglichst gut zu schützen, sondern auch hohe Durchimpfungsraten in der Bevölkerung zu erzielen und zu erhalten. Alle Ärzte sind daher aufgefordert, bei jedem Patientenkontakt auch den Impfstatus des Patienten zu kontrollieren und wenn notwendig zu vervollständigen!
II
III
19.2 Grundlagen der Immunprophylaxe 19.2.1 Durchführung von Schutzimpfungen
IV V VI VII
Applikation von Impfstoffen Impfstoffe werden intramuskulär, subkutan, intrakutan oder oral verabreicht. Die genaue Anwendung eines Impfstoffs ist der Fachinformation zu entnehmen. Generell gilt, dass Adsorbatimpfstoffe (Totimpfstoffe mit Aluminiumsalzen als Adjuvans) intramuskulär injiziert werden. Eine subkutane Injektion ist aber grundsätzlich auch möglich, etwa bei Menschen mit Gerinnungsstörungen oder unter Therapie mit Antikoagulanzien, führt jedoch zu stärkeren lokalen Reaktionen. Lebendimpfstoffe können in den meisten Fällen subkutan oder intramuskulär appliziert werden. Stelle der Wahl für die Applikation von intramuskulär zu injizierenden Impfstoffen ist bei Säuglingen der M. vastus lateralis, bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der M. deltoideus. Impfstoffe sollten nicht in den M. glutaeus injiziert werden, da auch bei schlanken Menschen der Impfstoff hier oft im Fettgewebe deponiert wird, was die Immunantwort negativ beeinflussen kann. Immunglobulinpräparate, die meist in größeren Volumina appliziert werden, sollten allerdings immer in den M. glutaeus gespritzt werden.
Impfschemata Totimpfstoffe auf Proteinbasis werden in der Regel nach einem einheitlichen Schema verimpft. Nach einer initialen Gabe von (meist) zwei bzw. drei Dosen, die in kurzem Abstand von 2 – 4 Wochen verabreicht werden, folgt eine weitere (dritte bzw. vierte) Dosis, die in langem Abstand (sechs oder mehr Monate) gegeben wird. Nur nach ausreichend langer Zeit zwischen den beiden letzten Impfungen ist das Immunsystem in der Lage, mit einer ausgeprägten, sog. anamnestischen Antwort auf die letzte Dosis zu reagieren. Diese Reaktion ist Ausdruck des immunologischen Gedächtnisses und ist zur Erreichung
198
hoher Antikörperspiegel notwendig, die wiederum für den Langzeitschutz wichtig sind. Das für einen Impfstoff empfohlene Verabreichungsschema sollte eingehalten werden, geringfügige Abweichungen sind aber unproblematisch. So ist eine Unteroder Überschreitung um eine Woche eines vom Impfstoffhersteller empfohlenen Abstands von 4 Wochen zwischen erster und zweiter Impfung belanglos. Der Abstand zwischen vorletzter und letzter Impfung der Grundimmunisierung kann sogar großzügig überschritten werden; selbst ein Intervall von zwei Jahren (statt 6 oder 12 Monaten) führt zu keiner Beeinträchtigung des Impferfolges (allerdings kann während des langen Intervalls die Schutzwirkung durch die ersten Impfungen bereits abgeklungen sein). Eine deutliche Unterschreitung dieses Abstandes (um Monate) führt allerdings zu einer weniger stark ausgeprägten Reaktion und kann daher den Impferfolg gefährden. Massive Abweichungen von dem empfohlenen Impfschema können allerdings die Qualität des Impfschutzes in Frage stellen; in diesen Fällen sollte daher der Impferfolg durch eine Antikörperbestimmung kontrolliert werden. Für Totimpfstoffe auf Kohlenhydratbasis reicht zur Grundimmunisierung die Gabe einer Dosis aus. Lebendimpfstoffe müssen je nach Präparat ein- bis dreimal appliziert werden.
Abstände zwischen verschiedenen Impfungen Fast alle Impfstoffe können ohne Bedenken gleichzeitig verabreicht werden. Oft werden mehrere verschiedene Impfungen aber hintereinander durchgeführt. Hierbei gilt, dass zwischen verschiedenen Totimpfstoffen und zwischen Tot- und Lebendimpfstoffen keine bestimmten Zeitabstände eingehalten werden müssen. Verschiedene Virus-Lebendimpfstoffe müssen dagegen entweder gleichzeitig oder in einem Abstand von mindestens 4 Wochen appliziert werden (bei kürzeren Abständen wird möglicherweise die Vermehrung des Impfvirus durch eine Interferoninduktion als Folge der vorausgegangenen Lebendimpfung gehemmt). Nach der Gabe von humanen Immunglobulinpräparaten (oder Vollbluttransfusionen) dürfen Lebendimpfstoffe erst nach einer Frist von drei Monaten eingesetzt werden. Auch spezifische Immunglobuline enthalten neben den in hoher Konzentration vorhandenen Antikörpern gegen bestimmte Erreger alle Antikörper, die ein gesunder Spender in Mitteleuropa bildet. Diese Antikörper können mit parenteral applizierten Lebendimpfstoffen reagieren und die Impferreger an ihrer Vermehrung hindern. Aus dem gleichen Grund kann auch eine Gabe von Immunglobulinpräparaten bis zu 2 Wochen nach einer Lebendimpfung den Impferfolg in Frage stellen und sollte daher vermieden werden (falls das nicht möglich ist, sollte man die Impfung drei Monate später wiederholen!).
Grundlagen der Immunprophylaxe
19.2.2 Nebenwirkungen und Komplikationen
Überprüfung der Immunität vor bzw. nach Impfungen Eine Untersuchung auf eine bereits durchgemachte Infektion vor einer entsprechenden Impfung ist aus medizinischer Sicht für die in Deutschland verwendeten Impfstoffe nicht notwendig. Vor einer Auffrischimpfung gegen Tetanus kann eine Antikörperbestimmung allerdings sinnvoll sein, wenn die vorausgegangene Impfung 10 Jahre früher zu sehr starken lokalen Reaktionen geführt hat. Da die Stärke solcher lokalen Reaktionen gut mit der Immunantwort auf die Impfung korreliert, wird sich in einem solchen Fall in der Regel eine Konzentration von Antikörpern gegen Tetanustoxoid weit über der Schutzgrenze von 0,15 IE/ml feststellen lassen und eine Auffrischimpfung kann um weitere 10 Jahre verschoben werden. Aus rein finanziellen Aspekten kann eine Untersuchung auf eine bereits bestehende Immunität bei teueren Impfstoffen wie etwa dem Hepatitis-A- oder -B-Impfstoff durchgeführt werden, wenn anamnestisch ein Kontakt mit dem Erreger sehr wahrscheinlich war. Die Feststellung des Impferfolges ist bei gesunden Impflingen lediglich nach der Hepatitis-B-Impfung von Menschen mit erhöhtem Hepatitis-B-Risiko (z. B. medizinisches Personal) und nach der Rötelnimpfung von Frauen mit Kinderwunsch notwendig. Eine Überprüfung sollte darüber hinaus aber auch bei allen Menschen vorgenommen werden, die möglicherweise schlecht auf eine Impfung ansprechen, also bei Menschen mit Immundefekten oder sehr alten Personen.
Die heute in Deutschland eingesetzten und zugelassenen Impfstoffe (Tab. 19.2) sind i. A. gut verträglich. Wie alle Arzneimittel können aber auch Impfungen zu in aller Regel harmlosen Nebenwirkungen führen, die Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff sind. So kommt es in wechselndem Prozentsatz an der Impfstelle zu Rötung, Schwellung und leichten Schmerzen, systemisch können leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptome (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) auftreten. Eine spezifische Nebenwirkung von Lebendimpfstoffen ist die sog. Impfkrankheit. Dabei kommt es nach etwa 8 – 10 Tagen zu leichter Temperaturerhöhung und flüchtigen, wenig ausgeprägten Erscheinungen, die den Symptomen der Krankheit ähneln, gegen die sich der Impfstoff richtet. Sie ist Ausdruck einer gewissen Restpathogenität des Impferregers, die für immunologisch Gesunde völlig harmlos ist. Neben diesen „normalen“ Impfreaktionen, mit denen man in einem kleinen Prozentsatz von Impflingen rechnen muss, können Impfungen in sehr seltenen Fällen auch darüber hinausgehende Krankheitserscheinungen auslösen, die als Komplikationen zu werten sind und laut Infektionsschutzgesetz dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet werden müssen. Dazu gehören z. B. allergische Erscheinungen, die meist auf im Impfstoff ent-
Tabelle 19.2 In Deutschland zugelassene und verfügbare Impfstoffe. Totimpfstoffe antiviral
Impfstoffe gegen
● ● ● ● ● ● ●
Poliomyelitis Hepatitis A Hepatitis B Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) Influenza Tollwut humane Papillomviren (HPV)
antibakteriell
Impfstoffe gegen
● ● ● ● ● ●
Haemophilus influenzae Typ b Pertussis Pneumokokken Meningokokken Typhus Cholera
antitoxisch
Impfstoffe gegen
● ●
Tetanus Diphtherie
antiviral
Impfstoffe gegen
● ● ● ● ● ●
Masern Mumps Röteln Varizellen Gelbfieber Rotaviren
antibakteriell
Impfstoff gegen
●
Typhus
Lebendimpfstoffe
199
19
Impfstatus und Schutzimpfungen
I II
III IV V VI VII
haltene Begleitstoffe zurückzuführen sind wie Hühnereiweiß im Gelbfieber- und Influenzaimpfstoff, Thiomersal (eine organische Quecksilberverbindung, die als Konservierungsmittel manchen Impfstoffen beigegeben ist) oder Spuren von Antibiotika, z. B. in Masern-Mumps-Röteln(MMR-) oder Varizellenimpfstoffen. Deshalb muss jeder Impfling vor der Impfung nach vorbestehenden Allergien befragt werden! Weitere gesicherte, also in einem Kausalzusammenhang zu einer Impfung stehende Komplikationen sind Neuritiden nach Impfung gegen Tetanus oder FSME, eine vorübergehende Thrombopenie nach Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln oder ein GuillainBarré-Syndrom nach Influenzaimpfung. Alle diese Komplikationen sind extrem selten und wurden nur in Einzelfällen beobachtet; die Häufigkeit eines Guillain-BarréSyndroms nach Influenzaimpfung beträgt etwa 1:900 000! Hier gilt, wie in anderen Fällen von Impfkomplikationen auch, dass die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung durch die zu verhindernde Krankheit wesentlich höher ist als die Wahrscheinlichkeit eines Impfschadens.
19.2.3 Impfungen in bestimmten Personengruppen bzw. Situationen Impfungen bei Schwangeren Obwohl kindliche Schädigungen durch Impfungen während der Schwangerschaft mit den heute gebräuchlichen Impfstoffen nicht bekannt sind, verbietet eine wenn auch extrem geringe Möglichkeit einer Schädigung des Ungeborenen die Anwendung bestimmter Impfstoffe. Aus diesem Grund sind Lebendimpfstoffe bei Schwangeren in der Regel kontraindiziert (nur die Gelbfieberimpfung ist bei unaufschiebbarem Aufenthalt in einem Endemiegebiet möglich). Totimpfstoffe können bei strenger Indikationsstellung verwendet werden.
den. Wird eine immunsuppressive Therapie beendet, so sind nach 6 Monaten alle Impfungen ohne jede Einschränkung möglich. Keinen nennenswerten Einfluss auf Impfungen haben topische und inhalative Steroidgaben sowie niedrigdosierte Therapien mit Tagesdosen von Prednison ≤ 10 mg/ Tag. Diese Therapieformen stellen damit auch keine Kontraindikation für Lebendimpfstoffe dar.
Kontraindikationen, echte und falsche Impfhindernisse Grundsätzlich nicht geimpft werden sollten Menschen mit akuten hochfieberhaften Infekten, während der Rekonvaleszenz nach schweren Erkrankungen, bei Vorliegen von Allergien gegen Impfstoffbestandteile sowie bei Impfkomplikationen nach früherer Gabe des entsprechenden Impfstoffs. Spezielle Kontraindikationen gegen die meisten Lebendimpfstoffe sind – wie oben ausgeführt – Schwangerschaft und hochgradige Immunsuppression. Häufig werden aber Impfungen unterlassen, weil bestimmte Zustände oder Erkrankungen fälschlicherweise als Impfhindernisse angesehen werden. Zu diesen v. a. bei Kindern oft angenommenen falschen Kontraindikationen gehören banale Infekte mit subfebrilen Temperaturen bis 38,5 °C oder Fieberkrämpfen in der Anamnese; im letzteren Fall sollte nach der Impfung eine prophylaktische Gabe von Antipyretika erwogen werden. Ebenso wenig sind Impfungen bei Menschen mit Ekzemen oder anderen Dermatosen kontraindiziert sowie bei chronischen Erkrankungen oder nicht progredienten Erkrankungen des ZNS. Auch eine Multiple Sklerose (MS) stellt keine Kontraindikation für Impfungen dar; speziell die Grippeimpfung ist bei Menschen mit MS indiziert, weil eine Grippe gehäuft zu MS-Schüben führt.
19.2.4 Aufklärung vor Impfungen Impfungen bei Immunsupprimierten Menschen mit Immundefekten sind durch Infektionen besonders gefährdet. Eine Infektionsprophylaxe ist für diese Patienten daher besonders wichtig, allerdings sind Impfungen meist nur eingeschränkt möglich. Das gilt auf jeden Fall für Menschen mit hochgradiger Immunsuppression, wie angeborenen schweren kombinierten Immundefekten oder T-Zelldefekten, symptomatischer HIV-Infektion mit CD 4-Zellzahl < 200/μl, Zustand nach Organtransplantation und Immunsuppression, Chemotherapie bei Tumorerkrankungen oder immunsuppressiver Therapie bei rheumatischen oder Autoimmunerkrankungen. In diesen Fällen sind Lebendimpfstoffe kontraindiziert, Totimpfstoffe sind möglich, wegen der Störung des Immunsystems aber oft erfolglos. Der Impferfolg sollte daher bei diesen Menschen immer kontrolliert wer-
200
Wie bei anderen medizinischen Maßnahmen muss auch vor einer Impfung eine Aufklärung erfolgen. Dabei wird die zu verhütende Krankheit erläutert und auf ihre Häufigkeit und evtl. Therapiemöglichkeiten hingewiesen. Angesprochen werden müssen der Nutzen der Impfung für den Impfling wie für die Allgemeinheit, die Art des Impfstoffs (Lebend- oder Totimpfstoff), Durchführung der Impfung, Verhalten nach der Impfung, Dauer des Impfschutzes und evtl. Notwendigkeit von Auffrischimpfungen. Besondere Bedeutung kommt schließlich der Information über die besonderen Risiken der Impfung zu. Dabei muss über alle spezifischen Risiken aufgeklärt werden, also über die Erkrankungen, die nach dem Stande der Wissenschaft durch die Impfung ausgelöst werden können, unabhängig von ihrer Häufigkeit [2]. Merkblätter zur Aufklärung sind sinnvoll, sind aber als alleiniges Mittel
Impfungen und Impfstoffe
der Aufklärung nicht ausreichend. Es muss immer die Gelegenheit zu einem Gespräch gegeben werden. In einer Zusammenfassung der STIKO sind die Nebenwirkungen und Komplikationen aller Impfungen aufgeführt, über die aufgeklärt werden muss [3].
am Robert-Koch-Institut erstellt. Die STIKO ist ein Gremium von Impfexperten, die vom Gesundheitsministerium berufen werden und einmal im Jahr überarbeitete Impfempfehlungen herausgibt. Diese sog. „STIKO-Empfehlungen“ sind primär an die Länder gerichtet, die sie umsetzen müssen, stellen aber darüber hinaus Leitlinien für alle impfenden Ärzte dar [4].
Weblinks ● ● ● ● ● ● ●
Robert-Koch-Institut: www.rki.de Paul-Ehrlich-Institut (PEI): www.pei.de Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): www.bfarm.de Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL): www.bvl.bund.de Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit (DTG): www.dtg.org Weltgesungheitsorganisation (WHO): www.who.org Centers for Disease Control and Prevention (CDC): www.cdc.gov
19.3 Impfungen und Impfstoffe Die Impfungen werden nach ihren Indikationsbereichen in Standardimpfungen und Indikationsimpfungen eingeteilt. Standardimpfungen richten sich gegen Infektionen, vor denen jeder in Deutschland bzw. Mitteleuropa lebende Mensch geschützt sein sollte. Indikationsimpfungen sind Impfungen für Angehörige bestimmter Berufsgruppen, für Patienten mit bestimmten Grunderkrankungen oder für Menschen unter bestimmten Lebensumständen (Kinderwunsch, besondere Freizeitaktivitäten, spezielle regionale Infektionsgefährdung z. B. durch FSME, Drogenabhängigkeit, Homosexualität). Zu den Indikationsimpfungen zählen auch die Reiseimpfungen. Impfempfehlungen und Impfpläne werden in Deutschland von der STIKO
19.3.1 Standardimpfungen für Kinder und Jugendliche Die von der STIKO empfohlenen Impfungen für Säuglinge und Kleinkinder sind die Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Haemophilus-influenzae-Typ-b-Infektionen, Poliomyelitis, Hepatitis B, Pneumokokken, Meningitis C, Masern, Mumps, Röteln und Varizellen. Alle Impfungen sollten innerhalb der ersten beiden Lebensjahre durchgeführt werden (Tab. 19.3). Um die Zahl der Injektionen der in ihrer Mehrzahl 4-mal applizierten Impfstoffe erträglich zu halten, sollten möglichst Kombinationsimpfstoffe verwendet werden (Tab. 19.4). Im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung – im Alter von 5 – 6 Jahren – werden alle Kinder noch einmal gegen Tetanus, Diphtherie und Pertussis geimpft. Jugendliche erhalten ca. 10 Jahre später eine Auffrischimpfung gegen Tetanus, Diphtherie, Poliomyelitis und Pertussis. Seit 2007 wird für alle Mädchen im Alter von 12 – 17 Jahren – nach Möglichkeit vor dem ersten Geschlechtsverkehr – die Impfung gegen Papillomaviren (Typ 16 und 18) empfohlen. Bei allen Jugendlichen sollten mit Ausnahme der Impfung gegen Haemophilus influenzae die in der Kindheit nicht durchgeführten Impfungen nachgeholt werden. Insbesondere gilt das für die zweite MMR-Impfung, Varizellen- und Hepatitis-B-Impfung.
Tabelle 19.3 Standardimpfungen für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Impftermin/Alter
Impfstoffe
2 Monate
DTaP
Hib
IPV
HB
Pneu
3 Monate
DTaP
Hib
IPV
HB
Pneu
4 Monate
DTaP
Hib
IPV
HB
Pneu
11 – 14 Monate
DTaP
Hib
IPV
HB
Pneu
15 – 23 Monate
MMR, V Men, MMR
5 – 6 Jahre
TdaP
9 – 17 Jahre
TdaP
IPV
3 x HB*
3 x HPV**
MMR*, 2xV*
* wenn nicht als Säugling bzw. Kleinkind geimpft, ** alle Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren T = Tetanus; D = Diphtherie (hohe Dosierung für Kleinkinder); d = Diphtherie (niedrige Dosierung für alle Personen, die älter als 4 Jahre sind); aP = Pertussis (azelluläre Vakzine); Hib = Haemophilus influenzae Typ b; IPV = inaktivierte Poliovakzine (Poliototimpfstoff); HB = Hepatitis B; MMR = Masern, Mumps, Röteln; V = Varizellen; Pneu = Pneumokokken; Men = Meningokokken; HPV = humane Papillomaviren
201
19
Impfstatus und Schutzimpfungen
Tabelle 19.4 Kombinationsimpfstoffe. für Kinder: Impfstoffe gegen Diphtherie – Tetanus – Pertussis (DTaP) Diphtherie – Tetanus – Pertussis – Poliomyelitis – Hib Diphtherie – Tetanus – Pertussis – Poliomyelitis – Hib – Hepatitis B ● Masern – Mumps – Röteln ● Masern – Mumps – Röteln – Varizellen ● ● ●
I
für Jugendliche und Erwachsene:
II
III IV
Impfstoffe gegen ● ● ● ●
Tetanus Tetanus Tetanus Tetanus
– – – –
Diphtherie Diphtherie – Poliomyelitis Diphtherie – Pertussis Diphtherie – Poliomyelitis – Pertussis
19.3.2 Standardimpfungen für Erwachsene
VI
Alle Erwachsene erhalten in 10-Jahres-Abständen eine Auffrischimpfung gegen Tetanus und Diphtherie und ab dem 61. Lebensjahr Impfungen gegen Pneumokokken (alle 6 Jahre auffrischen) sowie jährlich zu Beginn der Influenzasaison (Oktober bis November) eine Impfung gegen Influenza mit dem jeweils aktuellen Impfstoff.
VII
19.3.3 Indikationsimpfungen
V
Impfungen für Angehörige bestimmter Berufsgruppen Die höchste beruflich bedingte Infektionsgefahr besteht für medizinisches Personal. Für alle mit Patienten oder Patientenmaterial in Kontakt kommenden Personen ist
ein Schutz vor Hepatitis B essenziell. Patientenkontakt ist auch eine Indikation für eine Impfung gegen Influenza. Spezifische Indikationsimpfungen für medizinisches Personal in der Pädiatrie sind die Impfungen gegen Hepatitis A und Varizellen sowie die MMR-Impfung. Der regelmäßige Umgang mit Neugeborenen und Säuglingen erfordert eine Immunität gegenüber Pertussis, in erster Linie um die Übertragung von Pertussiserregern auf Neugeborene und Säuglinge zu verhindern, die an Pertussis lebensgefährlich erkranken können. Der Impfschutz muss alle 10 Jahre durch eine Auffrischimpfung erneuert werden. Auch eine Impfung gegen Poliomyelitis ist zumindest für einige Gruppen des medizinischen Personals notwendig. Die letzte Impfung gegen Poliomyelitis findet nach den Impfempfehlungen der STIKO im Jugendlichenalter statt (s. o.). Eine Auffrischimpfung ist aber für alle Menschen in 10-Jahres-Intervallen empfehlenswert, die im medizinischen Bereich arbeiten und besonders gefährdet sind, in erster Linie Mitarbeiter in der Pädiatrie, Infektionsmedizin, Intensivmedizin und Neurologie. Für alle, die beruflich mit Säuglingen und Kleinkindern zu tun haben, z. B. in Kinderkrippen oder -gärten, ist neben dem durch die Standardimpfungen vermittelten Schutz ein Schutz vor Hepatitis A, aber auch vor Influenza angezeigt. Kanalisations- und Klärwerksarbeiter sollten wegen ihres ständigen Kontaktes mit Fäkalien gegen die fäkaloral übertragene Hepatitis A geimpft werden. Tierärzte und andere mit Wildtieren in Kontakt kommende Angehörige bestimmter Berufsgruppen (Landwirte, Forstbeamte, Waldarbeiter) benötigen einen Schutz vor Tollwut, soweit sie in tollwutgefährdeten Gebieten tätig sind. Landwirte, Forstbeamte und Waldarbeitern, die in Gegenden leben und arbeiten, in denen die FrühsommerMeningoenzephalitis endemisch ist, sollten auch gegen diese Erkrankung geimpft werden.
Tabelle 19.5 Indikationsimpfungen für bestimmte Berufsgruppen. Berufsgruppe
Impfung gegen
medizinisches Personal
Hepatitis B, Influenza, Poliomyelitis
zusätzlich bei Tätigkeit in der Pädiatrie
Hepatitis A, Pertussis
bei fehlender Immunität (Seronegativität)
Masern, Mumps, Röteln, Varizellen
zusätzlich bei Tätigkeit in Stuhllabors
Hepatitis A
zusätzlich bei Tätigkeit in Gynäkologie/Geburtshilfe
Varizellen, Pertussis
zusätzlich bei Tätigkeit in Onkologie, Intensivmedizin, bei Betreuung von Immundefizienten bei fehlender Immunität
Varizellen
Personal in Kinderkrippen, Kindergärten, Kinderheimen
Hepatitis A, Influenza
zusätzlich bei fehlender Immunität (Seronegativität)
Masern, Mumps, Röteln, Varizellen
Kanalisations- und Klärwerksarbeiter
Hepatitis A
Landwirte, Forstbeamte, Waldarbeiter in tollwutgefährdeten Gebieten (hier auch Tierärzte)
Tollwut
in FSME-gefährdeten Gebieten
FSME
202
Impfungen und Impfstoffe
Das genaue Vorgehen bei Infektionsgefährdung am Arbeitsplatz ist in der Biostoffverordnung niedergelegt, in der auch eine für den Arbeitgeber verpflichtende Impfempfehlung ausgesprochen wird („Beschäftigten, die biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sein können, ist eine Impfung anzubieten, wenn ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht.“, [5]).
Impfungen bei bestimmten Grunderkrankungen Betroffen sind hier Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen (Tab. 19.6), wie chronischen Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen, chronischen Leber- und Nierenleiden, Diabetes mellitus und anderen Stoffwechselkrankheiten oder bei Immundefizienz. Sie sollten gegen Influenza und Pneumokokken geimpft werden, weil Influenza- wie auch Pneumokokkeninfektionen bei ihnen häufig sehr schwer und nicht selten tödlich verlaufen. Für Patienten mit einer chronischen Lebererkrankung ohne Immunität gegen Hepatitis A oder B ist gegen beide Infektionen eine Impfung indiziert, da sie bei Menschen mit vorgeschädigter Leber schwerer verlaufen. Splenektomierte Patienten oder Menschen mit insuffizienter Milzfunktion („funktionelle Asplenie“) haben Schwierigkeiten in der Abwehr von bekapselten Bakterien wie Pneumokokken, Meningokokken oder Haemophilus influenzae Typ b. Infektionen mit diesen Erregern können bei ihnen einen schweren septischen Zustand hervorrufen, das OPSI-Syndrom (engl.: overwhelming postsplenectomy infection syndrome). Daher sollten Patienten nach Splenektomie oder mit eingeschränkter Milzfunktion als Folge von Autoimmunkrankheiten (primäre biliäre Zirrhose, systemischer Lupus erythematodes [SLE], primär chronische Polyarthritis), hämatologischen Erkrankungen (Thrombozythämie, Sichelzellanämie) oder infiltrativen Prozessen wie Amyloidose oder Sarkoidose gegen Pneumokokken, Meningokokken und Hib geimpft werden.
Bei Dialysepatienten, Patienten, die häufig Blut oder Blutprodukte bekommen sowie bei Transplantatempfängern ist die Hepatitis-B-Impfung indiziert, weil die Hepatitis B auch heute noch eine nosokomiale Infektion darstellt. Prinzipiell ist eine Übertragung durch kontaminierte Blutprodukte von Patient zu Patient durch Hygienemängel und von infiziertem Personal auf Patienten möglich; derartige Übertragungen sind zwar in Deutschland sehr selten, lassen sich aber auch heute noch nicht vollständig vermeiden. Menschen mit Immundefekten und Neurodermitispatienten können sehr schwer, gelegentlich lebensbedrohlich an Windpocken erkranken. Daher sollten für Varizellen seronegative Menschen (etwa 5 % der erwachsenen Bevölkerung) gegen Varizellen geimpft werden, wenn eine Immunsuppression bevorsteht (etwa im Rahmen einer Organtransplantation oder einer zytostatischen Therapie) oder wenn sie unter Neurodermitis leiden.
Impfungen aufgrund besonderer Lebensumstände Hier sind Frauen mit Kinderwunsch zu nennen, die einen Schutz vor Röteln, Varizellen und Pertussis haben sollten. Frauen, die nicht oder nur einmal gegen Röteln geimpft wurden und keine Rötelnantikörper aufweisen, sollten eine Impfung gegen Röteln erhalten. Weil Windpocken in der Frühschwangerschaft ebenfalls zu einer erhöhten Fehlbildungsrate führen bzw. Varizellen der Mutter um den Geburtstermin eine lebensbedrohliche Infektion des Neugeborenen hervorrufen können, sollten Frauen ohne Antikörper gegen Varizella-zoster-Virus gegen Varizellen geimpft werden. Ebenso wichtig ist ein aktueller Schutz vor Pertussis, um eine Übertragung auf das Neugeborene zu verhüten. Eine Pertussisimpfung sollte erfolgen, wenn die letzte Impfung gegen Pertussis 10 Jahre oder mehr zurückliegt und innerhalb der letzten 10 Jahre keine mikrobiologisch gesicherte Infektion mit Bordetella pertussis stattgefunden hat. Eine Infektion mit dem Pertussiserreger hinterlässt nur eine auf ca. 10 Jahre begrenzte Immu-
Tabelle 19.6 Indikationsimpfungen bei bestimmten Grunderkrankungen. Erkrankung
Impfung gegen
chronische Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen, chronische Leber- und Nierenleiden, Diabetes mellitus und andere Stoffwechselkrankheiten
Influenza
Immundefizienz
Pneumokokken
anatomische oder funktionelle Asplenie
Pneumokokken Meningokokken Hib
chronische Hämodialyse, häufige Übertragung von Blut oder Blutprodukten, Zustand nach Organtransplantation
Hepatitis B
Immundefekte, Neurodermitis, bei fehlender Varizellenimmunität
Varizellen
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Impfstatus und Schutzimpfungen
Tabelle 19.7 Indikationsimpfungen aufgrund besonderer Lebensumstände.
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Risikogruppe
Impfung gegen
ungeimpfte und/oder seronegative Frauen mit Kinderwunsch
Röteln Varizellen Pertussis
Personen, die in FSME-Endemiegebieten leben
FSME
männliche Homosexuelle, i. v. Drogenabhängige, Prostituierte, länger einsitzende Strafgefangene
Hepatitis B
nität, sodass auch Erwachsene wieder erkranken oder als asymptomatische Keimträger andere infizieren können. Für Menschen, die in Risikogebieten der FrühsommerMeningoenzephalitis leben – in Deutschland im Wesentlichen Gegenden im nördlichen und östlichen Bayern sowie im Westen Baden-Württembergs – ist eine FSMEImpfung angezeigt. FSME-Infektionen verlaufen bei Erwachsenen häufiger symptomatisch und im Allgemeinen auch schwerer als bei Kindern. Drogenabhängige, die i. v. zu applizierende Drogen benutzen, männliche Homosexuelle sowie Prostituierte beider Geschlechter sind ebenso wie länger einsitzende Strafgefangene besonders durch Hepatitis B und andere durch Blut übertragbare Infektionen gefährdet. Sie sollten daher gegen Hepatitis B geimpft werden. Bei männlichen Homosexuellen bestehen auch ein erhöhtes Hepatitis-ARisiko und damit eine Impfindikation.
Reiseimpfungen Reiseimpfungen dienen zur Prophylaxe von Infektionen, die im Ausland, vorwiegend in tropischen und subtropischen Gebieten, vorkommen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch in diesen Gebieten die bei uns benötigten Impfungen wichtig sind. Ein Schutz vor Tetanus ist gerade im Urlaub von Bedeutung, in dem die meisten Menschen verstärkt ihren sportlichen Aktivitäten nachgehen und die Verletzungsgefahr entsprechend erhöht ist. Die Diphtherie, die bei uns praktisch eliminiert ist, ist in vielen Regionen Afrikas, in Indien, Bangladesch, Vietnam sowie in Südamerika endemisch, ferner ist die Diphtherieinzidenz in den neuen unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion nach wie vor hoch. Die Poliomyelitis ist zwar dank der Eradikationskampagne der WHO nur noch in Nigeria, Indien, Pakistan und Afghanistan endemisch, in den letzten beiden Jahren wurden aber mehrfach wieder Fälle in verschiedenen Staaten Zentralafrikas, im Jemen und Indonesien registriert. Daher sollte jede Impfberatung für Reisende mit einer Überprüfung des Impfstatus beginnen und eventuell fällige Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie und Poliomyelitis durchgeführt werden. Die Indikation für die eigentliche Reiseimpfung ist nicht nur vom Reiseland, sondern auch den näheren Umständen des Aufenthalts
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(hygienische Bedingungen, Qualität der Unterkunft, Verpflegung, Kontakt mit einheimischer Bevölkerung) und der Reisedauer abhängig. Reiseimpfungen lassen sich in drei Kategorien einteilen: ● Impfungen, die in Ländern mit niedrigerem Hygienestandard sinnvoll sind – hier an erster Stelle die Impfung gegen Hepatitis A bereits im Mittelmeerraum, in Osteuropa und in nahezu allen tropischen Gebieten, für bestimmte Gegenden auch die Impfung gegen Typhus. ● Impfungen, die unter bestimmten Bedingungen zu empfehlen sind, wie die Gelbfieberimpfung bei Reisen in die Gelbfieberendemiegebiete Zentralafrikas und Südamerikas (Amazonien), die Tollwutimpfung bei längeren Aufenthalten in Indien, Südostasien, Zentralafrika oder Südamerika, die Impfung gegen Meningokokken bei einem längeren Aufenthalt und engem Kontakt zur einheimischen Bevölkerung im Meningitisgürtel Afrikas südlich der Sahara sowie die Impfung gegen Japanische Enzephalitis für Reisende, die sich längere Zeit in ländlichen Gebieten in Indien oder Südost- und Ostasien aufhalten. ● vorgeschriebene Impfungen: die Impfung gegen Gelbfieber ist in einigen afrikanischen Staaten, die Vierfachimpfung gegen Meningokokken für Pilgerreisende nach Saudi-Arabien vorgeschrieben.
Literatur 1. Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Impact of vaccines universally recommended for children. United States, 1990-1998. MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 1999;48: 243-8. 2. Nassauer A, Ley S, Quast U et al. Mehr Rechtssicherheit beim Impfen? Ein Diskussionsbeitrag. Bundesgesundheitsbl. 2000; 43: 519-24. 3. Mitteilungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut: Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf bei Schutzimpfungen. Stand 2007. Epidem Bull. 2007; 25:209-32. 4. Robert-Koch Institut. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut/Stand Juli 2007. Epidem Bull. 2007; 30:267-86. 5. Biostoffverordnung. Bundesgesetzblatt Teil I (1999; 50; 1999, 2059; 2003, 2304; 2004, 3758; 2004, 3758; 2006; 2407). 6. Spiess H, Heininger U. Impfkompendium. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2005.
Ärztliche Vorsorge und Vorbereitung für berufliche Langzeitaufenthalte im Ausland
20 Reise-Arbeitsmedizin unter dem Einfluss des globalen Business E. Stockmann
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Das Wichtigste in Kürze Die gründliche Vorbereitung eines Langzeitauslandsaufenthalts aus medizinischer, sozialer und psychologischer Sicht gehört zunehmend zum Arbeitsspektrum von Betriebs- und Hausärzten. Hierbei werden auch die evtl. mitreisenden Familienmitglieder berücksichtigt. Es gilt, sowohl auf den Zustand vor Abreise sowie auch auf die entsprechenden Versorgungsmöglichkeiten vor Ort Rücksicht zu nehmen. Auch aus wirtschaftlicher Sicht (Vermeidung von Behandlungskosten vor Ort, Vermeidung von Arbeitsausfallzeiten) ist eine präzise präventive Vorbereitung sinnvoll, sowohl bei Langzeitaufenthalten wie auch bei Mitarbeitern, die regelmäßig spontan und kurzfristig weltweit verreisen. Besondere Gesundheitsrisiken für Mitarbeiter im weltweiten Business stellen klimatische Faktoren, Ernährung und Hygiene sowie landesspezifische Faktoren dar. Impfempfehlungen beziehen sich einerseits allgemein auf die Standardimpfungen nach der STIKO, ferner auf landesspezifische Empfehlungen.
20.1 Einleitung Die Globalisierung der Märkte führt zu einer stark zunehmenden Mobilitätsnotwendigkeit vieler Mitarbeiter. Hieraus ergeben sich auch für den Arbeitsmediziner/Betriebsarzt sowie in zunehmender Weise auch für den Hausarzt deutlich veränderte und/oder erweiterte Aufgabenbereiche. Es gilt einerseits, die gesundheitliche Befähigung des Mitarbeiters für den beruflichen Auslandsaufenthalt festzustellen (und die notwendigen Impfungen durchzuführen), sowie andererseits die vom jeweiligen Zielland vorgegebenen Gesundheitsrichtlinien (health certificates) zu erfüllen, um einen reibungslosen Arbeitsaufenthalt für den Firmenangehörigen sicherzustellen. ● Sichere und gesunde Arbeitsplätze leisten wichtige Beiträge dazu, wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen, ihn zu sichern, unsere Volkswirtschaft konkurrenzfähig zu halten und den Sozialsystemen zusätzliche Lasten zu ersparen. ● Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gewinnen gerade in Zeiten von Globalisierung und internationalem Wettbewerb zunehmend an Bedeutung.
20.2 Ärztliche Vorsorge und Vorbereitung für berufliche Langzeitaufenthalte im Ausland Häufig ergeben sich für den Betriebsarzt Fragen und Probleme durch den Umstand, dass viele Mitarbeiter bei Langzeitaufenthalten von ihren Familien begleitet werden. Ist die Ehefrau bereit, ihren Beruf für die Karriereentwicklung des Ehemannes aufzugeben? Welche schulischen Möglichkeiten bestehen für die Kinder vor Ort? Gibt es innerhalb der Familie ablehnende Tendenzen gegen den beruflichen Auslandsaufenthalt des Ehemannes/Vaters? Auch werden zunehmend Informationen über lokale Gesundheitsrisiken, örtliche medizinische Versorgungsmöglichkeiten sowie Behandlungswege im Notfall vom Betriebsarzt bzw. Hausarzt erwartet. Neben den rein medizinischen Aspekten der betriebsärztlichen Betreuung erwarten die entsendenden Firmen immer häufiger auch klare Stellungnahmen zu Entsendungen von Mitarbeitern in viele Länder dieser Welt im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit und Rentabilität. Der wirtschaftliche Erfolg einer Firma hängt wesentlich von der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Belegschaft ab. Aus diesem Grund ist neben der sozialen Fürsorgepflicht auch aus dem Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens der Betriebsarzt massiv gefordert. Kann er dem beruflich ins Ausland reisenden Mitarbeiter durch sachkompetente Beratung das Gefühl vermitteln, dass die Firma sich um ihn und seine Gesundheit kümmert, so wird dieser im Ausland eine höhere Bereitschaft entwickeln, seine an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. Die Realisierung dieser Aktivitäten setzt jedoch u. a. eine stabile Gesundheit des Mitarbeiters, aber auch seiner evtl. mitreisenden Ehefrau und Familie voraus. Immer mehr Firmen, die global tätig sind, erweitern und finanzieren deshalb auch die in diesem Zusammenhang nötigen arbeitsmedizinischen Untersuchungen auf die Familienmitglieder. Dies ist hochgradig sinnvoll, da nicht nur die Erkrankung des Mitarbeiters selbst dessen Arbeitsleistung reduziert, sondern auch die Erkrankung eines Familienmitgliedes. In diesem Fall müssen organisatorische Dinge umgesetzt werden, wie Planung eines eventuellen Krankenhausaufenthaltes oder gar eines Transportfluges in eine andere Stadt – bei schwerer Erkrankung sogar ins Heimatland. Ist im Erkrankungsfall ein
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Kind der Patient, so sollte die Begleitung durch ein Elternteil erfolgen. Doch auch im häuslichen Bereich muss, sofern noch mehr Kinder zum Haushalt gehören, vieles für die Versorgung der vor Ort verbleibenden Familie organisiert werden. All dies führt zu einer deutlich reduzierten Arbeitsleistung des Mitarbeiters und rechnet sich somit negativ. Eine gute medizinische Vorbereitung ist also von größter Bedeutung. Häufig entspricht die Gesundheitsversorgung im außereuropäischen Ausland nicht immer unseren medizinischen und hygienischen Standards. So sollte es möglichst vermieden werden, dass Mitarbeiter aufgrund einer bereits bei der Ausreise bestehenden Vorerkrankung lokal einen Arzt aufsuchen müssen. Die in den Ländern häufig vorherrschenden Verständigungsschwierigkeiten verstärken die Problematik. Es sollte also unbedingt darauf geachtet werden, dass der Reisende bei der Ausreise gesund ist. Mit einer eingehenden, rechtzeitig vor Ausreise durchgeführten Ausreiseuntersuchung (inkl. Impfungen) beim zuständigen Betriebsarzt kann dies sichergestellt werden. Die Gewissheit, gesund zu sein, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die persönliche psychische Ausgeglichenheit während eines Auslandseinsatzes. Nur so ist eine uneingeschränkte, berufliche Leistungsfähigkeit zu gewährleisten. Die Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens also sind gesunde und leistungsfähige Mitarbeiter. Dies erfordert: ● maximales Leistungspotenzial des Mitarbeiters ● maximale Leistungsmotivation des Mitarbeiters ● minimale Ausfallzeiten des Mitarbeiters ● Bereitschaft zur Mobilität („Global Player“) Arbeitsaufenthalte in den Tropen bzw. in Ländern mit hygienisch problematischem Niveau können für den im Ausland tätigen Mitarbeiter spezielle Probleme mit sich bringen: ● Änderung des gewohnten Umfeldes ● häufig Ernüchterung nach anfänglicher Euphorie ● Kultur- und Sprachprobleme ● häufig Kontaktschwierigkeiten mit einheimischer Bevölkerung ● Isolation ● mögliche Probleme durch die räumliche Trennung von der restlichen Familie ● bei längeren Aufenthalten ggf. Entfremdung vom heimatlichen Freundeskreis ● mögliche Schwierigkeiten durch das enge Zusammenleben mit Kollegen z. B. auf Baustellen ● andere Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz (insb. auf Baustellen) ● Alkoholprobleme Wird der Mitarbeiter von der Ehefrau/Lebensgefährtin begleitet, so ergeben sich unabhängig von eventuellen Erkrankungen nicht selten zusätzliche Fragen, die sich durchaus zu ernsthaften Störungen sowohl im Privatbe-
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reich, als auch im Berufsleben entwickeln können. Es gilt zu berücksichtigen: ● Gibt die Ehefrau zugunsten des Ehemannes ihren eigenen Beruf auf? ● Ist sie wegen „seiner“ Karriere zum Auslandsaufenthalt überredet worden? ● Hat sie Vorbehalte gegenüber dem Zielland? ● Ist sie in der Lage, sich selbst zu beschäftigen? ● Ist sie kontaktfreudig oder eher -scheu? ● Ist die Ehe stabil oder eher problematisch? ● Gibt es Schwierigkeiten innerhalb der Familie, die einen Auslandsaufenthalt erschweren? Um im gemeinsamen Gespräch auf diese Punkte eingehen zu können, macht es Sinn, wenn sich das (Ehe-)Paar gemeinsam zur Ausreiseuntersuchung beim Betriebsoder Hausarzt einfindet. Bei Arbeitsaufenthalten mit der Familie in den Tropen hat sich in der Praxis immer wieder herausgestellt, dass ● Kinder sich in der Regel schnell und problemlos akklimatisieren, ● i. A. wenig Probleme bei Säuglingen und Kleinkindern entstehen.
20.3 Welche Aufgaben obliegen dem Arzt bei der Betreuung global tätiger Firmenangehöriger? Im Alltag der hausärztlichen Betreuung daheim befindet sich der Patient im Allgemeinen im Zustand der ständig verfügbaren medizinischen Versorgung. Ihm ist bewusst, dass sein Hausarzt oder dessen Vertretung im Notfall immer für ihn erreichbar ist. Wenn ein Arbeitsaufenthalt in einem entfernt gelegenen Land geplant ist, so verändert sich der Anspruch des Patienten an seinen Hausarztbzw. Betriebsarzt durch seinen neuen Arbeitsplatz in der Fremde. Dinge, die im heimischen Leben problemlos sind, gewinnen außerhalb eine andere Bedeutung und führen schnell zu Verunsicherung und Ängsten. Es tauchen sehr schnell Fragen auf: Wie gehe ich vor, wenn ich vor Ort erkranke, wenn meine Frau, meine Kinder ein medizinisches Problem bekommen? An wen wende ich mich bei einem medizinischen Notfall? Beschwerden werden anders wahrgenommen, erzeugen häufig Ängste, und führen somit sekundär zu einer Veränderung der Arbeitsfähigkeit und Leistungsmotivation. Schlimmstenfalls können viele, u. U. leicht zu erklärende Symptome sich psychosomatisch so weit aggravieren, dass der Mitarbeiter nicht mehr arbeitsfähig ist. Beispiele: ● Thoraxbeschwerden, ausgelöst durch Interkostalneuralgien nach langem Sitzen im Flugzeug oder am Schreibtisch, vergesellschaftet mit Bewegungsmangel
Welche Aufgaben obliegen dem Arzt bei der Betreuung global tätiger Firmenangehöriger?
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Atembeschwerden, bedingt durch die lokale hohe Luftverschmutzung mit entsprechenden allergischen/asthmatischen Reaktionen im Bronchialsystem Gastroenteritiden aufgrund der zunächst ungewohnten Zubereitung und Zusammensetzung der Speisen Schlafstörungen und Störungen des allgemeinen Wohlbefindens aufgrund des Jetlags. Es entwickeln sich Beschwerden des Körpers aufgrund des schnellen Wechselns verschiedener Zeitzonen bei Flugreisen. Hierbei kommt es zu einem kurzfristigen Wechsel der TagNacht-Phasen mit den entsprechenden Veränderungen des Schlafrhythmus. Individuell sind die Reaktionen hierauf sehr unterschiedlich, bis hin zu mehrwöchigen Schlafstörungen. Reisen in Ostrichtung werden üblicherweise als unangenehmer empfunden.
Zu dem gewohnten Ablauf beim Besuch des Hausarztes kommt jetzt ein zusätzlicher Anspruch des Patienten hinzu. Er möchte detaillierte Informationen von seinem Haus- oder Betriebsarzt über spezielle gesundheitliche Risiken und den Stand der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten im Zielland haben. Nicht immer sind die Antworten hierauf für den Arzt sofort verfügbar. Er muss sich mit zusätzlichem Aufwand und Zeitbedarf mit dieser neuen Thematik befassen. Des Weiteren kommt dem Haus-/Betriebsarzt zunehmend die Aufgabe zu, seinen Patienten wesentlich intensiver als vielleicht bisher über dessen Erkrankung (oder auch Nichterkrankung) aufzuklären und ihn mit so mancher physiologischen Reaktionsweise eines gesunden Körpers auf ungewohnte, fremde und stressige Situationen vertraut zu machen. Das Wissen um den individuellen Gesundheitszustand ermöglicht es dem Ausreisenden, die eine oder andere medizinische Problematik besser einordnen und interpretieren zu können. Nicht selten berichten Geschäftsreisende oder sog. Short Term Delegates (also Firmenangehörige, die häufig weltweite Kurzreisen durchführen) von passager auftretenden Gesundheitsproblemen, die z. T. der starken Belastung durch Langzeitflüge, zu langem Sitzen, Jetlag oder der hohen Stressbelastung durch Termindruck zuzuschreiben sein könnten. Oder treten z. B. während eines Arbeitsaufenthaltes leichtere Thoraxbeschwerden, typischerweise bei Beuge- und Drehbewegungen auf, so kann den Betroffenen das Wissen über eine wahrscheinliche Interkostalneuralgie als Ursache für seine Beschwerden sehr beruhigen. Er fühlt sich nicht sofort verunsichert und sieht zunächst einmal keine Notwendigkeit, eine evtl. sehr weit gelegene Klinik aufsuchen zu müssen, oder eine Klinik, die vielleicht aufgrund des hohen lokalen Verkehrsaufkommens nur mit großem Zeitaufwand erreicht werden kann. Diese Reaktion auf eine akute Beschwerdesituation ist natürlich nur vernünftig und vertretbar bei kurzfristig auftretenden Beschwerden und wenn im Rahmen einer Ausreiseuntersuchung eine intensive Diagnostik stattgefunden hat, über deren unauffälliges Ergebnis der Betreffende ausführlich informiert wurde. In der Praxis zeigt
sich im Rahmen von Zwischen- oder Rückkehruntersuchungen immer wieder, dass Auslandsmitarbeiter, die speziell in abgelegenen Gegenden mit unklarer medizinischer Versorgung tätig sind, dieses Wissen um einen vor Ausreise stattgefundenen ausführlichen medizinischen Check-Up mit unauffälligem Ergebnis als ausgesprochen beruhigend empfinden. Der Kenntnis all dieser gesundheitlichen Belastungssituationen muss adäquat durch speziell ausgebildete Hausärzte oder – bei größeren Firmen durch Betriebsärzte – Rechnung getragen werden. Durch eine fundierte medizinische Betreuung wird letztendlich auch eine höhere Arbeitsleistung des Mitarbeiters erreicht – durch niedrigere krankheitsbedingte Ausfallzeiten und durch eine höhere Leistungsmotivation. Die Kenntnis der eigenen stabilen Gesundheit lassen den Arbeitnehmer die Belastung der ungewohnten Arbeitsbedingungen und die Erschwernisse durch eine neue fremde Umgebung deutlich entspannter hinnehmen. Es erscheint sinnvoll, vonseiten des Haus-/Betriebsarztes den entsendenden Abteilungen speziell kleinerer Firmen bewusst zu machen, dass es nicht nur aus dem medizinisch-sozialen Blickwinkel sinnvoll ist, den für die Firma ins Ausland gehenden Mitarbeiter im Vorfeld gründlich auf seine medizinische Eignung zu überprüfen, und ihm alle sinnvollen Medikamente sowie nötigen Impfungen auf Firmenkosten zukommen zu lassen, sondern dass es auch aus kaufmännischer Sicht ein vernünftiges und empfehlenswertes Vorgehen ist, das sich auch finanziell rechnet. Die Firma erspart sich deutliche Mehrkosten für die Behandlung des Mitarbeiters vor Ort und die eventuell noch höheren Kosten für Ausfallzeiten. Zusätzlich entsteht durch krankheitsbedingten Ausfall häufig Ärger mit dem Kunden, da Aufträge nicht termingerecht erfüllt werden können. Nehmen wir beispielweise eine Hepatitis-A-Erkrankung. Im Allgemeinen benötigt diese Erkrankung eine Zeitspanne von ca. 6 Wochen bis zur Ausheilung. Ein Auslandstätiger wird im Durchschnitt in Abhängigkeit von seiner Tätigkeit mit 1000 bis 1300 € pro Tag berechnet. Normalerweise finden wir in fast allen außereuropäischen Ländern eine 6-Tage-Woche im Gegensatz zur 5Tage-Woche bei uns. Das bedeutet, dass ein im Ausland an einer Hepatitis A Erkrankter seiner Firma mindestens Zusatzkosten in Höhe von 36 000 bis 40 000 Euro einbringt. Bei gewissenhaft durchgeführter, von der Firma rechtzeitig in Auftrag gegebener Ausreiseuntersuchung wäre für einen Bruchteil dieser Summe eine entsprechende Impfung durchgeführt worden. So wäre diese Erkrankung erst gar nicht aufgetreten und die entsendende Firma hätte eine Menge Geld gespart. Nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus kaufmännischer Sicht ist es empfehlenswert, neben ausführlichen Untersuchungen auch diejenigen Mitarbeiter entsprechend medizinisch zu betreuen, die oft kurzfristig und spontan weltweit reisen müssen. Ausführliche und regelmäßige Untersuchungen, sowie Impfungen mit
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Langzeitwirkung sind eine probate Prophylaxe, die sich für diese Klientel bestens bewährt hat. Dieses Vorgehen hat sich bei allen Firmen, die beispielsweise im Servicebereich kurzfristig Mitarbeiter weltweit einsetzen, als äußerst sinnvoll erwiesen. Neben der Sicherstellung der gesundheitlichen Stabilität sollte dem Reisenden auch seine Blutgruppe bekannt sein. Ist dies nicht der Fall, so sollte diese beim Betriebsoder Hausarzt vor der Ausreise bestimmt werden, im Blutgruppenausweis vermerkt und dieser dem Ausreisenden ausgehändigt werden. Neben den ärztlicherseits indizierten Untersuchungen sind in den Richtlinien der Berufsgenossenschaften im Grundsatz „G35“ [1] die Inhalte und zeitlichen Abstände der diesbezüglich vorgeschriebenen Untersuchungen festgehalten. Ziel und Inhalt der medizinischen Betreuung aus ärztlicher Sicht: ● Einstellung gesunder und leistungsfähiger Mitarbeiter ● Verhinderung von Infektionskrankheiten bei neu eingestellten Mitarbeitern mittels standardisierter Einstellungsuntersuchungen ● Gesunderhaltung des Mitarbeiters am Arbeitsplatz
20.4 Gesundheitsrisiken im internationalen Business 20.4.1 Klima Elektrolytverlust durch übermäßiges Schwitzen Auf die Frage, ob 48 °C Lufttemperatur im Schatten bei 10 % Luftfeuchtigkeit z. B. in Saudi-Arabien angenehmer oder unangenehmer seien als 33 °C bei 95 % Luftfeuchtigkeit in Singapur wird manch einer sich nicht spontan vorstellen können, dass die hohe Temperatur bei niedriger Feuchte deutlich angenehmer zu ertragen ist. Das subjektiv stark empfundene Schwitzen in den zwar weniger heißen, aber extrem feuchten Gegenden führt zu einem größeren Durstgefühl, wodurch die Flüssigkeitszufuhr in der Regel ausreichend ist. In heißen, trockenen Ländern dagegen besteht eine größere Dehydratationsgefahr aufgrund des niedrigeren Durstgefühles und der daraus folgenden geringeren Flüssigkeitszufuhr. Der Flüssigkeits- und damit Elektrolytverlust wird durch starkes Schwitzen, z. B. bei körperlicher Arbeit, Durchfall, Erbrechen oder Unterernährung verstärkt [Web2]. Elektrolythaltige Getränke mit Natrium- und Kaliumsalzen werden benutzt, um Elektrolyte nach Dehydratation nachzufüllen. Reines destilliertes Wasser ist nicht hilfreich, da es den Körperzellen Salze entzieht und deren chemische Funktionen beeinträchtigt. Dieses kann zu Hyperhydration führen.
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Sonnenstich Ein Sonnenstich ist Folge einer starken Sonneneinstrahlung auf den ungeschützten Kopf und Nacken, wobei ein Sonnenstich nicht immer mit warmen oder gar heißen Umgebungstemperaturen zusammenhängen muss, er kann auch bei kühleren Umgebungstemperaturen auftreten. Besonders Menschen mit fehlender bzw. mangelhafter Kopfbehaarung sind gefährdet. Dazu zählen v. a. auch Säuglinge! Bei einem Sonnenstich können folgende Symptome auftreten: ● starke Kopfschmerzen ● Übelkeit und Erbrechen ● Nackensteifigkeit ● Schwindel ● Fieber ● Kreislaufschwäche bis hin zum Kreislaufzusammenbruch Als Notfallmaßnahmen gelten: nach Möglichkeit sofort einen Notruf tätigen ● den Betroffenen ins Kühle legen und evtl. feuchte, kühle Tücher um den Kopf wickeln ● den Oberkörper erhöht lagern ● dem Betroffenen – sofern er ansprechbar ist – zusätzlich kühle Getränke reichen ●
Vorbeugung: Bei starker oder längerer Sonneneinstrahlung sollten Kopf und Nacken unbedingt mit einer möglichst luftdurchlässigen Kopfbedeckung geschützt werden.
Hitzschlag Unter einem Hitzschlag versteht man gesundheitliche Beschwerden, die durch warme Umgebungstemperaturen ausgelöst sind. Begünstigt werden diese Phänomene durch hohen Flüssigkeits- und Elektrolytverlust bzw. starkes Schwitzen bei mangelnder Flüssigkeitszufuhr, körperlicher Anstrengung oder Alkoholkonsum. Typische Symptome für Hitzschlag: ● Schwächegefühl ● Verwirrtheit ● trockene, heiße Haut ● Krämpfe ● Körpertemperatur bis über 40 °C ● Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma ● Kreislaufschock Erste-Hilfe-Maßnahmen bei einem Hitzschlag: nach Möglichkeit sofort einen Notruf tätigen ● den Betroffenen ins Kühle bringen und ihn evtl. zusätzlich mit feuchten Tüchern einwickeln ● bewusstlose Person in die stabile Seitenlage bringen ● bei Ansprechbarkeit kühle Getränke geben ●
Gesundheitsrisiken im internationalen Business
Vorbeugung: Anstrengungen bei großer Hitze meiden ● geeignete, luftdurchlässige Kleidung tragen ● ausreichend trinken, auch ohne Durst ● Alkohol oder andere Rauschmittel vermeiden ● schwere körperliche Belastung in feuchtheißen Ländern möglichst meiden ●
Klimaanlagen Die Klimaanlagen (Air condition) in tropischen Ländern sind eine überall existierende, nicht beherrschte Quelle von Erkältungskrankheiten aller Art. In den meisten Fällen betritt man einen gekühlten Raum, sei es einen Supermarkt oder ein Restaurant, in verschwitztem Zustand. Auch wenn die Außentemperatur noch so heiß und feucht ist, so macht es immer Sinn, beim Einkaufen oder beim Besuch eines Restaurants ein Jackett, einen Pullover o. Ä. mit sich zu führen, um sich nicht in der kalten Zugluft der Klimaanlage eine Erkältung zuzuziehen.
Weblinks ● ● ● ● ●
Web1: Vitanet (Gesundheitsportal): www.vitanet.de/ fitness-gesundheit/reisen-gesundheit Web2: Temperaturregulation bei körperlicher Arbeit: www.elektrolytmangel.de/hitze-belastung.htm Web3: Centrum für Reisemedizin: www.crm.de Web4: Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit e. V.: www.dtg.org Web5: Robert-Koch-Institut: www.rki.de
botenen Speisen ist für uns nicht nachvollziehbar und auch deren Zubereitung birgt Gesundheitsrisiken in sich. Um ein durch die Nahrungskette vorhandenes Gesundheitsrisiko so klein wie möglich zu halten, sollte man bei der Auswahl und der Zubereitung der Nahrungsmittel besonders vorsichtig sein und einige in tropischen Ländern und Ländern mit niedrigem hygienischen Niveau besonders wichtige Regeln beachten: ● möglichst nur durchgekochte oder -gebratene Speisen zu sich nehmen (also möglichst kein medium oder blutig gebratenes Steak) ● kein Leitungswasser trinken, sondern die überall preiswert erhältlichen, fabrikseitig verschlossenen Mineralwasserflaschen verwenden ● möglichst nur Obst und Gemüse essen, das geschält werden kann. Früchte und Gemüse sind häufig durch die Düngung mit Krankheitskeimen belastet, die durch bloßes Waschen nicht zu entfernen sind ● im häuslichen Bereich besonders auf allgemeine Hygiene achten (Hauspersonal!) ● Vorsicht mit Eiswürfeln im Restaurant! Sie sind häufig aus Leitungswasser hergestellt und können eine Vielzahl von Krankheitserregern enthalten, welche durch das Tiefkühlen nicht absterben. ● Da es in warmen Ländern durch das vermehrte Schwitzen sehr leicht zu Flüssigkeits- und Salzverlusten kommt, sollte man daran denken, möglichst viel zu trinken. ● Da sich Durchfallerkrankungen häufig durch Erreger entwickeln, die sich im tropischen Klima in Lebensmitteln schnell vermehren, sollten Speisen, die nicht komplett verzehrt wurden, unbedingt im Kühlschrank aufbewahrt werden. Hierdurch wird die Vermehrung der Krankheitserreger unterbrochen bzw. verlangsamt. Ein baldiger Verzehr dieser Speisen ist ratsam.
20.4.2 Ernährung Cook it, boil it, peel it or forget it! Nicht selten kommt es vor, dass bereits kurz nach Ankunft im Gastland der Magen rebelliert und die zunächst gute Stimmung merklich beeinträchtigt wird. Die Freude auf ein kühles Getränk war sehr groß, aber man hatte nicht bedacht, dass die Eiswürfel darin Krankheitserreger beherbergen können, die auf den Menschen übergehen und im schlimmsten Fall zum Durchfall führen. In sehr vielen Ländern weltweit sind bakterielle Durchfallerkrankungen weit verbreitet. Sie kommen von leichten bis hin zu schwersten wässrigen Durchfällen vor, wie z. B. bei Cholera. Letztere tritt aber im Wesentlichen nur dort auf, wo sehr schlechte hygienische Bedingungen vorherrschen. Auch ist der Organismus bei Ankunft zunächst noch nicht an die andersartigen Gewürze sowie die unterschiedliche Zubereitung der Speisen des Gastlandes gewöhnt. Oft fällt es schwer, sich auf der Straße von den zum Teil köstlich duftenden Speisen in sog. Garküchen nicht verführen zu lassen. Die Herkunft der dort ange-
20.4.3 Hygiene Mangelnde Hygiene ist v. a. in abgelegeneren ländlichen Gebieten mit der häufigste Auslöser für eine Vielzahl von Erkrankungen. Durchfallerreger finden sich häufig: in der Nahrung (nicht frisch abgekocht oder nicht durchgebraten) ● in der Küche (Küchengeräte, Besteck) ● beim Hauspersonal (krank, Dauerausscheider?) ● bei Kindern (Spielen auf dem Fußboden) ● bei Haustieren (Schmusen) ●
Tropenkrankheiten werden übertragen von: Stechmücken/-fliegen, Kriebelmücken ● Läuse, Raubwanzen, Flöhe, Zecken, Milben ●
Tuberkulose, Meningitis, Typhus über: Tröpfcheninfektion (Hand vor den Mund bei Niesen/ Husten)
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Ausatemluft von Kranken infizierte Milch infizierte, nicht frisch abgekochte Nahrung z. B. Garküchen auf der Straße nähere Kontakte mit infizierten Menschen (Sexualkontakte, Küssen, Hände)
Vorbeugende Maßnahmen: Einstellungsuntersuchung bei gesamtem Hauspersonal: Röntgenaufnahme des Thorax (RöTho), Stuhl/Urin, Labor mit HIV (immer mit Zustimmung), Hepatitis B, Blutbild (BB), Blutkörperchensenkungsreaktion (BKS). ● einmal pro Jahr: med. Kontrollcheck (RöTho, Stuhl/ Urin, BB, BKS), zusätzlich bei Fahrer und Koch: Sehtest, Leberwerte ● halbjährlich: Stuhluntersuchung, bei Wurmbefall nach der Therapie Kontrolluntersuchung ● regelmäßige Reinigung der Küchengeräte ● Toiletten- und Nassraumhygiene (mögliche Brutstätte für Mücken) ● keine offenen, stehenden Gewässer im häuslichen Bereich, da sie Brutstätten für Mücken sind ● Mückengitter an allen Fenstern, Mückennetze an den Eingängen ● Müll lockt Mäuse, Ratten u. Ä. an ● Impfungen der Haustiere, 3- bis 4-mal pro Jahr Wurmkur, jährlich zum Tierarzt ● Wassertanks reinigen, Filter pflegen ● Wartung der Klimaanlagen ●
20.4.4 Landesspezifische Erkrankungen, Tropenkrankheiten Neben Erkrankungen, die über die Nahrungskette erworben werden (z. B. Hepatitis A, Typhus, Amöben u. Ä.), können sich auch Krankheiten als Folge eines Insektenstiches (z. B. Malaria, Dengue-Fieber, Japanische Enzephalitis) entwickeln. Hier sollte man wissen, dass diese Erkrankungen teils durch nachtaktive (z. B. bei Malaria, Jap. Enzephalitis) und teils durch tag- und nachtaktive Insekten (z. B. bei Dengue-Fieber) übertragen werden. Häufige Erkrankungen (Beispiele) sind: ● Amöben ● Bilharziose ● Dengue-Fieber ● Durchfallerkrankungen ● Gelbfieber ● Hepatitis A, ggf. Hepatitis B ● Japanische Enzephalitis ● Malaria ● Meningokokkenmeningitis ● Poliomyelitis ● Tetanus/Diphtherie ● Tollwut ● Tuberkulose ● Typhus
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In Abhängigkeit vom geplanten Zielland sollten o. g. Erkrankungen im Rahmen der Ausreiseuntersuchungen mit dem Patienten besprochen werden. Man sollte abgeklären, ob spezielle Impfungen oder Verhaltensweisen nötig sind [Web3].
20.5 Impfvorschriften und -empfehlungen Neben Beschwerden, die man sich aufgrund nicht beachteter Regeln zugezogen hat, ist jedoch auch eine ganze Reihe von möglichen Erkrankungen bekannt, gegen die man sich trotz gewissenhaftem Befolgen von Vorsichtsmaßnahmen nicht zuverlässig schützen kann. Hier können nur spezielle, komplett durchgeführte Impfungen einen ausreichenden Schutz bieten [Web3-5, 2]. Die Bedeutung eines zuverlässigen Impfschutzes darf nicht unterschätzt werden. Weltweit ist eine deutliche Zunahme vieler als bekämpft gegoltener Infektionskrankheiten zu verzeichnen. Dies ist im ursächlichen Zusammenhang zu sehen – einerseits mit dem erhöhten Aufkommen des globalen Massentourismus, andererseits dem Ansteigen beruflicher Reisetätigkeiten aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung der Kontinente. Leider werden diese Reiseaktivitäten nicht immer von entsprechender medizinischer Aufklärung sowie den nötigen Impfaktionen begleitet. Ein sinnvoller Impfschutz unterscheidet einerseits die generelle Impfprophylaxe, die jeder (unabhängig vom Aufenthaltsland) haben sollte, andererseits die speziellen Impfungen in Abhängigkeit vom jeweiligen Reise-/Einsatzland. Man unterscheidet drei Kategorien von Impfungen: Impfungen, die evtl. vorgeschrieben sind. Nach den internationalen Gesundheitsbestimmungen (International Health Regulations) ist eine zwingende Impfvorschrift zur Einreise in bestimmte Länder nur gegen Gelbfieber vorgesehen, und zwar meist nur bei Ankunft aus Endemie- bzw. Infektionsgebieten. Neben dem persönlichen Schutz des Reisenden geht es hier v. a. darum, eine Verschleppung des Erregers in gelbfieberfreie Gebiete zu verhindern. Ergänzend hierzu können einzelne Länder Impfvorschriften für die Ein- und Ausreise erlassen, wie z. B. gegen Meningokokkenmeningitis, Poliomyelitis, selten auch noch gegen Cholera. Bei der Aufstellung des Impfplans ist neben dem Reiseziel immer auch die Reiseroute zu berücksichtigen; Zwischenaufenthalte, auch im Transit, können die Impfpflicht ändern. Impfungen, die generell empfohlen sind. Hierzu gehören alle Standardimpfungen, die der Reisende gemäß seinem Alter und nach dem aktuellen Impfkalender der STIKO (Ständige Impfkommission [3]) haben soll (z. B. Tetanus,
Impfvorschriften und -empfehlungen
Diphtherie, Poliomyelitis, Hepatitis B, Masern, ggf. Varizellen, Grippe, Pneumokokken). Impfungen, die bei Risiko empfohlen sind. Derartige „Indikationsimpfungen“ setzen ein entsprechendes Risiko voraus, wie z. B. gegen Hepatitis A, Typhus, Tollwut, Meningokokkenmeningitis, FSME, Japanische Enzephalitis und Gelbfieber, sofern Letztere nicht ohnedies für die Einreise vorgeschrieben ist. Impfempfehlungen für Schwangere und Kinder. Einen besonderen Stellenwert nehmen die Impfempfehlungen während der Schwangerschaft und bei Kindern (Tab. 20.1) ein. ● als unbedenklich gelten (vorzugsweise erst ab 2. Schwangerschaftsdrittel impfen): – Diphtherie – Poliomyelitis – Tetanus ● relativ kontraindiziert (wegen fehlender Erfahrungen, Impfung nur unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung): – Cholera – FSME – Gelbfieber (s. o.) – Hepatitis A/B – Influenza – Japanische Enzephalitis – Tollwut (präexpositionell = vorbeugend) – Typhus ● absolut kontraindiziert sind: – Masern-Mumps-Röteln – Varizellen
Tabelle 20.1 Mindestalter bei Reisempfehlungen für Kinder [2, 3]. Impfstoff
Mindestalter
Standardimpfstoffe gemäß STIKO (Diphtherie, Tetanus, Hib, Poliomyelitis, Hepatitis B, Pertussis)
2 Monate*
Gelbfieber
6 (9) Monate**
Influenza
6 Monate
Masern
9 (6)Monate***
FSME
1 Jahr
Hepatitis A
1 Jahr
Japanische Enzephalitis
1 Jahr
Typhus (oral)
1 Jahr
Typhus (parenteral)
2 Jahre
*
Ausnahme: Hepatitis-B-Simultanprophylaxe bei exponierten Neugeborenen ** nach WHO sollte erst ab 9. Monat geimpft werden; ggf. Risikoabwägung *** nach WHO evtl. schon ab 6. Monat, dann aber Nachimpfung termingerecht gemäß STIKO-Impfkalender [4]
Kasuistik Anschauungsbeispiel am Einsatzort Südostasien Am eindrucksvollsten lassen sich die speziellen Problempunkte, die einen Mitarbeiter in seinem neuen Wirkungskreis im Ausland erwarten, an konkreten Beispielen veranschaulichen. Im Nachfolgenden soll dies am Beispiel Asien dargelegt werden. Vor der Ausreise nach Südostasien sind neben der Erhebung der rein medizinischen Daten wie Labor, EKG und Röntgen, lokalspezifische Informationen bezüglich medizinischer Versorgung für einen beruflich Ausreisenden, besonders mit Familie von großem Interesse. Der vom Arzt empfohlene Impfplan für China sollte wie folgt aussehen: ● Tetanus/Diphtherie ● Poliomyelitis ● Hepatitis A nach vorheriger Antikörpertestung durch den zuständigen Betriebsarzt ● Hepatitis B nach vorheriger Risikoabwägung beim Betriebsarzt ● Typhus: oral als Kapseln oder als Injektion ● Japanische Enzephalitis: in Abhängigkeit vom Einsatzort, der Jahreszeit und von der Einsatzdauer ● Malaria: abhängig vom Einsatzort und der Einsatzdauer ● Tollwut: nach vorheriger Risikoabwägung beim Betriebsarzt Beruhigend wirkt sich i. A. die Tatsache aus, dass sich im Laufe der letzten Jahre das allgemeine medizinische Versorgungsniveau in Südostasien deutlich gesteigert hat, ganz besonders in Singapur und Bangkok. Dies gilt z. Zt. noch nicht in gleichem Maße für die ländlichen Gegenden. In diesen Gebieten ist die medizinische Versorgung nach wie vor eher problematisch. Hier wird auf einem z. T. bedenklichen hygienischen Niveau überwiegend traditionelle Medizin betrieben. Medikamente werden in den Kliniken meist ohne Erklärung und ohne Beipackzettel und Verfallsdatum in kleinen Tüten an die Patienten ausgegeben. Häufig werden diese dann von Ausländern nicht eingenommen, da keine genaue Vorstellung davon existiert, was man eigentlich zu sich nimmt bzw. welche Wirkung dieses Medikament haben soll. Körperliche Untersuchungen werden häufig ohne Berücksichtigung jeglicher Privatsphäre in Gruppenräumen durchgeführt, welche dann auch noch überfüllt sind, da Asiaten zum Arztbesuch meistens von einem Teil der Verwandtschaft begleitet werden. Asiatische Ärzte geben oft auch bei Bagatellerkrankungen Antibiotika, obwohl ein unkritischer Gebrauch dieser Mittel ohne entsprechende medizinische Indikation unnötig unangenehme Nebenwirkungen nach sich ziehen kann. Besteht die Notwendigkeit einer Röntgenaufnahme der Lunge, um z. B. eine Verlängerung der Arbeitserlaubnis in Asien zu erhalten, stehen inzwischen moderne Röntgenabteilungen in großen westlich orientierten Kliniken oder kleineren modernen Ambulanzkliniken zur Verfügung, die auch in der Regel mit einem vertretbaren Maß
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Reise-Arbeitsmedizin unter dem Einfluss des globalen Business
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an Strahlenbelastung arbeiten. Die modernen Kliniken in den Großstädten verfügen heutzutage meistens über sog. „Ausländerabteilungen“. Diese sind mit modern eingerichteten, sauberen Einzelzimmern mit eigenem Bad, TV und Telefon ausgestattet. Auch findet man hier immer einen 24-Stunden-Service mit ständiger Präsenz eines diensthabenden Arztes, sowie volle Verpflegung durch das Haus, was in Asien nicht überall selbstverständlich ist, da der Patient häufig von Familienangehörigen verpflegt werden muss. In ländlichen Gegenden gibt es solche Ausländerabteilungen i. A. nicht. Stationäre Patienten müssen hier in hygienisch meist unzureichenden Zimmern, in denen eine Vielzahl Patienten untergebracht ist, von Familienangehörigen versorgt werden. Des Weiteren sollten möglichst alle für die Einreise benötigten medizinischen Untersuchungen beim Haus- oder Betriebsarzt durchgeführt sein, um somit den Behörden in Asien die geforderten Unterlagen (Originalbefunde, Röntgenbild-Kopie) vorlegen zu können. Diese werden im Allgemeinen von den dortigen Behörden anerkannt. Falls dies in dem einen oder anderen Fall nicht so sein sollte, da lokale Behörden vielleicht die Vorschriften kurzfristig geändert haben, sollte man sich an die zuständige Personalabteilung bzw. den zuständigen Betriebsarzt (über den Betrieb zu erfragen) wenden.
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20.6 Resümee Resümierend sollten wir bemüht sein, Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte, speziell in ländlichen Gebieten, durch besondere Vorsicht im Umgang mit der Ernährung, der Hygiene, dem Straßenverkehr und natürlich am Arbeitsplatz zu vermeiden. Glücklicherweise zeigt sich jedoch in der Praxis immer wieder, dass beim Befolgen dieser Regeln in tropischen Ländern sowie in Ländern mit problematischen hygienischen Bedingungen i. A. kein wesentlich erhöhtes Gesundheitsrisiko besteht. „Gesund ausreisen, gesund bleiben, gesund zurückkehren“ Dies sollte ein wichtiger Leitsatz jedes Auslandsaufenthaltes sein.
Literatur 1. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. 4. Aufl. Stuttgart: Gentner; 2007. 2. Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit (DTG). Hinweise und Empfehlungen zu Reiseimpfungen. München: DTG; 2006. Verfügbar unter www.dtg.org. 3. Robert-Koch-Institut. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO). Epidemiologisches Bulletin 30/2008. Verfügbar unter www.rki.de. 4. Robert-Koch-Institut. Impfkalender 2008. Erschienen 25. 07. 2008. Verfügbar unter www.rki.de.
Gesetzliche Grundlagen
21 Eignungstests in der Flugmedizin G. Kluge, R. Gerzer
Das Wichtigste in Kürze Jede ärztliche Maßnahme kann die Flugtauglichkeit und damit die Arbeitsfähigkeit eines Piloten einschränken. Daher ist die Kenntnis der Konsequenzen für diese Personengruppe wichtig, um die in diesem Buch beschriebenen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und die daraus resultierenden Konsequenzen für Piloten zu erfassen. ● Eine Flugtauglichkeitsuntersuchung ist in regelmäßigen Abständen notwendig und wird von flugmedizinischen Sachverständigen durchgeführt. ● Besondere Belastungen eines Piloten sind durch Faktoren wie Arbeitszeit, Jetlag, Strahlung, Druckschwankungen, Lärm und Vibration sowie soziale und Lifestyleansprüche gegeben. ● Neben den medizinischen Mindestanforderungen, die an die Tätigkeit eines Piloten gestellt werden, gibt es eine Reihe an Normabweichungen und Pathologien, die von der Arbeit als Piloten ausschließen. ● Zu den Eignungstests für die Flugtauglichkeit gehören neben Anamnese, klinischer Untersuchung und basalen laborchemischen Untersuchungen auch Seh- und Hörtests sowie in unterschiedlichen Abständen das Ruhe-EKG sowie eine Lungenfunktionsprüfung. Je nach Normabweichung bzw. weiteren Befunden sind entsprechend weiterführende Maßnahmen einzuleiten. ● Präventive und therapeutische Maßnahmen sollten initial nichtmedikamentös und eher auf aufklärender und gesundheitsschulender Basis erfolgen. Medikamentöse Behandlungen erfordern ggf. Rücksprachen mit dem flugmedizinischen Sachverständigen oder der Zulassungsbehörde.
21.1 Gesetzliche Grundlagen 21.1.1 Gesetzliche Anforderungen an den flugmedizinischen Sachverständigen Der Pilot muss sich in regelmäßigen Abständen einer Flugtauglichkeitsuntersuchung unterziehen und seine gesundheitliche Befähigung nachweisen, das ihm anvertraute Luftfahrzeug sicher zu führen. Ermächtigte flugmedizinische Sachverständige [Web1] führen diese Tauglichkeitsuntersuchung durch. Die nachzuweisenden Qualifikationen als Sachverständiger sind in der LuftVZO § 24 e [1] festgelegt:
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Qualifikation als Allgemein-, oder Arbeitsmediziner oder Internisten Teilnahme an einem vom Luftfahrtbundesamt anerkannten flugmedizinischen Grundlagenkurs [Web3] Besitz eines Luftfahrerscheines für Privatpiloten
Für die Begutachtung der Berufspiloten ist die Zusatzbezeichnung Flugmedizin und 3-jährige Erfahrung mit einer ausreichenden Untersuchungszahl (120) von Privatpiloten notwendig.
Tauglichkeitsrichtlinien Seit Mai 2003 hat Deutschland die „Joint Aviation Requirements – Flight Crew Licensing Kapitel 3“ (JAR-FCL 3, Amendment 2) für das Luftfahrtpersonal verabschiedet [2]. Die Bundesrepublik hat mit den zunehmenden Verflechtungen der zivilen Verkehrsluftfahrt in Europa konsequenterweise auch im Bereich der Begutachtung von Luftfahrtpersonal einen Schritt in Richtung europäischer Harmonisierung gesetzt. Sie ermöglichen die gegenseitige Anerkennung der Flugtauglichkeitsbestimmungen aller beteiligten Staaten. Mit der Einführung der JAR-FCL wurde die Freizügigkeit der Wahl des flugmedizinischen Sachverständigen (AME: Aeromedical Examiner) in allen Mitgliedsstaaten ermöglicht. Die Richtlinien basieren auf einer minimalen Konsensbildung aller in den Joint Aviation Authorities (JAA, [Web2]) vereinten Staaten und wurden in Fachgremien, die durch Spezialisten einzelner Nationen besetzt waren, verhandelt. Als Vorlage dienten zum einen die Mindeststandards der ICAO (International Civil Aviation Organization – Sonderorganisation der Vereinten Nationen), zum anderen die nationalen Richtlinien, die im Laufe der Jahrzehnte daraus erwachsen waren. Diesen Richtlinien hat in der Entwicklung jedoch kein Datenmaterial zugrunde gelegen, welches aus einer evidenzbasierten Datenlage entstanden ist. Noch heute gibt es in Deutschland keine Datenbank, die eine einheitliche Erfassung der Piloten ermöglicht, sodass Daten ausschließlich aus dem Kollektiv eines einzelnen Untersuchers erwachsen oder das Ergebnis von Flugunfalluntersuchungen sind.
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Eignungstests in der Flugmedizin
Rechtliche Grundlagen der Fliegertauglichkeitsuntersuchung und Eignungstests
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Die LuftVZO sowie die 1. Durchführungsverordnung zur LuftVZO regeln Untersuchungsumfang, Art, Verfahren, Häufigkeit und Fristen. Der anerkannte AME stellt nach erfolgreicher Tauglichkeitsuntersuchung ein Zeugnis aus, welches der Pilot zusammen mit seinem Luftfahrerschein zur Wahrnehmung des Flugdienstes berechtigt.
Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Flugmediziner Die freie Arztwahl überlässt dem Piloten die Auswahl des begutachtenden AME, der meist nicht identisch mit dem behandelnden Hausarzt ist. Kommunikation oder Informationsaustausch zwischen Hausarzt und Flugmediziner finden selten statt. Andererseits haben gesunde Piloten außer dem regelmäßigen Kontakt zum Flugmediziner häufig keinen weiteren behandelnden Hausarzt. Die Statuserhebung im Rahmen der JAR-FCL gestaltet sich aus Sicht der versichernden Berufsgenossenschaft Fahrzeughaltung als unzureichend, sodass eine Arbeitshilfe zur Durchführung von arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen bei fliegendem Personal (Cockpit) [3] geschaffen wurde, um die Lücken der Fliegertauglichkeit zu berufsgenossenschaftlichen Vorsorgegrundsätzen abzudecken.
Weblinks ●
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Web 1: Flugmedizinische Sachverständige in Deutschland (Liste Luftfahrtbundesamt): www2.lba.de/webdb/ showtab.jsp?table=flareg Web2: Deutsche Akademie für Flug- und Reisemedizin: www.flugmed.org Web3: Joint Aviation Authorities: www.jaa.nl Web4: Luftfahrtbundesamt: www.lba.de
21.2 Tauglichkeitsuntersuchung 21.2.1 Ziel der Tauglichkeitsuntersuchung: Statuserhebung Von der Erstuntersuchung eines Piloten abgesehen besteht die regelmäßige Untersuchung aus einer ausführlichen Anamnese, welche in der 1. Durchführungsverordnung zur LuftVZO festgelegt ist. Dem AME ist es überlassen, nach seinem Untersuchungsbefund die Indikation zu zusätzlichen Untersuchungen zu stellen. Ziel der Begutachtungskriterien ist nicht die Prävention, sondern allein
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die Kompatibilitätsprüfung mit den Begutachtungsrichtlinien. Die Nachuntersuchungen für kommerzielle Piloten (Klasse 1) werden bis zum 40. Lebensjahr jährlich, danach halbjährlich durchgeführt. Privatpiloten (Klasse 2) müssen sich bis zum 30. Lebensjahr alle 5 Jahre, bis zum 50. Geburtstag alle 2 Jahre und nach dem 50. Lebensjahr jährlich untersuchen lassen.
21.2.2 Epidemiologie und besondere Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Piloten In der Bundesrepublik waren Ende 2006 14 709 Berufspiloten und 66 347 Privatpiloten registriert (Luftfahrtbundesamt, [Web4]). Hinzu kommen ca. 3000 militärische Luftfahrzeugführer, die in der Statistik des Luftfahrtbundesamtes nicht enthalten sind und ihren eigenen militärisch-fliegerärztlichen Dienst haben. Nach fast identischen Kriterien werden die ca. 1800 Fluglotsen der Deutschen Flugsicherung (DFS) begutachtet. Nur etwa 3 – 4 % aller Piloten sind weiblich. Piloten sind durch ihre Tätigkeit besonderen physikalischen und psychologischen Belastungen ausgesetzt: ● Arbeitszeit: Gesetzlich sind 900 Stunden Blockzeit (Zeit vom Abheben bis zur Landung) pro Jahr erlaubt. Tätigkeiten wie Flugvorbereitung und technische Überprüfung, Wenden des Luftfahrzeuges etc. gehören nicht zur Blockzeit. Die höchstzulässige tägliche Einsatzzeit inkl. Flugzeit beträgt 12 Stunden, unter besonderen Bedingungen 14 Stunden. An- und Abreise zum Abflugort zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn nicht anderweitig tarifrechtlich geregelt. ● Jetlag: Transkontinentale Flüge, aber auch Schichtdienstmodelle sowie wechselnde Hotels mit unterschiedlichsten Betten führen häufig zu veränderten Tag-Nacht-Rhythmen, welche mit zunehmendem Alter zu Adaptationsstörungen wie leichter Erschöpfbarkeit, Konzentrationsstörungen, Ein- und Durchschlafstörungen führen. ● Strahlung: Piloten unterliegen nach der Strahlenschutzverordnung einer Dosisüberwachung durch Höhenstrahlung. Bei Überschreiten einer effektiven Dosis von 6 mSv ist die Vorsorgeuntersuchung durch einen zur Strahlenschutzvorsorgeuntersuchung ermächtigten Arzt erforderlich. Die Strahlenbelastung wird vom Arbeitgeber durch ein vom Luftfahrtbundesamt zugelassenes Erfassungssystem dokumentiert und ist von Flugroute, -höhe und -dauer abhängig. Nördlich und südlich des 60. Breitengrads steigt die Exposition rapide an. ● Druckschwankungen: In der Reisehöhe von 10 000 m entspricht der Kabinendruck einer Höhe von ca. 2400 m. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 10 – 20 %. Häufige tägliche Flüge im Kurzstreckenverkehr stellen eine Belastung für die pneumatischen Räume des Körpers dar.
Tauglichkeitsuntersuchung
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Disponierende Faktoren, wie Erkältungskrankheiten oder Allergien können Barotraumen der Nasennebenhöhlen oder des Mittelohres hervorrufen. Die Rekonvaleszenz nach operativen HNO-Eingriffen gestaltet sich durch die physikalischen Effekte prolongiert. Die Adaptation der Schleimhäute nach chirurgischer Intervention beträgt in der Regel 4 – 6 Wochen und führt in dieser Zeit zur Fluguntauglichkeit. Abwesenheit, soziale/familiäre Folgen: Überlange Dienstzeiten, Wechseltätigkeit und Transkontinentalflüge stellen eine Belastung für das familiäre und soziale Umfeld da. Auch wenn es keine offiziellen Statistiken gibt, scheint die Scheidungs-/Trennungsrate vergleichsweise hoch zu sein. Trennungsproblematiken sind ein disponierendes Risiko für Fehlentscheidungen in kritischen Flugsituationen, in denen ein „klarer Kopf“ erforderlich wäre. Lifestyle: Piloten sind den gleichen Lifestylerisiken wie die Normalbevölkerung ausgesetzt. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Übergewicht, Alkohol-, Medikamenten- und Nikotinabusus stellen Risiken für die Flugtauglichkeit dar. Bei Medikamenten gilt die Regel: Wer Medikamente einnimmt, ist krank, wer krank ist, ist fluguntauglich. In diesem Spannungsfeld stellen verschreibungspflichtige sowie freiverkäufliche Medikamente (insb. Sildenafile, Finasteride, Bupropion, Antimalariamittel, Isotretionin, Diätmittel, Antihistaminika) eine besondere Herausforderung an den behandelnden und verschreibenden Arzt dar. Lärm und Vibration: Lärmbelastungen rücken durch die modernen Cockpits mit entsprechender Schallisolierung immer mehr in den Hintergrund. Sie treten noch bei Vorflugcheck der Luftfahrzeuge auf dem Vorfeld auf, bei laufenden Triebwerken oder Generatoren, wenn kein adäquater Lärmschutz getragen wird. Vibrationen kommen in allen Luftfahrzeugen vor, besonders jedoch in Hubschraubern. Auch wenn nach dem Stand der Wissenschaft keine Schädigung der Wirbelsäule zu erwarten ist, verursacht die ungünstige Sitzergonomie und Anordnung der Kontrollinstrumente, z. T. noch über Kopf, eine zusätzliche Belastung.
21.2.3 Mindestanforderung und Grenzen für die Flugtauglichkeit Die JAR (Joint Aviation Requirements) fordern von Bewerbern um ein flugmedizinisches Tauglichkeitszeugnis oder für dessen Inhaber, dass weder angeborene noch erworbene Veränderungen eines Organsystems vorliegen dürfen, durch welche die sichere Ausübung der mit der betreffenden Lizenz verbundenen Rechte gefährdet sein könnten.
Mindestanforderungen Die JAR definieren Mindestanforderungen, welche zum Erhalt einer Tauglichkeit erfüllt sein müssen: ● Im Bereich der Augen darf die Fehlsichtigkeit ± 3 dpt (Klasse 1) und ± 5 dpt (Klasse 2) im stärksten brechenden Meridian nicht überschreiten. ● Mit/ohne korrigierender Sehhilfe muss in der Ferne eine binokulare Sehleistung von 1,0 erreicht werden. Monokular müssen für die Klasse 1 mindestens 0,7 und für die Klasse 2 mindestens 0,5 erreicht werden. ● Der Astigmatismus darf 2 dpt, die Anisometropie 3 dpt nicht überschreiten. ● Bei einem Leseabstand auf 30 – 50 cm muss mit/ohne Brille die Sehleistung auf N1 und auf 100 cm auf N9 erreicht werden. ● Die Exophorie darf 8 und die Esophorie 10 dpt nicht übersteigen. ● Farbsichtigkeit als normaler Trichromat muss gegeben sein. ● Die Hörschwelle darf gemessen bei 0,5 kHz, 1 kHz und 2 kHz nicht 35 dB und bei 3 kHz nicht 50 dB überschreiten. ● Bei Überschreiten des BMI von 35 kg/m2 muss die sichere Bedienbarkeit aller Instrumente und Rettungsmittel gewährleistet sein. ● Der Tiffeneau-Test in der Spirometrie muss über 70 % (Klasse 1) und der PEF 80 % des altersgemäßen Solls (Klasse 2) liegen.
Normabweichung oder Erkrankung Jede Abweichung bedingt eine Stellungnahme und Überprüfung durch die zur Lizenzvergabe berechtigte Stelle (Luftfahrtbundesamt für Klasse 1, lokale Bezirksregierungen für die Klasse 2), welche eine Flugtauglichkeit mit Auflagen erteilen kann. Erkrankungen oder Pathologien, welche die Untauglichkeit verursachen und/oder eine weitere Überprüfung durch fachlich und flugmedizinisch erfahrene Spezialisten erforderlich machen, sind: ● Herz–Kreislauf: – dauerhafte Blutdruckerhöhung über 160/95 mmHg oder symptomatische Hypotonie – symptomatische koronare Herzkrankheit (KHK) oder Myokardinfarkt – intermittierende oder permanente Vorhofrhythmusstörung – kompletter Links- und Rechtsschenkelblock – Tachykardie mit schmalem oder breitem QRS-Komplex, häufige (> 30/h) oder komplexe ventrikuläre Extrasystolen – Herzschrittmacher – arterielle Verschlusskrankheit, infrarenale Aneurysmen – signifikante Veränderungen der Herzklappen
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Eignungstests in der Flugmedizin
– angeborene Herzfehler – jede Veränderung am Epi-, Myo-, Endokard ●
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maligne Erkrankungen: Krebserkrankungen machen untauglich.
Lunge und Atmung:
– Asthma bronchiale – Sarkoidose – Spontanpneumothorax oder Pneumothorax nach ●
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thoraxchirurgischen Eingriffen Magen-Darm-Trakt: – rezidivierende dyspeptische Funktionsstörungen oder Pankreatitis – klinisch asymptomatische Gallensteine – chronisch entzündliche Darmerkrankungen – Hernien oder andere Erkrankungs- oder Operationsfolgen, die Handlungsunfähigkeit verursachen könnten Blut und Blutbildung: – Sichelzellanämie – signifikante, lokale oder generalisierte Vergrößerung der Lymphknoten, akute Leukämie – Milzvergrößerungen – signifikante Polyzythämie – Gerinnungsstörungen Nieren und Harntrakt: – Steinbildung – nach chirurgischen Eingriffen an Nieren oder Harntrakt Gynäkologie: – Schwangerschaft – schwere therapieresistente Menstruationsstörungen Bewegungsapparat: Bei unzureichender Gewährleistung der Funktion des Bewegungsapparates, alle relevanten Bedienelemente zuverlässig zu bedienen. psychiatrische Erkrankungen: – psychotische, neurotische Symptomatik sowie Suizidversuch und Persönlichkeitsstörungen – Missbrauch von Alkohol, Psychopharmaka oder Rauschmittel mit oder ohne Abhängigkeit neurologische Erkrankungen: – jede stabile oder progressive Erkrankung des Nervensystems, die zum Führen eines Luftfahrzeuges die notwendigen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt – Epilepsie – wiederholte Episoden einer Bewusstseinsstörung Sehorgan: – Überschreiten der Refraktion von ± 3 dpt (Klasse1) sowie ± 5 dpt (Klasse 2) im stärksten brechenden Meridian, Astigmatismus über 2 dpt, Anisometropien über 2 dpt sowie ein Unterschreiten der Mindestanforderungen (s. o.) – keratorefraktiv-chirurgische Eingriffe, wenn die Fehlsichtigkeit o. g. Refraktionswerte schon vor dem Eingriff überschritten hatte Hauterkrankung und Infektionserkrankungen: – maligne oder prämaligne Hauterkrankungen – positiver HIV-Test
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Erkrankungen oder Gesundheitszustände, die mit einer Flugtauglichkeit unvereinbar sind: ● Herzlungentransplantation oder angeborene Herzfehler mit funktioneller Einschränkung ● nicht bipolare Herzschrittmacher oder Defibrillatoren ● Antikoagulanzienbehandlung (nach Absetzen ist eine Überprüfung möglich) ● Auftreten eines oder mehrerer zerebraler Krampfanfälle nach dem 5. Lebensjahr ● ausgeprägte synkopale Ereignisse ● Psychosen ● insulinpflichtiger Diabetes mellitus ● chronisch obstruktive Lungenerkrankungen ● thorakale oder abdominelle Aneurysmen ● Einäugigkeit (nur Klasse 1) ● Überschreiten der Refraktion im stärksten brechenden Meridian + 5/– 8 dpt (alle Klassen), Anisometropie und Astigmatismus über 3 dpt ● Farbfehlsichtigkeiten, mit denen eine anerkannte Signallaterne (Holmes Wright, Beynes oder Spektrolux) nicht erkannt wird ● Doppelbilder
21.2.4 Vorgehen bei der fliegerärztlichen ganzheitlichen Statuserhebung Die Piloten beantragen die Untersuchung beim ermächtigten AME auf einem vom Luftfahrtbundesamt herausgegebenen Formblatt. Veränderungen des Gesundheitsstatus werden auf dem Formblatt dokumentiert. Der AME führt nach der Anamnese einen Ganzkörperstatus durch, der in der 1. Durchführungsverordnung zur LuftVZO definiert ist. Eine Dokumentation findet auf dem gesetzlich vorgeschriebenen medizinischen Befundbericht statt. Anschließend werden die u.g. Eignungstests durchgeführt. Die Standardisierung der Formblätter ist für die Übermittlung an die Zulassungsbehörden anderer Nationen notwendig. Erfüllt der Antragsteller alle durchzuführenden Tests und hält er die gesetzlichen Limits ein, erhält er eine Verlängerung seiner Flugtauglichkeit.
21.2.5 Eignungstests im Rahmen der Tauglichkeitsuntersuchung Zu den Eignungstests, die der AME im Rahmen der Flugtauglichkeitsuntersuchung durchführt, gehören: ● Hämoglobinbestimmung und Urinstatus, Serumlipide bei der Erstuntersuchung und nach Vollendung des 40. Lebensjahres; jede Normabweichung bei der Urinanalyse erfordert diagnostische Klärung. Bei Anämie
Tauglichkeitsuntersuchung
und einem Hämatokrit unter 32 % muss Untauglichkeit festgestellt werden. Sehtest auf Ferne und Nähe, Intermediärvisus; die o. g. Mindestanforderungen (S. 215) müssen erfüllt sein. Farbsehen: Von 17 Ishihara-Tafeln müssen 15 fehlerfrei gelesen werden. Hörtest: Der Hörtest wird bei Umgangssprache auf 2 m Distanz mit dem Rücken zum Untersucher auf jedem Ohr einzeln durchgeführt. Eine Reintonaudiometrie darf keinen Hörverlust über 35 dB bei 0,5, 1 und 2 kHz und bei 3 kHz von 50 dB aufweisen. Ruhe-EKG: Das EKG darf keine Auffälligkeiten aufweisen. Lungenfunktion alle 60 Monate; die Mindestanforderungen (s. o.) müssen erfüllt sein.
Risikofaktoren. Nikotinabusus sowie eine Fettstoffwechselstörung.
Indikationen zur weiterführenden Untersuchung. Jeder Befund sollte nach dem derzeitigen Stand des Wissens und der Technik abgeklärt werden. Die Ergebnisse müssen mit dem zuständigen AME besprochen werden, um die Konsequenzen für die Flugtauglichkeit abzuklären. Jeder Befund darüber hinaus, der nicht mit den o. g. Mindestanforderungen konform geht oder auffällig ist, bedarf der weiteren Beurteilung durch einen flugmedizinisch qualifizierten Gebietsarzt, ggf. in Zusammenarbeit mit der zuständigen Behörde, um eine Flugtauglichkeit wiederzuerlangen.
Kontrollangiografie nach 6 Monaten. Sehr gutes Langzeitergebnis ohne Nachweis von Rezidiven oder Auftreten von neuen Stenosierungen. Die zuvor beeinträchtigte Ejektionsfraktion ließ sich bei der letzten Kontrolluntersuchung mit 53 % verbessert nachweisen.
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Präventive Maßnahmen zum langfristigen Erhalt der Tauglichkeit. Die Behandlung durch einen Hausarzt sollte sich bei Piloten auf die akute Behandlung einer Gesundheitsstörung sowie die in diesem Buch beschriebenen Vorsorgemaßnahmen erstrecken. Rehabilitative Maßnahmen nach dem SGB VI und IX zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit sollten rechtzeitig eingeleitet werden. Präventive Maßnahmen beziehen sich auf nichtmedikamentöse, aufklärende und gesundheitsschulende Beratung. Bei Verordnung von Medikamenten oder Therapien (inkl. homöopathischen oder naturheilkundlichen Verfahren, Akupunktur oder Hypnose) muss vor Beginn einer Therapie Rücksprache mit dem betreuenden Flugmediziner über die zugrunde liegende Erkrankung gehalten werden. Jede dauerhafte Behandlung mit Medikamenten macht die Rücksprache mit dem AME notwendig und bedarf in den meisten Fällen der Zustimmung der Zulassungsbehörden.
Kasuistik Bei einem 54-jährigen Berufspiloten kam es aus völligem Wohlbefinden zu heftigen pektanginösen Beschwerden, die eine Aufnahme im Klinikum erforderlich machten. Dort wurde ein Vorderwandinfarkt diagnostiziert und koronarangiografisch interveniert.
Befund der Koronarangiografie. Durchführung einer akuten Intervention mit Stentimplantation von drei Stents im Bereich des proximalen Ramus interventricularis anterior (RIVA). Im Rahmen einer geplanten elektiven Kontrollangiografie sechs Monate später ließ sich eine InstentRezidivstenose im Bereich der proximalen Interventionsstelle nachweisen. Es wurde ein Direktstenting durchgeführt. Hierbei kam es zum Auftreten einer Hauptstammdissektion, die ein sog. Bifurkations-Stenting erforderlich machte, mit einem Stent zwischen Hauptstamm/RIVA sowie Hauptstamm/Ramus circumflexus (RCX). Es wurde ein Taxus-Stent implantiert.
Medikation. Metoprolol 47,5 mg, Clopidogrel 75 mg, Atorvastatin 40 mg, Ramipril 5 mg. Bei der klinischen Nachuntersuchung ließen sich eine ausgezeichnete körperliche Belastung sowie eine hervorragende Reduktion der Risikofaktoren darstellen. Weiterhin bestand völlige Beschwerdefreiheit. Bei nachgewiesener Reduktion der Risikofaktoren und Fehlen von Rezidiven seit der Intervention ist es unter engmaschigen Kontrollen vertretbar, die Fliegertauglichkeit Klasse 1 unter Auflagen zuzuerkennen: ● fliegerärztliche Tauglichkeitsuntersuchung alle 6 Monate ● fachkardiologische Kontrolluntersuchungen (Ruhe-, Belastungs- und Langzeit-EKG, 2 D-Doppler-Echokardiografie) sowie laborchemische Bestimmung von Triglyzeriden, Gesamt-Cholesterin, HDL- und LDL-Cholesterin, Blutzucker und Blutbild zusätzlich zu den flugmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen ● fachkardiologische Überprüfung der myokardialen Perfusionsverhältnisse mittels Myokardszintigrafie oder Stress-MRT, alle 12 Monate zusätzlich zu den flugmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen ● Kontrollangiografie der Koronarien nach Ablauf von 24 Monaten ● gültig nur für eine Tätigkeit als/oder mit qualifiziertem Co-Pilot ● Bei Verschlechterung des kardiovaskulären Zustandes erlischt diese Sondergenehmigung und es wird eine erneute Überprüfung nach § 24 c der LuftVZO erforderlich.
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Eignungstests in der Flugmedizin
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Häufige Fragen des Piloten
Macht eine Schwangerschaft untauglich? Ja, aber bei unauffälligem gynäkologischem Befund und Zustimmung der Zulassungsbehörde kann bis zur 26. Schwangerschaftswoche weitergeflogen werden.
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Ich bin farbenblind. Kann ich trotzdem fliegen? ● Eine mit den anerkannten Testverfahren dokumentierte Farbfehlsichtigkeit schließt die Tauglichkeit als kommerzieller Pilot (Klasse 1) aus. Als Privatpilot (Klasse 2) kann ein Farbenblinder im Fluggebiet der JAA-Staaten nach Sichtflugregel bei Tag eine Erlaubnis erhalten. Ich habe eine maligne Erkrankung. Wie wird mit meiner Tauglichkeit verfahren? ● Eine maligne Erkrankung macht untauglich. Nach überstandener Behandlung und Rezidivfreiheit kann die Zulassungsbehörde die Tauglichkeit mit Auflagen prüfen (mit Sicherheitspilot, verkürzte Untersuchungsintervalle etc). In der Regel kann die Tauglichkeit erteilt werden, solange Nachsorgeuntersuchungen unauffällig verlaufen und der Zustand keine Gefahr birgt, eine plötzliche Handlungsunfähigkeit im Flug zu erleiden. Ich habe eine Septumplastik erhalten. Mein Hausarzt hat mich nach neun Tagen wieder arbeitsfähig geschrieben. Kann ich fliegen gehen? ● Nach einem operativen Eingriff mit Vollnarkose oder über 12 Stunden Klinikaufenthalt muss der Pilot die Weisung eines flugmedizinischen Sachverständigen einholen. Wegen der Schwellneigung der Schleimhaut unter schwankenden Luftdruckbedingungen im Bereich der Ostien der pneumatischen Räume sollte auf eine frühzeitige Aufnahme des Flugdienstes verzichtet werden, um kein Barotrauma zu riskieren. Bei einer Routineuntersuchung wurde bei mir ein Gallenstein gefunden, der keine Beschwerden verursacht. Was soll ich tun?
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Ein solitärer asymptomatischer Gallenstein kann mit der Flugtauglichkeit vereinbar sein. Multiple kleine Gallensteine können einen Sicherheitspiloten nach Überprüfung der zuständigen Stellen notwendig machen, wenn sie nicht operativ entfernt werden sollen.
Ich habe eine behandelte Colitis ulcerosa, die nach Absetzen der Medikamente keine Beschwerden mehr macht. Kann ich Pilot werden? ● Nach einer Überprüfung und bei unauffälliger makroskopischer und histologischer Kontrolle, Medikamentenfreiheit und normalem Stuhlverhalten wäre eine Sondergenehmigung möglich. Jedoch wird die Absicherung durch eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung schwierig, die dieses Risiko nicht ausschlösse. Bei einer späteren Progredienz der Erkrankung könnte durch eine dauerhafte Fluguntauglichkeit eine Versorgungslücke entstehen.
Literatur 1. Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung (LuftVZO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. März 1999 (BGBl. I S. 610), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 19. Februar 2007; BGBl. I;158. 2. Bekanntmachung der Bestimmungen über die Anforderungen an die Tauglichkeit des Luftfahrpersonals (JAR_FCL 3 deutsch). 15. April 2003; herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz. BAnz Nr. 81 a vom 30. 04. 2003. 3. Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltung (Hrsg.). Arbeitshilfen zur Durchführung von Arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen bei fliegendem Personal (Cockpit). In: BG-Informationen BGI 768-2. Juli 2005. 4. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Erste Durchführungsverordnung zur Luftverkehrs-Zulassungsordnung (1. DV LuftVZO) vom 15. April 2003. BAnz. Nr. 82 a vom 03. 05. 2003. 5. Draeger J, Kriebel J (Hrsg). Praktische Flugmedizin. Landsberg: ecomed; 2002.
Wichtige physikalische und physiologische Grundlagen
22 Tauchtauglichkeit C.-M. Muth, K. Tetzlaff
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Das Wichtigste in Kürze Das Altersprofil der Sporttaucher hat sich entsprechend der demografischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten nach oben verschoben, und es tauchen immer mehr Sportler mit chronischen Erkrankungen. Tödliche Tauchunfälle, wenngleich selten auftretend (ca. 1 fatales Ereignis pro 40 000 Tauchgänge), sind in mehr als 50 % der Fälle mit dem Vorliegen medizinischer Risikofaktoren zum Tauchen assoziiert. Die medizinische Tauchtauglichkeitsuntersuchung dient daher dazu, medizinische Zustände, die eine Kontraindikation zum Tauchen darstellen, aufzudecken bzw. bei vorbestehenden Erkrankungen eine Risikoabwägung vorzunehmen. Wichtige Organsysteme für die Tauchtauglichkeitsuntersuchung sind das Herz-Kreislauf-System, die Atemorgane und die Ohren. Darüber hinaus ist eine ausreichende Sehfähigkeit von besonderer Bedeutung. Die Tauchtauglichkeit ist gegeben, wenn der Tauchkandidat gesund ist und alle erhobenen Befunde unauffällig sind. Aber auch bei Abweichungen von der Norm kann das Tauchen mit Einschränkungen möglich sein.
22.1 Definition Bei der Betrachtung der Tauchtauglichkeit muss grundsätzlich die arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung nach dem berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G31 [1] von der Tauchtauglichkeitsuntersuchung für Sporttaucher unterschieden werden. Bei der G31-Untersuchung handelt es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene berufsgenossenschaftliche Vorsorgeuntersuchung z. B. für gewerbliche Taucher, die nur von besonders ermächtigten Ärzten durchgeführt werden darf. Die G31 ist daher nicht Gegenstand dieser Übersicht. Von der G31-Untersuchung ist die Tauchtauglichkeit für Sporttaucher streng abzugrenzen: Dies ist eine freiwillige (gesetzlich nicht vorgeschriebene) Untersuchung, die empfehlenden Charakter hat und von jedem Arzt durchgeführt werden kann. Eine rechtliche Relevanz ergibt sich erst indirekt durch die Selbstbeschränkung der meisten Tauchsportverbände, die eine solche Untersuchung zur Teilnahme an Tauchaktivitäten fordern, aber auch durch versicherungs- und haftungsrechtliche Fragen im Falle eines Zwischenfalls beim Tauchen, denn die Analyse von tödlichen Tauchunfällen zeigt in bis zu 50 % der
Fälle vorbestehende medizinische Risikofaktoren als Hauptursache für den Unfall bzw. als ursächlich beteiligt.
Kasuistik Nach einem unauffälligen Tauchgang im Meer wurden ein Taucher und sein Tauchpartner an der Oberfläche durch Wind und Strömung gegen Felsen gedrängt. Der Versuch, sich von dort zu lösen und zum Tauchschiff zu schwimmen, gelang nur dem Tauchpartner, der Hilfe holte. Diese erfolgte dadurch, dass ein Tauchguide schwimmend den zurückgelassenen Taucher erreichte, der inzwischen bewusstlos war und ihn ebenfalls schwimmend zum Tauchschiff zurückschleppte. Reanimationsmaßnahmen an Bord blieben erfolglos, die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab Tod durch Ertrinken. Es stellte sich heraus, dass der Hausarzt des Verunfallten die Tauchtauglichkeit verweigert hatte, da der Verunfallte einen BMI von 38 kg/m2, einen schlecht eingestellten arteriellen Hypertonus, den Verdacht auf eine KHK und eine verminderte Leistungsfähigkeit bei der Ergometrie (Abbruch bei 75 W) aufwies. Die Tauchtauglichkeit wurde von einem anderen Arzt ohne eingehende Untersuchung anstandslos erteilt. Gegen diesen wurde daraufhin haftungsrechtlich vorgegangen.
22.2 Wichtige physikalische und physiologische Grundlagen Im Gegensatz zu anderen Sportarten und den meisten anderen Freizeitaktivitäten ist der Körper beim Tauchen physikalischen Veränderungen ausgesetzt, die eine Auswirkung auf die Physiologie haben. Zum Verständnis der tauchspezifischen Besonderheiten ist daher die Kenntnis der wichtigsten Faktoren zwingend erforderlich.
Immersion Beim Eintauchen in Wasser (Immersion) kommt es zu einer Umverteilung von Blut aus der Peripherie (Arme, Beine, Haut) in die thorakalen Gefäße. Dieser Effekt verstärkt sich in kaltem Wasser durch die kälteinduzierte Engstellung der Gefäße. Es folgt eine vermehrte Blutfüllung des Herzens und der Lungengefäße mit einer bei vorgeschädigtem Herzen relevanten Volumenbelastung des Herzens.
219
22
Tauchtauglichkeit
Veränderung des Umgebungsdrucks
I II
III IV V VI VII
Der Umgebungsdruck an der Wasseroberfläche beträgt auf Meereshöhe etwa 1 bar. Pro 10 m Wassertiefe nimmt der Umgebungsdruck jeweils um 1 bar zu, so dass in 10 m Tauchtiefe ein Druck von 2 bar, in 30 m Tauchtiefe ein Druck von 4 bar herrscht (30 m Wassersäule entspricht einem Druck von 3 bar: Wasserdruck [3 bar] + Luftdruck [1 bar] = Gesamtdruck [4 bar]). Achtung: Der Druck steigt mit zunehmender Tauchtiefe zwar linear an, hat sich aber bereits auf den ersten 10 m verdoppelt (von 1 auf 2 bar). Diese hohe relative Druckänderung ist von großer Bedeutung hinsichtlich ihrer physiologischen Konsequenzen!
Gase im Überdruck Eines der Hauptproblemfelder beim Tauchen ist das Verhalten der Atemgase und der Gase in gasgefüllten Hohlräumen des Körpers (z. B. Mittelohr, Nasennebenhöhlen etc.) im Überdruck. Atemgase. Beim Tauchen werden die Atemgase dem Taucher von seinem Tauchgerät dem jeweiligen Umgebungsdruck entsprechend zur Verfügung gestellt. Daraus resultiert zum einen, dass wegen der höheren Dichte der Atemgase in größerer Tauchtiefe die Atemarbeit erhöht ist, wobei gleichzeitig wegen der Trockenheit und der Kälte des Atemgases eine Reizung der Atemwege erfolgt. Außerdem sind die Partialdrücke der Atemgase erhöht, sodass z. B. der Stickstoffanteil der Atemluft sich vermehrt im Körper aufsättigt. Die Aufsättigung kann bei zu raschem Auftauchen in einer Gasblasenbildung mit nachfolgender gesundheitlicher Störung resultieren (Dekompressionsunfall). Luftgefüllte Hohlräume. Gase lassen sich durch Druck komprimieren: Bei Verdoppelung des Umgebungsdrucks reduziert sich das Volumen eines Gases auf die Hälfte. In Bezug auf den Körper heißt das, dass z. B. die Luft in der Paukenhöhle des Mittelohres oder in den Nasennebenhöhlen beim Abtauchen komprimiert wird, sodass ein relativer Unterdruck entsteht, der ausgeglichen werden muss. Geschieht das nicht, kommt es zum Barotrauma, d. h. zur druckbedingten Schädigung. Im Bereich der Lunge liegt das Risiko in der Abnahme des Umgebungsdrucks: Wird in der Tiefe geatmet und kommt es durch das Auftauchen zur Druckreduktion, so dehnt sich das Gas in den Alveolen der Lunge aus. Unterbleibt hier die Ausatmung oder ist bei der Ausatmung das Entweichen des Gases behindert, so kommt es zur Überdehnung der Lunge und ggf. zum Lungenriss.
220
22.3 Art und Umfang der Untersuchung In Deutschland ist jeder approbierte Arzt unabhängig von seinen Vorkenntnissen dazu berechtigt, eine Tauchtauglichkeitsuntersuchung bei Sporttauchern durchzuführen und ein entsprechendes Attest auszustellen. Dabei sind Art und Umfang der Untersuchung nicht bindend geregelt. Es ist aber zu beachten, dass der untersuchende Arzt haftungsrechtlich in Anspruch genommen werden kann, wenn es beim Tauchen zu einem Zwischenfall gekommen ist, der zumindest mittelbar mit einer vorbestehenden gesundheitlichen Störung in Zusammenhang steht. Daher haben die nationalen Fachgesellschaften (in Deutschland die Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin [GTÜM] e. V.) Empfehlungen zur Untersuchung von Sporttauchern [2] erstellt, um eine Hilfestellung zu geben. Darüber hinaus wurde ein Curriculum für ein freiwilliges Zertifikat erarbeitet, das interessierten Ärzten die Möglichkeit zur Weiterbildung geben soll.
Weblinks ● ● ●
Web1: Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM) e. V.: www.gtuem.org Web2: Österreichische Gesellschaft für Tauch- und Hyperbarmedizin (ÖGTH): www.oegth.at Web3: Schweizerische Gesellschaft für Unterwasserund Hyperbarmedizin (SUHMS): www.suhms.org
Art und Umfang. Neben der ausführlichen Anamnese und eingehenden körperlichen Untersuchung werden die Inspektion der Trommelfelles, ein EKG in Ruhe sowie eine Spirometrie bei gesunden Tauchkandidaten, die das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, empfohlen. Ab dem 40. Lebensjahr ist auch eine Ergometrie mit Belastungs-EKG empfohlen. Außerdem sollte eine hinreichende Sehfähigkeit sowohl für die Ferne, als auch für die Nähe, zumindest orientierend geprüft werden. Weitere Untersuchungen sind fakultativ und richten sich nach Anamnese und Untersuchungsbefunden. Vordrucke für die standardisierte Anamnese und Untersuchung können kostenlos von der Homepage der GTÜM [Web1] heruntergeladen werden. Bewertung. Die Tauchtauglichkeit ist gegeben, wenn der Tauchkandidat gesund ist und alle erhobenen Befunde unauffällig sind. Aber auch bei Abweichungen von der Norm kann das Tauchen mit Einschränkungen möglich sein. Bei diesen Einzelfallentscheidungen tragen sowohl der untersuchende Arzt als auch der untersuchte Taucher ein hohes Maß an Verantwortung. Das Ergebnis der Untersuchung ist dem Taucher schriftlich mitzugeben. Attestvordrucke (Abb. 22.1) können auch von der Internetseite der GTÜM [Web1] heruntergeladen werden.
Art und Umfang der Untersuchung
GESELLSCHAFT FÜR TAUCH- UND ÜBERDRUCKMEDIZIN e.V. ÄRZTLICHES ZEUGNIS: CERTIFICAT MEDICAL: CERTIFICADO MEDICO: MEDICAL CERTIFICATE:
TAUGLICHKEIT FÜR DAS SPORTTAUCHEN APTITUDE A LA PLONGEE SPORTIVE APTITUD PARA EL BUCEO SPORTIVO FITNESS FOR RECREATIONAL SCUBA DIVING
NAME / NOM / NOME Obgenannte Person ist heute gemäss den Empfehlungen der GTÜM für die Tauglichkeit zum Gerätetauchen untersucht worden. Aufgrund der Untersuchung liegen keine Hinweise auf Leiden vor, welche eine absolute Kontraindikation darstellen. La personne susmentionnée a subi aujourd'hui un examen médical pratiqué selon les recommandations de la GTÜM. Cet examen n'a pas mis en évidence de contre-indication absolue à la pratique de la plongée en scaphandre autonome. Se ha practicado un examen médico de aptitud a la persona arriba indicada, de acuardo con las recomendaciones de la GTÜM, y no se ha detectado ninguna contraindicación absoluta para la práctica del buceo deportivo con escafandra autónoma. This person has been examined following the fitness-to-dive-guidelines of the GTÜM for recreational SCUBA diving. No medical condition considered to present an absolute contraindication to diving has been found.
EINSCHRÄNKUNGEN / LIMITATIONS / RESTRICCIONES NACHUNTERSUCHUNG / EXAMEN ULTERIEUR / EXAMEN ULTERIOR / NEXT EXAMINATION ORT / DATUM * LIEU / DATE * LUGAR / FECHA * PLACE / DATE
22
ARZT * (UNTERSCHRIFT, STEMPEL) / MEDECIN (SIGNATURE, TIMBRE) MEDICO (FIRMA, SELLO) / PHYSICIAN (SIGNATURE, STAMP)
*) Mit der Unterschrift bestätigt der untersuchende Arzt, dass die Tauchtauglichkeits-Untersuchung nach den Empfehlungen der GTÜM
e.V.
in der jeweils aktuellen Fassung durchgeführt wurde (Untersuchungs-Bogen mit entsprechenden Hinweisen unter www.gtuem.org) Ärztliches Attest zum GTÜM e. V. Untersuchungsbogen (Ausgabe 2008) © Copyright by GTÜM e.V. 2008
Abb. 22.1 Tauchtauglichkeitsattest nach GTÜM [Web1]. Tabelle 22.1 Empfehlung zur Abrechnung der Tauchtauglichkeitsuntersuchung nach GTÜM [Web1]. Ziffer
Beschreibung
1fach (€)
3,5 fach (€)
1
Beratung, auch mittels Fernsprecher
–
16,31
8
Untersuchung zur Erhebung des Ganzkörperstatus, ggf. einschließlich Dokumentation
15,16
–
70
Kurze Bescheinigung oder kurzes Zeugnis, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
2,33
–
605
Ruhespirografische Untersuchung (im geschlossenen oder offenen System) mit fortlaufend registrierenden Methoden
14,11
–
605a
Darstellung der Flussvolumenkurve bei spirografischen Untersuchungen einschließlich grafischer Registrierung und Dokumentation
8,16
–
Achtung! Unterschiedliche Empfehlungen für Untersuchung bei Personen bis zum 40. Lebensjahr und ab dem 40. Lebensjahr 651
Elektrokardiografische Untersuchung in Ruhe, auch ggf. nach Belastung mit Extremitäten- und Brustwandableitungen (mind. 9 Ableitungen)
14,75
–
Ab dem 40. Lebensjahr: Für die Berechnung der Ergometrie mit EKG wird die Ziffer 652 zugrunde gelegt, welche anstelle von Ziffer 651 abzurechnen ist. 652
Elektrokardiografische Untersuchung unter fortschreibender Registrierung (mind. 9 Ableitungen) in Ruhe und bei physikalisch definierter und reproduzierbarer Belastung (Ergometrie) ggf. auch Belastungsänderung
Abrechnung der Untersuchung. Die Untersuchung ist grundsätzlich eine privatärztliche Leistung und hat nach den Vorgaben der jeweils gültigen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) zu erfolgen. Die GTÜM hat hier anhand der als obligat angesehenen Untersuchungsteile einen Abrechnungsvorschlag erarbeitet (Tab. 22.1).
25,94
–
Allerdings können sich weitere (fakultative) Zusatzuntersuchungen wie Labor, Röntgen, Ultraschall etc. ergeben, bei denen u. U. eine Abrechnung über den Versicherungsträger möglich ist, wenn es sich um die Abklärung eines krankhaften Zustands handelt.
221
Tauchtauglichkeit
22.4 Tauchtauglichkeitskriterien nach Organsystemen
chenden Volumenreduktion des eingeschlossenen Gases. Hier ist aber bereits der Tiefenbereich bis 10 m Tauchtiefe mit der relativ größten Druckzunahme (Druckverdoppelung!) verbunden!
Mindestanforderungen
I II
Neben der sicheren Schwimmfähigkeit ist ein Mindestmaß kardiozirkulatorischer Belastbarkeit unabdingbar, um Strömungen oder längere Schwimmstrecken zu bewältigen und auch bei einer Unterwasserrettung die erwartete Hilfe leisten zu können. Außerdem dürfen keine psychischen Erkrankungen oder Einschränkungen vorliegen.
III IV V VI VII
Augen Das Auge unterliegt beim Tauchen keinen kompressionsbedingten Druckschwankungen, sodass Bedenken diesbezüglich unbegründet sind. Eine adäquate Sehfähigkeit ist hingegen sowohl für die Orientierung über wie unter Wasser, das Erkennen von Gefahrensituationen und das Ablesen der Instrumente von erheblicher Bedeutung und sollte daher mindestens orientierend überprüft werden (für Fehlsichtige gibt es Korrekturmöglichkeiten in Form von optischen Gläsern für die Taucherbrille, oder auch durch das Tragen von Kontaktlinsen). Liegen krankhafte Veränderungen des Auges vor, ist eine ophthalmologische Abklärung empfohlen. Wichtige ophthalmologische Kontraindikationen [2]: floride bakterielle und virale Infektionen ● Sehschärfe des besseren Auges mit und ohne Korrektion weniger als 0,5 dpt ● enger Kammerwinkel ● Weitwinkelgkaukom mit Sehnervschaden und/oder Zustand nach fistulierender Operation ● fortgeschrittene Angiopathien/sklerotische Gefäß- und Netzhautveränderungen, proliferative diabetische Retinopathie, Thrombosen der Augen, TIA der Augen, Morbus Horton u. a.
Wichtige HNO-ärztliche Kontraindikationen [2]: floride bakterielle und virale Infektionen ● offene Trommelfellperforationen ● chronische Otitis media ● Cholesteatom ● Zustand nach Radikaloperation ● Stapedektomie oder Tympanoplastik Typ II und III ● Ruptur des runden oder ovalen Fensters ● Laryngozelen ● doppelseitige Rekurrensparese ● chron. Tubenfunktionsstörung ●
Lunge Die Beurteilung der Lunge ist wichtig, da Einschränkungen ihrer Funktion die Belastbarkeit unter Wasser begrenzen und pathologische Veränderungen eine wesentliche Rolle in der Pathogenese schwerer Tauchunfälle spielen. Obstruktive und restriktive Ventilationsstörungen sowie emphysematische Veränderungen des Lungenparenchyms oder isolierte Bullae stellen i. d. R. absolute Kontraindikationen zum Tauchen dar. Weitere wichtige Kontraindikationen sind in der Tab. 22.2 zusammengefasst.
●
Bereich Hals, Nase und Ohren (HNO) In diesem Bereich, in dem es sich regelhaft um gasgefüllte Hohlräume handelt, führt jede Form einer Belüftungsstörung zumindest vorübergehend zum Tauchverbot, weil dies die wesentlichen Prädilektionsstellen für Barotraumen sind. Daher kommt es bei chronischen Belüftungsstörungen auch dauerhaft zur Tauchuntauglichkeit. Aus diesem Grund sollte im Zweifel bei pathologischen Befunden ein HNO-Facharzt in der Beurteilung der Tauchtauglichkeit hinzugezogen werden. In der Regel ist in diesem Bereich eine Tiefenlimitierung als Einschränkung nicht sinnvoll! Das Problem ist hier selten die absolute, sondern die relative Druckzunahme mit der entspre-
222
Herz und Kreislauf Ein Mindestmaß an kardiozirkulatorischer Belastbarkeit ist unabdingbar. Zudem können die immersionsbedingten Kreislaufveränderungen beim vorgeschädigten Herzen zu einer erheblichen Belastung führen. Arterieller Hypertonus. Bei der essenziellen Hypertonie mit Folgeschäden an den Organen ist vom Tauchen abzuraten. Bei einer essenziellen Hypertonie ohne Folgeerkrankungen sowie stabiler Blutdruckeinstellung (auch unter Therapie) und guter Belastbarkeit ist Tauchen prinzipiell möglich. Eine sekundäre Hypertonie gilt bis zur Behebung der Grunderkrankung als Ausschlusskriterium. Myokardinfarkt. Ein stattgehabter Myokardinfarkt gilt prinzipiell als Ausschlussgrund vom Tauchen. Ist aber die Funktion des linken Ventrikels nicht beeinträchtigt und der Patient asymptomatisch, so darf unter bestimmten Bedingungen getaucht werden. Dabei sollte das Infarktereignis länger als 1 Jahr zurückliegen und auch unter Belastung weder eine Angina pectoris noch Rhythmusstörungen bestehen. Auch ein Zustand nach aortokoronarer Bypassoperation kann unter den gleichen Bedingungen wieder mit einer Tauchtauglichkeit einhergehen.
Tauchtauglichkeitskriterien nach Organsystemen
Tabelle 22.2 Wichtige Kontraindikationen der Atemorgane nach GTÜM [2]. Relative Kontraindikationen
Absolute Kontraindikationen
●
● ● ●
● ●
●
●
chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) mit leichter Einschränkung der Lungenfunktion Status nach radiologisch ausgeheilter Sarkoidose der Lunge (M. Boeck) mit normaler Lungenfunktion traumatischer Pneumothorax, auch Lungenüberdruckbarotrauma nach Ausschluss eines „Air trapping“ als Unfallursache, frühestens 3 Monate posttraumatisch Pleuraadhäsionen, Spontanpneumothorax, Status nach Segmentresektion oder iatrogener Pneumothorax mit Status nach Therapie durch Pleurodese bei unauffälligem Spiral-CT der Lunge auf beiden Seiten frühestens 3 Monate postoperativ bei normaler Lungenfunktion Asthma bronchiale im anfallsfreien Intervall bei normaler Lungenfunktion, ohne Einnahme von Medikamenten. Belastungs- und kälteinduziertes Asthma sollte im Einzelfall kritisch bewertet und nur bei fehlender funktioneller Beeinträchtigung das Tauchen erlaubt werden. Es darf nur eine leichtgradige Überempfindlichkeit vorliegen.
Vitien. Alle hämodynamisch wirksamen Vitien, besonders aber Klappenstenosen (insb. von Aorten- und Mitralklappe) sind mit dem Tauchen nicht vereinbar. Bei einer Klappeninsuffizienz, die hämodynamisch nicht von Bedeutung ist, bestehen hingegen nur relative Kontraindikationen. Sonderfall persistierendes Foramen ovale (PFO): Rechts-links-Shunts können beim Tauchen pathologische Konsequenzen haben, indem sie durch einen Shunt von venösen Mikrogasblasen zur paradoxen Embolie führen (Abb. 22.2). Der am häufigsten vorkommende Mechanismus ist das persistierende Foramen ovale (PFO). Hier hat sich gezeigt, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorliegen eines PFO und dem Auftreten eines dekompressionsbedingten Tauchunfalls besteht. Die tauchmedizinischen Empfehlungen zum PFO sind in der Tab. 22.3 zusammengefasst.
rechter Vorhof
● ● ●
● ●
akute pulmonale Erkrankungen akute Bronchialerkrankung mit und ohne Obstruktion Lungenerkrankungen mit respiratorischer Partial- oder Globalinsuffizienz anamnestischer Spontanpneumothorax Kavitäten, Zysten, Emphysemblasen, Bronchiektasien Asthma bronchiale unter einer Dauertherapie mit Bronchodilatatoren und/oder Kortison (systemisch und inhalativ) Lungen- und Pleuraerkrankungen mit restriktiver Ventilationsstörung (z. B. Lungenfibrose, Pneumokoniosen) Status nach Segmentresektion oder Lobektomie, Status nach Pneumonektomie, Lungenteilresektionen
Sonstiges. Als weitere wichtige kardiozirkulatorische Kontraindikationen gelten: ● AV-Block II° (Mobitz II), AV-Block III°, Linksschenkelblock mit kardialer (organischer) Grundkrankheit ● Sick-Sinus-Syndrom ● Präexzitationssyndrome mit paroxysmalen Tachykardien ● SVES mit Bewusstseinsstörungen ● komplexe ventrikuläre Arrhythmien ● Status nach Schrittmacherimplantation bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit ● dilatative Kardiomyopathie mit eingeschränkter Auswurffraktion ● hypertrophe Kardiomyopathien mit Obstruktion des Ausflusstrakts und/oder Rhythmusstörungen ● latentes oder manifestes Cor pulmonale, pulmonale Hypertonie
linker Vorhof
Foramen ovale linke Kammer rechte Kammer a
b
Abb. 22.2 Schematische Darstellung eines persistierenden Foramen ovale (PFO) als Shuntmechanismus für venöse Gasblasen. a Normaler Verlauf. Das während der Dekompression frei werdende Gas und anfallende Gasbläschen gelangen über die untere und obere Hohlvene über den rechten Vorhof und den rechten Ventrikel in die pulmonale Strombahn, wo sie hängen bleiben und abgeatmet werden. Ein Übertritt ins ar-
Aorta
terielle System ist unter normalen Bedingungen und bei geringem Blasenbefall unwahrscheinlich. b Potenzieller Verlauf mit PFO. Gasblasen im rechten Vorhof können je nach Ausprägung des PFO entweder spontan oder nach entsprechenden Manövern (Valsalva, Pressatmung etc.) in den linken Vorhof übertreten, damit arterialisieren und eine arterielle Gasembolie verursachen.
223
22
Tauchtauglichkeit
Tabelle 22.3 Zusammenfassung Tauchen mit PFO. Absolute Kontraindikationen: Anfänger mit nachgewiesenem relevantem Shunt während ruhiger Atmung bis auf Weiteres. ● Nach Dekompressionserkrankung (DCI) mit relevanten neurologischen Symptomen ohne eindeutige Provokation ● Bei großem PFO oder bei pulmonalem Shunt
Tabelle 22.4 Empfehlung zur Tauchtauglichkeit von Diabetikern.
●
Insulinpflichtige Diabetiker: dürfen keine Folgeerkrankungen des Diabetes haben, müssen schon über längere Zeit aktive Sportler mit guter Leistungsfähigkeit (unauffälliges Belastungs-EKG) sein, ● müssen ihren Blutzucker mind. 4-mal täglich selbst kontrollieren, Insulin und ihre Kohlenhydratzufuhr entsprechend der aktuellen Situation anpassen können. Dabei soll die intensivierte Insulintherapie schon seit mindestens einem Jahr mit guten Einstellwerten durchgeführt werden. ● müssen nachweislich über längere Zeit eine gute Zuckereinstellung haben und dürfen auch unter Belastung keine Episoden von Unterzuckerung gehabt haben, die HbA1cWerte sollten zwischen 5,5 – 8,5 % liegen, ● müssen in der Lage sein, eine beginnende Unterzuckerung rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu reagieren, ● sollen eine verantwortungsbewusste Psyche besitzen und dürfen sich nicht selbst oder fremdgefährdend verhalten. ● ●
Relative Kontraindikationen: PFO und kleine pulmonale Shunts ohne DCI-Ereignis Nach minimal-invasivem PFO-Verschluss bei komplikationslosem Verlauf und ohne Restshunt ist Tauchen möglich.
I
●
Empfehlung: Durch Reduktion des Dekompressionsstresses, zusätzlicher bläschenbildender Faktoren (s. u.) und Vermeidung einer Arterialisierung von venösen Gasbläschen (s. u.) ist ein akzeptables Restrisiko anzustreben. Diese Empfehlung kann so umgesetzt werden: 1. Reduktion des Dekompressionsstresses durch bewusstes Tauchen in der Nullzeit und Verwendung von Nitrox (= künstliche Atemgasmischung aus Stickstoff und Sauerstoff mit einem im Vergleich zu Luft reduzierten Stickstoffanteil bei gleichzeitig erhöhtem Sauerstoffanteil → verminderte Stickstoffaufsättigung) bei gleichzeitiger Beibehaltung eines normalen, nicht nitroxangepassten Dekompressionscomputers. 2. Reduktion vermehrter Blasenbildung durch: ● Verringerung der Aufstiegsgeschwindigkeit auf 5 m/min ● Vermeidung unregelmäßiger Tauchprofile ● tiefer Sicherheitsstopp auf halber Tauchtiefe ● Vermeiden von Risikofaktoren (z. B. körperliche Belastung, Sauna, heißes Duschen oder sehr warme Wannenbäder) nach dem Tauchen 3. Vermeidung einer Arterialisierung von venösen Gasbläschen durch Vermeiden von Pressatmung, nach dem Tauchen, von Husten und Heben schwerer Lasten sowie des Valsalva-Manövers.
II
III IV V VI VII ● ● ● ●
latente kompensierte oder manifeste Herzinsuffizienz akute entzündliche Herzkrankheiten periphere arterielle Verschlusskrankheit Stadien IIb – IV nach Fontaine, inkl. Ulcus cruris tiefe Venenthrombose bis 6 Monate nach voller Mobilisation und Abheilung (Überprüfung mit Duplex-Sonografie) sowie Fehlen einer durchgemachten Lungenembolie
Sonstiges Insulinpflichter Diabetes mellitus. Handelt es sich bei diesen Patienten um aktive Sportler mit sonst guter Gesundheit, kann, bei nachweislich guter Einstellung der Blutzuckerwerte über längere Zeit, Abwesenheit von Hypoglykämien auch unter intensiver körperlicher Belastung, sportlicher Aktivität und guter Leistungsfähigkeit sowie guter Selbstkontrolle das Tauchen mit Einschränkungen erlaubt werden (Tab. 22.4).
224
Neurologie. Als absolute Kontraindikationen gelten: floride bakterielle und virale Infektionen ● zerebrovaskuläre Erkrankungen mit Folgeerscheinungen (apoplektischer Insult, TIA) ● Epilepsie ● Myasthenia gravis ● Multiple Sklerose im akuten Schub ● Erkrankung des Gehirns, Kleinhirns, Hirnstamms, Rückenmarks und des peripheren Nervensystems mit erheblichem permanentem Defektzustand, auch Zustand nach Dekompressionserkrankungen mit bleibenden Restschäden ●
Schwangerschaft. Es gilt, dass trotz fehlender wissenschaftlicher Eindeutigkeit schwangere Frauen ohne Ausnahmen ab Beginn des Bekanntwerdens der Schwangerschaft auf das Tauchen mit Gerät komplett verzichten sollten. Kindertauchen. Das Kind muss sicher über und unter der Wasseroberfläche schwimmen können, in der Lage sein, sich über längere Zeit zu konzentrieren und Wesentliches der Tauchtheorie zu begreifen. Dazu muss es Anweisungen gewissenhaft und zuverlässig befolgen. Als Einschränkung ist die Tauchtiefe und auch die Tauchzeit in diesen Fällen streng zu limitieren.
Tauchtauglichkeitskriterien nach Organsystemen
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Häufige Patientenfragen
Brauche ich für einen Grundtauchschein eine „komplette“ Untersuchung oder gibt es auch eine „Light“-Variante? ● Es ist völlig unerheblich, ob „nur“ ein Anfängerkurs absolviert werden soll oder ob unbegrenztes Tauchen und größere Tauchtiefen anstehen: Das grundsätzliche Risiko ist immer das Gleiche, sobald mit einer Atemgasversorgung getaucht wird. Daher kann es keine „Light“-Version der Tauchtauglichkeitsuntersuchung geben. Ist Tauchen in der Schwangerschaft erlaubt? Nein, es besteht absolutes Tauchverbot von dem Augenblick an, an dem die Schwangerschaft (z. B. durch Schwangerschaftstest) bekannt ist. Dies ist damit begründet, dass eine Schädigung des Kindes durch das Tauchen nicht auszuschließen ist. Ist allerdings bei bestehender Schwangerschaft getaucht worden, so ist dies kein Grund zu einer Schwangerschaftsunterbrechung!
●
Kann man mit Asthma tauchen? Grundsätzlich kann das Tauchen mit Asthma nach sorgfältiger Diagnostik möglich sein. Es kommt auf die aktuelle Therapieeinstellung und die Ausprägung des Asthmas an.
●
Besteht ein bedenklicher Zusammenhang zwischen dem Tauchen und der Einnahme von Betablockern? ● Grundsätzlich ist unter der Medikation mit einem Betablocker das Tauchen möglich. Es sollten aber extreme Belastungen gemieden werden. Kann mit Epilepsie getaucht werden, wenn die Medikamente regelmäßig eingenommen werden? ● Nein, Krampfleiden, besonders mit wiederholten Anfällen und auch solche, die nur mit medikamentöser Behandlung anfallsfrei bleiben, gelten derzeit grundsätzlich als Ausschlussgrund. Darf ich mit grünem Star (Glaukom) tauchen? Das sog. Weitwinkelglaukom bleibt durch das Tauchen unbeeinflusst und ist daher unbedenklich, solange es keine Folgeschäden am Auge gibt. Das Engwinkelglaukom ist eine absolute Kontraindikation.
●
Darf man nach einem spontan aufgetretenen Pneumothorax und Ausheilung tauchen? ● Ein Zustand nach Spontanpneumothorax ist nach derzeitiger Auffassung dauerhaft eine absolute Kontraindikation gegen jegliches Tauchen mit Gerät. Hat Marcumar Auswirkungen beim Tauchen? Offiziell stellt Marcumar kein besonderes Risiko für den Taucher dar. Daher ist unter Einnahme von Marcumar eine Tauchtauglichkeit gegeben. Es ist aber zu bedenken, dass schon geringste Druckausgleichprobleme zu massiven Einblutungen in das Trommelfell und Mittelohr führen können. Das Gleiche gilt für Bagatelltraumen in anderen Bereichen des Körpers.
●
Kann man nach einem Trommelfellriss wieder tauchen? Grundsätzlich ist man nach Trommelfellriss dann wieder tauchtauglich, wenn der Defekt komplett und stabil verheilt ist. Bildet sich eine atrophe Narbe aus, wird vom Tauchen abgeraten. War eine plastische Deckung nötig, so gilt auch hier, dass die Tauchtauglichkeit wiederhergestellt ist, wenn der Defekt komplett und stabil verheilt ist.
●
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Literatur 1. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. 4. Aufl. Stuttgart: Gentner; 2007. 2. Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM) e. V. Richtlinien für die medizinische Vorsorgeuntersuchung von Sporttauchern. 1998. Verfügbar unter: www. gtuem.org. 3. Klingmann Ch, Tetzlaff K. (Hrsg). Moderne Tauchmedizin. Stuttgart: Gentner; 2007. 4. Muth CM, Radermacher P (Hrsg.). Kompendium der Tauchmedizin. 2. Auflage. Köln: Deutscher Ärzteverlag; 2007. 5. Muth CM, Wendling J, Tetzlaff K. Tauchtauglichkeitsuntersuchungen bei Sporttauchern mit besonderer Berücksichtigung medizinischer Grenzfälle. Dtsch Z Sportmed. 2002;53 : 170 – 6. 6. Muth CM, Tetzlaff K. Tauchen und Herz – kardiologische Aspekte des Sporttauchens. Herz. 2004; 29: 406 – 13. 7. Muth CM, Kemmer A, Tetzlaff K. Tauchtauglichkeit für Sporttaucher – Was der Hausarzt wissen muss. MMW Fortschr Med. 2005;147 : 652 – 6.
Darf man mit einem Brustimplantat tauchen gehen? Nach dem derzeitigen Kenntnisstand bestehen keine Bedenken gegen das Tauchen mit Brustprothesen.
●
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Verkehrsmedizin und Fahreignung
23 Verkehrsmedizin und Fahreignung B. Madea, F. Mußhoff
I II
III IV V VI VII
Das Wichtigste in Kürze Präventivmedizinische Bemühungen im Rahmen der Verkehrsmedizin basieren auf folgenden Erkenntnissen: ● Häufigste Determinante, die zu einer Einschränkung der Fahrsicherheit und Fahreignung führt, ist das Fahren unter Alkohol, gefolgt von Fahren unter Drogen und Medikamenten. ● Im Rahmen einer Arzneimitteltherapie hat der behandelnde Arzt den Patienten grundsätzlich auf Einschränkungen der Fahrsicherheit hinzuweisen. ● Erkrankungen spielen bei der Begutachtung von Einschränkungen der Fahrsicherheit und Fahreignung zwar eine untergeordnete Rolle, haben jedoch im ärztlichen Alltag eine große Bedeutung. Hinsichtlich Einschränkungen der Fahreignung sollte sich der behandelnde Arzt an der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung [1] orientieren. ● Bei der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis bei Eignungsmängeln infolge einer Alkohol- oder Drogenproblematik spielen Laborbefunde (Alkoholkonsummarker bzw. Marker des Alkoholkonsumverzichts, Drogennachweis in Blut und Urin) eine große Rolle. ● Durch regelmäßige Laborkontrollen im Vorfeld einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) kann der Arzt seinen Patienten bei der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis unterstützen.
23.1 Einleitung Die Verkehrsmedizin setzt sich zum Ziel, durch Anwendung medizinisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen die Sicherheit des Menschen im Verkehr zu fördern und damit aus präventiver Sicht verkehrsbedingte Gesundheitsstörungen abzuwehren. Neben der Unfallursachenforschung und Unfallrekonstruktion zur straf- und zivilrechtlichen Aufarbeitung bis hin zur Verbesserung technischer Einrichtungen sind psychologische und physiologische Voraussetzungen von Verkehrsteilnehmern zentrales Thema der Verkehrsmedizin [2]. Hier ergeben sich Berührungspunkte mit behandelnden Ärzten, wenn es um die Vermeidung von Beeinträchtigungen der akuten Fahrsicherheit oder der generellen Fahreignung ihrer Patienten geht, z. B. aufgrund von Alkohol-, Drogen-, oder Medikamentenmissbrauch oder eines körperlichen Mangels, worunter man Beeinträchtigungen als Folge bestimmter Erkrankungen versteht, die ggf. nicht mit dem sicheren Führen eines Fahrzeuges vereinbar sind.
226
Prävention im Rahmen der Verkehrsmedizin bedeutet für den behandelnden Arzt die Vermeidung von Beeinträchtigungen der Fahrsicherheit und Fahreignung seiner Patienten bzw. – ist es durch Erkrankungen, Alkohol-, Drogen-, Medikamentenmissbrauch oder Eignungsmängel zu einem Entzug der Fahrerlaubnis gekommen – den Patienten bei der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis zu unterstützen. Die häufigste Determinante, die zu einer Einschränkung der Fahrsicherheit und Fahreignung führt, ist das Fahren unter Alkohol, gefolgt von Fahren unter Drogen und Medikamenten. Zwar spielen derzeit Erkrankungen mit Einschränkung der Fahrsicherheit und Fahreignung in der Begutachtungspraxis noch eine untergeordnete Rolle, im ärztlichen Alltag dürften sich auch in Anbetracht der bestehenden Alterspyramide und dem hohen Anteil älterer Kraftfahrer diesbezügliche Fragen jedoch wesentlich häufiger stellen. Ein möglichst effizientes Handeln des Arztes zum Wohle seiner Patienten und zugleich zur Gefahrenabwehr für Dritte, aber auch zur Vermeidung persönlicher straf- oder zivilrechtlicher Folgen setzt im Rahmen der Verkehrsmedizin auch die Kenntnisse einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen voraus, die nach einigen einleitenden Definitionen erläutert werden [2 – 5]. Unter dem unscharfen Begriff der Fahrfertigkeit versteht man einen Teilaspekt der Fahreignung, nämlich die durch Training, Übung und Erfahrung ausgebildeten Fähigkeiten im Sinne von „Geschicklichkeiten“, die für das Führen eines Fahrzeuges notwendig sind. Unter Fahrsicherheit (syn. Fahrtüchtigkeit) versteht man die situations- und zeitbezogene Fähigkeit zum Führen eines Fahrzeuges, die durch äußere Faktoren und Beeinträchtigungen des Fahrers (Alkohol, Drogen, Medikamente, aber auch Müdigkeit oder Folgen einer Erkrankung [z. B. Hypoglykämie] im Sinne eines körperlichen Mangels) rasch veränderbar sind. Es kann zu einer reversiblen Fahrunsicherheit kommen, wenn die aktuelle Gesamtleistungsfähigkeit infolge psychophysischer Leistungsausfälle bzw. Enthemmung so weit herabgesetzt ist, dass der Betroffene nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke – und zwar auch bei plötzlichem Auftreten schwieriger Verkehrslagen – sicher zu führen. Unter der Fahreignung (syn. Fahrtauglichkeit) ist dagegen die zeitlich stabile und von einzelnen Situationen unabhängige Fähigkeit zum Führen eines Fahrzeuges im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals zu verstehen. Fahrungeeignet ist, wer infolge körperlicher, geistiger oder charakterlicher Mängel eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs darstellt. Darunter fallen neben Personen mit bestimmten Vorerkrankungen (vgl. auch Tab. 23.1) v. a. auch solche, die regelmäßig (täg-
mangelndes Sehvermögen (siehe Anlage 6)
Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit
hochgradige Schwerhörigkeit (Hörverlust von 60 % und mehr), beidseitig sowie Gehörlosigkeit, beidseitig
Gehörlosigkeit einseitig oder beidseitig, oder hochgradige Schwerhörigkeit einseitig oder beidseitig
Störungen des Gleichgewichts (ständig oder anfallsweise auftretend)
Bewegungsbehinderungen
2.
2.1
2.2
2.3
3.
Krankheiten, Mängel
1.
●
ja
nein
ja, wenn nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen)
ja, wenn nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen)
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
Eignung oder bedingte Eignung
wie 2.1
—
—
—
ja (bei C, C 1, CE, C1E) sonst nein
ja
▶▶
ggf. Beschränkung auf bestimmte Fahrzeugarten oder Fahrzeuge, ggf. mit besonderen technischen Vorrichtungen gemäß ärztlichem Gutachten, evtl. zusätzlich medizinisch-psychologisches Gutachten und/oder Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers. Auflage: regelmäßige ärztliche Kontrolluntersuchungen; können entfallen, wenn Behinderung sich stabilisiert hat.
vorherige Bewährung von 3 Jahren Fahrpraxis auf Kfz der Klasse B
—
ja (bei C, C 1, CE, C1E), sonst nein
nein
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
Vorbemerkung Die nachstehende Aufstellung enthält häufiger vorkommende Erkrankungen und Mängel, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben können. Nicht aufgenommen sind Erkrankungen, die seltener vorkommen oder nur kurzzeitig andauern (z. B. grippale Infekte, akute infektiöse Magen-/Darmstörungen, Migräne, Heuschnupfen, Asthma). ● Grundlage der im Rahmen der §§ 11, 13 oder 14 vorzunehmenden Beurteilung, ob im Einzelfall Eignung oder bedingte Eignung vorliegt, ist in der Regel ein ärztliches Gutachten (§ 11 Abs. 2 Satz 2), in besonderen Fällen ein medizinisch-psychologisches Gutachten (§ 11 Abs. 3) oder ein Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (§ 11 Abs. 4). ● Die nachstehend vorgenommenen Bewertungen gelten für den Regelfall. Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinischpsychologische Begutachtung angezeigt sein.
Tabelle 23.1 Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (zu den §§ 11, 13 und 14): Eignung und bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen [1].
Einleitung
23
227
228
in der Regel kein Krankheitswert
koronare Herzkrankheit (Herzinfarkt)
nach erstem Herzinfarkt
nach zweitem Herzinfarkt
Herzleistungsschwäche durch angeborene oder erworbene Herzfehler oder sonstige Ursachen
in Ruhe auftretend
bei gewöhnlichen Alltagsbelastungen und bei besonderen Belastungen
4.4
4.4.1
4.4.2
4.5
4.5.1
4.5.2
Hypotonie (zu niedriger Blutdruck)
4.3
selteneres Auftreten von hypotoniebedingten, anfallsartigen Bewusstseinsstörungen
bei ständigem diastolischen Wert von über 100 – 130 mmHg
4.2.2
4.3.1
bei ständigem diastolischen Wert von über 130 mmHg
4.2.1
4.3.2
Hypertonie (zu hoher Blutdruck)
ja
nein
ja, wenn keine Herzinsuffizienz oder gefährliche Rhythmusstörungen vorliegen
ja, bei komplikationslosem Verlauf
ja, wenn durch Behandlung die Blutdruckwerte stabilisiert sind
ja
ja
nein
ja
– nach erfolgreicher Behandlung durch Arzneimittel oder Herzschrittmacher
4.2
nein
Herzrhythmusstörungen mit anfallsweiser Bewusstseinstrübung oder Bewusstlosigkeit
4.1
VI
Herz- und Gefäßkrankheiten
nein
nein
nein
ausnahmsweise ja
ja, wenn durch Behandlung die Blutdruckwerte stabilisiert sind
ja
ja, wenn keine anderen prognostisch ernsten Symptome vorliegen
nein
ausnahmsweise ja
nein
IV
4.
III
regelmäßige ärztliche Kontrolle, Nachuntersuchung in bestimmten Fristen, Beschränkung auf einen Fahrzeugtyp, Umkreis- und Tageszeitbeschränkungen
—
Nachuntersuchung
—
—
—
—
Nachuntersuchung
— —
—
Nachuntersuchungen
—
regelmäßige Kontrollen
—
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
—
Nachuntersuchungen
—
regelmäßige Kontrollen
—
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
II
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
V
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
VII Eignung oder bedingte Eignung
I
Krankheiten, Mängel
Tabelle 23.1 Fortsetzung
Verkehrsmedizin und Fahreignung
periphere Gefäßerkrankungen
Zuckerkrankheit
Neigung zu schweren Stoffwechselentgleisungen
bei erstmaliger Stoffwechselentgleisung oder neuer Einstellung
bei ausgeglichener Stoffwechsellage unter Therapie mit Diät oder oralen Antidiabetika
mit Insulin behandelte Diabetiker
Bei Komplikationen siehe auch Nummer 1, 4, 6 und 10
Krankheiten des Nervensystems
Erkrankungen und Folgen von Verletzungen des Rückenmarks
Erkrankungen der neuromuskulären Peripherie
Parkinsonʼsche Krankheit
kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit
Zustände nach Hirnverletzungen und Hirnoperationen, angeborene und frühkindlich erworbene Hirnschäden
Schädel-Hirn-Verletzungen oder Hirnoperationen ohne Substanzschäden
Substanzschäden durch Verletzungen oder Operationen
angeborene oder frühkindliche Hirnschäden: siehe Nummer 6.5.2
4.6
5.
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
6.
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.5.1
6.5.2
6.5.3
ja, unter Berücksichtigung von Störungen der Motorik, chronisch-hirnorganischer Psychosyndrome und hirnorganischer Wesensänderungen
ja, in der Regel nach 3 Monaten
ja, nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr
ja, bei leichten Fällen und erfolgreicher Therapie
ja, abhängig von der Symptomatik
ja, abhängig von der Symptomatik
ja
ja
ja, nach Einstellung
nein
ja
— — Nachuntersuchung
regelmäßige Kontrollen
— — — —
— — —
—
bei fortschreitendem Verlauf Nachuntersuchungen bei fortschreitendem Verlauf Nachuntersuchungen Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren
bei Rezidivgefahr nach Operationen von Hirnkrankheiten Nachuntersuchung bei Rezidivgefahr nach Operationen von Hirnkrankheiten Nachuntersuchung
nein ja, nach Einstellung ja, ausnahmsweise, bei guter Stoffwechselführung ohne Unterzuckerung über etwa 3 Monate
nein
ja, in der Regel nach 3 Monaten
ja, unter Berücksichtigung von Störungen der Motorik, chronisch-hirnorganischer Psychosyndrome und hirnorganischer Wesensänderungen
nein
nein
nein
wie 5.3
▶▶
bei Rezidivgefahr nach Operationen von Hirnkrankheiten Nachuntersuchung
bei Rezidivgefahr nach Operationen von Hirnkrankheiten Nachuntersuchung
—
—
ja
Einleitung
23
229
230
akut
nach Abklingen
chronische hirnorganische Psychosyndrome
leicht
schwer
schwere Altersdemenz und schwere Persönlichkeitsveränderungen durch pathologische Alterungsprozesse
schwere Intelligenzstörungen/geistige Behinderung
leicht
schwer
7.1.1
7.2
7.2.1
7.2.2
7.3
7.4
7.4.1
7.4.2
organische Psychosen
7.1
7.1.2
psychische (geistige) Störungen
7.
ausnahmsweise ja, wenn keine Persönlichkeitsstörung (Untersuchung der Persönlichkeitsstruktur und des individuellen Leistungsvermögens)
ja, wenn keine Persönlichkeitsstörung
nein
nein
ja, abhängig von Art und Schwere
ja, abhängig von der Art und Prognose des Grundleidens, wenn bei positiver Beurteilung des Grundleidens keine Restsymptome und kein 7.2
nein
ausnahmsweise ja, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z. B. 2 Jahre anfallsfrei
VI
Anfallsleiden
ausnahmsweise ja, wenn keine Persönlichkeitsstörung (Untersuchung der Persönlichkeitsstruktur und des individuellen Leistungsvermögens)
ja, wenn keine Persönlichkeitsstörung
nein
nein
—
—
—
—
—
—
—
—
Nachuntersuchung
Nachuntersuchung
in der Regel Nachuntersuchung
ausnahmsweise ja
—
— in der Regel Nachuntersuchung
Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
nein
Nachuntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
ja, abhängig von der Art und Prognose des Grundleidens, wenn bei positiver Beurteilung des Grundleidens keine Restsymptome und kein 7.2
ausnahmsweise ja, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z. B. 5 Jahre anfallsfrei ohne Therapie
IV
6.6
III
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
II
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
V
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
VII Eignung oder bedingte Eignung
I
Krankheiten, Mängel
Tabelle 23.1 Fortsetzung
Verkehrsmedizin und Fahreignung
affektive Psychosen
bei allen Manien und sehr schweren Depressionen
nach Abklingen der manischen Phase und der relevanten Symptome einer sehr schweren Depression
bei mehreren manischen oder sehr schweren depressiven Phasen mit kurzen Intervallen
nach Abklingen der Phasen
Schizophrene Psychosen
akut
nach Ablauf
bei mehreren psychotischen Episoden
Alkohol
Missbrauch (das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum kann nicht hinreichend sicher getrennt werden)
nach Beendigung des Missbrauchs
Abhängigkeit
nach Abhängigkeit (Entwöhnungsbehandlung)
7.5
7.5.1
7.5.2
7.5.3
7.5.4
7.6
7.6.1
7.6.2
7.6.3
8.
8.1
8.2
8.3
8.4
ja, wenn Abhängigkeit nicht mehr besteht und in der Regel ein Jahr Abstinenz nachgewiesen ist
nein
ja, wenn die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist
nein
ja
ja, wenn keine Störungen nachweisbar sind, die das Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen
nein
ja, wenn Krankheitsaktivität geringer und mit einer Verlaufsform in der vorangegangenen Schwere nicht mehr gerechnet werden muss
nein
ja, wenn nicht mit einem Wiederauftreten gerechnet werden muss, ggf. unter medikamentöser Behandlung
nein
—
—
— —
regelmäßige Kontrollen
—
— — —
—
regelmäßige Kontrollen
— —
regelmäßige Kontrollen
—
— — —
nein ausnahmsweise ja, nur unter besonders günstigen Umständen ausnahmsweise ja, nur unter besonders günstigen Umständen
nein
ja, wenn die Änderung des Trinkverhaltens gefestigt ist nein ja, wenn Abhängigkeit nicht mehr besteht und in der Regel ein Jahr Abstinenz nachgewiesen ist
nein
nein
regelmäßige Kontrollen
regelmäßige Kontrollen
ja bei Symptomfreiheit
—
—
nein
▶▶
Einleitung
23
231
232
Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis)
Einnahme von Cannabis
regelmäßige Einnahme von Cannabis
gelegentliche Einnahme von Cannabis
Abhängigkeit von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes oder von anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen
missbräuchliche Einnahme (regelmäßig übermäßiger Gebrauch) von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln und anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen
nach Entgiftung und Entwöhnung
Dauerbehandlung mit Arzneimitteln
Vergiftung
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß
9.1
9.2
9.2.1
9.2.2
9.3
9.4
9.5
9.6
9.6.1
9.6.2 nein
nein
ja, nach einjähriger Abstinenz
nein
nein
ja, nach einjähriger Abstinenz
nein
nein
nein
nein
ja, wenn Trennung von Konsum und Fahren und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, keine Störung der Persönlichkeit, kein Kontrollverlust
nein
nein
ja, wenn Trennung von Konsum und Fahren und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, keine Störung der Persönlichkeit, kein Kontrollverlust
nein
nein
VI
Betäubungsmittel, andere psychoaktiv wirkende Stoffe und Arzneimittel
IV
9.
III —
—
—
—
— —
— —
regelmäßige Kontrollen
—
—
regelmäßige Kontrollen
—
—
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
—
—
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
II
Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T
V
Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D 1, DE, D1E, FzF
VII Eignung oder bedingte Eignung
I
Krankheiten, Mängel
Tabelle 23.1 Fortsetzung
Verkehrsmedizin und Fahreignung
Nierenerkrankungen
schwere Niereninsuffizienz mit erheblicher Beeinträchtigung
Niereninsuffizienz in Dialysebehandlung
erfolgreiche Nierentransplantation mit normaler Nierenfunktion
bei Komplikationen oder Begleiterkrankungen siehe auch Nummer 1, 4 und 5
Verschiedenes
Organtransplantation: Die Beurteilung richtet sich nach den Beurteilungsgrundsätzen zu den betroffenen Organen
Lungen- und Bronchialerkrankungen
unbehandelte Schlafapnoe mit ausgeprägter Vigilanzbeeinträchtigung
behandelte Schlafapnoe
sonstige schwere Erkrankungen mit schweren Rückwirkungen auf die Herz-Kreislauf-Dynamik
10.
10.1
10.2
10.3
10.4
11.
11.1
11.2
11.2.1
11.2.2
11.2.3 nein
ja
nein
ja
ja, wenn keine Komplikationen oder Begleiterkrankungen
nein
ärztliche Betreuung und Kontrolle, jährliche Nachuntersuchung
— regelmäßige Kontrolle —
ärztliche Betreuung und Kontrolle, jährliche Nachuntersuchung
— regelmäßige Kontrolle —
nein
ja
nein
ja
ständige ärztliche Betreuung und Kontrolle, Nachuntersuchung
ständige ärztliche Betreuung und Kontrolle, Nachuntersuchung
ausnahmsweise ja
—
—
nein
Einleitung
23
233
Verkehrsmedizin und Fahreignung
I II
III IV V VI VII
lich oder gewohnheitsmäßig) Cannabisprodukte konsumieren, sowie Konsumenten von weiteren Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtmG), sofern nicht die Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für den konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt. Zudem fallen darunter Personen, die von anderen berauschenden Mitteln (Arzneimitteln) abhängig sind oder solche Mittel missbräuchlich oder regelmäßig einnehmen und damit ihre psychophysische Leistungsfähigkeit ständig unter ein erforderliches Maß herabsetzen bzw. die durch den Wirkungsablauf jederzeit plötzlich und unvorhersehbar in ihrer Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sein können. Berauschende Mittel im Sinne des Gesetzgebers (§§ 315c, 316 StGB) sind dabei Stoffe, die das Hemmungsvermögen sowie intellektuelle und motorische Fähigkeiten beeinträchtigen und die damit in ihren Auswirkungen denen des Alkohols vergleichbar sind.
23.2 Epidemiologie Bei 6,5 % aller Unfälle mit Personenschaden war 2005 nach Angaben des Statistischen Bundesamts [6] Alkoholeinfluss eine der Unfallursachen, und 11 % aller Verkehrstoten in Deutschland starben an den Folgen eines Alkoholunfalls, was jedem 9. Getöteten entspricht. 3,4 % der in Verkehrsunfälle verwickelten Verkehrsteilnehmer standen unter Alkoholeinfluss, 57 % aller alkoholisierten Unfallbeteiligten waren PKW-Fahrer. 70 % der alkoholisierten PKW-Fahrer wiesen dabei zum Zeitpunkt der Blutentnahme eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von mindestens 1,1 ‰ auf, 22 % sogar eine BAK von mehr als 2 ‰. 2005 wurden 103 751 Führerscheine durch Gerichtsentscheid entzogen, 37 491 durch Entscheidungen der Verwaltungsbehörden [7]. Entscheidungsgrund bei den Gerichtsentscheidungen war in 94 276 Fällen eine Verkehrszuwiderhandlung bei Trunkenheit, bei den Entziehungen von Fahrerlaubnissen durch die Verwaltungsbehörden standen im Vordergrund charakterliche Mängel (15 011), andere Entscheidungsgründe (12 324), Nichtbefolgen von Anordnungen zum Aufbauseminar (8479) sowie körperliche und geistige Mängel (1394). Bei den Entziehungen der Fahrerlaubnis wegen Zuwiderhandlung in Verbindung mit Trunkenheit stehen zahlenmäßig 30bis 50-Jährige ganz im Vordergrund. Bei den Fahrverboten nach § 25 Straßenverkehrsgesetz (StVG) folgen unmittelbar nach den Geschwindigkeitsüberschreitungen als Entscheidungsgrund das Führen eines Kraftfahrzeugs (KFZ) unter Einfluss von Alkohol und anderen Drogen (§ 24 a StVG). Im Jahr 2005 waren hiervon 92 642 Fälle betroffen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Straßenwesen erfolgten 2002 112 539 medizinisch-psychologische Untersuchungen (MPU), von denen 43 % positiv aus-
234
gingen, während 42 % der Kandidaten scheiterten. Bei den restlichen 15 % wurde eine Nachschulung empfohlen. Von den insgesamt 112 539 MPU entfielen dabei über 90 000 auf erstmaligen bzw. wiederholten Alkoholkonsum, Alkoholkonsum mit zusätzlichen allgemeinen verkehrs- bzw. strafrechtlichen Auffälligkeiten, Alkoholund zusätzlichen Betäubungsmittel- oder Medikamentenmissbrauch bzw. Betäubungsmittel- und Medikamentenauffälligkeit. Auffälligkeiten des Sehens, Hörens, des Bewegungsapparates, der inneren Organe sowie neurologisch-psychiatrische Auffälligkeiten (nicht alkoholbedingt) waren nur in knapp 1000 Fällen Anlass für eine MPU.
23.3 Allgemeine rechtliche Grundlagen Nach § 2 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist geeignet zum Führen von Fahrzeugen, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Ist ein Bewerber aufgrund körperlicher oder geistiger Mängel nur bedingt zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet, so erteilt die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis mit Einschränkungen oder unter Auflagen. Nach § 2 Abs. 8 StVG kann die Fahrerlaubnisbehörde anordnen, dass der Antragsteller ein Gutachten oder Zeugnis eines Facharztes oder Amtsarztes, ein Gutachten von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung oder eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Fahrzeugverkehr innerhalb einer angemessenen Frist beibringt, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die Eignung oder Befähigung des Bewerbers begründen. Nach § 11 Fahrerlaubnisverordnung (FeV [1]) müssen Bewerber um eine Fahrerlaubnis die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen. Die Anforderungen sind insb. dann nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 (Tab. 23.1, Tab. 23.2) vorliegt, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird. Bewerber um die Fahrerlaubnis der Klasse D oder D 1 (Kraftfahrzeuge zur Personenbeförderung mit mehr als 8 Sitzplätzen bzw. Kraftfahrzeuge zur Personenbeförderung mit mehr als 8 und nicht mehr als 16 Sitzplätzen) müssen auch die Gewähr dafür bieten, dass sie der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht werden. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen wiederum
Allgemeine rechtliche Grundlagen
Tabelle 23.2 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) Anlage 5 [1]. Eignungsuntersuchungen für Bewerber und Inhaber der Klassen C, C 1, D, D 1 und der zugehörigen Anhängerklassen E sowie der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung: ● Bewerber um die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen C, C 1, CE, C 1 E, D, D 1, DE, D 1 E sowie der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung müssen sich untersuchen lassen, ob Erkrankungen vorliegen, die die Eignung oder die bedingte Eignung ausschließen. Sie haben hierüber einen Nachweis gemäß dem Muster dieser Anlage vorzulegen. ● Bewerber um die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen D, D 1, DE, D1E sowie einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung müssen außerdem besondere Anforderungen hinsichtlich: – Belastbarkeit – Orientierungsleistung – Konzentrationsleistung – Aufmerksamkeitsleistung – Reaktionsfähigkeit erfüllen Die zur Untersuchung dieser Merkmale eingesetzten Verfahren müssen nach dem Stand der Wissenschaft standardisiert und unter Aspekten der Verkehrssicherheit validiert sein.
die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen (§ 11 Abs. 2 FeV). Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung bestehen insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 FeV hinweisen. Die Behörde bestimmt in der Anordnung auch, ob das Gutachten von einem ● für die Fragestellung (Abs. 6, Satz 1 FeV) zuständigen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, ● Arzt des Gesundheitsamtes oder einem anderen Arzt der öffentlichen Verwaltung, ● Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“, ● Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Facharzt für Rechtsmedizin“ oder ● Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der die Anforderungen nach Anlage 14 FeV [1] erfüllt (Tab. 23.3), erstellt werden soll. In § 12, 13 sowie 14 der FeV sind spezielle Regelungen zum Führen von Kraftfahrzeugen hinsichtlich des Sehvermögens (§ 12), bei Alkoholproblematik (§ 13) und im Hinblick auf Betäubungsmittel und Arzneimittel (§ 14) getroffen. So kann bei Eignungszweifeln im Rahmen einer Alkoholproblematik die Fahrerlaubnisbehörde anordnen, dass ein ärztliches Gutachten beizubringen ist, wenn Tatsachen die Annahme von Alkoholabhängigkeit begründen oder die Fahrerlaubnis wegen Alkoholabhängigkeit entzogen war. Dies gilt auch, wenn sonst zu klären ist, ob eine Abhängigkeit nicht mehr besteht oder ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzei-
Tabelle 23.3 Voraussetzungen für die amtliche Anerkennung als Begutachtungsstelle für Fahreignung (Anlage 14 zu § 66 Abs. 2 FeV [1]). Die Anerkennung kann erteilt werden, wenn insbesondere 1. die erforderliche finanzielle und organisatorische Leistungsfähigkeit des Trägers gewährleistet ist, 2. die erforderliche personelle Ausstattung mit einer ausreichenden Anzahl von Ärzten und Psychologen sichergestellt ist, 3. für Bedarfsfälle ein Diplomingenieur zur Verfügung steht, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als amtlich anerkannter Sachverständiger oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr erfüllt, 4. die erforderliche sachliche Ausstattung mit den notwendigen Räumlichkeiten und Geräten sichergestellt ist, 5. der Träger einer Begutachtungsstelle für Fahreignung nicht zugleich Träger von Maßnahmen der Fahrausbildung oder von Kursen zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung ist, 6. die Stelle von der Bundesanstalt für Straßenwesen akkreditiert ist, 7. die Teilnahme von Personen nach Nummer 2 an einem regelmäßigen und bundesweiten Erfahrungsaustausch unter Leitung der Bundesanstalt für Straßenwesen sichergestellt wird, 8. die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Gutachter von der Gebührenerstattung im Einzelfall und vom Ergebnis der Begutachtungen gewährleistet ist und 9. der Antragsteller, bei juristischen Personen die nach Gesetz oder Satzung zur Vertretung berufenen Personen zuverlässig sind. Die Anerkennung kann mit Nebenbestimmungen, insbesondere mit Auflagen verbunden werden, um den vorgeschriebenen Bestand und die ordnungsgemäße Tätigkeit der Untersuchungsstelle zu gewährleisten. Anforderungen an den Arzt: Arzt mit mindestens zweijähriger klinischer Tätigkeit (insbesondere Innere Medizin, Psychiatrie, Neurologie) oder Facharzt, zusätzlich mit mindestens einjähriger Praxis in der Begutachtung der Eignung von Kraftfahrern in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung. Anforderungen an den Psychologen: Diplom in der Psychologie, mindestens zweijährige praktische Berufstätigkeit (in der Regel in der klinischen Psychologie, Arbeitspsychologie) und mindestens eine einjährige Praxis in der Begutachtung der Eignung von Kraftfahrern in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung.
chen für Alkoholmissbrauch vorliegen, Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Einfluss von Alkohol begangen wurden oder ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer BAK (Blutalkoholkonzentration) von 1,6 ‰ bzw. einer Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,8 mg/l geführt wurde [2, 8]. Ebenso kann bei Abhängigkeit oder Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes oder missbräuchlicher Einnahme von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln die Anordnung zur Einholung eines ärztlichen Gutachtens ergehen bzw. die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden.
235
23
Verkehrsmedizin und Fahreignung
Wichtig: Zahlenmäßig spielen die größte Rolle bei Überprüfungen der Fahreignung Eignungszweifel bei Alkoholproblematik, gefolgt von Eignungszweifeln im Hinblick auf Betäubungs- und Arzneimittel.
● ● ● ●
I II
III IV V VI VII
23.4 Beurteilung der Fahreignung Hinweise zur Beurteilung der Fahreignung finden sich im Gutachten „Krankheit und Kraftverkehr“, das 1973 erstmals publiziert wurde und den daran anschließenden Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung des gemeinsamen Beirates für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit [9]. Die heute aktuellen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung beinhalten zum ersten Mal Begutachtungsleitlinien aus medizinischer und psychologischer Sicht [2, 4, 5]. Die meisten Personen, die sich einer Eignungsprüfung unterziehen müssen, werden zunächst wegen einer Fahrunsicherheit im Straßenverkehr auffällig (§§ 315c, 316 StGB), ggf. muss daran anknüpfend die generelle Fahreignung überprüft werden.
23.4.1 Fragestellungen für den behandelnden Arzt Beeinträchtigung der Fahrsicherheit durch ärztliche Maßnahmen Führen akute ärztliche Maßnahmen (Eingriff in Lokalanästhesie, Medikation) zu einer Beeinträchtigung der Fahrsicherheit, dann ist der Patient hierauf hinzuweisen. Im Rahmen einer Arzneimitteltherapie werden vom Patienten ausdrücklich Informationen über Vorsichtsmaßnahmen wie Beeinträchtigung der Fahrsicherheit gewünscht. Daher ist der Patient grundsätzlich über die Wirkungsweise eines Medikaments, den Grund für die Medikation, Art und Dauer der Einnahme sowie häufige Nebenwirkungen und Verhaltensmaßnahmen bei Eintritt von Nebenwirkungen aufzuklären. Alleine ein Hinweis auf die Packungsbeilage reicht nicht aus. Aus Gründen der Beweispflicht sollte die Aufklärung ggf. dokumentiert werden. Für einen behandelnden Arzt können bei schuldhafter Unterlassung bzw. ungenügender Aufklärung strafund zivilrechtliche Folgen entstehen. Zivilrechtlich können z. B. bei Aufklärungs- bzw. Informationsfehlern Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden [2, 3]. Im Rahmen einer Arzneimitteltherapie sollte der Arzt prinzipiell auch das Fahrverhalten des Patienten erfragen und im Rahmen der Verordnung und Auswahl eines Medikamentes folgende Punkte beachten: ● Prüfung von infrage kommenden Medikamenten auf ihr jeweiliges Leistungsminderungspotenzial und – soweit therapeutisch sinnvoll – Auswahl eines Mittels mit geringem Gefahrenpotenzial
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●
einschleichende und ausschleichende Dosierung Wirkungsdauer (insb. bei Benzodiazepinen Gefahr eines „Hang-over“) keine unreflektierte Dosiserhöhung bei nicht ausreichender Wirkung vornehmen Vermeidung einer Co-Medikation verschiedener zentral wirksamer Mittel bei Substitutionspatienten ggf. Objektivierung bei Verdacht auf Beikonsum (d. h. zusätzlich zur Substitution weiterer missbräuchlicher Konsum von Drogen oder psychotropen Medikamenten, z. B. Benzodiazepinen)
Im Rahmen der Therapiekontrolle ist auch auf die Einschränkung verkehrsrelevanter Leistungen zu achten bzw. hat eine regelmäßige Nachfrage zu Verhaltens- und Leistungsänderungen zu erfolgen. Bei einer Einschränkung der Fahrsicherheit und damit auch Fahreignung durch ein Grundleiden, Substanzmissbrauch oder eine Arzneimitteltherapie, ist zu beachten, dass bei uneinsichtigen Patienten zwar keine Meldepflicht besteht, der behandelnde Arzt aber ein Melderecht an die Straßenverkehrsbehörde hat, das er ggf. wahrnehmen sollte, auch wenn das Arzt-Patienten-Verhältnis dadurch erheblich belastet werden kann. Zwar verbietet die ärztliche Schweigepflicht gemäß § 203 StGB eine unbefugte Offenbarung. Im Sinne eines rechtfertigenden Notstandes gemäß § 34 StGB kann jedoch nach sorgfältigem Abwägen des Nutzens für den Patienten gegenüber der Sicherheitsgefährdung der Allgemeinheit eine Mitteilung an die Verwaltungsbehörde durch den Arzt erfolgen, wenn uneinsichtige Patienten trotz einer von ihnen ausgehenden Gefährdung und entsprechender Aufklärung durch den Arzt weiterhin am Straßenverkehr teilnehmen, obwohl der behandelnde Arzt ihnen mitteilt, dass er ggf. eine Meldung an die Straßenverkehrsbehörde machen wird.
Beratung des Patienten bei Eignungsmängeln In der Regel ist der behandelnde Arzt nicht derjenige, der auf Anordnung der Fahrerlaubnisbehörde ein Gutachten zur Fahreignung seines Patienten erstellt. Er wird den Patienten jedoch bei den Bemühungen um eine Wiedererlangung der Fahrerlaubnis unterstützen, wobei zahlenmäßig Eignungsmängel in Folge einer Alkohol- oder Drogenproblematik im Vordergrund stehen. Neben der körperlichen Untersuchung können hier Laborbefunde weiterhelfen [10 – 13]. Klinisch-chemische Alkoholmarker in der Fahreignungsbegutachtung werden dabei differenziert in Alkoholkonsummarker, Differenzierungsmarker sowie Marker des Alkoholkonsumverzichtes (Tab. 23.4). Im Rahmen einer MPU vor Wiedererteilung der Fahrerlaubnis werden sie regelhaft erhoben und können vom behandelnden Arzt bereits zuvor überprüft werden, um bereits im Vorfeld der Begutachtungssituation eine Abstinenzkontrolle zu gewährleisten. In Tab. 23.5
Beurteilung der Fahreignung
Tabelle 23.4 Klinisch-chemische Alkoholmarker in der Fahreignungsbegutachtung [nach 10]. Alkohol-Konsummarker GGT
Zellmembranenzym, vorwiegend in Leber und Niere gebildet; Referenzbereiche: Männer 12 – 55 U/l, Frauen 9 – 36 U/l (37 °C) Erhöht: ● durch Enzyminduktion und Membranschaden ● bei längerfristigem starkem Alkoholkonsum ● durch andere Leber- und Pankreaserkrankungen ● durch Medikamente (Antikonvulsiva, Neuroleptika, Barbiturate, Benzodiazepine)
MCV
obere Normgrenzen: 96 – 110 fl (cave: Laborunterschiede) Erhöht: ● durch toxischen Effekt auf das Knochenmark ● bei längerfristig starkem Alkoholkonsum ● auch bei Mangel an Vitamin B12 und Folsäure ● Lebererkrankungen ● Retikulozytose, makrozytäre Anämien
CDT CDT-HPLC
oberer Referenzwert (% CDT): über 2 % (sicherer Hinweis ab 30 %) Erhöht: ● durch toxischen Effekt auf Transferrin-Synthese ● bei starkem Alkoholkonsum nach wenigen Wochen ● auch bei anderen Lebererkrankungen ● Schwangerschaft/Eisenmangel ● genetisch bedingte D-Variante des Transferrins ● Carbohydrate-deficient glycoprotein syndrome (CDGS)
Differenzierungsmarker Aminotransferasen: GOT, GPT
zytoplasmatische Enzyme, Differenzierungsmarker Quotient GOT/GPT (de-Ritis-Quotient) > 2 Quotient GGT/GOT > 2
● ●
23
Marker des Alkoholkonsumverzichts EtG
direkter Ethanolmetabolit bei aktuellem Alkoholkonsum über 1 mg/l im Urin in 100 % der Fälle nachweisbar nach akuter Alkoholaufnahme Marker des Alkoholkonsumverzichts im Zeitfenster von 2 – 5 Tagen
● ● ●
GGT = Gammaglutamyltransferase, MCV = mittleres korpuskuläres Volumen, CDT = Carbohydrate Deficient Transferrin, HPLC = high performance (bzw. pressure) liquid chromatography, CDGS = Carbohydrate-deficient Glykoprotein Syndrome, GOT = Glutamat-Oxalat-Transaminase, GPT = Glutamat-Pyruvat-Transaminase, EtG = Ethylglucuronid
Tabelle 23.5 Sensitivität und Spezifität von Alkohol-Konsummarkern [nach 10, 13]. Alkoholiker mit positivem Test Sensitivität [Anzahl derAnzahl 100] der Alkoholiker
Nichtalkoholiker mit negativem Test Spezifität [Anzahl derAnzahl 100] der Nichtalkoholiker
Alkoholkonsummarker GGT
ca. 70 %
30 – 50 %
MCV
ca. 80 %
60 – 90 %
CDT
50 – 94 %
90 %
Marker des Alkoholkonsumverzichts EtG
100 %
100 %
GGT = Gammaglutamyltransferase, MCV = mittleres korpuskuläres Volumen, CDT = Carbohydrate Deficient Transferrin, EtG = Ethylglucuronid
237
Verkehrsmedizin und Fahreignung
I II
III
finden sich Angaben zur Sensitivität und Spezifität von Alkoholkonsummarkern. Auf jeden dritten alkoholisierten Kraftfahrer kommt heute einer, der unter Drogen und Medikamenten am Straßenverkehr teilnimmt. Die Begutachtung der drogenbzw. medikamentenbedingten Fahrunsicherheit stützt sich dabei i. d. R. auf einen positiven Substanznachweis im Blut im Zusammenhang mit Fahrauffälligkeiten bzw. psychophysischen Leistungsdefiziten bei der ärztlichen Untersuchung anlässlich der Blutentnahme. Nach Drogenkonsum ist ein Substanznachweis im Blut in der Regel nur wenige Stunden möglich, im Urin bis zu wenigen Tagen [2, 3, 12] (Tab. 23.6). Im Rahmen einer MPU ist gegenüber der Straßenverkehrsbehörde Drogenfreiheit nachzuweisen, die der behandelnde Arzt zuvor ebenfalls durch Urintests überprüfen kann. Aufgrund der kurzen Nachweisfenster sind kurze Einbestellfristen bzw. unangekündigte Urinkontrollen vorzunehmen, ggf. kann eine
Haaranalyse auf berauschende Mittel retrospektiv Auskunft über das Konsumverhalten bzw. eine Abstinenz geben [14]. In Nordrhein-Westfalen wurden darüber hinaus Beurteilungskriterien des Cannabiskonsums und daran anknüpfende Maßnahmen vom zuständigen Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr erlassen [11] (Tab. 23.7). Für häufiger vorkommende Erkrankungen und Mängel, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben können, gibt die bereits erwähnte Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung (Tab. 23.1, S. 227) orientierende Hinweise zur Fahreignung, die der behandelnde Arzt im Interesse seiner Patienten beachten sollte (detaillierte Informationen: [2, 5]).
IV Tabelle 23.6 Dauer der Nachweisbarkeit des Drogenkonsums in Urin und Blut.
V VI VII
Substanzgruppen
Urin
Blut
Amphetamine
1 – 3 Tage (cave: stark vom pH-Wert des Urins abhängig)
1 Tag
Benzodiazepine
ca. 3 Tage nach therapeutischer Dosis, 4 – 6 Wochen nach Langzeiteinnahme
1 – 2 Tage
Cannabinoide
36 h bis über Monate, je nach Konsumhäufigkeit
THC wenige Stunden; THC-COOH je nach Konsumhäufigkeit 4 Wochen
Kokainmetabolit
3 Tage
1 Tag
Methadon
3 Tage
1 – 2 Tage
Opiate
3 Tage
1 – 2 Tage
THC = Tetrahydrocannabinol, THC-COOH = THC-Metabolit.
Tabelle 23.7 Beurteilungskriterien des Cannabiskonsums und Maßnahmen, die von der Straßenverkehrsbehörde gem. Erlass des Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr NRW (Az.: 632-21-03/2.1) in Abhängigkeit von der THCCOOH-Konzentration in einer Blutprobe zu ergreifen sind. Die letzte Spalte gibt Daten der eigenen Untersuchungsstelle wieder [aus 11]. Befund
Beurteilung
Maßnahme
Bonn 2000 – 2004: gesamt 1003 ● positiv 84 (8,4 %) ● negativ 919 (91,6 %) ●
THC-COOH < 5 ng/ml THC = 0
einmaliger oder V. a. glgtl. Konsum
keine
10 (11,9 %)
THC-COOH < 5 ng/ml THC > 0
zumindest glgtl. Konsum
MPU, da Kontrollverlust
--
THC-COOH 5-74,9 ng/ml THC = 0
glgtl. Konsum mit Verdacht auf regelm. Konsum
pers. Gespräch mit Nachuntersuchung
69 (82,1 %)
THC-COOH 5-74,9 ng/ml THC > 0
glgtl. Konsum mit Verdacht auf regelm. Konsum
MPU, da Kontrollverlust
1 (1,2 %)
THC-COOH > 75 ng/ml
regelmäßiger Konsum
Versagung bzw. Entziehung der FE
4 (4,8 %)
THC = Tetrahydrocannabinol, THC-COOH: THC-Metabolit; MPU: medizinisch-psychologische Untersuchung; FE: Fahrerlaubnis
238
Beurteilung der Fahreignung
Kasuistik Ein junger Mann wurde im Rahmen einer allgemeinen Verkehrskontrolle überprüft; aufgrund erweiterter Pupillen mit verzögertem Lichteinfall sowie eines positiven Drogenvortests auf Cannabinoide wurde vonseiten der Polizei die Entnahme einer Blutprobe veranlasst. Auch beim blutentnehmenden Arzt waren keine weiteren psychophysischen Leistungsausfälle zu verzeichnen, sodass bei einem Nachweis von THC im Blutplasma (6,8 ng/ml zzgl. 11-OH-THC 3,4 ng/ml und THC-COOH 46,8 ng/ml) lediglich eine Ordnungswidrigkeit gem. § 24 a Abs. 2 StVG geahndet wurde. Von der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde wurde gem. Verwaltungsvorschrift NRW im weiteren Verlauf die Abgabe einer Blutprobe innerhalb einer 8-Tages-Frist gefordert; die Analyse erbrachte eine Konzentration an THCCOOH von 10,2 ng/ml, was auf einen gelegentlichen Konsum von Cannabisprodukten mit Verdacht auf regelmäßigen Konsum hinwies. Daraufhin wurde nochmals ein „polytoxikologisches“ Drogen-Screening im Urin verlangt (Cannabinoide, Opiate, Kokainmetabolite, Amphetamine, Methadon, Benzodiazepine) und bei sonst unauffälligen Befunden (auch für Cannabinoide) wurde dabei Amphetamin nachgewiesen (190 ng/ml), was zu einem sofortigen Entzug der Fahrerlaubnis führte. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass bei einem Drogentest auf nur eine Substanzklasse wichtige Informationen zum (möglicherweise geänderten) Konsumverhalten fehlen. Gemäß den Beurteilungskriterien zur Kraftfahreignung ist daher zumindest im Rahmen einer MPU grundsätzlich ein polytoxikologisches Screening angezeigt.
Literatur 1. Bundesministerium für Justiz. Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. August 1998 (BGBl. I S. 2214), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl. I S. 1338). Verfügbar unter: www.gesetze-im-internet.de/ fev. 2. Madea B, Musshoff F, Berghaus G. Verkehrsmedizin. Fahreignung – Fahrsicherheit – Unfallrekonstruktion. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007. 3. Madea B. Praxis Rechtsmedizin. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 2006. 4. Schubert W, Mattern R. Beurteilungskriterien. Bonn: Kirschbaum; 2005. 5. Schubert W, Schneider W, Eisenmenger W, Stephan E. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung. Kommentar. 2. Aufl.. Bonn: Kirschbaum; 2005. 6. Statistisches Bundesamt. Alkoholunfälle im Straßenverkehr 2005. www.destatis.de; 2006. 7. Kraftfahrt-Bundesamt. Entziehungen, Anordnungen von isolierten Sperren und Aberkennungen von Fahrerlaubnissen nach hauptsächlichen Entscheidungsgründen im Jahr 2005. Verfügbar unter: www.kba.de. 8. Himmelreich K, Janker H, Karbach U. Fahrverbot, Fahrerlaubnisentzug und MPU-Begutachtung im Verwaltungsrecht. 8. Aufl. Neuwied: Luchterhand; 2007. 9. Lewrenz H. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Mensch und Sicherheit. 2000; Heft M 115. 10. Hennighausen R. Medizinische und klinisch-chemische Befunde zur Beurteilung von Änderungen der Blutalkoholkonsumgewohnheiten. Blutalkohol. 2005; 42, Supp. II:11 – 21. 11. Musshoff F. Aussagemöglichkeiten über Cannabiskonsumgewohnheiten aus chemisch-toxikologischer Sicht. Kongressbericht 2005 der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin e. V.; 33. Jahrestagung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Mensch und Sicherheit. 2005; Heft M 171: 71 – 5. 12. Sachs H, Pragst F. Chemisch-toxikologische Untersuchungen auf illegale Drogen im Rahmen der Fahreignungsprüfung. Blutalkohol. 2004; 41 Supp. I: 31 – 8. 13. Seidl S. Der Einsatz von biologischen Alkoholmarkern in der Fahreignungsbegutachtung alkoholauffälliger Kraftfahrer. Blutalkohol. 2004; 41: Supp. II:12 – 21. 14. Madea B, Musshoff F. Haaranalytik, Technik und Interpretation in Medizin und Recht. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2004.
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23
Präklinische Notfallmedizin
24 Präklinische Notfallmedizin P. Sefrin
I II
III IV V VI VII
Das Wichtigste in Kürze Trotz gesunder Lebensführung und Vermeidung von Gefahren kann es zu akuten Schädigungen kommen, die den Betroffenen in Lebensgefahr bringen können. Die notfallmedizinische Hilfe konzentriert sich auf die vitalen Funktionen Atmung, Bewusstsein und Zirkulation, die einzeln oder in Kombination gestört sein oder ausfallen können. Nur eine gezielte präklinische Hilfeleistung wird in der Lage sein, ein Überleben zu sichern und weiterreichende Schädigungsfolgen zu mindern. Diese Hilfe basiert auf der Basisdiagnostik der vitalen Funktionen. Die Konsequenzen reichen von einzelnen Lagerungsmaßnahmen, über den Einsatz einfacher Erstmaßnahmen und Hilfsmittel bis hin zur kardiopulmonalen Reanimation. Durch die Beherrschung der einfachen und der erweiterten Hilfsmaßnahmen ist man damit in der Lage, auch in Extremsituationen ein Überleben zu ermöglichen.
24.1 Notfallmedizin – Was ist das? Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich gesund zu halten und vor Schäden zu schützen. Dies sind nicht nur eine gesunde Lebensführung, sondern auch die konkrete Vermeidung von Gefahren – seien sie technischer oder konstruktiver Art. Trotz dem Ausnützen aller Präventionsmöglichkeiten kann es passieren, dass es plötzlich unvorhergesehen zu einer schwerwiegenden Verletzung oder Schädigung kommt, die den Betroffenen in die Nähe einer akuten Lebensgefahr bis hin zur Frage des Überlebens oder des Todes bringt. Dann ist notfallmedizinische Hilfe gefordert, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden. Notfallmedizin ist das sofortige, zielgerichtete Eingreifen bei einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit, zur Abwendung der Lebensgefahr und zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden. Es gehört zu den Aufgaben eines jeden Arztes, entsprechend seiner Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der zur Verfügung stehenden Ausstattung bei erkennbarer Notwendigkeit notfallmedizinisch tätig zu werden. Nur so kann aus dem Notfall resultierenden sekundären oder teilweise tertiären Schädigungen vorgebeugt werden. Die Gesundheit des Menschen ist von der störungsfreien Funktion einzelner Organe oder Organsysteme und ihrem reibungslosen Zusammenwirkungen abhängig. Erkrankungen und Verletzungen können in kürzester Zeit so tiefgreifende Veränderungen bewirken, dass das Überleben des Gesamtorganismus gefährdet wird. Im
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Vordergrund der Notfallmedizin stehen Störungen der vitalen Funktionen; das sind zerebrale, kardiozirkulatorische und respiratorische Störungen. Nach der Häufigkeit der Einsätze im Notarztdienst (in Bayern) stehen im Bereich des Rettungsdienstes mit 44,1 % die kardiozirkulatorischen Störungen im Vordergrund, gefolgt von den zerebralen (28,4 %) und respiratorischen (13,6 %) Störungen. Eine ausgeprägte Störung einer Vitalfunktion führt, wenn nicht sachgerecht eingegriffen wird, zum Tode des Patienten. Die Vitalfunktionen sind so miteinander verzahnt, dass jede Störung einer Funktion zu direkten oder indirekten Auswirkungen auf die beiden anderen führt. Wird die ursächliche Störung aufgefangen und eine weitergehende Störung vermieden, kann das Überleben sichergestellt werden. Gelingt dies nicht, kommt es zum Versagen der vitalen Funktionen mit der daraus resultierenden Lebensbedrohung. Durch den sofortigen Einsatz lebensrettender Sofortmaßnahmen kann nicht nur die momentane Lebensbedrohung abgewendet, sondern eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes garantiert werden.
24.2 Diagnostik der vitalen Funktionsstörung Voraussetzung für ein zielgerichtetes notfallmedizinisches Handeln ist die Erkennung der Notfallsituation. Die Erstdiagnostik umfasst die Beurteilung von Bewusstsein, Atmung und Kreislauf. Diese Beurteilung wird zunächst ohne Hilfsmittel im Sinne einer Grundorientierung erfolgen, wobei zwischen drei Zustandsbildern unterschieden wird: ● keine Störung erkennbar ● Störung einer oder mehrerer Vitalfunktionen erkennbar ● Nachweis des Ausfalls einer oder mehrerer Funktionen Prüfung der Bewusstseinslage. Der Patient wird zunächst laut angesprochen. Reagiert er hierauf nicht, wird durch vorsichtiges Schütteln an den Schultern ein taktiler Reiz gesetzt. Bei Fehlen einer adäquaten Reaktion muss von einer Bewusstlosigkeit ausgegangen werden. Es gibt eine Vielzahl von Ursachen, die zum Leitsymptom Bewusstseinsstörung führen können. Durch eine Lagebeurteilung (Trauma – Unfall) oder durch eine Fremdanamnese (Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme) lässt sich evtl. die Genese weiter eingrenzen.
Konsequenzen aus der Prüfung der Vitalfunktionen
Prüfung der Atmung. Bei einer bewusstlosen Person, die auf dem Rücken liegt, kommt es durch Zurückfallen des Zungengrundes zu einer Verlegung der Atemwege. Zur Prüfung der Atmung muss deshalb der Kopf vorsichtig nackenwärts überstreckt werden. Dazu wird eine Hand auf die Stirn und die andere Hand unter das Kinn gelegt und das Kinn nach vorne oben geschoben. Diese Bewegung sollte insbesondere bei Traumapatienten nicht ruckartig erfolgen. Die Prüfung der Atembewegungen erfolgt durch eine visuelle Kontrolle der Thoraxbewegung (Heben und Senken des Brustkorbs). Weitere Möglichkeiten sind ein Hören des Atemgeräuschs oder ein Fühlen eines Luftstromes an der Wange. Bei einem plötzlichen Herzversagen kann über eine kurze Zeit noch eine „Restatmung“ vorhanden sein, die allerdings nicht zu einem Gasaustausch in der Lunge führt und Zeichen eines sterbenden Organismus ist. Die „Schnappatmung“ (= wie ein Fisch auf dem Trockenen) ist vielmehr ein Zeichen eines Kreislaufstillstandes und sollte unmittelbar zu Beginn einer Herz-Lungen-Wiederbelebung führen. Prüfung des Kreislaufs. Die Möglichkeit der Beurteilung des Kreislaufs beschränkt sich zunächst auf das Betasten des Karotispulses. Dies bereitet allerdings nicht nur dem Laien, sondern auch dem medizinischen Personal Schwierigkeiten und wird deshalb zu einer deutlichen Zeitverzögerung führen können. Die Versuche einer Detektion dürfen nicht länger als 10 Sekunden dauern.
24.3 Konsequenzen aus der Prüfung der Vitalfunktionen 24.3.1 Bewusstlosigkeit bei erhaltener Atmung und Kreislauf Stabile Seitenlage. Zum Freihalten der Atemwege wird ohne Verfügbarkeit von Hilfsmitteln im Sinne einer ersten Hilfe die stabile Seitenlage angewandt. Das Wesen dieser speziellen Lagerung besteht darin, den Kopf des Patienten zu überstrecken und ihn in dieser Position zu stabilisieren (Abb. 24.1). Durch die stabile Seitenlage kann einer Verlegung der Atemwege vorgebeugt werden, bei der es in tiefer Bewusstlosigkeit durch Verlust der Schutz-
Abb. 24.1 Stabile Seitenlage (modifiziert nach [1]).
reflexe zum Zurückfallen des Zungengrundes oder Nachvornefallen des weichen Gaumens zu einem Atemstillstand kommt. Eine obligate Kontrolle des Mund- und Rachenraumes ist nicht erforderlich, sondern nur wenn konkrete Hinweise auf eine mögliche Behinderung der Atmung vorhanden sind (Erbrechen, Blutung). In diesen Fällen sollte vorher auch eine digitale Ausräumung der Mundhöhle erfolgen. Durchführung: Der Helfer kniet seitlich neben dem Patienten und legt dessen Arm, der ihm zugewandt ist, rechtwinklig zum Körper ab – den Ellenbogen kopfwärts abgewinkelt und mit der Handfläche nach außen. Den entfernt liegenden anderen Arm über den Brustkorb kreuzen und den Handrücken gegen die dem Helfer zugewandte Wange des Patienten halten. Mit der anderen Hand das entfernt liegende Bein oberhalb des Kniegelenkes fassen und nach oben ziehen, wobei der Fuß am Boden bleibt. Anschließend den Patienten in Längsachse zum Helfer herüberziehen. Das dann oben liegende Bein so positionieren, dass es im Kniegelenk rechtwinklig abgewinkelt ist und durch Auflage des Knies auf dem Boden den Patienten stabilisiert. Den Kopf im Hals nach hinten überstrecken und ihn mit der Hand unter der Wange in dieser Position fixieren; somit sind freie Atemwege garantiert. Wenn eine notfallmedizinische Grundausstattung vorhanden ist, können zum Freihalten der Atemwege Luftbrücken – wie Guedel- und Wendltuben – zum Einsatz kommen. Hiermit kann eine Verlegung der Atemwege auf Dauer bis zur weiteren Therapie verhindert werden. Guedel-Tubus (Oropharyngeal-Tubus). Der Tubus verhindert – nach Auswahl der richtigen Größe – das Zurückfallen des Zungengrundes bei tiefer Bewusstlosigkeit. Damit wird personelle Kapazität freigesetzt, die bei der Verwendung des Esmarch-Handgriffs als Alternative zum Freihalten der Atemwege gebunden würde. Der Tubus schützt nicht vor Aspiration. Durchführung des Esmarch-Handgriffs: Vier Finger jeder Hand umfassen den Unterkieferwinkel, die beiden Daumen kommen auf die Spitze des Unterkiefers zu liegen. Beide Hände drehen den Kopf nackenwärts im Sinne einer Dorsalflexion. So wird die Zunge passiv nach vorne gezogen, was noch durch das Anheben des Unterkiefers verstärkt wird und somit die Atemwege freihält. Durchführung der Einlage des Tubus: Abmessen der richtigen Größe durch Orientierung an der Entfernung zwischen Ohr und Mundwinkel. Den Mund des Patienten mit dem Esmarch-Handgriff öffnen, Guedel-Tubus mit der Wölbung zur Zunge und Öffnung gaumenwärts durch den Mund einführen, bis er am harten Gaumen anstößt. Danach Tubus um 180° drehen, sodass er mit der Spitze hinter den Zungengrund zu liegen kommt. Wendl-Tubus (Nasopharyngeal-Tubus). Nach Einführung des Wendl-Tubus durch die Nase kommt die Tubusspitze
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Präklinische Notfallmedizin
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im Hypopharynx zu liegen und hat keinen Kontakt zum Zungengrund. Der Vorteil im Gegensatz zum GuedelTubus besteht darin, dass er auch bei nicht tief bewusstlosen, reflexlosen Patienten ohne Auslösung eines Erbrechensreizes verwendet werden kann. Durchführung: Auswahl der richtigen Größe durch Abmessen des Abstandes Naseneingang zum Ohrläppchen. Den Wendl-Tubus durch den unteren Nasengang einführen und in Richtung Rachenwand vorschieben. Unterkiefer leicht anheben, bis die ringförmige Scheibe des Tubus am Naseneingang zu liegen kommt. Die richtige Lage der Tuben kann an einer hör- und fühlbaren Atemluftströmung am Tubusende erkannt werden. Ist der Tubus zu groß gewählt, kann bei einer notwendigen Beatmung eine gastrale Insufflation die Folge sein und eine ausreichende Spontanatmung ist nicht gesichert. Digitale Ausräumung des Mund-/Rachenraums. Zum Freimachen der Atemwege als Voraussetzung für eine ausreichende Spontanatmung kann ohne Verwendung von Hilfsmitteln eine digitale Ausräumung des Mundund Rachenraumes notwendig werden. Durchführung: Mit dem Esmarch-Handgriff wird der Mund geöffnet, mit einer Hand offengehalten und der Kopf vorsichtig zur Seite gedreht. Mit der anderen Hand wird nach Umwickeln von Zeige- und Mittelfinger z. B. mit einem Taschentuch oder Tupfer der Mundraum ausgetastet und evtl. vorhandene Fremdkörper mit einer wischenden Bewegung entfernt. Bei der Reinigung des Mund- und Rachenraumes hält eine Hand den Mund in der beschriebenen Weise geöffnet (auch als „Beißschutz“), während mit den Fingern der anderen Hand die Säuberung durchgeführt wird. Absaugen. Als Alternative kommt insbesondere bei Flüssigkeiten im Mundraum natürlich die Absaugung (falls Gerät vorhanden!) in Frage. Die Geräte sind entweder manuell oder maschinell betrieben. Das Absaugen ist effektiver als die digitale Reinigung. Durchführung: Es reicht normalerweise, den Katheter in der Länge, die dem Abstand zwischen Ohrläppchen und Nasenspitze entspricht, einzuführen. Grundsätzlich wird über den Mund abgesaugt; muss über die Nase abgesaugt werden, so darf der Sog erst einsetzen, wenn die Katheterspitze im Rachenraum angelangt ist, sonst wird sich die Spitze an der Nasenschleimhaut festsaugen und kann bei einer gewaltsamen Bewegung zu einer Blutung führen. Während des Absaugvorganges soll die Spitze ständig hin und her bewegt werden, da sie sonst entweder verstopft oder sich festsaugt.
24.3.2 Bewusstlosigkeit mit erhaltenem Kreislauf ohne Atmung Bei einem Atemstillstand muss eine Beatmung durchgeführt werden. Das Optimum wäre, wenn die Beatmung mit Sauerstoff erfolgen könnte. Atemspende. Die einfachste Form der Beatmung ohne Hilfsmittel ist die Atemspende, die als Mund-zu-Mundoder Mund-zu-Nase-Beatmung erfolgen kann. Hiermit wird dem Organismus ein Minimum an Sauerstoff angeboten und verhindert eine lebensgefährliche Hypoxie. Es gibt keine ausschließliche Bevorzugung einer der beiden Methoden. Trotzdem scheint die Mund-zu-Nase-Beatmung einfacher in der Anwendung zu sein, da die Nase mit dem Mund besser abzudichten ist und bei Insufflation der Spitzendruck reduziert wird. Bei einer Beatmung mit einem zu hohen Druck und/oder Volumen kommt es zu einer gastralen Insufflation mit der Gefahr der Regurgitation. Wichtig für die Effektivität der Beatmung ist eine ausreichende Überstreckung des Kopfes und ein sichtbares Heben und Senken des Thorax. Sofern vorhanden kann im Sinne des Schutzes vor einem direkten Kontakt mit dem Patienten auch ein Beatmungstuch oder eine Beatmungsmaske (pocket mask) benutzt werden. Es darf mit der Beschaffung keine Zeit verloren gehen. Durchführung der Mund-zu-Nase-Beatmung: Der Helfer kniet seitlich am Kopf des Patienten. Die eine Hand liegt flach auf der Stirn an der Haaransatzgrenze, die andere unter dem Kinn. Beide Hände drehen den Kopf vorsichtig nackenwärts. Der Mund kann zusätzlich durch den Daumen, der zwischen Unterlippe und Kinn liegt, verschlossen werden, wenn das Vorschieben des Unterkiefers nicht ausreichen sollte. Der Mund des Helfers verschließt beide Nasenöffnungen durch seine Lippen und bläst die Ausatemluft in den Patienten hinein, bis es zu einer deutlichen Exkursion des Thorax kommt. Die Insufflation erfolgt über einen Zeitraum von 1 Sekunde, um zu hohe Drücke zu vermeiden. Anschließend wird der Kontakt zum Patienten aufgegeben und der Kopf des Helfers zur Thoraxseite gedreht, um den Erfolg der Insufflation (→ Senkung des Brustkorbs nach Ausatmung bei intrabronchialer Beatmung, im Gegensatz zur intragastralen Beatmung) zu kontrollieren. Durchführung der Mund-zu-Mund-Beatmung: Hier verschließen Daumen und Zeigefinger der auf der Stirn liegenden Hand die Nase unter andauernder Überstreckung des Halses. Der Helfer bläst die Atemluft über den leicht geöffneten Mund des Patienten ein. Die Insufflation und die Kontrolle sind identisch wie bei der Mund-zu-NaseBeatmung. Beutel-Masken-Beatmung. Sofern geeignete Geräte vorhanden sind, kann auch eine Beutel-Masken-Beatmung durchgeführt werden. In diesem Falle wird dem Patienten zumindest 21 % Sauerstoff (d. h. FiO2 = Sauerstoffanteil
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Konsequenzen aus der Prüfung der Vitalfunktionen
bei Inspiration = 0,21) im Gegensatz zur Atemspende mit 17 % O2 zugeleitet. Der Anteil kann allerdings gesteigert werden, wenn direkt am Beutel Sauerstoff angeschlossen wird, sofern eine entsprechende Quelle am Notfallort verfügbar ist. Das Optimum stellt die Verwendung eines Sauerstoffreservoirs am Beutel dar, da damit der FiO2 deutlich gesteigert werden kann. Durchführung: Zunächst muss die für den Patienten richtige Maskengröße gewählt werden. Zur Beatmung kniet der Helfer am Kopfende des Patienten, wobei dessen Kopf sich zwischen den beiden Oberschenkeln des Helfers befindet. Nach Überstrecken des Kopfes halten Daumen und Zeigefinger die Maske der richtigen Größe fest auf das Gesicht des zu Beatmenden gedrückt (CGriff), während Mittel- und Ringfinger den Unterkiefer umfassen und diesen nach vorne oben ziehen und gleichzeitig den Kopf nach hinten strecken (modifizierter Esmarch-Handgriff). Dabei ist wichtig, die Maske dicht auf Mund und Nase aufzusetzen, wobei die Basis der Maske unterhalb der Unterlippe zu liegen kommt und die Spitze mit der Nasenwurzel abschließt. 10 % des Drucks bei der Maskenbeatmung erfolgen mit Daumen und Zeigefinger von oben, während 90 % auf das Anheben des Unterkiefers und des Überstrecken des Kopfes gerichtet sind. Die linke Hand übernimmt die Maske, die rechte beatmet (bei Rechtshändern) durch Zusammendrücken des jeweiligen Beutels, wobei dieser auf dem Oberschenkel des Helfers liegen kann (Erleichterung der Kompression). Die größte Schwierigkeit liegt bekanntlich im Abdichten der Maske und der Kontrolle des Insufflationsvolumens (Beobachtung der Thoraxexkursion). Sollte eine Maskenbeatmung nicht gelingen, ist die Atemspende durchzuführen, um die Sauerstoffversorgung zu sichern. Sollte Ursache des Atemstillstandes ein Kreislaufstillstand sein und der Helfer ist nicht willens oder in der Lage, eine Beatmung durchzuführen, ist in jedem Falle sofort mit der Herzdruckmassage (s. u.) zu beginnen.
24.3.3 Bewusstlosigkeit ohne Atmung und ohne Kreislauf Die Basisreanimation setzt sich aus der äußeren Herzdruckmassage (HDM) und der Beatmung zusammen (→ kardiopulmonale Reanimation). Mit der Herzdruckmassage wird eine minimale künstliche Kreislaufzirkulation erzeugt, wobei damit eine Sauerstoffversorgung auf zellulärer Ebene möglich ist, die eine Zellnekrose verhindern kann. Durchführung: Der Helfer kniet seitlich möglichst nahe am Brustkorb des Verletzten. Der Patient muss flach auf einer harten, unnachgiebigen Unterlage liegen. Am effektivsten ist die Durchführung der HDM auf dem Boden. Zur Auffindung des Druckpunktes wird der Oberkörper frei gemacht. Der Druckpunkt findet sich in der Mitte des Brustbeines. Die 1. Hand wird mit dem Handballen auf dem Brustbein aufgesetzt und die 2. Hand wird ge-
kreuzt auf den Ballen der ersten Hand gesetzt. Eine Alternative ist das Eingreifen der 2. Hand in die Fingergrundgelenke der 1. Hand, wobei die Finger nach oben gezogen werden. Es sollte der Kontakt zum Thorax nur durch den Handballen und nicht durch die gesamte Hand hergestellt werden. Die Körperhaltung des Helfers senkrecht über dem Druckpunkt garantiert, dass das Gewicht des Oberkörpers über die im Ellenbogen gestreckten Arme direkt auf den Thorax übertragen wird. Die Drucktiefe beträgt 4 – 5 cm beim Erwachsenen. Nach der Kompression muss das Sternum vollständig entlastet werden, ohne dabei den Handballen abzuheben. Die Frequenz der HDM beträgt 100/min. Das Zusammenwirken der HDM und der Beatmung ist je nach Anzahl der verfügbaren Helfer unterschiedlich. Sofern nur ein Helfer die Reanimation durchführen kann, beginnt er diese mit 30 Kompressionen und wird anschließend 2-mal beatmen (Einhelfermethode). Auch die Zweihelfermethode beginnt mit 30 Kompressionen, gefolgt von 2 Insufflationen mit einem anschließenden kontinuierlichen Wechsel von 30 : 2, gleichgültig, ob es sich um einen Erwachsenen oder ein Kind handelt. Lediglich bei professionellen Helfern sollte bei der Zweihelfermethode bei Kindern eine 15 : 2-Ratio angewendet werden.
24.3.4 Bewusstsein erhalten, Kreislauf insuffizient
24
Bei Störung des Kreislaufs liegt als Ursache meist ein Volumenverlust vor. Als Nächstes denkbar ist ausnahmsweise auch eine akute Dekompensation einer bestehenden Herzinsuffizienz. Obwohl die adäquate Therapie eines Volumenmangels im intravenösen Ersatz der Flüssigkeit besteht, bedeutet eine derartige Infusionstherapie eine erhebliche zeitliche und personelle Belastung, weshalb vordergründig lediglich die Lagerungstherapie infrage kommt. Durch eine Kopftieflage in einem Winkel von ca. 15° kann evtl. mit dem verbliebenen Volumen die zerebrale Perfusion verbessert werden. Das zusätzliche Anheben der Beine (nicht bei Vorliegen von Frakturen der unteren Extremitäten!) kann eine körpereigene Volumenauffüllung bewirken (sog. Autotransfusion). Bei einer Infusionstherapie spielt unter Notfallbedingungen die Auswahl der Infusionslösung (kristalloide [z. B. Ringer-Laktat] oder kolloide [z. B. HAES]) keine entscheidende Rolle.
24.3.5 Bewusstsein erhalten, Atmung insuffizient Bei einer isolierten Atemstörung wird sich die Hilfe im Notfall zunächst auf eine adäquate Lagerung beschränken. Der Einsatz von Hilfsmitteln reduziert sich, wenn
243
Präklinische Notfallmedizin
V
überhaupt, auf die Gabe von Sauerstoff per inhalationem. Das in der Notfallmedizin verwendete Verfahren der manuellen oder automatischen Beatmung (nach Intubation) ist ein zeit- und personalaufwendiges Verfahren, das Ausnahmefällen vorbehalten bleibt, ebenso die Applikation von Medikamenten. Sollten sowohl ausreichende Personal- wie Materialreserven verfügbar sein, ist eine der wesentlichen lebensrettenden Maßnahmen die manuelle Beutelbeatmung. Es gelingt damit nicht nur eine suffiziente Beatmung mit Umgebungsluft mit einem Sauerstoffanteil von 21 %, sondern bei Verfügbarkeit von O2 dem Patienten das in dieser Situation wesentliche Notfallmedikament zu applizieren. Bei einer Beutel-Masken-Beatmung mit einem O2Flow von 6 – 10 l/min lässt sich die FiO2 auf 0,45 steigern. Dies setzt allerdings eine gewisse Routine bei der Verwendung einer Beatmungsmaske (s. o.) voraus. Sofern es vom Kreislauf her tolerabel ist, wird beim Patient mit Atemstörung der Oberkörper hochgelagert, um die Atmung zu erleichtern. Die Beine sollen nur bei Hypertonie tiefer gelagert sein. Die Form der O2-Applikation hängt von den verfügbaren Applikationssystemen ab.
VI
24.4 Erweiterte Reanimation
I II
III IV
VII
Bei Verfügbarkeit einer technischen und medikamentösen Ausstattung sowie einer ausreichenden Personalkapazität (neben Arzt ggf. 2 Helfer) können die BasismaßÜberprüfung der Bewusstseinslage Ansprechbarkeit prüfen
ansprechbar
nicht ansprechbar
Ursache erfragen, Hilfe rufen, Zustand kontrollieren
Hilfe rufen
Atemwege frei machen Atmung überprüfen
normale Atmung
keine normale Atmung
stabile Seitenlage
Notruf 112 30-mal Herzmassage 2-mal Beatmen
Abb. 24.2 Algorithmus: Auffinden einer leblosen Person.
244
nahmen durch weitere ergänzt werden (advanced life support = ALS).
24.4.1 Kammerflimmern, pulslose ventrikuläre Tachykardie Sofern ein EKG neben ausreichenden materiellen und personellen Ressourcen zur Verfügung steht, kann von den einfachen zu den erweiterten lebensrettenden Sofortmaßnahmen übergangen werden. Mit dem NotfallEKG ist es möglich, verschiedene elektrische Formen eines Kreislaufstillstandes zu differenzieren, die dann zu unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen führen: ● Kammerflimmern und -flattern ● pulslose ventrikuläre Tachykardie ● Asystolie ● pulslose elektrische Aktivität (PEA) Zu warnen ist allerdings vor einer ausschließlichen EKGBewertung, da das EKG-Bild leicht verzerrt werden kann (Bewegungsartefakte, Interferenzen, Diskonnektionen) und man es deshalb immer mit der klinischen Symptomatik korrelieren muss (Puls). Für die Praxis wird daher ein Algorithmus für zwei Situationen unterschieden: ● Kammerflimmern/Kammertachykardie und ● Nicht-Kammerflimmern. Defibrillation. Nach der Diagnose eines Kammerflimmerns oder einer pulslosen ventrikulären Tachykardie mit einem Notfall-EKG ist die Therapie der Wahl die Defibrillation. Voraussetzung für eine erfolgreiche Defibrillation ist eine ausreichende Versorgung des Myokards mit Sauerstoff, weshalb bei einem nicht beobachteten Stillstand zunächst mit der Basisreanimation begonnen werden soll. Die Defibrillation muss so früh wie möglich einsetzen. Die Erfolge einer Defibrillation können erst 2 min nach der Defibrillation beurteilt werden, denn nach Applikation eines Defibrillationsschocks muss unmittelbar mit der Basisreanimation für 2 min begonnen werden. Erst danach folgt eine Rhythmuskontrolle und im Falle einer erfolgreichen Kardioversion eine Pulskontrolle. Bei persistierendem Kammerflimmern wird mit der gleichen Energie wieder defibrilliert. Neben der richtigen Platzierung der Elektroden ist zur Minderung des Hautwiderstandes die Verwendung eines Elektrodengels erforderlich. Während der Defibrillation darf kein Kontakt zum Patienten oder seiner Auflage zum Schutz des Personals bestehen. Dementsprechend muss vor Abgabe des Schocks darauf geachtet werden, dass alle Maßnahmen (auch Basismaßnahmen) am Patienten unterbrochen werden. Nach erfolgreicher Defibrillation und einem entsprechenden EKG-Bild wird die Funktion des Herzens durch die Betastung des Pulses
Erweiterte Reanimation
kontrolliert. Sofern kein Puls tastbar, muss die Reanimation fortgeführt werden. Durchführung: Die beiden Elektroden (Paddels) werden so platziert, dass eine größtmögliche Myokardmasse vom Strom durchflossen wird: ein Paddel rechts parasternal unterhalb der Klavikula, das andere links im 5. Interkostalraum in der mittleren Axillarlinie (Herzspitze). Vorher werden die Paddels mit Elektrodengel bestrichen, um den Übergangswiderstand zu reduzieren. Wichtig ist, dass die gesamte Paddelfläche der Thoraxwand aufliegt und sie bei Abgabe der Strommenge fest aufgepresst werden. Der Beginn der Defibrillation erfolgt monophasisch mit einer Energiemenge von 360 Joule. Bei der Verwendung eines Defibrillators mit biphasischer Stromabgabe, die heute zu bevorzugen ist, sollte die geräteseitig vorgegebene Energie verwendet werden. Falls hierzu keine Informationen vorliegen, können pragmatisch 200 J gewählt werden. Unmittelbar nach der Defibrillation beginnt man sofort wieder mit der Basisreanimation und führt diese über 2 min (= 5 Zyklen à 30 : 2) fort. Erst danach kontrolliert man den Rhythmus. Nicht nur Laien, sondern auch medizinisches Personal können im Rahmen der Basisreanimation einen automatisierten externen Defibrillator (AED, Abb. 24.3 und Abb. 24.4) einsetzen. Dieser ist in der Lage, mit fast 100 % Sicherheit einen defibrillierbaren von einem nicht defibrillierbaren Herzrhythmus zu unterscheiden. Die Detektion erfolgt automatisch, und der Helfer wird durch eine Sprachanweisung durch den jeweiligen Algorithmus geführt. Bis ein AED zur Verfügung steht, wird ohne Unterbrechung die Basisreanimation durchgeführt. AED können auch bei Kindern, die älter als 1 Jahr sind, angewendet werden. Präkordialer Faustschlag. Bei beobachtetem oder unter Monitorkontrolle aufgetretenem Kreislaufstillstand kann initial der präkordiale Faustschlag angewendet werden. Durchführung: Aus ca. 30 cm Höhe wird mit der Handkante ein kräftiger Schlag auf das Brustbein ausgeübt, anschließend sofort Puls fühlen.
Automated External Defibrillator (AED) – Halbautomat • analysiert automatisch Patienten- EKG • Computeralgorithmus detektiert einen schockwürdigen bzw. nicht schockwürdigen Rhythmus • nur Kammerflimmern wird defibrilliert
Abb. 24.3 Automatisierter externer Defibrillator (AED), hier beispielhaft das Modell LIFEPAK 500 der Fa. Physio-Control.
Diagnose Kreislaufstillstand (Bewusstlosigkeit, fehlende normale Atmung)
Kreislaufstillstand beobachtet und AED verfügbar
Notruf (Ruf nach AED, Alarmierung des Rettungsdienstes) Beginn der Reanimation (CPR bis AED verfügbar)
Rhythmusanalyse Schock empfohlen Defibrillation (1x)
kein Schock empfohlen
CPR (30:2) für 2 Minuten (5 Zyklen)
CPR (30:2) für 2 Minuten (5 Zyklen)
Fortfahren bis Übernahme durch Rettungsdienst oder Patient atmet wieder normal (keine Schnappatmung).
Abb. 24.4 Reanimation unter Einsatz eines AED.
24.4.2 Nichtkammerflimmern Bei den anderen Formen des Kreislaufstillstandes (Asystolie, PEA) beschränken sich die erweiterten Maßnahmen neben den Basismaßnahmen auf die wiederholte Gabe von Adrenalin. Schwierigkeiten bereitet unter den Bedingungen des Kreislaufstillstandes die Art der Medikamentenapplikation. Der Weg der 1. Wahl ist die i. v. Gabe. Meist ist bei Patienten mit Stillstand eine Stauung vor dem rechten Herzen vorhanden, die eine Punktion an den oberen Extremitäten erleichtert. Die Gabe erfolgt als Bolus, bei Bedarf auch repetierend. Als Alternative kommt eine intraossäre Applikation in gleicher Dosierung wie bei der i. v. Gabe infrage. Voraussetzung ist allerdings die Verfügbarkeit einer speziellen intraossären Nadel für Erwachsene. Bei gleichzeitiger Intubation ist eine endobronchiale Applikation als Alternative möglich. Intravenöse Adrenalinapplikation. Unstrittig ist der intravenöse Applikationsweg das Verfahren der ersten Wahl. Da die periphere Zirkulation bei Kreislaufstillstand aufgehoben ist, muss durch eine Infusion die Einspülung des Medikamentes gesichert werden. Durchführung: 1 mg Adrenalin wird mit 10 ml destilliertem Wasser expandiert und in eine 10-ml-Spritze aufgezogen. Nach Injektion als Bolus wird durch eine Infusion (ggf. unter Druck) der Wirkstoff eingeschwemmt. Wiederholung alle 2 – 3 min bei entsprechendem Algorithmus. Endobronchiale Adrenalinapplikation. Bei einer sofortigen Intubation (ohne Zeitverlust) ist die endobronchiale Applikation eine weitere praktikable Möglichkeit. Die Wirkung setzt nach Resorption ebenso schnell ein wie bei der intravenösen Gabe.
245
24
Präklinische Notfallmedizin
I II
III IV V VI VII
Durchführung: Die dreifache Menge (3 mg) Adrenalin werden auf 10 ml Aqua dest. expandiert (= verdünnt) und in einer 20-ml-Spritze mit 10 ml Luft aufgezogen. Das Gemisch wird über einen als Applikationshilfe abgeschnittenen Absaugkatheter (z. B. Charr 9) tief endobronchial verabreicht. Nach der Instillation wird 2-mal beatmet, um eine ausreichende Verteilung und Resorption zu erreichen. Intubation Voraussetzung hierfür ist die endobronchiale Intubation, was nicht nur einer gewissen Routine, sondern auch unbedingt notwendigen Instrumentariums bedarf. Allerdings ist eine Intubation unter den Bedingungen des Kreislaufstillstandes wesentlich einfacher als bei sonstigen Notfallsituationen, da „optimalere“ Bedingungen durch vollkommene Erschlaffung der Muskulatur und der Stimmbänder („Kadaverstellung“) vorliegen. Nach erfolgreicher Platzierung des Tubus ist nicht nur die endobronchiale Medikation möglich, sondern auch eine sichere Oxygenierung ohne die Gefahr einer Regurgitation und Aspiration durch eine gastrale Insufflation. Durchführung: Wichtig für die Intubation ist die richtige Lagerung des Kopfes. Der Patient liegt flach auf dem Rücken. Nachdem die Verbindung zwischen Mund und Larynxeingang keine gerade Linie darstellt, muss der Nacken leicht gebeugt und der Kopf im Atlantookzipitalgelenk überstreckt werden (Reklination). Anschließend wird der Oberkiefer mit einem Finger der rechten Hand herangezogen und mit den anderen Fingern und dem Daumen die beiden Zahnreihen gespreizt. Das Laryngoskop wird mit der linken Hand gehalten. Der Spatel des Laryngoskops wird seitlich über den rechten Mundwinkel zwischen die beiden Zahnleisten eingeführt. Dabei ist unbedingt die Traumatisierung des Ober- und Unterkiefers zu vermeiden. Der Spatel wird auf die Zunge aufgelegt und in der Tangentialebene vorgeschoben. Die Zungenmasse wird durch leichten Zug nach oben, jedoch ohne Hebelbewegungen abgedrückt. Die Spatelspitze kommt dann zwischen Zungengrund und Epiglottis zu liegen. Nach Erscheinen des Kehldeckels im Gesichtsfeld wird der Spatel ohne Kippbewegungen leicht angehoben sowie vorsichtig weiter vorgeschoben. Die Kehldeckelspitze verschwindet am oberen Gesichtsfeldrand. Durch Anheben des gesamten Spatels (kein Kippen!) wird die Stimmbandebene gut sichtbar. Der Tubus wird sodann unter Sicht zwischen den beiden Stimmbändern vorgeschoben. Nach auskultatorischer Kontrolle der seitengleichen Lungenbelüftung und Einlegen eines Guedel-Tubus als Beißschutz wird der Endobronchialtubus (z. B. mit einer Binde) befestigt.
246
24.5 Beendigung der Reanimation Grundsätzlich muss im Notfalldienst zwischen einem Abbruch einer begonnenen Reanimation und dem Unterlassen eines Reanimationsversuches unterschieden werden. Voraussetzungen für eine möglicherweise erfolgreiche Reanimation sind ● ein möglichst beobachteter Stillstand mit unmittelbarem Beginn der Basisreanimation, ● das primäre Vorliegen eines Kammerflimmerns oder einer pulslosen ventrikulären Tachykardie, ● ein frühzeitiger Beginn der erweiterten Maßnahmen, v. a. eine frühzeitige Defibrillation. Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind, ist ein Reanimationserfolg wesentlich unwahrscheinlicher, aber er wird nicht aussichtslos sein. Das Fehlen dieser Kriterien berechtigt deshalb nicht, auf einen Reanimationsversuch zu verzichten. Im Rahmen des Notfalldienstes kann die zugrunde liegende Ursache unbekannt sein oder nur vermutet werden, weshalb „in dubio pro vita“ mit der Reanimation begonnen wird. Wenn im Rahmen der Reanimation Erkenntnisse gewonnen werden, dass die zugrunde liegende Ursache die Situation aussichtslos macht, kann die Reanimation abgebrochen werden. Auf eine Reanimation kann auch verzichtet werden, wenn z. B. Verletzungen vorliegen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind. Auch Situationen, bei denen der Stillstand bei bekannten Patienten mit bekannter inkurabler Krankheit eintritt, kann nach eigener Beurteilung von einem Reanimationsversuch abgesehen werden. Hierzu gehört auch das terminale Multiorganversagen mit nichtbehebbarer Ursache. Das Alter kann dabei eine Rolle spielen, ist aber nur ein relativ weicher Prädiktor für das Outcome. Obwohl das fortgeschrittene Alter häufig mit einer Prävalenz von Komorbilität verbunden ist, kann eine einzige Extrasystole zum Kammerflimmern führen, das bei frühzeitiger Defibrillation erfolgreich kardiovertiert werden kann. Als verlässliches Kriterium für den Abbruch einer korrekt durchgeführten aber erfolglosen Reanimation gilt das endgültige Scheitern der Wiederbelebung des Herzens. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn nach 30 min bei korrekter Technik und unter Nutzung aller Möglichkeiten kein Erfolg der Basismaßnahmen erkennbar ist bzw. die Reanimierbarkeit des kardiovaskulären Systems als unwahrscheinlich angesehen werden muss. Dies kann unterstellt werden, wenn keine elektrische Spontanaktivität (Nulllinien-EKG) über einen längeren Zeitraum initiiert werden kann [2]. Umgekehrt sollte jeder Patient mit Kammerflimmern oder pulsloser ventrikulärer Tachykardie so lange reanimiert werden, bis im EKG über einen längeren Zeitraum eine sichere Nulllinie erkennbar ist. In die Entscheidung für oder gegen eine Reanimation fließt eine Reihe von weiteren Faktoren ein. Das sind – soweit erhebbar – die Anamnese und die
Notfallmedizin – evidenzbasierte Sichtweise
zu erwartende Prognose, die Dauer zwischen Stillstand und Beginn der CPR, das Intervall bis zur Defibrillation und die Phase der erweiterten Maßnahmen mit anhaltender Asystolie und nichtbehebbarer Ursachen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Situationen, bei denen länger reanimiert werden sollte. Hierzu gehören in erster Linie Patienten mit Verdacht auf ein throm-
boembolisches Geschehen (z. B. Lungenembolie), bei denen auch zu einem späteren Zeitpunkt eine Thrombolyse noch erfolgreich sein kann. Nach einer Thrombolysetherapie sollte die Reanimation für 60 – 90 min fortgeführt werden. Bei Situationen wie Zustand nach Ertrinken, hypotherme Patienten oder Kinder ist eine längere Reanimation zwingend, ebenso bei Intoxikationen.
Leitlinien LL1. Reanimation – Empfehlungen für die Wiederbelebung, Hrsg. Bundesärztekammer, 4. Auflage, Dtsch. Ärzteverlag, Köln 2007
LL2. International Liaison Committee on Resuscitation. International Consensus on Cardiopulmonary Resuscitation and Emergency Cardiovascular Care Science with Treatment Recommendations. Resuscitation. 2005; 67: 167 – 170
24.6 Notfallmedizin – evidenzbasierte Sichtweise
der Durchführung beim nicht beobachteten Stillstand gestiegen. Es hat sich erwiesen, dass bei Kammerflimmern, das mehr als 5 min zurück liegt, eine vorgeschaltete CPR die Quote des Erfolges steigert [5]. Die Strategie eines einzelnen Defibrillationsschocks soll die No-flow-Zeit minimieren. Bei der medikamentösen Reanimation findet sich als Universalmedikament bei allen Formen des Stillstands Adrenalin, das wiederholt entsprechend den verbindlichen Algorithmen gegeben wird. Die neuen Algorithmen beruhen nunmehr auf einer wissenschaftlichen Evidenz [LL 2]. Durch die konsequente Umsetzung der neuen Reanimationsrichtlinien kann letztlich ein höherer Anteil von überlebenden Notfallpatienten erwartet werden.
Die präklinische Notfallmedizin konzentriert sich – wie in den zuvor beschriebenen Abschnitten aufgezeigt – auf die Versorgung der vitalen Funktionen. Die Diagnostik kann ohne Hilfsmittel durchgeführt werden, woraus im Einzelfall die Konsequenz des Beginns einer Reanimation gezogen werden muss. Aus der elementaren Kontrolle resultieren verschiedene Zustandsbilder, die jeweils differente Therapiemaßnahmen auf der Basis von Algorithmen zur Folge haben. Die Basismaßnahmen der Reanimation setzen sich somit zusammen aus ● dem frühzeitigen Erkennen eines Notfalls, ● der frühzeitigen kardiopulmonalen Reanimation (CPR), ● der frühzeitigen Defibrillation und ● dem frühzeitigen Einleiten der erweiterten Maßnahmen der Reanimation [3]. Die Basisreanimation (Basic Life Support = BLS) ist der wichtigste Teil der CPR. Bei den Basismaßnahmen, aber auch bei den erweiterten Maßnahmen (ACLS) hat sich aufgrund internationaler Vorgaben auch in Deutschland eine Reihe von Veränderungen ergeben, die inzwischen allgemein konsentiert sind [LL 1]. Zu nennen ist dabei die allgemeine Simplifizierung, speziell bei der Herzdruckmassage (HDM), wie auch beim Verhältnis von HDM zur Beatmung mit 30 : 2, was die Anzahl der Unterbrechungen der HDM und die Wahrscheinlichkeit einer Hyperventilation herabsetzt [4]. Bei den erweiterten Maßnahmen ist v. a. der Stellenwert der Defibrillation mit dem veränderten Zeitpunkt
Literatur 1. Adams H-A, Flemming A, Friedrich L, Ruschulte H. Taschenatlas Notfallmedizin. 1. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2006. 2. Ethik der Reanimation und Entscheidungen am Lebensende. In: Bundesärztekammer, Hrsg. Reanimation – Empfehlungen für die Wiederbelebung. 4. Aufl. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007: 124 – 32. 3. Dirks B, Sefrin P. Reanimation 2006. Dtsch. Ärztebl. 2006; 103: A 2263 – 2267. 4. Aufderheide TP, Sigurdsson G, Pirrallo RG et al. Hyperventilation – induced hypotension during cardiopulmonary resuscitation. Circulation. 2004; 109: 1960 – 1965. 5. Wilk L, Hansen TB, Fylling T et al. Delaying defibrillation to give basic cardiopulmonary resuscitation to patients with out-of-hospital ventricular fibrillation: a randomized trial. JAMA. 2003; 289: 1389 – 1395.
247
24
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
25 Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin H. Drexler
I II
III IV V VI VII
Das Wichtigste in Kürze Arbeitsmedizinische Vorsorge soll arbeitsbedingte Erkrankungen und Berufskrankheiten verhüten durch ● Früherkennung vor klinischer Manifestation, ● Identifizierung gefährdender Expositionen und Arbeitsprozesse, ● Frühintervention im Betrieb, ● Beratung von Arbeitnehmern sowie ● Frühtherapie vor Eintreten einer manifesten Erkrankung.
als in der therapeutischen Medizin, wo oftmals die Heilung oder Symptombesserung als Maß aller Dinge herangezogen werden kann.
Ziel des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin ist es, arbeitsbedingte Erkrankungen und Berufskrankheiten zu verhüten und die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern. Die arbeitsmedizinische Vorsorge ist im Wesentlichen der Sekundärprävention (Früherkennung, Frühintervention) zuzuordnen, muss jedoch stets auch einen Einfluss auf die primäre Prävention haben, insbesondere dann, wenn gefährdende Arbeitsprozesse oder Expositionen durch die Untersuchung aufgedeckt werden. Daran wird deutlich, dass die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen nur ein Teil der arbeitsmedizinischen Vorsorge sind. Ein speziell arbeitsmedizinisches Instrument ist das biologische Monitoring, das einerseits die individuelle Belastung (und damit das gesundheitliche Risiko) und anderseits die Exposition erfasst. Vielleicht das wichtigste Instrument der arbeitsmedizinischen Vorsorge ist die systematische Auswertung von Untersuchungsergebnissen (innerbetriebliche Epidemiologie), weil oftmals erst dadurch Gefährdungen identifiziert werden können. Trotz des hohen Niveaus des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin sind Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen nicht selten, und der Verdacht auf einen Kausalzusammenhang zwischen einer diagnostizierten Krankheit und beruflichen Einflüssen wird von Patienten und Ärzten sehr häufig geäußert. Hauptaufgabe der Arbeits- und Betriebsmedizin ist die Sekundärprävention, also die Früherkennung und Frühtherapie einer sich entwickelnden arbeitsbedingten Erkrankung. Im Rahmen einer umfassenden arbeitsmedizinischen Vorsorge müssen Erkenntnisse, die bei Untersuchungen gewonnen werden, stets auch unmittelbaren Einfluss auf die primäre (= Verhältnis-) Prävention haben [LL 27]. Im Falle einer eingetretenen Erkrankung muss sich der Arbeitsmediziner in enger Zusammenarbeit mit den klinisch tätigen Kollegen auch an der Tertiärprävention (Rehabilitation, Wiedereingliederung) aktiv beteiligen. Der Nutzen präventiver Maßnahmen ist meist schwer zu belegen. Daher erscheinen eine adäquate Qualitätskontrolle und ein Wirksamkeitsnachweis noch wichtiger zu sein,
Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) ist die Arbeitsmedizin die medizinische, vorwiegend präventiv orientierte Fachdisziplin, die sich mit der Untersuchung, Bewertung, Begutachtung und Beeinflussung der Wechselbeziehungen zwischen Anforderungen, Bedingungen, Organisation der Arbeit einerseits sowie dem Menschen, seiner Gesundheit, seiner Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit und seinen Krankheiten andererseits befasst. Da die Arbeitsmedizin keinen primär therapeutischen Auftrag hat, die Frühtherapie arbeitsbedingter und arbeitsassoziierter Erkrankungen ausgenommen, steht die Prävention an erster Stelle im Selbstverständnis arbeitsmedizinisch tätiger Ärzte. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Wegeunfällen, Berufskrankheiten und den arbeitsbedingten Erkrankungen im weiteren Sinne.
248
25.1 Definition der Arbeitsmedizin und Epidemiologie arbeitsbedingter Erkrankungen
Arbeitsunfälle. Arbeitsunfälle sind Unfälle, die sich während der Arbeitszeit (innerhalb einer Schicht) ereignen und in einem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. Zu den Arbeitsunfällen zählen weiterhin die Unfälle auf dem Weg zur Arbeit und nach Hause (sog. Wegeunfälle). Die Anzahl der gemeldeten Arbeitsunfälle sinkt seit mehreren Jahren, dank intensiver Bemühungen des technischen Arbeitsschutzes. Zwischen 1992 und 2003 verringerten sich die Arbeitsunfälle um ca. 45 %. Zwischen den Wirtschaftszweigen finden sich große Unterschiede. Die höchste Unfallgefahr besteht in Bauberufen und in der Landwirtschaft, die geringste im Gesundheitsdienst. Berufskrankheiten. Nach Sozialgesetzbuch VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates in die sog. Liste der Berufskrankheiten (Tab. 25.1, Berufskrankheitenverordnung) aufgenommen hat. In diese Liste können nur Erkrankungen aufgenommen werden, die nachgewiesenermaßen – d. h. wissenschaftlich belegt – bei bestimmten Personengruppen häufiger oder zeit-
Definition der Arbeitsmedizin und Epidemiologie arbeitsbedingter Erkrankungen
Tabelle 25.1 Liste der Berufskrankheiten [1]. Nr.
Berufskrankheit
1
Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten
11
Metalle oder Metalloide
1101
Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen
1102
Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen
1103
Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen
1104
Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen
1105
Erkrankungen durch Mangan oder seine Verbindungen
1106
Erkrankungen durch Thallium oder seine Verbindungen
1107
Erkrankungen durch Vanadium oder seine Verbindungen
1108
Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
1109
Erkrankungen durch Phosphor oder seine anorganischen Verbindungen
1110
Erkrankungen durch Beryllium oder seine Verbindungen
12
Erstickungsgase
1201
Erkrankungen durch Kohlenmonoxid
1202
Erkrankungen durch Schwefelwasserstoff
13
Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe
1301
Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine
1302
Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
1303
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
1304
Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge
1305
Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff
1306
Erkrankungen durch Methylalkohol (Methanol)
1307
Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen
1308
Erkrankungen durch Fluor oder seine Verbindungen
1309
Erkrankungen durch Salpetersäureester
1310
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide
1311
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylarylsulfide
1312
Erkrankungen der Zähne durch Säuren
1313
Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon
1314
Erkrankungen durch para-tertiär-Butylphenol
1315
Erkrankungen durch Isocyanate, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
1316
Erkrankungen der Leber durch Dimethylformamid
1317
Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische
2
Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
21
Mechanische Einwirkungen
2101
Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2102
Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten
2103
Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen
25
▶▶
249
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Tabelle 25.1 Fortsetzung
I
Nr.
Berufskrankheit
2104
Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2105
Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel durch ständigen Druck
2106
Druckschädigung der Nerven
2107
Abrissbrüche der Wirbelfortsätze
2108
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2109
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2110
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2111
Erhöhte Zahnabrasionen durch mehrjährige quarzstaubbelastende Tätigkeit
22
Druckluft
2201
Erkrankungen durch Arbeit in Druckluft
23
Lärm
2301
Lärmschwerhörigkeit
24
Strahlen
2401
Grauer Star durch Wärmestrahlung
2402
Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
3
Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten
3101
Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war
3102
Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten
3103
Wurmkrankheit der Bergleute, verursacht durch Ankylostoma duodenale oder Strongyloides stercoralis
3104
Tropenkrankheiten, Fleckfieber
4
Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und Bauchfells
41
Erkrankungen durch anorganische Stäube
4101
Quarzstaublungenerkrankung (Silikose)
4102
Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Silikotuberkulose)
4103
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura
II
III IV V VI VII
4104
Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose), in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbest-Faserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren (25 × 106 [(Fasern/m3) × Jahre])
● ● ●
4105
Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards
4106
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Aluminium oder seine Verbindungen
4107
Erkrankungen an Lungenfibrose durch Metallstäube bei der Herstellung oder Verarbeitung von Hartmetallen
4108
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Thomasmehl (Thomasphosphat)
4109
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen
4110
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase
▶▶
250
Definition der Arbeitsmedizin und Epidemiologie arbeitsbedingter Erkrankungen
Tabelle 25.1 Fortsetzung Nr.
Berufskrankheit
4111
Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren ([mg/m3] × Jahre)
4112
Lungenkrebs durch die Einwirkung von kristallinem Siliziumdioxid (SiO2) bei nachgewiesener Quarzstaublungenerkrankung (Silikose oder Siliko-Tuberkulose)
42
Erkrankungen durch organische Stäube
4201
Exogen-allergische Alveolitis
4202
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Rohbaumwoll-, Rohflachs- oder Rohhanfstaub (Byssinose)
4203
Adenokarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- oder Buchenholz
43
Obstruktive Atemwegserkrankungen
4301
Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
4302
Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
5
Hautkrankheiten
5101
Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
5102
Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe
6
Krankheiten sonstiger Ursache
6101
Augenzittern der Bergleute
lich vorverlagert auftreten. Eine kontinuierlich aktualisierte Liste der Berufskrankheiten kann beispielsweise von der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (www.dgaum.de) abgerufen werden. Bei begründetem Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit ist jeder Arzt gesetzlich zur Meldung (Berufskrankheitenverdachtsanzeige) an den zuständigen Unfallversicherungsträger bzw. den staatlichen Gewerbearzt verpflichtet. Eine Zustimmung des Patienten ist hierfür nicht erforderlich, allerdings soll er über Art und Umfang der Verdachtsanzeige unterrichtet werden. Diese Verdachtsanzeigen werden statistisch erfasst und ausgewertet. 1992 wurden ca. 86 000 Berufskrankheitenverdachtsanzeigen bei den Unfallversicherungsträgern gestellt. 2005 waren es nur noch rund 65 000. Im Jahr 2005 wurde in fast 40 % eine berufliche Verursachung einer gemeldeten Erkrankung bestätigt, aber nur in knapp 25 % der Fälle wurde auch eine Berufskrankheit (BK) anerkannt, weil oftmals bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen, wie beispielsweise die Aufgabe der verursachenden Tätigkeit, nicht gegeben waren (Abb. 25.1). Am häufigsten werden Hauterkrankungen und die Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit angezeigt und anerkannt (Abb. 25.2). Besonders schwerwiegend sind
25
in Tausend 60
2003 2004 2005
50 40 30 20 10 0 entschiedene BK Verdacht Fälle bestätigt
anerkannte BK
Todesfälle
Abb. 25.1 Entschiedene Berufskrankheiten (BK) – Verfahren 2003 – 2005. Die Zahl der anerkannten Berufskrankheiten ist kleiner als die in der Verursachung anerkannten Fälle, da nicht immer die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Tätigkeitsaufgabe) erfüllt sind.
nach wie vor die malignen Erkrankungen, verursacht durch Asbest. Obwohl in Deutschland Asbest bereits seit 1993 verboten ist, wird der Häufigkeitsgipfel der asbestinduzierten malignen Erkrankungen (Pleuramesotheliom, Bronchialkarzinom, Larynxkarzinom) wegen der Latenzzeit nach Einwirkung kanzerogener Arbeitsstoffe erst Mitte des nächsten Jahrzehnts erwartet. Im Jahr 2005
251
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
BK 2301 Lärmschwerhörigkeit BK 2108 Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
BK 3101 Infektionskrankheiten BK 4101 Silikose BK 4103 Asbestose (inkl. asbestbedingte Pleuraplaques) BK 4104 Lungen-/Larynxkarzinom durch Asbest BK 4105 Mesotheliom durch Asbest
Abb. 25.2 Die 10 im Jahr 2005 am häufigsten bestätigten Berufskrankheiten (BK).
BK 4111 Chronische Bronchitis
I II
III IV V VI VII
BK 5101 Hautkrankheiten
BK 4301 Allergisches Asthma
starben 2484 Menschen an den Folgen einer Berufskrankheit, etwas mehr als durch Arbeits- und Wegeunfälle zusammen. Ein Großteil dieser Todesfälle ist auf eine berufliche Asbestbelastung zurückzuführen. Arbeitsbedingte Erkrankungen. Abzugrenzen von der Berufskrankheit sind die arbeitsbedingten oder arbeitsmitbedingten multikausalen Erkrankungen. Nach einer Selbsteinschätzung leiden fast 28 % der Beschäftigten in der Europäischen Union an Krankheiten, die sie selbst auf ihre Arbeitsbedingungen zurückführen. Aus der 16. schwedischen Umfrage zu arbeitsbedingten Gesundheitsproblemen, die im November 2006 veröffentlicht wurde, geht hervor, dass Arbeit einem Viertel aller schwedischen Arbeitskräfte gesundheitliche Probleme bereitet. Frauen sind nach ihrer Selbsteinschätzung häufiger betroffen (27 %) als Männer (21 %). Frauen nannten v. a. Stress als Hauptursache für einen schlechten Gesundheitszustand. Bei Männern rangiert dieses Problem auf Platz 2. Belastender empfinden sie eine anstrengende Körperhaltung während der Arbeit. Bei beiden Geschlechtern nimmt die schwere körperliche Arbeit den 3. Platz der Ursachen arbeitsbedingter Gesundheitsschäden ein [2].
25.2 Instrumente des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin 25.2.1 Gesetzlicher Arbeitsschutz in Deutschland Das Arbeitsschutzsystem in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich einerseits in ein staatliches Arbeitsschutzrecht und andererseits in ein autonomes Arbeitsschutzrecht der gesetzlichen Unfallversicherungsträger unterteilen (sog. duales System). Die Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union müssen dabei beachtet und umgesetzt werden. Bund und Länder erlassen Gesetze (z. B. Arbeitssicherheitsgesetz, Arbeitschutzgesetz), Verordnungen (z. B. Biostoffverordnung, Gefahrstoffverordnung) und genehmigen Unfallverhütungsvorschriften. Die Unfallversicherungsträger (gewerbliche und landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, Gemeindeunfallversicherungsverbände) erlassen ebenfalls Unfallverhütungsvorschriften. Zuständig für die Überwachung sind die Gewerbeauf-
252
sichtsämter mit den Gewerbeärzten und die technischen Aufsichtsdienste der Unfallversicherungsträger.
25.2.2 Primärprävention (technischer Arbeitsschutz) Primärprävention soll Krankheitsursachen eliminieren oder zumindest reduzieren. An Arbeitsplätzen sollen gefährliche Stoffe, so weit dies möglich ist, substituiert werden. Auch durch organisatorische Maßnahmen können die Exposition verhütet bzw. die Expositionszeit gemindert werden. Der arbeitsmedizinische Grenzwert (= MAK-Wert = maximale Arbeitsplatzkonzentration; Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe) soll Arbeitnehmer vor einer gefährdenden Exposition schützen, wenn diese nicht vollständig verhindert werden kann. Erst wenn man durch technische und organisatorische Maßnahmen eine Gefährdung nicht völlig abstellen kann, darf persönlicher Körperschutz zum Einsatz kommen (Atemschutz, Schutzhandschuhe, Ganzkörperschutzkleidung).
25.2.3 Sekundärprävention (medizinischer Arbeitsschutz) Die Sekundärprävention beinhaltet die Früherkennung und die Frühtherapie von Erkrankungen. Die Impfprophylaxe wäre in diesem Zusammenhang als Instrument der Sekundärprävention zu bezeichnen, weil sie nicht das Expositionsrisiko mindert, sondern die Abwehrlage (Disposition) des Beschäftigten verbessert. Die arbeitsmedizinische Sekundärprävention ist eine vorwiegend ärztliche Aufgabe und in verschiedenen Gesetzen, Verordnungen und anderweitigen Regelwerken verankert. Das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit muss stets beachtet werden. Niemand darf gegen seinen Willen untersucht werden. Bei rechtsverbindlichen Vorsorgeuntersuchungen, wie bspw. in der Gefahrstoffverordnung geregelt (Tab. 25.2) kann dies allerdings bedeuten, dass der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht weiterbeschäftigen darf, wenn dieser die Untersuchung ablehnt und ihm ein anderer Arbeitsplatz nicht angeboten werden kann. Für die Vorsorgeuntersuchungen, die lediglich angeboten werden
Instrumente des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin
Tabelle 25.2 Tätigkeiten, bei denen nach der Gefahrstoffverordnung Vorsorgeuntersuchungen zu veranlassen sind.
Tabelle 25.3 Tätigkeiten, bei denen nach der Gefahrstoffverordnung Vorsorgeuntersuchungen anzubieten sind.
1. Feuchtarbeit von regelmäßig 4 Stunden oder mehr pro Tag 2. Schweißen und Trennen von Metallen bei Überschreitung einer Luftkonzentration von 3 mg/m3 Schweißrauch 3. Tätigkeiten mit Exposition gegenüber Getreide- und Futtermittelstäuben bei Überschreitung einer Luftkonzentration von 4 mg/m3 einatembarem Staub 4. Tätigkeiten mit Exposition gegenüber Isocyanaten, bei denen ein regelmäßiger Hautkontakt nicht vermieden werden kann oder eine Luftkonzentration von 0,05 mg/ m3 überschritten wird 5. Tätigkeiten mit einer Exposition mit Gesundheitsgefährdung durch Labortierstaub in Tierhaltungsräumen und -anlagen 6. Tätigkeiten mit Benutzung von Naturgummilatexhandschuhen mit mehr als 30 mg Protein/g im Handschuhmaterial 7. Tätigkeiten mit dermaler Gefährdung oder inhalativer Exposition mit Gesundheitsgefährdung verursacht durch unausgehärtete Epoxidharze
1. Schädlingsbekämpfung nach Anhang III Nr. 4 2. Begasungen nach Anhang III Nr. 5 3. Tätigkeiten mit folgenden Stoffen oder deren Gemischen: n-Hexan, n-Heptan, 2-Butanon, 2-Hexanon, Methanol, Ethanol, 2-Methoxyethanol, Benzol, Toluol, Xylol, Styrol, Dichlormethan, 1,1,1-Trichlorethan, Trichlorethen, Tetrachlorethen 4. Tätigkeiten mit krebserzeugenden oder erbgutverändernden Stoffen oder Zubereitungen der Kategorie 1 oder 2 5. Feuchtarbeit von regelmäßig mehr als 2 h/Tag 6. Schweißen und Trennen von Metallen bei Einhaltung einer Luftkonzentration von 3 mg/m3 Schweißrauch 7. Tätigkeiten mit Exposition gegenüber Getreide- und Futtermittelstäuben bei Überschreitung einer Luftkonzentration von 1 mg/m3 einatembarem Staub
müssen, stellt sich dieses Problem nicht, da hier der Arbeitnehmer alleine die Entscheidung trifft, ob er dieses Angebot annehmen will oder nicht (Tab. 25.3).
Instrumente der arbeitsmedizinischen Sekundärprävention Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung. Die wissenschaftliche Fachgesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin
und Umweltmedizin DGAUM) hat bis September 2008 insgesamt 28 Leitlinien zur arbeitsmedizinischen Vorsorge erstellt und publiziert. Daneben gibt es die Vorsorgeuntersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen (Tab. 25.4), die als Expertenmeinung den Charakter von Richtlinien haben. Alleine nach den berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen werden in der Bundesrepublik Deutschland jährlich mehr als 5 Mio. Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt. Die meisten der dabei eingesetzten Untersuchungsinstrumente unterscheiden sich nicht von denen der anderen klinischen Fachdisziplinen (Audiometrie, Spirometrie, Ergometrie, Sehtest etc.). Ein fachspezifisch arbeitsmedizinisches Untersuchungsinstrument ist das biologische Monitoring.
25
Leitlinien Leitlinien der DGAUM e. V. [Web1]: LL1. Arbeiten unter Einwirkung von Blei und seinen Verbindungen LL2. Arbeiten unter Einwirkung von Cadmium und seinen Verbindungen LL3. Arbeiten unter Einwirkung von Quecksilber und seinen Verbindungen LL4. Arbeit unter Einwirkung von Benzol, seinen Homologen oder Styrol LL5. Arbeit unter Einwirkung von Kohlenmonoxid LL6. Arbeit unter Einwirkung von Schwefelkohlenstoff LL7. Arbeit unter Einwirkung von Asbeststaub LL8. Arbeit unter Einwirkung von Lärm LL9. Audiometrie in der Arbeitsmedizin LL10. Arbeit unter Einwirkung von mechanischen Schwingungen (Ganzkörperschwingungen; Teilkörperschwingungen) LL11. Arbeit unter Einwirkung von Wärmestrahlung LL12. Arbeiten in Überdruck LL13. Arbeiten mit Gefahr einer Infektion mit Hepatitisviren (A, B, C, D, E) LL14. Lungenfunktionsprüfungen in der Arbeitsmedizin
LL15. Nutzung der Herzschlagfrequenz bei arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen LL16. Blutdruckmessung in der Arbeitsphysiologie LL17. Elektromyografie in der Arbeitsphysiologie LL18. Untersuchung der Händigkeit LL19. Messung des Fettgehaltes des menschlichen Körpers LL20. Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen bei Belastung durch atembaren alveolengängigen Staub (A-Staub) LL21. Herzrhythmusanalyse in der Arbeitsmedizin LL22. Arbeit unter Einwirkung von organischen Phosphorverbindungen (Organophosphaten) LL23. Prävention arbeitsbedingter obstruktiver Atemwegserkrankungen LL24. Arbeitsplatzbezogener Inhalationstest (AIT) LL25. Nacht- und Schichtarbeit LL26. Human-Biomonitoring LL27. Arbeitsmedizinische Vorsorge LL28. Bewertung körperlicher Belastungen des Rückens durch Lastenhandhabung und Zwangshaltungen im Arbeitsprozess
253
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Tabelle 25.4 Vorsorgeuntersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen.
I II
III IV V VI VII
G 1.1
Mineralischer Staub, Teil 1: Quarzhaltiger Staub
G 1.2
Mineralischer Staub, Teil 2: Asbestfaserhaltiger Staub
G 1.3
Mineralischer Staub, Teil 3: Keramikfaserhaltiger Staub
G2
Blei oder seine Verbindungen (mit Ausnahme der Bleialkyle)
G3
Bleialkyle
G5
Ethylenglykoldinitrat oder Glycerintrinitrat (Nitroglykol oder Nitroglycerin)
G6
Kohlendisulfid (Schwefelkohlenstoff)
G7
Kohlenmonoxid
G8
Benzol
G9
Quecksilber oder seine Verbindungen
G 10
Methanol
G 11
Schwefelwasserstoff
G 12
Phosphor (weißer)
G 13
Tetrachlormethan (Tetrachlorkohlenstoff)
G 14
Trichlorethen (Trichlorethylen)
G 15
Chrom-VI-Verbindungen
G 16
Arsen oder seine Verbindungen (mit Ausnahme des Arsenwasserstoffs)
G 17
Tetrachlorethen (Perchlorethylen)
G 18
Tetrachlorethan oder Pentachlorethan
G 20
Lärm
G 21
Kältearbeiten
G 23
Obstruktive Atemwegserkrankungen
G 24
Hauterkrankungen (mit Ausnahme von Hautkrebs)
G 25
Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten
G 26
Atemschutzgeräte
G 27
Isocyanate
G 28
Monochlormethan (Methylchlorid)
G 29
Toluol, Xylole
G 30
Hitzearbeiten
G 31
Überdruck
G 32
Cadmium oder seine Verbindungen
G 33
Aromatische Nitro- oder Aminoverbindungen
G 34
Fluor oder seine anorganischen Verbindungen
G 35
Arbeitsaufenthalt im Ausland unter besonderen klimatischen und gesundheitlichen Bedingungen
G 36
Vinylchlorid
G 37
Bildschirmarbeitsplätze
G 38
Nickel oder seine Verbindungen
G 39
Schweißrauche
G 40
Krebserzeugende Gefahrstoffe
G 41
Arbeiten mit Absturzgefahr
G 42
Tätigkeiten mit Infektionsgefährdung
G 43
Biotechnologie
G 44
Buchen- und Eichenholzstaub
G 45
Styrol
254
Instrumente des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin
Biologisches Monitoring (Biomonitoring = BM, [LL 26]). Unter Biomonitoring (BM) versteht man die wiederholte Untersuchung im biologischen Material von Beschäftigten zur Bestimmung von Gefahrstoffen, deren Metaboliten oder biochemischen bzw. biologischen Parametern. Dabei ist es das Ziel, die Belastung der Beschäftigten zu erfassen, die erhaltenen Analysenwerte mit biologischen Beurteilungswerten zu vergleichen und geeignete Maßnahmen (Verbesserung der technischen, organisatorischen und persönlichen Prävention) vorzuschlagen, um die Belastung und die Gesundheitsgefährdung durch Gefahrstoffe am Arbeitsplatz zu reduzieren. Eine erhöhte Belastung ist als Risikofaktor für eine Gesundheitsgefährdung im Vorfeld einer klinisch manifesten Erkrankung zu interpretieren. Für viele Gefahrstoffe ist die für die gesundheitliche Gefährdung relevante Belastung nur mittels Biomonitoring zu quantifizieren und zu bewerten (z. B. bei hautresorbierbaren Arbeitsstoffen, bei Arbeiten mit Atemschutz oder bei Arbeitsstoffen mit langer biologischer Halbwertszeit). Das Biomonitoring umfasst: ● Messung der Konzentration von Fremdstoffen oder deren Metaboliten in biologischem Material (= Belastungsmonitoring) ● Messung von Parametern, die die Reaktion der Fremdstoffe mit körpereigenen Makromolekülen, wie z. B. Hämoglobin und DNA, anzeigen (= biochemisches Effektmonitoring) ● Messung von biologischen Parametern, die auf Belastung durch Fremdstoffe „reagieren“ oder deren Wirkung anzeigen (= biologisches Effektmonitoring) Entscheidend ist die Interpretation der gewonnenen Messergebnisse. In der Regel führt ein arbeitsbedingter Umgang mit einem Gefahrstoff zu einer messbaren Belastung im Körper. Eine Quantifizierung derselben ist jedoch nur sinnvoll, wenn reliable Werte zur Beurteilung vorhanden sind. Je nach Fragestellung sind dies der Referenzwert der nicht belasteten Allgemeinbevölkerung, der biologische Grenzwert (entspricht dem BAT-Wert = biologischer Arbeitsstofftoleranzwert; Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe) und der Konzentrationsbereich, ab dem eine klinisch manifeste Intoxikation auftreten kann (LOAEL = lowest observed adverse effect level). Das BM sollte aber weniger als ein Mittel zur Grenzwertüberwachung betrachtet werden. Wie bei anderen laborchemischen Parametern, bspw. dem LDL-Cholesterin, sollte ein Befund des biologischen Monitoring als individualmedizinischer Risikofaktor bewertet werden, der ggf. Präventionsmaßnahmen nach sich ziehen muss. Deswegen und weil für die Interpretation stets individualmedizinische Angaben (z. B. Vorerkrankungen, Lifestyle) und Befunde (z. B. Ausscheidungsstörungen, erleichterte perkutane Resorption infolge einer Hautkrankheit) Berücksichtigung finden müssen, unterliegt das biologische Monitoring als Instrument der Individualprävention in vol-
lem Umfang der ärztlichen Schweigepflicht, d. h. dem Arbeitgeber dürfen die Ergebnisse eines BM nicht bekannt gemacht werden. Selbstverständlich müssen bei regelmäßigen Überschreitungen der Grenzwerte Maßnahmen erfolgen, die der Arbeitgeber zu veranlassen hat. Dazu hat der Betriebsarzt die Möglichkeit, die Werte statistisch aufzuarbeiten und anonymisiert in der Arbeitssicherheitsausschusssitzung darzustellen.
Arbeitsmedizinische Therapie Ziel der Vorsorgeuntersuchung ist, Erkrankungen weit im Vorfeld der klinischen Manifestation zu erfassen, sodass eine frühzeitig eingeleitete Therapie das Eintreten einer manifesten Erkrankung verhindert. Beispielsweise entwickeln sich chronische Handekzeme, die im Spätstadium häufig extrem therapierefraktär sind und auch nach Aufgabe der verursachenden Tätigkeit weiter persistieren können, über Jahre hinweg. Gelingt es durch eine Therapie (Anleiten zum hautschonenden Verhalten, Einsatz einer milden Hautreinigung, Anwendung von pflegenden Externa) die Entwicklung zu stoppen, so verschlechtert sich ein initiales Handekzem nicht weiter oder die Haut heilt vollständig ab. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Therapie arbeitsbedingter Erkrankungen vielschichtig angelegt ist und sich nicht auf die Behandlung des Arbeitnehmers beschränken darf. Die Grenze der Behandlungsbedürftigkeit durch den Betriebsarzt ist dann erreicht, wenn dieser selbst oder aber der Arbeitnehmer die Indikation zur fachärztlichen Behandlung sieht [3]. Bei drohender Berufskrankheit ist der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften, Gemeindeunfallversicherungen) verpflichtet, mit allen geeigneten Mitteln der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Berufskrankheit entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert. Der Behandlungsauftrag geht somit weit über den der gesetzlichen Krankenkassen hinaus. Insbesondere dann, wenn finanzielle Unterstützung für primärpräventive Maßnahmen oder eine besondere Diagnostik und Therapie für die Prävention erforderlich sind, sollte die zuständige Unfallversicherung frühzeitig eingeschaltet werden.
Arbeitsmedizinische Vorsorge Die arbeitsmedizinische Vorsorge darf nicht mit der Vorsorgeuntersuchung gleichgesetzt werden. Diese ist zwar häufig ein wesentlicher Bestandteil derselben, muss es aber nicht notwendigerweise sein. Bei Tätigkeiten mit dermaler Gefährdung, verursacht durch unausgehärtete Epoxidharze, ist der Arbeitgeber bspw. zur Veranlassung einer arbeitsmedizinischen Vorsorge verpflichtet. Eine Untersuchung von gesunden Arbeitnehmern wäre dabei aber nicht zielführend, da individuelle Risikofaktoren für eine Sensibilisierung mit Epoxidharzen nicht bekannt
255
25
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
I II
III IV V VI VII
sind und eine prophetische Testung (Testung ohne Vorliegen eines Ekzems) nicht nur sinnlos, sondern wegen der Gefahr einer iatrogenen Sensibilisierung auch kontraindiziert ist. Andererseits ist die Untersuchung für die arbeitsmedizinische Vorsorge bei Lärmbelastung unverzichtbar. Mit der Audiometrie können subjektiv noch nicht wahrnehmbare Innenohrschädigungen objektiviert werden. Besonders empfindliche Menschen werden so frühzeitig identifiziert, damit Maßnahmen initiiert werden (technisch = Schallminderung, organisatorisch = Versetzung oder Rotation von Arbeitnehmern, persönlich = Gehörschutz), bevor ein manifester Hörschaden eintritt. Die Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung sollen stets unmittelbar Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse haben. Ein gehäuftes Auftreten von Hauterscheinungen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, muss eine erneute Gefährdungsanalyse der Arbeitsplätze nach sich ziehen. Oft finden sich hautaggressive Arbeitsstoffe oder Arbeitsprozesse. Durch Substitution oder organisatorische Maßnahmen lassen sich die Expositionsverhältnisse meist mit vertretbarem Aufwand dahingehend verändern, dass das Gesundheitsrisiko vermindert werden kann.
25.2.4 Tertiärprävention Als Maßnahme der Tertiärprävention soll die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit von erkrankten Personen wiederhergestellt werden. Schwerpunkte der Arbeitsmedizin sind die Tertiärprävention von Handekzemen, von obstruktiven Atemwegs- und von Wirbelsäulenerkrankungen. Neben den klassischen Instrumenten der Therapie sind in allen Fällen auch gesundheitspädagogische Maßnahmen erforderlich, mit dem Ziel, dass die Betroffenen lernen, mit der Erkrankung am Arbeitsplatz umzugehen und imstande sind, gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen zu erkennen und zu ändern.
25.2.5 Qualitätssicherung und Wirksamkeitsnachweis Ebenso wie in der therapeutischen Medizin müssen auch die präventiven Instrumente daraufhin überprüft werden, ob sie das leisten, was sie vorgeben zu leisten. Gravierende Probleme, die in den Bereich des Berufskrankheitsrechts fallen, können im Längsschnitt durch den sog. Unfallverhütungsbericht erfasst werden. Der dokumentierte Rückgang von Latexallergien und Friseurekzemen sind eindrucksvolle Belege für die Effektivität einer gezielten Prävention. Mittels gesetzlicher Regelungen konnten im Krankenpflegedienst die Latexallergien, die Mitte der Neunzigerjahre bis zu 20 % aller Beschäftigten betrafen, beherrscht werden. Durch das Verbot proteinreicher gepuderter Handschuhe wurde die Allergenexposition so weit minimiert, dass Neuerkrankungen praktisch nicht
256
mehr zur Beobachtung kommen [4]. Als wesentliche Ursache allergischer Erkrankungen im Friseurhandwerk Ende der Achtzigerjahre konnte als potentes Allergen der Inhaltsstoff der sauren Dauerwelle (Glycerylmonothioglykolat) ermittelt werden. Nach Rücknahme dieses Produkts vom Markt ist seit Mitte der Neunzigerjahre ein stetiger Rückgang allergischer Ekzeme im Friseurhandwerk objektivierbar [5]. Wenn nicht die Erkrankungen selbst als Parameter der Gefährdungen und des Präventionserfolges herangezogen werden können, so bedarf es geeigneter Surrogatparameter. Bei Exposition gegenüber Gefahrstoffen kann mit einem Biomonitoring belegt werden, ob und in welchem Ausmaß sich die innere Exposition der Arbeitnehmer bei Kontakt zu Gefahrstoffen verringern lässt. Auch die Erfassung subtiler Veränderung (Hautzustand von Beschäftigten, Befindlichkeitsstörungen, Störungen des Bewegungsapparates) vor und nach einer Intervention kann den Erfolg einer Maßnahme objektivieren. Solche subtilen Veränderungen lassen sich allerdings nur dann nachweisen, wenn, wie dies der Gesetzgeber im Arbeitssicherheitsgesetz explizit fordert, eine innerbetriebliche Epidemiologie durchgeführt wird. Das bedeutet, der zuständige Betriebsarzt, der arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen durchführt, muss die so gewonnenen Ergebnisse auch systematisch auswerten und im Längsschnitt betrachten. Dies ist dann besonders wichtig, wenn eine Intervention erfolgt. Im Hinblick auf eine Kosten-Nutzen-Analyse, die im zunehmenden Maße auch von der Medizin eingefordert wird, sollten von vornherein Parameter der Wirksamkeit einer Intervention definiert werden. Die generelle Analyse des Krankenstandes eignet sich jedoch kaum, um eine Aussage über die Effektivität der arbeitsmedizinischen Vorsorge zu machen. Der Krankenstand im Betrieb ist von zu vielen Faktoren (u. a. dem Arbeitsklima, der Konjunktur, den persönlichen Karriereplänen) abhängig, als dass daran die Effektivität von Arbeitsschutzmaßnahmen abgelesen werden könnte. Relativ überzeugend belegen lässt sich der Nutzen von Impfungen. Die durchschnittlichen Kosten und Arbeitsausfallszeiten sind für die zu verhütenden Erkrankungen (z. B. Influenza) bekannt, und es lässt sich gegenrechnen, wie viele Impfungen mit dem Betrag, der den Gegenwert des Werteverlustes einer einzigen Erkrankung entspricht, durchgeführt werden können. Mit solchen Argumentationen fällt es auch leicht zu begründen, warum bei beruflichen Auslandsaufenthalten arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen mit Impfangebot durchgeführt werden sollen (s. a. Kap. 20). Bereits wenige Tage einer arbeitsbedingten Arbeitsunfähigkeit im Ausland sind nämlich für den Arbeitgeber mit Kosten verbunden, die ein betriebliches Impfprogramm bei Weitem übersteigen. Angesichts der bekannten Schwierigkeiten bei der Erfolgskontrolle der Prävention empfiehlt es sich, bei Untersuchungen und arbeitsmedizinischen Empfehlungen auf die oben zitierten Leit- und Richtlinien (S. 253) zurückzu-
Instrumente des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin
greifen. Sind derartige Empfehlungen nicht vorhanden, kann das Verfahren zum systematischen Suchen und Auffinden gesicherter Informationen, das im Bereich der klinischen Medizin im Allgemeinen als evidenzbasierte Medizin bezeichnet wird, auch für die arbeitsmedizinische Prävention angewandt werden, um Antworten auf klinisch relevante Fragen zu finden – im Sinne einer evidenzbasierten Prävention [6]. Gerade im Bereich der Prävention, wo Erfolge weniger gut sichtbar als in der therapeutischen Medizin sind, erscheinen Qualitätssicherung und Wirksamkeitsnachweis von eminenter Bedeutung.
Weblinks ● ● ● ●
?
Web1: Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM): www.dgaum.de Web2: Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW): www.vdbw.de Web3: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA): www.baua.de Web4: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG): www.hvbg.de
Antworten auf wichtige Fragen
Welche gesetzlichen Grundlagen müssen beim Arbeitsschutz beachtet werden? ● Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), Mutterschutzgesetz (MuSchG), Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), Biostoffverordnung (BioStoffV), Infektionsschutzgesetz (IfSG). Wie kann man am einfachsten verbindliche Informationen zum Arbeitsschutz und zur Arbeitsmedizin erhalten? ● Für den Arbeitgeber ist der primäre Ansprechpartner die zuständige gesetzliche Unfallversicherung. Für den betriebsärztlich tätigen Kollegen sind dies, neben den Fachgesellschaften (z. B. DGAUM) sowie dem Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW), die staatlichen Behörden (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin oder entsprechende Behörden auf Länderebene, z. B. Landesämter für Arbeitschutz und Arbeitsmedizin oder die Landes- und Bundesministerien) sowie der Hauptverband der Unfallversicherungsträger (HVBG). Woher bekomme ich am schnellsten Formtexte (Vordrucke für BK-Verdachtsanzeigen, Auftrag für ambulante Behandlung, Stufenverfahren Verlaufsbericht Hautarzt u. a.)? ● Am einfachsten über die Webseite des Hauptverbandes [Web4] oder über die zuständige Unfallversicherung.
Wer muss arbeitsmedizinisch untersucht werden? Die spezielle arbeitsmedizinische Vorsorge als Pflicht- oder Angebotsuntersuchung ist in der Gefahrstoffverordnung und Biostoffverordnung geregelt.
●
Wer kann arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen durchführen? ● Nach der Gefahrstoff- und Biostoffverordnung hat der Arbeitgeber die Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge durch Beauftragung eines Arztes sicherzustellen. Er darf nur Ärzte beauftragen, die Fachärzte für Arbeitsmedizin sind oder die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ führen. Der VDBW und dessen Landesverbände können als Ansprechpartner dienen, wenn freiberufliche Betriebsärzte oder überbetriebliche arbeitsmedizinische Zentren gesucht werden. In welcher Form erfährt der Auftraggeber (= Arbeitgeber) vom Ergebnis der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung? ● Alle Befunde, die anlässlich einer arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung erhoben werden, unterliegen im vollen Umfang der ärztlichen Schweigepflicht. Bei den gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen erfährt der Arbeitgeber, dass sich der Arbeitnehmer der Untersuchung unterzogen hat und ob gesundheitliche Bedenken gegen eine Fortführung der Tätigkeit bestehen, allerdings ohne Angabe von Gründen. Kann die Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen ohne ärztliche Bedenken fortgesetzt werden, so sind diese zu benennen (bspw. Tragen von Hörschutz oder einer Sehhilfe, kein Heben und Tragen von Lasten). ● Ohne Offenlegung von Untersuchungsergebnissen einzelner Arbeitnehmer muss der Arbeitgeber erfahren, wenn es Sicherheitsmängel im Betrieb gibt, die anlässlich einer Vorsorgeuntersuchung offenkundig wurden. Welche Untersuchungen und Maßnahmen muss der Arbeitnehmer akzeptieren? ● Der Untersuchungsanlass zur Pflichtuntersuchung ist gesetzlich geregelt (Gefahrstoff-, Biostoff-, Röntgenverordnung). Lässt sich ein Arbeitnehmer nicht untersuchen, kann er an dem entsprechenden Arbeitplatz nicht weiter beschäftigt werden. Der Untersuchungsumfang ist in Leitund Richtlinien geregelt. Wird ein Impfangebot oder ein Angebot zum biologischen Monitoring gemacht, muss dies der Arbeitnehmer nicht annehmen, ohne dass ihm daraus Konsequenzen erwachsen. ● In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Einstellungsuntersuchungen nicht zum gesetzlichen Auftrag des Betriebsarztes zählen. Einstellungsuntersuchungen können frei zwischen Arbeitssuchenden und potenziellen Arbeitgebern vereinbart werden. Der beauftragte Arzt vertritt in diesem Fall primär die Interessen des Arbeitgebers.
257
25
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
I
Auf welche Untersuchungen hat ein Arbeitnehmer Anrecht? ● Nach Arbeitssicherheitsgesetz und Arbeitsschutzgesetz kann sich ein Arbeitnehmer arbeitsmedizinisch untersuchen lassen, wenn er dies aus Sorge um seine Gesundheit wünscht. Im Bereich der Gefahrstoffverordnung nennt der Verordnungsgeber darüber hinaus ausdrücklich Tätigkeiten und Expositionen, für die eine Verpflichtung zum Angebot der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung bestehen. Die Entscheidung sich untersuchen zu lassen, trifft alleine der Arbeitnehmer.
II
Literatur 1. Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I S. 2623), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 5. September 2002 (BGBl. I S. 3541). 2. [Anonym]. Arbeit macht ein Viertel aller Schweden krank. Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 2007;42:302. 3. Drexler H, Kütting B. Arbeitsmedizinische Prävention – insbesondere Sekundärprävention – von Hauterkrankungen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 2005;40:640 – 5. 4. Allmers H, Schmengler J, John SM. Decreasing incidence of occupational contact urticaria caused by natural rubber latex allergy in German health care workers. J Allergy Clin Immunol. 2004;114(2):347 – 51. 5. Dickel H, Kuss O, Schmitt J et al. Inzidenz berufsbedingter Hautkrankheiten in hautgefährdenden Berufsordnungsgruppen. Hautarzt. 2001;52:615 – 23.
III
6. Drexler H. Evidence based occupational medicine. Tagungsbericht des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. Stuttgart: Gentner; 2003:151 – 5.
IV V VI VII
258
Definition
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Das Wichtigste in Kürze Das Telemonitoring ist eine Kommunikationstechnologie, die es ermöglicht, den klinischen Zustand von Patienten auch außerhalb stationärer Untersuchungsbedingungen zu erfassen und zu beurteilen. ● Diagnostische und therapeutische Erfordernisse können bei Patienten mit chronischen Erkrankungen durch regelmäßige Befunderhebung und rasche Befundübermittlung verbessert werden. Die sachkundige Auswertung dieser Telemetriedaten, meist durch ein spezialisiertes Zentrum, unterstützt den ambulant tätigen Arzt in diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen. ● Befunde akuter Krankheitsbilder, z. B. Elektrokardiogramme oder Röntgenaufnahmen, können an Spezialisten zur Befundung übermittelt werden. Physiologische Befunde wie EKG und Blutdruck, Blutzucker oder Gerinnungsparameter, aber auch visuelle Darstellungen (z. B. neurologische Befunde oder chronische Wundheilungsstörungen) können telemetrisch verfolgt werden. ● Ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt ist nicht erforderlich. Die dadurch entstehende Änderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses muss ebenso wie die Besonderheit der juristischen Konstellation berücksichtigt werden. ● Größere Entfernungen wie z. B. bei Urlaubsreisen beeinflussen die regelmäßige Befunderhebung und ärztliche Betreuung nicht, die Informationen bleiben in einer Hand. ● Die Lebensqualität der betreuten Patienten wird verbessert, durch weniger Krankenhausaufenthalte oder reduzierte Transportkosten können die Behandlungskosten reduziert werden. ● Neue Technologien bei implantierbaren Systemen (z. B. Defibrillator, Herzschrittmacher) lassen durch Telemonitoring technischer Daten frühzeitig Funktionsstörungen erkennen, sodass Kontrollintervalle für diese Geräte auch ohne Gefährdung für den Patienten verlängert werden können. Die derzeit laufenden Entwicklungen für die elektronische Gesundheitskarte können die Anwendung telemedizinischer Systeme durch den Aufbau von Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen medizinischer Einrichtungen besser integrieren.
26.1 Definition Zunächst sollen an dieser Stelle einige Begriffe erläutert werden. Telematik (der Begriff wurde zusammengesetzt aus Telekommunikation und Informatik) verknüpft die Bereiche Telekommunikation und Informatik. Dabei werden elektronische Daten mittels Telekommunikation übermittelt. Ein Teilbereich der Telematik ist die Telemedizin. Dabei erfolgen Diagnostik oder Therapie über eine Distanz, also eine räumliche Trennung. Es werden medizinische Daten mittels Telekommunikation (Telefon, Internet etc.) übermittelt. Dieses kann in Echtzeit oder auch in zeitlichem Abstand erfolgen. Das Telemonitoring wiederum ist ein Teilbereich der Telemedizin. Dabei werden physiologische Messdaten übertragen und subjektive Angaben erfasst und zur Überwachung und Diagnostik genutzt. Zum Einsatz kommt dieses in vielfältigen Bereichen, u. a. bei chronischen Herzerkrankungen (Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen), aber auch Diabetes, in der Neurologie oder zur Überwachung in der Schwangerschaft. Das Telemonitoring dient damit der Unterstützung der ambulanten oder prästationären Befunderhebung sowie zur Beurteilung des Befindens des Patienten. Es ist für die Betreuung und Behandlung chronischer Erkrankungen geeignet, deren Therapiekonzept entsprechend der aktuell erhobenen Befunde geändert wird. Die umfangreichsten Erfahrungen bestehen in der Betreuung von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, da das labile Gleichgewicht der kardialen Dekompensation durch zusätzliche Herzbelastung schnell gestört werden kann. Bei diesem Krankheitsbild werden meist das Gewicht und das EKG, bei weiterreichenden Konzepten aber auch zusätzliche Parameter wie Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und Patientenangaben telemetrisch übertragen. Das Telemonitoring von Herzrhythmusstörungen bei symptomatischen Palpitationen oder paroxysmalen Tachykardien, die auch in mehreren Langzeitregistrierungen nicht erfasst werden konnten, hat seinen Stellenwert in der kardiologischen Diagnostik. Von klinischer Relevanz ist die Detektion des paroxysmalen Vorhofflimmerns, da daraus das Erfordernis einer Antikoagulation abgeleitet werden kann. Übertragungen eines 12Kanal-EKG in kardialen Notfallsituationen (z. B. bei einem akuten Koronarsyndrom) an Intensivzentren können Hilfe in der prästationären Entscheidungsfindung gewähren.
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Das Telemonitoring erleichtert das Management unterschiedlichster Erkrankungen: die Einstellung eines Typ-II-Diabetes, Gewichtskontrollen bei chronisch niereninsuffizienten Hämodialysepatienten, telemetrische Blutdruck- und Gewichtskontrolle in der Schwangerschaft, Kontrolle regelmäßiger Medikamenteneinnahme bei grenzwertiger Patientencompliance u. a. Die zuverlässige Aufarbeitung in speziellen Telemonitorzentren (oder auch sog. Callcenters) sowie der enge Kontakt zu dem behandelnden Arzt des telebeobachteten Patienten sind Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung. Verschiedene Konzepte des Telemonitorings werden hinsichtlich ihrer Effektivität und Praktikabilität eingesetzt. Gemeinsam ist ihnen die Televermittlung einer wie auch immer gearteten klinischen Information. Diese reicht von der Übermittlung zuvor aufgezeichneter Daten (Röntgen, Histologie u. a.) über telefonische Angaben zum Befinden, täglicher Kontrolle aller erfassbaren Vitalparameter bis zur Real-Time-Übertragung, sogar mit Positionsbestimmung des Absenders. Auch eine interaktive Information und Aufklärung von Patienten und/oder Ärzten über bestimmte Krankheitsbilder über das Internet werden mit der Telemedizin in Zusammenhang gebracht. Allen Methoden gemeinsam ist eine ausgeprägte präventive Potenz, da sie die frühestmögliche Diagnostik einer Erkrankung bzw. das frühzeitige Erkennen ihrer Progredienz und damit entsprechend rechtzeitig bzw. präventiv eingeleitete intensivierte therapeutische Maßnahmen ermöglichen.
26.2 Anwendungsbereiche und Indikationen Das Telemonitoring von Krankheitssymptomen, gemessenen physiologischen Parametern, die ein Krankheitsbild charakterisieren, und von visuellen Befunden ist für Diagnose, Therapie und Langzeitversorgung bestimmter chronischer Krankheitsbilder im Sinne einer Sekundärund Tertiär-Prävention ideal anwendbar. Neue technologische Entwicklungen, der Drang zum zeiteffektiven Einsatz der Ressourcen unter den derzeit gültigen Fallpauschalregelungen (insb. bei der stationären Behandlung), die Erwartung eines verbesserten Krankheitsmanagements und einer höheren Lebensqualität sowie die Bereitschaft der Patienten, sich aktiv in die Behandlungsprozeduren einzubringen, mögen treibende Faktoren in der Entwicklung dieser neuen Methoden sein. Telemedizinische Technologien geben heutzutage erstmals in Bereichen der Medizin die Möglichkeit einer engmaschigen Kontrolle von Zustandsbildern und gewähren damit auch subtilen Einblick in klinische Verläufe. Auch wird damit eine Ergebnisqualitätskontrolle klinischen Handelns ermöglicht. So denn der behandelnde Arzt die telemedizinische Technologie anerkennt, kann er ohne zusätzlichen eigenen Aufwand seine Patienten intensiver
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betreuen und Unregelmäßigkeiten und Verschlechterungen des Krankheitsbildes frühzeitig erkennen. Der direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient wird somit nicht ersetzt, sondern sinnvoll und zeitökonomisch ergänzt. Bei guter Kooperation von stationärer und ambulanter Medizin, z. B. im Rahmen von Verträgen zur integrierten Versorgung, können damit Patienten frühzeitiger aus der stationären Behandlung entlassen werden, da sie mit dem Telemonitoring unter ärztlicher Beobachtung verbleiben. Auch kann die Progredienz einer ambulant versorgten Erkrankung frühzeitig erkannt und weiterhin ambulant behandelt werden. Untersuchungen zeigen, dass durch das Telemonitoring nicht nur eine Senkung der Rehospitalisierung, sondern sogar auch eine Senkung der Mortalität erreicht werden kann. Für den Patienten bedeutet dies eine Steigerung der Lebensqualität (nicht zuletzt durch eine erhöhte Mobilität) und der Eigenverantwortlichkeit. Sehr intensiv wird der gesundheitsökonomische Aspekt dieser Technologie untersucht. Bisher durchgeführte Analysen zeigen eine deutliche Reduktion krankheitsbedingter Aufwendungen des Kostenträgers.
26.2.1 Telemonitoring bei chronischer Herzinsuffizienz Die klinische Problematik Die bisher umfangreichsten systematisch gewonnen Erfahrungen mit dem Telemonitoring chronischer Erkrankungen bestehen bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz. Diese ist eine der häufigsten internistischen Erkrankungen mit stark altersabhängiger Prävalenz und Inzidenz. Etwa 1 % der Bevölkerung zwischen 45 und 55 Jahren leiden an Herzinsuffizienz, im Alter über 80 Jahren etwa 10 bis 15 % [1]. Ihre Prävalenz nimmt durch erfolgreiche Therapien akuter Herzerkrankungen und effektiver medikamentöser und nichtmedikamentöser Maßnahmen zu. Die guten Behandlungsergebnisse bei akutem Myokardinfarkt durch Katheterrevaskularisation erhöhen die Überlebensquoten, und damit auch die Zahl der Erkrankten. Denn nach einem überlebten Herzinfarkt kann sich bei etwa 22 % der Männer und 46 % der Frauen innerhalb der folgenden Jahre eine Herzinsuffizienz entwickeln [1]. ACE-Hemmer, Betablocker, AT-I-Antagonisten und Spironolakton sowie die kardiale Resynchronisationstherapie mit biventrikulärer Stimulation (CRT) verbessern Überlebensquoten und Lebensqualität. Als chronische Erkrankung ist die Herzinsuffizienz in der Regel sehr gut ambulant zu therapieren, bei rechtzeitigem Erkennen einer Dekompensation und ihrer Ursachen können die dann meist längeren Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Die wesentlichen gesundheitsökonomisch relevanten Kosten dieses Krankheitsbildes lassen sich auf Krankenhausaufenthalte zu-
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rückführen und entsprechen etwa 1 – 3 % des gesamten Gesundheitsbudgets aller Erkrankungen (absolut gesehen in Deutschland über 2,7 Mrd. €) mit steigender Tendenz. Die kardiale Kongestion führt zu einer pulmonalen Stauung und peripheren Ödemeinlagerung, die einen relativ raschen Anstieg des Körpergewichts sowie eine zunehmende Belastungsdyspnoe verursacht. Die verminderte Leistungsfähigkeit des Herzens wird zusätzlich durch Herzrhythmusstörungen (v. a. Tachyarrhythmia absoluta) belastet. Eine unzureichende Blutdruckeinstellung und evtl. eine Minderung der Sauerstoffsättigung durch pulmonale Erkrankungen sind ebenfalls pathophysiologisch relevant. Die Ursachen der kardialen Dekompensation werden in der Regel zunächst stationär optimal eingestellt: Revaskularisierung bei koronarer Herzerkrankung (KHK), Arrhythmiebehandlung, optimale Blutdruckeinstellung und antikongestive Therapie bedingen ein konstantes Gewichtsverhalten. Bei bestehendem Vorhofflimmern müssen eine normale Ruheherzfrequenz sowie eine adäquate Frequenz unter Belastung bestehen. Gegebenenfalls ist eine Kardioversion bei persistierendem Vorhofflimmern erforderlich.
Anwendungsindikationen des Telemonitorings Die durch das Telemonitoring zu messenden physiologischen Parameter lassen sich entsprechend den oben geschilderten pathophysiologischen Zusammenhängen mit dem Krankheitsstadium korrelieren. Die positiven Ergebnisse verschiedener Telemonitoring-Programme bezüglich eines stabilen Krankheitsverlaufes, einer Reduktion von Rehospitalisierung und sogar von Überlebensvorteilen wurden in verschiedenen Studien publiziert. Schon mit sehr einfachen Methoden, durch regelmäßigen telefonischen Kontakt auch in größeren, monatlichen Abständen [2] und durch Erfragen des Gewichts war der Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen [3, 4]. Speziell geschultes Assistenzpersonal („Heart failure nurses“) wurden dafür eingesetzt [2]. Mittels komplexerer Systeme werden darüber hinaus noch EKG und Blutdruck [5] bzw. sämtliche nichtinvasiv zu erfassende Parameter wie EKG, Blutdruck, Thoraximpedanz, Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung gemessen [6]. Zusätzlich mit dem System durch interaktive Module abgefragte Angaben des Patienten zu Wohlbefinden und Medikamentencompliance [6] runden das telemonitorisch ermittelte Patientenbild ab. Nach Möglichkeit sollten nicht nur die erst spät auftretende Symptomatik der Herzinsuffizienz erkannt, sondern auch alle ursächlichen Faktoren erfasst werden. Dazu gehören in erster Linie eine Tachyarrhythmia absoluta bei schnell übergeleitetem Vorhofflimmern und ein dekompensierter arterieller Hypertonus. Aber auch der Abfall der Sauerstoffsättigung bei pulmonalen Erkrankungen oder die Mitteilung unzureichender Medikamen-
teneinnahmen lassen die präventiven Alarmglocken schellen. Zeitgemäße Telemonitoring-Systeme gewinnen über die Messungen physiologischer Parameter hinaus durch interaktive Kommunikation mit dem Patienten noch Informationen über subjektives Befinden und die Medikamentencompliance. Exemplarisch sei das generelle Vorgehen im Bereich des Telemedizin-Zentrums Brandenburg (tmzb) beschrieben: Der Patient wird vom Krankenhausarzt oder dem behandelnden Hausarzt bzw. Kardiologen über das Wesen seiner Erkrankung informiert und stimmt der telemedizinischen Betreuung zu. Er erhält ein Mess- und Kommunikationsgerät, welches über Telefon Daten an das Telemedizin-Zentrum überträgt. Zusätzlich werden eine Waage und ein Blutdruckmessgerät zur Verfügung gestellt. Der herzkranke Patient misst täglich Gewicht und Blutdruck, leitet über Elektroden EKG und Thoraximpedanz sowie über einen Fingerclip die O2-Sättigung ab. Nach einer einminütigen Messung erscheinen auf dem Display des Gerätes Fragen zur Belastungsfähigkeit, Luftnot, Beinödemen und erfolgter Medikamenteneinnahme und ob Kontaktaufnahme erwünscht wird. Das Telemedizin-Zentrum empfängt unter Berücksichtigung des Datenschutzes diese Daten und wertet sie in Kenntnis aller mitgeteilter Einzelheiten der Erkrankung aus, die einer angelegten elektronischen Krankenakte entnommen werden. Herz- und Atemfrequenz, Gewicht, Blutdruck, O2-Sättigung, die Art des Herzrhythmus, Änderungen in der Befindlichkeit und der Medikamentencompliance werden in ihrem zeitlichen Ablauf grafisch dargestellt und bewertet. Der behandelnde Arzt wird regelmäßig und bei Überschreiten individuell definierter Grenzwerte informiert und berücksichtigt diese engmaschigen Informationen in seinem präventiven Behandlungskonzept.
Kasuistik Bei einem 73-jährigen Patienten besteht eine chronische Herzinsuffizienz bei KHK mit einer linksventrikulären Auswurffraktion von 25 %, sowie eine arterielle Hypertonie. In den letzten 3 Jahren war er mindestens 2-mal jährlich wegen einer kardialen Dekompensation stationär im Krankenhaus. Aufgrund der rezidivierenden Dekompensationen wurde er zur telemedizinischen Betreuung angemeldet. Er misst täglich Körpergewicht, Blutdruck, EKG und Sauerstoffsättigung und macht subjektive Angaben zum Befinden. Der Hausarzt erhält einmal im Monat einen Befundbericht mit grafischer Darstellung (Abb. 26.1). Im Juni 2006 kam es zu einem Anstieg des Körpergewichts von 3 kg durch zu hohe Trinkmenge und Auslassen der Medikation. Nach Benachrichtigung des Hausarztes reduzierte dieser die Trinkmenge und erhöhte die diuretische Therapie. Rechtzeitige Erfassung und ambulante Intervention durch Medikamentenanpassung konnten so eine stationäre Aufnahme verhindern.
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Abb. 26.1 Gewichtsanstieg bei zunehmender Dekompensation mit ambulanter Intervention.
26.2.2 Telemonitoring bei Herzrhythmusstörungen Die klinische Problematik Herzrhythmusstörungen sind Ausdruck höchst unterschiedlicher Erkrankungen und reichen von benignen extrasystolischen Störungen bis zu lebensbedrohlichen Tachyarrhythmien. Sie treten, seien sie supraventrikulären oder ventrikulären Ursprungs, in der Regel periodisch und in variablen Abständen auf. Vom Patienten werden sie als Palpitationen oder Herzjagen empfunden, können aber auch Schwindel oder präsynkopale Zustände verursachen. Es sind mitunter mehrere Langzeit-EKG, eine EKG-Überwachung über Monate oder auch eine invasive elektrophysiologische Untersuchung erforderlich, um diese Symptomatik zu klären. Einen besonderen Stellenwert als am weitesten verbreitete Rhythmusstörung hat das Vorhofflimmern. Es wird nach seinem Auftreten in paroxysmales, persistierendes und permanentes bzw. chronisches Vorhofflimmern unterteilt, tritt alters- und geschlechtsabhängig auf und birgt in Abhängigkeit vom Alter und verschiedenen Begleiterkrankungen (KHK, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie) das Risiko kardioembolischer Kompli-
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kationen. Dabei ist der Schlaganfall die folgenschwerste Manifestation, weshalb bei entsprechender Indikation eine Antikoagulation erforderlich ist. Häufig ist das Vorhofflimmern asymptomatisch [7, 8]. Da auch bei paroxysmalem Vorhofflimmern das gleiche kardioembolische Risiko und damit die gleiche Schlaganfallgefährdung besteht wie bei permanentem Vorhofflimmern, ist eine Detektion der paroxysmalen Episoden mit anwenderfreundlichen, telemonitorischen Screening-Methoden eine bedeutende präventive Maßnahme.
Anwendungsindikationen des Telemonitorings Telemonitor-EKG-Systeme leisten in der Diagnostik paroxysmaler Arrhythmien eine gute Hilfe. Der Patient trägt ein nur scheckkartengroßes EKG ständig bei sich und aktiviert das Gerät, wenn er einen Anfall vermutet [8]. Die derzeitige Speicherkapazität dieser Geräte ermöglicht die Registrierung mehrerer Episoden von ausreichender Dauer. Die Aufzeichnungen werden dann zu einem beliebigen Zeitpunkt transtelefonisch über eine Zentrale an den betreuenden ärztlichen Spezialisten übermittelt. Die hervorragende Qualität erlaubt eine genaue Rhythmusdiagnostik: ventrikuläre versus supraventrikuläre
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Abb. 26.2 Tachyarrhythmie mit frühzeitiger Kardioversion und Frührezidiv.
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extrasystolische Rhythmusstörungen, Vorhofflimmern versus Sinusrhythmus, Tachykardien mit schmalem oder breitem QRS-Komplex mit Abgrenzung gegenüber der Sinustachykardie. Auf der Basis dieser Befunde kann eine Planung des weiteren therapeutischen Konzepts erfolgen. Systematische prospektive Untersuchungen zu diesem Thema, v. a. zur Frage, ob kardioembolische Schlaganfälle durch Screening bei bestimmten Risikogruppen verhindert werden können, stehen allerdings noch aus.
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mit Spezialisten beantwortet werden können. Die Übertragung eines 12-Kanal-EKG mittels telemonitorischer Techniken ermöglicht die Kommunikation zwischen Notarzt vor Ort und Spezialisten hinsichtlich der EKG-Interpretation und ggf. der Art von Arrhythmien. Damit werden Kommunikationsbrücken geschaffen, die eine sachgerechte prästationäre Versorgung optimieren und die organisatorischen Vorbereitungen für eine schnellstmögliche Revaskularisation erleichtern können.
Kasuistik Durch Telemonitoring konnte bei einem Patienten eine Tachyarrhythmia absoluta bei Vorhofflimmern nach ambulanter Kardioversion frühzeitig registriert werden. Das Frührezidiv wurde erneut ambulant behandelt und mit Betablockern eingestellt (erfolgreiche Frequenzsenkung im Tele-EKG, Abb. 26.2).
26.2.3 Tele-EKG-Analyse beim akuten Koronarsyndrom
Anwendungsindikationen des Telemonitorings Die Übertragung eines 12-Kanal-EKG auch aus mobilen Rettungssystemen ist technisch möglich. Durch die zusätzliche Analyse des EKG ohne oder mit ST-Hebungsinfarkt sowie der aufgezeichneten Herzrhythmusstörungen können organisatorische Abläufe wie eine Verkürzung der „Door-to-Balloon“-Zeit oder z. B. der spezifische Einsatz von Antiarrhythmika verbessert werden. Es sei jedoch betont, dass die Notfallsituation meist von der klinischen Symptomatik bestimmt wird, unabhängig von im EKG nachgewiesenen Veränderungen.
Die klinische Problematik Dem 12-Kanal-Ruhe-EKG kommt eine Schlüsselposition bei Patienten mit vermutetem akutem Koronarsyndrom zu. Schnellstmögliche revaskularisierende Maßnahmen wie die Thrombolysetherapie oder die Katheterintervention sind entscheidend für die Prognose. Die prästationäre Einleitung einer Therapie durch den Notarzt vor Ort ist Standard. Es bleiben zur Beurteilung der kardialen Situation jedoch mitunter Fragen, die besser in Kooperation
26.2.4 Telemonitoring bei anderen Erkrankungen Die Qualität der Akutversorgung und der Sekundär- und Tertiärprävention eines Schlaganfalls ist von frühzeitiger Diagnostik, z. B. durch Computertomografie, spezifischer Therapie und früher rehabilitativer Behandlung abhängig [9]. Zur Verbesserung der Versorgungssituation sowie zur
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Vermeidung von Folgeschäden und gesundheitsökonomischen Belastungen wurden verschiedene Telemedizinprojekte zur akuten Schlaganfallversorgung eingerichtet. Dort wird die Expertise von Ärzten spezialisierter neurologischer Kliniken genutzt, um schnellstmöglich eine zielgerichtete Diagnostik und Therapie einleiten zu können. Durch Mitbeurteilung der Computer- bzw. Magnetresonanztomografien sowie durch Besprechung des weiteren Vorgehens (auch durch Videokonferenz) kann eine relevante Verbesserung der Prognose hinsichtlich Sterblichkeit, Pflegeheimversorgung und schwerer Behinderung erreicht werden. Bei Hämodialysepatienten ist die mangelnde Trinkmengencompliance eines der Hauptprobleme. Durch die Telemetrie des Körpergewichts kann eine signifikante Reduktion der täglichen interdialytischen Gewichtszunahme und damit auch der alarmbedingten Interventionen erreicht werden [10]. In der Schwangerschaft sind inadäquate Blutdruckund Gewichtsschwankungen Marker für eine erhöhte perinatale Mortalität. Hypertonie und Gewichtszunahme durch Ödembildung sind gemeinsam mit der Proteinurie die Hauptursachen der Präeklampsie und können telemonitorisch bei Risikoschwangerschaften kontrolliert werden [11]. Für Patienten mit Diabetes mellitus gibt es einige Erfahrungen mit der internetbasierten Blutzuckereinstellung durch telemedizinische Betreuungsprogramme. Damit scheint eine Qualitätsverbesserung bei der therapeutischen Führung und eine Steigerung der Patientencompliance erreicht werden zu können [12]. Präventive Erfolge werden auch von weiteren Programmen erwartet: visuelle Kontrolle der medikamentösen Einstellung bei der Parkinson-Erkrankung [13], Kontrolle von Wundheilungsstörungen [14] über Videokonferenz und Beurteilung des Augenhintergrundes nach Teleübertragung (s. a. Kap. 6). Das Telemonitoring über implantierbare Systeme wie Schrittmacher, Kardioverter/Defibrillatoren (ICD) und Systeme der kardialen Resynchronisation (CRT) sei in diesem Rahmen nur kurz erwähnt. Diese Geräte haben die Möglichkeit, technische und physiologische Daten zu übertragen. Batteriespannung, Elektrodeneigenschaften, programmierte Konfigurationen, Schockabgaben des ICD oder registrierte Arrhythmien sowie bestimmte physiologische Parameter werden patienteninitiiert oder automatisch zur regelmäßigen Kontrolle an ein Zentrum gesendet. Von Programmen wie Home Monitoring, Care Link, Latitude System, House Call Plus u. a. erwartet man neben der Entlastung des Patienten und des Kardiologen von der regelmäßigen Vor-Ort-Kontrolle Vorteile für optimale Geräteeinstellung, frühzeitige Problemerkennung und präventive Führung des Krankheitsbildes.
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Weblinks ● ● ● ● ●
Telemedizin Zentrum Brandenburg (tmzb): www.tmzb. com Deutsche Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed): www.dgtelemed.de Telemedizinführer Deutschland: www.telemedizinfuehrer.de/ Technologiestiftung Berlin (TSB): www.technologiestiftung-berlin.de/ American Telemedicine Association (ATA): www.americantelemed.org/
26.3 Die elektronische Gesundheitskarte Neue technologische Entwicklungen wie der Einsatz des Telemonitorings für die Krankheitsprävention müssen optimalerweise in eine umfassende Informations- und Kommunikationsinfrastruktur eingebunden werden. Die 2003 gesetzlich beschlossene elektronische Vernetzung des deutschen Gesundheitswesens mit der Entwicklung einer „Telematik-Infrastruktur“ basiert auf einer einrichtungsübergreifenden Informationsbereitstellung mittels der elektronischen Gesundheitskarte. Mit Zustimmung des Patienten werden darauf Gesundheitsdaten gespeichert und sind entsprechend zügig verfügbar. Administrative Daten inklusive Foto, Daten zur Krankenversicherung und für die elektronische Ausstellung von Rezepten sind obligat. Ein Notfalldatensatz, Arzneimitteldokumentation, elektronische Arztbriefe sowie Einzelheiten der elektronischen Patientenakte können später mit ausdrücklicher Genehmigung des Patienten hinzugefügt werden. Die Umsetzung technischer und organisatorischer Details dieser Telematik-Rahmenarchitektur wird in umfangreichen Anwendertests geprüft. Die politische und standespolitische Zustimmung ist entsprechend der Ergebnisse der Praxistauglichkeit, der Anwenderfreundlichkeit und der Datensicherheit der Systemarchitektur wechselnd. Bei sorgfältiger Erhebung und Pflege kritischer Patientendaten kann die elektronische Gesundheitskarte ihren Beitrag auch zur Krankheitsprävention leisten. Da diese aber nur mit Zustimmung des Patienten und freiwillig darauf gespeichert werden können, steht auch hier der aufgeklärte und gesundheitsbewusste Patient oder Mitbürger im Mittelpunkt.
Die elektronische Gesundheitskarte
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Literatur Patienteninfo
Bei welchen Erkrankungen ist das Telemonitoring sinnvoll? ● Telemonitoring kann bei vielen Erkrankungen sinnvoll sein. Dazu zählen Herzerkrankungen wie chonische Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, aber auch Diabetes, chronische Niereninsuffizienz und ein stattgehabter Schlaganfall. Bin ich mit der anzuwendenden Technik nicht überfordert? ● Es gibt verschiedene Systeme. Wichtig ist, sich auf die Technik einzulassen und sich etwas Zeit zu geben, um sich mit ihr vertraut zu machen. Die Telemonitoring-Systeme wurden häufig für Menschen konzipiert, die mit Computern nicht sehr vertraut sind, sodass der Umgang meist gut funktioniert. Kann ich mit diesem Gerät auch in Urlaub fahren? Ja, da ein Telemonitoring von fast allen Standorten möglich ist.
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Wer bezahlt das Telemonitoring-Gerät? ● Es gibt mittlerweile viele Projekte, bei denen eine Zusammenarbeit mit der Krankenkasse besteht. Sprechen Sie mit Ihrer Krankenkasse und fragen Sie dort nach. Wird das persönliche Verhältnis zu meinem behandelnden Arzt nicht durch das Telemonitoring gestört? ● Da das Telemonitoring dem Hausarzt zusätzliche Informationen liefert, sollte es die Behandlung vereinfachen und unterstützen, aber nicht ersetzen. Erhält mein behandelnder Arzt auch sämtliche Information, die er zur Beurteilung der Erkrankung benötigt? ● Der behandelnde Arzt wird in regelmäßigen Abständen über die Befunde unterrichtet und kann so sein Therapiekonzept stetig anpassen. Wie steht es mit dem Schutz meiner persönlichen Daten? ● Die Daten sind gesichert und bei Übertragung anonymisiert, sodass keine Bedenken bestehen. Wie ist die rechtliche Situation, wer ist für die Beurteilung der Ergebnisse letztlich verantwortlich? ● Der behandelnde Arzt ist verantwortlich. Diese Verantwortung kann für bestimmte Fragestellungen auf ein sog. Callcenter übertragen werden.
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Potenziale der Genomik
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Das Wichtigste in Kürze Der Vorteil der DNA-Mikroarray- („Genchip“-) Analyse liegt darin, dass sie ermöglicht, eine sehr große Anzahl an genetischen Varianten oder Genexpressionsmustern gleichzeitig in einem hochparallelen Ansatz zu analysieren. Diese Technologie hat heute in der Forschung bereits einen festen Platz, und erste Anwendungen in der Klinik machen sich bemerkbar. Die Schwierigkeiten dieser Analyse – beispielsweise bei der Abschätzung des Atheroskleroserisikos – liegen jedoch nicht in der Erbringung der technischen Leistung, sondern darin, die genetischen Varianten zu identifizieren, die einen unabhängigen Beitrag zum Risiko liefern. Trotz sehr großer Anstrengungen über viele Jahre ist es bis heute nicht gelungen, einen Satz an genetischen Markern zu identifizieren, die für den breiten klinischen Einsatz geeignet sind. Nichtsdestoweniger kann es von Nutzen sein, besonders bei Patienten mit einem Atheroskleroserisiko mittlerer Ausprägung einige genetische Marker zusammen mit etablierten und anderen neueren Risikofaktoren zu bestimmen. Hierfür eignet sich unter anderem die DNA-Mikroarray-Technologie als Detektionsmethode. Die Verwendung solcher Marker liegt jedoch im Ermessen des behandelnden Arztes und sollte nur unter der Beratung eines Spezialisten erfolgen.
27.1 Einleitung Die Atherosklerose ist eine klassische multifaktorielle, polygenetische Erkrankung. Das heißt, dass an der Entstehung der Erkrankung viele genetische und nichtgenetische Einflüsse beteiligt sind. Aus Geschwister- und Zwillingsuntersuchungen wissen wir, dass der genetische Anteil an der Atherosklerose etwa 40 % beträgt [1]. Dieser genetische Anteil wiederum verteilt sich auf eine Vielzahl von Genen, die jeweils nur einen geringen Einfluss ausüben, der sich einerseits direkt auf die Entstehung der Erkrankung selbst, andererseits auf die Risikofaktoren (sog. „intermediäre Phänotypen“), die dann indirekt zur Atherosklerose führen, auswirken. Darüber hinaus findet eine Vielzahl von Interaktionen statt, einerseits zwischen den verschiedenen genetischen Faktoren untereinander, andererseits zwischen den genetischen Faktoren und den vorhandenen Umwelteinflüssen. So kommen einige genetische Faktoren nur dann zum Tragen, wenn bestimmte Umwelteinflüsse vorliegen, während andere in ihrer Wirkung von Umwelteinflüssen gehemmt werden.
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Aus diesen Überlegungen ist ersichtlich, dass es einen einfachen „Gentest“ für das Risiko der Atherosklerose nicht gibt und sehr wahrscheinlich auch nicht geben wird, auch unter Anwendung komplexer Analysen mittels eines Genchips nicht. Dennoch gibt es bei der multiparametrischen, teilweise genchipbasierten Analyse genetischer Risikofaktoren für die Atherosklerose interessante Ansätze, die in diesem Kapitel näher erläutert werden.
27.2 Rolle von genetischen Faktoren bei der Atherogenese Bisher sind mehrere hundert Untersuchungen zu genetischen Einflüssen auf die Atherosklerose veröffentlicht worden. Diese lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Assoziationsstudien und Kopplungsanalysen.
27.2.1 Assoziationsstudien Die weitaus größte Zahl der Untersuchungen zur Genetik der Atherosklerose beim Menschen sind Assoziationsstudien. Bei dieser Art der Analyse wird die Häufigkeit eines genetischen Merkmals – bspw. einer genetischen Variante in einem bestimmten Enzym – bei Betroffenen (z. B. Herzinfarkt- oder Schlaganfallpatienten) und bei nichtbetroffenen Kontrollpersonen untersucht. Ist die genetische Variante signifikant häufiger bei den Betroffenen als bei den Kontrollen, so geht man von einer Assoziation dieser Variante mit der Erkrankung aus. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass eine solche Assoziationsstudie keine Aussage zur Kausalität machen kann. Es kann nämlich durchaus sein, dass nicht die Variante selbst, sondern ein weiterer Faktor, mit dem die Variante gekoppelt ist, ursächlich verantwortlich ist. Diese Einschränkung gilt jedoch keinesfalls nur für genetische Varianten, sondern für alle vermeintlichen Risikofaktoren für die, wie Mark Pepys von der University College Medical School in London unlängst anmerkte, die alleinige „Anwesenheit am Tatort“ freilich nicht als „Schuldnachweis“ gelten kann [2]. Trotz der großen Anstrengungen, die bisher bei der Durchführung solcher Assoziationsstudien gemacht worden sind, ist deren Ausbeute bisher eher als mager zu bezeichnen. Hierfür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens hatten die Studien oft zu wenig Teilnehmer. Vielfach haben die in kleineren Kollektiven erzielten positiven Ergebnisse sich in größeren Gruppen nicht bestätigen lassen. Zweitens, und dies ist vielleicht der Hauptgrund,
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Viel schwieriger als die Aufklärung monogenetischer Erkrankungen ist die Durchführung von Kopplungsanalysen bei komplexen Erkrankungen wie der Atherosklerose. Zwar gibt es hierfür einige vielversprechende theoretischen Ansätze, doch haben sie bisher keine Ergebnisse geliefert, die für die Klinik von Nutzen wären.
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I II III IV V Quintile des Cox-Proportional-Hazards-Modells
Abb. 27.1 Der PROCAM-Algorithmus. Untersucht wurden 406 tödliche und nichttödliche Myokardinfarkte (MI) bei 7152 Männern im Alter zwischen 35 – 65 Jahren. Als unabhängige Variablen wurden Alter, systolischer Blutdruck, HDL-Cholesterin, LDL-Cholesterin, Triglyzeride, Diabetes mellitus, Rauchen sowie eine positive Familienanamnese für MI berücksichtigt. Das Risiko für einen Myokardinfarkt im obersten Fünftel der männlichen Bevölkerung (35 – 65 Jahre) liegt bei 229 von 1000 nach 10 Jahren, während das Risiko im untersten Fünftel der Männer nur 4 von 1000 nach 10 Jahren beträgt. So erlaubt der Algorithmus eine beinahe 60-fache Risikodifferenzierung zwischen den Patienten mit dem geringsten und den Patienten mit dem höchsten Risiko.
wurde kein oder ein nur unzureichendes Matching für konventionelle Risikofaktoren zwischen der Betroffenenund der Kontrollgruppe vorgenommen [3]. Der in Münster entwickelte PROCAM-Score beispielsweise berücksichtigt die Risikofaktoren Alter, Familienanamnese, Rauchen, systolischer Blutdruck, Diabetes mellitus, Triglyzeride, HDL-Cholesterin und LDL-Cholesterin (s. Kap. 3, [4]). Wendet man diesen Score zur Berechnung des Herzinfarktrisikos an, so stellt man fest, dass es zwischen dem untersten und dem obersten Risiko-Fünftel der männlichen Bevölkerung einen mehr als 50-fachen Unterschied im Herzinfarktrisiko gibt (Abb. 27.1). Hieraus wird die Notwendigkeit einer ausreichenden Stratifizierung für konventionelle Risikofaktoren klar erkennbar.
27.2.3 Rasterfahndung im Genom: Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen Nach Abschluss des Human Genome Project [Web1], dessen Ergebnisse derzeit die wichtigste Grundlage unseres Wissens über das menschliche Erbgut darstellen [8, 9], wurden international weitere Großprojekte initiiert, um zu einem besseren Verständnis von genetischer Variation und deren Bedeutung als Marker für Erkrankungen und Krankheitsdisposition zu gelangen. Zu diesen Projekten zählen das internationale SNP- („Single nucleotide polymorphism“-) Konsortium, das HapMap-Projekt [Web2] sowie das kürzlich begonnene Medical Sequencing Pilot Project [Web3]. Derzeit geht man von etwa 10 Mio. verschiedenen SNP in der menschlichen Nukleotidsequenz der etwa 3 Mill. Buchstaben aus. Damit unterscheidet sich das Erbgut zweier Menschen um etwa 0,3 %. Durch die Entwicklung von DNA-Mikroarrays (sog. „DNA-Chips“) ist es heute möglich, in einem einzigen Ansatz bis zu 500 000 durch das Genom verstreute SNP zu erfassen. Solche genomweiten Analysen werden einerseits in klassischen Kopplungsanalysen, andererseits bei komplexen Erkrankungen wie der Atherosklerose im Rahmen von sehr großen Studien eingesetzt, um durch das gesamte Genom gestreute Assoziationen zu identifizieren. Ob es solchen Studien gelingen wird, tatsächlich häufige genetische Varianten zu identifizieren, die eine Verbesserung herkömmlicher Risikoalgorithmen erlauben, bleibt abzuwarten.
27
Weblinks
27.2.2 Kopplungsanalysen
● ●
Bei der Aufklärung klassischer monogenetischer Erkrankungen haben Kopplungsanalysen sich als zuverlässiges Werkzeug erwiesen. Bei solchen Untersuchungen wird in betroffenen Familien die Kopplung von genetischen Markern mit einer Erkrankung untersucht. Mithilfe genetischer Algorithmen lässt sich der Genort identifizieren, der für die Vererbung der Erkrankung verantwortlich ist. Diese Kartierung findet zunächst rein mathematisch ohne jegliches Wissen über das verantwortliche Gen statt. In der Genetik hat dieser Ansatz, der als „stellenbezogene Klonierung“ (engl. „positional cloning“) nach dem historischen ersten Erfolg bei der Identifizierung des Mukoviszidosegens im Jahre 1989 [5-7] bezeichnet wird, die ursächlichen Gendefekte bei mehreren Hundert monogenetischen Erkrankungen identifiziert.
●
Web1: Human Genome Project: www.sanger.ac.uk Web2: SNP-Konsortium, International HapMap Project: www.hapmap.org Web3: Medical Sequencing Pilot Project: www.genome.gov/17516031
27.2.4 Unterschiede in der Genkopienzahl: eine weitere Ebene der genetischen Variabilität Erst in den letzten zwei Jahren ist klar geworden, dass viele Gene nicht nur zweifach (eine Kopie auf dem mütterlichen, eine auf dem väterlichen Chromosom), sondern als in variabler Kopienzahl („Copy number variations“ = CNV), d. h. 3-, 4-, 5-fach oder in noch größerer Anzahl
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Gen-Chip-Technologie
I II III
IV V VI VII
vorkommen [10, 11]. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 12 % des menschlichen Genoms aus Regionen mit solchen variablen Kopienzahlen („CNV-Regionen“) besteht. Nach heutigem Wissen befinden sich etwa 16 % aller bekannten Krankheitsgene in solchen CNV-Regionen. Dazu gehören seltene Erkrankungen wie das DiGeorge-, das Angelman-, das Williams-Beuren- sowie das Prader-Willi-Syndrom, aber auch Gene, welche die Anfälligkeit für häufige Erkrankungen wie Schizophrenie, Katarakte, spinale Muskelatrophie oder die Atherosklerose beeinflussen [11]. Derzeit ist unklar, zu welchem Anteil die phänotypische Variabilität der Menschheit auf Einzelnukleotidpolymorphismen (SNP) und andererseits auf eine Variabilität in der Genkopienzahl (CNV) zurückzuführen ist. Letzterer Anteil dürfte jedoch nicht unerheblich sein, eine wichtige Erkenntnis in Anbetracht der Tatsache, dass bisherige Fahndungen nach der genetischen Ursache häufiger Erkrankungen CNV so gut wie nicht berücksichtigt haben.
27.2.5 Epigenetik: Das Genom ist nicht alles Der Phänotyp eines Organismus wird natürlich vom Genom bestimmt: Es können allerdings nur die Gene zur Expression kommen, die vorhanden sind. Ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Höhe ein Gen exprimiert wird, hängt jedoch von vielen Faktoren ab. Dieser Mechanismus, der die Brücke zwischen Genotyp und Phänotyp darstellt, wird als Epigenetik bezeichnet. Sie verändert die Auswirkung eines Genlocus oder eines Chromosoms, ohne die zugrunde liegende Gensequenz zu verändern. So teilen sich beispielsweise Schmetterling und Raupe ein Genom, weisen jedoch radikal unterschiedliche Phänotypen auf. Auch die Zelldifferenzierung kann als epigenetisches Phänomen betrachtet werden. Epigenetische Modifikationen des Genoms fallen in zwei große Kategorien: DNA-Methylierung und Modifikationen der Histon-Proteine [12]. Bei Menschen findet die DNA-Methylierung fast ausschließlich im Kontext von Cytosin-phosphatidyl-Guanosin- (CpG-) Dinukleotiden statt. Diese Nukleotide kommen vermehrt in sog. CpGInseln vor, die etwa 0,7 % des Genoms ausmachen, aber 7,0 % aller CpG-Dinukleotide beinhalten. Außerhalb dieser Inseln sind CpG-Dinukleotide größtenteils methyliert, innerhalb von CpG-Inseln dagegen oft nicht. Etwa 60 % aller Genpromotoren sind mit CpG-Inseln assoziiert. Man geht davon aus, dass die Methylierung des Cytosins die Bindung von regulatorischen Proteinen und somit bspw. die Expression eines Gens verhindern kann. DNA-Methylierung spielt bei der gewebsspezifischen Genexpression, der Zelldifferenzierung, beim genomischen „Imprinting“ (genomische Prägung – ein von den Mendel-Regeln unabhängiges Vererbungsprinzip mit Modifikation während der Keimzellentwicklung), bei der Inaktivierung des XChromosoms, bei Krebsentstehung sowie beim Alterungsprozess eine Rolle. Histone werden auch durch Me-
270
thylierung, aber hauptsächlich durch Acetylierung modifiziert. Solche modifizierten Histone finden sich an Stellen, an denen die Gentranskription initiiert wird, sowie an regulatorischen Regionen. Beide epigenetischen Modifikationen können vererbt werden und haben insgesamt die Fähigkeit, Gene zu deaktivieren oder in einigen Fällen auch zu aktivieren. Durch solche epigenetischen Modifikationen werden vorteilhafte Phänotypen in der Vererbung stabilisiert. Untersuchungen an Bakterien und anderen Organismen haben nämlich gezeigt, dass einige Phänotypen eine Stabilität von Generation zu Generation aufweisen, die um mehrere Größenordnungen die Stabilität übersteigt, die man aus klassischen genetischen Mutationsuntersuchungen erwarten würde, während andere Phänotypen eine nicht zu erwartende hohe Plastizität aufweisen [13]. Es wird sogar vermutet, dass die Plastizität des Genotyps durch epigenetische Modifikationen umweltbedingt in eine vorteilhafte Richtung kanalisiert werden kann („Neo-Lamarckismus“). Dies ist für die genetische Epidemiologie von Erkrankungen des Menschen von größter Bedeutung. In diesem Kontext konnten durch zwei Studien die Faktoren Nahrungsangebot und Rauchen als mögliche Risiken für die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Nachkommen identifiziert werden [13, 14]. Solche epigenetischen Modifikationen werden in den meisten Untersuchungen zur genetischen Epidemiologie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen überhaupt nicht erfasst.
27.3 Was ist ein Genchip? Genchips stellen ein Zusammenwirken der Biotechnologie und der Halbleitertechnik dar. Ihr Prinzip ist ganz einfach: Kurze Abschnitte von DNA werden endständig auf einen Chip aufgebracht, vergleichbar mit Borsten auf einer Bürste. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um die DNA-Moleküle auf einen Chip zu platzieren. Die amerikanische Firma Affymetrix verwendet dafür eine photolithografische Technik, die direkt aus der Computerindustrie stammt. Dabei wird durch UV-Licht die Oberfläche des Chips aktiviert und die DNA anschließend Baustein für Baustein an den aktivierten Stellen aufgebracht. Andere Unternehmen benutzen eine Methode, bei der die bereits fertigen DNA-Moleküle mit einer Art Tintenstrahldrucker auf den Chip aufgebracht („gespottet“) werden. Auch nasschemische Techniken, die aus der Offsettechnik der Druckindustrie abgeleitet wurden, werden eingesetzt.
27.3.1 Wie funktioniert ein Genchip? Die vier Bausteine der DNA, die Nukleotide Adenosin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymidin (T), haben die Eigenschaft, mit sich selbst in spezifischer Weise Bindun-
Was ist ein Genchip?
gen einzugehen, dabei bindet C immer an G und A immer an T. Eine Sequenz wie TATAGCCG würde demnach fest (und ausschließlich) an die dazu komplementäre Sequenz ATATCGGC binden. Die hohe Spezifität dieser Bindung, die man als Hybridisierung bezeichnet, bildet die Grundlage für das Funktionieren eines Genchips. Für den Einsatz von Genchips existieren zwei große Anwendungsbereiche: die Analyse der Genexpression und die Analyse genetischer Sequenzabfolgen.
Analyse der Genexpression mittels Genchip Um die Genexpression einer Zelle mittels Genchip zu ermitteln, wird zunächst die messenger-RNA (mRNA) aus der Zelle isoliert, vermehrt und in der Regel mittels eines Fluoreszenzfarbstoffs markiert. Die markierte mRNA hybridisiert man dann mit einem Genchip, der die Komplementärsequenzen zu den Genen enthält, die gemessen werden sollen. Die Analyse eines solchen Genchips ist nicht einfach und bedarf einer großen Rechenleistung. Dennoch ist es möglich, anhand der Stärke des Hybridisierungssignals zuverlässige Rückschlüsse über die Stärke der Expression einzelner Gene in der Zelle zu ziehen. Derzeit gehören derartige Genexpressionsanalysen weitestgehend in den Bereich der Forschung und sind für die Abschätzung des Atheroskleroserisikos nicht von praktischer Bedeutung.
Analyse der DNA-Sequenz mittels Genchip Auch die Bestimmung einer DNA-Sequenz oder die Feststellung einer Mutation in der DNA basiert auf dem Prinzip der DNA-Hybridisierung. Wenn sich im einfachsten Fall ein einziges falsches Nukleotid, bspw. statt des Nukleotids C ein G in einem Gen befindet, kann es bereits zur Krankheitsentstehung kommen, da durch die Mutation die Funktion der Proteine beeinträchtigt werden oder verloren gehen kann. Durch einen Genchip können eine solche Punktmutation oder SNP zuverlässig erfasst werden. In der Praxis geht man so vor, dass aus einer Blutprobe die DNA des Patienten isoliert und in kleine Bruchstücke zerlegt wird. Diese werden mit einem Farbstoff markiert und mit der DNA auf dem Chip hybridisiert. Da bekannt ist, wo sich die Komplementärsequenzen der mutierten DNA auf dem Chip befinden, wird durch eine Farbmarkierung in dieser Position auf dem Chip signalisiert, dass eine Mutation oder Polymorphismus bei dem Patienten vorliegt. Gleichzeitig enthält der Chip an einer anderen Stelle die entsprechende komplementäre Sequenz des intakten Gens („Wildtyp-Sequenz“). Gibt die DNA des Probanden an dieser Stelle ein Farbsignal, so liegt keine Mutation im betreffenden Genort vor. Das gleichzeitige Vorhandensein von mutierter (kranker) und intakter (gesunder) Sequenz auf dem Chip hat zwei große Vorteile: Zum
bindet
A T A T C G G C
T A T A G C C G
bindet nicht Normalsequenz (farbmarkiert)
Komplementärsequenz zur Normalsequenz
A T A T C G G C
T A T A C C C G
bindet mutierte Sequenz (farbmarkiert)
A T A T G G G C
T A T A C C C G
Komplementärsequenz zur mutierten Sequenz
Abb. 27.2 Schematischer Ausschnitt eines Genchips in hoher Auflösung mit Darstellung des Hybridisierungsprinzips. Die Komplementärsequenz zur normalen Gensequenz bindet die markierte normale DNA-Sequenz des Patienten (links), nicht aber die mutierte Sequenz (Mitte). Dafür bindet die Komplementärsequenz zur mutierten Sequenz an die mutierte Sequenz des Patienten (rechts), nicht aber die Normalsequenz (nicht abgebildet).
einen kann die Genauigkeit („Spezifität“) der DNA-Bindung an den Chip überprüft werden, zum anderen können Merkmalsträger, sog. Heterozygote, identifiziert werden. Bei ihnen findet sich ein Farbsignal sowohl an der Stelle der fehlerhaften oder mutierten Sequenz als auch an der Position der Wildtyp-Sequenz, da sie von beiden Sequenzen jeweils eine Kopie besitzen. Dieser Mechanismus wird in Abb. 27.2 schematisch dargestellt.
27.3.2 Vorteile der Genchip-Analytik Der Vorteil eines Genchips gegenüber anderen Detektionsmethoden liegt darin, dass es aufgrund der räumlichen Anordnung der Sonden sowie der Miniaturisierung möglich ist, eine Vielzahl an Sequenzen gleichzeitig abzufragen. So können bspw. derzeit wie oben bereits erwähnt 500 000 Polymorphismen oder die Expression von mehreren Tausend Genen in einem analytischen Schritt erfasst werden. Es existieren auch Techniken, Information über Genwiederholungen (CNV) mittels Genchip zu gewinnen. Darüber hinaus bieten Genchips den Vorteil einer hohen Automatisierbarkeit und sind – gemessen an der Menge an gelieferten Informationen – eine kostengünstige Analyseform.
27.3.3 Probleme bei der Genchip-Analyse des Atheroskleroserisikos Das Grundproblem bei Anwendung von Genchips in der Berechnung des Atheroskleroserisikos liegt nicht im technischen Verfahren selbst, das bereits heute reibungslos funktioniert. Vielmehr besteht die Schwierigkeit darin,
271
27
Gen-Chip-Technologie
I II III
IV V
dass wir derzeit zu wenig Information über die Bedeutung genetischer Marker, entweder einzeln oder erst recht in Kombination, für die Krankheitsprädisposition besitzen. Darüber hinaus ist es in den meisten Fällen unklar, ob solche genetische Marker Risikoinformationen, die über die konventionellen Risikofaktoren hinausgeht, zu liefern vermögen. Um diese Fragen zu klären, werden derzeit international große Forschungsanstrengungen unternommen.
27.3.4 Kriterien zur Verwendung von genetischen Markern zur Risikobestimmung in der Praxis Aufgrund der o. g. Schwierigkeiten hat es in letzter Zeit verschiedene Versuche gegeben, Kriterien zur Nutzbarkeit genetischer Risikofaktoren in der Praxis zu erarbeiten. Im Jahr 2004 ist von Humphries et al. ein Vorschlag publiziert worden, der in Fachkreisen auf Akzeptanz gestoßen ist [16]. Laut Humphries sind nur Marker in die Praxis einzuführen, deren Assoziation mit der Atherosklerose in mindestens zwei großen unabhängigen Kollektiven nach Berücksichtigung klassischer Risikofaktoren, oder in einer großen Metaanalyse bestätigt wurden.
VI VII
27.4 Bedeutung der genetischen Risikofaktoren bei der Abschätzung des Atheroskleroserisikos Aufgrund der Häufigkeit der Koronarsklerose sind die meisten Risiko-Scores auf diese Erkrankung zugeschnitten. Im Folgenden wird deshalb auf Verfahren zur Ermittlung des koronaren Risikos eingegangen. Erfahrungen aus der PROCAM-Studie und anderen Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es eine erhebliche Überlappung zwischen den Risikofaktorenprofilen für die Koronarsklerose und für andere atherosklerotische Erkrankungen (Schlaganfall, pAVK) gibt. Deshalb lässt sich die Vorgehensweise, die hier für die Koronarsklerose vorgeschlagen wird, mit etwas Verlust an Trennschärfe auch auf andere Ausprägungen der Atherosklerose übertragen. Bei der Quantifizierung des koronaren Risikos (Risiko für Myokardinfarkt oder plötzlichen Herztod) wird zwischen Personen mit niedrigem (d. h. 10-Jahres-Risiko < 10 %), mittlerem (10-Jahres-Risiko 10 – 20 %) und hohem Risiko (10-Jahres-Risiko > 20 %) differenziert. Dabei wird häufig übersehen, dass in jeder Risikogruppe etwa ⅓ aller Myokardinfarkte auftritt. Diese Problematik wird am Fall des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton ersichtlich, der laut Medienberichten allenfalls ein mäßig erhöhtes Koronarrisiko aufwies und dennoch notfallmäßig mittels Bypassoperation an den Herz-
272
kranzgefäßen versorgt werden musste. So stellt sich die Frage, wie bspw. bei Patienten mit mittlerem Herzinfarktrisiko die Vorhersage verbessert werden kann. Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Risikoprädiktion liegt in der Verwendung neuer Risikomarker, wie von der International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease vorgeschlagen wird (Tab. 3.2, 3.3, S. 41). Bei etwa ¾ aller männlichen und fast 90 % aller weiblichen Patienten, die ein 10-Jahres-Myokardinfarktrisiko unter 10 % haben, müssen keine weiteren Untersuchungen vorgenommen werden. Insbesondere bei den Patienten in der mittleren Risikogruppe kann es jedoch sinnvoll sein, die neuen Risikofaktoren zu bestimmen, um eine genauere Risikoeinteilung vorzunehmen. Diese neueren Risikofaktoren umfassen neben einer manifesten Atherosklerose, Lipoprotein (a), CRP sowie Homocystein auch genetische Faktoren (Tab. 27.1).
27.4.1 Genetische Polymorphismen und koronares Risiko Die Task Force hat die in Tab. 27.1 angegebene Liste an Genvarianten als mögliche Kandidaten zur Verbesserung der Risikoabschätzung vorgeschlagen. Derzeit existieren glaubhafte Berichte in der Literatur über Assoziationen zwischen Koronarsklerose und mindestens 150 genetischen Markern (meistens sog. SNPs) auf mindestens 80 Genen. Die Auswahl der Polymorphismen basiert auf den von Humphries et al. [16] vorgeschlagenen Kriterien. Obwohl einige Polymorphismen auf dieser Liste die im PROCAM-Algorithmus berücksichtigten Parameter beeinflussen, ist es unwahrscheinlich, dass ihre Assoziation mit der Koronarsklerose allein hierauf zurückzuführen ist. Einige der in Tab. 27.1 aufgelisteten ungünstigen Genvarianten (Allele) kommen sehr häufig vor, was die Frage aufwirft, ob deren Kombinationen nicht allein durch Zufall auftreten können und somit ohne Aussagekraft sind. Mathematische Simulationen haben jedoch ergeben, dass unter Berücksichtigung aller möglichen Kombinationen der zehn Polymorphismen die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass eine Person drei oder mehr ungünstige Allele aufweist, 28 % beträgt. Die Wahrscheinlichkeit einer Trägerschaft für mindestens vier ungünstige Allele liegt bei 16 %, hingegen die für mindestens fünf ungünstige Allele bei 6 %. Auf Grund dieser Berechnungen hat die Task Force eine pragmatische Entscheidung getroffen, bei der Verwendung dieser Polymorphismen in Zusammenhang mit dem PROCAM-Score einen Cut-Off bei mindestens vier ungünstigen Allelen zu setzen. Derzeit ist nicht bekannt, ob und wie diese Polymorphismen miteinander Wechselwirkungen bedingen. Es ist möglich, dass einige Kombinationen eine additive oder sogar eine superadditive Wirkung ausüben, während andere sich gegenseitig in ihrer Wirkung aufheben. Da jedoch die in Tab. 27.1 aufgelisteten Allele unterschiedliche metabolische Wege beeinflussen, gehen wir davon aus,
Bedeutung der genetischen Risikofaktoren bei der Abschätzung des Atheroskleroserisikos
Tabelle 27.1 Genpolymorphismen, die mit der Entwicklung einer Atherosklerose assoziert sind. Polymorphismus und Gen
Häufigkeit des seltenen Allels/Haplotypen in der Allgemeinbevölkerung
Relatives Atheroskleroserisiko bei Trägern des seltenen Allels/Haplotypen
G20 210A-Polymorphismus im Faktor II (Prothrombin)-Gen (FII) [17, 18]
0,02
1,3
Gly460Trp-Polymorphismus im α-Adducin-Gen (ADD 1) [19]
0,19
2,3*
Glu298Asp- (G894 T-) Polymorphismus im Gen für die endotheliale Stickstoffoxidsynthase (NOS 3) [20]
0,35
1,3***
Cys112Arg-, Arg158Cys-Polymorphismen im Apolipoprotein E-Gen(APOE) [21, 22]
112arg, 158arg (E4): 0,17; ε3/4: 0,24; ε4/4: 0,02
Vorhandensein eines ε4-Allels: 1,4
Leu33Pro-Polymorphismus im Gen für die β3 –Integrin-Untereinheit (Thrombozyten-Glykoprotein IIIa, ITGB3) [23, 24]
0,15
1,2
4G/5G-Polymorphismus im Gen für den Plasminogen-Aktivator-Inhibitor 1 (PAI1) [25, 26]
0,47
1,3
Val640Leu-Polymorphismus im Gen für P-Selektin (SELP) [27]
0,11
1,6**
C 582 T-Polymorphismus im Gen für Interleukin 4 (IL-4) [27]
0,17
1,4**
HapA-Haplotyp im Gen für das 5-Lipoxygenase-aktivierende Protein (ALOX5AP) [28]
0,10
1,8
C 677 T-Polymorphismus im Gen für Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR) [18, 29, 30]
0,35
1,2***
* bei Personen mit systolischem Blutdruck ≥ 140 mmHg und/oder diastolischem Blutdruck ≥ 95 mmHg, ** relatives Risiko für thromboembolischen Schlaganfall, *** erhöhtes Risiko nur bei Homozygotie
dass additive Interaktionen wahrscheinlicher sind als neutralisierende. Das Vorliegen von mehr als vier Allelen dieser Liste zusammen mit einem weiteren neuen Risikofaktor kann verwendet werden, um Patienten in der mittleren Risikogruppe in die Hochrisikogruppe einzustufen.
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Fachbegriff Pharmakogenetik
28 Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin L.S. Griffith
Das Wichtigste in Kürze 20 – 70 % der Patienten sprechen gar nicht oder nur unzureichend auf ihre medikamentöse Therapie an. ● Diese unterschiedliche Reaktion hat ihre Hauptursache in der genetischen Disposition der Menschen. Verantwortlich auf DNA-Ebene sind im Wesentlichen sog. SNPs (Punktmutationen), bei denen einzelne Nukleotide ausgetauscht wurden. Diese Punktmutationen können wie ein einfacher Bluttest bestimmt werden, und die Resultate behalten ein Leben lang ihre Gültigkeit. ● Schon heute können pharmakogenetische Tests z. B. von Laborarztpraxen oder Firmen, die sich auf die pharmakogenetische Diagnostik spezialisiert haben, durchgeführt werden. Pharmakogenetik kann einen wesentlichen Beitrag zur individualisierten Medizin liefern. Damit wird dem Arzt eine Möglichkeit gegeben, eine individuellere Therapie als bisher für seinen Patienten zu entwickeln, somit Nebenwirkungen zu verringern und die Wirksamkeit der Therapie zu steigern. ●
der Anwendung auszuwerten. Aber auch heute schon gibt es klinisch relevante Möglichkeiten, sich den Zusammenhang zwischen einer Änderung in einem Gen und den klinischen Parametern zunutze zu machen. Einige dieser Möglichkeiten werden im Folgenden besprochen. Trotz der Benutzung der Worte „menschliches Genom“ kann man nicht von einem Einheitsmenschen sprechen. Auf der Ebene der Gene sind Menschen besonders individuell – statistisch gesehen gibt es einen Unterschied unter 1000 Basenpaaren. Das würde z. B. bedeuten, dass bei den 3,2 Mill. Basenpaaren des menschlichen Genoms zwischen Ihnen, dem Leser, und mir, dem Verfasser, 3,2 Mio. Unterschiede im Genom vorkommen würden. Bei den meisten Polymorphismen handelt es sich auf DNAEbene um einen Austausch von einzelnen Nukleotiden, sog. SNPs (Punktmutationen). Es können aber auch Deletionen, Insertionen oder Duplikationen vorkommen. Manchmal fehlen große Genteile oder sogar gesamte Gene. Nur ein kleiner Teil dieser Änderungen liegt in kodierenden Genregionen, sodass die Abweichung in den meisten Fällen nicht als ein medizinisch sichtbarer Phänotyp gesehen wird.
28.1 Fachbegriff Pharmakogenetik Das Fachgebiet der Pharmakogenetik befasst sich mit den Erkenntnissen der Genetik, Biomedizin und Pharmakologie. Es untersucht die genetische Basis, die der Wirksamkeit, Verträglichkeit und Toxizität von Medikamenten für individuelle Patienten zugrunde liegt. Das Ziel der Pharmakogenetik beschreibt am besten der englische Satz von Prof. Dr. A. Marshall: „Getting the right drug into the right patient at the right dose“ [1], also: „Die richtige Arznei für den richtigen Patienten in der richtigen Dosierung“ zu finden.
28.1.1 Entstehung der Pharmakogenetik Mit der vollständigen Entschlüsselung der menschlichen DNA durch das Human Genome Project steht jetzt eine Fülle an medizinischer Information zur Verfügung, die in vielfältiger Weise nutzbar gemacht werden kann. Neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Genetik (Genotyp) und dem klinischen Syndrom (Phänotyp) werden fast täglich publiziert. Besonders gut erforscht ist der Einfluss von Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs) auf den klinischen Phänotyp. Wir stehen erst am Anfang, diese enorm große Menge an Daten und Möglichkeiten
28.1.2 Zentrale Fragestellung der Pharmakogenetik Eine der zentralen Fragen eines jeden Klinikers ist: „Warum wirken die Medikamente nicht?“. Hier kann die Pharmakogenetik eine bedeutende Rolle spielen. Im Gesamtpool von genetischen Variationen gibt es mehrere Hundert, wenn nicht Tausende von Genen, die in irgendeiner Weise auf die Wirkung und Verträglichkeit von Medikamenten Einfluss haben. Diese individuellen genetischen Unterschiede sind dafür verantwortlich, dass Patienten, bei denen dieselbe Krankheit diagnostiziert wird, und bei denen die gleichen Medikamente verabreicht werden, ganz unterschiedlich auf die gleiche Dosis des Medikaments ansprechen. Beim ersten Patient wirkt es wunderbar, beim Nächsten überhaupt nicht und beim dritten gibt es erhebliche Nebenwirkungen. Leider gibt es den diesbezüglich so ersehnten statistischen Durchschnittspatienten nicht. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass, abhängig von den Medikamenten, 20 – 70 % der Patienten [2] nicht oder unzureichend auf die Therapie ansprechen, außerdem haben einige Therapien schwere Nebenwirkungen. Bei Betablockern beträgt die Rate des therapeutischen Misserfolges bis zu 35 %, bei trizyklischen Antidepressiva bis zu 50 % und bei Interfe-
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Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin
ronen sprechen sogar 70 % der Patienten nicht auf die Therapie an. Hier ist die Hilfestellung der Pharmakogenetik besonders wünschenswert.
28.1.3 Aussagekraft der Pharmakogenetik
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Natürlich ist es nicht so, dass nur die Genetik für das Ansprechen auf ein Medikament verantwortlich ist. Alter, Geschlecht, Gewicht, Konstitution, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, Lebensstil und die Umwelt spielen ebenfalls eine Rolle. Aber die Genetik ist ausschlaggebend. Bei bis zu 10 % der deutschen Bevölkerung fehlen die Gene, die für die Aktivierung von Codein im Körper verantwortlich sind, damit es seine schmerzstillende Wirkung entfalten kann. Ob ein Patient nach seiner Operation Qualen leidet oder schmerzfrei durch sein Leben gehen kann, hängt allein von seiner Genetik ab – nicht von seinem Geschlecht, Gewicht oder von dem, was er am Vortag zum Abendessen gegessen hat. Der Vorteil der Genetik ist, dass genetische Faktoren durch einen einfachen Bluttest bestimmt werden können. Außerdem sind die Resultate ein Leben lang gültig. Die Umweltfaktoren, die schwer zu kontrollieren und schwer in eine Therapie einzubinden sind, können durch den Einsatz der Genetik relativiert werden. Ein pharmakogenetischer Test kann Aufschlüsse über den Grund geben, warum ein Patient nicht auf Medikamente anspricht, oder er kann zumindest einen oder mehrere genetische Faktoren ausschließen. Das gibt dem Therapeuten mehr Handlungsgrundlage in seiner Therapieplanung.
28.1.4 Pharmakokinetik Genotyp und Phänotyp sind unzertrennbar miteinander verbunden. Der Bauplan für alle Enzyme und Steuerungsprozesse in unserem Körper ist im Erbgut festgelegt. Die individuellen Unterschiede, die wir diskutiert haben, legen fest, ob ein Protein aktiv, vermindert aktiv, inaktiv oder nicht vorhanden ist. Das erklärt, warum bei gleicher Therapie der eine Patient wirkungsvoll behandelt werden kann und der andere unter Nebenwirkungen leidet. Die Wirkung eines Medikamentes hängt von zwei Prozessen ab: Die Pharmakokinetik ist verantwortlich für die Verweildauer eines Medikamentes im Körper. Sie befasst sich mit den ADME-Proteinen, deren Prozessen (Absorption, Distribution, Metabolismus, Exkretion) sowie deren Auswirkungen auf die Medikamente. Die Pharmakodynamik dagegen behandelt den Effekt eines Wirkstoffes bspw. auf Transporterkänale und Rezeptoren. Für pharmakokinetische Mechanismen wie die Verstoffwechselung von Medikamenten oder den Transport aus dem Körper sind bereits eine Reihe von Korrelationen zwischen dem Genotyp und dem klinischen Phänotyp wissenschaftlich bewiesen worden. Die meisten Medikamente (bis zu 95 %) müssen metabolisiert werden, bevor
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sie aus dem Körper ausgeschieden werden können. Dies vollzieht sich meistens in 2 Phasen: Im ersten Schritt werden verschiedene chemische Reaktionen wie Oxidation, Reduktion oder Hydrolyse an den Medikamenten vorgenommen, sodass ihre Löslichkeit geändert wird (sog. Phase-1-Reaktionen, v. a. durch Zytochrom-P-450System in der Leber). Im zweiten Schritt erfolgt durch die Phase-2-Enzyme ein Zusammenbau mit körpereigenen Gruppen wie Glutathion, das die Moleküle wasserlöslich macht, sodass sie dann bspw. über die Niere ausgeschieden werden können. Für den Arzneimittelmetabolismus haben sich die Zytochrom-P450-Genfamilien 1, 2 und 3 als sehr wichtig erwiesen. In diesen Familien wiederum stehen die Proteine 2D 6, 2C 9 und 2C 19 besonders im Vordergrund, da sie nicht nur insgesamt fast 65 % der heutigen Medikamente verstoffwechseln, sondern auch polymorph (d. h. Enzyme verschiedener Formen mit unterschiedlicher Aktivität) sind. Es kommen Genpolymorphismen vor, bei denen kein aktives Produkt produziert wird. Patienten, die diese SNPs haben, besitzen entweder einen sehr geringen oder gar keinen Metabolismus über diesen Enzymweg. Für Medikamente, die nur über dieses Enzym abgebaut werden, kann das zu drastisch erhöhten Plasmakonzentrationen und unerwarteten Nebenreaktionen unterschiedlichen Ausmaßes führen. Der Stoffwechsel kann von sehr langsam bis ultraschnell variieren [3, 4]. Störungen der komplexen Aktivierungs- oder Inaktivierungsmechanismen können gravierende Auswirkungen haben. Es kann zu einer Anreicherung des Wirkstoffs über das therapeutische Maß hinaus kommen oder es kann (bspw. bei einem Pro-Drug) zu einem ausbleibenden therapeutischen Effekt kommen, weil die nötige Konzentration nicht erreicht wird. Dazu kommt das Problem, dass viele der Abbauprodukte von Medikamenten auch biologisch aktiv sein können, was bedeutet, dass es bei einer Anreicherung der Metaboliten ebenfalls zu unerwarteten Nebenwirkungen kommen kann.
28.1.5 Metabolisierungstypen Aufgrund ihrer Genetik und Stoffwechselkapazität stuft man Patienten in vier große Gruppen ein [5, 6]. Ultraschnelle Metabolisierer (UM, rapid). Sie besitzen aufgrund einer Genmultiplikation des normalen Gens eine oder mehrere zusätzliche funktionsfähige Genkopien. Diese Patienten metabolisieren ihre Medikamente (die über dieses Gen abgebaut werden) viel schneller als erwartet. Der therapeutische Effekt bleibt oft aus, weil die notwendige Plasmakonzentration des Wirkstoffes nicht erreicht wird. Es kann aber auch geschehen, wie oben berichtet, dass der Patient bei fehlendem therapeutischen Erfolg zusätzlich noch unter Nebenwirkungen des Medikamentes leidet – aufgrund des erhöhten Metabolitenspiegels im Blut.
Nutzen der pharmakogenetischen Genotypisierung
Normaler Metabolisierer (EM, extensive). Sie besitzen meistens zwei aktive und funktionelle normale Kopien des Gens. Abhängig vom Genotyp können in seltenen Fällen auch Patienten nur eine funktionelle Genkopie besitzen, dabei aber einen normalen Metabolismus haben. Dieses Phänomen ist bei einigen der bekannten SNPs für den wichtigen Abbauweg durch Zytochrome P450 (2D 6) zu sehen. Diese Patienten reagieren wie zu erwarten auf ein Medikament. Intermediäre Metabolisierer (IM, intermediate). Sie haben häufig eine Kombination aus einem nichtfunktionellen und einem funktionellen Gen (wie z. B. bei den Allelen 2C 9 und 2C 19) oder eine Kombination aus einem nichtfunktionellen und einem teilfunktionellen Gen (wie z. B. bei einem Teil der bekannten 2D 6 SNPs). Diese Patienten besitzen einen verminderten Metabolismus der Wirkstoffe, die über das betroffene Enzym abgebaut werden sollen. Das bedeutet, dass bei vielen dieser Patienten, abhängig vom therapeutischen Fenster, die Medikamente leichte oder gar starke Nebenwirkungen zeigen, weil der Wirkstoff langsamer als erwartet abgebaut wird. Langsame Metabolisierer (PM, poor). Sie sind homozygote Träger von Mutationen und besitzen daher zwei nichtfunktionelle Gene. Diese Patienten metabolisieren Wirkstoffe, die über das jeweilige Enzym abgebaut werden sollen, entweder sehr viel langsamer als erwartet oder überhaupt nicht. Das bedeutet, dass diese Patienten sehr oft unter sehr starken Nebenwirkungen oder paradoxen Reaktionen auf ihre Medikamente leiden. Nicht nur die metabolisierenden Enzyme sind wichtig, auch Transportproteine und Rezeptoren zeigen bekannte SNP, die einen klinischen Phänotyp aufweisen. Das wohl bekannteste Transportprotein ist das P-Glykoprotein, das Produkt des MDR-1-Gens (multi-drug resistance gen). Dieser Transporter schafft sein Substrat aus den Zellen heraus und ist für die Resorptionseffizienz im Darm und die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Wirkstoffe von entscheidender Bedeutung. Eine einzige Mutation eines Basenpaares in diesem Gen (z. B. T zu C) kann zu einer verstärkten Verminderung der Aktivität des Enzyms führen, mit erheblichen Konsequenzen für die Arzneimitteltherapie. Wenn z. B. ein Patient mit dieser genetischen Mutation mit einem MDR-Substrat (bspw. einem Antidepressivum) behandelt wird, kann es dazu kommen, dass der therapeutische Effekt wegen des fehlenden Transportes durch die Blut-Hirn-Schranke ausbleibt. Trotzdem kann der Patient wegen der jetzt erhöhten Plasmakonzentration des Wirkstoffs unter Nebenwirkungen leiden. Gleiches gilt für das OATP (Organic anion transport protein), das für die Resorption vieler medizinischer Wirkstoffe aus dem Darm verantwortlich ist. Ist der Patient ein Träger eines besonderen SNP in diesem Gen, so besitzt er eine reduzierte Transportfähigkeit des resul-
Tabelle 28.1 Prozentualer Anteil kaukasischer Betroffener mit Punktmutationen (SNPs) in Genen, die für den Arzneimittelstoffwechsel wichtige Enzyme kodieren. Gen
metabolischer Status
Anteil (%) bei Kaukasiern
2D 6
langsam
5-10
2D 6
schnell
2-3
2D 6
intermediär
10-30
2C 9
langsam
3
2C 19
langsam
2-5
Tabelle 28.2 Arzneimittelmetabolismus über das ZytochromP450-System. Zytochrom-P450Enzym
Auswahl wichtiger Wirkstoffe
2D 6
Amitriptylin, Codein, Flecainid, Metoprolol, Paroxetin, Propafenon, Tramadol, Venlafaxin
2C 9
Celecoxib, Diclofenac, Glipizid, Ibuprofen, Losartan, Warfarin
2C 19
Citalopram, Diazepam, Omeprazol, Sertralin, Tolbutamid
tierenden Proteins und kann z. B. nur unzureichend Statine in das Blut transportieren. Der Patient wird immer noch an Dyslipoproteinämie leiden, obwohl er seine Medikamente regelmäßig nimmt. Es handelt sich nicht nur um eine kleine Gruppe von Personen, die derartige genetische Änderungen trägt. Bei den Zytochrom-P450-2D 6-Allelen *3, *4, *5, *6, *10 und *41, die bei Kaukasiern am häufigsten vorkommen, sind 10 – 30 % der Patienten zumindest intermediäre Metabolisierer. Die gleiche Zahl wird bei intermediären Metabolisierern für das wichtige Zytochrom-P450-2C 9 angenommen [7, 8]. Auch die sehr auffälligen Phänotypen der langsamen oder ultraschnellen Metabolisierer sind häufig zu finden (Tab. 28.1). Die Substrate dieser 3 Enzyme sind häufige Vertreter von Standardpharmakotherapien. Viele dieser Medikamente sind bekannt für ihre Nebenwirkungen (Tab. 28.2).
28.2 Nutzen der pharmakogenetischen Genotypisierung Pharmakogenetik ist nicht nur graue Theorie. Die Vorteile einer pharmakogenetischen Genotypisierung liegen auf der Hand: Mehr klinische Informationen erlauben eine schnellere, gezieltere, und erfolgreichere Therapie. Selbstverständlich wird Pharmakogenetik und ein vorher geleisteter Test nicht die Erfahrung und das Wissen des
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Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin
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Arztes überflüssig machen. Sie wird auch nicht allen Patienten helfen können, zumindest nicht auf der Stufe der Entwicklung, auf der wir uns momentan befinden. Sie gibt aber therapeutische Hilfestellung, die den Arzt befähigt, seine Patienten vielleicht besser, in jedem Fall aber individueller zu behandeln. Auch heute wird in vielen Fällen Pharmakogenetik als Regelwerk eingesetzt. Ein Vorreiter in der klinischen Nutzung der Pharmakogenetik ist GlaxoSmithKline (GSK). GSK hat für sein AIDS-Medikament Abacavir einen Verträglichkeitstest auf Basis der Pharmakogenetik entwickelt. Dieser Test findet die bis zu 5 % der HIV-Patienten, die überempfindlich auf das Medikament reagieren. Er sollte in naher Zukunft auf dem Markt sein. Schon jetzt erhältlich ist der bekannte HER2-Test. Er testet den Genstatus einer Brustkrebspatientin für den Rezeptor 2 des Human epidermal growth factor receptor 2 (HER2). Dieser Gentest ist an die Gabe des antikörperbasierten Medikaments Herceptin von Genelex (lizensiert durch Roche) gekoppelt, da Patienten mit einer HER2-Überexpression am meisten von einer Herceptin-Therapie profitieren. Immer mehr pharmakogenetische Informationen finden ihren Weg zum behandelnden Arzt. Inzwischen stehen in vielen Fachinformationen zu Präparaten Hinweise auf die pharmakogenetischen Eigenschaften des Medikaments. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist in der Fachinformation von Celecoxib (hier: Celebrex Hartkapseln, Stand Februar 2008) zu finden: „Patienten, die aufgrund des Genotypus oder vorausgegangener Anamnese/Erfahrung mit anderen CYP 2C 9-Substraten bekanntermaßen oder vermutlich schlechte CYP 2C 9-Metabolisierer sind, sollte Celecoxib mit Vorsicht verabreicht werden, da das Risiko dosisabhängiger Nebenwirkungen erhöht ist.“ Bedauerlicherweise geht dieser Hinweis insofern an der gängigen medizinischen Realität vorbei, als dem behandelnden Arzt der CYP-Genotyp seines Patienten meistens nicht bekannt ist. Früher konnte er ihn auch nicht routinemäßig bestimmen lassen. Heute kann der SNP-Status eines Gens entweder von verschiedenen Laborarztpraxen oder pharmakogenetisch spezialisierten Firmen bestimmt werden. Ohne solche Tests kann der behandelnde Arzt diese Gegenindikationen und Vermerke in der Fachinformation des Herstellers bei seiner Therapie nicht berücksichtigen. Damit wird er zwangsläufig seinem Anspruch und seiner Verpflichtung zur optimalen Betreuung seiner Patienten nicht gerecht. Die FDA sieht das ähnlich und hat 1997 in einem Papier, das sich „Guidance for Industry: In Vivo Drug Metabolism/Drug Interaction Studies“ nennt, folgenden Satz aufgenommen: „When a genetic polymorphism affects an important metabolic route of elimination, large dosing adjustments may be necessary to achieve the safe and effective use of the drug.“ Die Pharmakogenetik vieler täglich verschriebener Medikamente ist bekannt. Die Möglichkeiten, Testmethoden zu diesen Informationen an den Arzt kostengünstig und benutzerfreundlich zu lie-
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fern, sind vorhanden. Es gibt zu dieser Grundsatzdiskussion ethische Fragen, die gestellt werden müssen. Ist es vertretbar, dass Patienten wirkungslose, unverträgliche, schädliche oder im Extremfall sogar tödliche Medikamente verschrieben werden, wenn das Wissen und die medizinisch-diagnostischen Testmethoden vorhanden sind, um diese Risiken auszuschließen?
Kasuistik Kasuistik Statine sind Medikamente, die den Lipidstoffwechsel beeinflussen und daher als Cholesterinsenker eingesetzt werden, um bspw. Atherosklerose zu verhindern. Reichert sich das Medikament im Körper an, z. B. durch pharmakokinetische Interaktionen bei Patienten, die mehrere Medikamente erhalten, können die Nebenwirkungen beträchtlich sein. Das lipidsenkende Präparat Lipobay musste z. B. 2001 vom Markt genommen werden, da es zu mehr als 100 tödlich verlaufenden Fällen von Rhabdomyolyse kam. Statine werden hauptsächlich in der Leber über das Zytochrom-P450-System metabolisiert. Über die beteiligten Enzyme wird aber auch eine beträchtliche Zahl anderer Medikamente abgebaut. Außerdem wirken viele Medikamente induzierend oder inhibierend auf dieses Enzymsystem. Das Risiko für eine Interaktion mit Statinen ist also sehr hoch. Mit einem pharmakogenetischen Test können die enzymkodierenden Gene im Stoffwechselprozess des betroffenen Patienten analysiert und so die Medikamente optimal in ihrer Dosierung auf den jeweiligen Patienten eingestellt werden. Dadurch verringert sich das Risiko von unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen drastisch.
28.3 Wie kann Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin genutzt werden? Besonders in der Check-Up-Medizin, wo ein Patient sich freiwillig zur ausführlichen medizinischen Diagnose und Beratung gemeldet hat, ist die Pharmakogenetik ein wirkungsvoller Ansatzpunkt. Sie kann dem behandelnden Arzt Auskunft über mögliche Problembereiche der Zukunft geben und ihm sehr detaillierte Informationen zur Anamnese des Patienten liefern. Hat der Patient schon immer unter Bluthochdruck gelitten und sind seine Betablocker immer noch ineffektiv? Ist er vielleicht ein 2D6ultraschneller Metabolisierer, der nie einen therapeutischen Erfolg bei normaler Dosierung dieser Klasse von Antihypertensiva zeigen wird? Hat er bekannte Nebenwirkungen, die leider von mehreren seiner Medikamente kommen könnten? Die Pharmakogenetik kann helfen, die Möglichkeiten einzugrenzen und das Komplettbild, das der Patient von seinem Check-Up wünscht, vervollständigen. Auch wenn
Wie kann Pharmakogenetik in der Check-Up-Medizin genutzt werden?
es heute noch nicht möglich ist, eine komplett maßgeschneiderte Therapie auf Basis der Pharmakogenetik zu entwickeln, kann ein respektabler Teil der Medikation individueller gestaltet werden. Dann können Leidensdruck, persönliche Belastung und Gesundheitsschäden des Patienten verringert werden. Die Möglichkeiten der individualisierten Medizin machen es dem Gesundheitssystem leichter, dem Menschen seinen Wunsch nach Gesundheit und Lebensqualität ein Stück mehr zu erfüllen.
4. Mancinelli L, Cronin M, Sadee W. Pharmacogenomics: the promise of personalized medicine. AAPS PharmSci. 2000; 2:1-13.
Literatur
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1. Marshall A. Getting the right drug into the right patient. Nature Biotechnology. 1997;15:1249-52.
5. Sikka R, Magauran B, Ulrich A et al. Bench to bedside: pharmacogenomics, adverse drug interactions, and the cytochrome p450 system. Acad Emerg Med. 2005; 12:1227-35. 6. Cascorbi I. Pharmacogenetics of cytochrome p4502D 6: genetic background and clinical implication. Eur J Clin Invest. 2003;33:17-22 (Suppl 2). 7. Bhasker CR, Miners JO, Coulter S et al. Allelic and functional variability of cytochrome p4502c9. Pharmacogenetics 1997;7:51-8.
2. Phillips KA, Veenstra DL, Oren E et al. Potential role of pharmacogenomics in reducing adverse drug reactions. A systematic review. JAMA. 2001; 286:2270-9. 3. Ingelman-Sundberg M. Pharmacogenetics of cytochrome P450 and its applications in drug therapy: the past, present and future. Trends in Pharmacological Sciences. 2004; 25:193-200.
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279
Nutrigenomik
29 Nutrigenomik K. Riemann
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IV V VI VII
Das Wichtigste in Kürze Das Verständnis über das Zusammenspiel von Ernährung und molekularen Mechanismen beginnt erst zu entstehen. Dennoch lassen sich die wichtigsten Grundsätze folgendermaßen zusammenfassen: ● Die Nutrigenomik umfasst ein weitreichendes Gebiet von verschiedenen Forschungsansätzen, die den Einfluss der Ernährung auf genetische und epigenetische bis hin zu metabolischen Vorgängen untersucht. ● Genetische Polymorphismen können das individuelle Ansprechen auf Nahrungsmittelkomponenten beeinflussen. ● Die häufigste Nahrungsmittelunverträglichkeit ist die Laktoseintoleranz, die durch einen einfachen genetischen Test nachweisbar ist. Obwohl eindeutige präventive Maßnahmen auf Grundlage der bisherigen Erkenntnisse noch nicht möglich sind, besitzt dieses junge Forschungsgebiet jedoch das große Potenzial, zukünftig die Ernährungsgewohnheiten und -empfehlungen derart zu verändern, dass individuell für jeden Menschen eine optimale Ernährungsstrategie angepasst werden kann. Dieser Beitrag soll deshalb einen Überblick geben und aufzeigen, wie die bisherigen Erkenntnisse in mögliche präventive Maßnahmen übergehen können.
29.1 Definition Die Interaktionen zwischen Ernährung und Erbinformation werden unter dem Konzept der Nutritional Genomics zusammengefasst. Unter diesem Oberbegriff haben sich zwei Disziplinen herausgebildet, die das Potenzial besit-
zen, das Ernährungsverhalten vieler Menschen zukünftig stark zu beeinflussen. Zum einen konzentriert sich die Nutrigenomik auf die Auswirkung von Nahrungsmitteln auf das Genom und versucht den jeweiligen Phänotyp mit genetischen oder zellulären Aspekten des Menschen zu verbinden. Auf der anderen Seite beschäftigt sich die Nutrigenetik mit den Auswirkungen genetischer Variationen auf den Zusammenhang zwischen Ernährung und bestimmten Erkrankungen (Abb. 29.1). Für diese noch jungen Forschungsgebiete werden Erkenntnisse aus der Genom- und der Ernährungsforschung, der Pflanzenbiotechnologie, der Medizin und der Bioinformatik miteinander verknüpft.
29.2 Nutrigenomik Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms liefert eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Einfluss der Ernährung auf unsere Gene zu untersuchen. Während eine zu hohe Kalorienaufnahme generell mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Erkrankungen, beginnend mit Übergewicht/Adipositas über Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen bis hin zu Krebs, verbunden ist, können sich verschiedene bioaktive Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln auch protektiv gegenüber gewissen Krankheiten auswirken. Zu diesen Komponenten gehören u. a. Kalzium, Selen, Zink, die Vitamine C, D und E sowie Karotinoide, Flavonoide oder mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Diese bioaktiven Substanzen sind nicht nur in der Lage, die Expression bestimmter Gene zu modifizieren, sie können auch nachfolgende physiologische Prozesse positiv beeinflussen. Durch die Identifizierung dieser Sub-
Abb. 29.1 Die komplexe Interaktion zwischen Ernährung und Genom.
Nutrigenomik
Epigenetik Transkription Translation Ernährung
Gene
Metabolismus Polymorphismen
Nutrigenetik
280
Nutrigenomik
stanzen und der Aufklärung ihrer Wirkungsweise auf biologische Prozesse, besteht die Möglichkeit, die Zusammensetzung der Ernährung zielgerichtet zur Prävention vieler Erkrankungen abzuwandeln.
29.2.1 Nutriepigenomik Epigenetische Prozesse sind wichtige Regulatoren der Genexpression durch distinkte Methylierungsmuster der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Eine Hypermethylierung von Genpromotoren ist mit einer geringeren bzw. keiner Transkription des Gens verbunden. Dieser Mechanismus ist v. a. in Krebszellen genauso häufig und wichtig wie die klassischen Mutationen. Nahrungsstoffe wie Folsäure, die Vitamine B12 und B6 oder Methionin sind in der Lage, Methylgruppen bereitzustellen und dadurch das Methylierungsmuster der DNS zu verändern. Am Tiermodell wurde diese Art der Nahrungs-Gen-Interaktion bereits erfolgreich nachgewiesen und zeigte erstaunliche Veränderungen im Phänotyp. Allerdings ist bisher noch nicht wirklich geklärt, in welcher Kombination, Dosierung und über welchen Zeitraum eine solche Nahrungsergänzung erfolgen sollte. Da epigenetische Ereignisse aber reversibel sind, stellen sie einen vielversprechenden Ansatz dar, durch einen Umweltfaktor wie Ernährung biologische Prozesse und damit auch einige Krankheitsbilder zu beeinflussen [1].
29.2.2 Nutritranskriptomik Ein weiterer wichtiger Regulator der Genexpression ist die Transkriptionsrate, die beschreibt, wie stark ein Gen abgelesen wird. Die Transkriptionsrate kann durch verschiedene bioaktive Nahrungsstoffe beeinflusst werden. Die moderne Technik ermöglicht es, sog. Expressionsprofile zu erstellen, die gleichzeitig die Transkription Zehntausender Gene vor und nach der Aufnahme unterschiedlicher Nahrungsstoffe bestimmen. Auf diese Weise können drei Ansatzpunkte verfolgt werden [2]: ● Hinweise auf Mechanismen werden erhalten, die zu vor- und nachteiligen Wirkungen bestimmter Nahrungskomponenten führen. ● Wichtige Gene können identifiziert werden, die eine veränderte Transkription durch bestimmte Nahrungskomponenten zeigen. ● Hinweise auf Mechanismen werden erhalten, die direkt durch bestimmte Nahrungskomponenten beeinflusst werden. Ein Beispiel für eine solche bioaktive Nahrungskomponente ist Selen. Es konnten mehrere tausend Gene im Tierexperiment identifiziert werden, die durch Selen beeinflusst werden. Auch mehrfach ungesättigte Fettsäuren modifizieren die Expression einer Vielzahl von Genen, wodurch viele essenzielle physiologische Vorgänge beein-
flusst werden. Somit beginnt ein Verständnis dafür zu entstehen, auf welche Weise die Zufuhr dieser Fettsäuren zu positiven Effekten wie einer verstärkten Immunabwehr oder zu einem geringeren Risiko für chronische und degenerative Erkrankungen führen [3]. Jedoch benötigt man noch etliche weitere große Studien, um zu erfassen, warum so viele Gene gleichzeitig durch einzelne Nahrungsbestandteile angesprochen werden und wie diese Ergebnisse am besten zu interpretieren sind.
29.2.3 Weiterführende Interaktionen von Nahrungskomponenten Zu den oben bereits genannten haben sich zwei weitere Forschungsgebiete herausgebildet, welche die Auswirkungen von Nahrungsbestandteilen untersuchen. Die Nutriproteomik beschäftigt sich mit den Effekten der Nahrung auf Proteinebene. Im Gegensatz zum Genom ist das Proteom dynamisch – je nach Zelltyp und Aktivierungsgrad der Zelle verschieden. Zudem kann die Transkriptionsrate nicht immer auf die Proteinebene übertragen werden. Außerdem unterziehen sich Proteine einer Reihe posttranslationaler Modifikationen, die auch die biologische Aktivität verändern können. Bisher gibt es relativ wenige Studien, die sich mit der Beziehung von Nahrungskomponenten und Proteinen beschäftigen. Hier bleibt es vor allem abzuwarten, inwieweit methodische Neuerungen es ermöglichen, Hochdurchsatztechniken bereitzustellen, die die Suche nach solchen bioaktiven Nahrungsbestandteilen unterstützen [4]. Einen Schritt weiter geht die Nutrimetabolomik. Dieses Gebiet befasst sich mit der Erforschung des Einflusses von Nahrungskomponenten auf den gesamten Metabolismus des Menschen. Der Nachweis von Metaboliten wie Cholesterol und Glukose im Blut oder Urin gehört mittlerweile zur Routine. Nun wird aber versucht, so viele Metaboliten einer jeweiligen Diät wie möglich zu charakterisieren und quantifizieren, um metabolische Muster zu identifizieren, die als Biomarker prädiktiv einsetzbar sein könnten. Durch die hier zu erwartenden Erkenntnisse könnte besser beurteilt werden, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen eine Ernährungsumstellung tatsächlich adäquat ist und die Gesundheit unterstützt [4].
Weblinks ● ● ●
Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.: www.dge.de Netzwerk Nutrigenomforschung Berlin-Brandenburg: www.nutrigenomik.de The European Nutrigenomics Organisation: www.nugo. org
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29
Nutrigenomik
29.3 Nutrigenetik
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Während die Gebiete der Nutrigenomik, -proteomik und -metabolomik noch in den Kinderschuhen stecken, handelt es sich bei der Nutrigenetik um einen bereits etablierteren Bereich. Genetische Polymorphismen sind zu einem großen Teil verantwortlich für das unterschiedliche Ansprechen einzelner Individuen auf verschiedene Komponenten von Nahrungsmitteln. Punktmutationen (Single Nucleotide Polymorphisms = SNPs) gewinnen zunehmend an Bedeutung in der Ernährungsforschung. Sie kommen überall im Genom vor und treten mit einer Häufigkeit von mindestens 1 % in der Normalbevölkerung auf. Auch Gene, die am Metabolismus von verschiedenen Nahrungsstoffen beteiligt sind, können SNPs enthalten. Als ein Beispiel dafür soll hier ein SNP im Gen für die Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR) dienen. An Position 677 des MTHFR-Gens kann es zu einem Austausch von einem Cytosin (C) zu einem Thymidin (T) kommen (C 677 T). Dieser Basenaustausch resultiert in einem weniger aktiven Enzym MTHFR, wodurch es zu einer geringeren Umwandlung von 5,10-Methylentetrahydrofolat zu 5-Methylentetrahydrofolat (der im Plasma zirkulierenden Form von Folsäure) kommt. Somit besitzen Menschen, die diesen Polymorphismus aufweisen, einen erhöhten Bedarf an Folsäure in ihrer Ernährung. Dieser SNP in Kombination mit der Folsäureaufnahme wurde zudem mit dem Risiko assoziiert, an kolorektalem Krebs zu erkranken. Menschen mit dem TT-Genotyp ohne eine Anpassung an ihren erhöhten Folsäurebedarf, besitzen ein erhöhtes Risiko, an kolorektalem Krebs zu erkranken. Wird dagegen vermehrt Folsäure aufgenommen, ist das Erkrankungsrisiko wesentlich geringer. Mit
dem CC- oder CT-Genotyp konnte eine solche Assoziation nicht hergestellt werden. Daher kann durch die Bestimmung des MTHFR-Genotyps eine Subpopulation identifiziert werden, die tatsächlich von einer erhöhten Folsäurezufuhr über die Nahrung profitieren kann [5]. In den letzten Jahren wurde ebenfalls gezeigt, dass die individuelle Veranlagung an koronarer Herzkrankheit (KHK) zu leiden, abhängig von verschiedenen Polymorphismen sein kann. Ein besonders interessanter Zusammenhang soll dafür als Beispiel dienen. Das HDL (High density lipoprotein) spielt eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung von KHK, da es Cholesterol von den peripheren Geweben zur Leber transportiert, um ausgeschieden zu werden. Apolipoprotein A1 (APOA1) ist ein Hauptbestandteil von HDL. Im Promotor des Gens für APOA1 wurde ein SNP identifiziert, der an Position -75 zu einem Austausch von Guanin (G) zu Adenin (A) führt (-75G>A) und bei Frauen zu einem unterschiedlichen Ansprechen auf mehrfach ungesättigte Fettsäuren beiträgt. A-Allel-Trägerinnen wiesen einen Anstieg von HDL nach einer gesteigerten Aufnahme von mehrfach ungesättigten Fettsäuren auf, G-Allel-Trägerinnen dagegen zeigten höhere HDL-Konzentrationen nur, wenn sie weniger mehrfach ungesättigte Fettsäuren aufnahmen [6]. Dies macht deutlich, dass es weitaus komplexere Interaktionen zwischen Nahrungsbestandteilen und genetischen Polymorphismen geben kann, die z. B. auch das Geschlecht mit einbeziehen. Einige weitere SNPs, die das Ansprechen auf bestimmte Nahrungsmittel beeinflussen, sind in Tab. 29.1 aufgeführt. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Assoziationsstudien auf diesem Gebiet, die v. a. in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Allerdings muss man auch eingestehen, dass viele nutrigenetische Studien an klei-
Tabelle 29.1 Beispiele für Polymorphismen, die mit Nahrungskomponenten interagieren und zu unterschiedlichen Erkrankungsrisiken führen [7, 8]. Gen
Polymorphismus
Nahrungskomponente
Auswirkung auf
MTHFR
C 677 T
Folsäure
Risiko für kolorektalen Krebs, Brustkrebs
APOA1
-75G>A
mehrfach ungesättigte Fettsäuren
HDL-Konzentration bei Frauen
VDR
FokI
Vitamin D, Kalzium
Risiko für kolorektalen Krebs
LIPC
-514C>T
tierische Fette
HDL-Konzentration
PPAR-γ2
Pro12Ala
mehrfach ungesättigte/gesättigte Fettsäuren
Insulinresistenz, Risiko für Myokardinfarkt
IFABP
Ala54Thr
Fettsäuren
Insulinsensitivität
LPL
T495G
reduzierte Kalorien
HDL-Konzentration, Triglyzeridkonzentration
GPX
Leu198Pro
Selen
Risiko für Lungenkrebs, Brustkrebs
ABCA1
Arg219Lys
Fettsäuren
HDL-Konzentration, Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Insulinresistenz
MTHFR = Methylentetrahydrofolatreduktase, APOA1 = Apolipoprotein A1, VDR = Vitamin-D-Rezeptor, LIPC = hepatische Lipase, PPAR-γ2 = Peroxisome proliferator-activated receptor γ2, IFABP = intestinales fettsäurebindendes Protein, LPL = Lipoproteinlipase, GPX = Glutathionperoxidase, ABCA1 = ATP-bindende Kassette A1
282
Zukunftsperspektiven
Tabelle 29.2 Nahrungsmittelintoleranzen durch Enzymopathien und deren genetische Ursachen. Die aufgeführten Polymorphismen stellen nur Beispiele dar, da z. T. sehr viele funktionelle Polymorphismen beschrieben sind [9 – 13]. Nahrungskomponente
Enzym
Polymorphismus
Laktose
Laktase
-13 910 T>C
Fruktose
Aldolase B
Ala149Pro
Galaktose
Galaktosetransferase
Gln188Arg, Ser135Leu, Asn314Asp
Saccharose
Saccharase
Gln1098Pro
Histamin
Diaminooxidase
?
nen Probandenzahlen durchgeführt worden sind und oft durch nachfolgende Studien nicht bestätigt worden sind. Hier bleibt es abzuwarten, ob neue technische Entwicklungen zu einer höheren Konsistenz führen werden oder ob nicht evtl. allgemeingültige Standards für solche Untersuchungen eingeführt werden sollten.
29.3.1 Nahrungsmittelunverträglichkeiten Die sicherlich am besten standardisierten Tests in der Nutrigenetik beziehen sich auf Nahrungsmittelintoleranzen. Dabei handelt es sich um nichttoxische und nichtimmunologisch bedingte Unverträglichkeiten gegenüber bestimmten Nahrungskomponenten. Ein Grund dafür ist eine ungenügende Verdauung dieses Nahrungsstoffes durch eine fehlende oder verminderte Enzymproduktion (Enzymopathie). Zu einem großen Teil sind genetische Defekte Auslöser dieses Enzymmangels. Verschiedene Nahrungsmittelintoleranzen sind in Tab. 29.2 aufgeführt. Die bei Weitem häufigste Nahrungsmittelunverträglichkeit ist die Laktoseintoleranz. Der mit der Nahrung aufgenommene Milchzucker (Laktose) aus Milch und Milchprodukten kann aufgrund eines Fehlens oder der verminderten Aktivität des Enzyms Laktase nicht im Dünndarm verarbeitet werden. Die Laktose wird im Dickdarm fermentiert und führt zu gastrointestinalen Problemen. Die Identifizierung eines SNP (-13 910 T>C) in der Nähe des Laktasegens, der mit der Laktoseintoleranz assoziiert ist [9], führte zu der Möglichkeit, eine solche Intoleranz schnell und kostengünstig zu diagnostizieren. Allerdings wird dieser Test nicht präventiv, sondern meistens erst durchgeführt, wenn bereits ein Verdacht durch entsprechende Symptome vorliegt. Jedoch gibt es bereits eine Reihe laktosereduzierter oder -freier Milchprodukte im Handel, die für den vorhandenen Bedarf entwickelt worden sind.
29.4 Zukunftsperspektiven Wie deutlich dargestellt worden ist, befindet sich das Gebiet der Nutritional Genomics noch in seinen Anfängen. Etliche Initiativen sind gestartet worden, die sich im Aufbau oder der Phase der Etablierung befinden. Zudem sollte man bedenken, dass sicherlich noch bei Weitem nicht alle Bestandteile unserer Nahrung charakterisiert worden sind. Dennoch existieren bereits jetzt interessante Ansätze, die v. a. von der Nutrigenetik ausgehen. Somit kann man durchaus einen optimistischen Blick in Richtung Zukunft werfen. Die individuelle genetische Ausstattung jedes Menschen kann bestimmen, welche Nahrungsmittel sich am positivsten auf seine Gesundheit auswirken. Die Entwicklung neuer Nahrungsmittel, sog. Nutraceuticals, die aus den Ergebnissen der nutrigenetischen Forschung hervorgehen können, würde dazu einen großen Beitrag leisten. Somit ist es vorstellbar, zukünftig von einer personalisierten Ernährung zu sprechen, die abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen vor vielen Erkrankungen vorbeugen kann. Dies hätte dann auch Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem, das enorme Kosten dadurch einsparen würde, besonders bei chronischen Erkrankungen.
Literatur 1. Davis CD, Hord NG. Nutritional “omics” technologies for elucidating the role(s) of bioactive food components in colon cancer prevention. J Nutr. 2005; 135:2694-7. 2. Milner JA. Incorporating basic nutrition science into health interventions for cancer prevention. J Nutr. 2003; 133:3820-6. 3. Ruxton CH, Reed SC, Simpson MJ et al. The health benefits of omega-3 polyunsaturated fatty acids: a review of the evidence. J Hum Nutr Diet. 2004; 17:449-59. 4. Davis CD, Milner J. Frontiers in nutrigenomics, proteomics, metabolomics and cancer prevention. Mut Res. 2004; 551:51-64. 5. Margate T, Tsuji E, Kiyohara C et al. Relation of plasma folate and methyltetrahydrofolate reductase C 677 T polymorphism to colorectal adenomas. Int J Epidemiol. 2003; 32:64-6.
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29
Nutrigenomik
6. Ordovas JM, Corella D, Cupples LA et al. Polyunsaturated fatty acids modulate the effects of the APOA1 G-A polymorphism on HDL-cholesterol concentrations in a sexspecific manner: the Framingham Study. Am J Clin Nutr. 2002; 75:38-46. 7. Ordovas JM, Mooser V. Nutrigenomics and nutrigenetics. Curr Opin Lipidol. 2004; 15:101-8.
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8. Mutch DM, Wahli W, Williamson G. Nutrigenomics and nutrigenetics: the emerging faces of nutrition. FASEB J. 2005; 19:1602-16. 9. Lewinsky RH, Jensen TGK, Moller J et al. T-13 910 DNA variant associated with lactase persistence interacts with Oct-1 and stimulates lactase promoter activity in vitro. Hum Mol Genet. 2005; 14:3945-53.
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IV V VI VII
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10. Santer R, Rischewski J, von Weihe M et al. The spectrum of aldolase B (ALDOB) mutations and the prevalence of hereditary fructose intolerance in Central Europe. Hum Mut. 2005; 25:594. 11. Bosch AM. Classical galactosaemia revisited. J Inherit Metab Dis. 2006; 29:516-25. 12. Ouwendijk J, Moolenaar CEC, Peters WJ et al. Congenital sucrase-isomaltase deficiency. J Clin Invest. 1996; 97:63341. 13. Maintz L, Novak N. Histamine and histamine intolerance. Am J Clin Nutr. 2007; 85:1185-96.
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Komplementäre Medizin
Ayurveda
30 Ayurveda E. Stapelfeldt
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Das Wichtigste in Kürze Der Ayurveda ist ein holistisches (ganzheitliches) Naturheilkundesystem. In einer über 2000 Jahre währenden Tradition in Südasien hat er eine Fülle von empirischem Heilwissen hervorgebracht. Ayurveda fußt auf eigenen Konzepten der Physiologie und Pathophysiologie (besonders auf der Dosha-Lehre). Sein psychosomatischer Grundansatz ist stark individuumsbezogen. Das diagnostische Instrumentarium des Ayurveda ermöglicht die Früherkennung von pathogenetischen Disharmonien. Umfangreiche Empfehlungen für Ernährung, Lebensstil und psychische Harmonisierung bilden die Grundlage für die ayurvedische Prävention. Als therapeutische Verfahren werden vor allem Phytotherapie, Manualtherapie und Ausleitungsverfahren praktiziert. In Mitteleuropa befindet sich der Ayurveda in der Pionierphase. Besonders bei chronischen Erkrankungen und funktionellen Störungen mit psychischer Komponente hat er sich hierzulande bewährt. Er stellt eine sinnvolle Ergänzung zur modernen Präventivmedizin dar.
komplexen Zusammenhänge mithilfe der sog. DoshaLehre erfasst, die Ähnlichkeiten mit der antiken Humoralpathologie oder „(Vier-)Säftelehre“ aufweist. Vorteile des Ayurveda als Präventivmedizin. Der holistische Ansatz des Ayurveda entspricht in hohem Maße den Forderungen einer modernen Präventivmedizin. Sein diagnostisches Instrumentarium ermöglicht die Erfassung von Disharmonien bereits in frühen Krankheitsphasen, zudem ist die ayurvedische Gesundheitslehre seit ihren Anfängen auf Vorbeugung ausgelegt. Mithilfe einer umfangreichen Palette von Empfehlungen für Ernährung, gesunden Lebensstil und psychische Harmonie ermöglicht er die eigenverantwortliche Steigerung von Lebensqualität und Salutogenese durch den Patienten selbst. Zudem erfüllt der Ayurveda die Erwartungen der Patienten in modernen Industrienationen: Er vermeidet Standardisierungen in Diagnose und Therapie, sondern bemüht sich mittels Konstitutionslehre und psychosomatischer Grundorientierung um die individuelle und ganzheitliche Betrachtung des Patienten.
Erfahrungswissen einer langen Tradition. Das holistisch ausgerichtete Naturheilsystem des Ayurveda ist von der WHO als traditionelle Medizin Indiens anerkannt. Bereits vor 2000 Jahren war das systematische Lehrgebäude des Ayurveda etabliert, und noch heute werden nach Angaben der WHO 65 % der indischen Landbevölkerung vorrangig durch Ayurveda gesundheitlich versorgt. Selbst wenn Evidenznachweise rar sind, die den modernen naturwissenschaftlichen Qualitätsansprüchen genügen, bietet der Ayurveda wertvolles empirisches Wissen, das im Umgang mit zahlreichen Patientengenerationen optimiert wurde (weiterführende Literatur u. a. [1, 2, 3]).
Therapieansätze und Indikationen. Therapeutisch bietet die Ayurvedamedizin weit mehr als die aus dem Wellnesssektor bekannten Ölmassagen. Mit ihrer breit gefächerten Therapiepalette stellt sie ein komplexes Naturheilkundesystem dar. Hervorzuheben sind Ernährungsund Ordnungstherapie, Phytotherapie, Ausleitungsverfahren und Manualtherapie sowie Techniken zur Entspannung und emotionalen Harmonisierung (s. a. Kap. 32). Die individuelle Kombination dieser vergleichsweise sanften Maßnahmen hat sich bei chronischen Erkrankungen und funktionellen Störungen mit psychischer Komponente bewährt. Dabei weisen sie vergleichsweise geringe Nebenwirkungen auf. In der Akut- und Intensivmedizin hingegen sind ayurvedische Verfahren meist nicht ausreichend und sollten dann eher ergänzend zu den schulmedizinischen eingesetzt werden, z. B. zur Reduktion von Nebenwirkungen und um Rezidiven vorzubeugen.
Paradigma. Aus dem Sanskrit übersetzt bedeutet Ayurveda „Wissen vom Leben“. Tatsächlich strebt der Ayurveda mehr als die physische Symptomfreiheit des Patienten an. Er bemüht sich im Sinne einer Naturphilosophie um die Harmonie von physiologischen, psychischen, sozialen und ökologischen Faktoren, welche aus Sicht des Ayurveda die Grundlage für natürliche Heilung aus eigener Kraft bilden. Die gestörte Harmonie stellt die Ursache für pathologische Prozesse dar. Konzeptionell werden diese
Ayurveda heute. Bislang befindet sich Ayurveda in Mitteleuropa in der Pionierphase. Die Qualitätssicherung von Ausbildung und Therapieverfahren hat erst begonnen. Auch Infrastrukturen für optimale Ayurvedatherapien sind lückenhaft. So ist der Bedarf an nachhaltiger Aufklärung über Ayurveda, Akzeptanz im Gesundheitssystem, gut ausgebildeten Ärzten und Therapeuten, Erhältlichkeit ayurvedischer Literatur und Medizinprodukte, voll ausgestatteten Therapieeinrichtungen und der Kostenübernah-
30.1 Einführung
286
Diagnostik
me durch Versicherungsträger noch nicht zufriedenstellend. Dennoch ist Ayurveda besonders im deutschsprachigen Raum ein dynamisch wachsender Bereich der Komplementärmedizin, der zunehmend ins Bewusstsein des öffentlichen Interesses rückt und aufgrund der Ergebnisse aus Pilotstudien förderungswürdig erscheint.
● ● ● ●
Verdauung und Stoffwechsel (Agni) Transportfunktionen (Srotas) Abfallprodukte, Toxine, Schlacken (Mala) pathologische Stoffwechselzwischenprodukte (Ama)
30.3 Diagnostik 30.2 Grundelemente der Physiologie und Pathophysiologie Die Dosha-Lehre [1, 4] ist das Herzstück des ayurvedischen Ansatzes. Die drei Doshas (Vata, Pitta und Kapha) werden als übergeordnete Steuerprinzipien wesentlicher physiologischer und pathologischer Prozesse des Körpers angesehen und beeinflussen bis zu einem gewissen Grad auch psychische Aspekte: ● Das kinetische Prinzip Vata (wörtlich „Wind“) reguliert sämtliche Transportprozesse im Körper. Vata-Erkrankungen manifestieren sich hauptsächlich als schmerzhafte oder degenerative Erscheinungen in Bewegungsapparat und Nervensystem. ● Das thermale Prinzip Pitta (wörtlich „Galle“) steuert Verdauungs- und Stoffwechselprozesse und ist für den Wärmehaushalt zuständig. Typische Pitta-Symptome sind Entzündungen und Blutungen. ● Als synthetisierendes Prinzip sorgt Kapha (wörtlich „Schleim“) für anabole Prozesse. Pathologische KaphaZustände zeigen sich z. B. in Form von Übergewicht, Atemwegserkrankungen und Altersdiabetes. Klassisch werden die drei Doshas mithilfe von spezifischen Qualitäten beschrieben. Vata ist beweglich, trocken, leicht und kühl; Pitta heiß, sauer und penetrierend; Kapha schwer, fettig, kalt und träge. Anhand dieser Qualitäten werden innere Milieuverhältnisse und Symptome ayurvedisch klassifiziert. Pathologische Milieuverhältnisse werden als Dosha-Störungen bezeichnet, aus denen sich die Symptomatologie entwickelt. Ähnlich wie aus den Grundfarben Blau, Rot und Gelb alle Farben entstehen, so lassen sich aus den drei Grund-Doshas durch unterschiedliche Mischungsverhältnisse unendlich viele Schattierungen von Milieuverhältnissen und Symptomaspekten ableiten. Das Dosha-Theorem wird nicht nur für die Klassifizierung von physiologischen und pathophysiologischen Prozessen im Körper genutzt, sondern auch zur Einteilung von Konstitutionstypen, Charakteren, Nahrungsund Heilmitteln, klimatischen Bedingungen, Lebensverhältnissen, Gefühlen usw. Dosha-Störungen lassen sich mithilfe von Maßnahmen entgegengesetzter Qualität ausgleichen. Die Doshas bilden den Dreh- und Angelpunkt für Diagnose und Therapie im Ayurveda. Doch daneben spielen im Ayurveda verschiedene andere physiologische und pathophysiologische Aspekte eine Rolle, wie z. B. [1, 4]: ● Gewebe (Dhatu)
Profil. In der Schulmedizin wird unter dem Begriff „Diagnose“ meist die Identifikation einer Krankheit nach ihrer Manifestation verstanden. Im Gegensatz hierzu sieht die ayurvedische Medizin die Diagnose als Momentaufnahme aller physiologisch und pathophysiologisch relevanten Faktoren. Es wird ermittelt, ob die jeweiligen Faktoren sich in einem harmonischen Funktionszustand befinden oder ob sie Unter-, Fehl- oder Überfunktionen aufweisen. Erst in einem zweiten Schritt werden spezifische Symptomkombinationen als bestimmte Krankheitsbilder identifiziert. Der Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit ist somit für den Ayurveda fließend. Die Art der Symptome wird meist durch die individuelle Konstitution des Patienten vorgezeichnet. Früherkennung. Die Diagnostik der ayurvedischen Medizin zielt darauf ab, Disharmonien zu erkennen, möglichst bevor sich diese als ausgereifte Symptome manifestieren. Somit sind die für die Schulmedizin schwer fassbaren frühen Krankheitsstadien im Ayurveda besonders interessant. Meist handelt es sich hierbei um Befindlichkeitsstörungen wie Abgeschlagenheit, tolerierbare Schmerzen oder undifferenzierte Verdauungsbeschwerden, auf die das moderne Diagnoseinstrumentarium noch nicht reagiert. Je nach Art der Disharmonie wählt der ayurvedische Arzt ausgleichende Therapiemaßnahmen aus, um den weiteren Verlauf aufzuhalten. Damit bietet die ayurvedische Früherkennung weniger ein Schema, bei dem konkrete diagnostische Parameter auf spezifische Krankheitsbilder hinweisen, sondern ermittelt vielmehr allgemeine Disharmonien, aus denen verschiedene Krankheitsbilder erwachsen können. Konstitution. Die Konstitutionsbestimmung [1, 4] stellt einen wesentlichen Teil der Diagnose dar. Auf der Grundlage des oder der in einer Persönlichkeit vorherrschenden Doshas teilt der Ayurveda die Menschheit in sog. Konstitutionstypen ein. Der Typus wird anhand von genetisch angelegten Merkmalen der Physis, Physiologie und Psyche bestimmt. Auch familiäre Dispositionen sind Teil der Konstitution. Die Kenntnis des konstitutionellen Typus liefert dem ayurvedischen Arzt wertvolle Informationen über individuelle Reaktionsweisen auf äußere und innere Einflüsse sowie über spezifische Symptome bzw. Erkrankungen, für die der Patient anfällig ist. Somit kann das Wissen um die Konstitution für eine individuelle Prophylaxe genutzt werden.
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Ayurveda
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Holistischer Ansatz. Eine ayurvedische Diagnose versucht stets, den Patienten bzgl. all seiner Seinsebenen und Lebenssphären zu erfassen. Neben einer Konstitutionsbestimmung werden Immunstatus, Beweglichkeit und Vitalität untersucht. Ferner spielen Verdauung und Ausscheidungsfunktionen, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten sowie Lebensrhythmen und geografische, soziale und berufliche Lebensumstände eine große Rolle. Klassische Methoden. Die ayurvedische Diagnostik beruht auf den geschulten Sinnen des Diagnostikers. Zusätzlich zu einer umfangreichen Anamnese wird ein aus acht Elementen bestehendes System von klinischen Untersuchungsmethoden [1, 4] angewendet: ● Anamnese ● Palpation ● Auskultation und Perkussion ● Stuhl ● Urin ● Puls ● Zunge ● Augen ● Antlitz, Hautbild, Gewebestrukturen und Körperbau Die Pulsdiagnostik wird von einigen Ärzten besonders hervorgehoben.
Weblinks
VII
In Indien: ● Gesundheitsministerium (AYUSH, CCIM): www.indianmedi-
cine.nic.in; www.ccimindia.org ● Universitäten: www.ayurveduniversity.com;
www.bhu.ac.in/ayurveda ● Forschung: www.ccras.nic.in ● Phytotherapie: www.nmpb.nic.in
Westlich:
30.4 Praxis der ayurvedischen Prävention „Ziel des Ayurveda ist, die Gesundheit des Gesunden zu fördern und die Krankheiten des Erkrankten zu beseitigen.“ (aus: Caraka-Samhita, ca. 1. Jh. v. Chr.) Prävention und Symptombehandlung sind gleichwertige Zielsetzungen des Ayurveda. Diese Bereiche lassen sich im ayurvedischen Denkmodell genauso wenig voneinander trennen wie die Berücksichtigung körperlicher und psychischer Aspekte. Auf dieser konzeptionellen Grundlage hat der Ayurveda umfangreiche Empfehlungen zum Zweck der Gesundheitserhaltung und -förderung hervorgebracht. Mit dem Anspruch als „Wissen vom Leben“ sollen diese Empfehlungen sämtliche Lebensbereiche harmonisieren und so einen Urgrund für die Entstehung von Gesundheit schaffen. Diese Harmonisierung geschieht einerseits durch die am Patienten durchgeführten Behandlungen. Andererseits liegt ein Großteil der Verantwortung beim Patienten selbst, indem er mittels der ayurvedischen Gesundheitslehre sein Leben umgestaltet.
30.4.1 Ursachenvermeidung Jede therapeutische Bemühung wird in ihrer Wirkung eingeschränkt, wenn krankmachende Verhaltensweisen beibehalten werden. Somit beginnt jede ayurvedische Behandlung mit Ursachenerforschung, Patientenaufklärung und Motivation zur Ursachenvermeidung [4]. Nach ayurvedischem Verständnis sind es hauptsächlich falsche Ernährungs-, Verhaltens- und Denkgewohnheiten, die den Urgrund für die Krankheitsentstehung bilden. Als gesundheitsfördernde Faktoren werden die drei sog. „Säulen des Lebens“ betont: Ernährung, Schlaf und Psychohygiene.
● Ausbildungen: www.ayurveda-akademie.org ● Kuren und Kliniken: www.ayurveda-akademie.org/
04_kuren/04_1.php; www.ayurveda-klinik.de; www.parkschloesschen.de ● Produkte: www.ayurveda-marktplatz.de ● Verband (Ärzte und Therapeuten mit Adressenliste):
www.ayurveda-verband.eu ● Verbraucherportal: www.ayurveda-portal.de ● Yoga: www.iayt.org; www.yoga.de ● Sonstige (jeweils Suchbegriff Ayurveda):
– – –
288
Forschung: www.medline.de; Komplementäre Medizin: www.cambase.de; World Health Organization: www.who.int;
30.4.2 Ernährung Der Ayurveda klassifiziert Nahrungsmittel nicht in Hinblick auf ihren Gehalt an einzelnen Nährstoffen, sondern hinsichtlich der Qualitäten der Nahrung (z. B. erwärmend, befeuchtend, schwer verdaulich) und wie diese nach Abschluss sämtlicher Stoffwechselprozesse das innere Milieu bzw. die Dosha-Verhältnisse verändern [1, 4]. Der Bedarf an Nahrungsmitteln richtet sich nicht nach Durchschnittswerten oder Laborparametern, sondern nach verschiedenen Faktoren, die individuell diagnostisch ermittelt werden müssen. Hauptfaktoren wären: Konstitution, Dosha-Verhältnisse, Symptome, psychische Disposition, Verdauungskapazität, Nähr- und Kräftezustand sowie Tages- und Jahreszeiten. Ferner bestimmt die Bemühung um gute Bioverfügbarkeit viele Empfehlungen der ayurvedischen Diätetik.
Praxis der ayurvedischen Prävention
Ausgewählte Ernährungsempfehlungen als Ergänzung zur modernen präventiven Diätetik sind: ● Drei Mahlzeiten: Eine optimale Mengenverteilung im Einklang mit Biorhythmen wird gewährleistet, wenn früh wenig, mittags die Hauptmahlzeit, abends leicht und nicht nach 19 Uhr gegessen wird. ● Regelmäßigkeit: Der Körper stellt sich auf jeweils zu den gleichen Zeitpunkten eingenommene Mahlzeiten besser ein und kann so die Nahrungsmittel gut verwerten. ● Zwischenmahlzeiten meiden und erst essen, wenn die vorangegangene Mahlzeit verdaut ist (nach ca. 4 – 5 Stunden). ● In Maßen: Das Fassungsvermögen des Magens sollte durch eine Mahlzeit nicht voll ausgeschöpft werden; generell fördert maßvolles Essen die Langlebigkeit. ● Leicht verdaulich, besonders abends: Schwer verdauliche Nahrungsmittel wie Käse, Eier, Fisch, Fleisch und fettige Nahrungsmittel benötigen einen hohen Energieaufwand für ihre Verdauung und beeinträchtigen die Transportprozesse im Körper; auch Joghurt und Salat/ Rohkost, besonders wenn sie abends genossen werden. Schwerverdauliche Nahrungsmittel fördern u. a. Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus. ● Warme Nahrung ist bekömmlich und verbessert die Bioverfügbarkeit; auch Frühstück (z. B. Getreidebrei mit Obst und Gewürzen), Abendessen (z. B. Suppen oder Reisgerichte mit Gemüse) und wichtige Getränke (v. a. Milch und Leitungswasser) sollten gekocht werden. ● Gewürze unterstützen die Verdauung; besonders Bitterstoffe sollten über diesen Weg zugeführt werden, z. B. Gelbwurz (Curcuma longa). ● Rein, reif und frisch: Nahrungsmittel aus Bioanbauverfahren und frisch selbst zubereitete Mahlzeiten. ● Wenig Säure: Das saure Milieu fördert eine Vielzahl von Erkrankungen, besonders Entzündungen; zu meiden wären z. B. Essig, Tomaten und saure Früchte. ● Wenig „trockene“ Nahrungsmittel wie Mais, Hirse und Blattgemüse; generell sollten Mahlzeiten mit guten Fetten (Olivenöl, Sesamöl, Ghii = Butterreinfett) und ausreichend Sud zubereitet werden. Trockenheit fördert degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates und des Nervensystems. ● Falsche Kombinationen meiden: Milch ist im Ayurveda ein sehr hochwertiges, aber „sensibles“ Nahrungsmittel und sollte stets aufgekocht, mit bestimmten Gewürzen angereichert (Safran, Kardamom, Ingwer, Zimt) und v. a. nicht mit sauren oder salzigen Nahrungsmitteln oder mit Bananen zur gleichen Mahlzeit kombiniert werden. Nicht nur Milchunverträglichkeiten lassen sich hierdurch minimieren, sondern nach klassischem Verständnis auch Hautkrankheiten. ● Langsam und mit Aufmerksamkeit essen: Die Verwertung der Nahrungsmittel und die Befriedigung durch die Mahlzeit werden dadurch gesteigert.
●
●
Gute Atmosphäre: Psychische Komponenten wirken sich nach ayurvedischer Erfahrung auf die Verdauung aus. Wenig Fleisch: Eine ausgewogene vegetarische Ernährung hat allgemein bekannte Vorteile. Selbst wenn klassische Ayurvedatexte diverse Fleischsorten in ihrer Wirkung beschreiben, so wird in der Praxis Fleisch nur bei reduziertem Nähr- oder Kräftezustand empfohlen. Nach ayurvedischem Dafürhalten fördert übermäßiger Fleischkonsum (mehr als ca. 1- bis 2mal pro Woche) u. a. die Bereitschaft zur Tumorbildung und belastet die Psyche. Huhn gilt als das bekömmlichste Fleisch.
30.4.3 Lebensstil Ein einseitiger oder belastender Lebensstil verursacht und fördert nach ayurvedischer Auffassung eine Vielzahl von Erkrankungen [1, 4]. Nach eingehender Analyse der individuellen Gewohnheiten und Lebensumstände wird daher eine Lebensstilberatung durchgeführt, die unter Berücksichtigung von Konstitution und Frühsymptomen sämtliche Lebensbereiche harmonisieren soll. Hierdurch wird nicht nur Krankheiten vorgebeugt, sondern es können darüber hinaus Lebensqualität und Leistungsfähigkeit gesteigert werden.
Gesundes Leben im Rhythmus der Natur ●
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Rhythmisches Leben: Ausgewogenheit und Regelmäßigkeit in Arbeit, Erholung, Ernährung, Schlaf und Bewegung unter Einhaltung natürlicher Biorhythmen bilden die Grundlage für physische, psychische und immunologische Kraft. Überanstrengung meiden: Angemessene Bewegung, ausreichende Ruhephasen und v. a. die Anpassung der persönlichen Leistungsansprüche an die eigenen Ressourcen. Stimulanzien wie Alkohol, Nikotin, Genussgifte und Sinnesüberflutung (z. B. durch Medien) sowie intensive Reisetätigkeit wirken einem Gleichgewicht entgegen; einfache menschliche Freuden wie Naturnähe, Kunst, Geselligkeit, Tanz und Spiel bieten oft mehr Befriedigung. Ausreichend Schlaf regeneriert als „Säule des Lebens“ v. a. psychische Kräfte und gleicht Stresserscheinungen aus; man sollte früh abends zu Bett gehen (nicht nach 22 : 30 Uhr) und auch minutenlange Ruhephasen regelmäßig während des Tages einrichten, besonders nach dem Mittagessen; tiefer Tagesschlaf hingegen belastet Verdauung und Stoffwechsel. Unterdrücken der natürlichen Reinigungsreflexe meiden (wie Stuhl, Harn, Winde, Tränen), da dies zu vegetativ vermittelten Spannungen im gesamten Körpersystem führt.
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Ayurveda
Gesundheitsfördernde Morgenroutine ● ●
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Früh morgens aufstehen, um die positiven Naturkräfte, die dieser Zeit eigen sind, zu nutzen. Nach dem Aufstehen 2 – 3 Gläser lauwarmes Wasser trinken: Dadurch werden Stoffwechsel und Ausscheidungsfunktionen sanft angeregt. Dann die üblichen körperlichen Reinigungsmaßnahmen verrichten (Zähneputzen, Stuhlgang etc.), jedoch noch nicht duschen bzw. baden. Selbstmassage mit warmem Sesamöl (v. a. von Kopf, Ohren und Füßen, am besten jedoch des ganzen Körpers): fördert den Nährzustand, die Durchblutung und Entspannung des Bewegungsapparates und hält Haut und Haare jung. 1 – 2 Esslöffel (EL) Sesamöl ca. 10 min im Mundraum halten (sog. Ölziehen), dadurch werden Kiefer und Zähne gekräftigt und die Mundschleimhaut gepflegt. Nasenspülungen mit lauwarmem Wasser in physiologischer Kochsalzlösung beugen Erkältungskrankheiten vor. Danach 2 – 3 Sesamöltropfen in jedes Nasenloch geben, um die Nasenschleimhaut zu pflegen, die Sinne zu stärken und Rhinitiden sowie Kopfschmerzen vorzubeugen. Möglichst noch im eingeölten Zustand gymnastische Übungen verrichten, ohne die körperliche Belastungsgrenze zu erreichen. Im Sinne der ganzheitlichen Fitness sind Yoga-Haltungen und -Atemübungen zu empfehlen. Eine Trockenabreibung mit Kichererbsenmehl entfernt das überschüssige Öl und regt die Blutzirkulation der Haut an. Erst danach baden oder duschen unter minimaler Verwendung von Seifenstoffen, da diese die Haut austrocknen.
●
Regelmäßige Meditation wirkt im Sinne einer Psychohygiene ausgleichend auf alle geistigen Funktion und fördert geistige Klarheit, Leistungsfähigkeit, Genussfähigkeit und Zufriedenheit.
30.4.4 Phytotherapie Über 700 Heilpflanzen wurden nach ayurvedischen Kriterien pharmakologisch klassifiziert und sind seit über 2000 Jahren im Einsatz. Zudem verwendet man tierische und metallisch-mineralische Substanzen; die Zahl der Rezepturen von Kombinationspräparaten ist enorm groß. Das Potenzial der ayurvedischen Heilsubstanzen wird traditionell auch für die Prävention genutzt. Konstitutionelle Anlagen und Krankheitstendenzen können mit ihrer Hilfe ausgeglichen werden [5]. Besonders interessant ist eine Klasse von Heilmitteln, die im Ayurveda Rasayana genannt werden (Tab. 30.1). Nach klassischer Definition bewirken sie die Regeneration geschwächter oder geschädigter Gewebe. In der Praxis werden sie zur Verbesserung des Nähr- und Kräftezustandes, für die Abwehrsteigerung, zur Gesundheitsförderung und Prävention, in der Rekonvalenszenz und in der Geriatrie verwendet. Auch Nahrungsmittel und Gewürze können Rasayana-Wirkung aufweisen. Man unterscheidet Rasayanas mit allgemeiner von denen mit spezifischer Wirkung auf einzelne Gewebe, Organsysteme oder Doshas. Ein weiterer Bereich der ayurvedischen Phytotherapie (Vaji-karana) beschäftigt sich mit der Optimierung der Fortpflanzungsfunktionen und der Prävention von pränatalen oder frühkindlichen Störungen. Durch die phytotherapeutische Verbesserung der Qualität der elterlichen Keimzellen sollen noch vor der Zeugung die optimalen gesundheitlichen Bedingungen für die Nachkommenschaft erwirkt werden.
Tabelle 30.1 Beispiele gesundheitsfördernder ayurvedischer Phytotherapeutika und ihre Indikationen. Botanische Bezeichnung
Sanskrit-Bezeichnung
Hauptindikationsbereiche
Emblica officinalis, Phyllanthus emblica
Amla, Amalaki
bestes Mittel zur allgemeinen Gesundheitsförderung
Terminalia chebula
Haritaki
allgemeine Gesundheitsförderung, reinigende Wirkung (laxativ)
Withania somnifera
Ashvagandha
Bewegungsapparat, v. a. Muskelgewebe; Vata-Symptome
Tribulus terrestris
Gokshura
Harntrakt
Commiphora mukul
Guggulu
Fettstoffwechsel
Tinospora cordifolia
Guduci
Haut und Blut; Pitta-Symptome
Piper longum
Pippali
Immunsystem und Atemtrakt; Kapha-Symptome
Convolvulus pluricaulis
Shankhapushpi
Nerven, Psyche und Intelligenz
Bacopa monnieria
Brahmi
Nerven, Psyche und Intelligenz
Asparagus racemosus
Shatavari
weibliche Fortpflanzungsorgane
Mucuna pruriens
Kapikacchu, Atmagupta
männliche Fortpflanzungsorgane
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Praxis der ayurvedischen Prävention
30.4.5 Ausleitung Mit fortschreitendem Alter sammeln sich ausscheidungspflichtige Stoffe im Körper an. Diese bezeichnet der Ayurveda als Mala, die hiesige Naturheilkunde als „Schlacken“. Es handelt sich hierbei um Substanzen heterogenen Ursprungs, denn sowohl atheromatöse Ablagerungen als auch Harnsäurekristalle, Schwermetalle, Residuen chemischer Medikamente oder andere Stoffe können dazu gerechnet werden. Sie gelangen durch externe Zufuhr in den Körper (z. B. Umwelttoxine, belastete Nahrungsmittel, Genussgifte) oder akkumulieren intern (als pathologische Metaboliten oder durch insuffiziente Ausscheidungsfunktionen). Nach ayurvedischer Beobachtung stellen sie wichtige pathogenetische Faktoren für viele Erkrankungen dar. Der Ayurveda empfiehlt, diese Substanzen präventiv auszuleiten und hat zu diesem Zweck ein komplexes System von Verfahren zur stationären inneren Reinigung entwickelt (Pancakarma). Die einzelnen Verfahren sind aus den meisten großen Naturheiltraditionen bekannt und wurden weltweit praktiziert – auch in Mitteleuropa bis in die frühe Neuzeit. Die Besonderheit des ayurvedischen Ansatzes liegt in der Art ihrer Kombination. Eine entsprechende Kur nimmt bei kompletter Durchführung ca. 4 Wochen in Anspruch. Gemäß klassischer Vorstellung wird durch die Ausleitungsverfahren eine ursächliche Korrektur der inneren Milieuverhältnisse des Patienten vorgenommen und somit für eine harmonische Funktion der Doshas gesorgt (s. a. [1, 3]).
Die invasiven Therapieverfahren (Emesis, Purgieren, Blutentzug) werden nur bei strenger Indikationsstellung durchgeführt und müssen von kundigem Fachpersonal beaufsichtigt werden. Generell sollte die Ausleitung nach ayurvedischer Erfahrung anderen Therapiemaßnahmen vorgeschaltet werden, da sich einige Beschwerden allein durch diese Maßnahmen beheben lassen und das Körpersystem nach der Reinigung einer geringeren Intensität an Heilreizen, z. B. der Phytotherapie, bedarf.
Ausleitende Therapiemaßnahmen (Pancakarma) Vorbehandlung (Mobilisierung fett- und wasserlöslicher Schadstoffe): ● maximale orale Zufuhr von medizinierten Fetten und geeigneten Flüssigkeiten ● Ölmassagen ● Dampfbäder Hauptbehandlung: Emesis: therapeutisches Erbrechen (einmal pro Kur; nur bei strenger Indikation) ● Purgieren: therapeutisches Abführen mittels oral verabreichter Laxanzien (einmal pro Kur) ● reinigende Dekokteinläufe und nährende Ölklistiere (im täglichen Wechsel) ● nasale Applikationen (mehrfach pro Kur) ● Blutentzug (nur bei Indikation) ●
Nachbehandlung (Regeneration): strenge Heildiät (fettfreie Suppen aus Reis und Hülsenfrüchten) ● Ruhe ●
Grundkonzept Als Ausleitungsorgan wird vorrangig der Gastrointestinaltrakt genutzt, jedoch ist die reinigende Wirkung der ayurvedischen Verfahren nicht auf diesen beschränkt. Durch ein Konzept von aufeinander abgestimmten Therapiemaßnahmen lässt sich eine systemische Wirkung erzielen. Zunächst wird der Körper des Patienten in einer Vorbereitungsphase durch orale und externe Zufuhr mit geeigneten medizinierten Fetten geschwemmt, um fettlösliche pathologische Substanzen aus Gewebsverbänden und Zellen zu lösen. Zeitgleich sorgt die gesteigerte Einnahme von Flüssigkeiten für die Mobilisierung von wasserlöslichen Schlacken. Durch anschließende externe Wärmezufuhr wird die Leitfähigkeit der Transportsysteme des Körpers gesteigert, welche die gelösten Substanzen in die Nähe des Gastrointestinaltraktes führen. Schließlich werden die vorbereiteten Substanzen mittels der therapeutisch induzierten Ausleitungsverfahren über den Gastrointestinaltrakt eliminiert. Da diese Verfahren den Körper vorübergehend schwächen, wird als Nachbehandlung nach jedem ausleitenden Eingriff eine Regenerationsphase mit schonender Diät angeschlossen, bevor die nächste Phase vorbereitet wird.
30.4.6 Manualtherapie Ölmassagen sind in Europa zum Symbol der Ayurvedatherapie avanciert und haben einen festen Platz im hiesigen Wellnesssektor erlangt. Durch ihre Wirkung auf Psyche und Vegetativum (s. u. Abschnitt „Entspannung“) können sie einen Beitrag zur Stressreduktion, Prävention psychosomatischer Erkrankungen und Steigerung der Lebensqualität leisten (Tab. 30.2). Traditionell werden Ölmassagen bereits in der Säuglingspflege eingesetzt, um Motorik, Sensorik und Gewebeaufbau des Kindes zu fördern. Bei Erwachsenen wird die tägliche Ölmassage empfohlen, um Bewegungsapparat, Nervensystem und Haut zu tonisieren sowie um Erkrankungen in diesen Bereichen vorzubeugen. Grundsätzlich rechnet man manualtherapeutische Anwendungen im Ayurveda jedoch zu den externen Ausleitungsverfahren, da sie pathologische Faktoren über die Haut eliminieren.
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30
Ayurveda
Tabelle 30.2 Beispiele ayurvedischer Manualtherapie mit Indikationen.
I II III
Verfahren
Bezeichnung
Hauptindikationsbereiche
Ölmassagen
Abhyanga
Bewegungsapparat, Nervensystem, Haut, Psyche; tonisierend, ausleitend
Stirnguss
Shiro-dhara
psychovegetative Harmonisierung
Ölgüsse am Körper
Sheka
psychovegetative Harmonisierung; nährend, ausleitend
Beutelmassagen
Pinda
Muskulatur, Nervensystem; nährend
Dauerölanwendungen auf der Wirbelsäule
Kati-basti, Griva-basti
Schmerzsyndrome im Bereich der Wirbelsäule
Dauerölanwendungen am Schädel
Shiro-basti
degenerative Erkrankungen des Gehirns; Kopfschmerzen
Dauerölanwendungen am Auge
Akshi-tarpana
Augenleiden; regenerierend
Packungen
Lepa
lokale Entzündungen
Trockenabreibungen
Udvartana, Gharshana
Fettgewebe; reduzierend
externe Wärmezufuhr (z. B. Dampfbäder)
Svedana
Durchblutung, Transportfunktionen; reduzierend, ausleitend
IV
V VI VII
Neben Ölmassagen kennt der Ayurveda eine Palette anderer manualtherapeutischer Verfahren [1, 4]. Zusätzlich erweitern Heilöle mit multiplen pflanzlichen Inhaltsstoffen im Sinne einer transdermalen Heilmittelzufuhr das breite Indikationsspektrum.
30.4.7 Entspannung und psychoemotionale Harmonisierung Der Ayurveda strebt ähnlich wie auf körperlicher Ebene eine generelle Harmonie der Psyche an. Einerseits bedient er sich dazu ausgleichender Therapieverfahren, wie Phytotherapeutika, Manualtherapie und Entspannungstechniken. Andererseits existieren psychotherapeutische Ansätze. Zunächst werden in Anamnesegesprächen belastende Konflikte, Selbstbilder, Weltsichten, Lebenseinstellungen und Erwartungen als Ursachen für psychische Leiden erfasst. Mithilfe von holistischen Therapiemodellen werden diese im Sinne eines Trainingsprogrammes für die Psyche stufenweise korrigiert. Hierbei geht es v. a. um das Erlernen des richtigen Umgangs mit den eigenen Emotionen und den äußeren Sinnesreizen. Die hieraus erwachsende innere Lösung, emotionale Ausgeglichenheit, geistige Klarheit und psychische Flexibilität tragen sowohl zur Prävention und Therapie psychisch vermittelter Leiden bei, als auch zur Verbesserung der Lebensqualität und geistigen Effektivität des Gesunden. Die Eigentümlichkeit des ayurvedischen Ansatzes liegt in den Quellen begründet, aus denen er seine Techniken schöpft. Die reichhaltigen Geistestraditionen Indiens, seine philosophischen und religiösen Systeme, bieten eine Fülle an psychotherapeutischem Material. Besonders die praxisorientierten Systeme, die in Indien meist als Yoga bezeichnet werden, haben ganzheitliche Konzepte zur psychischen Harmonisierung hervorgebracht. Als
292
sinnvermittelnde Denkmodelle sind sie hierzulande sehr populär geworden.
Manuelle Ölanwendungen Bereits die große Nachfrage bezeugt die entspannende Wirkung von ayurvedischen Ölanwendungen [4], die man grundsätzlich zu den Ausleitungsverfahren (s. o.) zählt, hier aber noch mal im Hinblick auf ihre psychoemotionale Wirkung hervorgehoben werden sollen. Besonders die Ganzkörperölmassagen (Abhyanga), wenn sie mit sanften Streichtechniken durchgeführt werden, bewirken neben muskulärer Entspannung die psychische Ausgeglichenheit. Synchronmassagen mit 2 oder gar 4 Therapeuten gleichzeitig sind zwar besonders beliebt, aber garantieren nicht zwangsläufig eine Steigerung der Wirkung. Anwendungszeiten von 35 min werden mindestens benötigt; 45 min oder länger ist jedoch keine Seltenheit in der Praxis. Um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, werden Serien von ca. 7 – 15 Anwendungen in kürzeren Abständen benötigt. Nach therapeutischer Erfahrung manifestieren sich negative Emotionen oft als Verspannungen im Bauchraum, sodass lokale Massagen dieses Bereichs, aber auch des Kopfes und der Füße, eine emotionale Lösung bewirken. Die Eigenschaften des warmen Öls machen einen wichtigen Teil der Wirkung aus. Zudem intensiviert das Öl den Kontakt mit den Therapeutenhänden. Bei Ölgüssen werden die Fließeigenschaften des warmen Öls zum Zweck der Entspannung genutzt. Vor allem der kontinuierliche Ölstrahl auf der Stirn bewirkt einen psychovegetativen Ausgleich und wird zur Vorbeugung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen eingesetzt.
Praxis der ayurvedischen Prävention
Yoga Der Yoga ist ein Gesundheitssystem in sich [4]. Er weist ebenfalls eine lange Tradition auf und gilt aufgrund guter Kompatibilität mit dem Ayurveda als dessen „Schwesterwissenschaft“. Ursprünglich als philosophisch gegründetes, holistisches Trainingskonzept zur geistigen Entfaltung angelegt, ist er jedoch auf die Psyche spezialisiert. Heutzutage werden vorrangig die körperorientierten Elemente des Yoga für Stressabbau und psychische Harmonie therapeutisch genutzt. Allgemein bekannt sind die variantenreichen Körperhaltungen (Asana). Ähnlich wie in der modernen Physiotherapie lassen sich durch individuell eingesetzte Haltungen gezielt Muskelgruppen dehnen und kräftigen. Erkrankungen des Bewegungsapparates können vorgebeugt und die körperliche Fitness gesteigert werden. Gut aufeinander abgestimmte Übungsabfolgen fördern die Ausdauer, Koordination und Flexibilität. Allerdings versteht der Yoga die Körperhaltungen eher als Vorbereitung auf psychische Übungen. Zum einen führt die muskuläre Entspannung zu geistiger Gelassenheit. Zum anderen werden die Haltungen im Yoga bewusst in Phasen der Anspannung und Entspannung aufgeteilt, mit Atemabläufen kombiniert und mit gesteigerter geistiger Achtsamkeit durchgeführt. Hierdurch lassen sich geistige Flexibilität, Konzentrationsfähigkeit und innere Stärke trainieren. Die wöchentliche Anleitung durch geschulte Spezialisten kombiniert mit der möglichst täglichen eigenen Durchführung individuell ausgewählter Übungen (ca. 20 min) hat sich als besonders effektiv erwiesen.
Atem Die bewusste Regulation des Atemflusses (Pranayama) bildet einen wichtigen Teil des Yoga-Konzepts. Neben der vermehrten Sauerstoffzufuhr durch tiefe, optimale Atemtechnik wird die enge Verknüpfung von Atem und Psyche genutzt [4]. Richtig durchgeführt kann die Atemregulation somit psychisch energetisieren und ausgleichen. Es steht eine Großzahl an Übungen mit spezifischen Wirkungen zur Verfügung, die regelmäßig anzuwenden sind. Dieser Prozess sollte von einem Spezialisten begleitet werden, da die falsche Durchführung intensiverer Methoden zu Nebenwirkungen führen kann. Einfache Übungen von täglich ca. 10 min Dauer sind unbedenklich und werden als Routineanwendung zur Unterstützung der Prävention von psychischen und neurologischen Störungen empfohlen.
Meditation Als effektivstes Werkzeug für die psychische Harmonisierung gilt die Meditation. Sie intensiviert geistige Entfaltungsprozesse und wird im Sinne einer Psychohygiene zur Verarbeitung von Erlebnissen, Gefühlen, Sinnesreizen und Stresssituationen genutzt. Beobachtung des Atems, gelenkte Aufmerksamkeit, Analyse von Gedankenprozessen, Entfaltung positiver Gefühle, Visualisierungen, bewusste innere Lösung vom Fluss der Gedanken und der Gefühle oder von Zielfixierungen sind gängige Ansätze. Aber auch Bewegungsmeditationen sind bekannt. Die rezitierende oder geistige Wiederholung von tradierten Silbenfolgen (Mantra) wird oft als effektive, vergleichsweise leichte Technik zu Beginn bevorzugt. Geleitete oder musikalische Meditationen, wie sie inzwischen vielfältig auf Tonträgern erhältlich sind, bilden gute Einstiegsmöglichkeiten. Oftmals hilft schon der einfache, regelmäßige Rückzug von Sinnesreizen. Intensivere Techniken sollten in mehrtägigen Kursen von Spezialisten erlernt werden. Die Regelmäßigkeit im Rahmen der gesundheitsfördernden Tagesroutine mit einer täglichen Praxis von ca. 15 – 25 min ist entscheidend für den Erfolg.
Ethische Lebensweise Die ayurvedischen Schriften betonen intensiv die Bedeutung der ethischen Lebensweise für die Gesundheit [1, 4, 6]. Die ganzheitliche Perspektive des Ayurveda versucht ein gesundheitsförderndes soziales Klima zu entfalten und das „Leben im Allgemeinen“ zu fördern, nämlich auch dasjenige von anderen Lebewesen wie Tieren und Pflanzen. Für den modernen Menschen gelten ethische Empfehlungen oftmals als antiquiert und als bewusst verbreitete Zwänge, die die freie Persönlichkeit einschränken. Die Erfahrung des Ayurveda zeigt jedoch, dass psychische Leiden durch negative Gedanken bzw. unethische Verhaltensweisen gefördert werden, selbst wenn sie sich erst nach langer Zeit auswirken. Eine ethische Lebensweise bildet eine Vorraussetzung für psychische Balance in gesellschaftlicher Akzeptanz. Ayurveda empfiehlt die Kontrolle, nicht jedoch die Unterdrückung negativer mentaler und emotionaler Impulse. Kontrolle bedeutet die freiwillige Unterlassung einer negativen Handlung mit Verständnis und Bewusstsein. Somit handelt es sich weniger um Verbote, als vielmehr um einen langfristig angelegten Trainingsprozess der inneren Lösung. Dieser kann durch Kultivierung positiver Kräfte wie Liebe, Mitgefühl und Vergebung und geistige Techniken wie Meditation zum Erfolg geführt werden.
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30
Ayurveda
Literatur 1. Gupta SN, Stapelfeldt E, Rosenberg K. Ayurveda Manualtherapie und Ausleitungsverfahren. Heidelberg: Haug; 2006. 2. Keßler C. Wirksamkeit von Ayurveda bei chronischen Erkrankungen. Systematische Analyse wissenschaftlicher Ayurveda-Studien. Essen: KVC; 2007.
I II
3. Mishra LC (Hrsg.). Scientific basis for ayurvedic therapies. Boca Raton: CRC Press; 2004. 4. Rhyner H. Das neue Praxis-Handbuch Ayurveda. 2. Auflage. Neuhausen/Schweiz: Urania; 2004. 5. Zoller A, Nordwig H. Heilpflanzen der Ayurvedischen Medizin. Heidelberg: Haug; 1997.
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294
6. Jain MD, Hepp HH. Yoga als adjuvante Therapie. Stuttgart: Hippokrates; 1998. 7. Ranade SB. Ayurveda – Wesen und Methodik. Heidelberg: Haug; 2004. 8. Gupta SN, Stapelfeldt E. Lehrbuch der Ayurveda-Medizin (Kaya-cikitsa). Heidelberg: Haug; 2009. 9. Indian Council of medical research (Hrsg.). Reviews on Indian Medicinal Plants. New Delhi; 2004. 10. Sharma RK, Dash B (Hrsg.). Caraka Samhita: Text with English Translation and Critical Exposition based on Cakrapani Datta’s Ayurveda Dipika (sanskrit-englisch). 7 Bände. Neu Delhi: Chaukhamba; 2001.
Definition
31 Traditionelle Chinesische Medizin in der Check-Up-Medizin H. J. Greten
Das Wichtigste in Kürze Gerade beim Check-Up wird im Rahmen der allgemeinen Anamnese häufig von Symptomen berichtet, die in keinen Zusammenhang mit den erhobenen Blutwerten, dem EKG, bildgebenden Verfahren etc. gebracht werden können. Hier ist die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) eine interessante Ergänzung zur westlich-naturwissenschaftlichen Diagnostik, da sie durch ihre funktionell vegetative Diagnoseerhebung eine Konzeption zur Behandlung solcher vegetativer Störungen erlaubt, etwa durch Reflexbehandlung wie Akupunktur und manuellen Anwendungen, Atem- und Bewegungsübungen sowie insbesondere durch Phytotherapie. Die wissenschaftliche Form der chinesischen Medizin (Heidelberger Modell) stellt durch ihr in sich geschlossenes, systembiologisches Konzept eine rational nachvollziehbare Darstellung der TCM für den westlich-naturwissenschaftlichen gebildeten Arzt dar. Besonders bewährt hat sich das Konzept der wissenschaftlichen chinesischen
Medizin als additive funktionelle vegetative Medizin bei leitliniengerechter Grundversorgung.
31.1 Definition Die Diagnostik der TCM erstellt nach zeitgemäßem Verständnis ein funktionelles vegetatives Gesamtabbild des Patienten, auf dessen Grundlage eine gezielte Anwendung ihrer Heilmethoden (Tab. 31.1) erfolgen kann. Die vollständige Diagnose besteht aus den vier Bausteinen Konstitution, Krankheitsauslöser (Agens, pathogener Faktor), Funktionskreis (FK, auch: Orbis, aktuelles „Organmuster“) und Leitkriterien. Mit der Zuordnung eines Konstitutionstyps wird die dauerhafte Neigung zu definierten funktionellen Symptomen eines FK (Abb. 31.1) und mental-emotionalen Verhaltensstrategien begründet. Auf dieses konstitutive
38°C
37°C Holz
Feuer
sympathikotone Wirkung
Metall
Wasser
parasympathikotone Wirkung
Kortisol 36°C
Adrenalin endorphinerge Wirkung hypertone
hyperdyname
hypotone
hypodyname Bewegungsmuster
T3, T4 enterales NS inaktiv
enterales NS aktiv
enterales NS inaktiv
Zeit
Abb. 31.1 Im oberen Teil der Abbildung erkennt man menschliche Funktionszustände, die man an ihren Schlüsselsymptomen (diagnostisch relevante Zeichen) unterscheiden kann. Solche Gruppen von Schlüsselsymptomen heißen in der TCM Funktionskreise (FK, Orbes). In der westlichen Medizin würde man die Ursache dieser Zeichen in Verschaltungsmustern des vegetativen Nervensystems erkennen. Wandlungsphasen (WP) drücken also den regulativen Zustand des Menschen aus, der ähnlich wie das Wasserbecken (Abb. 31.2) vereinfacht „wie eine Sinuskurve“ reguliert wird. Die TCM erhebt mit solchen Begriffen also einen vegetativen Regulationszustand über Schlüsselsymptome (Funktionskreise). Die schwarz-weißen Balken stellen binäre Zahlen (1 – 4) dar, die bereits im I Ging vor 3000 Jahren zur Darstellung von Kreisfunktionen benutzt wurden. Leibniz (1646 – 1716) entschlüsselte dieses Buch als mathematische Darstellung seines Prinzips der „prästabilisierten Harmonie“.
295
31
Traditionelle Chinesische Medizin in der Check-Up-Medizin
Tabelle 31.1 Methoden der Traditionellen Chinesischen Medizin (Übersicht). Methode, Anteil an der Therapie
Prinzip
belegter Nutzen bzw. bewährte Indikation (Auswahl)
Qualitätskontrolle/Risiken
Arzneitherapie, 80 %
v. a. Pflanzen und Mineralien, werden meist zu Abkochungen (Dekokt) oder Pillen verarbeitet
zahlreiche Indikationen, z. B. Hepatitis, Neurodermitis, Rheuma, ergänzende Krebstherapie, Rheologika, Tonika, Immunstimulanzien
professionelle Anwendung erfordert gründliche Kenntnis der Diagnostik, z. B. Examen C oder D der ISCMA Risiko: häufig Beschaffung außerhalb deutscher Apotheken notwendig, z. B. über Internet, mangelnde Ausbildung der Anwender (häufig)
Akupunktur und Moxibustion, 15 %
Reizpunkte der Haut werden mit Nadeln, Wärme, Schröpfköpfen, Strom, behandelt
Gonarthrose, Lumbago u. a. Beschwerden des Bewegungsapparats, Kopfschmerzen, Reizdarm, funktionelle Störungen aller Art
„Ärztekammerdiplom“ nach GerAc der Nichtausbildung nicht überlegen
Tuina, nicht quantifizierbar
manuelle Therapie mit über 50 Techniken zur Einwirkung auf Akupunkturpunkte, Leitbahnen, Reizzonen
wie Akupunktur, darüber hinaus Wirbelblockaden, zahlreiche pädiatrische Indikationen, Rheuma, Erkältungserkrankungen
3-jährige Vollausbildung nach internationalem ISCMA-Standard
Qigong und Taiji, nicht quantifizierbar
konzentrative Atem- und Bewegungsübungen mit vegetativ stabilisierender Wirkung
Migräne, beginnende Hypertonie, Stresssyndrom, Suchtbehandlung, Prävention psychophysischer Erschöpfung, Neurosen
300-Std.-Diplom nach Krankenkassenstandard, qualifiziert zur „Prävention“, Vollausbildung (z. B. therapeutisches Qigong) 3 Jahre nach ISCMA-Standard
PTTCM, nicht quantifizierbar
Psychotherapie der TCM, integriert chinesisches Erfahrungswissen und chinesisches „Body reading“, anerkannte westliche Therapieformen sowie westliche Neurophysiologie (vierschichtige Ontologie)
Selbst- und Konfliktmanagement, Stressbewältigung, Leistungssteigerung, pathogene Systemkonstellationen, Organisationsberatung, Depression, Angststörungen, Panikattacken, „Alltagsneurosen“
3-jährige berufsbegleitende Ausbildung
I II III IV
V VI VII
TCM = Traditionelle Chinesische Medizin, ISCMA = International Scientific Chinese Medicine Association, GerAc = German acupuncture trials, PTTCM (Psychotherapie der TCM)
Grundmuster können Wirkkräfte (Agenzien, pathogene Faktoren) krankhaft modulierend Einfluss nehmen. Diese Wirkkräfte (Krankheitsauslöser von außen oder innen) bedingen die Auslösung von spezifischen Gruppen diagnostisch relevanter klinischer Zeichen (u. a. Störungen der FK). Mit diesen drei Arten der Symptome wird in einem ersten Schritt die aktuelle Symptomatik analysiert, dann werden die Symptome in einem zweiten Schritt im regulativen Kontext des Gesamtorganismus interpretiert. Diese Interpretation erfolgt nach genauen hierarchischen Symptomdeutungsstrukturen, sog. Leitkriterien. Entgegen den kommerziell überwiegend verbreiteten Darstellungen handelt es sich hierbei nicht um eine empirische Phänomenologie, sondern um ein genaues, quasi mathematisches Deutungssystem der aktuellen Symptomatik eines Patienten (Abb. 31.2). Wir nähern uns den Prinzipien der TCM am Beispiel der Lehre des Leitkriteriums Repletio/Depletio (Fülle/ Leere). Die Abb. 31.2 zeigt dies am Beispiel der Regulation
296
der Temperatur in einem Wasserbecken. Der Temperaturverlauf des Wasserbeckens (Abb. 31.2a) ist nicht etwa konstant (Gerade), sondern ähnlich einer Sinuskurve (b), deren Prinzip wir kurz erläutern. Man kann sie auch in die Kreisebene projizieren, wobei der Sollwert als Kreisachse (Erde) eingetragen wird (c). Die Zahlen I, II, III, IV werden hier zur Illustration als Bigramme aus Yin- und Yang-Linien ausgedrückt, die binäre Zahlen bilden. Diese Symbole werden ab dem 3. vorchristlichen Jahrhundert durch die Embleme Holz, Feuer, Metall und Wasser ersetzt, diese stellen die sog. Wandlungsphasen (WP) dar, Ausdruck der verschiedenen Abschnitte der Regulation. Zusammengefasst entsteht dann das Yin-Yang-Zeichen (d), das Sinuskurve und Kreisprojektion vereint und die bewegungsverändernde regulative Wirkung des Sollwerts Erde durch zwei Punkte ausdrückt. Zum Verlauf der Kurve: Beim Einschalten des Systems wird die Temperatur von der Raumtemperatur auf Solltemperatur durch Anheizen des Heizstabes erhöht (gestrichelter Verlauf):
Epidemiologie
Tauchsieder
Thermostat
Wasserbecken
a
I
II
Sollwert Zeit
Abb. 31.2 Prinzip der Traditionellen Chinesischen Medizin: Regulation im Modell (Erläuterung siehe Text. Modifiziert nach [1]).
●
●
●
Phase I, Holz: Erreicht die Temperatur den Sollwert, so schaltet der Thermostat die Stromzufuhr ab. Dennoch ist der Tauchsieder deutlich heißer als das Wasser, so wie eine Herdplatte nach dem Abschalten noch eine Weile heiß bleibt. Diese Nachwärme sorgt für ein Ansteigen der Temperatur über das Soll. Dabei erhöht sich der Energiegehalt (Potenzial) des Beckens (Phase der Bereitstellung von Potenzial über das Maß, entspricht der WP Holz). Phase II, Feuer: Wenn die Nachwärme nachlässt, wird mehr Wärme, Energie, nach außen abgegeben, als durch den Heizstab zugeführt wird. Dabei nähert sich die Temperatur dem Sollwert wieder, sodass der absteigende Verlauf der Sinuskurve, die in dieser Phase insgesamt über dem Sollwert liegt, entsteht (Phase der Energieabgabe = Transformation von Energie in Arbeit/ Funktion, entspricht der WP Feuer). Phase III, Metall: Der Sollwert wird unterschritten, der Thermostat schaltet den Heizstab wieder ein. Aufgrund der Latenz bis zur Erwärmung des Heizstabes dauert es, bis die Temperatur des Heizstabes die Temperatur des Wassers übersteigt. So fällt die Temperatur bis un-
10 Taubheitsgefühl
d
Bauchschmerz
Wasser
Insomnie
c
Dyspnoe
Erde
Rückenschmerz
Feuer
In der Abb. 31.3 werden die 3-Jahres-Prävalenzen zehn häufiger Symptome sowie der Anteil der wahrscheinlich organischen Ursachen bei 1000 Patienten dargestellt [8]. Der Anteil der „organisch Erkrankten“ entspricht etwa dem Anteil der Symptome mit messbarem Korrelat. Der große Anteil der nicht messbaren Krankheitsursachen und Diagnosen könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Patient „zu früh“ kommt, d. h. erst im Stadium der Dysmorphe wird die Ursache der Beschwerden (die vegetative Dysfunktion) nachträglich nachweisbar. Die für funktionelle Störungen relevanten Messwerte können dabei im klinischen Alltagsbetrieb häufig nicht erhoben werden, da die technischen Aufwendungen hierfür zu komplex oder gefährlich werden. Hinzu kommen grundsätzliche Probleme in der Interpretation von Messwerten in komplexen biologischen Netzwerksystemen, die die Relevanz einer einfachen Messung infrage stellen: Viele
Ödeme
II
Kopfschmerz
b
31.2 Epidemiologie
Benommenheit
IV
Müdigkeit
III
Thoraxschmerz
Temperatur
●
terhalb des Sollwertes weiter ab. Der Energiegehalt sinkt, es entsteht eine energetische „Abschlaffungsphase“. Zugleich ist die halbe Wellenlänge definiert. Somit hat die Phase III in einem technischen Sinn eine „Nachwendepunkt-Charakteristik”, die die Rhythmik des Systems bestimmt. Dies entspricht den Kennzeichen der WP Metall. Phase IV, Wasser: Regeneration des Energiegehaltes: Nun steigt die Temperatur wieder in Richtung auf den Sollwert an. Das entspricht einer Wiederherstellung, Regeneration der Energie (Wärmemenge) und damit der WP Wasser.
5
31
0
Abb. 31.3 Anteil organischer Krankheitsursachen. Drei-Jahres-Prävalenz (in Prozent) zehn häufiger Symptome und Anteil wahrscheinlicher organischer Ursachen (orangenes Raster) bei 1000 Patienten einer amerikanischen Klinik (modifiziert nach [1] und [8]).
297
Traditionelle Chinesische Medizin in der Check-Up-Medizin
I II III
Dysfunktionen werden durch das Ineinandergreifen gleich mehrerer Regulationsmechanismen weitgehend kompensiert, können jedoch als Symptom, also krankhaft bewertete Dysfunktionen erscheinen [1]. Aus der Abb. 31.3 geht überdies hervor, dass etwa 85 % der Alltagsbeschwerden kein messbares Korrelat haben, sodass eine im Sinne der evidenzbasierten Medizin (EbM) messbare Störung häufig nicht vorliegt. Es liegt nahe, diesem hohen Anteil der Symptome psychovegetative oder funktionelle Störungen zugrunde zu legen. Dies erklärt z. T. den quantitativ hohen Stellenwert der TCM als funktionelle vegetative Therapie innerhalb der gesamten Leistungserbringung im medizinischen Bereich. Der Gesamtleistungsumfang wurde für das Jahr 2003 auf 3,2 Mrd. € geschätzt und liegt damit über dem Umsatz der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die sog. kleinen Fächer der westlichen Medizin wie HNO, Gynäkologie oder Dermatologie.
IV
V VI VII
31.3 Pathophysiologie Funktionelle Störungen können sich zu morphologisch messbaren Erkrankungen entwickeln. Dabei besteht der Sinn der vermehrten funktionellen vegetativen Steuerung eines Gewebes zunächst in der physiologischen Adaption des Körpers an situative Leistungsanforderungen. Durch die Wiederholung der vegetativen Schaltmuster, durch deren synaptische Bahnung und durch die Addition der Auslösungsreize kann es von der physiologischen Adaption zur Dysfunktion (reversibel) und von der fixierten Dysfunktion (nicht spontan reversibel) zu einer dysmorphen Störung mit messbarer Veränderung der laborüblichen bzw. bildgebenden Parameter („organische Störung“) kommen. Insofern ist es legitim, die subjektiven Symptome eines Patienten, auch wenn diese nicht auf „messbare“ organische Ursachen zurückzuführen sind, im Sinne einer Prävention organischer Beschwerden zu behandeln (Abb. 31.4).
31.4 Symptome, Befunde, Verlauf Die chinesische Medizin verfügt über ein komplexes System zur Wertung der aktuellen Symptome und des Krankheitsverlaufs. Der Prozess der Diagnosefindung ist – ähnlich wie in der westlichen Medizin – das zentrale
Ausgangslage
Adaption
Dysfunktion
Problem in der TCM. Die funktionelle Diagnose, die die TCM erstellen kann, erfordert grundlegende und sichere Kenntnisse der Physiologie sowie der abzustufenden Begriffe und Phänomene. Im Rahmen dieses Kapitels kann dieses komplexe System nur als Skizze eines der vier diagnostischen Subsysteme, des sog. ersten Leitkriteriums, angedeutet werden. Die am meisten verbreitete Form der TCM, die symptomatische Akupunktur des Westens, hat sich von den diagnostischen Grundlagen der chinesischen Medizin entfernt, behandelt weitgehend nach westlichen Krankheitsbezeichnungen und erhebt im Wesentlichen keine funktionelle vegetative Diagnose. Auch in China hat man diese in der Folge der Kulturrevolution entstandene Form der Akupunktur wieder zunehmend verlassen und wandte sich der Therapie nach „Mustern“ zu, ein phänomenologischer Ansatz, der die Erfolgsquote wieder erhöht hat. Die TCM beruht auf einer in sich geschlossenen wissenschaftlichen Systematik, die eine vollständige und sichere Diagnosestellung ermöglicht. Es ist inzwischen jedoch bewiesen, dass die Wiederherstellung des klassischen physiologischen Modells der TCM (wissenschaftliche CM/Heidelberger Modell) den Erfolg der Therapie bestimmter Diagnosen beinahe verdoppelt. Die Abb. 31.5 zeigt summarisch diagnostisch relevante Zeichen des Leberfunktionskreises auf, die sich im Einzelfall symptomatisch zeigen können und dann mit entsprechenden Reflexpunkten behandelt werden können.
31.5 Diagnostische Optionen Die chinesische Diagnostik sollte immer „on top of it“ durchgeführt werden, also bei schulmedizinisch diagnostischer Absicherung. Umgekehrt kommt es beim geübten Diagnostiker infolge der chinesischen Diagnostik häufig dazu, dass ergänzende westlich-naturwissenschaftliche Untersuchungen aufgrund der TCM-Diagnose durchgeführt werden, bspw. ergänzende bildgebende Diagnostik, Entnahme spezifischer Tumormarker oder Bestimmung anderer Parameter. Indikation zur Diagnostik. Die chinesische Diagnostik ist immer dann angezeigt, wenn mit der westlich-naturwissenschaftlichen Diagnostik ein Symptom schwer oder nicht erklärbar bzw. nicht behandelbar ist. Hier kann sich ergänzend, z. B. im Rahmen von Reflextherapien wie Akupunktur und chinesischer manueller Therapie
fixierte Dysfunktion
Dysmorphe
Abb. 31.4 Die schwer messbaren vegetativen Fehlfunktionen können sich durch synaptische Bahnung und fortwährende Auslösung in messbaren krankhaften Veränderungen äußern.
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Diagnostische Optionen
hoher Energiegehalt, Bewegung nach oben
postulierte Transmitter, Hormone/Stoffwechsel: Sympathikus↑, Adrenalin↑, Glykogenolyse↑, BZ↑, ACTH
ira, Entschlusskraft, Feldherrenhaftigkeit; Stress-, Kampf-, Territorial-, Hierarchieprogramme (z. B. limbisches System) Stimmklang: Tendenz zum Schrei; Atemmittellage verschiebt sich in Richtung Inspiration, Zungengrund und Kehlkopf sinken bei Inspiration ab „yang steigt hoch“
g un öh rh e k uc Dr Herzschlag wird dynamisiert Bru st h ebt sich
„Hepatikus steigt nach oben außen“; Anspannung der physiologischen Extensoren, Dehnung der Brust bei Inspirationstendenz
diagnostische Körperöffnung: Auge; sympathikotone Zeichen (Tarsal-, Orbitalmuskel), Tendenz zu hohem Augeninnendruck, Mydriasis
Dehnungsgefühl in der Leberregion; Nervi splanchnici (Sympathikus) stimuliert die Leber, Leberkapsel zieht sich zusammen, Lebervenendruck steigt (Leukozytose, Glykogenolyse) Tendenz zur Faustballung; Flexoren des Armes gehören physiologisch zu den Extensoren
perfectio: nervus; Steigerung der neuromuskulären Erregbarkeit, hypertone Bewegungsmuster
äußere Darstellung: Nägel; Mikrozirkulationsstörung (TCM: „harter Fluss“ von qi und xue) führt zu Dystrophie
Abb. 31.5 Funktionskreis Leber – mögliche Symptome. Im oberen Teil der Abbildung erkennt man den zugehörigen Teil der „regulativen Sinuskurve“, als deren Folge sich diese Zeichen manifestieren. Verschiedene Schriftarten deuten die chinesischen Termini technici sowie die westlich-neurologischen Erklärungsmuster an. Man sieht den hepatischen Funktionskreis, der mit westlichen Begriffen im Wesentlichen einer aufsteigenden sympathikotonen Reizreaktion entspricht. Es werden vorwiegend adrenerge und sympathikotone Reaktionsmuster sichtbar, gegen die im Einzelfall wirksame Reflexe (Akupunkturpunkte) ermittelt wurden. Ähnlich einer Head-
je nach Schriftart: normal: Angaben nach der chinesischen Medizin; kursiv: westliche Entsprechungen
Zone des Westens entsprechen diesen Fehlfunktionen also bestimmte Hautpunkte, die durch ihre palpatorische Druckschmerzhaftigkeit ebenso diagnostisch wie therapeutisch relevant sind. Die Verbindung solcher Linien nennt man Leitbahnen (früher: Meridiane). Es wird angenommen, dass diese Leitbahnen anatomisch durch Verdichtungen von Kollagenfibrillen gezeichnet werden, die Akupunkturpunkte von Bündeln austretender Nervenfasern gezeichnet sind. Mit diesen kollagenen Strukturen werden vermehrt Mastzellen beobachtet, die möglicherweise zur Autoregulation durch Reflexologie dieser „Head-Zonen“ dienen (aus [1]).
299
31
Traditionelle Chinesische Medizin in der Check-Up-Medizin
(Tuina), aber auch durch entzündungshemmende Medikamente der chinesischen Arzneitherapie eine therapeutische Option aufbauen.
31.6 Präventive Maßnahmen
I II III IV
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Als besondere präventive Maßnahmen haben sich im Rahmen der TCM v. a. die regelmäßige Durchführung von traditionellen vegetativen Feedbackübungen und die spezielle chinesische Diätetik bewährt. Unter dem Namen Qigong fasst man ca. 10 000 registrierte, möglicherweise auch mehrere Zehntausend nichtregistrierte Übungsstile zusammen. Das Wort bedeutet übersetzt so viel wie Pflege und Kultivierung der Lebenskraft (Qi), was in grober Annäherung der vegetativen Ansteuerung der Organe und Gewebe entspricht. Aufgrund der räumlichen Anordnung dieser Erregungswellen im Körper kann es dabei zu Flussgefühlen kommen, die als „Fluss der Lebenskraft Qi“ subjektiv empfunden werden können. Nach zeitgemäßem westlichen Verständnis ist dabei eine Störung des Übergangs von einer zu nächsten funktionellen Verschaltung des Körpers mit einem gestörten Übergang der Ansteuerung von einer zur nächsten Leibregion verbunden, was als „energetische Blockade“ (cave: das Wort „Energie“ stammt nicht originär aus den klassischen TCM-Texten, sondern wurde nachträglich 1932 durch Soulier de Moran in die Übersetzungstradition eingeführt; bedeutet im Kontext in etwa „funktionelle Kraft“) bezeichnet wird. Bei den Übungen werden die Reflexpunkte (Leitbahnen, „Meridiane“) systematisch gedehnt und entspannt, zugleich die Atmung verlangsamt und intensiviert. So wird ein „positiver vegetativer Zustand“ im Patienten erzeugt, gebahnt und stabilisiert. Für einige Indikationen, wie beginnende Hypertonie und Migräne liegen erste Studien vor [2]. Bewährt hat sich die
300
Behandlung v. a. bei Stress, Burn-out-Syndrom und Depressionen. Eigene Messungen zeigen, dass das „System der weißen Kugel“ im Vergleich zu anderen Qigong-Übungssystemen besonders stark die periphere Kapillardurchblutung und den Sauerstoffpartialdruck steigert. Durch das Üben des Qigong wird das rational-kognitive und programmatisch Konfliktbeladene vergessen. Gleichzeitig wird eine synaptische Bahnung infolge einer vegetativen Euregulation ermöglicht und ein eigentlich „normaler Vorgang“ wird eingeübt, bis er sich festigt. Vergleichbar ist dies z. B. mit der Fingerfertigkeit eines Pianisten: Diese Bewegungen sind prinzipiell durch jeden Menschen ausführbar, aber durch die Einübung werden sie automatisiert und stark verfeinert.
Weiterführende Literatur 1.
Greten HJ. Kursbuch Traditionelle Chinesische Medizin. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2007.
2.
Flachskampf FA, Gallasch J, Gefeller O et al. Randomized trial of acupuncture to lower blood pressure. Circulation. 2007; 115 : 3121 – 9.
3.
Greten HJ, Remppis A. Pharmakologie in der Chinesischen Medizin: Die innere Logik der Arzneiwirkungen in der TCM. 4. Auflage. Heidelberg: Heidelberg School of Chinese Medicine; 2006. Greten HJ. Checkliste Chinesische Phytotherapie. Stuttgart: Hippokrates; in Vorbereitung.
4. 5.
Greten HJ. Chinesische Manuelle Therapie (Tuina). 4. Auflage. Heidelberg: Heidelberg School of Chinese Medicine; 2005.
6.
Greten HJ. Gutachten für den Hamburger Senat zur Gründung eines Instituts der Chinesischen Medizin. 2004.
7.
Porkert M. Klassische Chinesische Rezeptur. 2. Auflage. Dinkelscherben: Phainon; 1994.
8.
Kroenke K, Mangelsdorff AD. Common symptoms in ambulatory care: incidence, evaluation, therapy, and outcome. Am J Med. 1989; 86(3): 262 – 6.
Leistungserbringer
32 Prävention und Naturheilverfahren K. Kraft
Das Wichtigste in Kürze Die Naturheilkunde kann in vielfältiger Weise ihren Beitrag zur Herstellung gesunder Lebenswelten leisten. Sie wird mit ihrem ganzheitlichen Ansatz in hervorragender Weise den unterschiedlichen Gesundheitsdimensionen (biologisch, psychologisch, sozial) gerecht. Sie muss sich ebenso wie die anderen medizinischen Fächer dem empirischen Nachweis ihrer präventiven und gesundheitsfördernden Kompetenz stellen. Die Anwendung von klassischen und erweiterten Naturheilverfahren basiert auf den folgenden wichtigen Erkenntnissen: ● Die präventive Wirkung regelmäßig angewendeter naturheilkundlicher Verfahren beruht oft auf nachhaltigen physiologischen Wirkungen. ● Eine sinnvolle Kombination von Naturheilverfahren zur Prävention von Erkrankungen erzielt vermutlich größere Effekte als Einzelverfahren. ● Die präventive Anwendung ist in der Regel einfach und kostengünstig. ● Naturheilverfahren können in der Prävention sehr gut mit anderen Maßnahmen kombiniert werden. ● Die Evidenzbasierung der präventiven Wirkung der meisten Naturheilverfahren ist noch gering, die Plausibilität jedoch hoch.
32.1 Einführung und Definition Die Vorbeugung von Krankheiten nimmt in ethnomedizinischen Konzeptionen, wie z. B. im Ayurveda oder in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), einen breiten Raum ein. Auch in der traditionellen europäischen Medizin finden sich ausgeprägte präventivmedizinische Elemente. Bereits die altgriechische Diaita beinhaltet eine maßvolle Form der Lebensführung mit ausreichender Zeit für Muße und Entspannung im Wechsel mit körperlicher und geistiger Betätigung, regelmäßigen physiologischen bzw. natürlichen Reizen wie Licht, Luft, Erde, Wasser, Wärme, Kälte, regelmäßiger und nicht übermäßiger Nahrungsaufnahme und regelmäßigen Schlafenszeiten, wobei die Eigenverantwortung und aktive Mitarbeit des Menschen im Vordergrund stehen. Diese Begrifflichkeiten umfassen auch heute noch das, was unter Naturheilkunde im engeren Sinne verstanden wird. Die Naturheilkundebewegung des 19. Jahrhunderts griff diese Vorstellungen auf. Sie hat im Sinne einer naturgemäßen Lebensweise zahlreiche Methoden und Handlungsstrategien erarbeitet und kann gemeinsam mit dem
sich seit dem 18. Jahrhundert etablierenden Kur- und Bäderwesen als Begründerin der modernen Prävention und Gesundheitsförderung betrachtet werden. Heutzutage werden naturheilkundliche Verfahren vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung geschätzt und genutzt. Als wissenschaftliche Basis der Naturheilverfahren gilt das Konzept der Grundregulation, das aus aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entwickelt wurde. Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der Lebensprozess durch komplex vernetzte kybernetische Strukturen gewährleistet wird. Die zentrale Funktion kommt dabei dem Bindegewebe zu, das die sog. Grundsubstanz enthält: Diese übernimmt die funktionelle Vermittlerfunktion zwischen Endstrombahn und Zellen. Das Grundsystem ist ein Synonym für den Funktionskomplex aus Grundsubstanz, Fibroblasten, peripheren vegetativen Nervenendigungen, Carrierproteinen und Mediatoren (wie z. B. Prostaglandinen, Interleukinen, Proteasen und Interferonen). Wissenschaftlich mehren sich die Hinweise, dass Störungen der Grundsubstanz und der mit ihr verbundenen physiologischen Vorgänge, d. h. Störungen des Stoffwechsels und Energiehaushalts, Ausgangspunkt von vielen Erkrankungen und komplexen Befindlichkeitsstörungen sind, die sich dann je nach der genetischen Disposition und dem biopsychosozialen Umfeld manifestieren. Die Grundregulation ist aber auch maßgeblich an der Selbstheilung und Selbstordnung beteiligt; diese sind für alle Stufen der Prävention bedeutsam. Die Wirksamkeit von naturheilkundlichen Verfahren beruht sehr häufig auf Reaktionen auf die natürlichen Reize (Reiz-Reaktions-Muster), die bei wiederholter Reizanwendung zu Antworten des Organismus führen. Diese werden mit Training, Adaptation oder Abhärtung umschrieben. Durch die Beeinflussung der Funktionsweise des Grundsystems sollen Naturheilverfahren zudem bei regelmäßiger Anwendung die im Alterungsprozess und bei Krankheiten nachlassende Funktion wieder verbessern, mit dem Resultat eines verbesserten Zellstoffwechsels, einer Aktivierung des interstitiellen Stofftransports und einer Modulation des Vegetativums. Bedeutsam ist die gute Kombinierbarkeit der verschiedenen naturheilkundlichen Verfahren untereinander, wodurch auch der Behandlungserfolg gefördert werden kann.
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Prävention und Naturheilverfahren
32.2 Leistungserbringer
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Als Ansprechpartner bezüglich des Einsatzes von Naturheilverfahren speziell in der Gesundheitsförderung und Primärprävention eignen sich zunächst die gesetzlichen Krankenkassen. Sie unterstützen Präventionsprogramme, die oft auch naturheilkundliche Komponenten enthalten. Mit den privaten Krankenkassen sollte im Individualfall Rücksprache genommen werden. Die Anbieter naturheilkundlicher Verfahren rekrutieren sich aus dem großen Spektrum an Gesundheitsberufen. Bei den mittlerweile unzähligen Angeboten für Selbstzahler ist eine ausreichende Qualifikation der Leistungserbringer besonders wichtig. Naturheilkundlich orientierte Laienvereine (z. B. die Kneippvereine oder der Deutsche Naturheilbund, [Web1, Web2]) bieten ihren Mitgliedern, aber auch Interessierten für eine geringe Gebühr an, naturheilkundliche Methoden und Programme in Kursen praktisch kennenzulernen. Im Vordergrund stehen die Vermittlung praktischer Erfahrungen, die zu neuen Verhaltensweisen führen, und das Aufzeigen von in den Alltag integrierbaren gesundheitsfördernden Fähigkeiten. Gleichzeitig wird Hilfe zur konstruktiven Verarbeitung von Rückfällen angeboten und Wissen vermittelt, welches das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen eigenem Verhalten und Gesundheit fördert, und den Prozess vom Erkennen einer Gesundheitsgefährdung bis hin zur Umstellung des Alltags in mehreren Phasen begründet. Der große und auch nachhaltige Erfolg dieser Vereine beruht wohl primär auf dem Setting-Ansatz und der intensiven sozialen Interaktion. Eine naturheilkundlich orientierte Sekundär- und Tertiärprävention wird von den meisten Patienten gewünscht. Im Zentrum der Kompetenzvermittlung stehen zunächst die Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Naturheilverfahren“, aber auch Angehörige von anderen Berufen im Gesundheitswesen sind mögliche Ansprechpartner. Während Patientenschulungen im stationären Rahmen, z. B. in Rehabilitationskliniken, leichter standardisiert werden können, da diese mehr Personal und Ausstattung bereithalten, kann unter ambulanten Bedingungen lebensnaher gearbeitet werden. Dies unterstützt die nachhaltige Alltagsumsetzung und die Habitualisierung von Gesundheitsverhalten. Geeignet zur Kompetenzvermittlung sind auch die Selbsthilfegruppen für die verschiedenen chronischen Erkrankungen. Die Leistungserbringer sollten mit diesen intensiv zusammenarbeiten, damit Kenntnisse über die Einsetzbarkeit von Naturheilverfahren stets präsent bleiben. Den Versuchen verschiedener Interessengruppen, diese Selbsthilfegruppen und Laienvereine zur Vermarktung pharmazeutischer Produkte, Nahrungsergänzungsmitteln und alternativmedizinischer Methoden zu missbrauchen, sollte zukünftig mehr kritische Aufmerksamkeit entgegengebracht werden.
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Weblinks ● Web1: Deutscher Naturheilbund e. V.:
www.naturheilbund.de ● Web2: Kneipp-Bund e. V.: www.kneippbund.de ● Web3: Fasten nach Buchinger: www.buchinger.de ● Web4: Internationale Gesellschaft der F.X.-Mayr-Ärzte:
www.fxmayr.com
32.3 Diagnostische Optionen Zur Diagnostik werden von naturheilkundlich orientierten Anbietern zunehmend oft recht aufwendige Apparaturen verwendet, die z. B. über die Hauttemperatur oder den Hautwiderstand und deren Reaktion auf elektrische oder thermische Reize versuchen, Hinweise auf den Zustand des Vegetativums, bestimmter Organsysteme oder auch einzelner Organe zu gewinnen. Begründet wird der Einsatz oft damit, dass in möglichst kurzer Zeit ein möglichst umfassender Eindruck der gesundheitlichen Situation des Patienten gewonnen werden soll. Diese Verfahren unterliegen jedoch gewöhnlich einer erheblichen Störanfälligkeit, die Befunde sind oft nicht reproduzierbar und wirken auf die mit den Verfahren nicht Vertrauten eher diffus. Da vom Betroffenen Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung prinzipiell lebenslang wahrgenommen werden sollten, sollte für die Diagnostik ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Es wird daher empfohlen, stets eine sorgfältige Anamnese unter Berücksichtigung nicht nur der gesundheitlichen Probleme auf körperlicher und psychischer Ebene, sondern auch des sozialen Umfeldes vorzunehmen. Hierbei sind auch die Vorlieben und Erwartungen des Patienten hinsichtlich der anzuwendenden Verfahren abzufragen und die Realisierbarkeit der Therapievorschläge zu reflektieren, damit eine dauerhafte praktische Umsetzung ermöglicht wird. Die anschließende Erhebung des körperlichen und seelischen Status sollte selbstverständlich sein, wobei Triggerzonen, Gelosen, umschriebenen Veränderungen der Hautdurchblutung, Haltungsauffälligkeiten und gestörten Bewegungsmustern etc. besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden sollte. Behandlungswürdige Befunde sollten bei Bedarf einer gezielten Therapie zugeführt werden.
In der Prävention einsetzbare naturheilkundliche Verfahren
32.4 In der Prävention einsetzbare naturheilkundliche Verfahren
malisierend auf den Blutdruck. Außerdem wird das zelluläre Immunsystem angeregt, infolgedessen treten seltener banale Infekte der Atem- und Harnwege auf.
32.4.1 Allgemeine Hinweise 32.4.3 Ordnungstherapie Das Spektrum der Angebote für an Prävention und Gesundheitsförderung interessierten Personen ist mittlerweile kaum noch überschaubar. Neben den Methoden der traditionellen europäischen Medizin, die sich aus der o. g. Diaita entwickelt haben (sog. klassische Naturheilverfahren) und die ausführlich dargestellt werden, werden die sog. erweiterten Naturheilverfahren angeboten, zu denen z. B. die ausleitenden Therapien gehören. Elemente aus anderen ethnomedizinischen Systemen, aber auch alternativ- und paramedizinische Methoden, bei denen weder Wirksamkeit noch Plausibilität belegt sind, sind nicht Gegenstand dieses Kapitels. Leitlinien zu Diagnostik oder Therapieverfahren existieren für naturheilkundliche Methoden im Bereich der Prävention noch nicht.
32.4.2 Hydrotherapie Hydrotherapie, d. h. die Behandlung mit Wasser, ist einfach und selbst durchführbar, zudem wenig zeitaufwendig und kostengünstig. Eine gezielte Anwendung pro Tag wirkt bereits gesundheitsfördernd. Folgende Techniken kommen zum Einsatz: Waschungen, Wickel, Güsse, Teilbäder sowie spezielle Formen wie Taulaufen oder Wassertreten im knietiefen kalten Wasser. Grundlegendes Wirkprinzip ist der thermische Effekt. Kurze Kaltreize sind wegen ihrer intensiven Wirkung von größerer präventivmedizinischer Bedeutung als Warm-/Heiß- und Wechselanwendungen und fehlen zudem beim zivilisierten Menschen, der sich bekleidet in einer klimatisierten Umgebung aufhält, weitgehend. Sie lösen – ähnlich wie körperliches Training – umfangreiche physiologische Reaktionen wie Hautrötung, Stoffwechselsteigerung, Kreislaufreaktionen und kutiviszerale Reflexe aus. Die physiologische Reaktion läuft dabei als innerhalb von Sekunden eintretende Stressreaktion mit lokaler Vasokonstriktion ab, der eine recht langanhaltende Hyperämie im behandelten Körperteil folgt. Je nach den Begleitumständen wirkt eine Kälteanwendung sedierend oder anregend. Durch regelmäßige Anwendungen werden die physiologischen Abläufe der Stressreaktion trainiert, d. h. es erfolgen eine raschere Wiedererwärmung und eine geringere Ausschüttung von Stresshormonen. Diese Reduktion der Stressantwort findet sich im Sinne einer Kreuzadaptation dann auch bei psychosozialem Stress, d. h. Hydrotherapie kann damit auch zur Prävention bei Krankheiten, die durch psychosozialen Stress mit ausgelöst bzw. verschlimmert werden, beitragen. Die Normalisierung der Stressantwort verbessert zudem die periphere Durchblutung und wirkt nor-
Der Begriff „Ordnungstherapie“ wurde 1939 vom Arzt Maximilian Oskar Bircher-Benner geprägt. Es handelt sich um die naturheilkundliche Variante einer Psychoedukation, die von der Philosophie bis zur Strukturierung eines konkreten Tagesablaufs umfangreiche Möglichkeiten bietet. Methodisch umfasst sie Entspannungsverfahren wie autogenes Training, progressive Relaxation und verschiedene Formen der Meditation, die Berücksichtigung von chronobiologischen Fakten, praktische Verhaltenstherapie, psychotherapeutische und gesundheitspädagogische Interventionen bis hin zu philosophischen Exkursen. Sie wird von den Patienten gut akzeptiert. Klinische Studien liegen für die Sekundär- und Tertiärprävention beim autogenen Training und der progressiven Relaxation vor. Durch die Ordnungstherapie sollen insbesondere Vitalfunktionen, Stoffwechsel und Immunität konstruktiv beeinflusst werden. Sie wird zudem für die psychische Motivation zur Anwendung körperorientierter Naturheilverfahren und zur Verbesserung der sozialen Kompetenz in Partnerschaft, Familie, Freizeit und Beruf eingesetzt. Für den Patienten sind zudem Maßnahmen, die eine stressangepasste Lebensweise unter Vermeidung von Gesundheitsrisiken wie Rauchwaren, Alkohol und andere Suchtstoffe, Bewegungsmangel etc. ermöglichen, von besonderem Interesse. Es sollten auch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Lebensplanung besprochen werden, wie z. B. die ungünstigen Folgen einer bis ins mittlere Erwachsenenalter hinein verlängerten „Nesthockerphase“ oder der Dreifachbelastung von Frauen mittleren Lebensalters durch Kinder, Berufstätigkeit und Pflegeleistungen gegenüber älteren Angehörigen. Wirkfaktoren der Ordnungstherapie sind aktive Hilfe zur Problembewältigung, Klärungsarbeit (z. B. hinsichtlich der Motivation des Patienten), erfahrungsorientiertes Lernen und Ressourcenaktivierung. In der sekundären und tertiären Prävention findet die Ordnungstherapie bei Ängsten, posttraumatischen Belastungsstörungen, Abhängigkeit und Sucht, affektiven Störungen, somatoformen Störungen sowie Ess- und Schlafstörungen Einsatz. Im verhaltensmedizinischen Bereich kann sie bei chronischen Schmerzen, Asthma bronchiale, Hautkrankheiten, Tinnitus, HIV, Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Schlafstörungen und Diabetes mellitus angewendet werden.
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Prävention und Naturheilverfahren
32.4.4 Ernährungstherapie
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Gesunde Nahrung ist essenzieller Bestandteil der Primärprävention. Lebensmittel sind Naturheilmittel, wenn sie aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften gezielt zur Ernährungstherapie eingesetzt werden. Der Begriff „Ernährung“ ist mit dem Vorgang der Nahrungsaufnahme verbunden, der Begriff „Essen“ beschreibt die menschliche, kulturelle und soziale Handlung. Dieser Zusammenhang ist grundlegend für die Anwendung ernährungstherapeutischer Maßnahmen, d. h. der kulturelle Akt des Essens wird genutzt, um mit gesunder Ernährung zu therapieren. Von überragender Bedeutung ist die regelmäßige Zufuhr von sekundären Pflanzenstoffen inkl. Vitaminen und Ballaststoffen durch eine möglichst naturbelassene, an Gemüse, Obst und Vollkornprodukten reiche Nahrung im Sinne einer Vollwertkost. In der Speisenabfolge sollte stets mit der Rohkost begonnen werden. Die individuelle Bekömmlichkeit der Speisen sollte als subjektive Manifestation der individuellen Verdauungsleistung jedoch beachtet werden, um Blähungen, Völlegefühl oder Unwohlsein zu vermeiden. Gewürze mit hohem Flavonoidgehalt (> 100 mg/100 g), wie Senfsamen, Zimt, rotes Chilipulver, Gewürznelken und Gelbwurz können wegen ihrer antioxidativen Wirkung präventiv bei kardiovaskulären Erkrankungen, Tumoren, entzündlichen und verschiedenen neurologischen Krankheiten wirken. Fasten ist ein freiwilliger Verzicht auf Nahrung über mehrere Tage. Als Präventivmaßnahme sollte Fasten nach Buchinger [Web3] in ambulanten, durch Fastenleiter am Wohnort betreuten Gruppen durchgeführt werden (Fasten für Gesunde), im Alleingang sollten es nur Fastenerfahrene durchführen. Außerhalb des Wohnortes werden durch Fastenleiter betreute „Ferienfastenwochen für Gesunde“ und „Fastenwandern“ angeboten. Wichtig ist es, den während der Fastenphase entstehenden Impuls zur gesünderen Ernährung zur Ernährungsumstellung auf Vollwertkost zu nutzen, nach Möglichkeit sollte deshalb eine längere Nachbetreuung folgen. Wird mit der Intention der Gewichtsreduktion gefastet, besteht durchaus die Gefahr eines Reboundeffektes, jedoch ist die Akzeptanz einer kalorienreduzierten Kostform nach dem Fasten höher und nachhaltiger. Andere ambulant durchführbare Fastenformen sind Teefasten und Molkekuren. Sehr mild wirkende Alternativen sind Rohkost-, Kartoffel- oder Reistage. Indikationen für ambulante Fastenkuren sind die Prävention von ernährungsabhängigen Krankheiten und akuten Schüben chronisch entzündlicher Erkrankungen. Das stationär durchgeführte Heilfasten, eine Kombination aus intensivdiätetischen, Kneippʼschen und physiotherapeutischen Verfahren, wird in der Sekundär- und Tertiärprävention bei einigen chronischen Erkrankungen, z. B. aus dem rheumatischen Formenkreis genutzt. Es stimuliert die Selbstheilungskräfte und wirkt umstimmend und nachhaltig stabilisierend. Weniger weit verbreitet, aber für die
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gleichen Indikationen ebenfalls anwendbar ist auch die ambulant oder stationär durchführbare intensivdiätetische Behandlung nach F.X. Mayr [Web4].
32.4.5 Bewegungstherapie Die naturheilkundlichen Empfehlungen zur Bewegung richten sich am gesundheitlichen Nutzen aus. Geübt werden typische Bewegungsmuster, die der Mensch während seiner gesamten Evolution benutzt hat, v. a. zügiges Gehen im Gelände, das wegen der wechselnden Belastungen besonders gelenkschonend ist und gleichzeitig den Gleichgewichtssinn optimal trainiert. Hinzu kommen intermittierendes Laufen, Tanzen und gelegentliche Maximalbelastungen, wie z. B. Treppensteigen. Ergänzend werden Entspannungs- und Dehnungsübungen, Massagen sowie Gymnastik eingesetzt. Körperliche Aktivität von ausreichender Intensität und Dauer wirkt präventiv gegen altersbedingte physiologische und pathologische Veränderungen. Aus großen Langzeitbeobachtungsstudien ergab sich z. B. eine negative Korrelation zwischen täglicher körperlicher Aktivität und der Inzidenz von koronarer Herzkrankheit (KHK) sowie der kardiovaskulären und der Gesamtmortalität [1]. Empfohlen wird ein Energieverbrauch durch zusätzliche, sportlich intendierte Bewegung von mindestens 1000 kcal/Woche, täglich sollten mindestens 200 – 300 kcal verbraucht werden. Für die Prävention sind bedeutsam: ● Ausdauertraining, da es die Muskelfaserverteilung zugunsten der sog. Slow-Twitch-(ST-)Faser verändert. Je höher der Anteil an ST-Fasern ist, umso besser sind die Kapillarisierung der Muskulatur und die Glukosetoleranz. Ausdauerbelastungen steigern den HDL-Anteil beim Gesamtcholesterin und wirken immunstimulierend sowie antidepressiv. ● Krafttraining, da es wesentlich zur Unabhängigkeit und Selbstständigkeit im Alltagsleben beiträgt und den altersabhängigen Verlust der fettfreien Körpermasse und die Abnahme der Muskelmasse verlangsamen kann. Damit bleiben auch die Insulinrezeptoren der Muskelzellen erhalten. Mit Krafttraining kann auch im Alter noch eine rasche Steigerung der Leistungsfähigkeit erreicht werden. ● Koordinationstraining, da eine Optimierung der Interaktion zwischen den verschiedenen motorischen Zentren des Zentralnervensystems (ZNS) und der Skelettmuskulatur eine harmonische und Kraft sparende Bewegungsausführung ermöglicht. Es kann den altersbedingten Verlust an Gelenkigkeit und Bewegungskoordination verlangsamen und somit die Sicherheit und Genauigkeit von Bewegungen erhalten. Dies dient auch der Verletzungsprophylaxe. Die Belastungsintensitäten für präventive Maßnahmen sollten sich im submaximalen Bereich bewegen. Auch im
Naturheilkundliche Präventionsstrategien bei verschiedenen Erkrankungen
Alter genügen bereits wenige Wochen Ausdauertraining, um bei bislang untrainierten Personen die kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit deutlich zu verbessern, das Körperfett zu reduzieren und die subjektiv empfundene Lebensqualität zu steigern. Das zelluläre Immunsystem reagiert mit einer gesteigerten Aktivität ähnlich wie bei einer leichten Infektion, jedoch unter aseptischen Bedingungen. In der Sekundär- und Tertiärprävention bei Tumoren kann ein moderates Ausdauertraining die Komplikationen nach der Behandlung vermindern und der therapiebedingten, oft mehrere Jahre nach der Therapie anhaltenden Erschöpfung vorbeugen. Positive Effekte finden sich überdies bei der kardiovaskulären oder muskulären Funktion, beim psychischen Zustand, der Selbstständigkeit und der Selbstachtung [3].
32.4.6 Weitere Verfahren Ausleitende Verfahren sind in den meisten ethnomedizischen Systemen ein wichtiger Teil präventivmedizinischer Bemühungen. Hier gibt es jedoch weder ein dem westlichen Denken vergleichbares Präventionskonzept, noch existieren – außer in Ausnahmefällen – wissenschaftliche Studien. Trockenes Schröpfen wirkt vegetativ ausgleichend, unspezifisch immunstimulierend, allgemein tonisierend und verbessert die Sauerstoffversorgung. Dass regelmäßige Aderlässe von 150 ml als Präventivmaßnahme beim metabolischen Syndrom geeignet sind, ist plausibel; immerhin wird eine Blutspende von ca. 400 ml im Abstand von mindestens drei Monaten allgemein als gesundheitsförderlich angesehen. Für die meditativen Verfahren Hatha-Yoga, Qigong und die ursprünglich aus Indien stammende Achtsamkeitsmeditation finden sich positive Erfahrungsberichte über günstige Wirkungen bei stressbedingten Beschwerden und zur Prävention von Rezidiven von Psoriasis, gastrointestinalen Erkrankungen, Depressionen und Angst. Phytotherapie (Behandlung mit Heilpflanzen) kann beispielsweise zur Primärprävention der Dyslipoproteinämie verwendet werden, es eignen sich Knoblauchpulver, Flohsamenschalen oder Artischockenblätterextrakt. Die Prävention symptomatischer Harnwegsinfekte mit Cranberrysaft (300 – 750 ml/Tag in 2 – 3 Portionen) ist gut gesichert [4]. Massagen setzen Berührungsreize, die in unserer berührungsfeindlichen Kultur gerade von den älteren Menschen vermisst werden. Eine unspezifische Immunstimulation und ein Stressabbau wurden z. B. für die manuelle Lymphdrainage gezeigt. Die Atemtherapie wird zur Ökonomisierung und Optimierung der Atmungsfunktion und zur Förderung der Zwerchfellatmung (regt die intestinale Funktion an) genutzt. Günstige präventive und gesundheitsfördernde Effekte sind sehr plausibel, jedoch fehlen noch entsprechende Studien.
Heliotherapie, d. h. die Behandlung mit Sonnenlicht in geringer Dosierung wird zur Osteoporoseprävention und Infektprophylaxe eingesetzt. Außerdem wirkt Sonnenstrahlung in geringen Dosen über die Vitamin-D 3-Bildung präventiv gegenüber entzündlichen Hautkrankheiten wie Psoriasis und gegenüber Hautkrebs [5]. Klimatische Reize wirken in ähnlicher Weise wie Hydro- und Bewegungstherapie. Dies wurde bereits in einigen Studien gezeigt. Die mikrobiologische Therapie, bei der Produkte von Bakterien, abgetötete oder lebende Bakterien verabreicht werden, kann z. B. in der Infektprophylaxe eingesetzt werden. Es existieren erste Untersuchungen, die dies belegen.
32.5 Naturheilkundliche Präventionsstrategien bei verschiedenen Erkrankungen Naturheilverfahren können bei weit verbreiteten Krankheiten präventiv wirksam sein. Nachfolgend werden vor allem gesicherte Strategien dargestellt und solche, bei denen die präventive Wirkung sehr plausibel erscheint. Eine individuell adaptierte Kombination der Verfahren sollte immer erwogen werden. Diabetes mellitus Typ II. Reichlicher Genuss von Früchten, Gemüse, Vollkornprodukten und Nüssen scheint das Risiko für die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ II zu reduzieren [6]. Adipositas. Mit zunehmendem Alter wird Krafttraining immer bedeutsamer, um dem Verlust der Muskelmasse, die viel Energie verbraucht, entgegenzuwirken. Anwendungen von Kälte (z. B. durch Hydro- und Klimatherapie) steigern den Energieverbrauch, insbesondere sind Temperaturschwankungen z. B. durch Sauna, Kaltwasseranwendungen und Schlafen bei offenem Fenster wichtig. Bei länger anhaltenden Stressphasen, die bekanntlich die Gewichtszunahme fördern, sind Entspannungsmaßnahmen sinnvoll. Ein Nachtschlaf von 7 – 8 Stunden und eine regelmäßige Heliotherapie mit Bewegung im Freien werden empfohlen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Reihe von interventionellen Studien belegt den präventiven Effekt von regelmäßiger Bewegungstherapie bei der Funktion des arteriellen Endothels, dem Stoffwechsel und der Lebensqualität. Eine regelmäßige Exposition gegenüber UV-BStrahlung wirkt hinsichtlich der kardiovaskulären Mortalität präventiv. Regelmäßiger Fischölgenuss reduziert die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse und die kardiale Mortalitätsrate, bei reichlichem Genuss von Früchten, Gemüse, Vollkornprodukten und Nüssen soll das Risiko für die Entwicklung einer KHK besonders niedrig sein [6, 7].
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Prävention und Naturheilverfahren
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Eine Inzidenzabnahme von KHK bzw. Schlaganfall bei täglicher Zufuhr von 600 g Obst und Gemüse um 31 % bzw. 19 % wurde beschrieben [8]. Der sekundärpräventive Effekt einer mediterranen, fleischarmen Kost bzw. einer indomediterranen Variante bei manifester KHK ist ebenso belegt [3, 9] wie die Wirksamkeit von Entspannungsverfahren bei belastungs- und stressinduzierter Angina pectoris [10]. Infekte. Zur Prävention von respiratorischen Infekten soll eine niedrige Körpertemperatur, die Folge einer geringen Körperwärmeproduktion durch Bewegungsmangel und Verzehr von leichtverdaulichen Nahrungsmitteln ist, vermieden werden, da diese die Funktionsfähigkeit des Immunsystems mindert. Präventiv wirken regelmäßige Hydrotherapie (z. B. Wechselduschen), Bewegungstherapie an der frischen Luft ohne Leistungsanspruch, maßvolle, regelmäßige UV-Lichtexposition, vegetarisch orientierte Vollwertkost und eine positive Lebenseinstellung. Günstig sind auch warme Fußbäder, heiße Suppen, Heilkräutertees, Vollkornprodukte, Rohkost und Probiotika. Krebserkrankungen. Regelmäßige körperliche Bewegung (täglich 30 – 60 min) senkt die Inzidenz des kolorektalen Karzinoms um 40 – 50 % [8]. Ein günstiger präventiver Einfluss einer regelmäßigen, aber moderaten Exposition gegenüber Sonnenlicht wurde für Mamma-, Prostataund Kolonkarzinom weitgehend gesichert. Eine laktovegetabile Kost reduziert das Risiko des Auftretens von kolorektalen Karzinomen [11], die tägliche Zufuhr von 600 g Obst und Gemüse wirkt präventiv gegenüber Bronchialkarzinomen [8]. In der Sekundärprävention des Mammakarzinoms erhöhen das Vermeiden einer Gewichtszunahme und eine moderate körperliche Aktivität die Überlebensrate [12]. Erkrankungen des Bewegungsapparates. Zur Prävention der Osteoporose ist konventionelles Krafttraining geeignet, es bewirkt Kraftgewinne und verbessert die Knochengeometrie. Eine regelmäßige Exposition gegenüber UV-B-haltigem Licht ist supportiv wirksam. Zur Prävention von Stürzen werden vor allem Kraft- und Gleichgewichtstraining empfohlen. Erkrankungen des Urogenitaltraktes. Zur Prävention von Harnwegsinfekten werden insbesondere Trinkkuren mit Mineralwässern und Kräutertees empfohlen. Zur Prävention der erektilen Dysfunktion stehen regelmäßige körperliche Bewegung und Vollwertkost an erster Stelle. Wechseljahrsbeschwerden werden durch Maßnahmen, die vegetativ stabilisierend bzw. trainierend wirken, wie Hydrotherapie und Bewegungstherapie, verhindert bzw. stark abgemindert. Krankheiten im Kindesalter. Zur Prävention von Bewegungsmangel, Adipositas und Verhaltensstörungen bei Kindern wurden in den letzten Jahren Präventionspro-
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gramme mit den Komponenten Bewegung, Vollwertkost und Verhaltenstraining aufgelegt. Hier sind auch Hydround Ordnungstherapie zu empfehlen. Neurologische Erkrankungen. Beim Alzheimer-Syndrom und anderen Formen der Demenz ist eine Präventivwirkung von Bewegung beschrieben worden. Bei Menschen ab 65 Jahren können 15 min/d intensive Bewegung das Neuerkrankungsrisiko im Vergleich zu einer nicht sporttreibenden Gruppe signifikant senken [13]. Ordnungstherapeutische Maßnahmen im Sinne einer Lebensstiländerung, v. a. die Beendigung einer sozialen Isolation, dürften präventiv wirksam sein, da Einsamkeit im Alter das Risiko, am Alzheimer-Syndrom zu erkranken, verdoppelt [14]. Die Inzidenz der Multiplen Sklerose ist mit dem Konsum gesättigter Fettsäuren positiv assoziiert, eine maßvolle Exposition gegenüber UV-B-Licht wirkt präventiv. Psychische Störungen. Zur Erhöhung der Stresstoleranz werden Entspannungs-, Hydro- und Bewegungstherapie empfohlen. Regelmäßige Bewegungstherapie und maßvolle Heliotherapie wirken stimmungsaufhellend. Hautkrankheiten. Zur Anregung der Hautdurchblutung und Aufbau eines besseren Säureschutzes eignen sich ansteigende Warmbäder, Sauna, Lehmwickel, Luftbad und Trockenbürsten.
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Patienteninfo
Wer kann zum Einsatz von Naturheilverfahren bei Prävention und Gesundheitsförderung beraten? ● Primär sollten qualifizierte Personen, wie z. B. Ärzte, bevorzugt mit den Zusatzbezeichnungen „Naturheilverfahren“ oder „Physikalische Therapie und Balneotherapie“ befragt werden, ferner Institutionen, wie z. B. universitäre Abteilungen mit naturheilkundlicher Ausrichtung, oder auch Physiotherapeuten und naturheilkundlich qualifizierte Angehörige anderer Gesundheitsberufe. Internetangebote von einzelnen Anbietern und Darstellungen in der Laienpresse und anderen Medien sind in der Regel vorwiegend wirtschaftlich orientiert und unterliegen zudem Modeerscheinungen. Welche Naturheilverfahren sind zur Prävention und Gesundheitsförderung besonders geeignet? ● Da Prävention und Gesundheitsförderung lebenslänglich betrieben werden müssen, sollten Verfahren bevorzugt werden, die selbstständig und in Eigenverantwortung, regelmäßig und ohne großen Kosten- und Zeitaufwand durchgeführt werden können. Diese Kriterien gelten für fast alle oben aufgeführten Verfahren.
Naturheilkundliche Präventionsstrategien bei verschiedenen Erkrankungen
Zahlen die gesetzlichen Krankenkassen naturheilkundlich orientierte Leistungen bei Prävention und Gesundheitsförderung? ● Die Leistungen fallen oft nicht unter die §§ 20 und 43 SGB V. Es gibt aber bei den einzelnen Krankenkassen Modellversuche und Sondervereinbarungen mit einzelnen Leistungsanbietern. Die Erstattungsfähigkeit muss deshalb individuell vor dem Erbringen der Leistung geprüft werden.
Können Therapieelemente aus verschiedenen medizinischen Therapiesystemen miteinander kombiniert werden? ● Das ist im Prinzip möglich und oft auch sehr sinnvoll, allerdings liegen oft noch keine ausreichenden Erfahrungen und insbesondere wissenschaftlichen Untersuchungen vor.
Nach welchen Kriterien sollte sich der Einsatz von Naturheilverfahren bei Prävention und Gesundheitsförderung richten? ● Es sollte ein den individuellen Bedürfnissen angepasstes Angebot erarbeitet werden. Kombinationen aus mehreren Verfahren sind erfahrungsgemäß wirksamer.
Literatur
Ist eine gelegentliche „Kur“ sinnvoll? Mit zunehmendem Lebensalter werden Kuren, bei denen über ca. 3 Wochen eine intensive Therapie mit verschiedenen naturheilkundlichen Maßnahmen durchgeführt wird, immer sinnvoller.
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Wirken Naturheilverfahren nachhaltig? ● Alle Naturheilverfahren, deren Wirkung dem Reiz-Reaktions-Prinzip zugrunde liegt, wirken nachhaltig.
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Wie kann ich erkennen, ob ein naturheilkundliches Angebot zur Prävention und Gesundheitsförderung seriös ist? ● Von den gesetzlichen Krankenkassen unterstützte Angebote sind im Allgemeinen diesbezüglich geprüft. Ansonsten sollte man auf die Qualifikation des Anbieters achten und im Zweifelsfall den Rat von unabhängigen Experten einholen. Können Naturheilverfahren zur Prävention und Gesundheitsförderung auch bei Kindern eingesetzt werden? ● Ja, sie sind sogar sehr geeignet. Allerdings müssen die Dosierungen zumeist anders als bei Erwachsenen gewählt werden. Ist es sinnvoll, einem naturheilkundlich orientierten Laienverein beizutreten? ● Ja, denn man kann auf sehr preiswerte Weise verschiedene Verfahren in Gemeinschaft kennenlernen und erfährt bei gesundheitlichen und motivationsbedingten Problemen Unterstützung.
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Salutogenese und Lifestyle Coaching
Fitness, Bewegung und Sport
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Das Wichtigste in Kürze Regelmäßige sportliche Aktivität ist ein wichtiger Bestandteil der präventiven Medizin in vielen Fachgebieten. Zur Integration eines Sportprogramms (unabhängig ob zur primären oder sekundären Prävention) in den Alltag kann der behandelnde Arzt gute Hilfestellung geben. Wichtige Bestandteile der ärztlichen Betreuung können hier sein: ● Gesundheitsuntersuchung bei Trainingsneubeginn oder nach längerer Trainingspause ● Festlegung von Trainingszielen (zur Compliance-Förderung insb. auch auf erreichbare Zwischenziele achten) ● Planung von Trainingszeiten und -inhalten (insb. bzgl. Dauer, Regelmäßigkeit, Intensität und Ausgewogenheit) ● Trainingsdokumentation
33.2 Trainingsplanung Trainingsziele setzen und sofort beginnen Zu Beginn des Trainings sollte ein Trainingsziel festgelegt werden (z. B. Gewichtsabnahme, Verbesserung der Belastbarkeit, Muskelaufbau, Absolvieren eines Marathons, Verbesserung von Risikofaktoren). Basierend hierauf sollten dann für jeden Monat realistische Zwischenziele festgelegt werden. Kleine Zwischenziele helfen, die Compliance zu erhöhen und nicht frustriert wieder aufzugeben, nur weil die Ansprüche zu Beginn schon unrealistisch gewählt wurden. Optimal ist es, die einzelnen Ziele schriftlich festzulegen, da dadurch eine größere Verbindlichkeit ausgedrückt wird.
Trainingszeiten planen
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33.1 Gesundheitsuntersuchung und „Training auf Rezept“ Bei Trainingsneubeginn oder langer Trainingspause in einem Alter > 35 Jahren sowie bei bestehenden Beschwerden oder Risikofaktoren sollte vor Trainingsbeginn eine ärztliche Untersuchung zur Überprüfung der Sporttauglichkeit durchgeführt werden (s. a. Kap. 18). In diesem Rahmen können auch Trainingsempfehlungen ausgesprochen werden, um dem Patienten den Start in ein regelmäßiges Trainingsprogramm zu erleichtern. Dem Patienten sollte seine individuelle Belastbarkeit vermittelt und Hilfestellung zur Planung eines gezielten Trainings gegeben werden. Bewährt hat sich die Verschreibung von körperlicher „Bewegung auf Rezept“. Dies hat den Vorteil einer schriftlichen Fixierung der Empfehlungen und betont die Wichtigkeit von körperlicher Bewegung, die vergleichbar wie ein Medikament verordnet wird. Wie bei einer medikamentösen Therapie sollte der Therapieerfolg in regelmäßigen Abständen durch den Arzt kontrolliert werden. Hierzu reicht ein fest vereinbarter Termin in der Praxis, der damit nochmals die Wichtigkeit des Trainings unterstreicht (Trainingsdokumentation).
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Die Trainingszeiten sollten im Terminkalender inklusive Uhrzeit vermerkt und am besten für 3 Monate im Voraus eingeplant werden. Falls für längere Trainingseinheiten keine Zeit besteht, sollten mehrere kurze Einheiten à 10 – 15 min eingeplant werden. Wissenschaftlich belegt haben auch wiederholt kurze Einheiten (3-mal 10 min) einen positiven Trainingseffekt [LL 1]. Das schriftliche Festhalten der Trainingseinheiten mit Inhalt, Dauer und Trainingseindrücken in einem Trainingstagebuch, motiviert und hilft den Überblick zu bewahren – für Patienten ebenso wie für den Arzt und Therapeuten.
33.3 Praktische Durchführung Im Alltag körperlich aktiv sein und regelmäßig trainieren Um seinen Lebensstil auf Dauer zu ändern, sollten die Trainingseinheiten regelmäßig, d. h. mindestens 3-mal/ Woche absolviert werden. Wird das Training über mehrere Wochen regelmäßig, wenn möglich auch zur gleichen Uhrzeit durchgeführt, ist es im Tagesablauf fest integriert und die Compliance erhöht sich. Hier ist es auch sinnvoll, bei Zeitknappheit kurze Trainingseinheiten wie z. B. 5 – 10 min zu absolvieren, als ein Training ausfallen zu lassen.
Praktische Durchführung
Leitlinienbox LL1. Haskell WL, Lee IM, Pate RR et al. Physical activity and public health: Updated recommendation for adults from the American College of Sports Medicine and the Nach Empfehlung internationaler Gesellschaften [LL 1] sollte man mindestens an 5 Tagen/Woche 30 min körperlich aktiv sein. Die Intensität sollte so gewählt sein, dass man leicht ins Schwitzen kommt. Die Bewegungseinheiten können dabei auch in 10- bis 15-minütige Blöcke unterteilt werden. Wird das Training mit einer höheren Intensität durchgeführt (z. B. Joggen), dann reichen auch 3-mal Woche 20 min/Tag als minimales Trainingsziel aus. Am besten werden Bewegungsübungen in den Alltag integriert, wie z. B. morgendliche Dehn-, Koordinationsund Kraftübungen (z. B. Rückwärtsliegestütz am Badewannenrand oder Zähneputzen auf einem Bein) und weitere Aktivitäten am Arbeitsplatz, auf dem Arbeitsweg (z. B. generell Treppen steigen statt Lift oder Rolltreppe fahren).
American Heart Association. Circulation. 2007; 116 (9):1081 – 93.
sert, was dann motivationsbedingt häufig zu einem Trainingsabbruch führt. Untrainierte sollten mit möglichst täglichen bzw. 6mal wöchentlichen kleinen Einheiten von wenigen Minuten (10 min) Walking beginnen. Dieses Training dient dazu, eine Lebensstiländerung fest im Tagesablauf zu integrieren. Jede Woche kann das Training dann um 5 min verlängert werden, sodass nach 4 Wochen täglich 25 min und nach 8 Wochen 45 min gewalkt wird. Wird dieses Training problemlos durchgehalten und bestehen keine Kontraindikationen (z. B. ausgeprägtes Übergewicht) für ein Lauftraining, so können kurze Joggingphasen von 1 – 2 min in das reguläre Training eingebaut werden. Gerade zu Beginn eines Trainingsprogramms ist es wichtig, zunächst die Umfänge (Zeitdauer) und anschließend die Intensität (Tempo) zu steigern.
Richtige Belastungsart wählen Die richtige Intensität finden Ein optimales Trainingsprogramm umfasst Ausdauereinheiten ebenso wie Kraft-, Koordinations- und Dehnübungen. Optimal für ein Ausdauer- und Krafttraining sind Sportarten, bei denen große Muskelgruppen beansprucht werden, wie Walking, Joggen, Radfahren, Schwimmen oder Rudern. Noch wichtiger ist, dass eine Sportart oder mehrere Sportarten gewählt werden, die Spaß machen, da sonst die Trainingsmotivation schnell nachlässt. Um Motivationslöcher zu vermeiden, ist es zudem sinnvoll, neue Sportarten zu integrieren oder alternierend zu trainieren. Nach einem kontinuierlichen Trainingsaufbau würde ein optimales gesundheitsorientiertes Training neben der verstärkten körperlichen Aktivität im Alltag ein 3mal wöchentliches Ausdauertraining à 45 – 60 min, 2mal wöchentliches Krafttraining/Gymnastik und regelmäßige Stretching-, Koordinations- und Entspannungseinheiten enthalten.
Langsam und mit kurzen Einheiten beginnen Der größte Fehler besteht darin, ein geplantes Trainingsprogramm zu intensiv zu beginnen. Aufgrund des zu hoch gesetzten Belastungsreizes kann es beim Untrainierten schnell zu Überlastungsschäden, v. a. am Stütz- und Bewegungsapparat, kommen. Zudem kann sich mit einem zu intensiv betriebenen Ausdauertraining im anaeroben Bereich keine Grundlagenausdauer entwickeln. Die Folge ist, dass sich die Ausdauerleistungsfähigkeit nicht weiterentwickelt und sich die Fitness nicht verbes-
Gerade für Trainingseinsteiger ist es schwierig, die Signale des eigenen Körpers beim Training richtig zu deuten. Zudem überschätzen sich gerade ältere Sportwiedereinsteiger häufig, da sie ihre Leistungsfähigkeit aus jungen Jahren als Maßstab annehmen. Optimal ist bei der ärztlichen Gesundheitsuntersuchung auch eine Laktatdiagnostik oder kardiopulmonale Funktionsdiagnostik (Spiroergometrie) durchzuführen, anhand derer dann die optimalen Trainingsherzfrequenzen festgelegt werden können (s. a. Kap. 18). Für das herzfrequenzgesteuerte Training im primär aeroben Stoffwechsel benötigt der Sporttreibende einen Pulsmesser, mit dem kontinuierlich die Pulsfrequenz während des Trainings kontrolliert wird. Falls dies aus finanziellen oder anderen Erwägungen nicht möglich ist, gibt es weitere Anhaltspunkte für den geeigneten Trainingsbereich: Während eines gesundheitsorientierten Ausdauertrainings sollte die Intensität nur so hoch sein, dass eine Unterhaltung während des Trainings problemlos geführt werden kann, ohne außer Atem zu sein. Eine weitere Möglichkeit ist die Benutzung der Borgskala zur Definition des subjektiven Anstrengungsgrades. Diese gibt während einer Belastung den subjektiv empfundenen Anstrengungsgrad auf einer Skala von 6 – 20 an. Das Training sollte für einen Trainingsanfänger bei einem Borgwert von 11 (entsprechend „recht leicht“) liegen. Im weiteren Trainingsverlauf kann dann auf einen Wert von 13 (entsprechend „etwas anstrengender“) gesteigert werden. Für ein Ausdauertraining sollte der Borgwert von 14 oder größer gemieden werden.
311
33
Fitness, Bewegung und Sport
Muskelaufbautraining
I II III IV
Ein Muskelaufbautraining kann als Gymnastik mit und ohne Hilfsmittel (wie Thera-Band, Hanteln, Fitnessball) oder als Krafttraining an Fitnessmaschinen durchgeführt werden. Anfänger sollten dabei darauf achten, Muskelgruppen alternierend zu trainieren (Agonist und Antagonist, z. B. Bauch/Rücken) und einfach durchführbare Übungen zu verwenden. Zunächst sollte dabei der korrekte Bewegungsablauf ohne Gewicht oder mit sehr geringem Widerstand unter Kontrolle eines Trainers durchgeführt werden. Empfohlen werden durch die amerikanische Gesellschaft für Sportmedizin (ACSM) als Richtlinie für ein gesundheitsorientiertes Krafttraining zum Erhalt und Aufbau der Muskelmasse ein Krafttraining von mind. 2-mal/ Woche mit Durchführung von 8 – 10 Übungen für alle großen Muskelgruppen mit einem Satz von 8 – 12 Wiederholungen, bis eine muskuläre Ermüdung erreicht wird [LL 1].
V
VI VII
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33.4 Nach dem Training Stretching Zum Erhalt der Flexibilität sollte regelmäßig eine Dehnung aller beanspruchten Muskeln durchgeführt werden. Diese Dehneinheiten können an das Ausdauer- oder Krafttraining angeschlossen werden. Das Dehnprogramm sollte regelmäßig mindestens 2- bis 3-mal/Woche durchgeführt werden und alle großen Muskelgruppen einschließen.
Regeneration nicht vergessen Der Wechsel von Belastung und Erholung sind die wichtigsten Bestandteile des Trainingserfolges. Geballte Trainingsbelastung mit mehreren Trainingseinheiten ohne Regenerationspausen bewirken eine langanhaltende Ermüdung sowie eine fehlende Leistungsverbesserung und können bei Nichteinhaltung der Regenerationszeiten mittel- und langfristig zu einem Erschöpfungssyndrom führen. Daher sollte mindestens an einem Tag der Woche nicht trainiert werden. An diesem Tag sollten Entspannungsübungen wie autogenes Training, Tai-Chi, Qigong oder auch ein Saunabesuch, Massage oder das Lesen eines guten Buches auf dem Sofa zum Einsatz kommen. Bei höherem Regenerationsbedarf kann ein Training abwechselnd mit einem Tag Pause sinnvoller sein. Wird täglich trainiert, so sollte der Trainingsreiz zwischen zwei Einheiten durch Änderung der Belastungsintensität und der Trainingsinhalte gesteuert werden.
Ernährung und Evolution
34 Ernährung N. Worm
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Das Wichtigste in Kürze Ob und inwieweit der Mensch heute die Ernährungsformen seiner archaischen Vorfahren adaptiert hat, ist unbekannt und lässt sich nicht überprüfen. Aus der Existenz von Polymorphismen folgt, dass es nicht für alle Menschen eine einzige optimal die Gesundheit fördernde Ernährungsform gibt. Für die heute etablierten und für die Allgemeinheit abgegebenen Ernährungsempfehlungen zur Prävention (und Therapie) von chronischen Erkrankungen (Zivilisationserkrankungen) existiert keine hinreichende Evidenz. Da mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig ist und dauerhaftes Abnehmen mit allen Kostformen bislang an der mangelnden Compliance gescheitert ist, sollte man Ernährungsempfehlungen abgeben, die übergewichtigen und insulinresistenten Menschen verhelfen, auch ohne Gewichtsreduktion eine Minderung der Gesundheitsrisiken zu erreichen. Bei Insulinresistenz, die meist durch Übergewicht und Bewegungsmangel ausgelöst ist und mit dem metabolischen Syndrom, Diabetes mellitus Typ II, Syndrom der polyzystischen Ovarien (PCO), nichtalkoholischer Fettleber, KHK und verschiedenen Krebsarten etc. assoziiert ist, zeigen kohlenhydratreduzierte, fett- und eiweißbetonte Kostformen günstigere Effekte im Sinne der Vermeidung bzw. Senkung der Risikofaktoren, als die herkömmlich empfohlenen fettarmen, kohlenhydratbetonten Kostformen.
Wie fördert man Gesundheit? Die theoretische Antwort ist einfach. Neben der genetischen Disposition kommt es auf Beachtung der drei Hauptsäulen des Lebensstils an: genügend Bewegung, ausreichend Regeneration und eine Nahrung, die den Bedarf an Energie und allen lebenswichtigen Nährstoffen optimal abdeckt. Man könnte also von „Diät“ im klassischen Sinn, von Diaita sprechen, dessen Grundbedeutung im Griechischen mit „Lebensführung“ umschrieben werden kann. Was allerdings „gesunde Ernährung“ bedeutet, dafür existiert eine kaum zu übertreffende Variationsbreite von Vorstellungen, die sich je nach Kulturkreis unterscheidet und von Philosophie und Ethik wie von sozialhygienischen Bedingungen abhängig ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich die moderne Wissenschaft der Frage nach der „gesunden Ernährung“ angenommen. Bis heute gibt es aber aus Sicht der evidenzbasierten Medizin keine hinreichende Beweislage für die Frage, was für die verschiedenen Lebenssituationen als „optimale“ Ernährung verstanden werden kann. Dies er-
öffnet weiterhin reichlich Spekulationen über „gesunde Ernährung“.
34
34.1 Ernährung und Evolution Es gibt Bestrebungen, die Frage nach der „gesunden“ bzw. nach der „optimalen“ Ernährung aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen abzuleiten. Die Menschheit hat sich im Laufe der Jahrmillionen mit unterschiedlichen Kostformen versorgen müssen. Aufgrund unterschiedlicher Umweltbedingungen in seinen verschiedenen Lebensräumen musste der Mensch zum Überleben mehrere unterschiedliche Nischen besetzen. Eine bis heute kontrovers diskutierte Frage ist, welche Bedeutung tierische und pflanzliche Lebensmittel in den einzelnen Phasen der Humanevolution eingenommen haben. Allgemein wird angenommen, dass der Anteil von Fleisch – und insbesondere der von Fisch – im Verlauf der Altsteinzeit zugenommen hat. Hingegen scheint die Bedeutung der Jagd in der Frühphase der Menschwerdung mangels geeigneter Jagdwerkzeuge eher von untergeordneter Bedeutung gewesen zu sein. Generell gilt: Der Mensch hat als Opportunist operiert, d. h. wenn es wenig Tiere zu jagen gab, musste er mit Pflanzen überleben. Die Intensivierung der Landwirtschaft und die modernen Verarbeitungsmethoden von Nahrungsmitteln haben uns im Prinzip in sieben Bereichen wesentliche qualitative Veränderungen gegenüber der Ernährung während der Millionen Jahre unserer Entwicklungsgeschichte gebracht: ● hohe glykämische Last ● unphysiologische Fettqualität ● veränderte Relation der Makronährstoffe ● Verringerung der Mikronährstoffdichte ● Belastung des Säure-Basen-Gleichgewichts ● ungünstiges Natrium-Kalium-Verhältnis ● geringer Ballaststoffgehalt Es wird von verschiedener Seite die These diskutiert, dass sich zahlreiche chronische Erkrankungen der westlichen Zivilisation auf eine Kollision unserer – aus evolutionärer Sicht – uralten Erbinformation mit den ernährungsphysiologischen Gegebenheiten der Moderne zurückführen lassen. Demnach wäre unser Stoffwechsel – v. a. bei dem aktuell herrschenden Bewegungsmangel und Übergewicht – nicht an die heutige Kost adaptiert, die 1. eine chronisch hohe Blutzuckerbelastung mit sich bringt,
313
Ernährung
I II III IV V
VI VII
2. zu wenig ungesättigte, v. a. zu wenig Omega-3-Fettsäuren und zu viele gesättigte Fettsäuren enthält, 3. zu viele Kohlenhydrate und zu wenig Eiweiß enthält, 4. im Verhältnis zum Energiegehalt zu wenige Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente enthält, 5. über Verdrängung der einzig relevanten Basenlieferanten in der Kost (Gemüse und Früchte) durch den hohen Getreideverzehr (säurebildend) und den hohen Konsum von Zucker und Reinfetten (neutral) das Risiko für einen chronischen Säureüberschuss erhöht, 6. durch eine hohe Kochsalz- und geringe Kaliumzufuhr (Gemüse und Früchte) die Blutdruckregulation behindert, 7. durch die Präferenz von raffinierten Nahrungsmitteln zu wenig kalorienfreie Sättigungskomponenten aufweist. Diese selektionstheoretische These der Erklärung von Zivilisationskrankheiten ist jedoch umstritten und entspricht streng genommen keinem wissenschaftlichen Ansatz, da sie nicht falsifizierbar ist. Außerdem heißt Überleben und Reproduktionsfähigkeit unter „steinzeitlicher Ernährung“ nur, dass die Ernährung hinreichend energieund nährstoffhaltig war und nicht, dass sie das „Optimum“ für den menschlichen Organismus damals und heute darstellt. Auf eines weist unsere Entwicklungsgeschichte aber deutlich hin: Homo sapiens war anpassungsfähiger an Umweltbedingungen als andere Spezies und hat sich möglicherweise deshalb durchsetzen können. Vor diesem Hintergrund und dem heutigen Wissen über Polymorphismen, die uns sehr individuell auf Nahrungsbestandteile reagieren lassen, kann man folgern, dass es nicht nur „eine gesunde Ernährung“ gibt, sondern dass es prinzipiell eine große Variationsbreite an Ernährungsformen gibt, die die Gesundheit des Menschen ausreichend stützen könnte, dass aber im Einzelfall die individuelle genetische Anlage die Reaktion auf Umweltbedingungen entscheidend bestimmt (s. a. Kap. 29)
34.2 Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin
In diesem Kapitel soll primär nur eine Betrachtung des heute drängendsten Ernährungsproblems, der Über- und Fehlernährung und deren Einflüsse auf Risikofaktoren für die häufigsten Zivilisationskrankheiten, dargestellt werden.
34.2.1 Ernährungsabhängige Zivilisationskrankheiten Die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken der letzten fünf Jahrzehnte zeigen, dass zivilisationsbedingte Erkrankungen permanent und deutlich ansteigen. Dies hat einerseits mit dem Älterwerden der Gesellschaft zu tun, andererseits bedingt der heutige Lebensstil Störungen der körperlichen Systeme. Diesen modernen Erkrankungen ist der meist chronische Verlauf mit einer entsprechend indizierten Dauertherapie gemein. Vor diesem Hintergrund erhält die „Prävention“ immer größere Bedeutung. Es geht dabei nicht darum, so alt wie möglich zu werden, sondern so „jung“ wie möglich alt zu werden. In Deutschland und den meisten westlich industrialisierten Ländern werden heute etwa 60 % des täglichen Energiebedarfs mit raffinierten Mono-, Di- oder Polysacchariden, d. h. mit Zuckern und Stärke, sowie mit gesättigten Fettsäuren abgedeckt. Da die genannten einfachen und komplexen Kohlenhydrate wie auch die gesättigten Fettsäuren nicht essenziell sind, kann man den Umkehrschluss ziehen, dass uns zur Zeit nur 40 % unserer Nahrungszufuhr dafür bleiben, um die essenziellen Nährstoffe abzudecken. Dies ist die Konsequenz aus der Industrialisierung der Landwirtschaft und der modernen Nahrungsmittelproduktion. Die Technologie vermag mit immer weniger Aufwand und Kosten immer mehr Nahrungskalorien zu produzieren. Es entstehen auf diese Weise immer mehr raffinierte, wasser- und ballaststoffarme Nahrungsmittel. Sie weisen prinzipiell eine hohe Energie-, aber eine geringe Nährstoffdichte auf. Dies verstärkt das Risiko einer Fehlernährung im Sinne einer übermäßigen Kalorienzufuhr bei relativ knapper oder unzureichender Nährstoffzufuhr.
34.2.2 Etablierte Ernährungsempfehlungen Prinzipiell kann man drei Gebiete definieren, für die Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin Relevanz besitzen: ● ernährungsbedingte Erkrankungen, wie Adipositas, Diabetes mellitus, Dyslipoproteinämie, arterielle Hypertonie, Gicht, Fettleber, bestimmte Krebsformen etc. ● Krankheiten, die auf Ernährungstherapie ansprechen, Allergien, Nahrungsmittelintoleranzen, Magen-DarmKrankheiten, angeborene Stoffwechselerkrankungen, Nieren- und Leberinsuffizienz, rheumatische Erkrankungen etc. ● krankheitsbedingte Mangel- bzw. Fehlernährung, wie bei Tumoren, Resorptionsstörungen, Infektionen etc.
314
Ernährungsempfehlungen der Fachgesellschaften geben traditionell Referenzwerte für die Zufuhr essenzieller Nährstoffe im Sinne der Bedarfsdeckung inkl. eines Sicherheitszuschlages an. Die aktuellen Referenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sind auf der Webseite der Gesellschaft einsehbar [Web1]. Referenzwerte im internationalen Vergleich weichen zum Teil deutlich voneinander ab, denn sie basieren nicht auf klinischen Daten, sondern auf Annahmen und Schätzungen. Das Gleiche gilt auch für Empfehlungen zur Relation der Makronährstoffe. Nach aktueller Einschät-
Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin
zung der DGE sind folgende Nährstoffrelationen (in Energie-Prozent!) gesundheitsförderlich: ● 10 – 15 % Eiweiß ● 50 – 55 % Kohlenhydrate ● 30 – 35 % Fett Diese Nährstoffrelation wird als „ausgewogene“ Ernährung bezeichnet. In den letzten Jahrzehnten hatte sich zusätzlich das Ziel entwickelt, im Sinne der Salutogenese (Gesundheitsentstehung) vorgeblich schädigende (nicht toxische!) Nahrungsbestandteile in ihrer Zufuhr zu limitieren. So wird seit Jahrzehnten eine Beschränkung der Zufuhr von Fett (v. a. gesättigte Fettsäuren) sowie von Nahrungscholesterin, Salz und Zucker empfohlen. Entsprechend sollen langkettige gesättigte Fettsäuren höchstens 7 – 10 % der Energie, Trans-Fettsäuren < 1 % und mehrfach ungesättigte Fettsäuren (n-6- und n-3-Fettsäuren) 7 bis maximal 10 % der Energie ausmachen. Ein Verhältnis der (n-6-) Linolsäure zur (n-3-) α-Linolensäure von 5 : 1 oder darunter wird als günstig bewertet. Und die Zufuhr von Cholesterin in der Nahrung sollte 300 mg/ d nicht überschreiten.
Weblinks ● Web1: Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE):
www.dge.de ● Web2: Center for Nutrition Policy and Promotion:
www.mypyramid.gov
Ernährungspyramiden Um all diesen Zielen gerecht zu werden und diese praxisnah zu vermitteln, wird die Nährstoffebene auf die Lebensmittelebene gehoben, und man gibt konkrete Empfehlungen für die Auswahl von Lebensmitteln ab. Die DGE verwendet dazu eine dreidimensionale Lebensmittelpyramide. Nach Ansicht der DGE liefert sie Anleitungen für eine optimierte Lebensmittelauswahl im Sinne der Salutogenese [Web1]. Im internationalen Vergleich stimmen die jeweiligen offiziellen Ernährungsempfehlungen nicht immer überein. So unterscheidet sich beispielsweise die Ernährungspyramide der US-Gesundheitsbehörden von der der DGE u. a. dadurch, dass keine oder weniger konkrete Mengenangaben und Gewichtungen von Lebensmittelgruppen gegeben werden [Web2]. Für Unterschiede in den Ausrichtungen von solchen Empfehlungen werden nicht nur wissenschaftliche Gründe, sondern auch unterschiedliche politische und industrielle Einflussnahmen diskutiert. Tatsächlich gibt es aber keine hinreichende wissenschaftliche Evidenz dafür, dass eine dauerhafte Ernährung nach diesen oder früheren Ernährungspyramiden eine geminderte Morbidität oder Mortalität bei Zivilisationskrankheiten bedingt. Es gibt bislang nur zwei Langzeit-
untersuchungen, die diese Fragestellung konkret überprüft hatten, und beide sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die konsequente Einhaltung der Empfehlung keine signifikanten Gesundheitsvorteile nach sich zieht [1, 2]. Kritiker führen dazu an, dass bei mangelnder Evidenz besser ein Verzicht auf Empfehlungen anzuraten sei.
Evidenzbasierte Leitlinie: Fettkonsum und Prävention ausgewählter Krankheiten Die Ernährungsempfehlungen der letzten Jahrzehnte hatten als zentrales Ziel, den Fettkonsum in der Bevölkerung zu reduzieren, denn ein „zu hoher“ Konsum von Fett wurde traditionell als Risikofaktor für die Entwicklung von Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedenen Krebsformen gesehen. Insbesondere der Konsum tierischer Fette, wegen ihres höheren Gehalts an gesättigten Fettsäuren und Nahrungscholesterin, sollte wegen ihrer potenziell das Serumcholesterin steigernden Wirkung eingeschränkt werden. Tatsächlich gab es für diese Sichtweise noch nie eine hinreichende Evidenz. Dem wird zumindest weitgehend in der neuesten Leitlinie der DGE Rechnung getragen. Seit November 2006 gibt es von dieser Fachgesellschaft die erste „Evidenzbasierte Leitlinie: Fettkonsum und Prävention ausgewählter Krankheiten“ [LL 1]. Darin kommt man zum Schluss, dass weder für Gesamtfett noch für gesättigte Fettsäuren eine überzeugende Evidenz als Gesundheitsrisiko existiert: „Ein ansteigender Gesamtfettkonsum erhöht mit wahrscheinlicher Evidenz das Adipositasrisiko [...]. Für einen fehlenden Zusammenhang des Gesamtfettkonsums mit dem Risiko für Diabetes mellitus Typ II, KHK und Krebs besteht eine wahrscheinliche Evidenz, während die Evidenz für einen fehlenden Zusammenhang mit dem Schlaganfallrisiko möglich ist. Die gesättigten Fettsäuren (SFA) erhöhen mit überzeugender Evidenz das Risiko für eine Dyslipoproteinämie in Form einer Hyperbetalipoproteinämie (Anstieg des LDL-Cholesterins) und mit möglicher Evidenz das Risiko für KHK, während sich eine Erhöhung bzw. Absenkung der Zufuhr gesättigter Fette mit überzeugender Evidenz nicht auf arterielle Hypertonie, mit wahrscheinlicher Evidenz nicht auf Diabetes mellitus Typ II und Krebserkrankungen (Ausnahme Brustkrebs) sowie mit möglicher Evidenz nicht auf Schlaganfall auswirkt. Das Risiko für Brustkrebs ist durch eine erhöhte SFA-Zufuhr mit möglicher Evidenz erhöht.“ ([LL 1, S. 310f]; s. a. Tab. 34.1). Insgesamt wird für keinen Krankheitsbereich bei erhöhter Fettzufuhr oder bei erhöhter Zufuhr gesättigter Fettsäuren (außer für eine LDL-Erhöhung) eine überzeugende Evidenz gefunden. Allein für Trans-Fettsäuren (die v. a. durch industrielle Fetthärtung in die Nahrungskette gelangen), findet die DGE überzeugende Evidenz für ein erhöhtes Risiko für Dyslipoproteinämie und koronare Herzkrankheit (KHK). Allerdings ist das Risiko überwiegend nur für Trans-Fettsäuren aus pflanzlichen, indust-
315
34
Ernährung
Tabelle 34.1 Zusammenfassende Bewertung der Evidenz zur Assoziation zwischen Fettkonsum und der primären Prävention einzelner ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten bei der Betrachtung von Gesamtfett und einzelnen Fettsäuregruppen bzw. Fettsäuren. Die Anzahl der Pfeile sagt lediglich etwas über die Beweiskraft der Daten und nichts über das Ausmaß des Risikos aus (mod. nach [LL 1]).
I
Erhöhung von
Adipositas
Diabetes mellitus
Dyslipoproteinämie
arterielle Hypertonie
KHK
Schlaganfall
Krebs
Gesamtfett
↑↑
°°
↑↑↑1, 2
~
°°
°
°°
°°°
↑
°
°°↑6
SFA
–
°°
↑↑↑1
MUFA
~
°°
↓↓↓
~
°
°°
°°↓6
↓
↓↓↓1
~
↓
°°
°°
↓↓↓
↓↓↓
↓↓4°° 5
↓7
–
↑↑↑
°
~
PUFA/n-6-FA
II III IV V
VI VII
~
langkettigen n-3-PUFA
–
~
↓↓↓3
Trans-FA
–
~
↑↑↑
Legende zur Beurteilung des Evidenzgrads Evidenz
risikoerhöhend
risikosenkend
kein Zusammenhang
überzeugend
↑↑↑
↓↓↓
°°°
wahrscheinlich
↑↑
↓↓
°°
möglich
↑
↓
°
unzureichend
~
~
keine Studie identifiziert
–
1
Hyperbetalipoproteinämie, 2 durch gesättigte Fettsäuren, 3 Hypertriglyzeridämie, 4 ischämischer Schlaganfall, 5 hämorrhagischer Schlaganfall, 6 Brustkrebs, 7 Darmkrebs KHK = koronare Herzkrankheit, FA = Fettsäuren (fatty acids), SFA = gesättigte Fettsäuren (saturated fatty acids), MUFA = einfach ungesättigte Fettsäuren (mono unsaturated fatty acids), PUFA = mehrfach ungesättigte Fettsäuren (polyunsaturated fatty acids)
riell gehärteten Fetten zu finden, während bei tierischen Trans-Fettsäuren meist entweder kein oder sogar ein leicht gemindertes KHK-Risiko besteht [3, 4]. Das Risiko über Nahrungscholesterin wird von der DGE wie folgt zusammengefasst: „Die Evidenz für die primäre Prävention der KHK durch eine geringere Zufuhr von Cholesterin mit der Nahrung wird unter Einbeziehung der Interventionsstudien als möglich eingestuft. [LL1] Trotz dieser Datenlage hat die DGE ihre seit Jahrzehnten etablierten Empfehlungen zur Fett- und Cholesterinzufuhr in den aktuellen Leitlinien nicht geändert. Sie bleiben gegenüber den Jahren, als man Fett, gesättigte Fettsäuren und Nahrungscholesterin als belegtes Risiko für Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und gewissen Krebsformen eingeschätzt hatte, unverändert.
Differenzierte Ernährungsempfehlungen in obesogener Umwelt Es ist bis heute unmöglich, eine Ernährungsform zu definieren, die allen Menschen optimal zum Nutzen gereicht. Zumindest kann man aber nach heutigen Erkenntnissen eine relevante Zielgruppe definieren, für die gewisse Ernährungsempfehlungen von Vorteil sein sollten. Zu diesem Zweck muss man gesunde, bewegungsaktive, schlanke Menschen anders bewerten, als bewegungsarm lebende, Übergewichtige mit mehr oder minder ausgeprägter
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Insulinresistenz. Für erstere Gruppe gibt es keine hinreichende Evidenz, dass sie mit einer bestimmten Nährstoffrelation oder mit dem Meiden bestimmter natürlich vorkommender, nichttoxischer Nahrungsbestandteile oder umgekehrt mit betonter Zufuhr von Nährstoffen oder Nahrungsbestandteilen irgendwelche konkreten Gesundheitsvor- bzw. -nachteile erlangen würden, vorausgesetzt ihre Ernährung deckt den Energie- und Nährstoffbedarf ab. Für die Gruppe der bewegungsarm lebenden Übergewichtigen mit beginnender bis manifester Insulinresistenz, die in unserer Gesellschaft einen immer größeren Anteil einnimmt und in manchen Ländern bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, wird in den folgenden Abschnitten das an Ernährungsmaßnahmen zusammengefasst, was im Durchschnitt mit spezifischen Gesundheitsvorteilen assoziiert ist.
Übergewicht und Folgeerkrankungen Mit dem Anstieg der Prävalenz von Übergewicht und Fettsucht in den industrialisierten Ländern steigt auch die Prävalenz von Folgeerkrankungen. Von herausragender Bedeutung ist dabei das Metabolische Syndrom (MetS). Als wesentliche zugrunde liegende Störung gilt die Insulinresistenz. Nach den 2005 definierten Kriterien der International Diabetes Federation (IDF) kann man
Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin
davon ausgehen, dass gegenwärtig etwa 30 – 40 % der Westeuropäer davon betroffen sind. Mit dem MetS sind neben den erwähnten Herz-Kreislauf-Erkrankungen und als direkte Folge Diabetes mellitus Typ II noch eine Reihe weiterer Krankheiten, wie die nichtalkoholische Fettleber, das Syndrom der polyzystischen Ovarien (PCO-Syndrom) und verschiedene Krebsformen assoziiert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welch große gesundheitliche und gesellschaftliche Bedeutung der Prävention und Therapie dieser ernährungsabhängigen Störungen zukommt. Entsprechend ist das Ziel des präventiven (und therapeutischen) Handelns eine Änderung des Lebensstils. Hierzu wurden von Fachgremien konkrete Empfehlungen abgegeben, die primär auf eine dauerhafte Erhöhung der Bewegungsaktiviät und auf die dauerhafte Beseitigung des Übergewichts zielen. Darüber hinaus stellt man die Behandlung der assoziierten Risikofaktoren, v. a. der Hyperglykämie, der Dyslipoproteinämie und der arteriellen Hypertonie ins Zentrum des therapeutischen Handelns [5].
Gewichtsreduktion und Insulinsensitivität Mehrere Lebensstilinterventionsstudien haben bei übergewichtigen Personen mit erhöhtem Diabetesrisiko gezeigt, dass Diabetes mellitus Typ II durch Gewichtsreduktion und Steigerung der körperlichen Aktivität vorgebeugt werden kann. Als Wirkmechanismus gilt die damit verbesserbare Insulinsensitivität. Allein schon durch die Reduktion von Übergewicht wird typischerweise die Insulinsensitivität erhöht und die Manifestation des MetS gemindert. In den klassischen Diabetes-Präventionsstudien wurde eine fettreduzierte, kohlenhydratbetonte Reduktionsdiät eingesetzt. Aufgrund des Erfolges wird heute eine solche Kostform als eine Art „Goldstandard“ der Ernährungsumstellung gesehen. Die Nährstoffrelation per se hat aber keinen nennenswerten Einfluss auf die Verbesserung der Insulinsensitivität. Vielmehr ist der Abbau von Körperfett der entscheidende Faktor.
Diäten in der Adipositastherapie Die in den bekannten Diabetes-Präventionsstudien erzielten Gewichtsabnahmen von etwa 4 kg über 3 Jahre sind höher, als es im Allgemeinen in der Adipositastherapie beobachtet wird. Erklärt wird dies durch das hohe Risikobewusstsein der ausgewählten Probanden und durch
das aufwendige, engmaschige Interventionsprotokoll dieser Studien. Es ist daher davon auszugehen, dass ein derartiger Erfolg nicht generell auf Patienten mit Übergewicht und Insulinresistenz übertragen werden kann. Vielmehr ist die Adipositastherapie, ob mit Diäten oder Medikamenten, von bescheidenen Gewichtsverlusten gefolgt, und Langzeiterfolge sind im Mittel gering bis nicht existent. Die Compliance ist im Allgemeinen schlecht und die Abbruchrate hoch. Nur wer konsequent die Empfehlungen auf Dauer umsetzt, hat den gewünschten Erfolg. Seit vielen Jahren wird von Fachgesellschaften die „ad libitum“ (nach Belieben) zugeführte, fettreduzierte, kohlenhydratbetonte Diät (Low-Fat) favorisiert [LL 2]. Allerdings gibt es keine Evidenz dafür, dass diese Diätform in Bezug auf die Gewichtsreduktion effektiver ist, als andere Diätformen [6]. Die Auswertungen der randomisiert-kontrollierten Studien mit „Ad-libitum“-Verzehr kommen zu folgendem Ergebnis: Der mittlere maximale Gewichtsverlust beträgt etwa 3 kg und wird typischerweise während der ersten 6 Monate erzielt. Danach kommt es zu einer erneuten Gewichtszunahme. Nach 2 Jahren beträgt der Gewichtsverlust im Mittel nur noch 1 – 2 kg und nach weiteren Jahren ist das Ausgangsgewicht wieder erreicht. In den letzten Jahren ist auch die Effektivität von kohlenhydratreduzierten Kostformen (Low-Carb) getestet worden. Allerdings liegen randomisiert-kontrollierte Studien bislang nur bis zu Interventionszeiten von 18 Monaten vor. Dabei zeigte sich, dass die Gewichtsverluste unter Low-Carb anfänglich mit etwa 6 kg signifikant um rund 3 kg stärker ausfallen, als unter Low-Fat. Danach ist aber auch unter Low-Carb eine Gewichtszunahme zu beobachten. Nach 12 Monaten ist der Gewichtsverlust unter Low-Carb zwar immer noch größer und der Unterschied zwischen diesen beiden Diätformen beträgt dann immer noch etwa 1 – 2 kg, er ist aber nicht mehr statistisch signifikant. Randomisiert-kontrollierte Low-CarbStudien mit längerer Interventionszeit stehen noch aus. Nun wird diese Datenlage erstmals von der American Diabetes Association (ADA) anerkannt und eine entsprechende Ernährungsumstellung empfohlen. Am 1. Januar 2008 erschienen in Diabetes Care, dem Fachjournal der ADA, die neuesten Ernährungsleitlinien zur Prävention und Therapie von Diabetes mellitus [LL 3]. Darin wird der Abbau von Übergewicht als primäres Therapieziel für Prädiabetiker und Diabetiker dargestellt. Ferner wird erstmals die Anwendung von kohlenhydratreduzierten Diäten (Low-Carb) als vertretbare Alternative zu den herkömmlich empfohlenen fettarmen, kohlenhydratbetonten Diäten (Low-Fat) dargestellt.
Leitlinienbox LL1. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. Evidenzbasierte Leitlinie: Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten. Bonn: DGE; 2006. Verfügbar unter: www.dge.de/leitlinie
LL2. Hauner H, Buchholz G, Hamann A et al. Evidenzbasierte Leitlinie: Prävention und Therapie der Adipositas. Hrsg. Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin. 2007. Verfügbar unter: www.adipositas-gesellschaft.de
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Ernährung
I
LL3. Bantle JP, Wylie-Rosett J, Albright AL et al. Nutrition recommendations and interventions for diabetes: a position statement of the American Diabetes Association. Diabetes Care. 2008; 31 : S61 – 78. LL4. Joslin Diabetes Center. Joslin clinical nutrition guideline for overweight and obese adults with type 2 diabetes, prediabetes or those at high risk for developing type 2 diabetes. 2007. Verfügbar unter: www.joslin.org
Stoffwechseleffekte der Reduktionsdiäten
II III IV V
VI VII
Die Nährstoffrelation hat keinen gesicherten Effekt auf die Insulinsensitivität, sodass sich Low-Carb- und LowFat-Diäten hierin nicht unterscheiden. Entscheidend ist in erster Linie der Gewichtsverlust, der direkt mit der Annahme der Insulinresistenz korreliert. Mit dem Abbau des Übergewichts kommt es typischerweise zu einer Senkung erhöhter Blutdruckwerte. Auch hierin findet sich im Allgemeinen zwischen Low-Fat und Low-Carb kein Unterschied, erheblich jedoch hinsichtlich der Blutfette: LowCarb-Diäten bewirken im Allgemeinen einen leichten Anstieg des LDL-Cholesterins, was als potenziell atherogen eingeschätzt werden könnte. Allerdings ist dieser LDLAnstieg begleitet mit einer Abnahme der Anteile kleiner dichter LDL-Partikel, die als besonders atherogen gelten, und es kommt zu einem Anstieg der LDL-Partikelgröße bzw. zu einer Abnahme deren Dichte [7]. Andererseits wird unter Low-Carb typischerweise ein Anstieg des HDL-Cholesterins beobachtet, sodass das Verhältnis von LDL- zu HDL-Cholesterin nur wenig beeinflusst wird. Zusätzlich kommt es bei vergleichbarem Gewichtsverlust unter Low-Carb zu einer deutlich stärkeren Abnahme der Triglyzeride als unter Low-Fat. Merke: Der Phänotyp des MetS zeichnet sich bekanntlich nicht durch bedenklich hohe LDL-Konzentrationen aus. Vielmehr ist hier die Dyslipoproteinämie durch hohe Triglyzeridkonzentrationen, hohe Konzentration an kleinen dichten LDL-Partikeln und niedriges HDL-Cholesterin gegeben. Bei Patienten mit MetS sollten deshalb die Low-Carb-Effekte theoretisch günstiger eingeschätzt werden als die Low-Fat-Effekte. Die oben beschriebenen Effekte gelten nur, solange Gewicht reduziert wird. Bei isokalorischer Ernährung und Gewichtskonstanz bedingen kohlenhydratreiche, fettarme Diäten zwar eine LDL-Senkung, andererseits aber einen unerwünschten, deutlichen Anstieg der Triglyzeride und einen Abfall des HDL-Cholesterins [8]. Überdies werden die LDL-Partikel kleiner und dichter und damit atherogener. Dies ist für Patienten mit MetS und ihrer Dyslipoproteinämie besonders bedenklich. Selbst bei Gewichtsstagnation nach einer Gewichtsreduktion finden sich diese unerwünschten Effekte einer fettarmen Diät.
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LL5. Toeller M et al. Evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen zur Behandlung und Prävention des Diabetes mellitus. Diabetes und Stoffwechsel 2005; 14: 75 – 94. Verfügbar unter: www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/ redaktion/mitteilungen/leitlinien/EBL_Ernaehrung_2005.
Rationale für eine sinnvolle Ernährungsmodifikation Die bekannt geringe Compliance für Bewegungsmodifikationen und Reduktionsdiäten rechtfertigt alternative Ansätze zur Therapie des MetS. Wenn eine dauerhafte Gewichtsabnahme für die meisten übergewichtigen Patienten nicht realistisch ist, gilt es eine Ernährungsform einzuhalten, die auch ohne Gewichtsreduktion die Folgen des Übergewichts mit assoziierter Insulinresistenz, d. h. die Risikofaktoren des MetS mindert und allgemein Gesundheit und Wohlbefinden fördert. Demnach ist eine Ernährungsform anzustreben, die 1. postprandiale Blutzuckerspitzen mindert, 2. kompensatorische Hyperinsulinämie mindert, 3. Dyslipoproteinämie mindert oder beseitigt, 4. Blutdruck senkt, 5. Gewichtskontrolle ermöglicht, 6. hohe Nährstoffversorgung gewährleistet sowie 7. Genuss und Lebensqualität fördert.
Vermeidung der postprandialen Hyperglykämie Bei Insulinresistenz und MetS liegen meist Störungen des Zuckerstoffwechsels vor. Bei gestörter Glukosetoleranz kommt es zu einem pathologischen Anstieg des Blutzuckerspiegels nach dem Verzehr kohlenhydrathaltiger Nahrung. Diese postprandiale Hyperglykämie schädigt das Endothel und beeinträchtigt den Fettstoffwechsel in typischer Weise. Die postprandiale Hyperglykämie wird auch nunmehr als unabhängiger Risikofaktor für HerzKreislauf-Erkrankungen eingeschätzt. Zudem stellt die ständig erhöhte Insulinproduktion eine hohe Beanspruchung der B-Zellen im Pankreas dar und das Risiko zur Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ II wird erhöht. Außerdem sind postprandiale Blutzuckerspitzen wesentlich enger mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert, als der Nüchternblutzucker. Und postprandiale Blutzuckerwerte beeinflussen auch die HbA1c-Konzentration stärker als der Nüchternblutzucker. Alleine schon starke Blutzuckerschwankungen mit hohen Spitzen und tiefen Abfällen erhöhen das kardiovaskuläre Risiko. Es gilt: Je insulinresistenter bzw. glukoseintoleranter, desto höher fallen nach Aufnahme einer kohlenhydrathaltigen Nahrung die Blutzucker- und Insulinkonzentrationen aus. Und je schneller verfügbar und je mehr Kohlen-
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hydrate, desto höher zeigt sich die postprandiale Glykämie und Insulinämie. Umgekehrt folgt: Je weniger Kohlenhydrate und je langsamer deren Verfügbarkeit, desto geringer die postprandiale Glykämie und Insulinämie (s. u.). Mit Senkung der Kohlenhydratzufuhr erreicht man bei Diabetes mellitus Typ II eine direkt proportionale Senkung des HbA1c-Werts und des Nüchternblutzuckers.
Kohlenhydratqualität und Blutzucker Neben Insulinsensitivität und Insulinproduktion haben v. a. die Kohlenhydratqualität und die Kohlenhydratmenge einen entscheidenden Einfluss auf die postprandialen Blutzucker- und Insulinkonzentrationen. Von den üblichen Kohlenhydraten in der Nahrung hat die Glukose den stärksten Effekt. Fruktose und Galaktose haben nur einen geringfügigen Blutzuckereffekt. Die Disaccharide Laktose und Saccharose bestehen jeweils zu 50 % aus Glukose und Galaktose bzw. Fruktose. Ihre Blutzuckerwirkung ist folglich wesentlich schwächer als die von Glukose allein. Das am häufigsten vorkommende Polysaccharid in unserer Nahrung ist die Stärke, das „komplexe Kohlenhydrat“ par excellence. Aber Stärke besteht zu 100 % aus Glukose. Und Stärke wird von der Amylase in Mund und Verdauungstrakt rasch gespalten. Deshalb hat die Zufuhr von reiner Stärke einen wesentlich stärkeren Blutzuckeranstieg zur Folge, als die Aufnahme einer gleichen Menge Kohlenhydrate aus Saccharose, dem „Haushaltszucker“. Folglich macht es auch keinen Sinn, bei der Diskussion um die Blutzuckerwirkung von Nahrungsmitteln den Verzehr von „komplexen Kohlenhydraten“ zu empfehlen und vor dem Konsum von Zucker zu warnen: Es sind die stärkereichen Lebensmittel, die in erster Linie über die postprandiale Glykämie und Insulinämie bestimmen. Zur standardisierten Bestimmung der Blutzuckerwirkung von Lebensmitteln wurde der „Glykämische Index“ (GI) definiert. Damit werden allerdings nicht gleiche Nahrungsmittelmengen verglichen, sondern die Wirkung von 50 g Kohlenhydratzufuhr über verschiedene Nahrungsmittel. Um dem Standard zu entsprechen, wird beispielsweise nicht 100 g Brot mit 100 g Karotten verglichen, sondern 50 g Kohlenhydrate aus Brot (= etwa 100 g Brot) mit 50 g Kohlenhydraten aus Karotten (= etwa 800 g). Bei methodisch korrekter Anwendung findet sich ein direkter signifikanter Zusammenhang mit der postprandialen Blutzuckerwirkung. Trotz Kritik ist der GI ein wissenschaftlich korrekter, validierter Standard, der sich international durchgesetzt hat. Er ist für einzelne Lebensmittel wie auch für gemischte Mahlzeiten validiert [9, 10].
Glykämische Last relevanter als glykämischer Index Für die Ernährungspraxis ist der GI aber nicht aussagefähig genug, da er nicht die unterschiedlichen Kohlen-
hydratmengen in den individuell verzehrten Portionsmengen berücksichtigt. Um diesen Fehler im GI-Konzept zu korrigieren wurde die „glykämische Last“ (GL) definiert, in die der GI und die verzehrte Kohlenhydratmenge (KH) in Gramm eingehen: GL ¼
GI KH½g 100
Dabei ist die Höhe der GL das Äquivalent zur Blutzuckerwirkung von reiner Glukose: So bedeutet beispielsweise eine GL von 36 (z. B. nach dem Verzehr von 150 g Vollkornbrot, das einen GI von 58 hat), dass damit die gleiche Blutzuckerreaktion provoziert wird, wie mit 36 g reiner Glukose. Das Konzept der GL ist inzwischen validiert und gilt für einzelne Nahrungsmittel, wie für gemischte Mahlzeiten mit variablen Anteilen von Fett und Eiweiß. Merke: Der GI bestimmt bei einer gemischten Kost – unabhängig von der Kohlenhydratmenge – etwa zu 37 % die 2 Stunden postprandial gemessene Glykämie. Die Kohlenhydratmenge – unabhängig vom GI – bestimmt etwa 57 %. Über die Kombination beider Faktoren, d. h. über die GL, werden etwa 90 % bestimmt. Eiweiß und Fett beeinflussen nur zu etwa 10 % die Glykämie. Es besteht bis zu 5 Stunden lang ein direkter linearer Zusammenhang zwischen der Höhe der glykämischen Last und der postprandialen Glykämie und Insulinämie. Entsprechend führt eine Dauerernährung mit niedriger GL im Tagesverlauf entsprechend zu signifikant niedrigeren Blutzucker- und Insulinkonzentrationen, vermeidet extreme Blutzuckerexkursionen und führt im Tagesverlauf ebenfalls zu niedrigeren Konzentrationen an atherogenen triglyzeridreichen Lipoproteinen. Diese Effekte sind insbesondere bei Insulinresistenz ausgeprägt [11]. Daraus folgt: Eine Empfehlung, wie sie zum Beispiel die Deutsche Diabetes Gesellschaft (http://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/redaktion/mitteilungen/ leitlinien/EBL_Ernaehrung.pdf), für Patienten mit gestörter Glukosetoleranz (Patienten mit MetS, Prädiabetiker und Diabetiker) abgibt, dass 45 – 60 % der Energiezufuhr über Kohlenhydrate (d. h. im Endeffekt als Glukose) abgedeckt werden sollten (LL 5), erscheint bei den bekannten pathogenen Effekten der postprandialen Hyperglykämie bei insulinresistenten, glukoseintoleranten Menschen nicht zielführend.
Dyslipoproteinämie vermeiden Die bei Insulinresistenz und MetS typische Dyslipoproteinämie kann diätetisch effektiv behandelt werden. Es ist eine seit vielen Jahren bekannte Tatsache, dass eine Senkung der Kohlenhydratanteile im isokalorischen Austausch gegen ungesättigte Fettsäuren wie auch gegen Eiweiß eine Besserung des atherogenen Lipoproteinprofils
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zur Folge hat: LDL-Cholesterin wird damit noch effektiver gesenkt, als mit fettarmer Kost und das HDL-Cholesterin wird erhöht, sodass das Verhältnis von Gesamt- zu HDLCholesterin gesenkt wird [12, 13]. Gleichzeitig werden damit ebenfalls das VLDL-Cholesterin und die Triglyzeride gesenkt. Dies ist insbesondere bei Patienten mit MetS und Diabetes mellitus Typ II mit ihren hohen Ausgangswerten zu beobachten. Sie profitieren von einem Fettanteil im Bereich von 40 – 50 % der Kalorien, bei überwiegendem Anteil von einfach ungesättigten Fettsäuren (MUFA), im Vergleich zur fettarmen, kohlenyhdratbetonten Kost [14]. Nicht zuletzt haben in der Therapie des MetS auch die langkettigen n-3-Fettsäuren eine besondere Bedeutung, da eine Steigerung der Zufuhr die Triglyzeride effektiv senkt. Fazit: Zur effektiven diätetischen Therapie der Dyslipoproteinämie bei Übergewicht und MetS ist ein teilweiser Austausch von Kohlenhydraten durch Eiweiß und ungesättigte Fettsäuren angezeigt.
Arterielle Hypertonie vermeiden Menschen mit Insulinresistenz und Hyperinsulinämie sind typischerweise salzsensitiv. Bei ihnen bedingt eine Salzreduktion einen besonders deutlichen blutdrucksenkenden Effekt. Allerdings ist die Compliance bei salzarmer Kost sehr schlecht. Insofern haben alternative Ernährungsmodifikationen, die ebenfalls blutdrucksenkend wirken, eine besondere Bedeutung. Eine Steigerung der Zufuhr von Kalzium, Kalium und Magnesium zeigt jeweils eine blutdrucksenkende Wirkung. Daneben haben einfach und mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren einen blutdrucksenkenden Effekt. Schließlich wirkt auch eine Mehrzufuhr von Eiweiß – pflanzliches wie tierisches – blutdrucksenkend. Für die Praxis bedeutet das: Als Basis für eine Blutdrucksenkung ist eine obst- und gemüsereiche, ballaststoffreiche Kost mit hohen Anteilen von Milch und Milchprodukten geeignet, bei der ein Teil der stärke- und zuckerreichen Kohlenhydratträger gegen ungesättigte Fettsäuren und Protein ausgetauscht werden.
Einfache Gewichtskontrolle Übergewicht ist die Folge einer positiven Energiebilanz. Darüber entscheidet u. a. der Energiegehalt, aber auch die Sättigungswirkung der Nahrung. Unter experimentellen Bedingungen essen Menschen von Tag zu Tag eine in Volumen und Gewicht relativ konstante Nahrungsmenge. Dies erklärt sich damit, dass ein wesentliches Sättigungssignal über die Dehnung der Magenwand ausgelöst wird. Da der Magen den Energiegehalt der darin enthaltenen Speise nicht wahrnimmt, erhöhen Mahlzeiten, die pro Volumen- bzw. Gewichtseinheit viel Energie liefern, das Risiko einer positiven Energiebilanz. Umgekehrt fördern
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Mahlzeiten mit niedrigem Energiegehalt bei gleichem Volumen und Gewicht, also bei vergleichbarer Sättigungswirkung, aber niedriger Energiedichte, das Erzielen einer ausgeglichenen bzw. negativen Energiebilanz und somit die Gewichtskontrolle. Das heißt: Je schwerer und voluminöser die Mahlzeit, desto schneller und stärker die Sättigung – unabhängig von ihrem Energiegehalt. Kontrollierte Experimente belegen beispielsweise, dass unter einer Ad-libitum-Kost mit 39 % Fettanteil und einer Energiedichte von 124 kcal/100 g um 314 kcal weniger Energie pro Tag aufgenommen wurde, als unter einer Kost, die nur 21 % Fett, aber eine Energiedichte von 158 kcal/100 g lieferte. Entsprechend hat sich die hohe Energiedichte als ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung von Übergewicht und MetS herausgestellt. Nahrungsfette weisen zwar eine mehr als doppelt so hohe Energiedichte auf, als Kohlenhydrate oder Eiweiß, doch kann die Energiedichte einer entsprechend komponierten Mahlzeit unabhängig vom Fettgehalt erheblich variieren. Entscheidend ist der Wassergehalt der Nahrung. Für die meisten Nahrungsmittel gilt: Je höher der Wassergehalt, desto niedriger die Energiedichte. Gemüse, Salate und Obst sowie reines Muskelfleisch, Fisch und Geflügel sind sehr wasserreich und haben entsprechend eine sehr niedrige Energiedichte. So wird eine Mischkost mit relativ hohem Fettanteil dennoch eine niedrige Energiedichte aufweisen, wenn die Anteile schwerer und voluminöser, das heißt wasser- und ballaststoffreicher Lebensmittel hoch sind. Wie in Tabelle 34.2 dargestellt, kann trotz eines Fettanteils von 65 % eine niedrigere Energiedichte erreicht werden, als bei einer Mahlzeit mit 22 % Fett [15]. Zur Prävention von Übergewicht wird eine Energiedichte von < 125 kcal/100 g Nahrung (ohne Einbeziehung der Getränke) empfohlen. Die Durchschnittsernährung in westlichen Industrieländern weist aber eine wesentlich höhere Energiedichte auf, wie beispielsweise in Deutschland und England mit ca. 160 kcal/100 g bzw. in den USA mit ca. 180 kcal/100 g. Die Senkung der mittleren Energiedichte der Nahrung gilt neben adäquater körperlicher Aktivität inzwischen als wichtigste Strategie zur Prävention und Therapie von Übergewicht. Dies lässt sich durch Bevorzugung von wasser- und ballaststoffreichen Nahrungsmitteln, wie Gemüse und Obst, aber auch Fleisch, Geflügel, Milchprodukte und Fisch erreichen. Ein weiteres wesentliches Sättigungssignal, unabhängig von Volumen und Gewicht wird über Eiweiß ausgelöst. So wird inzwischen auch eine Anhebung der Eiweißzufuhr als weitere wichtige Strategie zu Prävention und Therapie von Übergewicht angesehen. Dabei ist zu beachten, dass die lange gehegten Vorurteile gegen eine hohe Eiweißzufuhr wegen angeblicher Gesundheitsgefährdung längst als irreführend bzw. als irrelevant angesehen werden müssen. Eine Niereninsuffizienz sollte allerdings ausgeschlossen sein.
Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin
Tabelle 34.2 Verschiedene Gerichte und ihre Energiedichte [Quelle 15]. Kostform/ Gericht
Nahrungsmittel (g)
Gesamtgewicht (g)
Energiegehalt (kcal)
Fettanteil (%)
Energiedichte (kcal/100 g)
fettreduziert
Vollkornbrötchen (120), Margarine (10), Kochschinken (30), Hüttenkäse (100), Tomaten (200), Blattsalat (140)
650
649
22
100
Steak/Ratatouille
Rindersteak (200), Paprika (150), Zucchini (150), Aubergine (150), Zwiebel (100), Rapsöl (20)
764
651
45
85
Salade niçoise
Tunfisch (50), Anchovis (25), Ei (30), Gurke (200), Tomate (200), Oliven (30), grüne Bohnen (100), Blattsalat (100), Zwiebeln (60), Baguette (30)
849
758
65
89
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Integrale Ernährungsempfehlungen Wenn mangels Compliance die beiden wichtigsten Maßnahmen – dauerhafte Steigerung der Bewegungsaktivität und dauerhafte Gewichtsreduktion – bei den meisten Menschen mit MetS nicht greifen, kommt einer Ernährungsumstellung eine um so wichtigere Rolle zu, die auch ohne Gewichtsverlust die Facetten des MetS günstig beeinflusst und somit das kardiovaskuläre Risiko senkt. Zur diätetischen Beeinflussung der drei zentralen Risikofaktoren des MetS – Hyperglykämie, Dyslipoproteinämie und arterielle Hypertonie – ist primär die Senkung der glykämischen Last, eine relative hohe Zufuhr ungesättigter Fettsäuren und eine Erhöhung der Eiweißzufuhr angezeigt. Eine Niereninsuffizienz sollte allerdings ausgeschlossen werden. Eine Kostform, die alle diese Kriterien für bewegungsarm lebende, übergewichtige Menschen in der heutigen obesogenen Umwelt erfüllt, ist in den letzten Jahren unter dem Namen „LOGI-Methode“ bekannt geworden [16, 17]. LOGI steht für Low Glycemic and Insulinemic Diet und bedeutet, dass Nahrungsmittel mit niedriger Blutzucker- und Insulinwirkung bevorzugt werden. Sie stützt sich dabei auch auf die LOGI-Pyramide (Abb. 34.1), die Ende der Neunzigerjahre von der Arbeitsgruppe um Prof. David Ludwig an der Harvard-Universitätsklinik erarbeitet und vom Autor leicht modifiziert wurde. Dabei wird einerseits die Menge an Kohlenhydraten reduziert und andererseits die Kohlenhydratqualität beachtet. Stärke- und glukosereiche Nahrungsmittel werden nur in geringen Mengen zugeführt. Die Basis der Ernährung bilden stärkearme Gemüse, Salate und Früchte in Kombination mit eiweißreichen Nahrungsmitteln. Gleichzeitig wird auf eine hohe Fettqualität durch Betonung der einfach ungesättigten Fettsäuren und des günstigen Verhältnisses von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren geachtet. LOGI ermöglicht bei hoher Sättigungswirkung und lang anhaltender Sattheit wegen der sehr geringen Energiedichte eine dauerhaft gesenkte Kalorienzufuhr in Kombination mit einer hohen Nährstoffdichte und
Abb. 34.1 Die LOGI-Pyramide zur Senkung der glykämischen Last, Behandlung von Dyslipoproteinämie und Hypertonie sowie zur Erreichung einer hohen Sättigungswirkung mit niedriger Energiedichte (aus dem Buch Glücklich und Schlank [17]; Copyright: systemed Verlag, Lünen; mod. nach D. Ludwig).
einem hohen Ballaststoffgehalt und erleichtert damit die Gewichtskontrolle. Die Inhalte der LOGI-Methode stimmen weitgehend mit den kürzlich erschienenen Ernährungsrichtlinien des „Joslin Diabetes Center“ der Harvard-Universität überein [LL 4]. Diese Kostform gleicht im Prinzip einer
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Ernährung
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mediterranen Ernährung mit geringen Stärkeanteilen. Auf diese Weise fördert sie für viele Menschen Genuss und Lebensqualität, womit sich die Chancen für eine höhere Compliance verstärken. Dass eine dauerhafte Ernährung mit gesenkter Kohlenhydratzufuhr und höheren Eiweiß- und Fettanteilen – sofern auch reichlich pflanzliche Eiweiße und viele pflanzliche Öle eingesetzt werden – nicht nur gesundheitlich sicher ist, sondern sogar das Koronarrisiko signifikant senkt, hat die 20-Jahre-Auswertung der wichtigsten Langzeiternährungsstudie der Welt – der Nurses’ Health Study – belegt [18]. Es ist allerdings notwendig, dass in Zukunft solche Kostformen, die die beschriebenen ernährungsphysiologischen Prinzipien beinhalten, in randomisiert-kontrollierten Interventionsstudien hinsichtlich eines klinisch relevanten Endpunkts überprüft werden.
Nährstoffpräparate/Supplementierungen Die amerikanischen Gesundheitsbehörden (National Institutes of Health) haben in den Jahren 2006 und 2007 umfassende systematische Übersichten zum gesundheitlichen Effekt der Supplementierung mit Vitamin- und Mineralstoffpräparaten vorgelegt und ausführlich Stellung bezogen [19, 20]. Demnach ist im Allgemeinen die Datenbasis zu schlecht bzw. zu uneinheitlich und widersprüchlich, um klare Empfehlungen aussprechen zu können. Bislang konnte man nur bei Untergruppen einzelne Effekte nachweisen, beispielsweise bei postmenopausalen Frauen für die Kombination von Kalzium- und Vitamin-D-Supplementen in Bezug auf Knochendichte und Frakturrisiko. Auf der anderen Seite gibt es beängstigende Hinweise darauf, dass auch unerwünschte Wirkungen erwartet werden müssen, beispielsweise ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko nach Supplementierung mit Betakarotin bei männlichen Rauchern. Insgesamt gibt es keine hinreichende Evidenz dafür, dass die Supplementierung als Einzel-, Doppel- oder Multipräparat im Bereich Krebs, Herz-Kreislauf- und anderer Erkrankungen präventive oder therapeutische Effekte ausübt.
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Definition und medizinische Bedeutung
35 Psychosoziale Balance J. Siegrist
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Das Wichtigste in Kürze Psychosoziale Balance bedeutet, dass Menschen wesentliche Bedürfnisse ihrer Lebensgestaltung mit ihrer sozialen Umwelt in Einklang zu bringen vermögen. Hierzu zählen vor allem das Bedürfnis nach Wohlbefinden und Sicherheit, das Bedürfnis, frei von Zwängen wichtige Dinge des Lebens gestalten zu können und das Bedürfnis, von anderen Menschen Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Eine nachhaltig gestörte psychosoziale Balance führt zu Dauerstress mit der Folge eines erhöhten Risikos, an einer stressassoziierten Gesundheitsstörung zu erkranken. Die Ausprägung und die Symptomatik krankheitswertiger Erfahrungen von Dauerstress können im ärztlichen Gespräch sowie in der Exploration ermittelt und zum Ausgangspunkt präventiver Maßnahmen gemacht werden. Eine Stärkung psychosozialer Balance erfolgt durch unspezifische und spezifische Maßnahmen der Stressbewältigung. Es gibt gute Chancen, solche Maßnahmen in der Konsultation ärztlicher und nichtärztlicher Experten durch Betroffene durchzuführen. Allerdings reichen manche der nachhaltig wirksamen Maßnahmen über diese Beziehung hinaus, soweit sie die Mitwirkung von Partnern oder anderen nahestehenden Personen bzw. die Initiierung von Beratungs- und Veränderungsbedarf im beruflichen Bereich erfordern. Eine besonders gute Möglichkeit, die psychosoziale Balance nachhaltig zu stabilisieren, besteht überall dort, wo Personen ihr Leben frei von Zwängen so zu gestalten vermögen, dass sie ein Ziel verfolgen können, welches für sie und ihr unmittelbares Umfeld wertvoll und lohnend ist.
35.1 Definition und medizinische Bedeutung Psychosoziale Balance bedeutet, dass Menschen wesentliche Bedürfnisse ihrer Lebensgestaltung mit ihrer sozialen Umwelt in Einklang zu bringen vermögen. Obwohl es in der Wissenschaft keinen Konsens bezüglich einer universellen Wertigkeit einzelner menschlicher Bedürfnisse gibt, spricht vieles dafür, drei solchen Bedürfnissen eine besonders hohe, für unterschiedliche Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart in gleicher Weise geltende Priorität einzuräumen [1, 2, 3]:
1. dem Bedürfnis nach physischem Wohlbefinden, d. h. der Sicherung der physischen Existenz 2. dem Bedürfnis nach Autonomie, d. h. der Selbstverwirklichung im Medium des Handelns sowie 3. dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, d. h. dem Wunsch, für die eigene Person und ihr Handeln eine signifikante Bestätigung durch andere in Form positiver Rückmeldung zu erhalten Alle drei Bedürfnisse verweisen auf die Bedeutung menschlicher Vergesellschaftung, denn Hilfeleistungen und Unterstützung durch andere sind von zentraler Bedeutung, wenn das physische Wohlbefinden gestört ist, wenn die Autonomie des Handelns bedroht ist und wenn Menschen sozial isoliert, d. h. ohne positive Rückmeldung sind. Die Chance, eine psychosoziale Balance zu erfahren, hängt somit von zwei Bedingungen ab, zum einen von den Fähigkeiten der Menschen, die genannten Bedürfnisse zu realisieren, d. h. für Gesundheit und Wohlbefinden zu sorgen, sich für autonomes Handeln zu qualifizieren sowie Eigenschaften und Leistungen vorzuweisen, die von anderen geschätzt und anerkannt werden. Zum anderen sind zur Bedürfniserfüllung gesellschaftliche Angebote erforderlich, so beispielsweise Angebote eines gesundheitsförderlichen Lebensstils, berufliche Positionen mit Chancen zum autonomen Handeln sowie soziale Netzwerke, die vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen mit der Chance, Wertschätzung zu erfahren, gewähren. Im Gegensatz zur konventionellen medizinischen Betrachtung betrifft das Konstrukt „psychosoziale Balance“ somit nicht das isolierte Individuum und dessen Körper, sondern das Beziehungsgeflecht von Individuum und unmittelbarer sozialer Umwelt. Letztere wird im alltäglichen Handeln in zentralen sozialen Rollen erfahren, so v. a. in der Partnerschafts- und Familienrolle, in der Erwerbsrolle und in den verschiedenen Rollen des zivilen Engagements. Soziale Rollen sind Bündel verbindlicher Verhaltenserwartungen, die an Inhaber bestimmter sozialer Positionen (Eltern, Angestellte, Rentner, Bürger etc.) gerichtet sind. Sie bilden gewissermaßen die Gelenke, die die individuelle Person mit der Gesellschaft verbinden [3]. Nachfolgend wird gezeigt, dass nachhaltige Störungen der psychosozialen Balance das Risiko stressassoziierter physischer und psychischer Erkrankungen deutlich erhöhen. In einer zusammenfassenden Beurteilung aktuell vorliegender Evidenz können wir sagen, dass eine nachhaltig gestörte psychosoziale Balance in zentralen sozialen Rol-
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35
Psychosoziale Balance
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len das Risiko verdoppelt, in einem 10-Jahres-Zeitraum an einer koronaren Herzkrankheit (KHK) oder einer Depression zu erkranken oder zu versterben. Ebenso ist unter dieser Bedingung die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, von Alkoholabusus (Männer), Angststörungen (Frauen) und einer Reihe weiterer gesundheitlicher Einschränkungen betroffen zu sein [3, 4, 5]. Zur Prävention dieser Erkrankungen ist es daher erforderlich, fördernde und hemmende Bedingungen psychosozialer Balance anhand spezifischer Indikatoren erkennen und bewerten zu können.
35.2 Fördernde Bedingungen psychosozialer Balance (psychosoziale Schutzfaktoren) Von einem Schutzfaktor (Protektivfaktor) sprechen wir in der Medizin immer dann, wenn eine Wirkgröße in der Lage ist, einen pathobiologischen Mechanismus zu unterbinden oder bezüglich der Stärke seiner Auswirkung abzuschwächen. Schutzfaktoren moderieren den Zusammenhang zwischen Noxen/Risikofaktoren und Krankheitsmanifestation. Beispielsweise bietet die an Antioxidanzien reiche Nahrung einen Schutzfaktor gegen pathogene Auswirkungen freier Sauerstoffradikale im Organismus. Zu den wichtigsten psychosozialen Schutzfaktoren zählen: ● hoher sozialer Status ● stabiles soziales Netzwerk ● Reziprozität in sozialen Rollenbeziehungen
35.2.1 Sozialer Status Einen hohen sozialen Status haben Personen inne, die über ein überdurchschnittliches Bildungsniveau verfügen, die aufgrund ihrer Leistung oder Begabung in verantwortungsvollen beruflichen Positionen tätig sind oder waren, und die bezüglich Einkommen und materieller Lage besonders gut gestellt sind. Im Hinblick auf ihren sozialen Status relativ homogene Gruppen werden auch soziale Schichten genannt. Sie verweisen auf das Ausmaß sozialer Ungleichheit, das in einer Gesellschaft herrscht. Zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Gesundheit gibt es einen direkten Zusammenhang: Je höher die soziale Schichtzugehörigkeit, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, von denjenigen chronischen Krankheiten betroffen zu sein, die durch einen gesundheitsschädigenden Lebensstil und stressassoziierte Risikofaktoren wesentlich mitbestimmt werden. Beispielsweise ist das Risiko der Herz-Kreislauf-Mortalität in der obersten von fünf sozialen Schichten 3-mal niedriger als das der untersten Schicht. Entsprechende Unterschiede der Lebenserwartung schwanken bei Männern zwischen 4 und 9 Jahren und bei Frauen zwischen 2 und 4 Jahren [2, 3].
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Die protektive Wirkung eines hohen sozialen Status besteht darin, dass diese Personen über materielle und psychosoziale Ressourcen verfügen, gesundheitsschädigende Risiken zu meiden und belastende Lebens- und Arbeitsbedingungen erfolgreich zu bewältigen. Hierzu zählen in erster Linie: ● hohes Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit, d. h. die Gewissheit, im Umgang mit schwierigen Situationen erfolgversprechende Fähigkeiten zu besitzen ● aktive Problembewältigung und zukunftsorientiertes Handeln ● ausgeprägte Kontrollüberzeugungen, die Geschicke des Lebens mitgestalten und positiv beeinflussen zu können ● Fähigkeit der zielorientierten Nutzung von Informationen und sozialen Kontakten In der Forschung herrscht gegenwärtig keine Einigkeit darüber, in welchem Maße diese Fähigkeiten überdauernde Merkmale der Persönlichkeit oder aber Ergebnisse von Lernprozessen sind. Es gibt reichhaltige Belege für die These, dass sie bei Mitgliedern höherer sozialer Schichten besser und häufiger ausgeprägt sind und dass schichtspezifische Sozialisationsstile in der frühen ElternKind-Beziehung sowie Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz hierbei eine maßgebende Rolle spielen.
35.2.2 Soziales Netzwerk Ein stabiles soziales Netzwerk bildet einen zweiten wichtigen Protektivfaktor gegen gesundheitliche Risiken, die durch eine gestörte psychosoziale Balance mitverursacht sein können. Wir verstehen darunter ein Geflecht sozialer Beziehungen, die den beteiligten Personen ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Vertrauens vermitteln. Protektiv wirkt ein soziales Netzwerk, indem es sozialen Rückhalt, d. h. zuverlässige emotionale und instrumentelle Unterstützung und Hilfe gewährt. Personen, die über ein stabiles Netzwerk verfügen, haben eine signifikant geringere Sterblichkeit als sozial isolierte bzw. instabil vergesellschaftete Menschen [6]. Speziell das Herz-Kreislauf- und Depressionsrisiko wird dadurch deutlich gesenkt. Mit der Qualität eines sozialen Netzwerks steigt die Wahrscheinlichkeit, gesundheitsschädigende Verhaltensweisen zu meiden. Positive Emotionen, die in solchen Interaktionen erlebt werden, dämpfen die kardiovaskuläre Aktivierung und begünstigen regulatorische Hormone und Immunreaktionen, welche die Widerstandskraft des Organismus stärken [7]. Fehlt sozialer Rückhalt, sind Menschen sozial isoliert oder aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen, so weisen sie eine signifikant erhöhte Morbidität und Mortalität auf.
Hemmende Bedingungen psychosozialer Balance: Dauerstress und kritische Lebensereignisse
35.2.3 Soziale Reziprozität Ein wesentliches Element psychosozialer Balance ist die Erfahrung sozialer Wertschätzung. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung durch nahestehende oder anderweitig wichtige Personen dient dem universellen Bestreben, wiederkehrend ein positives Selbstwertgefühl zu erfahren. Wertschätzung ist in der Regel an das Erbringen von Leistungen gebunden. Die Erfahrung einer befriedigenden, als angemessen und gerecht empfundener Beziehung zwischen Leistung und Belohnung, zwischen Geben und Nehmen, stellt einen weiteren Schutzfaktor psychosozialer Balance dar. Mit der Erfüllung dieses maßgeblichen Prinzips sozialer Reziprozität gehen starke positive Emotionen einher. Besonders bedeutsam für die Gesundheit ist die Erfüllung des Prinzips sozialer Reziprozität in vertraglichen Beziehungen, in welchen Rechte und Pflichten beim Ausüben zentraler sozialer Rollen geregelt sind (z. B. Arbeitsvertrag, Ehevertrag, Generationenvertrag). Angemessene Gratifikationen für berufliche Leistungen zu erfahren, vermindert das Risiko stressassoziierter Erkrankungen. Dies haben umfangreiche Untersuchungen anhand des Modells beruflicher Gratifikationskrisen ergeben. Dieses Modell besagt, dass intensive Stressreaktionen in Situationen hoher Verausgabung erfolgen, denen keine angemessenen Belohnungen entsprechen [3]. Hohe berufliche Verausgabung zusammen mit niedrigen Gratifikationen in Form von Lohn oder Gehalt, beruflichem Aufstieg bzw. Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie Anerkennung und Wertschätzung erhöhen das Risiko einer KHK, einer Depression sowie weiterer stressassoziierter Erkrankungen, je nach Studie, um 50 – 150 % [4]. (s. Kap. 3) Die protektive Wirkung sozialer Reziprozität im Leistungs-/Belohnungszusammenhang ist nicht auf die Berufsrolle beschränkt, sondern erweist sich ebenso in Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen oder beim ehrenamtlichen Engagement. Entscheidend ist stets die als fair, angemessen und gerecht erlebte Gegenleistung. Auch ein Zuviel an Belohnung bzw. eine nicht auf das Erbrachte abgestimmte Gratifikation kann negative Auswirkungen haben, die allerdings stets weniger gravierend sind als eine Verletzung des grundlegenden Reziprozitätsprinzips in Form nicht bzw. nicht angemessen gewährter Gegenleistung.
35.2.4 Zusammenfassung Die Ausführungen zusammenfassend sagen wir: Personen, die ● über einen hohen sozialen Status verfügen, ● in ein stabiles soziales Netzwerk eingebunden sind und ● Reziprozität in ihren maßgeblichen sozialen Rollen in Form angemessener Belohnungen für erbrachte Leistungen erfahren,
besitzen einen Schutz gegen stressassoziierte Erkrankungsrisiken. Ihre psychosoziale Balance ist gestärkt, und ihre Chancen sind erhöht, einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu praktizieren.
35.3 Hemmende Bedingungen psychosozialer Balance: Dauerstress und kritische Lebensereignisse Dauerstress ist das Ergebnis einer Exposition gegenüber wiederkehrend bzw. langfristig wirkenden Stressoren, welche die betroffenen Personen zu besonderen Anpassungsleistungen zwingen. In ihrer Mehrzahl sind Stressoren bedrohliche Herausforderungen, die der physischen oder sozialen Umwelt entstammen. Bedrohlich sind Stressoren, weil sie Menschen in Gefahr bringen, wichtige Handlungen nicht erfolgreich durchführen zu können oder weil sie, im Extremfall, im Ergebnis die Kontinuität der Lebensumstände und der physischen Existenz zunichte machen können. Stressoren bedrohen somit die Kontrollchancen, die Menschen üblicherweise über ihr Handeln und über ihre nähere Umgebung besitzen. In solchen Situationen werden daher Anpassungsleistungen erbracht, mit dem Ziel, bedrohliche Herausforderungen zu meistern. Anpassungsleistungen erfolgen in Form einer Mobilisierung der im Organismus bzw. in den Handlungsprogrammen verfügbaren Reserven. Hierzu werden sog. Stressachsen im Organismus aktiviert (v. a. das sympathoadrenerge System und die HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse), und die Verausgabung der handelnden Person reicht bis an die Grenze des Möglichen. Dauerstress führt zu Erschöpfungszuständen und bahnt Fehlanpassungen im Organismus an, die ihrerseits funktionelle Störungen und strukturelle Schädigungen einzelner Organsysteme verursachen. Hierdurch wird das Risiko erhöht, eine stressassoziierte Krankheit zu erleiden [3, 5, 7]. Im Prinzip gehen gleiche Wirkungen von kritischen Lebensereignissen aus, mit dem Unterschied, dass die Expositionsdauer hier zeitlich begrenzt ist. Kritische Lebensereignisse unterbrechen die Kontinuität der Lebensumstände von Menschen, indem sie den Verlust einer nahestehenden Person (durch Trennung oder Tod) oder den Verlust eines wertvollen Gutes (Arbeitsplatz, Besitz, körperliche Integrität, Ehre) herbeiführen. Verlusterfahrungen können so tiefgreifend sein, dass Anpassungsleistungen längerfristig nicht gelingen, sondern zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Um besser zu verstehen, wie Dauerstress und kritische Lebensereignisse die psychosoziale Balance hemmen oder stören, ist es hilfreich, auf die drei zu Beginn erwähnten grundlegenden Bedürfnisse des physischen Wohlbefindens, des autonomen Handelns und der sozia-
325
35
Psychosoziale Balance
len Wertschätzung im Medium der Teilhabe an sozialen Rollen einzugehen.
35.3.1 Gewalt und Armut
I II III IV V
VI VII
Physisches Wohlbefinden wird am nachhaltigsten durch Gewalterfahrungen bedroht. Von Gewalt sprechen wir überall dort, wo eine Person durch eine oder mehrere andere Personen mit Absicht in ihrer körperlichen und/ oder psychischen Integrität beschädigt wird. Gesellschaftliche Entwicklungen, die zu einem Geltungsverlust bindender Werte und sozialer Normen führen, begünstigen die Ausbreitung von Gewalt ebenso wie kollektiv wirksame Sozialisationsdefizite, welche die Fähigkeit zu Affektkontrolle, Frustrationstoleranz und Empathie schmälern. Ebenso wie durch Gewalt wird physisches Wohlbefinden durch Armut bedroht. Diese ist ein Syndrom aus materieller Benachteiligung und subjektiver Machtlosigkeit. Während absolute Armut, d. h. eine durch lebensbedrohlichen Mangel an Nahrung und wichtigen Gütern geprägte Lebenslage in modernen Gesellschaften selten vorkommt, zählt relative Armut zu den häufigsten Bedingungen gestörter psychosozialer Balance. Relativ arm ist eine Bevölkerungsgruppe, deren materielle Lebenslage von derjenigen der Mehrheit durch eine deutliche Benachteiligung gekennzeichnet ist (z. B. definiert über ein Haushaltseinkommen, das ≥ 60 % unterhalb des Medians der Einkommensverteilung der Gesamtbevölkerung liegt). Von Armut betroffen sind in erster Linie alleinstehende Mütter, Kinder aus einkommensschwachen Familien, alleinstehende Ältere, Langzeitarbeitslose sowie bestimmte Gruppen chronisch Kranker und Behinderter. Erfahrungen sozialer Abgrenzung bzw. Abwertung und ungünstiger sozialer Vergleichsprozesse evozieren Dauerstress ebenso wie belastende Wohn-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse. Die psychosoziale Balance von Menschen, die dauerhaft in Armut leben, ist nicht nur durch eine ständige Sorge um die Existenzsicherung und durch eine erhöhte Verwundbarkeit angesichts erfahrener Konflikte und Schicksalsschläge gestört, sondern auch durch einen Mangel an jenen protektiven psychosozialen Bewältigungsressourcen, die mit einem gesicherten und privilegierten sozialen Status einhergehen (s. a. S. 324).
35.3.2 Begrenzte Kontrolle in zentralen sozialen Rollen Für die meisten Menschen gilt, dass sie in ihrem Leben den Wunsch haben, für sie wichtige Ziele durch selbstständiges Handeln zu erreichen. Erziehung sowie Schulund Berufsausbildung schaffen hierzu wesentliche Voraussetzungen. Einen Prototyp selbstständigen, autonomen Handelns in modernen Gesellschaften bildet die
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Berufstätigkeit. Wer von der Teilhabe am Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist (besonders dramatisch ist die Arbeitslosigkeit junger Erwachsener), wer keinen Beruf findet, der seiner Begabung und Leistungsfähigkeit einigermaßen entspricht (wobei sowohl von Unter- wie auch von Überforderung Dauerstress ausgehen kann), dessen psychosoziale Balance ist nachhaltig gestört. Das Bedürfnis nach autonomem Handeln wird aber auch in einer beruflichen Tätigkeit blockiert, die durch ein kritisches Aufgabenprofil bestimmt ist, welches durch die Arbeitsstressforschung anhand des sog. Anforderungs-Kontroll-Modells identifiziert worden ist [2, 4, 5]. Danach wird Dauerstress im Arbeitsleben bei Beschäftigten erfahren, deren Arbeitsaufgaben durch quantitativ hohe Anforderungen (Zeitdruck, Arbeitsmenge) und zugleich durch einen geringen Entscheidungs- und Kontrollspielraum bei der Ausführung gekennzeichnet sind (klassisches Beispiel: Fließbandarbeit). Mit geringer Kontrolle über Arbeitsinhalte und -prozesse gehen zwei folgenreiche Erfahrungen einher: die Erfahrung geringer Autonomie der arbeitenden Person und die Erfahrung mangelnder bzw. einseitiger Nutzung persönlicher Fähigkeiten. Damit werden wichtige, die Entspannung fördernde Erfolgs- und Selbstwirksamkeitsgefühle bei der Arbeit unterbunden, mit der Folge lang andauernder Aktivierung von Stressachsen im Organismus. In zahlreichen Studien ist gezeigt worden, dass Personen, die an Arbeitsplätzen mit einem entsprechenden Aufgabenprofil dauerhaft beschäftigt sind, erhöhte stressassoziierte Erkrankungsrisiken aufweisen. Die stresstheoretische Basis des Anforderungs-Kontroll-Modells lässt sich über die Erwerbsrolle hinaus auf andere zentrale soziale Rollen des Erwachsenenalters anwenden.
35.3.3 Begrenzte Belohnung in zentralen sozialen Rollen Wir sagten einleitend, dass das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung in dem Bestreben von Menschen wurzelt, ihr Selbst wiederkehrend positiv zu erleben. Hierzu bedürfen sie der Wertschätzung und Anerkennung ausdrückenden Rückmeldung durch andere Menschen. Diese positiven Rückmeldungen sind in der Regel an bestimmte Eigenschaften, die Zuneigung oder Liebe hervorrufen, oder (häufiger) an das Erbringen bestimmter Leistungen gebunden, die nach dem Reziprozitätsprinzip belohnt werden (s. o. S. 325). Bei Personen, die von der Teilhabe an gratifikationsfördernden sozialen Rollen ausgeschlossen sind (in sozialer Isolation lebende, sozial stigmatisierte oder von Status- und Achtungsverlust betroffene Personen), ist die psychosoziale Balance deshalb besonders schwer gestört, weil dadurch ihre soziale Identität beschädigt oder zerstört wird. Das Bedürfnis nach Belohnungserfahrungen in Form sozialer Anerkennung wird jedoch auch bei Personen blockiert, die zentrale soziale Rollen innehaben, in diesen
Indikatoren gestörter psychosozialer Balance
Rollen allerdings einen als ungerecht erlebten Austausch erfahren. Das als Tauschungerechtigkeit erfahrene Ungleichgewicht zwischen erbrachten Leistungen und vorenthaltenen oder nicht angemessen gewährten Belohnungen gefährdet die psychosoziale Balance durch Dauerstress evozierende negative Emotionen mit krankheitswertigen Folgen. Dies ist für eine dominante Rolle des Erwachsenenalters, die Berufsrolle, anhand des Modells beruflicher Gratifikationskrisen (s. o. S. 325) in umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen worden [3, 4, 5]. Belohnungsenttäuschungen im rollengebundenen Austausch sind nicht auf die Berufsrolle begrenzt, sondern manifestieren sich auch in Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen, in Beziehungen zu anderen nahestehenden Personen sowie in Rollen zivilen Engagements (z. B. ehrenamtliche Tätigkeit). Hier überall wird die psychosoziale Balance empfindlich gestört, wenn das grundlegende Prinzip sozialer Reziprozität verletzt wird.
35.3.4 Zusammenfassung Zusammenfassend halten wir fest: Bei Personen mit nachhaltigen Erfahrungen physischer und psychischer Gewalt, ● die in Armut leben und ● die von der Teilhabe an zentralen sozialen Rollen ausgeschlossen sind oder in diesen Rollen lediglich begrenzte Kontrolle und begrenzte Belohnung erfahren, ●
ist die psychosoziale Balance nachhaltig gestört. Dauerstress und mangelnde Bewältigung kritischer Lebensereignisse erhöhen die Wahrscheinlichkeit, frühzeitig von stressassoziierten Krankheiten betroffen zu sein bzw. an ihren Folgen zu versterben.
Schweregrad einer gestörten psychosozialen Balance erwartet werden können. Die Liste erhebt nicht den Anspruch, eine treffende, jeder Situation angemessene Formulierung der Fragen zu bieten. Auch handelt es sich lediglich um Beispielfragen aus den relevanten Kernbereichen, nicht um eine systematische Exploration. Weder ist eine bestimmte Reihenfolge vorgesehen, noch ist eine Vollständigkeit der stets mit Taktgefühl und Vorsicht anzusprechenden Themen angestrebt.
35.4.2 Symptomatik von Dauerstress Dauerstress wurde als ein Zustand wiederholt auftretender bedrohlicher Herausforderungen definiert, denen man nicht ausweichen kann und deren erfolgreiche Bewältigung nicht gesichert ist – ein Zustand, der energieraubende Anpassungsleistungen erfordert. Häufig, jedoch nicht zwangsläufig wird Dauerstress von wahrgenommenen und der Situation zugeschriebenen negativen Emotionen der Irritierung, Angst, Verärgerung oder – im Extremfall – der Hoffnungslosigkeit begleitet. Es kommt aber öfters vor, dass infolge von Gewöhnung, aufgrund nicht thematisierter oder verdrängter Informationen Spannungs- und Aktivierungszustände erlebt werden, ohne dass die Betroffenen deren Anlässe bzw. Ursachen wahrnehmen. Längerfristig treten als Folge der beschriebenen Anpassungsleistungen bestimmte physische und/oder psychische Symptome auf, die auf Grenzen der Anpassungsleistungen bzw. auf bereits eingetretene Störungen von Funktionsabläufen im Organismus hinweisen [7]. In Tab. 35.2 sind häufig beobachtete Symptome von Dauerstress aufgeführt, wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Erfassung. Es versteht sich von selbst, dass die Erkundung dieser Symptome in die ärztliche Exploration und Untersuchung angemessen integriert werden muss.
35.4 Indikatoren gestörter psychosozialer Balance
35.4.3 Psychobiologische Indikatoren gestörter psychosozialer Balance
35.4.1 Sozialanamnestische Hinweise im ärztlichen Gespräch
In der ärztlichen Praxis kommt es immer wieder vor, dass Personen körperliche Symptome verspüren, die vermeintlich auf organische Störungen hindeuten (z. B. Angst vor akuter Koronarsymptomatik, Krebsangst), während ein objektivierter Befund nicht bestätigt werden kann. Desgleichen können Symptome von den Betroffenen auf eine angebliche „Stressbelastung“ zurückgeführt werden, während die medizinische Abklärung einen Befund ergibt, der sich mit der „Laienätiologie“ nicht vereinbaren lässt. Auch kann ein soziokulturell bedingtes Verschweigen psychosozialer Belastungserfahrungen oder eine Unfähigkeit, Emotionen wahrzunehmen und/ oder auszudrücken und zu verbalisieren, den Arzt im Ungewissen lassen, ob eine gestörte psychosoziale Balance vorliegt [5]. Schließlich besteht vor der Entscheidung,
Aus den Ausführungen der beiden vorhergehenden Abschnitte ergeben sich vielfältige Anhaltspunkte, im ärztlichen Gespräch durch Fragen und durch genaues Zuhören eine gestörte psychosoziale Balance bei Klienten zu identifizieren. Voraussetzung ist allerdings eine nach den Regeln und den Qualitätskriterien ärztlicher Gesprächsführung durchgeführte Kommunikation, die durch Empathie, aktives Zuhören, Wertschätzung des Gegenübers sowie Echtheit und Transparenz in den Mitteilungen des Arztes gekennzeichnet ist. In Tab. 35.1 sind die wichtigsten Fragenkomplexe aufgeführt, von deren Beantwortung Hinweise auf Art und
327
35
Psychosoziale Balance
Tabelle 35.1 Fragen zu sozialanamnestischen Hinweisen auf eine gestörte psychosoziale Balance. Kritische Lebensereignisse
● ● ●
I
● ●
Soziale Beziehungen
● ● ● ●
II
●
III Berufliche Situation
IV
● ● ● ●
V
VI
●
● ● ● ●
Weitere Stressoren und Ressourcen
VII
Liegen akute oder wiederkehrende Erfahrungen physischer oder psychischer Gewalt vor (aktueller Leidensdruck, Bewältigungsversuche)? Wurde in der Biographie eine traumatische Erfahrung gemacht (aktueller Leidensdruck, Bewältigungsversuche)? Ist in letzter Zeit (ca. letzte 2 Jahre) ein unvorhergesehenes Ereignis eingetreten, das Sie schwer getroffen hat (z. B. Tod oder Krankheit einer nahestehenden Person, Trennung, Kündigung)? Hat eine Person, der Sie vertraut haben, Sie enttäuscht oder schwer gekränkt? Haben Sie selbst ein Ereignis verursacht, unter dem eine andere Person zu leiden hatte? Leben Sie mit einem Partner bzw. einer Partnerin zusammen? Falls ja: Wie gut können Sie Ihrem Partner vertrauen? Was Sie Ihrem Partner geben und was Sie von ihm erhalten – ist das immer ausgeglichen? Haben Sie Freunde oder gute Bekannte, auf deren Hilfe Sie sich jederzeit verlassen können? Fühlen Sie sich manchmal einsam und von wichtigen sozialen Kontakten ausgeschlossen? Sind Sie zu Hilfeleistungen verpflichtet, die Ihre Freiheit einschränken oder Ihnen Verzicht auferlegen? Sind Sie an Ihrem Wohnort und in Ihrer Nachbarschaft gut integriert, sodass Sie sich dort wohlfühlen können? Können Sie sich die Dinge, die Sie dringend benötigen oder die Sie sich dringend wünschen, leisten oder gibt es öfters finanzielle Sorgen? Sind Sie (oder waren Sie, und falls ja wie lange) berufstätig? In welchem Beruf? Wie gut können Sie Ihre Fähigkeiten und Ihre Interessen in Ihrem Beruf zum Ausdruck bringen? Waren (oder sind) Sie von einem der nachfolgenden Ereignisse betroffen: Arbeitslosigkeit (Häufigkeit, Dauer), Berufswechsel (Verbesserung, Verschlechterung), unfreiwillige Versetzung oder Frühberentung? Fühlen Sie sich bei Ihrer Arbeit häufig sehr stark gefordert? Können Sie auf die Gestaltung Ihrer Arbeitsaufgaben Einfluss nehmen? Entspricht das, was Sie für Ihre Arbeit bekommen (Bezahlung, Anerkennung) Ihrem Arbeitseinsatz? Machen Sie sich Sorgen um Ihren Arbeitsplatz oder Ihre berufliche Zukunft?
● ●
Haben Sie ernsthafte Probleme mit Ihrem Partner oder mit Ihren Kindern? Können Sie sich regelmäßig entspannen, z. B. durch ein Hobby oder durch sportliche Betätigung, Gartenarbeit oder anderes? ● Kommt es vor (in welchen Situationen; wie oft), dass Sie das Gefühl haben, die Kontrolle über wichtige Dinge Ihres Lebens zu verlieren? ● Gibt es Situationen, in denen Sie das Interesse und die Freude am Leben verlieren? ● Haben Sie ein für Sie wichtiges Ziel in Ihrem Leben erreicht, das Sie glücklich macht oder auf das Sie stolz sein können?
Tabelle 35.2 Häufige Symptome von Dauerstress. Erschöpfung
● ● ● ● ● ●
im Vergleich zu früher raschere Ermüdbarkeit Gefühl, dass Schwung und Energie (Vitalität) nachlässt längere Phasen sexueller Lustlosigkeit fehlende Initiativfreudigkeit, Unternehmungslust vermehrtes Bedürfnis nach Rückzug, Abkapselung Anzeichen von Apathie
Schlafstörungen
● ● ● ●
Durchschlafstörungen ohne ersichtlichen Grund (z. B. Nykturie, Schlafapnoe, Lärm) frühmorgendliches Aufwachen mit langen Wachphasen obsessive Gedanken und Sorgen unmittelbar nach Aufwachen Schläfrigkeit und Konzentrationsstörungen während des Tages
emotionale Labilität
● ● ●
Schmerzempfindlichkeit
● ● ●
„Dünnhäutigkeit“, gesteigerte Irritierbarkeit undosierte bzw. unkontrollierte negative affektive Reaktionen Mangel an Gelassenheit, reduzierte Fähigkeit, Probleme zu bewältigen und Spannungen abzubauen ● erhöhte Nervosität, motorische Unruhe ● für die Person untypische aggressive Äußerungen oder Handlungen Zunahme der Klagsamkeit häufigeres Unwohlsein gesteigerte Schmerzwahrnehmung und -intensität
Wichtig: Die Symptomatik von Dauerstress ist nicht identisch mit Symptomen einer depressiven Erkrankung, trotz Überlappung einiger symptomatischer Merkmale! Da Dauerstress u. a. auch das Risiko depressiver Erkrankung erhöht, ist eine sorgfältige differenzialdiagnostische Abklärung erforderlich!
328
Indikatoren gestörter psychosozialer Balance
systolischer RR (mmHg)
145 140 135 130 125 120
Montag Arbeit
Freizeit
Donnerstag Arbeit
freier Tag
Freizeit Freizeit
35
Herzfrequenz (Schläge/min)
90 85 80 75 70 65 60
Montag
Donnerstag
freier Tag
eit zeit chlaf rbeit izeit chlaf izeit chlaf S S S Arb Frei A Fre Fre 45 40 RMSSD (ms)
therapeutische oder präventive Maßnahmen einzuleiten, das Bedürfnis, die im Gespräch bzw. in der Exploration gesammelten subjektiven Informationen zu validieren. In allen diesen Fällen ist es hilfreich, über psychobiologische Indikatoren einer fortgesetzten Stressbelastung zu verfügen und sie entsprechend bewerten zu können. Bei diesen Indikatoren handelt es sich um physiologische Korrelate ausgeprägter Aktivierungen des autonomen Nervensystems, des endokrinen Systems und des Immunsystems. Sie werden entweder in Form kontrollierter Provokationstests (sog. Stresstests) oder in Form ambulanter Registrierung unter Alltagsbedingungen erfasst. Hinweise auf eine gestörte Balance ergeben sich aus der Abweichung dieser Parameter von Normwerten (entweder deutlich über oder unter der Norm liegende Werte) bzw. aus einer veränderten zeitlichen Verlaufsdynamik (z. B. verzögerte Renormalisierung nach Provokation, veränderte tägliche Rhythmik, [4, 7]). Beim gegenwärtigen Kenntnisstand darf man allerdings den klinischen Einsatz solcher Indikatoren nicht überschätzen. Beispielsweise fehlen bei der Beurteilung der im Blut oder Speichel gemessenen Hormonkonzentrationen (z. B. Kortisol, Katecholamine) oft Normwerte, die es gestatten, die nach Alter, Geschlecht und zusätzlichen Einflussfaktoren variierenden Ausprägungen zu interpretieren. Ebenso können Veränderungen des Rezeptorstatus sowohl zu hohen wie auch zu niedrigen Ausscheidungsraten führen. Als relativ brauchbar erweisen sich Entzündungsparameter (z. B. erhöhte Werte von CRP im Verein mit niedrigen Werten antiinflammatorischer Zytokine [IL-10] sowie von TGF-β = Transforming growth factor). Sie verweisen auf eine endogene Entzündungsaktivität, die als Folge gesteigerter Stresshormonproduktion (v. a. CRH = Corticotropin-releasing-Hormon) oft beobachtet wird. Diese Beobachtung ist umso wichtiger, als endogene inflammatorische Prozesse bei der Initiation und Progression der Atherosklerose, bei der Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ II und in der Ätiologie depressiver Störungen eine Rolle spielen [7]. Im Bereich kardiovaskulärer psychobiologischer Indikatoren bewährt sich das ambulante Monitoring von Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität und Blutdruck. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass kontinuierlich während des Arbeitstages registrierte (v. a. systolische) Blutdruckwerte bei Personen, die durch psychosozialen Dauerstress belastet sind (Anforderungs-Kontroll-Modell, Modell beruflicher Gratifikationskrisen, s. o.) signifikant erhöht sind, während die Herzfrequenzvariabilität signifikant erniedrigt ist (Abb. 35.1, [8]). Die letztere Beobachtung ist besonders bedeutsam, da niedrige Herzfrequenzvariabilität auf eine gestörte sympathovagale Balance hindeutet (Überwiegen der Sympathikusaktivität) und gegenwärtig als Risikomarker im Vorfeld koronarer Herzerkrankungen diskutiert wird (s. a. Kap. 3). Für die Routineauswertung entsprechender Daten liegen Auswertungsprogramme vor.
35 30 25 20 15
Montag
Donnerstag
freier Tag
eit zeit chlaf rbeit izeit chlaf izeit chlaf S S S Arb Frei A Fre Fre
Abb. 35.1 Kontinuierlich registrierter Blutdruck, Herzfrequenz und Herzfrequenz-Variabilität in Abhängigkeit von beruflichen Gratifikationskrisen [modifiziert nach 8]. Rote Linie: Probanden mit Gratifikationskrise; gelbe Linie: Probanden ohne Gratifikationskrise. RR = Blutdruck, RMSSD = root mean square of successive differences (Ausmaß der Herzfrequenzänderung von einem Herzschlag zum nächsten).
35.4.4 Zusammenfassung Ziel des Einsatzes psychobiologischer Messmethoden zur Abschätzung einer Dauerstressbelastung mit möglichen organischen Folgen ist eine Validierung subjektiver Angaben und eine Beurteilung ihrer klinischen Bedeutung.
329
Psychosoziale Balance
I II
Hierzu werden Provokationstests (sog. Stresstests) oder ambulante Registrierverfahren eingesetzt. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand ist der Einsatz spezifischer und sensitiver Methoden allerdings noch begrenzt. Am besten geeignet scheinen gegenwärtig Messungen endogener inflammatorischer und antiinflammatorischer Aktivität sowie die ambulante Registrierung kardiovaskulärer Aktivität im Tagesverlauf. Vor allem eine reduzierte Herzfrequenzvariabilität verweist auf eine gestörte sympathovagale Balance, der möglicherweise auch prognostische Bedeutung bei der Abschätzung koronarer Risiken zukommt.
III
35.5 Stärkung psychosozialer Balance: Was können Ärzte beitragen?
IV
35.5.1 Drei ärztliche Aufgaben
V
VI VII
Eine erste wichtige Aufgabe ärztlicher Beratung und Betreuung besteht darin, Klienten über die Bedeutung der erfassten Informationen aufzuklären: „Stress“ ist ein „Allerweltsbegriff“, den jeder nach seinem eigenen Verständnis verwendet. „Stress“ wird auch von vielen als Argument zur Erklärung bzw. Rechtfertigung eines Gesundheitsrisikos vorgebracht, das nachweislich andere Ursachen hat (z. B. gesundheitsschädigendes Verhalten). Wiederum andere Personen leiden unter Symptomen, die durch Dauerstress begünstigt werden, ohne eine Verbindung zwischen den Symptomen und den eigenen Erfahrungen und Emotionen herstellen zu können. Hier überall ist es wichtig, dass eine wissenschaftlich fundierte Exploration psychosozialer Stressbelastung vom Alltagsverständnis von „Stress“ und entsprechenden Fehlinterpretationen deutlich unterschieden wird. Dies dem Klienten entsprechend verständlich zu erläutern, ist eine wichtige ärztliche Aufgabe. Zweitens geht es darum, dass der Arzt eine vorläufige Bilanzierung, eine Bewertung der aktuellen psychosozialen Balance, seines Klienten vornimmt: ● Welche fördernden und welche hemmenden Bedingungen einer psychosozialen Balance liegen vor (Tab. 35.1)? ● Wie stellt sich das Verhältnis dieser Bedingungen dar? ● Falls eine nicht kompensierte akute Stressbelastung in Form eines oder mehrerer kritischer Lebensereignisse oder ein Dauerstress in einer oder mehreren zentralen Rollen des Lebens festgestellt wird: Als wie schwerwiegend wird diese Tatsache vom Arzt eingeschätzt? ● Sind physische bzw. psychophysische Symptome von Dauerstress vorhanden (Tab. 35.2)? Falls ja: welche Symptome sind wie ausgeprägt? ● Gibt es erste Hinweise anhand psychobiologischer Indikatoren, dass Dauerstress negative Auswirkungen auf physiologische Funktionsabläufe zeigt?
330
Auf dieser Basis besteht die dritte – und wichtigste – Aufgabe des Arztes darin, gemeinsam mit dem Klienten Möglichkeiten zu erkunden, Dauerstress abzubauen und die psychosoziale Balance zu stärken. Hierbei kann es hilfreich sein, folgende Gesichtspunkte zu beachten: ● Sieht der Klient selbst eigene Ressourcen, anhand deren er seine psychosoziale Balance, falls notwendig, stärken kann? ● In welchen Bereichen können diese Ressourcen gezielt gefördert und ggf. zur Kompensation von Dauerstress eingesetzt werden? ● Können diese Ressourcen durch Angebote eines gesundheitsfördernden Lebensstils gestärkt werden? ● Falls eine akute oder chronische Stresssymptomatik vorliegt, bestehen eine Bereitschaft und eine Chance beim Klienten, an ihrer Reduzierung zu arbeiten? Wichtig: Bei präventiven und interventiven Maßnahmen zur Stressbewältigung sollen immer dann, wenn diese über unspezifische Entspannungsverfahren (s. u.) hinausreichen, ausgewiesene Experten berücksichtigt werden!
35.5.2 Unspezifische und spezifische Maßnahmen der Stressbewältigung Auf der Basis eines verbesserten Verständnisses des Zusammenhangs zwischen Situationen, welche Stressreaktionen hervorrufen, und dem eigenen Erleben und Befinden (inkl. bestimmter Symptome, die sich hierbei bemerkbar machen) ist es oft hilfreich, dass der Klient in der ärztlichen Konsultation entsprechende Situationen durch Erinnern und Vorstellen aktualisiert und auf dabei ablaufende Wahrnehmungen, Kognitionen und Emotionen achtet. Er soll dabei lernen, seine eigenen Stressreaktionen bewusst wahrzunehmen, d. h. sein Gespür für psychophysische Zustände der Erregung und Anspannung zu schärfen. An dieser Stelle ist es sodann oft angezeigt, mit einer unspezifischen Entspannungsübung zu beginnen. Hierzu stehen in erster Linie das autogene Training (nach J.H. Schulz [9]) und die progressive Muskelrelaxation (PMR, nach E. Jacobson) zur Verfügung. Ein Ziel besteht darin, Klienten zur häuslichen Übung zu motivieren. Motivationsfördernd ist die Nachbesprechung der positiven und negativen Empfindungen während der Übung, ebenso die Klärung von Widerständen gegen ihre regelmäßige Anwendung. Schriftliche oder audiovisuelle Materialien unterstützen den Lernprozess. Die Anwendung spezifischerer Techniken der Stressbewältigung bleibt in der Regel entsprechend qualifizierten Experten vorbehalten. Diese Techniken bearbeiten u. a. folgende Themen: ● realistische und unrealistische Bewertung von Anforderungssituationen
Stärkung psychosozialer Balance: Was können Ärzte beitragen?
●
● ●
negative Emotionen und Verhaltensweisen, die im Kontext von Stressreaktionen auftreten (z. B. Angst, Ärger, kämpferisches oder resignatives Verhalten) günstige und ungünstige Strategien bei der Bewältigung von Dauerstress Stärkung psychosozialer Kompetenzen (Selbstbehauptung, Toleranz, Konfliktlösungsstrategien)
Auf Einzelheiten kann im Rahmen dieser Übersicht nicht näher eingegangen werden [siehe aber 5, 10 – 12]. Allerdings soll darauf hingewiesen werden, dass einzelne Module zur Stressbewältigung mit Gewinn in Form von Gruppenarbeit durchgeführt werden können. Dies gilt bspw. für das Erkennen und Bearbeiten von Kognitionen und Motivationen einer übersteigerten beruflichen Verausgabungsneigung, die zu einer unrealistischen Bewertung von Anforderungen führt und eine bei Dauerstress sich anbahnende Erschöpfungssymptomatik kritisch verstärkt. Ebenso kann die Gruppendynamik bei Übungen zur Ärgerbewältigung, zu zielführenden Strategien der Stressbewältigung und der Stärkung psychosozialer Kompetenzen unterstützend und bekräftigend wirken.
35.5.3 Weiterführende Maßnahmen Es sei auch an dieser Stelle nochmals in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass der individuellen Arzt-KlientenBeziehung angesichts fördernder und hemmender Bedingungen der psychosozialen Balance und ihrer Veränderung Grenzen gesetzt sind. Dauerstress als Folge interpersoneller Beziehungskonflikte bedarf der Paar- oder Familientherapie. Mangelnder sozialer Rückhalt oder Konflikte mit Vorgesetzten und Kollegen bei der Arbeit sind einer direkten, vom Arzt in die Wege zu leitenden Intervention nicht zugänglich. In dem letzteren Fall stehen Maßnahmen des Führungstrainings, der Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen zur Verfügung, die v. a. im Rahmen betrieblicher Gesundheitsförderungsprogramme umzusetzen sind [11, 12]. Aus beiden oben beschriebenen Arbeitsstressmodellen, dem Anforderungs-Kontroll-Modell und dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, lassen sich konkrete Maßnahmen der Arbeits- und Organisationsentwicklung ableiten, die sich in einzelnen Untersuchungen bereits als gesundheitsförderlich und – in einer längerfristigen Betrachtungsweise – als wirtschaftlich erfolgversprechend erwiesen haben [13]. Aufgabe des Arztes ist es in diesem Zusammenhang, Klienten auf Chancen betrieblicher Gesundheitsförderungsmaßnahmen hinzuweisen, Informations- und ggf. Beschwerdeinstanzen zu benennen und durch Arztbriefe oder gutachtliche Stellungnahmen entsprechenden Handlungsbedarf anzumahnen. Manche der hemmenden Bedingungen psychosozialer Balance sind nicht änderbar und beeinflussen das Leben von Klienten schicksalhaft. In diesen Fällen soll der Arzt
wahrhaftig bleiben, keine unrealistischen Versprechungen oder Beschwichtigungsversuche durchführen, andererseits jedoch stets nach Chancen der Veränderungsbereitschaft und -möglichkeit beim Klienten Ausschau halten. Letztlich ist wichtig, dass der Arzt in den Grenzen seines beruflichen Auftrags sein persönliches Engagement glaubhaft vermittelt. Dadurch trägt er, bewusst oder unbewusst, zur Stärkung der psychosozialen Balance der Klienten bei.
?
Häufige Patientenfragen
Wann ist mein inneres Gleichgewicht bzw. die Balance zwischen mir und meiner näheren Umwelt deutlich gestört? ● Immer dann, wenn Sie nicht in der Lage sind, ganz zentrale Bedürfnisse zu erfüllen, v. a. das Bedürfnis nach selbstständigem Handeln, nach Anerkennung durch andere Menschen und auch das Bedürfnis, frei von Schmerzen, Behinderungen und bedrohlichen Erkrankungen zu sein. Gibt es besondere Bedingungen, die diese Balance fördern? ● Förderliche äußere Umstände sind erstens eine gesicherte gesellschaftliche Stellung (ein sog. hoher sozialer Status), zweitens stabile Beziehungen zu Mitmenschen und drittens Erfahrungen, dass sich Anstrengungen lohnen, dass „Geben“ und „Nehmen“ in den wichtigsten Aktivitäten Ihres Lebens im Großen und Ganzen ausgeglichen sind. Und gibt es auch hemmende Bedingungen? Ja, beispielsweise Erfahrungen von Gewalt oder Lebensumstände, die zu Armut führen. Wenn Sie von wichtigen Beziehungen und Tätigkeiten ausgeschlossen sind (z. B. Arbeitslosigkeit, Verlust nahestehender Personen), wirkt sich dies auch hemmend aus. Ebenso im Arbeitsleben überall dort, wo Sie keine Kontrolle, keinen eigenen Gestaltungsspielraum bei der Arbeit haben, und dort, wo Ihrer Leistung keine angemessenen Belohnungen entsprechen.
●
Erhöht jede Form von Stress mein Erkrankungsrisiko? Nein, krankheitswertiger Dauerstress entsteht in der Regel nur dann, wenn Sie wiederkehrend gefordert sind, etwas für Sie Wichtiges zu erreichen, ohne sicher zu sein, dass Sie damit Erfolg haben. Typisch für Dauerstress ist das Gefühl, trotz Verausgabung eine Sache nicht meistern zu können und dadurch etwas Wichtiges zu verlieren.
●
Woran merke ich, dass ich Dauerstress habe? Ihr Organismus stellt sich in solchen Situationen auf eine Art Alarmreaktion ein. Das Herz schlägt rascher, der Blutdruck steigt, Sie fühlen sich angespannt und unfrei. Oft treten ausgeprägte Ärger- oder Angstgefühle auf. Solche Erregungszustände dauern nicht nur Minuten, sondern
●
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Psychosoziale Balance
Stunden, oder sie erstrecken sich über den ganzen Tag. Selbst am Abend fällt es Ihnen schwer, „abzuschalten“.
I II III
Woran merke ich, dass Störungen meiner inneren Balance für meine Gesundheit gefährlich werden? ● Es gibt mehrere diskrete Anzeichen, auf die Sie achten sollten: Am wichtigsten sind Erfahrungen häufiger Erschöpfung, Lustlosigkeit und gesteigerte Reizbarkeit. Auch treten ungeklärte Durchschlafstörungen auf, oder Sie erwachen morgens viel zu früh, ohne wieder einschlafen zu können. Ihre Gedanken werden von hartnäckigen Sorgen bestimmt, und Sie haben oft das Gefühl, die Kontrolle über wichtige Dinge Ihres Lebens zu verlieren oder ganz schwer enttäuscht worden zu sein. Was kann ich selbst gegen solche Anzeichen tun? Erstens suchen Sie sich Gelegenheiten zur Entspannung und zur Kompensation von Belastungen. Denken Sie an Ihre Stärken, Ihre Hobbys, vertrauen Sie sich einer Ihnen besonders nahestehenden Person an. Zweitens befolgen Sie einen gesundheitsförderlichen Lebensstil, damit Sie auch in einer belastenden Situation möglichst widerstandsfähig bleiben. Drittens klären Sie, was Sie selbst an der Situation, die zu Symptomen von Dauerstress geführt hat, ändern können.
der Personalverantwortliche sind Ansprechpartner für eine sachlich dargelegte Problemstellung. Gewerkschaften, Krankenkassen und Infoquellen im Internet informieren Sie über Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung und betrieblichen Gesundheitsschutzes sowie über damit verbundene Rechte und Pflichten.
Worauf soll ich zukünftig besonders achten, um mein inneres Gleichgewicht, meine Balance zu bewahren? ● Versuchen Sie, so weit es möglich ist, Ihr Leben so zu gestalten, dass Sie frei und ungezwungen ein Ziel verfolgen können, das für Sie und Ihr unmittelbares Umfeld wertvoll und lohnend ist.
Literatur
●
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An wen kann ich mich wenden, wenn ich selbst mit der Situation nicht mehr klar komme? ● An einen Arzt Ihres Vertrauens oder einen in Fragen der Stressbewältigung kompetenten anderen Experten (z. B. klinischer Psychologe, psychologischer Psychotherapeut). Was können mir nahestehende Menschen oder was kann mein Arbeitgeber in solchen Situationen tun? ● Wer Ihnen besonders nahe steht, wird Sie in einer kritischen Situation mit Rat und Tat unterstützen. Gemeinsam getroffene Beschlüsse (z. B. gesünder leben, mehr Freizeit, mehr Freiraum für wichtige und schöne Dinge außerhalb der Arbeit) helfen oft weiter, offensiv gegen die bedrückende Situation vorzugehen. ● Berufliche Stressbelastung ist zu einem Teil immer auch ein strukturelles Problem. Machen Sie nicht den Fehler, alles sich selbst anzulasten. Der Betriebsarzt, das Betriebsratsmitglied, möglicherweise auch Ihr Arbeitgeber oder
332
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Doyal L, Gough I. A Theory of Human Need. London: Macmillan; 1991.
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Marmot M. Status Syndrome: How your social standing directly affects your health and life expectancy. London: Bloomsbury; 2004.
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Epidemiologie des Nikotinabusus
36 Raucherentwöhnung W. J. Kox, M. Hensel
Das Wichtigste in Kürze Aktives und passives Rauchen verursacht psychische Abhängigkeit und komplexe körperliche Schäden, v. a. im Atmungs- und Herz-Kreislauf-System. Der Nichtraucherschutz gewinnt immer mehr an Bedeutung und wird insbesondere durch gesetzliche Maßnahmen, Medienkampagnen und Aktionen gefördert. Von ärztlicher Seite können Raucher bei Nikotinkarenzversuchen gut unterstützt werden durch ● Sensibilisierung für den Nutzen, mit dem Rauchen aufzuhören, durch sinnvoll dosierte Information über Komplikationen des Weiterrauchens und Benefit einer Nikotinkarenz, ● sorgfältige Feststellung des Abhängigkeitsgrades und des individuellen Risikoprofils sowie ● zeitlich und inhaltlich konkrete Therapieplanung unter Berücksichtigung verhaltenstherapeutischer und medikamentöser Behandlungselemente. Ärztliche Raucherentwöhnungsversuche sind trotz häufiger Rückschläge die effektivste präventivmedizinische Leistung.
36.1 Epidemiologie des Nikotinabusus Der Nikotinabusus durch Tabakrauchen stellt die häufigste Form des Substanzmissbrauchs dar. Weltweit sterben jährlich etwa 3 Mio. Menschen an den Folgen tabakassoziierter Erkrankungen – 10 Mio. werden für das Jahr 2020 prognostiziert. Damit fallen dem Rauchen und seinen Folgeerkrankungen mehr Menschen zum Opfer, als den Faktoren Verkehrsunfall, AIDS, Alkohol, illegale Drogen, Mord und Selbstmord zusammen [1, 2]. Laut Drogenbericht der Bundesregierung [Web1] gibt es derzeit in Deutschland 16,7 Mio. Raucher. Diese stellen nicht nur eine Gefahr für die eigene Gesundheit dar, sondern sind durch das sog. Passivrauchen auch eine Gefahr für die Gesundheit ihrer Umgebung. Die Gefährlichkeit der im Tabakrauch enthaltenen Giftstoffe für die Gesundheit ist wissenschaftlich unbestritten. Tabakrauch beinhaltet mehr als 4000 Inhaltsstoffe, von diesen sind wenigstens 50 als potenzielle Kanzerogene bekannt. Passivrauchen ist in hohem Maße krebserregend und hat Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur Folge. Die Zahl der Toten durch Passivrauchen wird für Deutschland auf jährlich mindestens 3300 geschätzt. Passivrauch ist vermutlich der quantitativ bedeutsamste inhalative Krankheitsauslöser in der Innenraumluft [3]. Passivrauch wurde daher 1998 durch die Senatskommission zur Be-
wertung gesundheitsgefährdender Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft als erwiesenermaßen humankanzerogener Arbeitsstoff eingestuft. Dabei wurde ausdrücklich von einer Festlegung unterer Grenzwerte für eine Konzentration von Tabakrauch, die noch als tolerabel angesehen werden könnte, abgesehen [4]. Auch der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS), der das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Fragen des Arbeitsschutzes berät, hat das Passivrauchen in das von ihm aufgestellte „Verzeichnis krebserzeugender, erbgutverändernder oder fortpflanzungsgefährdender Stoffe" aufgenommen und ebenfalls der höchsten Gefahrenstufe zugeordnet (hier: Kategorie 1 nach Anhang VI der Richtlinie 67/548/EWG, [5]). In diese Kategorie sind Stoffe einzustufen, „die auf den Menschen bekanntermaßen krebserzeugend wirken. Der Kausalzusammenhang zwischen der Exposition eines Menschen gegenüber dem Stoff und der Entstehung von Krebs ist ausreichend nachgewiesen" ([5], Abschnitt 4.2.1). Das Lungenkarzinom ist in Deutschland unter den Tumoren die mit Abstand häufigste Todesursache: Im Jahr 2003 starben daran 39 286 Menschen (28 652 Männer und 10 634 Frauen). Ein kausaler Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs ist durch verschiedene Studien und Metaanalysen belegt (Überblick z. B. [6]). Nach gesicherter Studienlage ist das Passivrauchen für viele andere Erkrankungen und Todesfälle mitverantwortlich, wie die koronare Herzkrankheit (KHK), den Schlaganfall, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen und den plötzlichen Kindstod. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Gefahren des Tabakrauchs für Leben und Gesundheit aller Betroffenen anerkannt. Im Ergebnis sei „nach heutigem medizinischen Kenntnisstand gesichert, dass Rauchen Krebs sowie Herz und Gefäßkrankheiten verursache und damit zu tödlichen Krankheiten führe und auch die Gesundheit der nicht rauchenden Mitmenschen gefährde" [7]. Aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag ein „Gesetz zur Einführung eines Rauchverbotes in Einrichtungen des Bundes und öffentlichen Verkehrsmitteln (Bundesnichtraucherschutzgesetz, Drucksache 16/5049) beschlossen. Danach ist das Rauchen seit September 2007 nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 verboten 1. in Einrichtungen des Bundes, 2. in Verkehrsmitteln des öffentlichen Personenverkehrs sowie 3. in Personenbahnhöfen der öffentlichen Eisenbahnen. Verschärft wurde überdies der Jugendschutz: Tabakwaren dürfen seit September 2007 an Kinder und Jugend-
333
36
Raucherentwöhnung
I
liche unter 18 Jahren nicht mehr verkauft werden (Ausnahmeregelung für Automatenverkauf bis 2009), ferner ist es verboten, unter 18-Jährigen das Rauchen in der Öffentlichkeit zu erlauben. Diskutiert werden die Folgen des Rauchens auch aus volkswirtschaftlicher Sicht. In Deutschland verursachen Raucher aufgrund der medizinischen Kosten und durch Arbeitsausfall jährlich 19 Mrd. Euro [8].
II
36.2 Mechanismen der Nikotinabhängigkeit
III
36.2.1 Pathophysiologie der atherosklerotischen Effekte
IV V
VI VII
Die Kenntnisse über die Mechanismen der nikotinvermittelten Gefäßerkrankungen sind leider unvollständig. Rauchen verursacht akute hämodynamische Veränderungen, wie z. B. eine Steigerung der Herzfrequenz, des systemischen und koronaren Gefäßwiderstands, der Myokardfunktion sowie des myokardialen Sauerstoffbedarfs. Langzeitrauchen zeigt direkte toxische Wirkungen mit strukturellen Veränderungen der Endothelzellen durch eine Steigerung der Stickstoffoxid-Inaktivierung durch freie Radikale. Dies zieht eine Verschlechterung der endothelialen Funktion nach sich. Darüber hinaus steigert Rauchen die oxidative Umwandlung von LDL und ist mit niedrigen HDL-Serumspiegeln assoziiert. Man kann eine systemische inflammatorische Wirkung mit erhöhten Leukozyten und CRP-Spiegeln feststellen. Die prothrombotischen Effekte, z. B. Veränderungen der Plättchenfunktion, Ungleichgewicht zwischen pro- und antithrombotischen Faktoren sowie eine Abnahme der fibrinolytischen Aktivität, sind ebenfalls bekannt. Folglich sind effektive Maßnahmen zum Erreichen einer Nikotinkarenz als multifaktorielle antiatherosklerotische Therapie zu betrachten.
36.2.2 Pathophysiologie der Nikotinabhängigkeit Nikotin, ein wesentlicher Bestandteil des Tabaks, ist eine der am schnellsten süchtig machenden Substanzen. Es hat nicht nur psychostimulierende Wirkungen wie Kokain oder Amphetamine, sondern es beeinflusst im Gehirn eine Vielzahl von Neuromodulatoren [9, 10]. Nikotin greift v. a. an den nikotinergen Acetylcholinrezeptoren des zentralen Nervensystems an. Durch die Bindung an den Rezeptor kommt es zu sehr komplexen neuronalen Interaktionen und zur Ausschüttung der verschiedensten Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Endorphinen [9, 10, 11, 12]. Die nikotinergen Acetylcholinrezeptoren haben einen sehr engen
334
Bezug zum präfrontalen Kortex, wodurch bestimmte Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen durch Nikotin verbessert werden können [12, 15, 16]. Außerdem besteht eine enge räumliche Beziehung zum dopaminergen Belohnungssystem (ventrale Area tegmentalis, limbisches System, Corpora amygdaloidea und Nucleus accumbens), einer entwicklungsgeschichtlich entscheidenden Struktur [9, 12]. Sie wirkt auf Funktionen wie Essen, Trinken und Sexualität, die sowohl für die Existenz des einzelnen Menschen notwendig sind, als auch für das Überleben der Art. Beim Rauchen belohnt sich der Mensch also ebenso wie bei der Ausführung existenzieller Handlungen. Diese Belohnung wird direkt mit der Tätigkeit des Rauchens assoziiert und die immer wieder gemachte emotionale Erfahrung prägt sich tief ins Unterbewusstsein ein. Es entsteht ein sog. „Suchtgedächtnis“ [13]. Dieses Gedächtnis wird aktiv, wenn der Spiegel an wirksamen Neurotransmittern im Belohnungszentrum nachlässt. Dann erwacht das Verlangen nach einer neuen Dosis Nikotin. Letztlich ist es also ein Trugschluss, mit Hilfe der Zigarette Stress abbauen zu können. Das Gegenteil ist der Fall: Wer raucht, um Stress abzubauen, fügt sich selbst nur weiteren Stress zu, denn der scheinbar entspannende Effekt des Rauchens kommt nur dadurch zustande, dass durch den Griff zur Zigarette die Anspannung, die durch das Absinken des Nikotinspiegels entstanden ist, wieder aufgehoben wird [14]. Neben dem Nikotin enthalten Zigaretten eine ganze Reihe von Substanzen, die sich in ihrer Suchtwirkung potenzieren. So verstärkt beispielsweise Ammonium, welches dem Tabak bei der Verarbeitung künstlich zugesetzt wird, die Nikotinwirkung. Während des Verbrennungsprozesses entsteht u. a. Acetaldehyd. Dieser Stoff bewirkt eine Reduzierung des Enzyms Monoaminooxidase B (MAO-B), welches im Gehirn z. B. Dopamin und Serotonin abbaut. Es konnte gezeigt werden, dass Raucher bis zu 40 % weniger MAO-B haben als Nichtraucher [15], dementsprechend wirken mehr Dopamin und Serotonin auf das Gehirn ein, was das Suchtpotenzial letztlich erhöht. Im Entzug steigt die MAO-B-Aktivität wieder an. Dieser Effekt kann durch Atropin vermindert werden [16]. Die plötzliche Abstinenz vom Nikotin kann bei starken Rauchern zu erheblichen Entzugserscheinungen führen („Nicotine withdrawal syndrome“, betrifft ca. 80 % der Raucher während des Entzugsversuchs, [17]). Dazu gehören Craving (Suchtdruck), Unruhe, Konzentrationsstörungen, Aggressivität, Angstzustände, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Bluthochdruck, Schwitzen und gastrointestinale Probleme. Die Ausprägung dieser Symptome kann individuell sehr unterschiedlich sein und hängt von einer Reihe von Faktoren ab (Dauer und Intensität des Nikotinabusus, Lebensalter, Einstiegsalter, Geschlecht usw.). In der Regel treten diese Erscheinungen in den ersten 14 Tagen nach Abstinenzbeginn auf, wobei die Intensität stetig abnimmt. Allerdings können einige
Methoden zur Raucherentwöhnung
Symptome, im Sinne eines protrahierten Abstinenzsyndroms, noch über Monate beobachtet werden.
Tabelle 36.1 Fagerströmtest zur Einschätzung der Nikotinabhängigkeit [mod. nach 8]. Wann nach dem Aufwachen rauchen Sie Ihre erste Zigarette?
36.2.3 Definition der Tabakabhängigkeit Meistens handelt es sich bei Rauchern um regelmäßigen Genuss von ca. 15 – 20 Zigaretten pro Tag. Eine Tabakabhängigkeit (ICD: F17.2) liegt nach den diagnostischen Kriterien der WHO vor, wenn mindestens 3 der 6 Kriterien für eine Störung durch psychotrope Substanzen erfüllt sind: ● starkes Verlangen, Tabak zu konsumieren ● verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Beendigung und Menge des Tabakkonsums ● körperliches Entzugssyndrom bei Absetzen oder Dosisreduktion (z. B. dysphorische Stimmung, Depression, Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Frustration, Angst, Konzentrationsstörungen, verminderte Herzfrequenz, gesteigerter Appetit) ● Toleranzentwicklung ● Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessensbereiche ● anhaltender Tabakkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen In der alltäglichen Praxis haben sich für die Suchtanamnese folgende Kriterien bewährt: frühmorgendliches Rauchen, viele frustran verlaufene Versuche, aufzuhören sowie mehr als 10 Zigaretten pro Tag. Eine weitere Möglichkeit zur schnellen und praxisnahen Einschätzung der Nikotinabhängigkeit stellt der sog. Fagerström-Test (s. Tab. 36.1) dar. Er umfasst 6 Fragen, für die insgesamt maximal 10 Punkte vergeben werden können. Je höher die Punktzahl, desto größer ist die Nikotinabhängigkeit. Durch die Berechnung der sog. „Packyears“ kann man das individuelle Risikoprofil für chronische und maligne Erkrankungen berechnen: Ein Packyear bedeutet, dass pro Tag eine Schachtel Zigaretten à 20 Stück geraucht wird, was z. B. bei 10 Zigaretten täglich über 20 Jahre hinweg 10 Packyears ergäbe. Ab mehr als 20 berechneten Packyears steigt das Risiko für Folgeerkrankungen dramatisch an.
innerhalb von 5 min innerhalb von 6 – 30 min innerhalb von 31 – 60 min nach 60 min
3 2 1 0
Punkte Punkte Punkt Punkte
Finden Sie es schwierig, an Orten, wo das Rauchen verboten ist, das Rauchen sein zu lassen? ja nein
1 Punkt 0 Punkte
Auf welche Zigarette würden Sie nicht verzichten wollen? die erste am Morgen andere
1 Punkt 0 Punkte
36
Wie viele Zigaretten rauchen Sie im Allgemeinen pro Tag? mehr als 30 21 – 30 11 – 20 bis 10
3 2 1 0
Punkte Punkte Punkt Punkte
Rauchen Sie am frühen Morgen im Allgemeinen mehr als über den Rest des Tages? ja nein
1 Punkt 0 Punkte
Kommt es vor, dass Sie rauchen, wenn Sie krank sind und tagsüber im Bett bleiben müssen? ja nein
1 Punkt 0 Punkte
Auswertung: 0 – 2 Punkte: keine oder sehr geringe Nikotinabhängigkeit 3 – 4 Punkte: geringe Nikotinabhängigkeit 5 – 10 Punkte: mittlere bis starke Nikotinabhängigkeit
sche Aufwand bei der Raucherentwöhnung sehr zeit- und kostenintensiv.
Weblinks ● Web1: Drogenbericht der Bundesregierung: www.drogen-
beauftragte.de
36.3 Methoden zur Raucherentwöhnung Die Methode der Wahl zur Raucherentwöhnung ist laut dem „Pocket Guide to Prevention of Coronary Heart Disease“ [17, Web2] das sofortige Aufhören mit dem Rauchen. Bei vielen Patienten funktioniert das ohne professionellen Beistand, die meisten brauchen jedoch medizinische und/oder psychologische Hilfe. Im Vergleich zur Behandlung anderer Risikofaktoren wie z. B. der Dyslipoproteinämie oder des Bluthochdrucks ist der therapeuti-
● Web2: CHD Taskforce: www.chd-taskforce.com ● Web3: DETOX-N: www.detox.de
36.3.1 Zielgruppen und Therapieziel Laut Drogenbericht der Bundesregierung [Web1] versuchen 35 % der Raucher durchschnittlich 5-mal pro Jahr, mit dem Rauchen aufzuhören. Davon sind jedoch nur 4 – 5 % nach einem Jahr noch abstinent [18]. Auf der Suche nach Unterstützung sieht sich der aufhörwillige
335
Raucherentwöhnung
Tabelle 36.2 Wirksamkeit von Raucherentwöhnungsmethoden.
I II
Methode
Erfolgsquote
Plazebobehandlungen
< 10 %
Hypnose/Akupunktur
< 15 %
Selbsthilfe
< 10 %
Nikotinersatz
15 – 25 %
Bupropion*
30 %
Bupropion* + Nikotinersatz
35 %
Verhaltenstherapie (Gruppe)
20 – 30 %
Verhaltenstherapie + Nikotinersatz
25 – 35 %
III IV V
VI VII
Raucher einer Vielzahl von Behandlungsangeboten gegenüber. Allerdings muss festgestellt werden, dass die Behandlungsergebnisse bislang eher unbefriedigend sind, sowohl im Hinblick auf die Zahl der Raucher, die erfolgreich den Zigarettenkonsum eingestellt haben, als auch bezüglich der erzielten Langzeitabstinenz (Tab. 36.2). Eine Reihe von Rauchern ist in der Lage, ihr Verhalten ohne professionelle Unterstützung zu beenden. Dies lässt sich an der Zahl der Ex-Raucher in Relation zu den durchgeführten professionellen Therapien ableiten. Hier werden teilweise Bücher mit Tipps zur Unterstützung der Entwöhnung eingesetzt [19]. Professionelle Entzugsexperten arbeiten meist mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Während bei der Primärprävention auf die gesellschaftliche Ächtung des Tabakkonsums in Form von
Rauchverbot in öffentlichen Bereichen und Werbeverbot für Tabakprodukte sowie gezielte edukative Maßnahmen in Schulen und Kindergärten gesetzt wird, erfolgt die Sekundärprävention nach Eintritt eines kardiovaskulären oder pulmonalen Ereignisses meistens im Rahmen der Rehabilitation. Hier ist die Erfolgsrate meistens höher [20], die Entwöhnung richtet sich an Hochrisikopatienten und ist im Erfolgsfall auch sehr effektiv [21]. Meist wird hier ein gestuftes Verfahren aus folgenden Komponenten verwendet: ● Vorbildfunktion (rauchfreie Rehabilitationseinrichtung) ● engagierte ärztliche Unterweisung zum Rauchverzicht ● edukative Maßnahmen zum Benefit des Rauchverzichts bzw. die möglichen Komplikation beim Weiterrauchen ● verhaltenstherapeutische Einzel- und/oder Gruppensitzungen ● pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Minderung der Entzugserscheinungen Das therapeutische Ziel ist die vollständige Aufgabe des Tabakkonsums. Ob auf dem Weg dorthin zeitlich definierte Zwischenetappen eingeführt werden, sollte individuell im Rahmen der Therapieplanung entschieden werden. Aktuell sind in Deutschland zwei Leitlinien zur Raucherberatung verfügbar [LL 1, LL 2]. Aufgrund der sowohl psychischen wie auch physischen Abhängigkeit bei Tabakkonsum empfehlen die Behandlungsleitlinien eine Kombination aus verhaltenstherapeutischen Elementen mit einer vorübergehenden pharmakotherapeutischen Unterstützung in der Entzugsphase.
Leitlinienbox LL1. Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Tabakbedingte Störungen. Leitlinie Tabakentwöhnung. 2004. AWMF-Leitlinien-Register 076/006, www.leitlinien. org.
36.3.2 Stadien und Beratungsstrategie der Raucherentwöhnung Bis zur völligen Nikotinkarenz durchläuft der Patient sechs verschiedene Stadien, die durch den Arzt erkannt und in der Beratung und ggf. folgenden Therapie berücksichtigt werden müssen [8]: ● Stadium 1: stabiler Raucher (hier keine Entwöhnungsabsicht, daher von ärztlicher Seite lediglich kurz gefasste Ratschläge und Informationsangebot) ● Stadium 2: Absichtsbildung (empfänglich für Ratschläge)
336
LL2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Therapieempfehlung „Tabakabhängigkeit“. 2001, www.akdae.de.
● ● ● ●
Stadium 3: Vorbereitungsphase (unmittelbar bevorstehender Nikotinkarenzversuch) Stadium 4: Handlungsphase (Versuch der Umsetzung) Stadium 5: Stabilisierungsphase (Nikotinkarenz wird zur Gewohnheit, Rückfälle immer unwahrscheinlicher) Stadium 6: stabiler Nichtraucher
Auch im Stadium I befindliche Patienten sind teilweise durchaus empfänglich für Informationen, Ratschläge und wiederholte Aufforderungen, das Rauchen aufzuhören. Wichtig ist das Zuschneiden dieser Maßnahmen auf den sozioökonomischen Hintergrund der Patienten und
Methoden zur Raucherentwöhnung
eine häufige Wiederholung gegenüber dem Patienten [17]. Zur Weichenstellung der Tabakentwöhnung hat sich in der hausärztlichen und/oder internistischen Vorbereitungsphase – orientiert an den Empfehlungen des amerikanischen Krebsinstituts ACI – die sog. „5A-Intervention“ bewährt [8]: ● Ask: bei jedem Termin über Rauchgewohnheiten fragen ● Advise: jedem Raucher auf klare und persönliche Art und Weise Nikotinkarenz empfehlen ● Assess: individuelle Bereitschaft zu Karenzversuch feststellen ● Assist: Hilfestellung bei Karenzversuch durch konkrete Therapieplanung, sozialer Unterstützung, medikamentöser Hilfe, verhaltenstherapeutischer Intervention ● Arrange: Nachsorgetermine vereinbaren
36.3.3 Verhaltenstherapeutische Methoden Neben motivierenden Gesprächen, Psychoedukation und Beratung zu individuell günstigen Aufhörstrategien werden bei der psychotherapeutischen Behandlung von Rauchern auch aufwendigere Verfahren mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen eingesetzt. Ziel ist hier, die Abstinenz zu sichern durch: allgemeine positive Beeinflussung der Motivation auf langfristige Sicht, insbesondere auch durch eine Stimuluskontrolle, bei der bisherige Schlüsselreize ihre Wirkung verlieren sollen, sowie durch Vermittlung von Strategien zur Bewältigung von Rückfallsituationen. Zwar hat sich die beste Wirkung hier bei Behandlungen in der Gruppe gezeigt, aber die Praxis erfordert auch ein Angebot von Einzelkontakten und Medien für das Selbststudium (Videos, Bücher). Zum einen können wegen der großen Kosten an Zeit und Personal Raucherentwöhnungsgruppen nicht immer angeboten werden. Zum anderen sind viele Raucher nicht bereit, an Gruppensitzungen teilzunehmen. Selbsthilfe-Manuals erreichen somit eine größere Anzahl an Rauchern, auch wenn sie hinsichtlich ihrer Effektivität den gruppentherapeutischen Behandlungen unterlegen sind. Wünschenswerte Komponenten der Verhaltenstherapie bei Raucherentwöhnung sind: ● Training von Bewältigungsstrategien ● Training von Problemlösungen ● Bereitstellung von sozialer Unterstützung während der Therapie
36.3.4 Medikamentöse Methoden Sind die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend zum Erreichen einer Tabakabstinenz wirksam, kann eine medikamentöse Unterstützung versucht werden.
Nikotinersatz In den letzten Jahren wurde zur Unterstützung vermehrt Nikotinersatz zur Verringerung der Entzugssymptome eingesetzt. Durch den Einsatz eines Nikotinersatzes haben nach einer Reihe von Studien entwöhnungswillige Raucher größere Chancen, von ihrer Sucht loszukommen. Bei der Auswertung von 53 Studien an der Universität Oxford, die sich mit dem Einsatz von Nikotinkaugummis, Nikotinpflaster und Nikotinsprays befassten, konnte festgestellt werden, dass die relativ teuren Surrogate eine Entwöhnungshilfe sein können. Aus einer Kontrollgruppe, die die Entwöhnung ohne einen Nikotinersatz durchführte, waren lediglich 11 % der ehemaligen Raucher nach 12 Monaten noch abstinent. Mit Nikotinersatz, den sie für mehrere Wochen oder Monate erhielten, standen 19 % das erste zigarettenfreie Jahr durch. Nikotinpflaster waren etwas wirksamer als Kaugummis. Bei den Kaugummis trat teilweise eine Magenunverträglichkeit auf sowie die Verlagerung der Abhängigkeit von der Zigarette auf den Kaugummi [22].
Zyban (GlaxoSmithKline) Das in Pillenform verabreichte Medikament enthält den Wirkstoff Bupropion-Hydrochlorid (Bupropion-HCl). Dieser Wirkstoff wird schon seit Beginn der Neunzigerjahre in den USA unter dem Produktnamen Wellbutrin gegen Depressionen eingesetzt. Nach Angaben des Herstellers haben weltweit bereits 5 Mio. Raucher einen Entzug mit Zyban begonnen. Zyban wirkt als selektiver Inhibitor der Dopamin- und Noradrenalinwiederaufnahme im ZNS und gehört damit zur SSRI-Gruppe (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). Die Substanz wurde primär als Antidepressivum entwickelt, findet aber in den letzten Jahren zunehmende Anwendung als „Anti-Raucher-Mittel“, d. h. der Wirkstoff von Zyban greift direkt im Gehirn dort ein, wo die Abhängigkeit entsteht – im Dopamin-System (s. a. S. 334). Wie Nikotin lässt auch Zyban die Menge des Botenmoleküls Dopamin im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen in die Höhe schnellen. Dadurch werden die Entzugserscheinungen quasi „gepuffert“. Nach einem Bericht des „New England Journal of Medicine“ [23] schafften etwa ein Drittel der Raucher den Ausstieg aus ihrer Sucht mit Zyban. Bei Kombination von Zyban mit Nikotinpflastern konnte man die Erfolgsrate auf etwa 35 % steigern [17]. Neben den bisherigen Erfolgsmeldungen mehren sich in der letzten Zeit Berichte, die auf gravierende Probleme mit dem Umgang von Zyban hinweisen. Erste Warnungen von Experten der Arzneimittelkommission werden laut. In Großbritannien werden bereits 57 Todesfälle mit Zyban in Verbindung gebracht, rund 7000 Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen wurden registriert. In Deutschland gingen rund 150 Verdachtsbe-
337
36
Raucherentwöhnung
I II III IV V
VI VII
richte zu Nebenwirkungen ein, darunter 11 Berichte über epileptische Anfälle und zwei Todesfälle. In Australien wird der Tod von 9 Menschen in Verbindung mit Zyban untersucht. Auch in Kanada sind 407 Verdachtsberichte, unter ihnen 3 Todesfälle, bekannt. Aufgrund der sehr hohen Anzahl und Heterogenität der Verdachtsberichte in verschiedenen Ländern hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Jahr 2001 eine Änderung der Anwendungsempfehlungen für Zyban bekannt gegeben, die in erster Linie die Einnahmeempfehlungen zu Behandlungsbeginn, Gegenanzeigen und Wechselwirkungen betreffen. Darüber hinaus wurde vom BfArM bei der Europäischen Arzneimittelagentur 2002 eine Nutzen-Risiko-Prüfung initiiert, um Klarheit darüber zu schaffen, ob die in den zahlreichen Verdachtsberichten gehäuft vorkommenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen im direkten Zusammenhang mit Zyban stehen oder auf eine bereits bestehende gesundheitliche Schädigung zurückzuführen sind. Die Ergebnisse dieser Untersuchung stehen noch aus [32]. Diese vielen Verdachtsmomente haben inzwischen bei den deutschen Ärzteverbänden und Ärztekammern zu einer Zurückhaltung gegenüber Zyban geführt.
Rimonabant (Sanofi-Synthelabor) Auf einen anderen Wirkmechanismus als bisherige Präparate gegen Nikotinabhängigkeit baut Rimonabant. Es greift in das sog. Endocannabinoid-System ein, das im Gehirn Suchtgefühle reguliert. Rezeptoren dieses Systems sind auch auf der Oberfläche von Fettzellen zu finden. Dadurch wird nicht nur das Verlangen nach Nahrung oder Nikotin im Gehirn reduziert, der Stoff hemmt auch die Einlagerung von neuen Fettzellen. Eine Zulassung bei der Raucherentwöhnung wurde sowohl von der EU-Arzneimittelbehörde EMEA als auch von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) abgelehnt, da klinische Studien keinen Nachweis für die Wirksamkeit von Rimonabant zur Raucherentwöhnung erbrachten.
Champix (Pfizer) Mit Champix kam eine neue Pille auf den deutschen Markt, die Rauchern beim Entzug helfen soll. Der darin enthaltene Wirkstoff Vareniclin hat bei Studien beachtliche Erfolgsquoten erzielt. Ein Wundermittel zur Rauchentwöhnung ist aber auch er nicht. Als mögliche Nebenwirkung wurde Suizidgefahr in den Beipackzettel aufgenommen. Wissenschafter der Universität Oxford haben sechs verschiedene klinische Studien zur Wirkung von Vareniclin miteinander verglichen [24, 25]. Die Raucher, die Vareniclin erhielten, hatten mehr als doppelt so hohe Chancen, einen Entzug von 12 Monaten durchzuhalten als die
338
Kontrollgruppe, die lediglich ein wirkungsloses Scheinpräparat erhalten hatte. Nach einem Jahr war in der Vareniclin-Gruppe noch ca. einer von fünf Patienten rauchfrei. Forscher des Krebsforschungszentrums in Heidelberg haben festgestellt, dass die Erfolgsquote mit Vareniclin in etwa der entspricht, die heutzutage mit Nikotinersatzoder Verhaltenstherapien erreicht wird. Die Arzneimittelbehörden in den USA und Großbritannien gehen Hinweisen nach, dass auch Champix zu Depressionen, Aggressionen und sogar Suizidgedanken führen kann [26].
Impfstoff CYT 002-NicQB (Novartis) Novartis hat die ausschließlichen weltweiten Rechte an einem Entwicklungspräparat von Cytos Biotechnology AG erworben. Dieses Präparat soll Raucher bei der Überwindung ihrer Nikotinsucht unterstützen. NicQb stimuliert den Körper zur Bildung von spezifischen Antikörpern gegen Nikotinmoleküle. Der entstehende Komplex ist zu groß, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und verringert so die Aufnahme der abhängigmachenden Substanz. Hierdurch wiederum verringert sich das sog. „Nikotinglücksgefühl“, die Stimulierung, die für die hohen Rückfallquoten bei Rauchern im Rahmen von Nikotinkarenzversuchen verantwortlich gemacht wird. Der Impfstoff soll 2008 in Phase-III-Studien weiter getestet werden. Diese werden zeigen, ob ein solcher Impfstoff eine tragbare Nutzen-Risiko-Relation aufweist. Ein Einsatz als echter Impfstoff, also zur Primärprävention z. B. schon bei Kindern ist nicht zu erwarten. Außerdem besteht die Gefahr einer Überdosierung von Nikotin, wenn bei desperaten Rauchern der Wunsch bestehen sollte, eine Nikotinwirkung trotz Impfstoff zu erzielen.
36.3.5 Sonstige Methoden Neben den o. g. Verfahren gibt es weitere Methoden zur Raucherentwöhnung, bei denen suggestive Elemente (z. B. Hypnose, Akupunktur) eingesetzt werden, ihre langfristige Wirkung ist bisher nicht erwiesen [27]. Die Methode der Akupunktur spricht nach Aussagen einiger Therapeuten bei ca. 50 % der Raucher an. Selbst nach einer Analyse von 2000 Studien durch das NIH (National Institute of Health) konnte 1997 aber keine eindeutige Effektivität der Therapie belegt werden [28].
36.3.6 Multimodale Behandlungskonzepte am Beispiel der Detox-N-Methode Analysiert man die Ergebnisse wichtiger Therapiestudien, so zeigt sich, dass eine Reihe von Einflussfaktoren wie persönlicher Kontakt, Intensität der Behandlung, Problemlösungstraining, Kombination von individueller Bera-
Methoden zur Raucherentwöhnung
tigte Indikation richtet), worauf die Patienten vor der Behandlung ausdrücklich hingewiesen werden. Durch ihre Unterschrift erteilt ein Teilnehmer des DETOX-Programms seine Zustimmung. Die Outcome-Daten (Abstinenz bzw. Rückfälligkeit, Entzugserscheinungen, Rückfallgründe, Nebenwirkungen, Gesamturteil über die Therapie) wurden in strukturierten Telefoninterviews erhoben. Die Intensität der Entzugssymptomatik wurde mithilfe der Minnesota Nicotine Withdrawal Scale eruiert. In vorliegender Untersuchung wurden alle Patienten als abstinent eingestuft, die 12 Monate nach Beendigung der Pharmakotherapie rauchfrei waren. Als Therapieversager wurden jene Fälle gewertet, die während der Medikamenteneinnahme, also während der ersten 14 Tage, rückfällig wurden. Von den 652 Rauchern (280 Frauen, 372 Männer), über die Outcome-Daten erhoben werden konnten, lebten nach einem Zeitraum von mindestens 12 Monaten 399 (61 %) abstinent und 253 (39 %) waren rückfällig (Abb. 36.1). Deutliche Unterschiede ergaben sich zwischen den Geschlechtern. Während 68 % der Männer rauchfrei lebten, gelang dies nur 52 % der Frauen. Weitere Determinanten für den Abstinenzerfolg waren der Schweregrad der körperlichen Abhängigkeit und der tägliche Zigarettenkonsum. So waren Raucher mit einer starken bzw. sehr starken körperlichen Abhängigkeit (Abstinenzrate 66 %) erfolgreicher, als jene mit mittlerer, geringer oder sehr geringer Abhängigkeit. Die Gruppe der erfolgreich therapierten Raucher konsumierte im Vorfeld der Behandlung im Durchschnitt 38 (±19) Zigaretten pro Tag während die rückfälligen Raucher einen Zigarettenkonsum von 30 (±14) Zigaretten täglich angaben. Von den rückfälligen Rauchern brachen 39 die Behandlung bereits während der ersten 14 Tage ab und mussten als Therapieversager eingestuft werden (6 %). Ansonsten ereignete sich die Mehrzahl aller Rückfälle (81 %) innerhalb der ersten 6 Wochen nach Ende der medikamentösen Therapie (Abb. 36.2). Als häufigste Rück-
70 60 Abstinenzrate (%)
tung und Gruppenberatung, Erfassung der Aufhörmotivation und Nachsorge den Gesamterfolg beeinflussen. Als entscheidender Erfolgsfaktor hat sich jedoch die medikamentöse Unterstützung herauskristallisiert. Es gibt Hinweise in der Literatur, dass pharmakologische Kombinationsbehandlungen gegenüber Einzeltherapien überlegen sind [29]. Um den genannten Ansprüchen an eine qualifizierte Raucherentwöhnung gerecht zu werden, entwickelten wir an der Charité in Berlin ein Verfahren auf der Basis eines medikamentengestützten Nikotinentzugs, welches bereits 1986 von Bachynsky beschrieben wurde [30]. Es handelt sich um ein multimodales Behandlungskonzept, welches es den Rauchern erlaubt, möglichst schnell und frei von Entzugssymptomen abstinent zu werden. Die klinische Wirksamkeit hat sich bei nahezu 3000 durchgeführten Therapien nachweisen lassen. In einer an 670 Rauchern durchgeführten Langzeitbeobachtung konnten die Abstinenzrate und die möglichen Nebenwirkungen ermittelt werden. Die Behandlung selbst beginnt mit einem ausführlichen Gruppengespräch. Dabei wird zunächst die Therapie detailliert beschrieben und dann die medizinischen Grundlagen erläutert. Außerdem wird die Abstinenzmotivation aller Teilnehmer erfragt und es werden Empfehlungen zu Verhaltensänderungen gegeben. Im Einzelgespräch werden danach sowohl die Krankengeschichte als auch die Raucheranamnese der Patienten erhoben (täglicher Zigarettenkonsum, seit wann Raucher, Zahl der Entzugsversuche). Zur Bestimmung des Schweregrades der körperlichen Abhängigkeit wird der Fagerström-Test of Nicotine Dependence (FTND) angewendet (s. Tab. 36.1, S. 335). Nach einer Reihe von Untersuchungen (Blutdruck, Herzfrequenz, EKG, Auskultation von Herz und Lunge, Lungenfunktionsprüfung) werden 0,004 mg/kg KG Atropinsulfat und 0,004 mg/kg KG Scopolaminhydrobromid sowie 0,5 – 1,0 mg/kg KG Chlorpromazin intramuskulär injiziert. Darauf folgt eine 30-minütige Überwachungsphase. Sind die Kreislaufverhältnisse in dieser Zeit stabil, wird der Patient bei einsetzender Sedativawirkung in Begleitung nach Hause entlassen. Die weitere Medikation besteht in der oralen Anwendung von 0,003 mg/kg KG Clonidin, verteilt auf 2 – 3 Tagesdosen (über einen Zeitraum von 14 Tagen). Treten während dieser Zeit Schlafstörungen auf, so wird in Einzelfällen ein Tranquilizer verordnet. Für die Phase der Medikamenteneinnahme erhalten die Patienten ein Merkblatt mit detaillierten Verhaltensregeln. Dazu gehören strikte Alkoholabstinenz und Hinweise zum Verhalten im Straßenverkehr. Da die medikamentöse Behandlung keinen Einfluss auf die psychische Komponente der Abhängigkeit hat, erfolgt ergänzend ein Motivationstraining im Sinne einer Kurzzeitintervention. Bei der beschriebenen Medikation handelt es sich um einen „Off-label-use“ (Anwendung zugelassener Arzneimittel, wobei sich die Zulassung nicht auf die beabsich-
50 40 30 20 10 0 Frauen
Männer
Gesamt
Abb. 36.1 Abstinenzrate 12 Monate nach Abschluss der DETOX-N-Behandlung.
339
36
Raucherentwöhnung
100
I II
Anzahl abstinenter Patienten (%)
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0
III
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12
Zeit nach der DETOX-N-Behandlung (Monate)
Abb. 36.2 Abstinenzverlauf nach der DETOX-N-Behandlung.
IV V
VI VII
fallgründe wurden extreme Stress-Situationen, Unachtsamkeit, Gewichtszunahme, Obstipation und Craving (Suchtdruck) angegeben. Insgesamt konnte die Entzugssymptomatik bei den meisten Patienten effektiv unterdrückt werden. So wiesen 74 % der Patienten einen Wert < 5 auf der Entzugssymptomskala auf (Minimalwert: 0, Maximalwert: 28). Ein Punktwert > 10 trat lediglich bei 7 Patienten auf. Gravierende Nebenwirkungen im Sinne gefährdeter Vitalfunktionen wurden in keinem Fall beobachtet, 18 % der Patienten berichteten über Mundtrockenheit, 8 % über Müdigkeit und 6 % beklagten ein leichtes Schwindelgefühl, welches besonders innerhalb der ersten 2 Tage auftrat. Auf die Frage, ob sie die DETOX-Behandlung weiterempfehlen würden, antworteten alle abstinenten Patienten mit Ja. Von den rückfälligen Rauchern würden 64 % diese Therapie weiterempfehlen. Der medikamentengestützte Nikotinentzug, als wesentlicher Bestandteil des DETOX-N-Verfahrens, ist auf die kombinierte Anwendung anticholinerger und antinoradrenerger Substanzen zur Behandlung des NikotinEntzugssyndroms gerichtet. Diese pharmakologische Intervention soll zur Blockade einer überschüssigen Acetylcholin- bzw. Noradrenalinfreisetzung in der initialen Phase des Nikotinentzuges und damit zu einer Reduktion der Entzugssymptomatik führen. Die sehr hohe Erfolgsquote in dem von uns behandelten Raucherkollektiv zeigt, dass die DETOX-N-Methode ein effektives Verfahren zur Erlangung der Tabakabstinenz darstellt. Da es sich um ein multimodales Konzept handelt, müssen alle Therapiebestandteile als potenzielle Einflussfaktoren auf den Behandlungserfolg analysiert werden. Der wohl entscheidende Aspekt: Selbst starke Raucher können mithilfe der medikamentösen Intervention mit anticholinergen und noradrenergen Substanzen, schnell und mit geringen Entzugserscheinungen den Nikotinabusus beenden. Für die Richtigkeit unserer These spricht, dass
340
besonders unter starken Rauchern mit einem hohen Maß an körperlicher Abhängigkeit und einer Reihe vergeblicher Abstinenzversuche in der Vorgeschichte, die Erfolgsquote überdurchschnittlich hoch war. Ein weiterer Beleg ist die fehlende oder geringfügig ausgeprägte Entzugssymptomatik (Minnesota Scale), die von den meisten Patienten berichtet wurde. Auch die Rate von Therapieversagern war mit 6 % sehr gering. Die zusätzliche Einmalgabe eines Sedativums bietet einerseits die Möglichkeit, die vorübergehenden Begleiterscheinungen der Anticholinergika wie Mundtrockenheit, leichter Schwindel und Akkommodationsstörungen zu kupieren. Andererseits hat der Patient durch die resultierende Schlafphase das Gefühl einer Zäsur („Switch-on/ Switch-off-Effekt“). So gelingt es von einem Tag auf den anderen relativ mühelos, das Rauchen aufzugeben. Dies scheint insofern eine Rolle zu spielen, als dass laut einer Metaanalyse von Hughes et al. die meisten Rückfälle innerhalb der ersten 8 Tag nach Therapiebeginn passieren [31]. Entwöhnungsverfahren, die mit einer schrittweisen Reduktion des Tabakkonsums einhergehen („ausschleichen“), wie die Nikotinersatztherapie oder die Bupropiongabe, scheinen demgegenüber im Nachteil zu sein. Die besten Behandlungserfolge werden durch intensive Rauchentwöhnungsprogramme erzielt, die mehrere effektive Methoden miteinander kombinieren [2]. So sollte eine wirkungsvolle Therapie die folgenden Elemente enthalten: den persönlichen Kontakt, eine ausreichende Intensität, die Erfassung der Aufhörmotivation, die Kombination von individueller Beratung und Gruppenberatung, ein Problemlösungstraining und ein Training von Bewältigungsverhalten, die Nachsorge zur Rückfallprophylaxe sowie eine medikamentöse Unterstützung. Alle genannten Elemente sind Bestandteil unserer Methode.
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341
36
Alkohol und Alkoholismus
37 Alkohol und Alkoholismus F. Kiefer, J. Mutschler
I II III IV V
VI VII
Das Wichtigste in Kürze In Deutschland sind über 1,6 Mio. Menschen aktuell manifest alkoholabhängig. Bei ca. weiteren 7 Mio. Menschen besteht ein beratungs- oder behandlungsbedürftiges Alkoholproblem. Trotz eines breiten suchttherapeutischen Angebots erhalten etwa nur 6 % der Betroffenen eine suchtspezifische Therapie. Folgen hiervon sind die Chronifizierung der Erkrankung mit weitreichenden sozialen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen: ● frühzeitige Berentung ● eine um ca. 15 Jahre verkürzte Lebenserwartung sowie ● eine deutlich niedrigere Lebensqualität der Betroffenen gegenüber anderen chronisch Erkrankten Der Erkenntnisgewinn im Bereich der neurobiologischen Grundlagen der Alkoholabhängigkeit begründet sowohl ein neues Verständnis des prozesshaften Krankheitsverlaufs, als auch neue Therapieinterventionen. Die Behandlung besteht heute in einer individuellen Kombination ambulanter, teilstationärer oder stationärer Therapiemaßnahmen. Sie reicht vom ärztlichen Ratschlag über die „Qualifizierte Entzugsbehandlung“ bis hin zur pharmakologischen Rückfallprophylaxe und der stationären Langzeit-Rehabilitationsbehandlung. Mit den derzeit verfügbaren Therapieoptionen lassen sich Abstinenzquoten von 60 – 70 % über ein Jahr erzielen. Für den behandelnden Arzt sind neben der ausreichenden diagnostischen Sicherheit motivierende Gesprächstechniken und Kenntnisse über die therapeutischen Möglichkeiten der ambulanten und stationären Entzugsbehandlung, der medikamentösen Rückfallprophylaxe und der Vermittlung in rehabilitative Maßnahmen notwendige Vorraussetzung für eine zeitgemäße Behandlung der Patienten.
37.1 Ziel des Check-Ups: Vorbeugung eines gesundheitsschädlichen Alkoholgebrauchs und einer Sucht Die Alkoholkrankheit wurde lange Zeit nicht als Krankheit anerkannt. Bis in die heutige Zeit gelten alkoholkranke Menschen häufig noch als willensschwach; weit verbreitet sind auch Vorurteile wie die Erkrankung sei selbstverschuldet oder lediglich eine schlechte Gewohnheit der Betroffenen. Diese in der Gesellschaft (leider häufig auch noch bei Ärzten) verankerte moralische Haltung führt u. a. zu der typischen Verleugnung des Konsums über lange Zeiträume bei Betroffenen. Der Mehr-
342
zahl der alkoholkranken Patienten bleibt so der Zugang zu einer wirksamen Suchttherapie versagt, weil Scham, Unsicherheit und therapeutischer Nihilismus zu einer Verdrängung des Alkoholproblems führen. Ziel dieses Check-Ups soll es daher sein, über die Diagnostik und Terminologie alkoholbezogener Störungen sowie deren Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären. Besteht ein problematischer Konsum ohne Symptome einer Abhängigkeit, so ist häufig eine ärztliche Minimalintervention unter Einbeziehung von Techniken der motivierenden Gesprächsführung wirksam und führt zu einer Reduktion der Trinkmenge. Besteht bereits eine Abhängigkeit, ist die Entkopplung von Substanzeinnahme und Substanzeffekt ein notwendiges Ziel der Behandlung. Der Patient sollte also dabei unterstützt werden, eine anhaltende Abstinenz zu erreichen. Da das motivationale Belohnungs- und Verstärkungssystem zentraler Angriffspunkt aller Suchtstoffe ist, begründet eine wechselnde Motivation in Bezug auf Beginn und Fortsetzung der Behandlung nicht den Therapieabbruch, sondern dessen Intensivierung. Rückfälle sind Ausdruck der Schwere der Erkrankung. Die Therapie sollte polypragmatisch angelegt sein: Alle symptomatischen Maßnahmen, die dazu beitragen die Abstinenz herzustellen (stationäre Therapien, Medikamente zur Suchtdruckminderung, motivationale Behandlung), bilden die Voraussetzung dazu, den Circulus vitiosus aus Substanzeinnahme, Verstärkung und weiterer Substanzeinnahme zu durchbrechen. Die Neurobiologie untermauert, was die klinische Erfahrung lange weiß: Zur Behandlung der Sucht bedarf es der Abstinenz; „kontrolliertes Trinken“ verfestigt das Suchtgedächtnis und erhält die einmal entstandene Substanzabhängigkeit aufrecht. Der Kontrollverlust wird nicht lange auf sich warten lassen.
37.1.1 Schädlicher Konsum, Missbrauch, Abhängigkeit Die Übergänge vom noch als unproblematisch eingestuften Alkoholgebrauch zum Missbrauch und der Abhängigkeit sind oft fließend. In der derzeit gültigen 10. Version der International Classification of Diseases (ICD-10) werden daher die entsprechenden Diagnosegruppen genau definiert, abgegrenzt und operationalisiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ordnet die Zuständigkeit für Diagnostik, Behandlung und für Teilaspekte der Prävention von „substanzinduzierten Störungen“ dem Bereich der seelischen Gesundheit zu.
Alkoholassoziierte Erkrankungen
Der „riskante Konsum“ bezeichnet einen Konsum oberhalb einer definierten Grenze, bei dem ein erhöhtes statistisches Risiko besteht, eine substanzbezogene Störung zu entwickeln. Die WHO definiert aktuell einen täglichen Alkoholkonsum von 20 g (0,2 l Wein oder 0,4 l Bier) für Frauen und 40 g (0,4 l Wein oder 0,8 l Bier) für Männer als Grenzwerte, deren Überschreitungen innerhalb eines interindividuell unterschiedlichen Zeitraums zu Gesundheitsschädigungen führen können. Manche Experten halten diese Grenzen als zu hoch angesetzt. Die Diagnose „schädlicher Gebrauch“ nach ICD-10 erfordert das Vorliegen einer bereits eingetretenen Schädigung der psychischen (z. B. depressive Episode) oder körperlichen (z. B. Gastritis oder Pankreatitis) Gesundheit durch den Alkoholkonsum. Von einer „Abhängigkeit“ nach ICD-10 wird gesprochen, wenn mindestens 3 von insgesamt 6 Kriterien im Laufe eines Jahres nachweisbar waren: ● starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren („Craving“) ● Minderung der Kontrolle über Beginn, Umfang und Beendigung des Konsums von Alkohol ● Toleranzentwicklung ● Auftreten von Entzugserscheinungen ● Vernachlässigung anderer Neigungen und Interessen zugunsten des Alkoholkonsums ● Fortführung des Alkoholkonsums trotz eindeutig eingetretener körperlicher, psychischer oder sozialer Folgeschäden Es handelt sich bei einer Abhängigkeit um einen Symptomenkomplex unterschiedlicher körperlicher, kognitiver und verhaltensbezogener Phänomene, die zu einem Leidenszustand bei den Betroffenen (und/oder deren Umfeld) sowie zu Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld führen (z. B. beruflich) kann.
37.1.2 Gibt es einen gesundheitsförderlichen Konsum? Es gibt vielfältige historische Zeugnisse, dass bereits sehr früh in der Menschheitsgeschichte alkoholische Getränke als Genuss- und Lebensmittel eine wichtige Rolle spielten. Dies erfolgte unabhängig von geografischen Regionen der Erde, vermutlich aufgrund der einfachen Herstellungsmöglichkeiten von alkoholischen Getränken über die Fermentation von Früchten und Getreide. Darüber hinaus erschienen alkoholische Getränke bis in dieses Jahrhundert Medizinern als wertvolle Substanz: So wurde Alkohol als Stärkungsmittel gegen die Melancholie, als Anregungsmittel gegen unterschiedliche Schwächezustände, oder beispielsweise zur Therapie der Tuberkulose eingesetzt. Heute wird im Gegensatz zu Spirituosen oder Bier insbesondere Wein als gesundheitsfördernd betrachtet. So werden protektive Effekte von geringen Alkoholmengen
auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atherosklerose, Krebs und Demenzerkrankungen breit wissenschaftlich diskutiert und untersucht. Exemplarisch hierfür steht der Begriff des „französischen Paradoxon“, welches die niedrigere Sterblichkeit der Franzosen an der koronaren Herzerkrankung (KHK) im Vergleich zu anderen Mitteleuropäern trotz durchschnittlich höherem Konsum ungesättigter Fettsäuren beschreibt. Diese Tatsache führt Professor Renaud auf den regelmäßigen, moderaten (20 – 30 g/ d) Konsum von Wein seiner Landsleute zurück [1]. Als biologische Wirkmechanismen werden der günstige Einfluss von Alkohol auf die Blutgerinnung und eine Steigerung des HDL-Cholesterins diskutiert. Höhere Dosierungen von Polyphenolen (z. B. Procyanidin), welche u. a. in Rotweinen vorkommt, zeigen in experimentellen Untersuchungen eine protektive Wirkung hinsichtlich Artherosklerose [2, 3]. Weitere große Studien wie z. B. die von Joline Beulens der Harvard School of Public Health unterstützen Vermutungen einer geringeren Rate an Myokardinfarkten [4]. Eine aktuelle Metaanalyse kommt zu dem Schluss, dass ein täglicher moderater Alkoholkonsum (10 – 30 g/d) mit einer Reduktion des Risikos an ischämischen Herzerkrankungen um 20 – 25 % einhergeht [5]. Kritiker hingegen führen die vermeintlich „herzschützende“ oder gesundheitsfördernde Wirkung mäßiger Alkoholdosen auf andere Verhaltensweisen dieser Menschen zurück. Mäßigtrinkende Weintrinker gehören beispielsweise eher der sozialen Oberschicht an, ernähren sich gesünder, rauchen weniger und haben allein deshalb eine niedrigere statistische Sterblichkeit als sozial schwächere Menschen. Primär alkoholabstinente Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Mormonen, leben durchschnittlich länger als andere Nordamerikaner. Weiterhin wird diskutiert, dass sich in den entsprechenden Untersuchungen häufig alkoholabstinente Personen in den Kontrollgruppen befanden, welche aufgrund eines höheren Alters, einer chronischen Erkrankung oder einer früheren Alkoholabhängigkeit abstinent lebten und bereits zu Beginn der Untersuchungen ein erhöhtes statistisches Sterblichkeitsrisiko als die moderaten Trinker hatten. Nicht zuletzt wurde aktuell der Einfluss der Weinlobby und deren Marketingstrategien auf klinische Studien und Berichterstattung kritisch betrachtet.
37.2 Alkoholassoziierte Erkrankungen 37.2.1 Epidemiologie Der Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol in Deutschland beträgt über 10 Liter pro Jahr [6] und ist direkt mit alkoholassoziierten körperlichen Folgeerkrankungen, Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und allgemeiner Mortalität assoziiert. In Deutschland beläuft sich die Zahl der Alkoholabhängigen auf ca. 1,6 Mio. und damit auf etwa 3 % der erwachsenen Bevölkerung (ca. 5 % der
343
37
Alkohol und Alkoholismus
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Männer und ca. 2 % der Frauen). Neben den alkoholabhängigen Patienten gibt es in Deutschland ca. 2,7 Mio. Erwachsene, die einen „schädlichen Gebrauch“ von Alkohol betreiben und 5 Mio. Personen mit einem sog. „riskanten Konsum“ [7]. Zusammengerechnet ergibt sich also für 9,3 Mio. Menschen ein alkoholbedingter Beratungsund/oder Behandlungsbedarf. In den westlichen Industrienationen gehen ca. 11 % aller Todesfälle direkt oder indirekt auf den Konsum von Alkohol zurück [8]. Weniger als 10 % der Alkoholabhängigen befinden sich jedoch in einer suchtspezifischen Behandlung. So werden 91 % der alkoholabhängigen Patienten in Allgemeinkrankenhäusern ausschließlich wegen ihrer somatischen Krankheiten behandelt, nur 6 % aller Alkoholabhängigen finden den Weg in Kliniken mit einem suchttherapeutischen Angebot. Es muss davon ausgegangen werden, dass in Arztpraxen bei mindestens 17 % der Patienten Alkoholprobleme vorliegen, in Allgemeinkrankenhäusern sogar bei 20 % [9]. Häufig werden jedoch während der ärztlichen Behandlung therapiebedürftige Alkoholprobleme nicht erkannt. Gründe dafür, dass man medizinische Folgeprobleme zwar medizinisch behandelt, die Grunderkrankung dabei jedoch häufig „ausblendet“, sind einerseits in der suchttypischen Verleugnung der Erkrankung durch die Betroffenen, andererseits aber auch in der Unsicherheit behandelnder Ärzte zu sehen, wie mit abhängigen Patienten umzugehen ist, die häufig als „nicht motiviert“ erscheinen, an ihrer Sucht etwas zu verändern. Typische Alkoholfolgeerkrankungen verursachen akute und chronische somatische und psychische Erkrankungen, Krebserkrankungen, Nervenerkrankungen und Verletzungen durch z. B. Unfälle. Es gibt hierbei kaum ein Organ was nicht durch einen missbräuchlichen Konsum von Alkohol geschädigt werden könnte (Tab. 37.1). Dabei existiert keine zeitlich regelhafte Abfolge des Auftretens der Erkrankungen, die Organe können in unterschiedlichem Grade und Häufigkeit betroffen werden. Schätzungsweise 75 % aller Patienten, die sich in einer stationären Entwöhnungsbehandlung befinden, leiden an Alkoholfolgeerkrankungen.
37.2.2 Ätiopathogenese süchtigen Verhaltens: Was macht Alkohol zum Suchtmittel? Das Risiko, eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln, ist individuell unterschiedlich. Neben genetischen Ursachen spielen Umwelt- und soziale Faktoren eine Rolle bei der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit. Einen gewissermaßen „naturgegebenen“ genetischen Schutz vor Alkoholismus besitzen beispielsweise Menschen (darunter vorwiegend Asiaten), welche heterozygote oder homozygote Träger für das Gen ALDH2*2 sind, da dieses Gen die Empfindlichkeit für den Alkoholabbau durch die Aldehyddehydrogenase reguliert. Träger dieser Genvariante entwickeln nach Konsum von Alkohol unangenehme ve-
344
Tabelle 37.1 Häufigkeit der bedeutendsten Erkrankungen bei Alkoholismus (modifiziert nach [10]). Erkrankung
betroffene Patienten* [%]
Fettleber
44,5
chronisch obstruktive Lungenerkrankung
11,1
Traumen
11,3
Hypertonie
8,4
Mangelernährung
7,9
Anämie
5,6
Gastritis
5,6
Frakturen
5,4
Hiatushernie
4,1
Leberzirrhose
4,1
Magen-Darm-Ulzera
4,0
Gehirnerkrankungen
4,9
Adipositas
3,6
Kardiomyopathie
3,0
ischämische Herzerkrankung
3,1
Pneumonie
2,3
gastrointestinale Blutung
2,3
epileptische Anfälle
2,3
Diabetes mellitus
2,2
Harnwegsinfektion
1,5
Pankreatitis
0,8
* Männer (n = 736) und Frauen (n = 135)
getative Begleiterscheinungen (z. B. Errötung, Herzrasen usw.), was sie in aller Regel vor einem erhöhten Konsum von Alkohol bewahrt. In den letzten Jahren konnten einige neurobiologische Veränderungen im Gehirn von alkoholabhängigen Menschen aufgedeckt werden. Es zeigt sich, dass Abhängigkeitserkrankungen mit einer komplexen Störung der Gehirnfunktion einhergehen. Diese beginnt zunächst mit der regelmäßigen Einnahme einer Substanz mit Abhängigkeitspotenzial. Der pharmakologische Effekt der Substanz führt im Weiteren zu einer tiefgreifenden Verhaltensänderung. Es entsteht im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung ein zunehmendes Verlangen, die Einnahme fortzusetzen (= Suchtdruck, Craving). Die Grundlage für die angenehm empfundene Alkoholwirkung stellt das mesolimbische Belohnungs- und Verstärkungssystem mit Aktivierung der Opiatrezeptoren und dopaminergen Neurotransmission dar. Wesentlich ist, dass es sich bei dem Belohnungs-/Verstärkungssystem um einen Mechanismus mit positiver Rückkopplung handelt; Einnahmeverhalten verstärkt positiv Einnahmeverhalten bis zum Kontrollverlust (Abb. 37.1).
Alkoholassoziierte Erkrankungen
Verstärker- und Belohnungsreize
Verstärker- und Belohnungsreize
Ncl. accumbens Dopamin A10 Neuron
GABAerges Feedback Verstärker- und Belohnungsreize
die verstärkenden Substanzeffekte und die Toleranzentwicklung wesentliche Bedingung für die fortgesetzte Substanzeinnahme darstellen, so erklären die beschriebenen konditionierten Mechanismen Rückfälle aus Phasen kontinuierlicher Abstinenz. Konditionierte Stimuli können über Jahre fortwirken und sowohl einen appetitiven Reiz als auch eine konditionierte Entzugssituation herstellen, also ebenso als positive wie auch als negative Verstärker wirksam sein.
37.2.3 Diagnostik von „schädlichem Konsum“, Missbrauch und Abhängigkeit GABAerges Interneuron
Abb. 37.1 Das Belohnungs- oder Verstärkungssystem lässt sich neuroanatomisch inzwischen gut lokalisieren: Es handelt sich um dopaminerge Bahnen, die ihren Ausgangspunkt im ventralen Tegmentum im Mittelhirn nehmen und in den Ncl. accumbens projizieren.
Aus den genannten epidemiologischen Zahlen und der bestehenden suchtspezifischen Unterversorgung ergibt sich, dass der Früherkennung und Diagnostik alkoholassoziierter Probleme große Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.
37
Klinische Untersuchung Im weiteren Verlauf werden Verhaltensmuster, die in Bezug zur Substanzeinnahme stehen, zwanghaft repetitiv, unelastisch und unkontrolliert. Hier spielen GABAerge und serotonerge Neurotransmittersysteme eine entscheidende Rolle bei der Abhängigkeitsentwicklung. Der Verlust der Kontrolle über die Substanzeinnahme gilt als irreversibel („point of no return“) und eines der Schlüsselkriterien abhängigen Verhaltens. Nach einer gewissen Zeit des Substanzkonsums stellt sich eine zunehmende Gewöhnung mit Toleranzbildung ein. Als Folge der Toleranzbildung kommt es zu einer Dosissteigerung, begleitet von körperlichen Entzugssymptomen bei zu niedrig eingenommener Dosis. Diese Entzugssymptome sind als negativer Verstärker wirksam und tragen wesentlich zum fortgesetzten Konsum bei vielen Betroffenen bei. Das Suchtmittel wird zur Behandlung der Entzugssymptome vom Suchtmittel eingesetzt. Parallel geht eine Veränderung der glutamatergen Neurotransmission im Gehirn einher und erhöht hierdurch das Auftreten von Entzugskomplikationen. Die Fähigkeit, auf das Suchtmittel zu verzichten, geht trotz schwerwiegender negativer Konsequenzen für die Patienten verloren [11]. Für die langfristige Aufrechterhaltung der Abhängigkeit spielen insbesondere Effekte, die über die Theorie der klassischen Konditionierung, also über eine unbewusste Kopplung von Reiz und Reaktion zu erklären sind, eine große Rolle: die Kopplung von suchtassoziierten Reaktionen an suchtassoziierte Reize. Da die Konditionierung sowohl Substanz- als auch Toleranzeffekte betreffen kann, ist bei einem abhängigen Patienten unter abstinenten Bedingungen situationsabhängig sowohl eine konditionierte Substanzwirkung (mit positiver Verstärkung durch Aktivierung des Belohnungssystems) als auch eine konditionierte Toleranz (mit negativer Verstärkung durch Entzugssymptome) möglich. Während also
Oft kann eine Alkoholerkrankung bereits ohne nähere Anamnese des Patienten aufgrund des ersten klinischen Eindruckes vermutet werden. So können sich neben einem Foetor alcoholicus typische Hautzeichen wie z. B. Teleangiektasien, Rhinophym oder Spider naevi zeigen. Weiterhin sollten Tremor und vegetative Störungen, wie z. B. Schwitzen, motorische Unruhe, Hypertonie und Tachykardie, an ein Alkoholentzugssyndrom denken lassen. Ein breitbasiges, unsicheres Gangbild kann Zeichen einer alkoholbedingten Polyneuropathie oder Kleinhirnschädigung sein. Häufig bestehen auch Muskelatrophien an den Extremitäten. Bei der klinischen Untersuchung nehmen Veränderungen und sekundäre Folgeschäden der Leber einen wesentlichen Stellenwert ein (z. B. Aszites, Hepatomegalie).
Laborparameter Der Anamnese und klinischen Untersuchung folgt meist ein Screening alkoholassoziierter Laborparameter, der Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT), der Transaminasen (GOT, GPT) und des mittleren Erythrozytenvolumen (MCV) sowie des Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT). Für die Identifikation von riskantem Konsum, schädlichem Gebrauch oder gar Abhängigkeit sind einzelne Laborwerte jedoch nicht hinreichend aussagekräftig; die Gesamtschau erhöhter Werte ermöglicht jedoch einen Verdacht, der im direkten Gespräch mit dem Betroffenen geklärt werden muss. Diese indirekten Verfahren der Diagnosestellung bergen jedoch das Risiko, den Patienten mit „Indizien“ überführen zu wollen und hiermit Abwehr und Verleugnungsstrategien auszulösen. Somit sind die Laborparameter für den behandelnden
345
Alkohol und Alkoholismus
Arzt lediglich das Signal, die Diagnostik zu komplettieren.
Fragebögen/Testverfahren
I II III IV
Zur einfachen und standardisierten Anwendung haben sich die deutschsprachige Version des „Alcohol Use Disorder Identification Test“ (AUDIT, AUDIT-G-M) und der Lübecker Abhängigkeits- und Missbrauchstest (LAST) bewährt. Während der LAST eine geringere Sensitivität für riskanten Alkoholkonsum aufweist und der sensitivere AUDIT in der Vollversion im primär medizinischen Bereich zu aufwendig erscheint, kann der AUDIT-C (Abb. 37.2) für die tägliche Praxis empfohlen werden. Kommt es zu einem positiven Screening mit diesem Instrument, sollten die in Abb. 37.2 genannten Symptome der Abhängigkeit im Gespräch abgeklärt werden und ggf. eine standardisierte Methode eingesetzt werden, wie z. B. die internationale Diagnosecheckliste (IDCL, [12]).
V AUDIT-C Screening-Test Wie oft trinken Sie Alkohol?
VI VII
Nie ............................................................................
0
Einmal im Monat oder seltener .................................
1
Zwei- bis viermal im Monat .......................................
2
Zwei- bis dreimal die Woche......................................
3
Viermal die Woche oder öfter...................................
4
Wenn Sie Alkohol trinken, wie viele Gläser trinken Sie dann üblicherweise an einem Tag? (Ein Glas Alkohol entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l Spirituosen.) 1 bis 2 Gläser pro Tag ................................................
0
3 bis 4 Gläser pro Tag ................................................
1
5 bis 6 Gläser pro Tag ................................................
2
7 bis 9 Gläser pro Tag ................................................
3
10 oder mehr Gläser pro Tag .....................................
4
Wie oft trinken Sie sechs oder mehr Gläser Alkohol bei einer Gelegenheit (z.B. beim Abendessen, auf einer Party)? (Ein Glas Alkohol entspricht 0,33 l Bier, 0,25 l Wein/Sekt, 0,02 l Spirituosen.) Nie ............................................................................
0
Seltener als einmal im Monat ....................................
1
Jeden Monat..............................................................
2
Jede Woche...............................................................
3
Jeden Tag oder fast jeden Tag....................................
4
Bei einem Gesamtpunktwert von 4 und mehr bei Männern und 3 und mehr bei Frauen ist der Test positiv im Sinne eines erhöhten Risikos für alkoholbezogene Störungen (riskanter, schädlicher oder abhängiger Alkoholkonsum) und spricht damit für die Notwendigkeit zu weiterem Handeln.
Abb. 37.2 AUDIT-C (AUDIT alcohol consumption questions): Screening-Test für die tägliche Praxis.
346
Kasuistik Hr. N. Müller ist aktuell 45 Jahre alt und begibt sich auf dringendes Anraten seiner Partnerin zum ersten Mal in eine Beratung bezüglich seines fraglich problematischen Alkoholkonsums. Bereits in der Jugend begann Hr. Müller regelmäßig am Wochenende Alkohol zu trinken. Er wollte kein Außenseiter sein, die anderen tranken ja auch alle! Es folgten Abitur, Bundeswehr und die Ausbildung zum Koch (Risikoberuf!). Alkohol wurde bald täglich getrunken, zunächst waren es geringe Mengen (ca. 1 – 2 Gläser Wein, gelegentlich Bier), diese stiegen aber ab dem 30. Lebensjahr zunehmend an (Toleranzentwicklung). Es ließ sich ja auch nach den anstrengenden Tagen in der Küche so gut abschalten. Außerdem vertrug er Alkohol gut, ein „Kater“ am nächsten Tag war nicht ausgeprägt vorhanden (Risiko für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit). Ab dem 35. Lebensjahr konsumierte er etwa 0,75 Liter Wein/Tag. Er trank meist nach dem Feierabend; bemerkt oder kritisiert hat seinen Konsum bis dahin niemand. Hr. Müller fiel es allerdings auf, dass er auf seinen Wein am Abend nicht mehr verzichten wollte, es war zu einer festen Gewohnheit geworden. Wenn er versuchte, nicht zu trinken, drehte sich in seinen Gedanken alles um den gewohnten Wein, er verspürte den starken Wunsch, zu trinken (Craving). Auch der Versuch, die Trinkmenge zu reduzieren, scheiterte: Wurde eine Flasche geöffnet, war sie am Ende des Abends leer (Kontrollverlust). Im Rahmen eines Routinelabors, das der Hausarzt bei Hr. Müller durchführte, fielen erhöhte Leberwerte auf. Hr. Müller war klar, dass dies vom Alkohol kommen musste, er trank aber weiterhin (Konsum trotz bereits eingetretener körperlicher oder psychischer Folgeschädigungen). Hobbys, z. B. Sport, wurden zugunsten des Alkoholkonsums zunehmend in den Hintergrund gestellt (Vernachlässigung anderer Lebensbereiche zugunsten des Konsums). Bei Hr. Müller sind zum Zeitpunkt der Untersuchung 5 von 6 ICD-10-Kriterien der Alkoholabhängigkeit erfüllt. Im Rahmen einer ambulanten Entzugsbehandlung (aufgrund der Berufstätigkeit) erfolgen intensive therapeutische Maßnahmen zu Motivationsstabilisierung bezüglich der Aufrechterhaltung der Abstinenz und die Organisation einer ambulanten Nachsorge mit Besuch von Selbsthilfegruppen, einer Suchtberatungsstelle (wohnortnah) und einer medikamentösen Rückfallprophylaxe.
Alkoholentzug
37.3 Alkoholentzug 37.3.1 Indikationen und rechtliche Fragen zum qualifizierten Entzug Die Alkoholabhängigkeit wurde 1968 in einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts als Krankheit anerkannt. Für behandlungsbedürftige und krankenversicherte Alkoholabhängige besteht somit gemäß § 27 SGB V ein umfassender Anspruch auf Krankenbehandlung einschließlich der Sekundärprävention, d. h. der Früherkennung und Verkürzung der Dauer einer Krankheit. Die suchtmedizinische Grundversorgung, zu der die qualifizierte Entzugsbehandlung zählt, wird folglich mit dem Ziel durchgeführt, „eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“ (§ 27 SGB V). Nach § 70 Abs. 1 SGB V muss eine Versorgung der Versicherten entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse sichergestellt werden. Ferner muss die Versorgung „ausreichend und zweckmäßig“ sein sowie „wirtschaftlich erbracht“ werden. Die Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 4. 5. 2001 (vormals „Empfehlungsvereinbarung Sucht“ von 1978) regelt die Leistungs- und Kostenzuständigkeiten zur Behandlung Abhängigkeitskranker, sofern eine Rehabilitation indiziert ist. Die Kosten für ambulante und stationäre medizinische Rehabilitation – mit dem Ziel der (Wieder-) Eingliederung in das Erwerbsleben – werden von der Rentenversicherung, zum Teil von den Krankenkassen und nach SGB IX auch von der Sozialhilfe übernommen. Demgegenüber sind für ambulante und stationäre Akutbehandlungen (z. B. die Entzugsbehandlung) im Vorfeld der medizinischen Rehabilitation allein die Krankenkassen zuständig. Die genannten Rechtsgrundlagen sind insofern von großer Bedeutung, als in den letzten Jahren immer wieder versucht wurde, die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen auf eine körperliche Entgiftung von wenigen Tagen zu beschränken.
37.3.2 Präventive und therapeutische Maßnahmen Für eine ganze Reihe spezifischer Therapieformen konnten gute Erfolge nachgewiesen werden, wenn man sie in kontrollierten Studien mit Patientengruppen ohne Behandlung oder mit alternativen Behandlungsformen verglich. Vor der eigentlichen Suchttherapie ist es oft notwendig, den Patienten zu einer Behandlung seines Suchtproblems zu motivieren. Da Abhängigkeitserkrankungen mit Störungen des Motivationssystems einhergehen und Kernsymptom jeder Sucht der Wunsch oder Zwang ist, die Substanzeinnahme fortzusetzen, kann die Behandlungsmotivation nicht Voraussetzung für die Therapie
sein, sondern ihre Herstellung stellt den ersten Therapiebaustein dar.
37.3.3 Grundlagen und Motivationsbehandlung Hauptmerkmal der motivierenden Gesprächsführung ist, abhängige Patienten nicht durch konfrontative Methoden in eine Abwehr zu zwingen, sondern durch offene Fragen ohne implizierte Wertung den Patienten zu einer Selbsteinschätzung zu veranlassen, die durch reflektiertes Zuhören und positive Rückmeldung zu Problemerkennen und Veränderungsbereitschaft motiviert. Weitere wesentliche Merkmale der motivierenden Gesprächsführung sind eine empathische Grundhaltung, das Aufbauen von Vertrauen in die Selbstwirksamkeit und die Vereinbarung von gemeinsam festgelegten Behandlungszielen (Tab. 37.2).
37
37.3.4 Therapie der Alkoholabhängigkeit Ist die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit gestellt und der Patient bereit, auf den weiteren Konsum zu verzichten, liegt der erste Schritt der Therapie in der Alkoholentzugsbehandlung. Diese kann ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden. Im einfachsten Fall erfolgt der Entzug ambulant durch eine ärztlich begleitete Dosisreduktion. Die pharmakologische Behandlung des Alkoholentzugs ist bei ca. einem Drittel der Patienten erforderlich. Für die ambulante Behandlung hat sich die Kombinationsbehandlung von Tiaprid und Carbamazepin bewährt, mit der die vegetativen Entzugssymptome bei gleichzeitig bestehender Anfallsprophylaxe gut beherrscht werden können. Kontraindikationen wie vorbekannte Entzugskomplikationen oder psychiatrische Komorbiditäten sind hier zu beachten. Die Patienten werden meist täglich ambulant gesehen, nach 5 Tagen ist die Entgiftung in der Regel abgeschlossen.
Tabelle 37.2 Merkmale und Techniken der Motivierenden Gesprächsführung (Motivational Interviewing). Merkmale der „Motivierenden Gesprächsführung“: empathische Grundhaltung mit Verzicht auf Konfrontation ● Förderung der Diskrepanzwahrnehmung und der Veränderungsbereitschaft ● Aufbau von Vertrauen in die Selbstwirksamkeit ● Vereinbarung von gemeinsam erarbeiteten Behandlungszielen Techniken der „Motivierenden Gesprächsführung“: ● offene Fragen ohne implizite Wertung ● reflektierendes Zuhören ● positive Rückmeldung ● strukturierende Zusammenfassung ●
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Alkohol und Alkoholismus
I II III IV V
VI VII
Ist eine stationäre Entzugsbehandlung notwendig, sollte diese als „Qualifizierte Entzugsbehandlung“ in suchtmedizinischen Abteilungen von psychiatrischen Kliniken durchgeführt werden. Hier erfolgen neben einer differenzierten Diagnostik und Behandlung der Entzugssymptome sowie der körperlichen Begleit- und Folgeerkrankungen v. a. therapeutische Maßnahmen zu Motivationsbildung bezüglich Abstinenz und Veränderung im Verhalten sowie in der Lebensführung [13]. Zur Behandlung von mittelschweren bis schweren Alkoholentzugserscheinungen haben sich im stationären Rahmen zumeist Clomethiazol oder Benzodiazepine bewährt. Beide Substanzklassen sind für den ambulanten Entzug ungeeignet, da ihr Suchtpotenzial und ihre Verstärkung der sedierenden Alkoholeffekte zu einer Gefährdung der Patienten führen könnten. Ohne Motivationsarbeit weist der rein körperliche Entzug hohe Rückfallraten auf und mündet nur in wenigen Fällen in der Weiterführung der Behandlung. In Ergänzung ambulanter und vollstationärer Versorgung im Rahmen eines gemeindeintegrierten Behandlungssystems bietet sich die tagesklinische Behandlung von Patienten mit Alkoholproblemen an. Meist beinhaltet die Behandlung ein an den stationären Qualifizierten Entzug angelehntes Programm zur Wiederherstellung körperlicher und psychischer Funktionsfähigkeit und zur Unterstützung der Abstinenzmotivation. Für die Tagesklinik sind insbesondere Patienten geeignet, bei denen der Chronifizierungsprozess der Abhängigkeit noch nicht fortgeschritten ist, die sozial integriert sind und noch über ausreichend Bewältigungsressourcen verfügen. Der tagesklinische Ansatz ermöglicht eine große Alltagsnähe, durch die der Transfer von im Rahmen der Behandlung erworbenen Bewältigungsstrategien in den persönlichen Alltag möglich wird. Die Therapieempfehlungen bei schädlichem Alkoholgebrauch und Abhängigkeit orientieren sich, wie bei anderen Erkrankungen auch, nach dem Schweregrad der Erkrankung und den vordringlichen Therapiezielen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Behandlungsziel der „lebenslangen Alkoholabstinenz“ in der Behandlung zwar eine Idealnorm darstellt, der tatsächlichen Problemlage aber selten entspricht und zuweilen eher dazu geeignet ist, Patienten und Behandler zu demotivieren. Hier muss positiv gewertet werden, dass abstinente Episoden, die von „Rezidiven“ (Rückfällen) unterbrochen werden, gegenüber dem unbehandelten „chronisch-progredienten“ Verlauf einen wesentlichen Therapieerfolg darstellen. Primäres Ziel der Behandlung ist es, die Motivation zum Trinken zugunsten einer Motivation zur Abstinenz zu ersetzen. Die Förderung und Stabilisierung von Motivation ist eine Aufgabe der Therapie und nicht deren Vorbedingung. Krankheitseinsicht und die Bereitschaft zur Veränderung müssen jedoch im Gespräch häufig erst hergestellt werden.
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37.3.5 Rehabilitation (Rückfallprophylaxe) Stationäre Rehabilitation Die stationäre Entwöhnungsbehandlung („Langzeittherapie“) war lange Zeit Kernstück der Rehabilitation von alkoholabhängigen Patienten. Die zumeist 4 (– 6) Monate langen stationären Therapien in Suchtfachkliniken werden von den Rentenversicherungsträgern finanziert. In den letzten Jahren haben immer mehr verhaltenstherapeutische Elemente Einzug in die Behandlung erfahren. Hierzu gehören die Analyse von Rückfallsituationen, Rollenspiele zur Rückfallprophylaxe, soziales Kompetenzund Alkoholexpositionstraining. Die Behandlung versucht, insbesondere die persönlichen Ressourcen (v. a. Copingfähigkeiten) zu aktivieren. Verhaltensmuster und Gewohnheiten, die zur Unterstützung der Sucht beitragen, werden hinsichtlich der Bedingungsfaktoren analysiert und durch alternative Verhaltensweisen verändert. Soziale Integration und Persönlichkeitsentwicklung sind Therapieziele, die durch Einbeziehung von Angehörigen und durch vermehrte Kontakte mit Personen oder Suchtproblemen oder durch eine berufliche Rehabilitation gefördert werden. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass vergleichbare Resultate auch mit geringerem Aufwand für einen Teil der Patienten erreicht werden können [14]. Dennoch ist insgesamt unbestritten, dass die stationäre Langzeittherapie auch in der Zukunft für eine Reihe von alkoholabhängigen Patienten notwendig sein wird, zumal ein Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg wahrscheinlich ist.
Ambulante Nachbehandlung und Selbsthilfe Patienten, die von Fachambulanzen oder Beratungsstellen nach einer stationären Therapie ambulant weiter betreut werden, haben eine deutlich bessere Prognose. Ähnliches gilt für die regelmäßige Teilnahme an Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholiker, Blaukreuzler, Guttempler usw.). In einem geringeren Umfang kann auch die Einleitung einer allgemeinen Psychotherapie bei einem niedergelassenen Arzt oder Psychologen indiziert sein [15, 16]. Gerade zu Abstinenzbeginn sollten möglichst viele der verfügbaren Behandlungsangebote kombiniert werden, um einen frühen Rückfall zu vermeiden und es dem Patienten zu ermöglichen, Erfahrungen und Kompetenzen zu sammeln, die er benötigt, um langfristig abstinent bleiben zu können.
Pharmakologische Rückfallprophylaxe Alkoholabhängige Patienten sind insbesondere in den ersten Wochen nach einer Entzugsbehandlung besonders anfällig für einen Alkoholrückfall. Für die ambulante Be-
Evidenzbasierte Medizin und Alkoholabhängigkeit
treuung gibt es seit einigen Jahren die Möglichkeit, eine pharmakologische Rückfallprophylaxe („Anti-Craving-Behandlung“) durchzuführen. Während für die medikamentöse Rückfallprophylaxe in den vergangenen Jahren Substanzen mit Wirkung auf das cholinerge, glutamaterge, dopaminerge, serotonerge und opioiderge System klinisch geprüft wurden, zeigten sich das glutamatmodulierende Acamprosat (Campral) und der Opioidantagonist Naltrexon (Nemexin) am erfolgversprechendsten [17]. Die Wirksamkeit des 1996 in Deutschland eingeführten Glutamatmodulators Acamprosat in der rückfallprophylaktischen Behandlung bei Alkoholabhängigkeit wurde in den vergangenen Jahren in mehreren plazebokontrollierten Studien und Metaanalysen überprüft [18]. Die Anzahl der Patienten, die behandelt werden müssen, um einen Rückfall zu vermeiden (Numbers needed to treat = NNT), liegt bei 7,5. Auch zur Wirksamkeit des μ-Opiatrezeptor-Antagonisten Naltrexon wurden in der letzten Zeit aktuelle Daten vorgelegt. Da in Deutschland die Zulassung für Naltrexon auf die Indikation „Aufrechterhaltung der Abstinenz bei Opiatabhängigkeit“ beschränkt ist, ist der Einsatz bei alkoholabhängigen Patienten nur unter den besonderen Voraussetzungen des OffLabel-Gebrauchs möglich. Weiterhin ist gegenwärtig in Deutschland ein Anstieg an Verschreibungen von Disulfiram, die mit über 50 Jahren am längsten zugelassene rückfallprophylaktische Substanz, zu beobachten. Die Wirksamkeit beruht auf einer psychologischen Abschreckung vor einer möglichen Disulfiram-Alkohol-Reaktion durch Hemmung der Aldehyddehydrogenase, ein für den Alkoholabbau wichtiges Enzym der Leber. Die Akkumulation von Acetaldehyd führt zu der sog. Disulfiram-Alkohol-Reaktion (ADR) mit einem bereits rasch nach Alkoholkonsum auftretenden vegetativen Symptomkomplex, z. B. Übelkeit, Hautrötung (Flush), Schwitzen, Kopfschmerz, Herzklopfen, Hypotonie usw. Diese höchst unangenehmen Folgen sollen über ihre psychologisch aversive Wirkung zur Unterdrückung des Trinkverhaltens führen. Eine deutsche Langzeituntersuchung zeigte eine überzeugende Wirksamkeit (Abstinenzrate > 50 % über einen Untersuchungszeitraum von 9 Jahren) von Aversiva im ambulanten Setting bei schwer Alkoholabhängigen [19]. Der Einsatz von Disulfiram sollte allerdings nur im Rahmen multimodaler, strukturierter Therapieprogramme erfolgen [20]. Ergänzt werden sollte die medikamentöse Behandlung stets durch den Besuch von Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholiker), idealerweise auch durch ambulante suchtspezifische Therapien, wie sie z. B. von Suchtberatungsstellen angeboten werden. Eine begleitende Pharmakotherapie mit den vorgestellten Substanzen scheint die Bereitschaft für eine Inanspruchnahme weiterer psychosozialer Therapien durch eine erhöhte Abstinenzrate dabei eher noch zu erhöhen.
37.4 Evidenzbasierte Medizin und Alkoholabhängigkeit Mit der Optimierung der Therapie Suchtkranker befasst sich die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG Sucht e. V.). Die Integration von Suchtforschung und Suchttherapie in die Medizin hat in den vergangenen 10 Jahren große Fortschritte erlebt. Durch Erkenntnisse zur Interaktion neurobiologischer und psychosozialer Faktoren von Suchterkrankungen konnte eine pragmatische, an evidenzbasierten Kriterien orientierte Therapie etabliert werden, die nicht primär von traditionellen „therapeutischen Haltungen“, sondern von evidenzbasierten Konzepten getragen ist. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse konnten inzwischen für alle Bereiche der Suchtmedizin wissenschaftlich begründete Therapiestandards entwickelt werden. Die Behandlungsoptionen beinhalten pharmako-, psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen. Entscheidend ist, dass in den vergangenen Jahren die Integration vorher scheinbar gegensätzlicher Behandlungsprinzipien gelungen ist und heute pharmakotherapeutische und psychosoziale Maßnahmen in einem rationalen Therapieansatz in Kombination zur Anwendung kommen. Auch die Suchtforschung, die neue Therapieinterventionen entwickeln und auf ihren Evidenzgrad prüfen kann, hat einen nachhaltigen Aufschwung erlebt. Im vergangenen Jahrzehnt konnten 7 Professuren für Suchtforschung oder Suchttherapie an deutschen Universitäten etabliert werden (Würzburg, Heidelberg/Mannheim, Essen, Dresden, Tübingen). Aktuelle Forschungsergebnisse erlauben eine klare Differenzierung zwischen wirksamen, fraglich wirksamen und unwirksamen Therapiemaßnahmen. Die Aufgabe der Bewertung dieser Ergebnisse hat die DG Sucht im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie übernommen. Zusammengefasst sollte Suchttherapie heute zum frühestmöglichen Zeitpunkt stattfinden, vorzugsweise als motivationale Intervention, mit dem Ziel, eine Veränderungs- und Behandlungsbereitschaft aufzubauen und zu stärken. Sucht kann als substanzinduzierte Störung des motivationalen Systems charakterisiert werden. Damit ist die fehlende Abstinenzmotivation Kernsymptom jeder Suchterkrankung und indiziert eine Behandlung. Sie kann nicht – wie häufig in der klinischen Praxis – zur Voraussetzung für die Therapie gemacht werden. Nach leitliniengemäßer suchttherapeutischer Behandlung sind 50 % der alkoholabhängigen Patienten über mindestens 5 Jahre abstinent, wenn sie die Therapieangebote der Akut- und Rehabilitationsbehandlung in Anspruch nehmen.
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Alkohol und Alkoholismus
Leitlinienbox LL1. Schmidt LG, Gastpar M, Falkai P, Gaebel W (Hrsg.). Evidenzbasierte Suchtmedizin. Behandlungsleitlinie Sub-
?
I II
Häufige Patientenfragen
Gibt es eine Suchtpersönlichkeitsstruktur? Die Theorie von einer „Suchtpersönlichkeit“ hat sich heute als irreführend erwiesen. Alkoholerkrankungen treten außerdem in allen sozialen Schichten auf.
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Ist Alkoholismus überhaupt eine Krankheit? Die Alkoholabhängigkeit wurde in Deutschland erst 1968 in einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts als Krankheit anerkannt. Die neurobiologischen Befunde der letzten Jahre stützen diese Tatsache, dass es sich bei Abhängigkeitserkrankungen u. a. um Erkrankungen des Gehirnes handelt. Wie bei anderen chronischen Erkrankungen (z. B. Diabetes, Bluthochdruck) kann bei der Alkoholabhängigkeit eine langfristige Behandlung erforderlich sein.
●
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VI VII
Ist bei einer bestehenden Abhängigkeit ein kontrollierter Konsum noch möglich? ● Ist der sog. „Point of no return“ überschritten, d. h. sind die Kriterien für eine Alkoholabhängigkeit einmal erfüllt (v. a. der Kontrollverlust), ist ein kontrollierter Konsum nach gängiger Lehrmeinung nicht mehr möglich. Dies zeigt auch die klinische Praxis: So zeigt sich nach einem Rückfall, selbst nach vielen Jahren Abstinenz, oft rasch das gleiche Konsummuster (oft sogar noch mit höheren Trinkmengen) wie vor der Abstinenz. Macht eine medikamentöse Rückfallprophylaxe Sinn? Genauso, wie beispielsweise depressiven Patienten Antidepressiva nicht vorenthalten werden, sollte alkoholabhängigen Patienten angesichts der ausreichenden Effektstärken eine rückfallprophylaktische Medikation im Rahmen eines umfassenden Therapiekonzeptes heutzutage nicht verwehrt bleiben.
●
Was bringen Selbsthilfegruppen? Es bestätigte sich in mehreren Untersuchungen, dass der regelmäßige Besuch von spezifischen Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholiker, Kreuzbundler, Lotsen) günstige Auswirkungen auf den Behandlungserfolg alkoholkranker Patienten haben kann. Teilweise können Angehörige mit miteinbezogen werden.
●
Bin ich nicht zu jung oder alt für eine Suchttherapie? Das Alter spielt keine Rolle ob eine Suchttherapie durchgeführt werden kann: Eine Therapie sollte möglichst früh im Erkrankungsverlauf durchgeführt werden, um einer Chronifizierung mit einhergehenden zunehmenden gesundheitlichen und sozialen Folgeschäden frühzeitig ent-
●
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stanzbezogene Störungen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2006.
gegenzuwirken. Auch sollte älteren Menschen ein Zugang zu einer Suchttherapie keinesfalls vorenthalten bleiben.
Gibt es einen unproblematischen, gesundheitsförderlichen Konsum von Alkohol? ● Die Übergänge vom noch als unproblematisch eingestuften moderaten Alkoholkonsum zu Missbrauch und Abhängigkeit sind oft fließend. Daher ist trotz entsprechenden Hinweisen auf eine möglicherweise gesundheitsförderliche Wirkung von geringen Alkoholmengen (Stichwort: Französisches Paradoxon) aus ärztlicher Sicht nicht zu einem regelmäßigen und täglichen Alkoholkonsum zu raten. Bringt uns die Alkoholismusforschung und Neurobiologie weiter? ● Einige interessante Erkenntnisse zur Ätiologie von Abhängigkeitserkrankungen konnten in den letzten Jahren aufgedeckt werden. Hier haben sich unter anderem präklinische Untersuchungen und die Möglichkeiten der zerebralen Bildgebung als sehr hilfreiche Forschungsmethoden erwiesen. Welche Organe können durch Alkohol geschädigt werden? ● Alkohol ist eine toxische Substanz und kann nahezu jedes Organ des menschlichen Körpers schädigen, im Vordergrund stehen aber: Leber, Herz-Kreislauf-System, Bauchspeicheldrüse sowie Gehirn und Nervenbahnen. Dabei sind die Grenzwerte zum riskanten Konsum individuell verschieden. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede im Abhängigkeitsverhalten/-entwicklung? ● Der Anstieg von Alkoholerkrankungen bei Frauen nimmt seit dem 2. Weltkrieg in Deutschland zu, obwohl epidemiologische Studien zeigen, dass Frauen weniger Alkohol trinken als Männer. Frauen werden im Vergleich zu Männern später abhängig, begeben sich allerdings früher in eine Suchttherapie. Folgeerkrankungen treten bei Frauen deutlich früher auf als bei Männern. Weiterhin finden sich bei Frauen häufiger komorbide psychiatrische Erkrankungen (Depressionen, Angsterkrankungen).
Evidenzbasierte Medizin und Alkoholabhängigkeit
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11. Kiefer F. Neurobiologie der Sucht. Med Welt. 2005; 56: 505 – 10. 12. Kiefer F, Mann K. Diagnostik und Therapie der Alkoholabhängigkeit. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2007;75(1):33 – 46. 13. Mann K, Löber S, Croissant B, Kiefer F. Die qualifizierte Entzugsbehandlung von Alkoholabhängigen: Psychotherapeutische und pharmakologische Strategien. Deutscher Ärzteverlag, Köln; 2006. 14. Mann K, Ackermann K, Günthner A et al. Langzeitverlauf und Rückfallprophylaxe bei alkoholabhängigen Frauen und Männern – Abschlussbericht BMBP-Projekt. Tübingen;1996. 15. Mann K, Löber S, Croissant B. Die qualifizierte Entzugsbehandlung von Alkoholabhängigen. Ein Manual zur Pharmako- und Psychotherapie. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2006. 16. Mann K, Stetter F. Keine Entgiftung ohne psychotherapeutische Begleitung. Psycho. 1991; 17: 296 – 304. 17. Kiefer F, Jahn H, Tarnaske T et al. Comparing and combining naltrexone and acamprosate in relapse prevention of alcoholism: a double-blind, placebo-controlled study. Arch Gen Psychiatry. 2003; 60: 92 – 9. 18. Mann K, Lehert P, Morgan MY. The efficacy of acamprosate in maintaining abstinence in alcohol-dependent individuals: results of a meta-analysis. Alcohol Clin Exp Res. 2004; 28: 51 – 63. 19. Krampe H, Stawicki S, Wagner T et al. Follow-up of 180 alcoholic patients for up to 7 years after outpatient treatment: impact of alcohol deterrents on outcome. Alcohol Clin Exp Res. 2006; 30: 86 – 95. 20. Mutschler J, Diehl A, Vollmert C et al. Aktueller Stand der pharmakotherapeutischen Rückfallprophylaxe mit Disulfiram. Neuropsychiatrie. 2008; 4: 243 – 51.
351
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Motivationspsychologie
38 Motivationspsychologie C. Gawrilow
I II III IV V
VI VII
Das Wichtigste in Kürze Damit motiviertes Handeln möglich ist, bedarf es ● des Setzens verbindlicher Ziele (z. B. „Ich will mich gesünder ernähren.“) und ● einer konkreten Planung zur Zielumsetzung (z. B. „Immer wenn ich einkaufen gehe, dann kaufe ich reichlich Obst und Gemüse.“). Eine effektive Zielbindung und eine effektive Zielplanung sind also notwendige Vorraussetzungen, um Ziele erfolgreich in die Tat umsetzen und erreichen zu können. Ein Instrument zur Setzung verbindlicher Ziele ist das Mentale Kontrastieren (englisch: „Mental contrasting“), bei welchem Personen angeleitet werden, sich die positiven Folgen der Zielerreichung in der Zukunft als auch die konkreten Hindernisse zur Zielerreichung in der Realität vorzustellen. Ein Instrument zur erfolgreichen Umsetzung von Zielen ist das Fassen von Vorsätzen, in welchen das Wann, Wo und Wie einer konkreten zielführenden Handlung geplant wird. Vorsätze (englisch: „Implementation intentions“) müssen von einfachen Zielen abgegrenzt werden: Während Ziele lediglich beinhalten, was jemand erreichen will („Ich möchte das zielführende Verhalten Z ausführen“), sind Vorsätze konkrete „Wenn-Dann“-Pläne, die das Wann, Wo und Wie einer zielführenden Handlung spezifizieren („Wenn die Situation X eintritt, werde ich das zielorientierte Verhalten Y ausführen.“). Im „Wenn“-Teil des Vorsatzes wird somit eine kritische Situation definiert, während im „Dann“-Teil eine mögliche zielführende Handlung konkretisiert wird. Beim Eintreten der Situation („Wenn“) wird das Verhalten („Dann“) automatisch ausgelöst. Zahlreiche Untersuchungen konnten belegen, dass Mentales Kontrastieren und das Fassen von Vorsätzen häufiger zur Bindung an bestimmte Ziele und zur Umsetzung dieser Ziele (z. B. das gesundheitsbezogene Ziel „Ich will mich gesünder ernähren.“) führt.
38.1 Einleitung 38.1.1 Definitionen Motivation ist ein internaler Zustand, welcher gerichtetes Verhalten auslöst und aufrechterhält. Er hilft Menschen dabei, Ziele, wie z. B. auch gesundheitsrelevante Ziele, zu erreichen. Selbstregulation ist ein Bestandteil menschlichen motivierten Handelns und bezeichnet Verhalten mit
352
einem hohen Ausmaß an Zielgerichtetheit und Handlungskontrolle bzw. Selbstkontrolle.
38.1.2 Ansätze zur Veränderung von Verhalten Wenn Ärzte ihren Patienten bestimmte gesundheitsrelevante Empfehlungen aussprechen, steht dahinter der Wunsch, dass diese wirksam werden und die Patienten in der Zukunft nach den Empfehlungen des Arztes handeln. Solche Zielvorgaben zeigen tatsächlich Wirkung, allerdings oft nicht im erwünschten Ausmaß. Informationen stellen einen wichtigen, ersten Schritt zur Verhaltensänderung dar, denn nur wer weiß, welches Verhalten empfehlenswert ist und was genau verlangt wird, kann sich entsprechend verhalten. Selbstverständlich sollte das kritische Verhalten zudem für den Patienten machbar und erwünscht sein. Die tatsächliche Realisierung des Verhaltens verlangt weiterhin, dass ein Reihe von Aufgaben gelöst werden. Probleme können erstens beim Setzen verbindlicher Ziele und zweitens bei deren Umsetzung auftreten. Der folgende Abschnitt stellt aktuelle Selbstregulationsansätze vor, welche beschreiben, wie verbindliche Ziele gesetzt werden und wie diese Ziele tatsächliche Umsetzung erfahren können.
38.2 Selbstregulationsansätze 38.2.1 Theorie der Phantasierealisierung: Mentales Kontrastieren Wie werden aus Erwartungen und Phantasien verbindliche Ziele, die uns zum Handeln verpflichten? Ein Ziel zeichnet sich durch eine besondere Verbindlichkeit („commitment“) aus, die auch als Entschlossenheit, kontinuierlich nach dem gewünschten Ereignis zu streben, verstanden werden kann [1]. Die Theorie der Phantasierealisierung [2] beschreibt Mentale Kontrastierung als einen effektiven Weg zur Zielbindung, bei dem zwischen realisierbaren und nicht realisierbaren Phantasien unterschieden wird: Durch das abwechselnde Elaborieren von positiven Aspekten der Zukunft (z. B. eine attraktive Person kennenlernen) und hinderlichen Aspekten der gegenwärtigen Realität (z. B. schüchtern sein) werden Zukunft und gegenwärtige Realität simultan kognitiv zugänglich, und die Realität erscheint der erwünschten Zukunft als im Wege stehend. Dadurch entsteht eine Hand-
Selbstregulationsansätze
lungsnotwendigkeit, die die Frage aufwirft, ob die gegenwärtige Realität in Richtung der erwünschten Zukunft verändert werden kann. Entsprechende Erfolgserwartungen werden aktiviert, sodass sich Personen bei niedrigen Erfolgswahrscheinlichkeiten nur schwach an ihr Ziel binden, bei hohen Erfolgswahrscheinlichkeiten dagegen stark (Abb. 38.1). Elaboriert eine Person ausschließlich positive Aspekte der Zukunft („Schwelgen“, s. Abb. 38.2) oder ausschließlich negative Aspekte der gegenwärtigen Realität („Grübeln“, s. Abb. 38.3), entsteht keine Handlungsnotwendigkeit und es werden keine Erfolgserwartungen aktiviert. Dies führt dazu, dass sich die Person unabhängig von ihren Erfolgserwartungen an ihr Ziel bindet. Experimentelle Untersuchungen bestätigten die Theorie der Phantasierealisierung im schulischen, interperso-
positive Zukunft starke Zielbindung Mentale Kontrastierung
Erwartungen werden aktiviert geringe Zielbindung
negative Realität
nellen, beruflichen und im Gesundheitsbereich (z. B. sich in Mathematik verbessern, eine attraktive Person kennenlernen, Familie und Beruf vereinbaren, Zigarettenkonsum reduzieren), im Labor und im Feld (z. B. Krankenhaus) und in verschiedenen Kulturen (z. B. Deutschland und USA). Dabei wurde die Zielbindung kurz- und langfristig (bis zu 3 Monate nach dem Versuch), durch Selbstbericht und durch das Urteil anderer Personen (z. B. Bewertung durch Lehrer) und durch kognitive, affektive und Verhaltensindikatoren der Zielerreichung gemessen (z. B. Pläne formulieren, antizipierte Enttäuschung bzw. Anstrengung und Leistung; [3]). Ist durch Mentales Kontrastieren eine starke Zielbindung entstanden, beginnen Personen das Ziel umzusetzen, indem sie die Zielrealisierung für die Zukunft planen [4]. Dabei stellen sie sich z. B. den zukünftigen Handlungsablauf in Gedanken vor, d. h. sie simulieren ihn mental („process simulation“). Eine mentale Simulation des Handlungsablaufs fördert die Zielrealisierung mehr als eine mentale Simulation des Handlungsergebnisses („outcome simulation“; [5]). Personen, die durch Mentales Kontrastieren ihre Phantasien in Ziele gewandelt haben, bilden auch Vorsätze [3]. Diese sind „WennDann“-Pläne, welche eine antizipierte Situation in der Zukunft mit einer Handlung mental verknüpfen und dadurch Verhalten automatisieren [6].
38.2.2 Vorsätze: „Wenn-dann“-Pläne
Abb. 38.1 Mentale Kontrastierung als ein Weg zu erwartungsabhängiger Zielbildung.
positive Zukunft
Schwelgen
Erwartungen werden nicht aktiviert
mittlere Zielbindung
Abb. 38.2 Schwelgen: Person elaboriert ausschließlich positive Aspekte der Zukunft.
Grübeln
Erwartungen werden nicht aktiviert
mittlere Zielbindung
negative Realität
Abb. 38.3 Grübeln: Person elaboriert ausschließlich negative Aspekte der Gegenwart.
Warum kommt es trotz starker Zielintention im Alltag häufig nicht zur Umsetzung dieser Ziele? Die Gründe dafür sind vielfältig, u. a. können die folgenden Probleme auftreten: ● Es treten Schwierigkeiten beim Beginn der zielführenden Handlung auf. ● Aufgrund zu vieler Ablenkungen wird die zielführende Handlung abgebrochen. ● Nicht erfolgreiches Zielstreben wird zu spät erkannt und somit zu spät abgebrochen. ● Andere Ziele (Ziele, die ebenfalls wichtig sind) werden aus den Augen verloren. Im Modell der Handlungsphasen [7, 8] wird erfolgreiches Handeln über das Durchlaufen sukzessiv aufeinander aufbauender Phasen definiert (Abb. 38.4). In der ersten Phase findet die Entscheidung für ein Ziel statt, sodann werden in der zweiten Phase konkrete zielgerichtete Handlungen geplant, welche in der dritten Phase durchgeführt und in der vierten Phase bewertet werden. Zielintentionen („Goal intentions“) werden nach dem Abwägen und vor der Planungsphase entwickelt, während Vorsätze („Implementation intentions“) in der Planungsphase gebildet werden [6, 9]. Vorsätze und Ziele unterscheiden sich bezüglich des Formates, der Hierarchie, der Funktion und der Konsequenz. Vorsätze, die immer im Dienste von Zielen fungie-
353
38
Motivationspsychologie
Wünsche
Prädezisionale Phase
Präaktionale Phase
Aktionale Phase
Postaktionale Phase
Wünsche abwägen; Auswahl je nach Erreichbarkeit und Wichtigkeit
Planen des „Wie“, „Wann“ und „Wo“ der zielführenden Handlung
Beginn und Ausführung der zielgerichteten Handlung
Vergleich zwischen Istund Soll-Zustand
Abb. 38.4 Das Handlungsphasenmodell (Rubikonmodell) nach Heckhausen und Gollwitzer [7].
I Entscheidung
II III IV V
VI VII
Handlungsbeginn
Resultat der Handlung
ren, haben das Format „Wenn die Situation Y eintritt, dann führe ich das Verhalten Z aus.“. Sie sind dem jeweiligen Ziel untergeordnet, definieren das Wann, Wo und Wie der Handlung, helfen bei der Überwindung von Schwierigkeiten bei Beginn und Ausführung zielrealisierender Handlungen und führen zu einer automatischen Handlungsinitiierung beim Eintreten der günstigen Gelegenheit. Vorsätze gelten als effektives Instrument der Handlungskontrolle, da durch das Bilden eines Vorsatzes eine starke mentale Verbindung zwischen einer Situation und einer Handlung entwickelt wird und diese deshalb bei Eintreten der jeweiligen Situation automatisch realisiert wird. Normalerweise wird eine solche automatische Initiierung von Handlungen durch wiederholte Situations-Reaktions-Verknüpfungen in Form von Gewohnheiten („habits“) hervorgerufen. Aufgrund vielfältiger empirischer Ergebnisse kann jedoch bestätigt werden, dass Vorsätze diesen Prozess durch eine einmalige willentliche Verknüpfung der im Vorsatz definierten situationalen Hinweisreize mit der Handlung abkürzen können. Durch die Spezifizierung der Situation im „Wenn“-Teil des Vorsatzes wird die mentale Repräsentation der Situation aktiviert und somit verfügbar. Diese Annahme konnte in verschiedenen Studien, die erhoben haben, wie gut Versuchsteilnehmer dank Vorsätzen auf die im Vorsatz spezifizierte kritische Situation achten, diese entdecken und abrufen können, bestätigt werden. Dies bedeutet, dass Handlungsmöglichkeiten, die in einem Vorsatz beschrieben sind, nicht der Aufmerksamkeit von Personen entgehen können. Darüber hinaus führt die Verknüpfung eines effektiven, zielgerichteten Verhaltens mit einer ausgewählten kritischen Situation zu automatischer Handlungsinitiierung bei Eintreten der Situation. Zudem konnte in den Studien von Brandstätter, Lengfelder und Gollwitzer [10] gezeigt werden, dass Vorsätze auch unter hoher kognitiver Belastung zu einer unmittelbaren Handlungsinitiierung bei Auftreten der im Vorsatz spezifizierten Situation führen. Opiatabhängige Patienten während des Entzugs [10], schizophrene Patienten [10], Frontalhirnpatienten [11] und Kinder, die unter ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung) leiden [12], profitieren besonders von Vorsätzen. Dies bedeutet, dass gerade
354
Menschen, die Schwierigkeiten mit der Ausführung bestimmter komplexerer Funktionen wie Planung etc. haben, also beispielsweise Patienten, die unter starker mentaler Zerstreuung leiden, von der Bildung von Vorsätzen profitieren und ihre Handlungen effizienter initiieren und durchführen können. Auch Personen ohne psychische Auffälligkeiten profitieren in schwierigen Situationen (z. B. zwei Aufgaben gleichzeitig erledigen) von Vorsätzen: So zeigten Webb und Sheeran [13] die Einflüsse von Vorsätzen auf „EgoDepletion“, d. h. einem temporären Erschöpfungszustand der selbstregulatorischen Fähigkeiten nach einer bereits stattgefundenen, initialen Selbstkontrollhandlung. Versuchsteilnehmer, die unter „Ego-Depletion“ leiden, verbringen mehr Zeit mit einer unlösbaren Aufgabe als Probanden, die keinen Vorsatz haben. Zudem erreichen Teilnehmer der „Ego-Depletion“-Bedingung dank eines Vorsatzes dieselben besseren Leistungen in einer schwierigen Aufgabe als Versuchsteilnehmer ohne „Ego-Depletion“ und ohne Vorsatz. Diese Befunde sprechen ebenso dafür, dass Personen, die nicht die besten Vorraussetzungen zum Ausführen einer Handlung haben („Ego-Depletion“, geringe Selbstregulationskapazität), von Vorsätzen profitieren. Die Effektivität der Vorsätze bei bestimmten, kritischen Personengruppen wurde nicht nur in experimentellen, sondern auch in Feldstudien belegt. Orbell und Sheeran [14] zeigten, dass Patienten nach einer Hüftoperation schneller mit der Ausführung verschiedener funktioneller Aktivitäten (z. B. Treppensteigen) beginnen, wenn sie sich vor der Operation einen Vorsatz diesbezüglich gefasst hatten. Dabei gehen die Unterschiede zwischen der Zielintentionsbedingung und der Vorsatzbedingung nicht auf vorher bestehende Motivationsunterschiede zwischen den Patienten zurück. Ebenso konnte in einer weiteren Feldstudie [15] gezeigt werden, dass Vorsätze dabei helfen, beabsichtigte, neue und nicht sehr bequeme Verhaltensweisen häufiger auszuführen. Außerdem wirken sich Vorsätze positiv auf umweltrelevante Verhaltensweisen (Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel, Einkaufen in einem Bioladen) aus [15]. In einer aktuellen Untersuchung konnten wir feststellen, dass Teilnehmer, die das bloße Ziel hatten, abzuneh-
Mental Contrasting und Implementation Intentions (MCII) als Interventionsmethode
men, in einem Zeitraum von 6 Wochen weniger an Gewicht verloren als diejenigen Teilnehmer, die zusätzlich zum Ziel noch einen Vorsatz fassen sollten [16]. Insgesamt nahmen 61 Versuchsteilnehmer an der Studie teil; diese wurden per Zufall einer von zwei experimentellen Versuchsbedingungen zugeordnet, entweder der Vorsatzoder der Zielbedingung. Die Versuchsteilnehmer mussten während der Dauer von 6 Wochen ein Ernährungstagebuch führen. Zudem wurden sie regelmäßig gewogen, damit überprüft werden konnte, ob sich die Probanden aus den vier Bedingungen bezüglich der abhängigen Variablen unterscheiden. Zu diesen abhängigen Variablen gehörten Körpergewicht, Körperfettanteil, durchschnittlicher Kalorien- und Fettgehalt der Mahlzeiten und Zielund Vorsatz-Commitment (d. h. die Verpflichtung dem Ziel bzw. dem Vorsatz gegenüber). Der Vorsatzeffekt konnte auch in dieser Studie nachgewiesen werden, d. h. die Versuchsteilnehmer aus der Vorsatzbedingung nahmen signifikant mehr ab, als die Versuchsteilnehmer aus den anderen Bedingungen. Eine Metaanalyse fasste die Ergebnisse von 94 unabhängigen Tests mit insgesamt 8461 Teilnehmern zusammen: Vorsätze hatten einen mittleren bis starken positiven Effekt auf die Zielerreichung und erwiesen sich somit als wesentlich effektiver im Vergleich zu einfachen Zielintentionen [17]. Als potenzielle Moderatoren der Gewichtung der positiven Effekte von Vorsätzen nennen Gollwitzer et al. [18]: ● Schwierigkeit, das Ziel zu erreichen ● Stärke der Verpflichtung („commitment“) zur jeweiligen Zielintention ● Relevanz für das übergeordnete Ziel eines Individuums ● Stärke der Verpflichtung („commitment“) zum jeweiligen Vorsatz ● Stärke der Verbindung zwischen dem „Wenn“- und dem „Dann“-Teil des Vorsatzes. Das bedeutet, dass Vorsätze umso besser wirken, je schwieriger und relevanter das Ziel ist, je stärker die Verpflichtung zum „Wenn-dann“-Plan ist und je stärker die Verbindung zwischen dem „Wenn“- und dem „Dann“-Teil des Vorsatzes ist. In der praktischen Anwendung können Vorsätze in der „Wenn“-Komponente unterschiedliche Inhalte spezifizieren: ● „Wenn“-Komponente beinhaltet Hindernisse, die der Zielrealisierung im Wege stehen: „Immer wenn ich Appetit auf Süßigkeiten bekomme, dann esse ich einen Apfel.“ oder „Immer wenn es regnet, dann trainiere ich zumindest abends auf dem Hometrainer.“ ● „Wenn“-Komponente beinhaltet günstige Gelegenheiten zur Zielrealisierung: „Immer wenn ich Lebensmittel kaufe, dann kaufe ich frisches Obst und Gemüse.“ oder „Immer wenn schönes Wetter ist, dann fahre ich mit dem Rad zur Arbeit.“
Zudem gibt es zwei Möglichkeiten, in der „Dann“-Komponente zielrealisierendes Handeln zu benennen. ● „Dann“-Komponente beinhaltet Handlungen, die Schwierigkeiten überwinden: „Immer wenn ich Appetit auf Süßigkeiten bekomme, dann esse ich etwas Obst.“ oder „Immer wenn es regnet, dann trainiere ich zumindest abends auf dem Hometrainer.“ ● „Dann“-Komponente beinhaltet Handlungen, die Schwierigkeiten vorbeugen: „Immer wenn ich einkaufen gehe, dann kaufe ich Obst und Gemüse.“ oder „Immer wenn ich früher von der Arbeit nach Hause komme, dann gehe ich eine halbe Stunde joggen anstatt fernzusehen.“
38.3 Mental Contrasting und Implementation Intentions (MCII) als Interventionsmethode Damit Vorsätze ihre Wirkung entfalten, müssen sie auf starken Zielen aufbauen. Daher ist es sinnvoll, dass das Fassen von Vorsätzen durch ein vorausgeschaltetes Mentales Kontrastieren eingeleitet wird. Das Mentale Kontrastieren garantiert ● die Bildung der Vorsätze auf Grundlage starker Ziele und ● ein Entdecken der kritischen Situationen, die der Zielerreichung im Wege stehen. Der Vorsatz garantiert eine Spezifizierung der kritischen Situationen in der „Wenn“-Komponente und ● die Verknüpfung mit einem effektiven zielführenden Handeln in der „Dann“-Komponente. ●
Das Mentale Kontrastieren bewirkt das Fassen fester Zielintentionen, während die Vorsätze die Umsetzung dieser Ziele in konkretes Verhalten unterstützen. Beide Prozesse sind in bisherigen Interventionen zur Gesundheitsförderung nicht berücksichtigt worden. Mit einer Kombination des Mentalen Kontrastierens und des Fassens von Vorsätzen wird ein optimaler Interventionseffekt auf Gesundheitsverhalten erzielt. In der Studie „Lifestyle Intervention by Self-Regulation of Action (LISA)“ wurde die Kombination der Selbstregulationsinstrumente Mentales Kontrastieren und Vorsätze erstmals empirisch geprüft [19]. Die Teilnehmerinnen (266 Frauen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren) wurden zufällig zwei Gruppen zugeteilt: entweder einer Kontrollgruppe, die eine Informationsintervention erhielt, oder einer Experimentalgruppe, die zusätzlich zu den Informationen das Selbstregulationsinstrument erlernte. Die Teilnehmerinnen der Experimentalgruppe konnten den veränderten Lebensstil (sich gesünder zu ernähren und sich mehr zu bewegen) über 4 Monate hinweg aufrechterhalten, während dies bei den Teilnehmerinnen der Kontrollgruppe nicht der Fall war.
355
38
Motivationspsychologie
38.4 Zusammenfassung Literatur
I II III IV V
VI VII
Selbstregulation, also die Kontrolle des eigenen Verhaltens, ist ein wesentlicher Aspekt bei der Umsetzung gesunder, präventiver Handlungsweisen. Die Selbstregulation kann durch Strategien, die beim Setzen (Mentales Kontrastieren) und Durchführen (Vorsätze) solcher Handlungen behilflich sind, gesteigert werden.
?
Häufige Patientenfragen
Was benötige ich unbedingt, damit ich mein Verhalten ändern kann? ● Information (Internet, Bücher, Ratgeber, Broschüren, etc.) ist die Grundvoraussetzung für eine Verhaltensänderung. Soll ich überhaupt jemandem davon erzählen, dass ich mein Verhalten ändern möchte (z. B. mit dem Rauchen aufhören)? ● Selbstverständlich: Die Unterstützung aus Ihrem Umfeld (Partner, Freunde etc.) ist sehr wichtig. Ich weiß gar nicht, ob ich mein Verhalten ändern möchte oder nicht? ● Schwelgen Sie in der Zukunft, d. h. überlegen Sie sich, was das Positive in der Zukunft wäre, wenn Sie es schaffen würden, Ihr Verhalten zu ändern. Dann sehen Sie den konkreten Hindernissen ins Auge, d. h. überlegen Sie sich, welche Hindernisse aktuell (in der Gegenwart) auftreten. Jedes Jahr fasse ich mir dieselben Neujahrsvorsätze und nehme mir vor mein Verhalten zu ändern (z. B. mich gesünder zu ernähren), aber es klappt nicht. Was kann ich tun? ● Neujahrsvorsätze sind keine richtigen Vorsätze, sondern allgemeine Ziele. Sie sollten sich genauer überlegen, wann, wo und wie Sie dieses Ziel erreichen können und sich z. B. „Wenn-dann“-Pläne für zielführende Handlungen bilden. Wie entwickle ich solche „Wenn-dann“-Pläne? Zunächst überlegen Sie sich, welches Ziel Sie unbedingt erreichen möchten. Danach wägen Sie ab, welche Handlungen notwendig sind, damit Sie in der Zukunft dieses Ziel erreichen. Zum Beispiel ist es für das Ziel „Ich will mich gesünder ernähren“ wesentlich, dass Sie immer genügend Obst und Gemüse zu Hause haben. Ein „Wenndann“-Plan könnte also lauten: „Immer wenn ich einkaufen gehe, dann kaufe ich frisches Obst und Gemüse.“
●
Mir fällt es unglaublich schwer, mein Verhalten in dem Bereich zu ändern. Ist da überhaupt etwas zu machen? ● Je schwieriger ein Verhalten ist, umso besser wirken „Wenn-dann“-Pläne.
356
1. Klinger E. Consequences of commitment to and disengagement from incentives. Psychological Review. 1975; 82: 1 – 25. 2. Oettingen G. Psychologie des Zukunftsdenkens. Erwartungen und Phantasien. Göttingen: Hogrefe; 1986. 3. Oettingen G, Pak H, Schnetter K. Self-regulation of goal setting: Turning free fantasies about the future into binding goals. J Pers Soc Psychol. 2001; 80: 736 – 53. 4. Oettingen G. Expectancy effects on behavior depend on self-regulator thought. Soc Cogn. 2000; 18: 101 – 29. 5. Taylor SE, Pham LB, Rivkin ID, Armor DA. Harnessing the imagination. Am Psychol. 1998; 53: 429 – 31. 6. Gollwitzer PM. Implementation intentions: Strong effects of simple plans. Am Psychol. 1999; 54 : 493 – 503. 7. Heckhausen H, Gollwitzer PM. Thought contents and cognitive functioning in motivational versus volitional states of mind. Motiv Emot. 1987;11 : 101 – 20. 8. Gollwitzer PM. The volitional benefits of planning. In: Gollwitzer PM, Bargh JA (Hrsg.). The psychology of action: Linking cognition and motivation to behavior. New York: Guilford Press; 1996: 287 – 312. 9. Gollwitzer PM. Goal achievement: The role of intentions. In: Stroebe W, Hewstone M (Hrsg.). European Review of Social Psychology. London: Wiley; 1993: 141 – 85. 10. Brandstätter V, Lengfelder A, Gollwitzer PM. Implementation intentions and efficient action initiation. J Pers Soc Psychol. 2001; 81: 946 – 60. 11. Lengfelder A, Gollwitzer PM. Reflective and reflexive action control in patients with frontal brain lesions. Neuropsychology. 2001; 15(1): 80 – 100. 12. Gawrilow C, Gollwitzer PM. Implementation intentions facilitate response inhibition in children with ADHD. Cognitive Therapy and Research. Cognit Ther Res. 2008; 32: 261 – 80. 13. Webb TL, Sheeran P. Can implementation intentions help to overcome ego-depletion? J Exp Soc Psychol. 2003; 39 (3): 279 – 86. 14. Orbell S, Sheeran P. Motivational and volitional processes in action initiation: A field study of the role of Implementation Intentions. J Appl Soc Psychol. 2000; 30: 780 – 97. 15. Bamberg S. Helfen Implementationsintentionen, die Lücke zwischen Absicht und Verhalten zu überwinden? Zeitschrift für Sozialpsychologie. 2002; 33: 143 – 55. 16. Pizarro C. Schokolade oder Apfel? Selbstregulation des Essverhaltens durch Pläne mit motivierendem Vorsatz. Unpublizierte Diplomarbeit. Universität Konstanz; 2001. 17. Gollwitzer PM, Sheeran P. Implementation intentions and goal achievement: A meta-analysis of effects and processes. Advances of Experimental Social Psychology. 2006; 38: 69 – 119. 18. Gollwitzer PM, Bayer UC, McCulloch KC. The control of the unwanted. In: Bargh JA, Uleman J, Hassin R (Hrsg.). Unintended thought. 2. Aufl. New York: Guilford Press; 2005: 485 – 515. 19. Stadler G. Self-regulation of health behavior: a mental contrasting and implementation intention intervention. Dissertation, Universität Hamburg, 2006.
VII
Wo und Wie – Nützliche Hinweise für die Check-Up-Medizin
Wichtige Adressen und Weblinks
39 Wichtige Adressen und Weblinks E. Gramenz*
I
39.1 Informationen rund um die Check-Up-Medizin
II
39.1.1 Spezifische Checks im Internet Herzinfarkt-Risiko
III IV V VI
VII
arriba (Philipps-Universität Marburg/Universitätsklinikum Düsseldorf) Robert-Koch-Str. 5 35037 Marburg Tel.: +49 6421 28–65120 Fax: +49 6421 28–65121 http://www.arriba-hausarzt.de Carrisma (VR Consult AG) Nordring 55–57 63843 Niedernberg Tel.: +49 6028 1207–0
[email protected] http://www.carrisma.net Deutsche Herzstiftung e. V. Vogtstr. 50 60322 Frankfurt am Main Tel.: +49 69 955128–0 Fax: +49 69 955128–313
[email protected] http://www.herzstiftung.de/risikotest.php Framingham Risk Calculator http://hin.nhlbi.nih.gov/atpiii/calculator.asp?usertype= prof (online-Version) http://hp2010.nhlbihin.net/atpiii/riskcalc.htm (download-Version) HeartScore: European Society of Cardiology http://cms.escardio.org/knowledge/decision_tools/ heartscore/
* Disese Auswahl stellt keine inhaltliche oder qualitative Wertung gegenüber z.B. aus Platzgründen nicht genannten Adressen und Links dar (Stand Januar 2009).
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PROCAM Herzinfarkttests Assmann-Stiftung für Prävention Johann-Krane-Weg 23 48149 Münster Tel.: +49 251 131236–0 Fax: +49 251 131236–12
[email protected] http://www.assmann-stiftung.de/Herzinfarkt.74.0.html
Schlaganfall-Risiko Assmann-Stiftung für Prävention Adresse s.o. Herzinfarkt-Risiko http://www.assmann-stiftung.de/Schlaganfall.81.0.html Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe Carl-Bertelsmann-Str. 256 33311 Gütersloh Tel.: 01805 093093 Fax: 01805 094094
[email protected] http://www.schlaganfall-test.de
Diabetes-Risiko und Metabolisches Syndrom Deutscher Diabetes Risk Score Deutsches Institut für Ernährungsforschung PotsdamRehbrücke (DIFE) Arthur-Scheunert-Allee 114–116 14558 Nuthetal Tel.: +49 33200 88–0 Fax: +49 33200 88–444
[email protected] http://drs.dife.de FINDRISK Universitätsklinikum Dresden (Med. Klinik III, Stoffwechsel und Endokrinopathien) Fetscherstr. 74 01307 Dresden Tel.: +49 351 458–3976 Fax: +49 351 458–7319 http://www.findrisk.de http://www.diabetesprevention.de
Informationen rund um die Check-Up-Medizin
International Diabetes Federation Avenue Emile De Mot 19 1000 Brüssel Belgien Tel: +32 2 5385511 Fax: +32 2 5385114
[email protected] http://www.idf.org/webdata/docs/Metac_Syndrome_def. pdf
Partizipative Entscheidungsfindung http://www.medoption.com http://www.patient-als-partner.de/ http://www.dhmc.org/shared_decision_making.cfm Instrumente zur Qualitätsbewertung medizinischer Laieninformationen und Webangebote http://www.afgis.de http://www.discern.de http://www.hon.ch
Nikotinabhängigkeit Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit DKFZ Stabsstelle Krebsprävention, WHO-Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle Im Neuenheimer Feld 280 69120 Heidelberg Tel.: +49 6221 4230–15 Fax: +49 6221 4230–20
[email protected] http://www.rauchfrei2006.de/index.php?pageID=42
Weiße Liste – Gesundheitsanbieter im Überblick Projektbüre Weiße Liste Bertelsmann-Stiftung Carl-Bertelsmann-Str. 256 33311 Gütersloh Tel.: +49 5241–810 Fax: +49 5241–8181180 http://www.weisse-liste.de
Patienteninformation zur Früherkennung Check: Hör- und Sehtests Fördergemeinschaft Gutes Hören GmbH Schuhmarkt 4 35037 Marburg Tel.: +49 6421 2936–0 Fax: +49 6421 2936–60
[email protected] http://www.fgh-gutes-hoeren.de Kuratorium Gutes Sehen e. V. (KGS) Saarbrücker Str. 38 10405 Berlin Tel.: +49 30 414021–22 Fax: +49 30 414021–23
[email protected] http://www.seh-check.de
Laienverständliche Zusammenfassungen der Cochrane Reviews in deutscher Sprache http://www.cochrane.org/reviews/index_de.htm Patienteninformation.de – Ein Service des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) http://www.patienten-information.de Patientenleitlinien zu Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) http://www.versorgungsleitlinien.de/patienten Wissensplattform der Fachwissenschaft Gesundheit der Universität Hamburg http://www.patienteninformation.de
39.1.3 Check-Up-Zentren 39.1.2 Hilfe zur Entscheidungsfindung, Vor- und Nachteile von Tests zur Früherkennung Allgemeine Adressen Patientenrechte in Deutschland – Leitfaden für Patienten und Ärzte http://www.bmj.de/media/archive/226.pdf Toolkit zur Erstellung von Entscheidungshilfen http://decisionaid.ohri.ca/resources.html
Nationale Check-Up-Zentren ALTA Klinik GmbH Klinik für Radiologie und Kardiologie Neuenkirchener Str. 97 33332 Gütersloh Tel.: +49 5241 210 14–0 Fax: +49 5241 210 14–14
[email protected] http://www.alta-klinik.de Augustinum gemeinnützige GmbH Stiftsbogen 74 81375 München Tel.: +49 89 7098–0 Fax: +49 89 7098–199 http://www.augustinum-kliniken.de
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Wichtige Adressen und Weblinks
I II III IV V VI
VII
DGSP SportMed Service GmbH Silcherstr. 5 72076 Tübingen Tel.: +49 7071 2986466 Fax: +49 7071 295162
[email protected] http://www.sportmed-service.de
Standort Berlin: European Prevention Center Im Interdisciplinary Cardiac Imaging Center [IC]2 Schloß Steglitz Schloßstr. 34 12163 Berlin Tel.: +49 800 0800012
Diagnoseklinik München GmbH Augustenstr. 115 80798 München Tel.: +49 89 52055–0 Fax: +49 89 52055–203
[email protected] http://www.Diagnoseklinik-Muenchen.de
EuromedClinic GmbH Europa-Allee 1 90763 Fürth Tel.: +49 911 9714–0 Fax: +49 911 9714–555
[email protected] http://www.euromed.de
DIAGNOSTIK ZENTRUM Fleetinsel Hamburg GmbH Stadthausbrücke 3 20355 Hamburg Tel.: +49 40 369729–0 Fax: +49 40 369729–22
[email protected] http://www.diagnostik-zentrum.de
Herzdiagnostik-Zentrum Tal 34 80331 München Tel.: +49 89 242067–0 Fax: +49 89 242067–77
[email protected] http://www.herzdiagnostik.com
Diagnostikzentrum Scheidegg Buflingsried 164 88175 Scheidegg Tel.: +49 8381 942850 Fax: +49 8381 942867
[email protected] http://www.diagnostikzentrum-scheidegg.de
Kerckhoff-Klinik GmbH Benekestr. 2–8 61231 Bad Nauheim Tel.: +49 6032 996–0 Fax: +49 6032 996–2399
[email protected] http://www.kerckhoff-klinik.de
Diagnostisches Zentrum der Oberland-Klinik Pütrichstr. 30 82362 Weilheim Tel.: +49 881 9236–600 Fax: +49 881 9236–699
[email protected] http://www.mzt-oberland.de
Lubinus Gruppe Steenbeker Weg 25 24106 Kiel Tel.: +49 431 388–0 Fax: +49 431 388–240
[email protected] http://www.lubinus-klinik.de
EPC GmbH – European Prevention Center Campus Fichtenhain 42 47807 Krefeld (Geschäftszentrale) Tel.: +49 2151 82007–39 Fax: +49 2151 82007–40
[email protected] http://www.epc-checkup.de
Max Grundig Klinik Schwarzwaldhochstr. 1 77815 Bühl Tel.: +49 7226 54–0 Fax: +49 7226 54–310
[email protected] http://www.max-grundig-klinik.de
Standort Duisburg: European Prevention Center im Medical Center Ruhrort (MCR) Ruhrorter Str. 195 47119 Duisburg Tel.: +49 800 0800012
Medizinplus Privatklinik Gesellschaft des Klinikums Nürnberg mbH Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1 90419 Nürnberg Tel.: +49 911 3983950 Fax: +49 911 3983951
[email protected] http://www.medizinplus.com
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Informationen rund um die Check-Up-Medizin
Medizinisches PräventionsCentrum Hamburg (MPCH) GmbH & Co. KG am Universitätsklinikum HamburgEppendorf Falkenried 88 (CiM-Gebäude) 20251 Hamburg Tel.: +49 40 468636–111 Fax: +49 40 468636–122
[email protected] http://www.mpch.de
radprax international Vorsorgeinstitut Airport City Peter-Müller-Straße 20 40468 Düsseldorf (und weitere Standorte) Tel.: +49 211 22 97 32–10 Fax: +49 211 22 97 32–19
[email protected] http://www.radprax-vorsorge.de
Park-Klinik Weißensee Schönstr. 80 13086 Berlin Tel.: +49 30 9628–0 Fax: +49 30 9628–4005
[email protected] http://www.park-klinik.com
Salinenpark Salinenstr. 2–4 32105 Bad Salzuflen Tel.: +49 5222 936–0 Fax: +49 5222 936–100
[email protected] http://www.salinenpark.de
Präventionszentrum Charité Charitéplatz 1 10117 Berlin Tel.: +49 30 450 555 009 Fax: +49 30 450 555 907 http://praeventionsmedizin.charite.de
Schlosspark-Klinik Heubnerweg 2 14059 Berlin Tel.: +49 30 3264–0 Fax: +49 30 3264–1685 info@schlosspark-klinik http://www.schlosspark-klinik.de
Prevent, IAS Institut für Arbeits- und Sozialhygiene Stiftung Steinhäuserstr. 19 76135 Karlsruhe (und weitere Standorte) Tel.: +49 721 8204–0 Fax: +49 721 8204–400
[email protected] http://www.prevent.de Preventicum GmbH Klinik für Diagnostik und medizinische Beratung Büropark Bredeney Theodor-Althoff-Str. 47 45133 Essen Tel.: +49 201 84717–00 Fax: +49 201 84171–22
[email protected] http://www.preventicum.de Prevention First – Praxisverbund präventivmedizinischer Praxen – Dr. Scholl und andere GbR Eibingerstr. 9 65385 Rüdesheim am Rhein (und weitere Standorte) Tel.: +49 6722 406700 Fax: +49 6722 406701
[email protected] http://www.preventionfirst.de
39
SKOLAMED GmbH Petersberg 53639 Königswinter (Bonn) Tel.: +49 2223 2983–0 Fax: +49 2223 2983–20
[email protected] http://www.skolamed.de Klinikum Staffelstein (Schön-Kliniken) und Obermain Therme Am Kurpark 11 96231 Bad Staffelstein Tel.: +49 9573 56–610 Fax: +49 9573 56–614 http://www.schoen-kliniken.de Stiftung Deutsche Klinik für Diagnostik GmbH Aukammallee 33 65191 Wiesbaden Tel.: +49 611 577–0 Fax: +49 611 577–577
[email protected] http://www.dkd-wiesbaden.de Zentrum für Diagnostik an der MediClin Robert Janker Klinik Villenstr. 4–8 53129 Bonn Tel.: +49 228 5306–101 Fax: +49 228 5306–184
[email protected] http://www.clinicalcheckup.de
361
Wichtige Adressen und Weblinks
Zentrum für Präventionsmedizin am Elisabeth Krankenhaus Essen – EssenBodyGuard! Herwarthstr. 102 45138 Essen Tel.: +49 201 897–3901 Fax: +49 201 897–3909 http://www.elisabeth-essen.de
I II III IV V VI
VII
Sportmedizinische Check-Up-Zentren Institut für Sport- und Bewegungsmedizin e. V. Robert-Koch-Str. 36 20249 Hamburg Tel.: +49 40 471930–0
[email protected] http://www.sportmedizin-hamburg.com
Internationale Check-Up-Zentren Accuscan Health Imaging The Gateway 130 South 400 West Salt Lake City, Utah 84101 USA Tel.: +1 801 456–7226 Fax: +1 801 456–7228 http://www.accuscanhealthimaging.com Advanced Body Scan of Newport 0311 Acacia St. Suite 140 Newport Beach, CA 92660 USA Tel.: +1 949 756–8200 Fax: +1 949 756–8222 http://www.newportbodyscan.com CheckupZentrum Hirslanden Seefeldstr. 214 CH-8008 Zürich Tel.: +41 43 4992030 Fax: +41 43 4992031 http://www.hirslanden.ch Cooper Clinic 12200 Preston Road Dallas, Texas 75230 USA Tel.: +1 972 560–2667 http://www.cooperaerobics.com/Clinic Mayo Clinic Rochester, MN 55905 USA Tel.: +1 507 284–2288 Fax: +1 507 284–0909 http://www.mayoclinic.org/executive-health/rochester. html
362
Lehrstuhl und Poliklinik für Präventive und Rehabilitative Sportmedizin Technische Universität München Connollystr. 32 80809 München http://www.sport.med.tum.de/praevention.html Zentrum für Sportmedizin, Sport-Gesundheitspark Berlin e. V. Forckenbeckstr. 21 14199 Berlin Tel.: +49 30 897917–0 Fax: +49 30 897917–35
[email protected] http://www.sport-gesundheitspark.de ZfS - Zentrum für Sportmedizin GmbH Windhorststr. 35 48143 Münster Tel.: +49 251 131362–0 Fax: +49 251 131362–22
[email protected] http://www.zfs-muenster.de
Wellness Deutscher Medical Wellness Verband e. V. Fanny-Zobel-Str. 9 12435 Berlin Tel.: +49 30 818733–10 Fax: +49 30 818733–49
[email protected] http://www.dmwv.de Deutscher Wellness Verband e. V. Neusser Straße 35 40219 Düsseldorf Tel.: +49 211 16820–90 Fax: +49 211 16820–95
[email protected] http://www.wellnessverband.de
Institutionen und Organisationen
39.2 Institutionen und Organisationen 39.2.1 Allgemein Bundesinstitut für Risikobewertung Thielallee 88–92 14195 Berlin Tel.: 01888–412–4300 Fax: 01888–412–4970
[email protected] http://www.bfr.bund.de Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 11055 Berlin Tel.: +49 30 18441–0 Fax: +49 30 18441–1921
[email protected] http://www.bmg.bund.de http://www.die-gesundheitsreform.de/gesundheitssystem/themen_az/ Deutsches Forum Prävention und Gesundheitsförderung (DFPG) c/o Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e. V. (BVPG) Heilsbachstr. 30 53123 Bonn Tel.: +49 228 98727–0 Fax: +49 228 6420024
[email protected] http://www.forumpraevention.de Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) Auf dem Seidenberg 3a 53721 Siegburg Tel.: +49 2241 9388–0 Fax: +49 2241 9388–573 http://www.g-ba.de Gesundheitsberichterstattung des Bundes Graurheindorfer Str. 198 53117 Bonn Tel.: +49 228 99 644 8121 Fax: +49 228 99 644 8996
[email protected] http://www.gbe-bund.de Nationales Genomforschungsnetz Im Neuenheimer Feld 580 69120 Heidelberg Tel.: +49 6221 424743 Fax: +49 6221 423454
[email protected] http://www.ngfn.de
Robert Koch-Institut Nordufer 20 13353 Berlin Tel.: +49 30 18754–0 Fax: +49 30 18754–2328 http://www.rki.de World Health Organization (WHO) Avenue Appia 20 1211 Genf 27 Schweiz Tel.: +41 22791–2111 Fax: +41 22791–3111
[email protected] http://www.who.int WHO - Regionalbüro für Europa http://www.euro.who.int
39.2.2 Leitlinien Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) http://www.awmf.org Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) http://www.aezq.de
39
Deutsches Cochrane Zentrum http://www.cochrane.de Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin http://www.ebm-netzwerk.de National Guideline Clearinghouse (USA) http://www.guideline.gov The Guidelines International Network (GIN) http://www.guidelines-international.net Wissensnetzwerk evidence.de (Fakultät für Medizin der Privaten Universität Witten/Herdecke gGmbH) http://www.evidence.de
39.2.3 Medizinische Fachgesellschaften Nationale Fachgesellschaften aid infodienst, Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft e. V. Friedrich-Ebert-Str. 3 53177 Bonn Tel.: +49 228 8499–0
[email protected] http://www.aid.de/ernaehrung/start.php
363
Wichtige Adressen und Weblinks
Deutsche Adipositas-Gesellschaft e. V. Waldklausenweg 20 81377 München Tel.: +49 89 7104–8358 Fax: +49 89 7104–9464
[email protected] http://www.adipositas-gesellschaft.de
I II III IV V VI
VII
Deutsche Diabetes-Gesellschaft e. V. (DDG) Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 44789 Bochum Tel.: +49 234 97889–0 Fax: +49 234 97889–21
[email protected] http://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) Godesberger Allee 18 53175 Bonn Tel.: +49 228 3776–600 Fax: +49 228 3776–800 http://www.dge.de Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V., DGEM-Infostelle Olivaer Platz 7 10707 Berlin Tel.: +49 30 889128–52 Fax: +49 30 889128–39
[email protected] http://www.dgem.de Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG) Robert-Koch-Platz 7 10115 Berlin Tel.: +49 30 51488–33 Fax: +49 30 51488–344
[email protected] http://www.dggg.de Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie Hittorfstr. 7 53129 Bonn Tel.: +49 228 231770 Fax: +49 228 239385
[email protected] http://www.hno.org
364
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) – Herz- und Kreislaufforschung e. V. Achenbachstr. 43 40237 Düsseldorf Tel.: +49 211 600692–0 Fax: +49 211 600692–10
[email protected] http://www.dgk.org Deutsche Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging Medizin e. V. (GSAAM) Feringastr. 6 85774 Unterföhring Tel.: +49 89 74357892 Fax: +49 89 99216200
[email protected] http://www.gsaam.de Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (Deutscher Sportärztebund, DGSP) e. V. Hugstetter Str. 55 79106 Freiburg Tel.: +49 761 270–7456 Fax: +49 761 202–4881
[email protected] http://www.dgsp.de Deutsche Gesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin e. V. (DGTCM) Karlsruherstr. 12 69126 Heidelberg Tel.: +49 6221 374546 Fax: +49 6221 302035
[email protected] http://www.dgtcm.de Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e. V. (DGVS) Olivaer Platz 7 10707 Berlin Tel.: +49 30 319831–5000 Fax: +49 30 319831–5009
[email protected] http://www.dgvs.de Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) Liesegangstr. 17 a 40211 Düsseldorf Tel.: +49 211 610198–0 Fax: +49 211 610198–11
[email protected] http://www.dgzmk.de
Institutionen und Organisationen
Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen (DGFF), Lipid-Liga e. V. Waldklausenweg 20 81377 München Tel.: +49 89 7191001 Fax: +49 89 7142687
[email protected] http://www.lipid-liga.de Deutsche Hochdruckliga e. V. (DHL) Berliner Str. 46 69120 Heidelberg Tel.: +49 6221 58855–0 Fax: +49 6221 58855–25
[email protected] http://www.hochdruckliga.de Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) Im Neuenheimer Feld 280 69120 Heidelberg Tel.: +49 6221 420 Fax: +49 6221 422995 http://www.dkfz.de DKFZ – Krebsinformationsdienst (KID) Tel.: +49 800 420 3040
[email protected] http://www.krebsinformationsdienst.de DKFZ – WHO-Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle
[email protected] http://www.tabakkontrolle.de DKFZ – Abt. Klinische Epidemiologie und Alternsforschung Bergheimer Str. 20 69115 Heidelberg Tel.: +49 6221 5481–41 Fax: +49 6221 5481–42 http://www.dkfz.de/de/klinepi Deutsche Krebsgesellschaft e. V. (DKG) Tiergarten Tower Straße des 17. Juni 106–108 10623 Berlin Tel.: +49 30 322 93 29–00 Fax: +49 30 322 93 29–66
[email protected] http://www.krebsgesellschaft.de
Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e. V. (ZAEN) Am Promenadenplatz 1 72250 Freudenstadt Tel.: +49 7441 91858–0 Fax: +49 7441 91858–22
[email protected] http://www.zaen.de
Internationale Fachgesellschaften American Diabetes Association (ADA) http://www.diabetes.org American Dietetic Association (ADA) http://www.eatright.org American Heart Association http://www.americanheart.org American Society of Hypertension (ASH) http://www.ash-us.org American Stroke Association http://www.strokeassociation.org European Association for the Study of Diabetes (EASD) http://www.easd.org European Association for the Study of Obesity (EASO) http://www.easoobesity.org European Society of Cardiology (ESC) http://www.escardio.org European Society of Hypertension (ESH) http://www.eshonline.org European Stroke Organisation (ESO) aus European Stroke Council (ESC) und European Stroke Initiative (EUSI) http://www.eso-stroke.org Federation of European Nutrition Societies (FENS) http://www.fensweb.org International Association for the Study of Obesity (IASO) http://www.iaso.org International Atherosclerosis Society http://www.athero.org International Diabetes Federation (IDF) http://www.idf.org
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39
Wichtige Adressen und Weblinks
International Obesity Task Force (IOTF) http://www.iotf.org International Society of Hypertension (ISH) http://www.ish-world.com
I
International Union of Nutritional Sciences (IUNS) http://www.iuns.org
National Heart, Lung and Blood Institute http://www.nhlbi.nih.gov/
PREMIUM Personal Trainer Club Bismarckstr. 53 50672 Köln Tel.: +49 221 1393–501 Fax: +49 221 1393–601 http://www.personal-trainer-network.de
National Lipid Education Council http://www.lipidhealth.org
39.2.5 Ökotrophologen
National Cholesterol Education Program http://www.nhlbi.nih.gov/chd
II III IV
World Heart Federation http://www.world-heart-federation.org
V
World Hypertension League http://www.worldhypertensionleague.org
VI
VII
Personalfitness Glockengießerwall 26 20095 Hamburg Tel.: +49 40 2260–6651 Fax: +49 40 2260–6649
[email protected] http://www.personalfitness.de
39.2.4 Fitnesszentren und Personal Trainer Bundesverband Deutscher Personal Trainer e. V. (BDPT e. V.) Eupener Str. 159 50933 Köln Tel.: +49 221 356390–38 Fax: +49 221 356390–39
[email protected] http://www.bdpt.org DSSV e. V., Arbeitgeberverband deutscher Fitnessund Gesundheits-Anlagen Bremer Str. 201b 21073 Hamburg Tel.: +49 40 76624–00 Fax: +49 40 76512–23
[email protected] http://www.dssv.de Fitness Company Freizeitanlagen GmbH Kennedyallee 87 60596 Frankfurt Tel.: +49 69 96373–000 Fax: +49 69 96373–098
[email protected] http://www.fitcom.de Kieser Training AG Kanzleistr. 126 CH-8026 Zürich
[email protected] http://www.kieser-training.com
366
Deutsches Ernährungsberatungs- und -informationsnetz (DEBInet), Institut für Ernährungsinformation Tripsenweg 17 72250 Freudenstadt
[email protected] http://www.ernaehrung.de Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. Godesberger Allee 18 53175 Bonn Tel.: +49 228 3776–600 Fax: +49 228 3776–800 http://www.dge.de Institut für Qualitätssicherung in der Ernährungstherapie und Ernährungsberatung e. V. (Institut QUETHEB e. V.) Schloßplatz 1 83410 Laufen Tel.: +49 8682 9544–00 Fax: +49 8682 9544–98
[email protected] http://www.quetheb.de Netzwerk Gesunde Ernährung Sandusweg 3 35435 Wettenberg Tel.: +49 641 8089644 Fax: +49 641 8089650
[email protected] http://www.netzwerk-gesunde-ernaehrung.de Verband der Diätassistenten (VDD) – Deutscher Bundesverband e. V. Postfach 104062 45040 Essen Tel.: +49 201 946853–70 Fax: +49 201 946853–80
[email protected] http://www.vdd.de
Institutionen und Organisationen
Verband der Oecotrophologen e. V. (VDOE) Reuterstr. 161 53113 Bonn Tel.: +49 228 28922–0 Fax: +49 228 28922–77
[email protected] http://www.vdoe.de
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Ostmerheimer Str. 220 51109 Köln Tel.: +49 221 8992–0 Fax: +49 221 8992–300
[email protected] http://www.bzga.de
39.2.6 Psychologen
BZgA – Übergewicht bei Kindern http://www.bzga-kinderuebergewicht.de
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP) Glinkastr. 5 10117 Berlin Tel.: +49 30 209149–0
[email protected] http://www.bdp-verband.org Deutsche PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) Am Karlsbad 15 10785 Berlin Tel.: +49 30 23500–90 Fax: +49 30 23500–944
[email protected] http://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V. (VFP) Lister Str. 7 30163 Hannover Tel.: 01803 210217 Fax: +49 511 3884940
[email protected] http://www.vfp.de
BZgA – Rauchen/Nichtrauchen http://www.rauch-frei.info Deutscher Diabetiker Bund e. V. (DDB) Goethestr. 27 34119 Kassel Tel.: +49 561 70347–70 Fax: +49 561 70347–71
[email protected] http://www.diabetikerbund.de Deutsche Herzstiftung e. V. Vogtstr. 50 60322 Frankfurt a.M. Tel.: +49 69 95512–80 Fax: +49 69 95512–8313
[email protected] http://www.herzstiftung.de
39
Deutsche Hochdruckliga e. V. (DHL) Berliner Str. 46 69120 Heidelberg Tel.: +49 6221 58855–0 Fax: +49 6221 58855–25
[email protected] http://www.hochdruckliga.info
39.2.7 Beratungsinstitutionen Arbeitsgemeinschaft Adipositas (AGA) im Kindesund Jugendalter (Vestische Kinder- und Jugendklinik, Universität Witten-Herdecke) Dr.-F.-Steiner-Str. 5 45711 Datteln Tel.: +49 2363 975–229 Fax: +49 2363 975–218
[email protected] http://www.a-g-a.de Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e. V. (AA) Lotte-Branz-Str. 14 80939 München Tel.: +49 89 31695–00 Fax: +49 89 31651–00
[email protected] http://www.anonyme-alkoholiker.de
Deutsche Krebshilfe e. V. Buschstr. 32 53113 Bonn Tel.: +49 228 72990–0 Fax: +49 228 72990–11
[email protected] http://www.krebshilfe.de Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe Carl-Bertelsmann-Str. 256 33311 Gütersloh Tel.: 01805 093093 Fax: 01805 094094
[email protected] http://www.schlaganfall-hilfe.de
367
Wichtige Adressen und Weblinks
39.3 Medizin- und Gesundheitsportale
39.3.2 Portale: Selbsthilfegruppen
39.3.1 Allgemeine medizinische Information
Imedo „Gesundheitsgemeinschaft“ – Selbsthilfegruppen Online http://www.Imedo.de
Gesundheit-aktuell http://www.gesundheit-aktuell.de
I
gesundheitsinformation.de (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) http://www.gesundheitsinformation.de
II
GesundheitPro.de http://www.gesundheitpro.de
III
@med1 http://www.med1.de
IV V VI
VII
Medinfo.de – das Meta-Portal für Gesundheitsthemen http://www.medinfo.de MedizInfo http://www.medizinfo.de
Selbsthilfe-Portal in Baden-Württemberg http://www.selbsthilfe-info.de Selbsthilfe-Portal in Bayern http://www.seko-bayern.de Selbsthilfe-Portal in Brandenburg http://www.selbsthilfe-brandenburg.de Selbsthilfe-Portal in Hessen http://www.selbsthilfe-hessen.net Selbsthilfe-Portal in Mecklenburg-Vorpommern http://www.meinestadt.de/mecklenburg-vorpommern/ katalog/kat/100–536–135729
Medizin 2000 http://www.medizin-2000.de
Selbsthilfe-Portal in Niedersachsen http://www.meinestadt.de/niedersachsen/katalog/kat/ 100–774–107974
Medknowledge.de http://www.medknowledge.de
Selbsthilfe-Portal in Nordrhein-Westfalen http://www.selbsthilfenetz.de
Laborlexikon http://www.laborlexikon.de
Selbsthilfe-Portal in Rheinland-Pfalz http://www.meinestadt.de/rheinland-pfalz/katalog/kat/ 100–536–135729
Lifeline (Laienportal von multimedica) http://www.lifeline.de Net-Doktor.de http://www.netdoktor.de Tkmed: Medizinische Informationen http://www.tkmed.de
Selbsthilfe-Portal im Saarland http://www.selbsthilfe-saar.de Selbsthilfe-Portal in Sachsen http://www.interreglife.org Selbsthilfe-Portal in Sachsen-Anhalt http://www.kontaktstelle-shg.de Selbsthilfe-Portal in Schleswig-Holstein http://www.medfindex.de Selbsthilfe-Portal in Thüringen http://www.selbsthilfe-thueringen.de
368
Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM
40 Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen G. Schulz
40.1 Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM 40.1.1 Einleitung Im Bereich der von den gesetzlichen Krankenkassen übernommenen Präventionsleistungen müssen – auf Grund unterschiedlicher gesetzlicher Rahmenbedingungen – Leistungen der Primärprävention/Gesundheitsförderung (Verhütung von Krankheiten) und Leistungen der Früherkennung/Vorsorgeuntersuchungen (übliche CheckUp-Programme) gesondert betrachtet werden. Gesetzliche Grundlagen im Bereich der Früherkennung finden sich im SGB V, 4. Abschnitt, §§ 25 und 26. Hier werden die Themenfelder Gesundheitsuntersuchung und Kinderuntersuchung abgedeckt. Voraussetzung für die angebotenen Untersuchungen, deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, sind: ● Die gesuchte Erkrankung muss wirksam behandelt werden können. ● Das Vor- und Frühstadium der Erkrankung muss durch diagnostische Maßnahmen erfassbar sein. ● Die Krankheitszeichen müssen genügend eindeutig erfassbar sein. ● Genügend Ärzte und Einrichtungen zur Diagnostik und Behandlung der Verdachtsfälle müssen vorhanden sein. Konkrete Angebote der Krankenkassen in diesem Bereich sind durch die unterschiedlichen Kassen recht ähnlich und gemäß den entsprechenden Richtlinien ausgestaltet. Eine Übersicht folgt im Abschnitt „Vorsorgeleistungen nach EBM“ (einheitlicher Bewertungsmaßstab, s. S. 371 Tab. 40.2). Rahmenbedingungen für Primärprävention, die über die gesetzlichen Krankenversicherungen finanziert wird, sind im 3. Abschnitt SGB V (Leistungen zur Verhütung von Krankheiten) festgelegt. Dabei wird differenziert zwischen Prävention und Selbsthilfeleistungen allgemein (§ 20 SGB V) sowie speziellen Präventionsleistungen z. B. im Bereich der Verhütung von Zahnerkrankungen (§§ 21 + 22 SGB V), medizinischen Vorsorgeleistungen (§ 23 SGB V) und medizinischer Vorsorge für Mütter und Väter (§ 24 SGB V) u. a. [1]. Im GKV Gesundheitsreformgesetz 2000 wurden die sozialrechtlichen Grundlagen mit der Aufnahme des § 20 SGB V geschaffen und erweitert, um einen Schwerpunkt auf Prävention und Gesundheitsförderung legen zu können. Im Gegensatz dazu wurden bis dahin überwie-
gend Leistungen im Bereich der Krankheitsbehandlung und Rehabilitation über gesetzliche Krankenkassen finanziert. Im Rahmen der neu geschaffenen Spielräume werden konkrete Maßnahmen im Bereich Primärprävention und betrieblichen Gesundheitsförderung von den Krankenkassen unterstützt (§ 20 Abs. 1 + 2 SGB V). Ziel ist die Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und die Verminderung von sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen. Erfahrungsgemäß werden Angebote im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention von Personen mit höherem Sozialstatus verstärkt abgefragt. Um der so entstehenden Ungleichheit von Gesundheitschancen entgegenzuwirken, werden neben der Gesundheitsförderung nach dem Individualansatz auch Angebote innerhalb sog. Settingansätze unterstützt. Diese basieren auf dem Prinzip, die Personen gezielt in ihren gewohnten Lebensräumen, z. B. Schulen und Betrieben zu erreichen. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede sollen in beiden Ansätzen Berücksichtigung finden. Der Finanzierungsrahmen für das Angebot der Krankenkassen im Bereich der Präventionsleistungen ist zurzeit auf 2,78 € je Versicherten und Kalenderjahr festgelegt („Leitfaden Prävention“ vom 2. Juni 2008). Dieser begrenzende Faktor macht eine Konzentration der Leistungen auf Schwerpunkte und gezielte Interventionen nötig. Ebenso wichtig ist die enge Kooperation mit anderen öffentlichen Stellen (z. B. öffentlicher Gesundheitsdienst, gesetzliche Unfallversicherung, Betriebsärzte usw.), die an der Prävention beteiligt sein können. Als Grundsatz für Leistungen im Bereich der Primärprävention, wie für alle Leistungen der Krankenkassen, gilt: Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein (§ 12 SGB V). Um den gezielten Einsatz der vorhandenen Ressourcen zu gewährleisten, haben sich die Spitzenverbände der Krankenkassen unter Einbeziehung von Sachverständigen auf einen verbindlichen Leitfaden geeinigt, der prioritäre Handlungsfelder und Kriterien vorgibt, anhand derer die Präventionsleistungen bewertet werden. Außerhalb dieser Handlungsspielräume dürfen keine Präventionsleistungen nach § 20 SGB V von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert oder unterstützt werden. Um die Handlungsfelder und konkreten Präventionsziele, v. a. im Bereich der Primärprävention, einzugrenzen, soll gemäß dem Vorschlag der Krankenkassenverbände nach folgendem Zielsystem vorgegangen werden: ● Definition von Kennziffern, die die gesundheitliche und ökonomische Bedeutung von Krankheiten quantifizie-
369
40
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
● ● ●
I II III IV V VI
VII
ren: vorzeitige Mortalität, Arbeitsunfähigkeit, Krankheitskosten usw. Aufstellung einer Rangfolge von Krankheiten, abgeleitet nach den o. g. Kennziffern Aufstellung allgemeiner, nicht quantifizierter Oberziele für die ausgewählten Erkrankungen Ableitung und Quantifizierung von Teilzielen der ausgewählten Erkrankungen sowie Auswahl der konkreten Zielgruppen
Im Bereich der Gesundheitsförderung ist ein solches datengestütztes Auswahlverfahren nicht möglich. Es werden Konzepte entwickelt, die auf gemeinsamen Werten und Leitvorstellungen basieren. Bis die oben erläuterten Auswahlverfahren greifen, sind vorläufige Handlungsfelder der Primärprävention, die den zuvor genannten Oberzielen entsprechen, definiert worden. Diese Oberziele sind für den Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung gemäß § 20 Abs. 2 SGB V konkretisiert dargestellt (Tab. 40.1). Um an Leistungen aus diesen Bereichen als Leistungserbringer teilhaben zu können und über das entsprechende Budget der Krankenkassen unterstützt zu werden, müssen bestimmte Voraussetzungen und Qualitätskriterien erfüllt sein. Die Kassen haben sich in einem ersten Schritt auf konkrete Voraussetzungen im Bereich der Strukturqualität der Anbieter und der Dokumentation der erbrachten Leistungen geeinigt. Außerdem werden einheitliche Maßnahmen zur Erfolgskontrolle hinsichtlich der definierten Ziele im Bereich der Primärprävention entwickelt [2].
40.1.2 Vorsorgeleistungen nach EBM Unter den üblichen Vorsorgeleistungen nach EBM versteht man allgemein die Leistungen im Rahmen der Früherkennung nach den §§ 24 + 25 SGB V sowie medizinische Vorsorgeleistungen nach § 23. Ein wichtiger Punkt für die Leistungserbringer von Vorsorge- und Präventionsleistungen nach EBM ist die Tatsache, dass diese Leistungen zu einem Teil (z. B. Impfleistungen und Mamma-MRT) aus der Budgetierung des Honorarverteilungsvertrages (HVV) ausgenommen sind und somit weder der Facharztquotierung noch dem Individualbudget für Ärzte zugerechnet werden. Sie werden dann mit einem festen Punktwert über Einzelleistungsvergütung seitens der Krankenkassen finanziert. In der Tab. 40.2 ist für einen Großteil der Leistungen mit einem Punktwert von 5,11 Cent gerechnet worden, der regional unterschiedlich mit den Mitgliedern der Selbstverwaltung vereinbart worden sein kann. Die Quotierung für die Leistungen innerhalb der Budgetierung ist nicht berücksichtigt. Die angebotenen Leistungen wurden über die Internetpräsentationen der Bundesverbände folgender Krankenkassen (KK) recherchiert: ● Bundesverband AOK (Allg. Ortskrankenkassen) ● Bundesverband BKK (Betriebskrankenkassen) ● Bundesverband IKK (Innungskrankenkassen) ● Landwirtschaftliche KK ● Knappschaft+See-KK Hamburg ● DAK (Deutsche Angestellten-KK) ● AEV (Arbeiter-Ersatzkassen-Verband) Da die Leistungsinhalte der Vorsorgeleistungen verschiedener Kassenverbände nur sehr marginal unterschiedlich waren (z. B. Angebot von Virusgrippeimpfung für über 60 Jahre nicht einheitlich), wird in Tab. 40.2 die vollständigste Übersicht, die so auf der Internetpräsentation des AOK
Tabelle 40.1 Handlungsfelder und Präventionsprinzipien (nach [2]). Primärprävention nach § 20 Abs. 1 SGB V
Betriebliche Gesundheitsförderung nach § 20 Abs. 2 SGB V
Bewegungsgewohnheiten
arbeitsbedingte körperliche Belastungen
●
Reduktion von Bewegungsmangel durch gesundheitssportliche Aktivität ● Prävention und Reduktion spezieller Gesundheitsrisiken durch geeignete verhaltens- und gesundheitsorientierte Bewegungsprogramme
Vorbeugung und Reduzierung arbeitsbedingter körperlicher Belastungen des Bewegungsapparates
Ernährung
Betriebsverpflegung
Vermeidung von Mangel- und Fehlernährung sowie Vermeidung/Reduktion von Übergewicht
gesundheitsgerechte betriebliche Gemeinschaftsverpflegung
Stressbewältigung/Entspannung
psychosoziale Belastung
Förderung individueller Kompetenzen der Belastungsverarbeitung zur Vermeidung stressbedingter Gesundheitsrisiken
●
Förderung individueller Kompetenzen zur Bewältigung von Stress am Arbeitsplatz ● gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung
Suchtmittelkonsum
Suchtmittelkonsum
● ●
● ●
Förderung des Nichtrauchens gesundheitsgerechter Umgang mit Alkohol bzw. Reduzierung des Alkoholkonsums
370
rauchfreie Betriebe Null-Promille-Grenze am Arbeitsplatz bzw. bei der Arbeit
Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM
Tabelle 40.2 Prävention/Vorsorge in der gesetzlichen Krankenversicherung (nach [3, 4]). Thema
Früherkennungs-/Vorsorgeleistungen individuell (keine Praxisgebühr) gemäß §§ 25, 26 SGB V
EBMZiffer
Punkte EBM 2008
Euro bei Punktwert 5,11 Cent
HKL, Zucker, Niere
Check-Up 35 (alle 2 Jahre, ab dem Alter von 35 Jahren) Anamnese mit persönlichem Risikoprofil
03 111
900
45,99
eingehende körperliche Untersuchung
01 732
885
45,22
RR-Messung Labor Blut: Gesamtcholesterin
32 060
0,25
Labor Blut: Glukose
32 057
0,25
Labor Urin: Eiweiß, Blutkörperchen, Nitrit, Glukose
32 031
0,25
Beratung
03 120
in Versicherungspauschale
Gesamtleistung Krebs
Krebsfrüherkennung für Frauen (ab 20 Jahre) jährlich
91,96 01 730
510
26,06
01 733
210
10,73
Anamnese Inspektion des Muttermundes Abstrich vom Muttermund gynäkologische Tastuntersuchung zytologische Untersuchung Gesamtleistung Krebsfrüherkennung für Frauen (ab 30 Jahre) jährlich
36,79 01 730
510
26,06
Anamnese Inspektion des Muttermunds Abstrich vom Muttermund
40
gynäkologische Tastuntersuchung gezielte Anamnese Haut/Brust Inspektion und Abtasten der Brust und Achselhöhlen Anleitung zur regelmäßigen Selbstuntersuchung zytologische Untersuchung
01 733
210
Gesamtleistung
10,73 36,79
Krebsfrüherkennung für Frauen (ab 50 Jahre)* Beratung zur Früherkennung von Darmkrebs
01 740
290
Tastuntersuchung des Enddarms
14,82 0,00
Test auf verborgenes Blut im Stuhl
01 734
70
Gesamtleistung
3,58 18,40
Krebsfrüherkennung für Frauen (ab 55 Jahre)* Beratung zur Früherkennung von Darmkrebs
01 740
290
14,82
Test auf verborgenes Blut im Stuhl alle 2 Jahre oder
01 734
70
3,58
01 741
5500
Darmspiegelung alle 10 Jahre Gesamtleistung
281,05 299,45
Mammografie-Screening (50 – 69 Jahre) im Aufbau*
0,00
Einladung zu einem Mammografie-Screening
0,00
Röntgen der Brust durch Mammografie
01 750
1630
Information über Befund
01 752
120
Gesamtleistung
83,29 6,13 89,43
▶▶
371
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
Tabelle 40.2 Fortsetzung Thema
Vorsorge-/Früherkennungsleistungen individuell (keine Praxisgebühr) gemäß §§ 25, 26 SGB V
EBMZiffer
Punkte EBM 2008
Krebs
Krebsfrüherkennung Männer (ab 45 Jahre) jährlich
01 731
405
Euro bei Punktwert 5,11 Cent 20,70
gezielte Anamnese Begutachtung der Haut
I
Inspektion und Abtasten der äußeren Geschlechtsorgane Tastuntersuchung der Prostata Abtasten der regionären Lymphknoten
II
Gesamtleistung
20,70
Krebsfrüherkennung Männer (ab 50 Jahre) jährlich** gezielte Beratung zur Früherkennung von Darmkrebs
III
01 740
290
01 734
70
Test auf verborgenes Blut im Stuhl Gesamtleistung
IV V
Krebsfrüherkennung Männer (ab 55 Jahre)**
01 731
405
20,70
Beratung zur Früherkennung von Darmkrebs
01 740
290
14,82
Test auf verborgenes Blut im Stuhl alle 2 Jahre oder
01 734
70
3,85
01 741
5500
Darmspiegelung alle 10 Jahre Mutterschaftsvorsorge
3,85 18,40
Gesamtleistung
VI
14,82
Tastuntersuchung des Enddarmes
Mutterschaftsvorsorge
281,05 316,56
01 770
3035
155,09
Feststellung der Mutterschaft Ausstellung eines Mutterpasses Rötelntiter
VII
Rhesusfaktortest Ultraschall im Verlauf Kontrolluntersuchung alle 4 Wochen Kontrolluntersuchung in den letzten 2 Schwangerschaftsmonaten alle 2 Wochen Gesamtleistung (Gesamtkomplex) Kinder und Jugendvorsorge
U1 (direkt nach Geburt)
155,09 0,00
Herz-Kreislauf-Kontrolle
01 711
355
18,14
Beurteilung von Hautfarbe, Muskeltonus, Reflexen
0,00
Messung von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang
0,00
Besuch zur U1
01 721
560
Zuschlag bei pathol. Ergebnis
04 354
205
Gesamtleistung U1 (3 – 10 Tage nach der Geburt)
28,62 10,48 46,76
01 712
870
44,46
Messung von Gewicht, Körperlänge und Umfang des Kopfes
0,00
Untersuchung der Motorik
0,00
Untersuchung Herz
0,00
Untersuchung Lunge
0,00
Blutuntersuchung: Stoffwechsel, Hormonstörung
0,00
Besuch zur U2 Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung
01 721
560
04 354
205
28,62 10,48 37,07
▶▶
372
Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM
Tabelle 40.2 Fortsetzung Thema
Vorsorge-/Früherkennungsleistungen individuell (keine Praxisgebühr) gemäß §§ 25, 26 SGB V
EBMZiffer
Punkte EBM 2008
Euro bei Punktwert 5,11 Cent
Kinder und Jugendvorsorge
U3 (4.– 6. Lebenswoche)
01 713
870
44,46
Messung von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang
0,00
Kontrolle der Körperhaltung
0,00
Ultraschalluntersuchung des Hüftgelenkes
01 722
480
24,53
Zuschlag bei pathol. Ergebnis
04 354
205
10,48
01 714
870
Gesamtleistung U4 (3.– 4. Lebensmonat)
68,99 44,46
Prüfung des Bewegungsverhaltens eingehende körperliche Untersuchung Messung von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang Untersuchung des Hüftgelenks Prüfung des Hörvermögens Kontrolle des Nervensystems Prüfung des Sehvermögens (Verfolgung eines Gegenstandes mit den Augen) Impfleistungen (Kombinationsimpfung)
0,00
Zuschlag bei pathol. Ergebnis
04 354
205
Gesamtleistung U5 (6.– 7. Lebensmonat)
10,48 44,46
01 715
870
44,46
04 354
205
10,48
Messung von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang eingehende körperliche Untersuchung
40
Prüfung der altersgemäßen Entwicklung Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung U6 (10.– 12. Lebensmonat)
44,46 01 716
870
04 354
205
44,46
Kontrolle der Beweglichkeit Kontrolle der Sprache eingehende körperliche Untersuchung Messung von Gewicht, Körperlänge und Umfang des Kopfes Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung U7 (21.– 24. Lebensmonat)
10,48 44,46
01 717
870
04 354
205
44,46
Kontrolle der Sinnesorgane Kontrolle der motorischen, geistigen und sozialen Entwicklung Beurteilung der Sauberkeitsentwicklung Messung von Gewicht, Körperlänge Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung U8 (3,5.– 4. Lebensjahr)
10,48 44,46
01 718
870
44,46
04 354
205
10,48
Überprüfen der körperlichen Geschicklichkeit Messung von Gewicht, Körperlänge Überprüfung des Seh-, Hör- und Sprachvermögens Überprüfung der sozialen Entwicklung Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung
44,46
▶▶
373
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
Tabelle 40.2 Fortsetzung Thema
Vorsorge-/Früherkennungsleistungen individuell (keine Praxisgebühr) gemäß §§ 25, 26 SGB V
EBMZiffer
Punkte EBM 2008
Euro bei Punktwert 5,11 Cent
Kinder und Jugendvorsorge
U9 (5 – 5,5 Jahre)
01 719
870
44,46
04 354
205
I
Überprüfen der körperlichen Geschicklichkeit Messung von Gewicht, Körperlänge Überprüfung des Seh-, Hör- und Sprachvermögens Überprüfung der sozialen Entwicklung orthopädische Fehlentwicklung
II
Einschätzung der Schulreife Zuschlag bei pathol. Ergebnis Gesamtleistung
III
J1 Jugendgesundheitsuntersuchung (Kinder-, Haus- oder Jugendarzt)
10,48 44,46
01 720
1005
51,36
04 354
205
10,48
eingehende Anamnese Messung von Gewicht, Körperlänge
IV
Beurteilung von Störungen im Wachstum RR-Messung Untersuchung von Hals-, Brust- und Bauchorganen
V
Beurteilung von Auffälligkeiten des Skelettsystems Zuschlag bei pathol. Ergebnis
VI
VII
Gesamtleistung Zahnprophylaxe nach § 26 SBG V sowie § 22 SGB V Individualprophylaxe Zahnerkrankungen
51,36
1.– 6. Lebensjahr Vorsorgeleistungen (3-mal pro Kalenderjahr)
0,00
Einschätzung des Kariesrisikos
0,00
Mundhygieneberatung
0,00
Inspektion der Mundhöhle
0,00
Motivation zur Prophylaxe
0,00
evtl. Fluoridierung der Zähne
0,00
6.– 18. Lebensjahr (einmal pro Kalenderjahr)
0,00
Einschätzung des Kariesrisikos
0,00
Mundhygieneberatung
0,00
Inspektion der Mundhöhle
0,00
Motivation zur Prophylaxe
0,00
evtl. Fluoridierung der Zähne
0,00
Vorsorgeuntersuchung ab 18. Lebensjahr
0,00
Mundhygieneberatung
0,00
Inspektion der Mundhöhle
0,00
evtl. Zahnsteinentfernung
0,00
evtl. Sensibilitätsprüfung
0,00
evtl. parodontale Untersuchung
0,00
evtl. Röntgenaufnahme Kiefer
0,00
▶▶
374
Gesetzlich vorgesehene Vorsorgeleistungen nach EBM
Tabelle 40.2 Fortsetzung Thema
Vorsorge im Sinne von Beseitigung von Schwäche der Gesundheit gemäß § 23 SGB V
EBMZiffer
ambulante medizinische Vorsorgeleistung
Inhalte:
individuell, Komplettübernahme von der Kasse
kurärztliche Behandlung einschließlich der Arzneimittel (Beachtung des üblichen Eigenanteils)
Punkte
Euro bei Punktwert 5,11 Cent
kurortspezifische Heilmittel (z. B. Bäder und Massagen) spezifische Heilmittel (z. B. Krankengymnastik) Fahrtkosten, Kost und Logis
13 €/d wird von der Kasse beigesteuert
Kompaktkur ambulant
spezielle Kurform für und in Gruppen (z. B. Diabeteskranke) mit zusätzlichen Informationsveranstaltungen
individuell
stationäre Vorsorgeleistung
Inhalte: kurärztliche Behandlung inkl. der Arzneimittel
individuell, Komplettübernahme von der Kasse, Zuzahlung Eigenanteil von 10 €/d
kurortspezifische Heilmittel (z. B. Bäder und Massagen) spezifische Heilmittel (z. B. Krankengymnastik) Fahrtkosten, Kost und Logis
Thema
Medizinische Vorsorge für Mütter und Väter gemäß § 24 SGB V
EBMZiffer
Mutter/VaterKindkuren (üblicher Zeitraum: 3 Wochen)
Inhalte: individuell
individuell (die Kosten werden komplett von der Kasse übernommen, Eigenanteil von 10 Euro pro Tag, Zuschuss für An- und Abreise 13 Euro)
Thema
Vorsorge im Sinne von Krankheitsverhütung gemäß § 23 Abs. 9 SGB V
GOPunkZiffer*** te***
Euro bei Punktwert 4,47 Cent***
8926
320
14,30
8928
180
8,05
8928
180
8,05
8920
180
8,05
8920
180
8,05
Impfungen
Punkte
Euro bei Punktwert 5,11 Cent
ab Alter von 3 Monaten Kombinationsimpfung gegen: Diphtherie, Pertussis, Tetanus, Poliomyelitis, Hepatits B, Haemophilus influenzae 12.– 15. Lebensmonat 1. Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln 16.– 24. Lebensmonat 2. Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln ab Beginn des 5. Lebensjahres Auffrischung gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis im Alter von 9 – 17 Jahren Auffrischung gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis evtl. Grundimmunisierung Hepatitis B, falls nicht vorhanden Mädchen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs (HPV)
keine Angaben
* zusätzlich zur Früherkennungsuntersuchung der Frau ab 30 Jahre ** zusätzlich zur Früherkennung für Männer ab 45 Jahre ***beispielhaft nach dem Vertrag zwischen AOK und KV Nordrhein 2002 HKL = Herz-Kreislauf, RR = Blutdruck, HPV = humanes Papillomavirus
375
40
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
I II III IV V VI
VII
Bundesverbandes zu finden ist [3], zusätzlich mit der EBM-Punktebewertung dargestellt. Es fällt auf, dass teilweise differenzierte hochwertige (z. B. über Bildgebung bei Mammakarzinom) Früherkennungsuntersuchungen im Bereich der Krebsvorsorge vorgesehen sind, aber der Bereich der Stoffwechsel- und Kreislauferkrankungen mit einem sehr reduzierten Angebot (Check-Up 35), vertreten ist. Der Bereich der Kinderund Jugendvorsorgeuntersuchungen ist sehr differenziert und engmaschig ausgestaltet. Dabei stützt sich das Angebotsportfolio der Leistungen auf Leitlinien, die zu den jeweiligen Themengebieten von den Bundesausschüssen der Ärzte und den Krankenkassen erarbeitet wurden. Präventionsangebote, die über diese Leitlinien hinausgehen, werden von keiner der o. g. Versicherer im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Die Leistungen im Bereich der Impfungen stützen sich auf die Vorschläge der STIKO (ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts). Die Abrechnung erfolgt hier über gesondert vereinbarte Ziffern und Punkte, die vertraglich zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) fixiert sind. In der Darstellung wurde beispielhaft der Vertrag aus 2002 der KV Nordrhein und der AOK Rheinland zugrunde gelegt.
40.1.3 Leistungen im Bereich der Primärprävention und Gesundheitsförderung Wie in der Einleitung beschrieben, handelt es sich um Leistungen innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen des § 20 SGB V. Gemäß dem von allen Kassenverbänden gemeinschaftlich entwickelten Leitfaden zur Prävention [2], werden die Leistungen differenziert nach folgenden Ansätzen: ● individueller Ansatz ● betriebliches Setting ● nichtbetriebliches Setting Allen Ansätzen ist gemein, dass eine Qualitätssicherung durch Dokumentation und Evaluation der erbrachten Leistungen zu erfolgen hat. Hierbei müssen die angewendeten Methoden der Interventionen differenziert dargelegt werden. Ebenfalls werden spezifische Zielgruppen und Kooperationspartner in jedem Setting definiert. Die konkreten Handlungsfelder werden nach dem in der Einleitung beschriebenen Zielsystem festgelegt. Die Ergebnisse und der aktuelle Stand der Maßnahmen in der Primärprävention und Gesundheitsförderung werden in einem jährlichen Bericht (Präventionsbericht) veröffentlicht [2].
376
Individueller Ansatz Die Haupthandlungsfelder für die Prävention nach dem individuellen Ansatz sind: ● Bewegung ● Ernährung ● Stress bzw. Stressbewältigung ● Sucht bzw. Suchtmittelkonsum Der Schwerpunkt der Inanspruchnahme der Kursangebote lag in den letzten Jahren deutlich und mit steigender Tendenz auf den Kursen des Themenkreises Bewegung, gefolgt von Ernährung und Stress. Die Angebote im Bereich Sucht/Suchtmittelkonsum wurden dagegen kaum wahrgenommen. Die Kursanbieter setzten sich wie folgt zusammen: ● Krankenkasse ● Kooperationspartner ● fremde Kassen ● sonstige Anbieter Den größten Teil der Kursangebote deckten die sonstigen Anbieter ab (Ausnahme der Bereich Ernährung, den die Kassen hauptsächlich selber anbieten). Überdurchschnittlich häufig werden Präventionsangebote nach individuellem Ansatz von Frauen in Anspruch genommen [5]. Konkrete Aktionen im Bereich Individualprävention war z. B. „IKKimpuls“, gezielte Kurse der IKK für Versicherte zu den Themen Ernährung, Bewegung und Entspannung. Neben den o. g. üblichen Handlungsfeldern gibt es innerhalb dieser Programme auch den Komplex „individuelle Beratung“. Im Handlungsfeld Sucht liegt innerhalb dieses Programms der Schwerpunkt auf der Raucherentwöhnung.
Betriebliches Setting In betrieblichen Ansätzen wird bei den Interventionen grundsätzlich zwischen verhaltens- (z. B. Rauchverhalten) und verhältnisbezogenen (z. B. Arbeitsplatzgestaltung) Aktivitäten differenziert. Eine Mischung aus beiden Komponenten wird als wünschenswert angestrebt. Die angesprochenen Inhalte der Interventionen waren: ● Reduktion körperlicher Belastung ● gesundheitsgerechte Gemeinschaftsverpflegung ● Stressmanagement ● gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung ● Umgang mit Genuss- und Suchtmitteln Konkrete Zielgruppen der Interventionen im betrieblichen Setting sind: ● Mitarbeiter der Produktion ● gesundheitsgefährdete Gruppen ● Führungsebene, mittlere Leitungsebene ● Mitarbeiter der Verwaltung ● Frauen
Honorare verschiedener Check-Up-Leistungen nach GOÄ
● ●
ältere Arbeitnehmer ausländische Arbeitnehmer
Bei den Interventionsmethoden handelte es sich um [5]: Gruppenkurse ● individuelle Beratung ● arbeitsplatzbezogene praktische Anleitung ● Gesundheitstage/-wochen ● Seminare ● Rollenspiele ●
Konkrete Aktionen im Bereich der betrieblichen Settings sind z. B. [3, 5]: ● „Airport Bremen hebt ab“. Zielgruppe: alternde Belegschaft; Inhalt: Prävention von Erkrankungen des Bewegungsapparats; Unternehmen: Flughafen Bremen und Kooperationspartner ● „Gesund und fit, ich mach mit“. Zielsetzung: systematische Förderung und Implementierung von Präventionszielen in die Unternehmenskultur, Einführung von Gesundheitsmanagement; Zielgruppen: Führungsebene, mittlere Leitungsebene; Unternehmen: TSTG Schienen Technik GmbH und Kooperationspartner ● „AOK Service gesunde Unternehmen“. Zielgruppe: Unternehmen; Inhalt: Beratungsleistungen für Maßnahmenkataloge; Unternehmensanalysen, Unterstützung bei Dokumentation und Erfolgskontrolle; Unternehmen: AOK Bundesverband und Kooperationspartner.
Als Zielgruppen der Interventionen gelten: Frauen/Mädchen ● Männer/Jungen ● Mediatoren (z. B. Lehrer, Erzieher) ● mit Gesundheitsgefährdung belastete Gruppen ●
Die Interventionsmethoden zum Erreichen der gesteckten Ziele sind Demonstration, Vorträge, Rollenspiele, Diskussionen, individuelle Beratung, Fortbildung von Mediatoren, Gesundheitstage und themenzentrierte Gruppenarbeit. Konkrete Projekte im Bereich der nichtbetrieblichen Settings [3, 5, 7]: ● „Gesunde Schule – ein Pilotprojekt im Land Brandenburg“. Ziel: Schaffung gesundheitsfördernder Strukturen an Schulen. Initiator: Arbeitskreis Primärprävention ● „Gesund leben lernen“. Ziel: Schaffung gesundheitsfördernder Strukturen in Schulen; Kassenverbände auf Bundesebene ● „Gesundheitsmanagement in Schulen“. Teilprojekt von „Gesund leben lernen“ in Niedersachsen
Weblinks ● World Health Organization: www.who.int ● Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförde-
rung (ENWHP): www.enwhp.org ● Deutsches Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung
(DNBGF): www.dnbgf.de
Nichtbetriebliches Setting
● Initiative Gesundheit & Arbeit (iga): www.iga-info.de ● Deutsches Forum Prävention und Gesundheitsförderung
Im „nichtbetrieblichen Setting“ wird versucht, die Menschen über andere öffentliche und nichtöffentliche Einrichtungen außerhalb der Betriebe und Arbeitsplätze anzusprechen. Dazu gehören: ● Schulen ● Kindergärten ● soziale Einrichtungen ● Familien ● Gemeinden Die Haupthandlungsfelder ähneln den Handlungsfeldern in betrieblichen Settings und im Individualansatz: ● Bewegung ● Ernährung ● Stressreduktion/Entspannung ● gesundheitsgerechter Umgang miteinander ● Sucht/Suchtmittelkonsum Hinzu kommen jedoch als weitere Handlungsfelder: gesunde Umwelt ● Gewaltprävention ● Selbstwertstärkung ● Sexualpädagogik ● Unfallprävention ●
(DFPG): www.forumpraevention.de ● Bundesvereinigung Prävention und Gesundheit e. V. (BVPG):
www.bvgesundheit.de
40.2 Honorare verschiedener CheckUp-Leistungen nach GOÄ Da die Check-Up-Leistungen nach EBM (s. S. 370 ff) in einigen Bereichen nur sehr eingeschränkten Leistungsumfang bieten, gibt es erheblichen Bedarf an zusätzlichen Früherkennungs- bzw. Präventionsleistungen, die nicht selten auch mit Unterstützung von Arbeitgebern finanziert werden. Diese werden häufig in Anlehnung an die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ, [8]) abgerechnet, die Grundlage für die Vergütungsleistungen der Privatversicherer ist, da nur dann eine Kostenübernahme der Privatversicherer für solche erweiterte und umfassende Früherkennungs-/Präventionsleistungen möglich ist. Eine gesetzliche Verpflichtung, solche sog. „Leistungen auf Verlangen“ auf Grundlage der GOÄ abzurechnen und entsprechende Preisbildung zu betreiben, besteht für den Leistungsanbieter nicht.
377
40
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
I II III IV V VI
VII
Die Leistungen werden von einigen Privatversicherungen und Zusatzversicherungen ganz oder teilweise nach individuellen Vertragsvereinbarungen übernommen. Der Versicherte muss sich bei Inanspruchnahme individuell von seinem Versicherer beraten lassen. Die Leistungen können aber auch über den Patienten/Kunden selbst finanziert werden (Selbstzahler). Ein generelles Anrecht auf Erstattung durch die privaten Versicherungen gilt nur für die gesetzlich vorgeschriebenen Früherkennungsund Präventionsleistungen, wie oben unter Vorsorgeleistungen nach EBM beschrieben, allerdings dann nach den Gebührensätzen der GOÄ [9]. Nach einer Marktanalyse aus dem Jahre 2005 mit Anbietern aus dem gesamten Bundesgebiet, die sich auf das
Angebot von Präventionsleistungen spezialisiert haben, bewegten sich die geforderten Preise für umfassende Check-Up-Programme unter Einbezug von aufwendigen Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (CT, MRT, Ultraschall) zwischen 500 (im bildgebenden Leistungsumfang nur Ultraschalluntersuchung) und 3900 €. Check-UpProgramme, die keine bildgebenden Verfahren einschließen, sind bei den untersuchten Anbietern eher die Ausnahme und bewegen sich in einem Preisniveau zwischen 90 und 190 €. Das Einzelleistungsspektrum der untersuchten Anbieter weist zwar Überschneidungen auf (s. Tab. 40.3), ist aber insgesamt sehr heterogen, was den Preisvergleich schwierig macht. Für den in der Regel nicht fachkundigen
Tabelle 40.3 Auswahl möglicher Früherkennungs-/Vorsorgeleistungen nach GOÄ [8]. Materialkosten außerhalb der Dienstleistung wie. zb. B. Röntgen- oder Magnetresonanz-Kontrastmittel sind nicht berücksichtigt Anamnese, körperliche Untersuchung, Beratung
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 2,3-facher Satz
Beratung auch mittels Fernsprecher
1a
80
10,72
Erhebung der ausführlichen Anamnese/Fremdanamnese über einen Kranken und/oder Unterweisung und Führung der Bezugsperson(en) im Zusammenhang mit der Behandlung eines Kranken
4a
220
29,49
Gesundheitsuntersuchung bei einem Erwachsenen
29
440
58,99
RR*
2
30
3,15
Temperatur*
2
30
3,15
Puls*
2
30
3,15
Körpergröße*
2
30
3,15
Körpergewicht*
2
30
3,15
Hüftumfang*
2
30
3,15
Taillenumfang*
2
30
3,15
Hautfaltendicke*
2
30
3,15
Bioimpedanz (analog EKG, siehe MA)
651a
253
33,92
Erörterung der Auswirkung einer Krankheit (mind. 20 min)
34a
300
40,22
strukturierte Schulung (z. B. Diabetes mellitus)
33a
300
40,22
Diätplan
76
70
9,38
präventive Medikation
76a
70
9,38
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie)
75
130
17,43
Individuell Basislabor
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,15-facher Satz
Blutentnahme*
250
40
4,20
Blutkörperchensenkungsreaktion (BKS, BSG)
3501
30
2,01
Blutbild und Blutbildbestandteile
3550
60
4,02
Differenzierung der Leukozyten (Differenzialblutbild)
3551
20
1,34
Kalzium
3555
40
2,68
Natrium
3558
30
2,01
Chlorid
3556
30
2,01
Magnesium
3621
40
2,68
▶▶
378
Honorare verschiedener Check-Up-Leistungen nach GOÄ
Tabelle 40.3 Fortsetzung Individuell Basislabor
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,15-facher Satz
Kalium
3557
30
2,01
Glukose
3560
40
2,68
Glykohämoglobine (HbA1, HbA1c)
3561
200
13,41
Harnsäure
3583.H1
40
2,68
Plasmathrombinzeit (PTZ, TZ), Doppelbestimmung
3606
70
4,69
partielle Thrombinzeit (PTT)
3605
50
3,35
Kreatinin
3585H1
40
2,68
Kreatinkinase (CK)
3590.H1
40
2,68
GOT
3594.H1
40
2,68
GPT
3595.H1
40
2,68
GGT
3592.H1
40
2,68
alkalische Phosphatase
3587.H1
40
2,68
Gesamteiweiß
3573.H1
30
2,01
Cholesterin
3562.H1
40
2,68
LDL-Cholesterin
3564.H1
40
2,68
HDL-Cholesterin
3563.H1
40
2,68
Triglyzeride
3565.H1
40
2,68
Urinstatus
3511
50
3,35
Cystatin-C
4208
410
27,48
Fibrinogen (nach Clauss, koagulometrisch)
3933
100
6,70
APC-Restistenz
3951
450
30,16
Ferritin
3742
250
16,76
hochsensitives CRP
3741
200
13,41
TSH basal, ggf. freies T 3 und T 4
4030
250
16,76
Hepatitis-A-Viren
4641
250
16,76
Hepatitis-B-Viren (HBe-Antigen)
4642
250
16,76
Hepatitis-B-Viren (HBs-Antigen)
4643
250
16,76
Mikroalbuminurie (Proteinelektrophorese)
3761
250
16,76
Test auf okkultes Blut im Stuhl (FOBT)
3650
60
4,02
Labor Gesamt Individuell Ultraschall
40
264,27 GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 2,3-facher Satz
Ultraschall eines Organs
410
200
26,81
Ultraschall 3 weitere Organe, je Organ
420
80
Oberbauchsonografie
Oberbauchsonografie Gesamt
10,72 37,54
Schilddrüsensonografie Ultraschall der Schilddrüse
417
210
Schildrüsensonografie Gesamt
28,15 28,15
Hochauflösender 2 D-Ultraschall 2 D- und 3 D-Echokardiografie
423
500
67,03
Ultraschall eines Organs
410
200
26,81
CW-Doppler-Zuschlag
405
200
26,81
Farbkodierung
406
200
Hochauflösende 2 D-Ultraschall Gesamt
26,81 147,47
▶▶
379
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
Tabelle 40.3 Fortsetzung Individuell Magnetresonanztomografie (MRT)
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,8-facher Satz
konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz),
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Höchstwert
5735
6000
629,50
zusätzliche Sequenz
5731
1000
104,92
Spulenwechsel
5732
1000
104,92
3 D-Rekonstruktion etc.
5733
800
83,93
Kontrastmittelinjektor
346
300
31,48
weitere Kontrastmittel
347
150
15,74
Ganzkörper-MRT
I II III IV V VI
VII
Ganzkörper-MRT Gesamt
1021,48
Kardio-MRT Linksventrikuläre Funktion konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz),
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Thorax
5715
4300
451,14
zusätzliche Sequenz
5731
1000
104,92
3 D-Rekonstruktion etc.
5733
800
83,93
Kontrastmittelinjektor
346
300
31,48
347
150
weitere Kontrastmittel Kardio-MRT Gesamt
15,74 738,21
MRT-Angiografie Hals- und Kopfgefäße konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten,
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie)
75
130
26,52
Kopf
5700
4400
461,64
zusätzliche Sequenz
5731
1000
104,92
Spulenwechsel
5732
1000
104,92
3 D-Rekonstruktion etc.
5733
800
83,93
Kontrastmittelinjektor
346
300
31,48
347
150
15,74
weitere Kontrastmittel
MRT-Angiografie Hals- und Kopfgefäße Gesamt 853,62 MRT-Angiografie Becken-Bein-Gefäße konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie)
75
130
26,52
Höchstwert
5735
6000
629,50
zusätzliche Sequenz
5731
1000
104,92
Spulenwechsel
5732
1000
104,92
▶▶
380
Honorare verschiedener Check-Up-Leistungen nach GOÄ
Tabelle 40.3 Fortsetzung Individuell Magnetresonanztomografie (MRT)
GOÄZiffer
3 D-Rekonstruktion etc.
5733
800
83,93
Kontrastmittelinjektor
346
300
31,48
347
150
15,74
weitere Kontrastmittel
Punkte
MRT-Angiografie Becken-Bein-Gefäße Gesamt Individuell Computertomografie (CT)
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,8-facher Satz
1021,48
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,8-facher Satz
konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz)
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Hals/Thorax
5371
2300
241,31
Monitoring (2,3-facher Satz)
650
152
20,38
CT Kalzium-Scoring
CT Kalziumscoring Gesamt
312,69
CTA (nichtinvasive Koronarangiografie) konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz)
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Hals/Thorax
5371
2300
241,31
zusätzliche Serie
5376
500
52,46
3 D-Rekonstruktion etc.
5377
800
83,93
Kontrastmittelinjektor
346
300
31,48
weitere Kontrastmittel
347
150
15,74
CTA Gesamt
40
475,92
CT Lungen-Scan konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz)
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Hals/Thorax
5371
2300
241,31
3 D-Rekonstruktion etc.
5377
800
CT Lungen-Scan Gesamt
83,93 376,24
CT Virtuelle Koloskopie konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz)
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Abdomen
5372
2600
272,78
3 D-Rekonstruktion etc.
5377
800
CT Virtuelle Koloskopie Gesamt
83,93 407,72
▶▶
381
Kosten von Check-Up-Programmen und Gesundheitsmaßnahmen
Tabelle 40.3 Fortsetzung Individuell Computertomografie (CT)
GOÄZiffer
Punkte
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 1,8-facher Satz
konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr liquidationsberechtigten Ärzten (3,5-facher Satz)
60
120
24,48
ausführlicher schriftlicher Krankheits- und Befundbericht (inkl. Angaben zur Anamnese, zu dem[n] Befund[en], zur epikritischen Bewertung und ggf. zur Therapie) (3,5-facher Satz)
75
130
26,52
Bestimmung des Mineralgehalts (Osteodensitometrie)
5380
300
31,48
Skelett/Wirbelsäule
5373
1900
CT Osteodensitometrie (Knochendichte)
I II
CT Osteodensitometrie Gesamt
III
Individuell HKL-Fitness
199,34 281,82
GOÄZiffer
Punkte
651
253
Honorar (€) bei Punktwert 5,8 Cent, 2,3-facher Satz
12-Kanal-EKG
IV
elektrokardiografische Untersuchung (9 Ableitungen) 12-Kanal-EKG Gesamt
33,92 33,92
Belastungs-EKG
V
orientierende Tests (Borg-Skala) Belastungs-EKG
857
116
652
445
Belastungs-EKG Gesamt
VI
VII
15,55 59,66 75,21
Ergospirometrie/Fitness-Assessment auf dem Laufband- oder Halbliegend-(Ergoline-)Ergometer (Cooper) Laktatstufentest (5 x Laktatmessung)*
4107
900
120,65
Belastungs-EKG
652
445
59,66
ergospirometrische Untersuchung
606
379
50,81
Gasanalyse
617
341
45,71
Grundumsatz mit CO2
666a
227
30,43
796
152
ergometrische Funktionsprüfung
Ergospirometrie Gesamt ohne Laktatmessung
20,38 206,99
Lungenfunktionsmessung (kleine Spirometrie) spirografische Untersuchung
605
242
32,44
Darstellung der Flussvolumenkurve
605a
140
18,77
Lungenfunktion Gesamt
51,21
*Beschränkung auf 1,8-fachen Satz RR = Blutdruck, GOÄ = Gebührenordnung für Ärzte, EKG = Elektrokardiografie, GOT = Glutamat-Oxalat-Transaminase, GPT = Glutamat-Pyruvat-Transaminase, GGT = Gamma-Glutamyl-Transferase, CRP = C-reaktives Protein, TSH = thyroideastimulierendes Hormon, MRT = Magnetresonanztomografie, CT = Computertomografie, HKL = Herz-Kreislauf
Verbraucher ist hier eine Orientierung und Beurteilung des Preis-/Leistungsverhältnisses schwierig. Die Bereitstellung detaillierter Informationen zur Sinnhaftigkeit der bereitgestellten Leistung und eine umfassende individuelle Kunden-/Patientenberatung durch das Präventionskompetenzteam wird in den entsprechenden Präventionszentren notwendige Erfolgsbasis. Um einen kleinen Überblick über weitere mögliche Präventionsangebote und deren Abrechnungsgrundlagen zu geben, haben wir eine Auswahl möglicher und häufig über private Leistungsersteller angebotene Leistungen der Präventionsmedizin zusammengestellt (Tab. 40.3).
382
40.3 Lebensstilberatung und Coaching Seit der Implementierung des § 20 SGB V ist, wie oben beschrieben, die Grundlage für die gesetzlichen Krankenversicherer geschaffen, sich an der Gesundheitsförderung auch durch das Angebot von Kursen im Bereich der Lebensstilberatung und -änderung aus verschiedenen Bereichen zu beteiligen. Das Besondere dieser Kursangebote ist eine einheitliche Grundlage im Bereich des Qualitätsmanagements nach der Forderung durch den gemeinsam mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen erarbeiteten Leitfaden zur Prävention. Auf Grundlage dieser Forde-
Lebensstilberatung und Coaching
rungen wurden für alle Krankenkassen einheitliche Materialien erarbeitet, die es möglich machen, die Forderungen im Bereich der Strukturqualität, Dokumentation und Evaluation durchzusetzen und bei den unterstützten externen Leistungsanbietern zu gewährleisten. So müssen externe Kursanbieter in Antragsbögen zur Angebotsteilnahme dezidierte Informationen zu Zielen, Inhalten und Methoden der Kurse fixieren. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die fachliche Qualifikation des vorgesehenen Personals [10].
Literatur 1. Sozialgesetzbuch (SGB). Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477). www.gesetze-im-internet. de/sgb_5. 2. Spitzenverbände der Krankenkassen. Leitfaden Prävention. Gemeinsame und einheitliche Handlungsfelder und Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 1 und 2 SGB V vom 21. Juni 2000, in der Fassung vom 10. Februar 2006. 2. korrigierte Auflage. Fe-
derführend für die Veröffentlichung: IKK Bundesverband, Bergisch-Gladbach. 2006. 3. AOK Bundesverband, Prävention/Vorsorge. www.aok-bv. de/gesundheit/praevention/index.html. 4. EBM 2000plus – Einheitlicher Bewertungsmaßstab der KBV. www.ebm2000plus.de. 5. Medizinischer Dienst der Spitzenverbände (MDS). Dokumentation 2005. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in der Primärprävention und der betrieblichen Gesundheitsförderung. Essen; 2005. 6. IKK Bundesvereinigung. IKKimpuls – unser Angebot für Sie. www.ikk.de. 7. BKK Bundesverband. Gesundheitsvorsorge und Früherkennung. www.bkk.de/. 8. Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) online. www.e-bis.de/ goae. 9. PKV-Verband. Früherkennung/Prävention. www.derprivatpatient.de/arzt/ambulante-leistungen/frueherkennungpraevention.html. 10. Spitzenverbände der Krankenkassen, Materialien zum Qualitätsmanagement in der Primärprävention und der betrieblichen Gesundheitsförderung nach § 20 SBG V. 2001. www.bkk.de/bkk/psfile/downloaddatei/7/qs_materia3ec8872b22aa0.pdf.
40
383
Sachverzeichnis
Sachverzeichnis
A ABCD-Regel 101 Abhängigkeit 342 f Abhängigkeitserkrankungen, Leistungszuständigkeit 347 Absaugung 242 ABSD2-Score, stattgehabte TIA 51 Acamprosat 349 Acetylcholinrezeptor, nikotinerger 334 Acetylsalicylsäure (ASS) 46, 53 Adenokarzinom 85 Adenom – Abtragung 90 – flaches 88 Adenom-Karzinom-Sequenz 88 Aderlass 305 Adipositas 15 – Atherosklerose 32 f – kardiovaskuläres Risiko 42 – Naturheilkunde 305 Adipositastherapie, Diäten 317 f ADME-Proteine 276 Adrenalin 178 Adrenalinapplikation 245 f Adressen, wichtige 358 ff Agatston-Score 38 Aging, Definition 167 Aging-Male-Syndrom 147 ff, 154 ff – Prävention 156 f AKTIVA-Projekt 62 Aktivierung, kognitive 61 Aktivität, körperliche 14 – – Demenz 61 – – kardiovaskuläre Mortalität 14 Akupunktur des Westens 298 Albumin 33 f Alkohol 14, 102, 168 – assoziierte Erkrankungen 342 f Alkoholabhängigkeit – evidenzbasierte Medizin 349 – Therapie 347 ff Alkoholentzug 347 ff – Motivationsarbeit 348 Alkoholismus 342 ff Alkoholkonsum, gesundheitsförderlicher 342 Alkohol-Konsummarker 237 Alkoholmarker, klinisch-chemische, Fahreignungsbegutachtung 237 Alkoholmissbrauch – Fragebögen 346 – Laborparameter 345 f – Testverfahren 346 Allergie 159 ff – Impfung 200 Allergische Erkrankungen, Primärprävention 164 Alltag, Trainingsplanung 310 Altersschwerhörigkeit 122 Alterungsprozess 59 Alzheimer-Demenz 58 f
384
AMD-Screening 70 Amsler-Test 70 f Anamnese 10 Anamnese-Fragebogen 18 – Sportler 187 f Androgendefizit, partielles, des alternden Mannes (PADAM) 155 Androgene 152 Androgenmangel, altersbedingter 170 Androgenmangelsyndrom 157 Anerkennung, soziale 323, 326 Aneurysma, unrupturiertes intrakranielles 55 f Anforderungs-Kontroll-Modell 326 Angststörung 175 – psychosozialer Check-Up 176 Anpassungsfähigkeit, krankheitsbedingt eingeschränkte 180 Anthropometrie 33, 186 f Anti-Aging-Maßnahmen, wichtigste 171 Anti-Aging-Medizin 167 ff Anti-Aging-Therapie 143 Anti-Craving-Behandlung 349 Antidementiva 62 Antidepressiva, trizyklische, therapeutischer Misserfolg 275 Antigen, prostataspezifisches (PSA) 24, 153 Antihistaminika 163 Antimetaboliten, topische 106 Antioxidanzien 168 Antiphlogistika – systemische nichtsteroidale (NSAR) 104 – topische nichtsteroidale 104 Anti-Raucher-Mittel 337 Apolipoprotein A1 282 Arbeitsbedingte Erkrankungen 252 Arbeitsmedizin 248 ff – Qualitätssicherung und Wirksamkeitsnachweis 256 f Arbeitsschutz 248 ff, 257 – Instrumente 252 f – medizinischer 252 f – technischer 252 Arbeitsstofftoleranzwert, biologischer 255 Arbeitsunfähigkeit 175 Arbeitsunfall 248 Armut 326 ARRIBA – Risikostratifizierung 19 ff – Veränderung des Risikos 21 ARRIBA-Beratungskonzept 13 Arteria carotis interna, Abgangsstenose 54 Arteriolen, verengte retinale 64 arterio-venöse Ratio (avRatio) 66 Arthrose 108, 110 Arzneimittel – Fahreignung 234 – Fahrsicherheit 236
Arzneimittelmetabolismus, Genfamilien 276 Arzt, präventiv arbeitender, Kernaufgaben 7 Asbestbelastung, berufliche 79, 251 f Asien, Impfung 211 Assoziationsstudien 268 f Asthma bronchiale 162 – allergisches 159 – – Behandlung 162 – belastungsinduziertes 185 – Rauchen 165 Atemgase, Tauchen 220 Atemminutenvolumen (VE) 195 Atemorgane, Tauchen, Kontraindikationen 223 Atemspende 242 Atemtherapie 305 Atherosklerose 3, 29 ff – bildgebende Diagnostik 34 ff – Genanalyse 34 – genetische Faktoren 268 ff – kardiovaskuläre, bildgebende Verfahren 35 – Labordiagnostik 33 f – Marker 51 – Parodontitis 129 – präklinische Diagnostik 32 ff – präventivmedizinische Diagnostik 40 ff – Risikoeinteilung 41 f – Risikomarker 31 – Verhinderung 28 Atheroskleroserisiko – Genchip-Analyse 271 f – genetische Risikofaktoren 272 f Atmung – Prüfung 241 – Yoga 293 Atopie 159 ff Atrophie, urogenitale 144 Attacke, transiente ischämische (TIA) 49 AUDIT-C 346 Auffrischimpfung 199 Auftauchen 220 Augenheilkunde 64 ff – telemedizinische Fundusuntersuchungen 66 ff Augeninnendruck 73 Augenkrankheiten, Vorsorgeuntersuchungen 70 ff Ausdauersport, koronare Herzkrankheit 44 f Ausdauertraining 304 – zu intensives 311 Auslandsaufenthalt 205 Auslandsmitarbeiter 207 ausleitende Verfahren 305 Ausleitung 291 Ausreiseuntersuchung 206 – Impfung 207 Auswurf, blutiger 85
Sachverzeichnis
Autofluoreszenzbronchoskopie 82 Autogenes Training 330 Autonomie 323 Ayurveda 286 ff – Diagnostik 287 f – Grundkonzept 291 – Qualitätssicherung 286 f – Rhythmus der Natur 289
B Bakteriurie, asymptomatische 141 Balance – psychosoziale 323 ff – – aktuelle, Bewertung 330 – – gestörte 327 ff – – koronare Herzkrankheit 45 f – – sozialanamnestische Hinweise 328 – – Stärkung 330 f Basalzellkarzinom 98, 100 – ethanolhaltige Getränke 102 Basisreanimation 243, 247 BAT-Wert 255 Bauchfett, viszerales 189 Bauchumfang 189 Beatmungsmaske 244 Befund – falsch negativer 8 – falsch positiver 6 Befunderhebung, zeitsparender Ablauf 18 Behandlung, Einleitung 15 f Beikost, Einführung 165 Beinlängendifferenz 115 Belastungs-EKG 190 f Belastungsfaktoren 178 Belohnung 326 f Belohnungssystem – Alkohol 345 f – dopaminerges 334 Beratungsinstitutionen 367 Berufskrankheiten 248 f – Liste 249 ff – Verfahren 251 Berufskrankheitenverdachtsanzeige 251 Berufspilot, Begutachtung 213 Berufstätigkeit 326 Betablocker, therapeutischer Misserfolg 275 Betäubungsmittel, Fahreignung 235 Betriebsarzt 205 Beutel-Masken-Beatmung 243 Bewegung 14, 310 ff – Anti-Aging 167 f – koronare Herzkrankheit 44 f Bewegungsapparat – Erhaltung der Funktion 108 – klinische Untersuchung 111 Bewegungsmangel, Rückenschmerz 109 Bewegungstherapie 304 f Bewusstlosigkeit – erhaltene Atmung und Kreislauf 241 f – ohne Atmung, ohne Kreislauf 243 Bewusstsein erhalten – – Atmung insuffizient 244 – – Kreislauf insuffizient 243 Bewusstseinslage, Prüfung 240 Biofeedback 180 Bioimpedanzanalyse (BIA) 189 Biomonitoring 255 f
Blasenentleerung, inkomplette 153 Blasenkarzinom 13 Blockade, energetische 300 Blockzeit, Pilot 214 Blutalkoholkonzentration (BAK) 234 Blutdruck, kontinuierlich registrierter 329 Blutdrucksenkung 320 Blutdruckwerte, Atherosklerose 40 Blutfette, Reduktionsdiät 318 Blutgruppenausweis 208 Bluthochdruck, vergangener und aktueller, Netzhautgefäße 65 Bluthochdruckentwicklung, zukünftige 65 Bluthochdrucktherapie, Beginn 15 Bluttestung, fäkale okkulte (FOBT) 90 Blutung – intrakranielle 49 f – parenchymatöse 49 – zerebrale 51, 55 Blutzuckerwert (BZ), Bestimmung 12 Body-Mass-Index (BMI) 15 – Prostatakarzinom 152 – Sportler 186 f Borg-Skala 190, 311 Bronchialkarzinom 81 Bronchitis, chronische 83 Brustkrebsfrüherkennung 138 Buproprion 53 Burnout-Syndrom 174, 176
C Calcineurininhibitoren, topische 161 Calipermessung 189 Camouflage 103 Cannabiskonsum, Beurteilungskriterien 238 Carotinoide, Prostatakarzinom 151 CARRISMA-Algorithmus 13 CARRISMA-System 31 Celebrex 278 CERAD-NP-Testbatterie 60 CHAD2-Score 50 Champix 338 Check-Up – Beratung 13 – Bewertung 16 f – Ergebnis 19 – körperliche Untersuchung 10 f – psychosozialer 174 ff – Umsetzung in der Praxis 17 ff Check-Up-Leistungen nach GOÄ 377 f Check-Up-Medizin – Informationen 358 ff – medicoökonomische Daten 2 – Pharmakogenetik 278 f Check-Up-Patient, Hausarztpraxis 21 Check-Up-Programme, Kosten 369 ff Check-Up-Sprechstunde 17 Check-Up-Termine 17 Check-Up-Zentren 359 ff, 362 Cheilitis actinica 100 Chemotherapie, Hautkrebs 106 Cholangitis, sklerosierende 90 Cholera 209 Cholesterin, modifizierende Therapie 16 Cholesterinwert 11 Clopidogrel 54
Coaching 181, 382 Cockpit 215 Coiling 55 Colitis ulcerosa 90 commitment 355 COPD 83 Couch Potatoes 157 Cronome 163 CT-Kolonografie 93 ff
D DALY 2 Darmerkrankung, chronisch entzündliche 90 Darmkrebs 23 Darmkrebsfrüherkennung 95 Darmkrebsvorsorge 87 DASH-Diät 53 Dauerstress 325 ff – Symptomatik 327 f Defibrillation 244 Dehydroepiandrosteron (DHEA) 168 ff Demenz 58 ff – Detection Test (DemTec) 60 – Diagnostik 60 f – Leitlinien 60 – Pharmakotherapie 62 – präventive Maßnahmen 61 – Risikofaktoren 59 – vaskuläre 58 f – Vorbeugung im Alter 62 DemTec 60 Depression 175 Depressionsscreening 175 Dermabrasio 106 Dermatoskopie 101 f Detox-N-Methode 338 ff DHEA 168 ff Diabetes mellitus – – asymptomatischer, Typ 2 15 – – Blutzuckerwert (BZ) 12 – – kardiovaskuläre Risikofaktoren 30 – – koronare Herzkrankheit 43 – – körperliche Aktivität 317 – – Naturheilkunde 305 – – Parodontitis 129 – – Schlaganfallrisiko 53 – – Tauchen 224 Diabetes-Präventionsstudien 317 Diabetes-Risiko, Check-Up-Medizin, Informationen 358 Diabetes-Therapie, Beginn 15 Diabetiker, präklinischer 12 Diagnostik – chinesische 298 – weiterführende, Einleitung 16 Diaita 313 Dihydrotestosterongehalt (DHT) 154 Diphtherie 204 Disability-adjusted life years (DALY) 2 Diskothek, Lärmbelastung 121 Disulfiram 349 DNA-Mikroarray-Analyse 268 DNA-Sequenz, Analyse 271 Dosha-Lehre 287 Dranginkontinenz 153 Drogentest 238 f Druck, erhöhter intraokulärer (IOD) 72 Dünndarmkarzinom 90
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Sachverzeichnis
Duplex-Sonografie, Karotiden 35 f Durchblutungsstörung, zerebrale 50 Durchfallerkrankung 209 DXA-Scan 113 Dysfunktion, erektile (ED) 147, 154 – – DHEA 171 – – PDE5-Inhibitoren 157 – – Rauchen 168 Dyslipidämie 16 Dyslipoproteinämie 319 f – koronare Herzkrankheit 43 Dysregulation, orthostatische 40
E EBM-Punktebewertung 370 Echokardiografie 36, 191 f – transthorakale 35 Ego-Depletion 354 E-Health 4 Eigenverantwortung 4 Einbeinstand 112 Einhelfermethode 243 Einsekundenkapazität 162 Eisenmangel, Sport 192 Eiweißzufuhr 320 Ekzem, atopisches 159 f – – antibakterielle Maßnahmen 161 – – antientzündliche Behandlung 161 – – Basistherapie 160 – – Provokationsverfahren 162 Elektrochirurgie, Hautkrebs 105 Elektrokardiografie (EKG) – und Herzratenvariabilität 39 f – Schlaganfallprävention 52 Elektrolytverlust 208 Elektronenstrahl-Computertomografie (EBCT) 37 f Emissionen, otoakustische 120 f Empowerment 181 Endometriumkarzinom 137 Entscheidungsfindung, Hilfen 359 Entspannung, Ayurveda 292 Entspannungstechniken, koronare Herzkrankheit 46 Entspannungsübungen 330 Entwöhnungsbehandlung, stationäre 348 Entzugsbehandlung, stationäre 348 Entzugserscheinungen, Raucher 334 Entzündungsparameter 329 Enzephalopathie, subkortikale atherosklerotische 49 f, 55 Epigenetik 270 Ergometrie 193 Ergometrieformen, Sportler 193 Ergospirometrie 40, 168, 195 Erinnerung, Check-Up-Termine 17 Erinnerungsbrief 18 Ernährung 14 f, 313 ff – Anti-Aging 168 – Ausland 209 – Ayurveda 288 f – Demenz 61 f – und Evolution 313 f – und Genom 280 – kolorektales Karzinom 96 – koronare Herzkrankheit 45 – Prostatakarzinom 152 Ernährungsempfehlungen
386
– etablierte 314 ff – integrale 321 f Ernährungsmedizin 314 ff Ernährungsmodifikation, sinnvolle 318 Ernährungspyramiden 315 Ernährungstherapie 304 Ernährungswissenschaft 314 ff Erschöpfungszustand 325, 354 Ersttrimesterscreening, kombiniertes 142 Erwerbsunfähigkeit 175 Erythroplasie Queyrat 100 ESC-Score 13 Esmarch-Handgriff 241 Essener Risiko Score 51 Ethik, Ayurveda 293 Extremitätenperfusion, Hautkrebs 106
F Fachgesellschaften – internationale 365 – medizinische 363 ff Fagerströmtest 335 Fahreignung 226 ff – Anerkennung als Begutachtungsstelle 235 – Beurteilung 236 – Eignungsmängel 236 ff Fahren unter Alkohol 226 Fahrerlaubnis – mit Einschränkung 234 – Entziehung 234 Fahrerlaubnis-Verordnung 227 ff, 235 Fahrfertigkeit 226 Fahrradergometrie 190, 193 Fahrsicherheit 226 – Beeinträchtigung 236 Fahrtüchtigkeit 226 Familie, arbeitsmedizinische Untersuchungen 205 Familienanamnese, Sportler 185 Familientherapie 331 Fasten 304 Fatty streaks 29 Faustschlag, präkortialer 245 Feinstaubbelastung 79 Feldtest 195 f Ferritinbestimmung 192 Fett, viszerales 33 Fettkonsum 315 f – evidenzbasierte Leitlinie 315 – und primäre Prävention 316 Fettsäuren, gesättigte 315 Fettverteilung 189 Fibrinogen, erhöhtes 33 Finasterid 152 Firmenangehörige, global tätige, ärztliche Aufgaben 206 ff Fitness 14, 310 ff – Atherosklerose 40 – koronare Herzkrankheit 44 – soziale 157 Fitness-Assessment, Schlaganfallprävention 52 Fitnesszentren 366 Flavonoide, Prostatakarzinom 151 Fliegertauglichkeitsuntersuchung, rechtliche Grundlagen 214 Flugmedizin, Eignungstests 213 ff
Flugtauglichkeit, Mindestanforderungen und Grenzen 215 Flugzeug 206 Fluoreszenzdiagnostik, Hautkrebs 102 Fluoreszenzendoskopie 93 Fluorouracil 106 Flussreservenbestimmung 35 FOBT 90, 95 Folsäure 142 g 370 Foramen ovale, persistierendes (PFO) 223 Frau 136 ff – postmenopausale, Östrogentherapie 169 f Freizeitlärm 121 Freizeitsport, kardiales Risiko 185 French Paradox 168 Frühberentung 175 Früherkennung – Ayurveda 287 – Patienteninformationen 359 Früherkennungsuntersuchung, Nutzen und Risiken 8 f Frühsommer-Meningoenzephalitis 202 Funduskammer, nonmydriatische 74 Fundusphotographie, digitale 64 f Funktionserhalt, muskuloskelettaler 108 ff Funktionskreis Leber 299 Funktionsstörung, vitale, Diagnostik 240 f Fusion Imaging 39
G Ganzkörper-MRT-Angiografie, Atherosklerose 38 f Ganzkörperölmassage 292 Ganzkörperstatus 10 f Gebärmutterhalskrebsscreening 24 Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) 377 Gedächtnisambulanz 60 Gefahrstoffverordnung 252 f Gefäßverschluss, thrombotischer 29 Gehirnjogging 61 Gehörschutzstöpsel 121 Gelbfieber 210 Gelenke, präventive Maßnahmen 114 Gelenkerkrankungen 108 f Genanalyse, Koronarsklerose 34 Genchip 270 ff Genchip-Analytik, Vorteile 271 Genexpression, Analyse mittels Genchip 271 Genkopienzahl, Unterschiede 269 f Genom, Rasterfahndung 269 Genotypisierung, pharmakogenetische 276 f Genussmittelkonsum, weiser 168 f Gesamt-Cholesterin, Bestimmung 11 f Geschlechtshormone – männliche 154 f – weibliche 53 Geschlechtsorgane, Mann, Zielorgane 155 Gesprächsführung, motivierende 347 Gestationsdiabetes 142 Gesundenberatung 6 Gesundenuntersuchung 6 f Gesundheit, Definition 2
Sachverzeichnis
Gesundheitsausgaben, private 3 Gesundheitsberatung, Chance 13 Gesundheits-Check-Up 9 ff Gesundheitsdiagnostik, hochqualifizierte 4 Gesundheitsförderung – betriebliche 331, 370 – Leistungen 371 f Gesundheitskarte, elektronische 259 ff, 264 Gesundheitsleistungen, individuelle (IGeL) 9 Gesundheitsmaßnahmen, Kosten 369 ff Gesundheitsportal 367 f – elektronisches 4 Gesundheitsreformgesetz 369 Gesundheitsstatus, Flugtauglichkeit 216 Gesundheitsuntersuchung – allgemeine (AGU) 136, 143 ff – Sportler 184, 190 Gesundheitsversorgung, außereuropäisches Ausland 206 Getränke, ethanolhaltige 102 f Gewalt 326 Gewebe-Doppler-Echokardiografie 36, 192 Gewichtskontrolle 168 – einfache 320 Gewichtsreduktion, koronare Herzkrankheit 45 Gewürze 304 Giemen 162 Gingivitis 125 GKFP 139 Glaukom 72 f Glukokortikoide, topische 161 Glukose 319 Glukosetoleranz, gestörte 318 Glukosetoleranztest, oraler (OGTT) 12 Goldmann-Tonometer 73 Grippeimpfung 25, 200, 202 Guedel-Tubus 241
H Haarzellen, äußere, Hörvorgang 120 Hämoccult 23 Hämoccult-Test 90 Hämoglobin, immunologische Tests 91 Handeln – erfolgreiches, Vorsätze 353 – zielrealisierendes 355 Handkraftmessung 168 Handlungskontrolle 354 Handlungsphasenmodell 354 Harnstoff 160 Hausarzt – Arbeit 7 – und Flugmediziner 214 – Unterstützungsmöglichkeiten 14 Hausarztpraxis – einzelne Präventionsmaßnahmen 9 ff – Präventivmedizin 6 Hausstaubmilbe 165 Haustiere 166 Hautfettfaltendicke 189 Hautkrebs 98 ff – Exzision 105 – Kürettage 105 – Nachsorge 106 f
Hautkrebsrisiko, erhöhtes 99 Hautkrebsscreening 24 Hauttestung, Rhinokonjunktivitis 163 Hauttypen 100 Hautveränderungen – Biopsie 102 – maligne 98 ff HbS-Antigen-Screening 141 HDL-Cholesterin – Niacin 43 – Reduktionsdiät 318 Heilfasten 304 Heinz-Nixdorf-Recall-Studie (HNRStudie) 32 Heliotherapie 305 Hepatitis, Impfungen 202, 204 Her2-Test 278 Hereditary nonpolyposis colorectal carcinoma-Syndrom (HNPPC) 90 Herzdruckmassage, äußere 243 Herzinfarkt, 10-Jahres-Risiko 20 Herzinfarkt-Risiko, Check-Up-Medizin, Informationen 358 Herzinsuffizienz, chronische, Telemonitoring 259 ff Herzkrankheit 156 – chronisch ischämische 143 – koronare (KHK) 28 – – Depressivität 176 – – Emerging risk factors 41 – – hämodynamisch relevante 34 – – sportliche Aktivität 184 Herz-Kreislauf-Check-Up 28 ff Herz-Kreislauf-Erkrankung, Naturheilkunde 305 Herz-Kreislauf-System – Flugtauglichkeit 215 – Tauchtauglichkeit 222 Herzratenvariabilität (HRV) 39, 179 f – – und Stressniveau 180 Herzrhythmusstörungen, Telemonitoring 262 f Herztod, plötzlicher 190 Heuschnupfen 163 High Definition Television (HDTV) 82 Hitzschlag 208 f HIV-Infektion, Schwangerschaft 142 HNO-Heilkunde 117 ff Hochton-Schwerhörigkeit, altersbegleitende 119 f Höhenstrahlung 214 Homocystein 33 Hormonsubstitution, Mann 157 Hormontheorie des Alterns 169 Hormontherapie (HT) 143 ff, 169 Hörschaden – Erkennen 120 – Individualprävention 121 – irreversibler 117 – ototoxische Substanzen 119 – Prävention 117 ff Hörsturz 122 Hörtest 117 ff – Check-Up-Medizin, Informationen 359 Hörverlustkurve 119 HPV-Diagnostik, postoperative 139 HPV-Impfung 137 Hüftumfang, absoluter 33 Human Genome Project 275 Husten, Lungenkarzinom 77
Hydrolysatnahrung 164 Hydrotherapie 303 Hygiene, Ausland 209 f Hypercholesterinämie, Schlaganfall 54 Hyperglykämie, postprandiale, Vermeidung 318 Hyperhomocysteinämie 31 Hyperhydration 208 Hyperlipidämie, Schlaganfallrisiko 53 Hypertonie, arterielle – – kardiovaskuläres Risiko 43 – – retinale Gefäße 64 – – Schlaganfallrisiko 52 f – – Vermeidung 320 Hypertrophie, linksventrikuläre 36, 192 Hyperurikämie 192 Hypogonadismus 154
I IgE-Antikörper 163 IGeL 9 IGeL-Prävention 25 Imiquimod 106 Immersion 219 Immunität, Überprüfung 199 Immunmodulatoren, topische (TIM) 106, 161 Immunprophylaxe 198 ff Immunsupprimierter, Impfung 200 Immuntherapie, allergenspezifische 165 f Impedanzanalyse, bioelektrische (BIA) 33 Impfaufklärung 200 f Impfempfehlungen, Ausland 210 Impferfolg, Feststellung 199 Impfhindernis, falsches und echtes 200 Impfkrankheit 199 Impfmüdigkeit 24 Impfplan, China 211 Impfschemata 198 Impfstatus 197 ff Impfstoff – CYT 002-NicQB 338 – Applikation 198 – zugelassene und verfügbare 199 Impfung 256 – Abstände 198 – Allergie 166 Impfvorschriften, Ausland 210 f Index – glykämischer 319 – therapeutischer (TIX) 161 Indikationsimpfung 201 f Indikatoren, kardiovaskuläre psychobiologische 329 Individualprävention, nichtbetriebliche 377 Infekt, Naturheilkunde 306 Infektionsschutzgesetz, Impfung 199 Inhalationsrauchen 76 Inhalte 10 Innenohrhörstörung, vorübergehende 117 Institutionen 362 ff Insuffizienz, testikuläre 155 Insulinresistenz – koronare Herzkrankheit 43 – Übergewicht 316
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Sachverzeichnis
Interferon, therapeutischer Misserfolg 275 Interferontherapie, Hautkrebs 106 Interkostalneuralgie 207 5A-Intervention 337 Interventionskaskade von Ornish 46 Interventionsmethoden, Arbeitsplatz 376 Intima-Media-Dicke (IMT) 32, 35 – – Messorte zur Bestimmung 36 Intubation 246 Ischämie – fokale, Thrombozytenfunktionshemmer 54 – rezidivierende, Schlaganfallrisiko 50 – zerebrale – – Definition 49 – – Pathophysiologie 50 – – Risikofaktoren 52 ff Ischämiediagnostik 38 Ishihara-Tafeln 217
J Jetlag 171, 207 – Pilot 214 Jugendarbeitsschutzuntersuchung 22 Jugendgesundheitsuntersuchung 22 Jugendschutz, Tabakwaren 333 f
K Kälteanwendung 303 Kalzifizierung, koronare, Nachweis 38 Kalzium 115 Kalzium-Score (CAC) 32 Kalziumvolumen, totales 38 Kammerflimmern 244 Kapha 287 Kardiomyopathie, hypertrophe 192 Karotiden – Auskultation 52 – Duplex-Sonografie 35 f Karotis-Endarteriektomie 55 Karotisstenose, hochgradige, Sekundärprävention 55 Karzinom – epitheliales, Genitalbereich 104 – kolorektales (KRK) 23, 87 ff – – Bedeutung der Frühvorsorge 88 f – – Ernährung 96 – – genetische Risikofaktoren 89 – – hereditäre Faktoren 90 – – medikamentöse Prävention 96 – – Risikofaktoren 89 – – Stadieneinteilung 89 – spinozelluläres, Raucher 103 Karzinomfrüherkennung, kolorektale 90 ff Keratose, aktinische 98 ff Kind, Vorsorge atopischer Erkrankungen 159 ff Kindertauchen 224 Kindervorsorgeuntersuchungen 22 Kinderwunsch, Impfungen 203 Klima 208 Klimaanlagen 209 Klimakterium, Phasen 143 Klonierung, stellenbezogene 269
388
Kniegelenksarthrose 110 Knöchel-Arm-Index (ABI) 32, 35 Knochenbrüchigkeit, erhöhte 110 Kohärenzgefühl 181 Kohärenztomographie, optische 73 Kohlenhydratqualität, Blutzucker 319 Kolonkrebsprophylaxe 22 f Kolonografie, virtuelle 93 f Koloskopie 82 f – komplette 91 – Komplikationen 23 Kombinationsimpfstoffe 202 Kommunikation, Telemonitoring 261 Konditionierung, klassische 345 Kondratjew-Zyklus 4 Konstitutionstypen – Ayurveda 287 – TCM 295 Konsum – gesundheitsförderlicher 342 – schädlicher 342 Kontrastieren, mentales 352 f, 355 Kontrastsensivität, örtlich-zeitliche, Glaukom 73 Konzept der Grundregulation 301 Koordinationstraining 304 Kopplungsanalysen 269 Koronarkalzifizierungen 36 f Koronarsklerose, genetische Risikofaktoren 272 Koronarsyndrom, akutes, Tele-EKGAnalyse 263 Körpergewicht, Prostatakarzinom 152 Körperkompositionsbestimmung mittels BodPod 189 Kortisol, Freisetzung 178 Krafttraining 304 Krankenversicherung, gesetzliche 369 – – Präventionsleistungen 371 ff Krebserkrankung, Naturheilkunde 306 Krebsfrüherkennungsmaßnahmen 23 Krebsfrüherkennungsprogramm, gesetzliches (GKFP) 136 ff Krebsvorsorge 16 – Frau 24 – Mann 24 Kryochirurgie 105
L Labor 11 ff Laborparameter, alkoholassoziierte 345 Lachmann-Test 185 Laktatdehydrogenase (LDH) 102 Laktatdiagnostik 194 f Laktatschwelle 193 – anaerobe 195 Laktoseintoleranz 283 Langzeitflüge 207 Lärmexposition, Präventivmaßnahmen 122 Lärmschwerhörigkeit 117 – Berufskrankheit 251 Lärmstress 176 Lärmtrauma, akutes 118 – – Telefontest 123 Laserung, Haut 105 Last, glykämische 319 Late onset hypogonadism (LOH) 149, 155
Laufbandergometrie 193 LDL-Cholesterin – Diäten 318 – Myokardinfarktrisiko 40 LDL-Cholesterin-Behandlungsziele 41 LDL-Cholesterin-Senkung 16 Lebensereignisse, kritische 325 ff Lebensmittel – Energiedichte 321 – stärkereiche 319 Lebensstil – Ayurveda 289 – drei Hauptsäulen 313 Lebensstiländerung 13 Lebensstilberatung 382 – Menopause 144 Lebensverlängerung, echte 171 Leistungsdiagnostik 184 ff Leistungsfähigkeit – maximale 193 – muskuloskelettale, Testverfahren 112 – nachlassende kognitive 60 Leistungssport, kardiales Risiko 185 Lentigo maligna 101 Lentigo-maligne-Melanom 98 Leukoplakie 100 Lichtschutzfaktoren 103 Lichtschutz-Textilien 103 f Lichtschutz-Topika, physikalische Filter 103 Lifestyle 4 – Aging-Male-Syndrom 157 – of Health and Sustainability (LOHAS) 4f – Pilot 215 – Prostatakarzinom 150, 152 Lifestyle-Coaching, koronare Herzkrankheit 44 Light-Zigaretten 85 Lipidsenker 16, 104 Lipoproteine 33 LOGI-Pyramide 321 f LOHAS 4 f Low-Carb-Diät 317 Low-dose-Computertomografie, Lungenkarzinom 81 Low-Fat-Diät 317 Lown atrial fibrillation 54 Luftverdrängungsplethysmografie (BodPod) 189 Luftverschmutzung, Lungenkarzinom 79 Lunge – Tauchen 220 – Tauchtauglichkeit 222 Lungenembolie, Reanimation 247 Lungenerkrankung, chronisch-obstruktive (COPD) 83 Lungenkarzinom 76 ff – bildgebende Verfahren 80 ff – bronchoskopische Diagnostik 82 – Erstmanifestation 77 – Früherkennung 80 ff – Herdgröße 81 – Histologiegewinnung 77 – kleinzelliges 76 – – Therapie 78 – medikamentöse Tumorprophylaxe 80 – nichtkleinzelliges 76 – – Therapie 78 – Rauchen 333 – Risikofaktoren 78 f
Sachverzeichnis
– Staging 77 – Tumormarkerdiagnostik 82 f Lungenkarzinomscreening 80 f – Überdiagnose 81 Lungenkrebs, Genetik 85 Lungenkrebsvorsorge, Raucher 76 ff Lycopin, Prostatakarzinom 151
M Magnetresonanztomografie (MRT) – Atherosklerose 38 – Bewegungsapparat 113 Makroangiopathie, Definition 49 Makuladegeneration – altersassoziierte (AMD) 70 f – Leitlinien für das Screening 70 f Makulaödem, diabetisches 74 Makulapigment 71 Mammakarzinom 137 – diagnostische Verfahren 138 – familiäres 139 – Krebsfrüherkennung 140 Mammografiescreening 138 Mann 155 f Männermedizin, präventive 147 ff Manualtherapie, Ayurveda 291 Marfan-Syndrom 192 Marker, genetische 272 Massage 305 Meditation 293 Medizin – evidenzbasierte, Alkoholabhängigkeit 349 – traditionelle – – chinesische (TCM) 295 ff – – europäische 301 medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) 234 Medizinportale 367 f Mehrschicht-Computertomografie (MSCT) 36 f Melanom, malignes 99 ff – – ethanolhaltige Getränke 102 – – Nachsorge 106 f Melanoma inhibitory antigen (MIA) 102 Melatonin 168 – Anti-Aging 171 Menopausensyndrom (MPS) 143 – vegetatives, nichthormonelle Behandlung 145 Mental Contrasting und Implementation Intentions (MCII) 355 Mentales Kontrastieren 352 f, 355 Metabolisches Syndrom 15 – – Check-Up-Medizin, Informationen 358 – – Gewichtsreduktion und Insulinsensitivität 317 f – – koronare Herzkrankheit 43 f – – Schlaganfallrisiko 53 Metabolisierungstypen 276 f Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR) 282 Migräne, schwere mit Aura 53 Mikroangiopathie – Definition 49 – retinale 66 Mikroorganismen, parodontalpathogene, Nachweis 132
Milcheiweißallergie 161 mild cognitive impairment (MCI) 58 Mini Mental Status Test (MMST) 60 6-Minuten-Gehtest 112 Missbrauch 342 f Mobbing 174, 178 Modell beruflicher Gratifikationskrisen 327 Molkekur 304 Monitoring, biologisches 253, 255 Morbiditätskompression 2 Morbus Crohn 90 Morgenroutine, gesundheitsfördernde 290 Motivation, Definition 352 Motivationspsychologie 352 ff MPU 234 MRT-Kolonografie 94 f Mukosektomie 82 Multiorganversagen 246 Mundhygiene, schlechte 126 Mundraum, digitale Ausräumung 242 Mund-zu-Mund-Beatmung 242 Mund-zu-Nase-Beatmung 242 Muskelaufbautraining 312 Muskelfunktionsdiagnostik, manuelle nach Janda 112 Muskelmasse, altersbedingter Verlust 168 Muskelrelaxation nach Jacobson 46 Mutterschaftsrichtlinien, deutsche 141 Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen 136 Mydriatikkamera 74 Myokardinfarkt 3 – akuter, Mortalitätsraten 29 Myokardinfarktrisiko, hohes 40 Myokardischämie 29
N Nährstoffpräparate 322 Nahrungscholesterin 315 f Nahrungsergänzungsmittel – Anti-Aging 168 – Gelenke 114 Nahrungsmittel – bioaktive Inhaltsstoffe 280 – Energiedichte 320 Nahrungsmittelunverträglichkeiten 283 Naltrexon 349 Narrow Band Imaging (NBI) 92 f Naturheilverfahren 301 ff – erweiterte 303 – Leistungserbringer 302 Nävuszellnävus, atypischer 101 Nebenniereninsuffizienz, DHEA-Mangel 170 Neoplasie – prostatische intraepitheliale (PIN) 149 – zervikale intraepitheliale (CIN) 139 Nervenfaserschichtdicke, Glaukom 73 Netzhautbild – diabetische Retinopathie 74 – telemedizinische Übermittlung 67 Netzhautgefäßdurchmesser, Bewertung 65 Netzhautgefäße 64 f – avRatio 66 f – Therapiemonitoring 65
Netzwerk, soziales 324 Neugeborenenhörscreening 121 f Neugeborenensepsis 142 Neujahrsvorsätze 356 Neurodegeneration, zerebrale 59 Neurodermitis, Provokationsfaktoren 162 Nichtkammerflimmern 245 Nikotin 334 – Parodontitis 128 Nikotinabhängigkeit 334 f – Check-Up-Medizin, Informationen 359 – Fagerströmtest 335 Nikotinabusus 42, 333 ff – Schlaganfallrisiko 53 Nikotinersatz 337 Noradrenalin 178 Normaldruckglaukom 72 Notfallmedizin, präklinische 240 ff Nüchtern-Blutzucker 12 Nulllinien-EKG 246 Number needed to screen (NNS) 8 Nutriepigenomik 281 Nutrigenetik 282 f Nutrigenomik 280 Nutrimetabolomik 281 Nutriproteomik 281 Nutritranskriptomik 281
O OCP, Karzinom 137 Offenwinkelglaukom, primäres (POWG) 72 Ohrgeräusche 121 Ökotrophologen 366 Ölanwendung, manuelle 292 Ölmassage 286, 291 Omega-3-Fettsäuren 45, 144 OPD-Interview 181 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) 181 Ophthalmoskopie, direkte 64 OPSI-Syndrom 203 Ordnungstherapie 303 organic anion transport protein (OATP) 276 Organisationen 362 ff Osteogenesis imperfecta 111 Osteoporose 110 f – Menopausensyndrom 143 – Parodontitis 129 – Prävention 115 Osteoporosediagnostik 113 Östrogen-Gestagen-Therapie, kombinierte 144 Östrogentherapie 144, 169 f Ovarialkarzinom 137
P Paartherapie 331 Pack year 84 f, 335 PADAM 155 Papillenbild, Glaukom 72 f Papillomvirus, humanes 104 Paradoxon, französisches 342 Parodont, Rauchen 128
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Sachverzeichnis
Parodontaler Screening Index (PSI) 130 Parodontalpathogene 127 – Nachweis 132 Parodontalstatus 130 f Parodontitis – Alter 129 – Anamnese 130 – Definition 125 – Diabetes mellitus 130 – endogene und exogene Risikofaktoren 128 f – kardio-/zerebrovaskuläre Erkrankungen 129 – Klinik 130 – körpereigene Abwehrmechanismen 127 – als Risikofaktor 129 – Risikofaktoren 126 ff – Schwangerschaft 129 Parodontitisdiagnose 131 Parodontitisprophylaxe 125 ff Parodontitisrisiko, individuelles, Bestimmung 133 f PAR-Q-Fragebogen 186 Passivrauchen 14, 333 – Allergie 165 – Feinstaubbelastung 79 – Lungenkarzinom 78 f, 85, 333 – Schlaganfallrisiko 53 Patienten-Arzt-Kontakt 7 Patients Health Questionnaire (PHQ-D) 178 PDE5-Inhibitoren, erektile Dysfunktion 157 Peeling 106 Peniskarzinom 104 Peptid, B-Typ-natriuretisches (BNP) 34 Perinatalzentrum 141 Personal Trainer 366 Pertussis 202 f Pflanzenstoffe, sekundäre, Prostatakarzinom 150 f P-Glykoprotein 276 Phantasierealisierung 352 f Pharmakodynamik 276 Pharmakogenetik 275 ff Pharmakokinetik 276 Pharmakotherapie, präventive, Atherosklerose 46 Phospholipase, lipoproteinassoziierte 34 Phytoöstrogene 144 – Prostatakarzinom 151 Phytopräparate, benigne Prostatahyperplasie 154 Phytotherapie 305 – Ayurveda 290 Pilot 213 Pit-Pattern-Klassifikation 93 Pitta 287 Plaque – atherosklerotische 29 f – mikrobielle 126 f Plaque-Vorkommen 30 Plattenepithelkarzinom 77, 100 – Haut 98 – Sputumzytologie 82 Polarisationsmessung, Glaukom 73 Poliomyelitis 202, 204 Polyneuropathie, alkoholbedingte 345 Polyp – Adenomanteil 89 f
390
– benigner adenomatöser 88 – kolorektaler sessiler 95 Polypektomie 82 Polypengröße 88 Polyphenole, Prostatakarzinom 151 Polyposis-Syndrome 90 Pooling, venöses 190 Positronenemissionstomografie (PET), Atherosklerose 39 Postatahyperplasie, benigne (BPH) 153 f Postmenopause 143 Potenz, männliche 154 Potenzstörung 147 – hormonunabhängige, Risiken 156 – psychogene 156 Pränataldiagnostik 142 Prätest-Wahrscheinlichkeit 9 Prävention – Anti-Aging 167 – ayurvedische 288 – Einleitung 7 – naturheilkundliche 305 f – Patientenrisiko 7 – selektive 175 – TCM 300 Präventionsleistungen – Finanzierungsrahmen 369 – gesetzliche Grundlagen 369 Präventionsmaßnahmen – Hausarztpraxis 9 ff – Organisation 19 Präventionsmedizin, Leistungen nach GOÄ 378 ff Präventionssprechstunde 21 – berufstätigenfreundliche 17 Präventivmedizin – Hausarztpraxis 6 f – kardiovaskuläre 28 Presbyakusis 119 f – Therapie 122 Prick-Test 160, 163 Prick-zu-Prick-Test 163 Primärprävention 3 – Frauen 136 – Leistungen 371 f Privatversicherung 377 Probiotika, Allergie 165 PROCAM-Algorithmus 13 PROCAM-Score 269, 272 Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson 330 Prostatabiopsie 153 Prostatakarzinom 24, 147 ff – Chemoprävention 152 – genetische Prädisposition 149 – Karzinogenese 150 – – Beeinflussung 152 – Krebsfrüherkennungsmaßnahmen 152 f – Prävention 148 ff – rationale Basis 149 f – und Sexualverhalten 149 Prostatakrebsrisiken, unspezifische 149 Prostatavergrößerung, gutartige 153 f Protein, C-reaktives 33 Protektivfaktor 324 Provokationstest, nasaler und konjunktivaler 163 Provokationsverfahren, atopisches Ekzem 162 PSA 24, 153
Psyche und Herz-Kreislauf-System 176 Psycho-Check-Up 175 ff Psychoedukation 181 Psychohygiene 293 Psychologen, Adressen 366 f Pulsdiagnostik 288 Pulsdruck 40 Pulse-Air-Tonometer 73 Pulsuhr 195 Pulswellenanalyse, Atherosklerose 40 Punktmutation, Arzneimittelstoffwechsel 276
Q Qigong 300, 305
R Rachenraum, digitale Ausräumung 242 Radio-Allergo-Sorbent-Test (RAST) 160 Radon 79 RAST 160 Rauchen 14 – Abbruch 42 – Allergie 165 – altersbeschleunigende Wirkung 168 – Lungenkarzinom 78 – Parodontitis 128 Raucher, Lungenkrebsvorsorge 76 ff Raucheranamnese 339 Raucher-Check-Up 83 f Raucherentwöhnung 333 ff – Beratungsstrategie 336 f – medikamentöse Methoden 337 f – Methoden 335 ff – verhaltenstherapeutische Methoden 337 – Wirksamkeit 336 Raucherfamilien 79 Rauchverbote 333 Rauchverzicht 83 reactive oxygen species (ROS) 151 Reagibilität, brachioarterielle 35 Reanimation – Beendigung 246 – Defibrillator 244 f – erweiterte 244 – kardiopulmonale 243 – längere 247 Recallfunktion 17 Reduktionsdiät, Stoffwechseleffekte 318 Reintonaudiogramm, c5-Senke 118 Reintonaudiometrie 217 Reise-Arbeitsmedizin 205 ff Reiseempfehlungen, Mindestalter bei Kindern 211 Reisehöhe, Druckschwankungen 214 Reiseimpfungen 25, 204 Reiz-Reaktions-Muster 301 Rektumkarzinom 87 Reserve, kognitive 61 Resilience-Scale 181 f Resilienz 181 Restriktion, kalorische 168 Retinoide 80, 104 Retinopathie, diabetische 73 f Reziprozität, soziale 325 Rhabdomyolyse 278
Sachverzeichnis
Rhinokonjunktivitis, allergische 159 f, 163 Rimonabant 338 Risiko, absolutes 20 Risikofaktoren, kardiovaskuläre 30 – – Odds Ratio 44 – – Reduktion 42 ff Risikofaktorenscreening 16 f Risikoprofil, individuelles 13 Risiko-Scores, Atherosklerose 30 f Risikostratifizierung 11 Rohkost 304 Röntgen – Hautveränderungen 106 – Lungenkarzinom 80 – Parodontitisdiagnose 131 Röntgenmammografie 138 Rötelnimpfung 199 Rückenschmerzen 109 Rückfallprophylaxe, pharmakologische, Alkohol 348 f Ruhe-EKG 190 Rumpfhaltetest 112 Rumpfstabilität 111
S Sachverständiger, flugmedizinischer 213 Salutogenese 181 Salzreduktion, Hypertonie 320 Sauerstoffaufnahme, maximale 195 Säuglingsnahrung, hypoallergene 164 f Säuglingspflege 291 Säureüberschuss, chronischer 314 Scanning-Laser-Ophthalmoskopie, konfokale 72 Schilddrüsenfunktion, psychosozialer Check-Up 176 Schlafstörung 207 Schlaganfall 49 ff – 10-Jahres-Risiko 20 – Sekundärprävention 54 f – Telemonitoring 263 f Schlaganfallprävention 50 f Schlaganfall-Risiko – bildgebende Verfahren 51 – Check-Up-Medizin, Informationen 358 – körperliche Inaktivität 52 – Labordiagnostik 51 Schlüsselsymptome, TCM 295 Schmerz, radikulärer und nichtradikulärer 109 Schnappatmung 241 Schröpfen 305 Schutzfaktoren, psychosoziale 324 Schutzimpfungen 24 f, 197 ff Schwäche, strukturelle 181 Schwangere – Impfung 200, 211 – Tauchen 224 Schwangerenbetreuung 141 Schwangerenvorsorge 136, 140 ff Schwangerschaft, Parodontitis 129 Schwelle – aerobe 195 – anaerobe 194 Schwerhörigkeit 123 Schwitzen, übermäßiges 208
Screening-Fragebogen, psychosozialer 179 Screening-Mammografie 139 Screeningmaßnahmen, psychosoziale 175 Sehtest, Check-Up-Medizin, Informationen 359 Seitenlage, stabile 241 f Sekundärprävention, Frauen 136 Selbstheilung 301 Selbsthilfe, Alkoholentzug 348 Selbsthilfegruppen 302 Selbstordnung 301 Selbstregulation, Definition 352 Selbstregulationsansatz 352 ff Selbstwertgefühl, positives 325 Selbstzahler 377 Selen 80, 281 – Prostatakarzinom 151 Sensitivität, Früherkennung Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, selektiver 176 Setting, betriebliches, 376 Sigmoidoskopie 91, 95 Single Nucleotide Polymorphismen (SNP) 275 Sinusarrhythmie, respiratorische (RSA) 180 Situations-Reaktions-Verknüpfung 354 Skalen psychischer Kompetenzen (SPK) 181 Solarium 107 Sonnenstich 208 Sorgen, seelische 178 Sozioakusis 117 Spirometrie – Asthma 162 – COPD 83 – Pilot 215 – Tauchen 220 Sport 14, 310 ff – koronare Herzkrankheit 44 – Osteoporose 110 – Regeneration 312 – Trainingseinsteiger 311 – Trainingsempfehlungen 310 Sportanamnese 185 – wichtige Fragen 186 Sportherzhypertrophie 192 Sportler – Anamnesefragebogen 187 f – echokardiografische Grenzwerte 192 Sportler-Check-Up 184 ff – körperliche Untersuchung 185 f – Laboruntersuchungen 192 f Sporttaucher 219 Sporttauglichkeit 310 Sputumdiagnostik 81 Sputumzytologie 82 Standardimpfung 201 Stärke 319 Stary-Klassifikation 30 Statine 16, 43 – Nebenwirkungen 278 Status, sozialer 324 Steroide 163 – topische 161 STIKO-Empfehlungen 201 Stillen 164 Stinging-Effekt 160 Störung, dysmorphe 298
Straßenverkehrsgesetz (StVG) 234 B-Streptokokken, Schwangerschaft 142 Stress 330 – beruflicher 174 – oxidativer 168 – – Prostatakarzinom 150 – Parodontitis 128 Stressbelastung, psychobiologische Indikatoren 329 Stressbewältigung, Maßnahmen 330 f Stressbewältigungssystem 176 Stressfolgen 178 Stresskrankheiten 175 ff, 178 Stressmanagement 181 – koronare Herzkrankheit 46 Stressoren – langfristig wirkende 325 – Wahrnehmung 176 Stressreduktion – Ayurveda 291 – Naturheilverfahren 303 Stresstest 329 Stresstoleranz 181 Stressverarbeitungskompetenz, innere 178 Stretching 312 Struktur, seelische 181 Stuhltest auf okkultes Blut 23 Sturzgefährdung, Timed up and go (TUG) 112 Subarachnoidalblutung – aneurysmale 55 – Definition 49 Suchterkrankung 175 Suchtforschung 349 Suchtgedächtnis 334 Suchtkranker, Optimierung der Therapie 349 Suchttherapie 349 Sulkusflüssigkeit, Enzyme und Entzündungsmediatoren 132
T Tabakabhängigkeit, Definition 335 Tabakrauch 76 – Giftstoffe 333 Tabakrauchentwöhnungsstrategie 83 Tachyarrhythmie 263 Tachykardie, pulslose ventrikuläre 244 f Tagesklinik, Alkoholentzug 348 Taillenumfang 15, 33 TalkingEyes 66 ff – Befundungsblatt 68 Tamoxifen 137 Tauchen, luftgefüllte Hohlräume 220 Tauchtauglichkeit 219 ff – Organsysteme 222 ff – Untersuchung 220 f Tauchtauglichkeitstest nach GTÜM 221 Tauglichkeitsrichtlinien, Flugmedizin 213 Tauglichkeitsuntersuchung – Eignungstests 216 f – Statuserhebung 214 Tauschungsgerechtigkeit 327 TCM 295 ff – Methoden 296 – Prinzip 297 – vegetative Fehlfunktionen 298
391
Sachverzeichnis
Teefasten 304 Telefontest 123 Telemonitoring, Anwendungsbereiche 260 ff Tertiärprävention, Frauen 136 f Testosteron 170 Testosteronmangel 155 Testosteronsubstitution 147, 154 – Prostatakarzinom 149 Tetanus, Antikörperbestimmung 199 Theorie der Phantasierealisierung 352 f Therapie, arbeitsmedizinische 255 Thrombozytenfunktionshemmer 53 ff Tiffeneau-Test 215 Timed – up and go (TUG) 112 – stands 112 Tinnitus 122 Toleranzbildung, Alkohol 345 Tollwut 202 Topika 103 Toxoplasmosescreening 142 Training – auf Rezept 310 – herzfrequenzgesteuertes 311 Trainingsanamnese 193 Trainingsplanung 310 Trainingssteuerung, Sportler 193 ff Trans-Fettsäuren 315 f Transkontinentalflüge 215 Trias, atopische, genetische Grundlage 159 f Triglyzeride 33, 318 Trinkmenge, Reduktion 342 Trinken, kontrolliertes 342 Tropen 206 Tropenkrankheiten 209 f Tumormarker, Hautkrebs 102 Tumormarkerdiagnostik, Lungenkarzinom 82 f
U Überdiagnostik Übergewicht 15 – Bewegungsarmut 316 – und Folgeerkrankungen 316 f – kardiovaskuläres Risiko 42 Übersäuerung, Arthrose 110 Uhrentest 60 Ultraschall – Atherosklerose 35 – Bewegungsapparat 113 – Mutterschaftsrichtlinien 142 – Schlaganfallprävention 52 ultraviolet protecting factor (UPF) 104 Umwelt, soziale 323
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Unfallversicherung, gesetzliche 255 Unternehmen – Betriebsarzt 205 – Führungstraining 331 Untersuchung, klinische 10 f Urin, Bestimmung 13
Vorsorgeuntersuchungen, hausärztliche Praxis 6 ff Vulnerabilität, Begriffserklärung 176 Vulvakarzinom 137
W V Vaginalkarzinom 137 Vaginaluntersuchung, digitale 141 Vagotonie-EKG 190 Varizella-zoster-Virus 203 Vata 287 Veränderungsbereitschaft, fünf Stadien 13 Verhaltensänderung – Ansätze 352 – Hilfsmittel 356 Verhaltensweisen, umweltrelevante 354 Verkehrsmedizin 226 ff Verschlusskrankheit, periphere 28 – – Knöchel-Arm-Index 35 Verstärkungssystem, Alkohol 345 Vertrauensverhältnis, Arzt 10 Videochipendoskopie 82 Visus, Makuladegeneration 71 Vitaminsupplementierung – koronare Herzkrankheit 45 – Prostatakarzinom 151 Vollwertkost 304 Vorhofflimmern – CHAD2-Score, Schlaganfallrisiko 50 – paroxysmales, Telemonitoring 259 – Schlaganfallrisiko 53 f – Sekundärprävention 55 – Telemonitoring 262 Vorsatzcommitment 355 Vorsätze – Dann-Komponente 355 – Effektivität 354 – Wenn-Dann-Pläne 353 ff – Wenn-Komponente 355 Vorsorge, arbeitsmedizinische 255 f Vorsorgeleistungen – nach EBM 370 ff – gesetzliche vorgesehene, nach EBM 369 – Leistungsinhalte 370 f Vorsorgemaßnahmen, altersentsprechende 12 Vorsorgeuntersuchung – arbeitsmedizinische 253 – berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen 254 – Nutzen
Wachstumshormon 171 Wächterlymphknotenbiopsie 105 waist-to-hip-ratio (WHR) 33 Wandlungsphasen 296 f Wasseroberfläche, Umgebungsdruck 220 Weblinks 358 ff Weißlichtbronchoskopie 82 Weiß-Weiß-Perimetrie 73 Weitwinkelkoloskop 82 Wellness Wendl-Tubus 241 f Wenn-Dann-Pläne 353 ff – Entwicklung 356 WHO-5-Fragebogen, Wohlbefinden 178 f Widerstandsfähigkeit, psychische 181 Wirbelsäule – Funktionsprüfung 112 – präventive Maßnahmen 114 – vorzeitiger Verschleiß 109 Wirbelsäulenerkrankungen 108 f Wohlbefinden – physisches 323 – WHO-5-Fragebogen 178 f
Y Yoga 293, 305
Z Zahnerhalt 125 ff – Recallintervalle 133 Zahnhalteapparat 126 Zervixkarzinom 137 Zervixlängenmessung, sonografische 141 Zielbindung, starke 353 Zielcommitment 355 Ziele, Umsetzung 353 Zivilisationskrankheiten, ernährungsbedingte 314 Zusatzversicherung 377 Zweihelfermethode 243 Zyban 337 f Zytochrom-P450-System 276