Silke Bothfeld · Werner Sesselmeier · Claudia Bogedan (Hrsg.) Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
Sil...
225 downloads
623 Views
6MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Silke Bothfeld · Werner Sesselmeier · Claudia Bogedan (Hrsg.) Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
Silke Bothfeld · Werner Sesselmeier Claudia Bogedan (Hrsg.)
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16887-6
Inhalt
5
Inhalt
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. Eine Einleitung
7
I. Grundzüge der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im Wandel Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
21
Sigrid Gronbach Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik – von der Verteilung zur Teilhabe
35
Katrin Mohr Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
49
Matthias Knuth Grundsicherung „für Arbeitsuchende“: ein hybrides Regime sozialer Sicherung auf der Suche nach seiner Governance
61
II. Das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik zwischen Universalismus und Zielgruppenorientierung Frank Oschmiansky/Mareike Ebach Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009: Der Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums
79
Gerhard Bosch Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Entwicklung und Reformoptionen
94
Peer Rosenthal Arbeitslosenversicherung im Wandel
112
Oliver Nüchter/Alfons Schmid Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik. Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland
127
Karen Jaehrling Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
147
6
Inhalt
III. Akteure der Arbeitsmarktpolitik zwischen Aufgabenerfüllung und Steuerungswandel Holger Schütz Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
163
Volker Hielscher/Peter Ochs Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
178
Petra Kaps Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
191
Tanja Klenk Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III: Pfadwechsel in der korporatistischen Arbeitsverwaltung?
205
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
220
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
239
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland? Zur Bedeutung der Europäischen Beschäftigungsstrategie und des Europäischen Sozialfonds im arbeitsmarktpolitischen Geschehen
252
Ausblick Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
269
Anhang Daten und Fakten
283
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
7
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. Eine Einleitung Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
1
Stabilität und Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
Im Bundestagswahljahr 2009, vierzig Jahre nach ihrer Institutionalisierung in Deutschland befindet sich die deutsche Arbeitsmarktpolitik wieder an einer Wegscheide. Entgegen der Sparbemühungen und der Ausgabenreduzierungen der vergangenen Jahre wird angesichts der ökonomischen Rezession erneut auf das SGB III zugegriffen, um den Beschäftigungsabbau zu bremsen und den Einbruch der Binnennachfrage abzufedern: Nach Jahren der allgemeinen Skepsis gegenüber den Instrumenten der Arbeitsförderung hat die Bundesregierung im konjunkturellen Abschwung mit dem schnellen und flexiblen Umbau des Kurzarbeitergeldes (KuG) bereits im Winter 2008 erneut auf die Stabilisierungsfunktion der Arbeitsmarktpolitik gesetzt. Zwar können KuG und Arbeitslosengeld den Abbau von Beschäftigung nicht verhindern, aber sie können ihn verzögern oder – zusammen mit dem Arbeitslosengeld I - abfedern. Das institutionelle Gedächtnis der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland scheint also auch durch die jüngste Phase der Arbeitsmarktreformen nicht gelöscht. Tatsächlich war die Abfederung konjunktureller Arbeitslosigkeit ein zentrales Ziel der deutschen Arbeitsmarktpolitik bei der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahr 1969. Während in den vergangenen vier Jahrzehnten über die Notwendigkeit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik Einigkeit bestand, unterlagen ihre Ziele und ihr Instrumentarium zahlreichen Veränderungen. Dabei entwickelt sich die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland allerdings nicht unbedingt in Reaktion auf die Wahrnehmung neuer bzw. anwachsender Probleme. Faktoren für den Wandel sind nicht allein der spezifische und veränderliche Problemdruck, sondern auch strategische Interessen der jeweiligen Regierungen, politischnormative Vorstellungen der politischen Akteure, vorhandenes teilweise auf Erfahrungen basierendes Politikwissen sowie die vorherrschenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitvorstellungen in der arbeitsmarktpolitischen Arena. Die Analyse des Wandels der Arbeitsmarktpolitik, weniger seine Erklärung, steht im Zentrum des vorliegenden Bandes, denn neben Profil und Ausgestaltung der Instrumente 1 der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. dazu Oschmiansky/Ebach ) haben sich auch grundlegende Zielvorstellungen (vgl. Gronbach und Mohr) verändert. Die AutorInnen dieses Bandes zeichnen diesen Wandel nach und zeigen dabei die Gleichzeitigkeit von pfadabhängigen und pfadabweichenden Veränderungen auf. Denn, nicht nur die Pfadbrüche, auch die inkrementellen Veränderungen haben die Gestalt der aktiven Arbeitsmarktpolitik verwandelt. Dies gilt insbesondere für die Reformen der vergangenen Dekade, in der 1
Kursiv gedruckte Namen verweisen auf Beiträge in diesem Band.
8
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
zudem mit der EU (Irmer/Yollu-Tok) und den Kommunen (Kaps) neue Akteure die arbeitsmarktpolitische Arena betraten, während traditionelle Akteure wie die Sozialpartner einen tendenziellen Bedeutungsverlust erlitten (Klenk; Schroeder/Schulz). Mithilfe der vorliegenden Analysen und Bewertungen der Entwicklungen – insbesondere der aktuellen – wird ein umfassenderes Bild des Wandels sichtbar.2 Dabei werden bestehende Dilemmata sowie die Widersprüchlichkeit der Entwicklungen deutlich, denn sie geben nur teilweise Antwort auf die veränderten Rahmenbedingungen, die die aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland mit neuen Herausforderungen konfrontierte. So fehlt beispielsweise nach wie vor eine Flankierung flexibler Erwerbsbiografien im Sinne eines breiteren Zugangs zu Weiterbildung und zur sozialen Sicherung. Außerdem wurde trotz des wachsenden Bedarfs an gut qualifizierten Arbeitskräften der Qualifikationsschutz bei der Vermittlung in Arbeit aufgehoben, was einen Anstieg unterwertiger Beschäftigung und die tendenzielle Abwertung von Qualifikationen zur Folge haben wird. Schließlich deutet sich an, dass die Systeme der Sicherung des Lebensunterhalts bei Arbeitslosigkeit immer weniger ihre Funktion als Schutz vor Armut bei Arbeitslosigkeit erfüllen werden. Die Entwicklungen der Arbeitsmarktpolitik, die in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes untersucht werden besser zu verstehen, sollen vorab noch einmal die Grundfunktionen der Arbeitsmarktpolitik als zentrales Element der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik und die Herausforderungen herausgearbeitet werden, mit denen die Arbeitsmarktpolitik konfrontiert ist.
2
Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft
Die Einführung des AFG muss in enger Verbindung mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz im Jahr 1967 gesehen werden: Die Beschäftigungspolitik sollte nachfrageseitig mit dem Stabilitätsgesetz und angebotsseitig mit dem AFG reguliert werden (Lampert 1989). Die Einführung des AFG erfolgte 1969 durch die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, unter dem Eindruck des kurzzeitigen Wirtschaftseinbruchs 1966/67. Damit wurde erstmals systematisch in Deutschland eine aktive Arbeitsmarktpolitik etabliert. Verstanden als Teil der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde mit dem AFG die Idee eines vorbeugenden Schutzes in Ergänzung zum eher nachsorgend konzipierten Versicherungsgedanken realisiert. Die aktive Arbeitsmarktpolitik war dabei eben als ergänzendes Element einer allgemeinen Beschäftigungspolitik konzipiert, die auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene auf die Herstellung von Vollbeschäftigung und auf die Bekämpfung konjunktureller, friktioneller, saisonaler und auch struktureller Arbeitslosigkeit zielte. Dabei war sie auf begleitende wirtschafts-, struktur- sowie bildungspolitische Maßnahmen angewiesen. Durch die Steigerung der Produktivität vermittels der Qualifizierung der Arbeitskräfte erhoffte man sich damals insgesamt eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte. In den politischen Debatten bestand bald Einigkeit über drei zentrale Aufgabenfelder des AFG, nämlich die Förderung der beruflichen Bildung, der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. In den Auslegungen zum AFG in den Folgejahren betonte der damalige Präsident der Bundesanstalt
2 Die Beiträge des Bandes fokussieren stärker die jüngeren Reformen. Für Bilanzen der Frühjahre der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland sei auf frühere Werke verwiesen: Kühl 1982; Lampert 1989; Seifert 1995.
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
9
für Arbeit, Josef Stingl, die Orientierung auf eine „vorausschauende“ Arbeitsmarktpolitik3 (Kühl 1982: 260). Die aktive Arbeitsmarktpolitik fügte sich somit in die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik ein (Lampert 1997) und wurde zu einer der tragenden Säulen des als konservativ-korporatistisch bezeichneten Wohlfahrtsstaats (Sesselmeier/Somaggio), der auf versicherungsförmig organisierten sozialen Sicherungssystemen, dem Prinzip der Selbstverwaltung und dem darin enthaltenen Recht der Mitgestaltung der Tarifparteien basiert (Schroeder). In dieser Tradition der Bismarckschen Sozialgesetzgebung hatte sich bereits nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitslosenversicherung (Rosenthal) und die Arbeitsvermittlung unter der gemeinsamen Verantwortung der Bundesanstalt für Arbeit (heute Bundesagentur für Arbeit, BA), einer öffentlichen Einrichtung mit eigenem Haushalt (Parafiskus) entwickelt (Schütz und Hielscher/Ochs). Die BA unterlag somit prinzipiell weder der Kontrolle noch der direkten Steuerung des Bundesarbeitsministeriums, sondern war qua definitione selbstverwaltet. Die konkrete Ausgestaltung der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland erfolgte in einem Spannungsfeld von vier Grundfunktionen (vgl. beispielsweise Lampert et al. 1991; Bäcker et al. 2008). Der Wandel der arbeitsmarktpolitischen Funktionen wird jedoch nur selten in einer Gesamtschau thematisiert (anders Aust et al. 2008).
Ökonomische Stabilisierung Da das Niveau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nicht nur individuelle, sondern auch gesamtwirtschaftliche Auswirkungen auf die Einkommen, Binnenkonsum und -nachfrage hat, besteht ein grundsätzliches wirtschaftspolitisches Interesse an der institutionellen Regulierung des Arbeitsmarktes. Anders als in regulären Warenmärkten ergibt sich der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit und damit die gesamtwirtschaftliche Stabilität in einem Arbeitsmarkt eben nicht aus einem marktlich koordinierten freien Ausgleich zwischen beiden Seiten. Vielmehr entsteht ein Gleichgewicht auf der Grundlage einer komplexen Funktion des Zusammenwirkens verschiedenster arbeitsmarktpolitischer Institutionen und der Güternachfrage (Schmid 1987). Die Arbeitsmarktpolitik wirkt dabei durch zweierlei Mechanismen stabilisierend auf die Produktion und den Konsum in einer Volkswirtschaft. Zum einen werden ‚Preis’ und Qualität und damit die Produktivität und Nachfrage nach Arbeitskräften durch die Lohnfindung, die arbeitsrechtliche Regulierung und indirekt auch durch die vorgelagerten Systeme der beruflichen Ausbildung bestimmt. Das institutionelle Beschäftigungssystem bildet somit eine Garantie für ein bestimmtes Niveau der Qualität und Quantität des verfügbaren Arbeitskräftepotentials und somit einen verlässlichen Handlungsrahmen für die Arbeitsmarktakteure – für die Unternehmen ebenso wie für die Beschäftigten und ihre Vertretungen. Im internationalen Vergleich wurde allerdings auch deutlich, dass die Regulierung des deutschen Beschäftigungssystems zwar einen wandelbaren und qualitativ hochwertigen Arbeitsmarkt garantiert, gleichzeitig jedoch ein hohes Maß an Segmentation produziert (Schmid 1994). Angesichts des strukturellen Wandels des Beschäftigungssystems steht insbesondere die Arbeitsmarktpolitik vor neuen Herausforderungen. Zum anderen stellt das Haushaltseinkommen und die Nachfrage der Privathaushalte 3 1974 legte die BA ihre Konkretisierungen und Weiterentwicklungen unter dem Titel „Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik“ vor.
10
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
auf dem Konsumgütermarkt eine zentrale Komponente einer Volkswirtschaft dar. Daher hat die soziale Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit nicht nur eine auf der individuellen Ebene dekommodifizierende, sondern gleichzeitig eine makroökonomisch stabilisierende Funktion (automatischer Stabilisator), wenn sie bei steigender Arbeitslosigkeit und dem Ausfall von Erwerbseinkommen Einkommens- und Konsumausfälle durch die Bereitstellung des Arbeitslosengeldes ausgleicht. Damit kann in einer Volkswirtschaft in Zeiten schlechter Konjunktur die Nachfrage, zumindest nach Konsumgütern, zwar nicht konstant gehalten, jedoch vor einem dramatischen Einbruch geschützt werden. So sind entsprechend der Entwicklung der Arbeitslosigkeit die Ausgaben der Bundesagentur für die passiven Leistungen stufenförmig angestiegen, um in der Zeit nach der Wiedervereinigung dauerhaft auf einem hohen Niveau (zwischen 1,5 und 1,9% des Bruttoinlandsprodukts; vgl. Tabelle 6 im Anhang) zu verharren; im Jahr 2005 wurde der Spitzenwert erreicht, was einer Summe von mehr als 42 Mrd. Euro entsprach. Seit 2005 ist der Anteil jedoch wiederum auf rd. 1,2% abgesunken.
Erhöhung der Passförmigkeit von Angebot- und Nachfrageseite Da es sich beim Arbeitsmarkt um keinen idealtypischen Markt handelt, indem sich Angebot und Nachfrage durch eine ‚unsichtbare Hand’ des Marktes automatisch ausgleichen (Schmid 1987), ist es Aufgabe der Institutionen des Arbeitsmarktes, zu denen die aktive Arbeitsmarktpolitik zählt, auf den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit hinzuwirken. Die ökonomische Erwartung an die aktive Arbeitsmarktpolitik besteht somit einerseits in der Vermeidung von Überschussnachfrage und Überschussangebot von Arbeit und andererseits in der Verbesserung der qualitativen Passförmigkeit zwischen Angebot und Nachfrage (Matching-Effizienz) durch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Angesichts des strukturellen Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsproduktion, der zu einer Änderung der nachgefragten Arbeitsqualifikationen führt, gewann diese Funktion in den 1960er Jahren an Bedeutung, so dass die aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Verringerung und Vermeidung von strukturellen Arbeitsmarktungleichgewichten auf Teilarbeitsmärkten ausgerichtet wurde. Folglich lag ein erster Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten in der Anfangszeit bei der Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitskräften (Oschmiansky/Ebach). Neben der Fort- und Weiterbildung bediente sie sich außerdem der Instrumente der Arbeitsvermittlung und -beratung sowie Mobilitätshilfen, um eine höhere Anpassungsfähigkeit und räumliche wie sektorale Mobilität und schließlich eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte zu erreichen. Eine Fortsetzung findet dieser Gedanke in der Formulierung von Zumutbarkeitskriterien, die den Arbeitslosen eine Pflicht zur beruflichen und regionalen Mobilität auferlegt. Vor allem in dieser Perspektive wirkte sie als mikroökonomische Ergänzung zur Wirtschafts-, Struktur- und Sozialpolitik.
Arbeitsmarktpolitik als Sozialinvestition Historisch betrachtet war die Leitidee der Steigerung der Produktivität und somit die Qualifikation der Arbeitskräfte bereits 1969 im Arbeitsförderungsgesetz angelegt. Erst recht in der heutigen Zeit wird das Anwachsen der Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften mit
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
11
Hoch- oder Fachhochschulstudium diagnostiziert, während für Arbeitskräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder ohne Ausbildung zukünftig ein Rückgang in der Nachfrage erwartet wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). Folgerichtig war daher, dass die „Vermeidung unterwertiger Beschäftigung“ schon 1969 als Handlungsziel in die Präambel des Gesetzes aufgenommen wurde. Diese Zielstellung wurde jedoch durch die Verengung auf die „Ausgleichsfunktion am Arbeitsmarkt“ beim Übergang vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch III (1997) aufgegeben und auf die Formulierung der Aufgabe der Arbeitsvermittlung, eine „passgenaue Vermittlung“ herbeizuführen, reduziert. Als übergreifende Zielstellung konnte sie seitdem, auch bei der Einführung des Jobaqtiv-Gesetzes 2001 nicht wieder durchgesetzt werden. Auch wenn die Vermeidung unterwertiger Beschäftigung kein explizites Ziel mehr darstellt, so unterstützen dennoch einige Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik die individuelle Entscheidung für Humankapitalinvestitionen. Erstens, soll durch die verstärkte präventive Ausrichtung das Eintreten von Arbeitslosigkeit im Vorfeld verhindert bzw. durch die ‚passgenaue Vermittlung’ Phasen der Arbeitslosigkeit verkürzt sowie durch den Qualifikations- und Einkommensschutz bei der Arbeitsvermittlung der Erhalt einmal erworbener Qualifikationen zumindest vorerst gewährleistet werden. So soll in Phasen konjunktureller und friktioneller Arbeitslosigkeit der Verlust des Arbeitsplatzes und der damit verknüpfte Verlust von Humankapital als Folge eines andauernden Ausschlusses aus dem Arbeitsmarkt verhindert werden. Untersuchungen der Vermittlungspraxis zeigen jedoch, dass dieses implizite Versprechen nicht immer eingelöst werden kann (vgl. Hielscher/Ochs). Zweitens bildet das Arbeitslosengeld in der Suchphase bei Arbeitslosigkeit einen Puffer und ermöglicht damit für die Beschäftigten die notwendige Mobilität und Flexibilität (Chetty 2008). Empirische Untersuchungen konnten belegen, dass die qualifikatorische Passförmigkeit zwischen dem Angebot an und der Nachfrage von Arbeit durch ein in Dauer und Höhe großzügiges Arbeitslosengeld gefördert wird (Gangl 2004). Denn die Zahlung eines ausreichenden Arbeitslosengeldes vermindert unterwertige Beschäftigung und schützt erworbene Qualifikationen, indem sie die Eigenverantwortlichkeit stärkt und die Arbeitskräfte zur Investition in berufliche Ausbildung ermuntert. Schließlich sollen, drittens, die Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung bzw. Fortbildung und Umschulung die Entwicklung von beruflichen Qualifikationen unterstützen (Bosch), so dass es nahe liegend erschien, im Zuge einer aktivierenden und investiven Strategie die Elemente der „Förderung“ auszubauen. Wie sich jedoch zeigt, wurden ausgerechnet im Bereich der Fortbildung und Umschulung die Ausgaben und Teilnahmezahlen immer weiter zurückgestutzt. Die Aufgabe des Ziels der Vermeidung unterwertiger Beschäftigung und die verschärften Zumutbarkeitskriterien entfalten jedoch erheblichen Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte. So wird das Problem der unterwertigen Beschäftigung, insbesondere bei westdeutschen AkademikerInnen, bereits sichtbar - es fällt bei Frauen sogar noch deutlicher aus, als bei Männern (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, zur besonderen Situation von Frauen in der arbeitsmarktpolitischen Förderung, siehe Jaehrling).
Arbeitsmarktpolitik als Sozialpolitik Faktisch hat die Schaffung von Erwartungssicherheit und ökonomischer Stabilität gleichsam eine ökonomische und eine sozialpolitische Komponente, indem die Arbeitsmarktpoli-
12
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
tik implizit ein bestimmtes Sicherungsniveau und ein Unterstützungsversprechen für die Beschäftigten institutionalisiert, benachteiligte Gruppen besonders unterstützt und ganz generell Erwartungssicherheit im Falle des Eintretens des Risiko Arbeitslosigkeit bietet. Diese Eigenschaft der Arbeitsmarktpolitik ist Ausdruck des Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG, das das staatliche Handeln normativ bindet und dem Staat zum Schutz Hilfebedürftiger, der Gewährleistung eines Existenzminimums und allgemein zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet (Kremer/Bothfeld). Auch in der Ökonomie wird anerkannt, dass die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung sowohl eine marktfördernde als auch eine marktkorrigierende Komponente enthält, und „für alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen eine möglichst ununterbrochene, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu bestmöglichen Bedingungen“ (Lampert 1997: 431) sichern soll. Auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden soll, unterliegt jedoch politischen Aushandlungsprozessen. Zwar sind die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit hochgradig akzeptiert (Schmid/Nüchter) und werden prinzipiell als Teil des Gesellschaftsvertrags verstanden, doch beinhaltet ihre Bezeichnung als ‚passive’ Leistung die (negative) Konnotation der Alimentierung arbeitsloser Personen anstelle einer Motivierung und Ermutigung zur Wiedereingliederung. Die Neuauslegung des Verhältnisses zwischen der konditionalen (d.h. an vorherige Beitragsleistung geknüpfte) Gewährung lebensstandard- bzw. Existenz sichernder Lohnersatzleistung und der Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bildet den Kern der Aktivierungspolitiken, die prinzipiell auf die Erhöhung der Erwerbstätigenquote zielen und damit Spannungen mit dem existierenden System verursachen (Jaehrling). Diese Integrationsfunktion der Arbeitsförderung („aktive“ Arbeitsmarktpolitik) steht vor allem in der offiziellen Evaluierung der jüngsten Arbeitsmarktpolitik, aber auch in der generellen Arbeitsmarktforschung unter Beobachtung und wird im Hinblick auf ihre Effektivität (Wirkungsgrad) und Effizienz (Kosten gemessen an den Wirkungen) bewertet. Dabei ist der sozialpolitische Aspekt, d.h. die Bereitstellung eines Sicherungsnetzes für die TeilnehmerInnen, nur soweit legitimierbar, sofern die Wirkungen des Instrumenteneinsatzes als der Erhalt von Motivation und Beschäftigungsfähigkeit interpretiert werden können und möglicherweise langfristig statistisch nachweisbare Effekte erzielt werden können. Insofern ist die Bildung der Zielindikatoren kritisch daraufhin zu prüfen, inwiefern tatsächlich nachhaltige Effekte der Arbeitsmarktintegration erzielt werden können (vgl. Neubäumer 2009). Hiermit sind also die vier Pole genannt, die den Rahmen für die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik aufspannen. Das aktuelle Problem besteht darin, dass das SGB III keine konkreten Zielstellungen mehr enthält und damit Gefahr läuft, seine Legitimität als mikround makro- sowie als sozialpolitisches Steuerungsinstrument zu verlieren. Dies ist umso problematischer, als dass die Entwicklungen im Beschäftigungssystem, aber auch politische Entwicklungen die Arbeitsmarktpolitik mit neuen Herausforderungen konfrontieren.
3
Bedingungen und Anforderungen arbeitsmarktpolitischen Wandels
Wie schon erwähnt wurde, entstand das AFG unter dem Eindruck der Rezession der Jahre 1966/ 67. Seitdem haben sich die Probleme und Herausforderungen jedoch erheblich verändert und ausdifferenziert und bilden nun einen vielgestaltigen Begründungszusammenhang für ihre Fortentwicklung. Zu den wichtigsten Herausforderungen gehören die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Veränderung der Produktionsstrukturen in Folge wirtschaftlicher
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
13
Globalisierung, die soziale Modernisierung sowie die schwindende Regulierungsmacht durch die Europäisierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Von konjunktureller zu struktureller Arbeitslosigkeit Seit Einführung des AFG im Jahr 1969 durchlief die Bundesrepublik Deutschland wie auch ihre Nachbarländer einen sozioökonomischen Strukturwandel und eine soziale Modernisierung – zwar ohne großen Knall aber nicht minder weit reichend in ihren Wirkungen. Versteht man die aktive Arbeitsmarktpolitik als Teil einer allgemeinen Beschäftigungspolitik, die auf die Herstellung von Vollbeschäftigung, oder zumindest eines ‚hohen Beschäftigungsniveaus’ zielt, so zeigt sich allein beim Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, dass diese Funktion in den vier Jahrzehnten in weite(re) Ferne gerückt ist. Während bei der Einführung 1969 die Arbeitslosenquote gerade mal 0,9 % betrug, wuchs diese kontinuierlich an und erreichte ihren Höchstpunkt 2005 mit 13,4 % (vgl. dazu den Tabellenanhang). Bereits Mitte der 1970er Jahre mit dem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts infolge der Ölkrise wurde das junge AFG auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Das Ende des „kurzen Traums immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) stellte neue Herausforderungen an die aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit rückte als neues Ziel ins Zentrum. Mit dem raschen und anhaltenden Anstieg der Arbeitslosen regten sich zunehmende Zweifel an einer keynesianisch eingebundenen und inspirierten Arbeitsmarktpolitik. Über die 1980er Jahre verharrte die Arbeitslosigkeit nach ihrem rasanten Anstieg in Folge der zweiten Erdölkrise zu Beginn des Jahrzehnts auf hohem Niveau. Zudem erhöhte sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen erneut. Der rasante Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen 1990 und 1991 in Ostdeutschland ging einher mit einem Rückgang des dortigen Arbeitsvolumens um nahezu ein Fünftel. Der Versuch, diese Dynamik umzukehren, prägte die nachfolgende Dekade. Mit den Herausforderungen wuchsen dann auch die Ausgaben (sie schnellten von 1,92 % des BIP 1990 auf 2,40 % im Jahr 1991 (vgl. Tabelle 6 im Anhang). Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit 4 ergibt bis 2005 ein Treppenmuster, da aus jedem Abschwung eine Restarbeitslosigkeit zurückbehalten wurde (Hysteresis). Über die Jahre wuchs folglich das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit zur zentralen Herausforderung in der aktiven Arbeitsmarktpolitik an, die maßgeblicher Ausgangspunkt für die sogenannten Hartz-Reformen war.
4
Wir beziehen uns bei der Betrachtung der Abschwünge auf die Definition des Sachverständigenrates für eine ausgeprägte konjunkturelle Abschwungphase (Sachverständigenrat 2008, Kasten 2, Seiten 78ff). Demnach ergeben sich seit Einführung des AFG fünf Abschwungphasen: Abschwung I (2. Quartal 1973 bis 2. Quartal 1975), Abschwung II (4. Quartal 1979 bis 4. Quartal 1982), Abschwung III (1. Quartal 1991 bis 3. Quartal 1993), Abschwung IV (1. Quartal 2001 bis 2. Quartal 2005) und die aktuelle Abschwungphase, Abschwung V (2.Quartal 2008 bis heute).
14 Abbildung 1:
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier Treppenförmiger Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit (eigene Darstellung)
Dieses Anwachsen der Langzeitarbeitslosigkeit ist Teil eines umfassenden Wandels von Arbeitsmärkten, der meist auf die drei großen Veränderungen zurückgeführt wird – die ökonomische Globalisierung, De-Industrialisierung und soziale Modernisierung.
Die ökonomische Globalisierung Der Strukturwandel der Wirtschaft zeigt sich unter dem Großtrend Globalisierung in unterschiedlichen Facetten (vgl. Sesselmeier 2008). Erstens kann eine zunehmende Liberalisierung des internationalen Handels und der Finanzmärkte beobachtet werden. In Deutschland ist dies eng verbunden mit der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes. Zweitens hat die Veränderung der Informations- und Kommunikationstechnologien neue Möglichkeiten der globalen Arbeitsteilung eröffnet. Drittens entstanden neue Absatz- und Produktionsmärkte nach dem Mauerfall im Ostblock und auch in sich entwickelnden (ehemaligen) Entwicklungs- und Schwellenländern. Und viertens machten die Transportkosten einen verschwindend geringen Anteil an den Gesamtkosten aus.
De-Industrialisierung Die Abnahme der Beschäftigten als auch der Bruttowertschöpfung im sekundären Sektor (vgl. Sesselmeier 2008), schlägt sich unmittelbar im Arbeitsmarkt in Form der nachgefragten Qualifikationen nieder. Sie stellt damit die aktive Arbeitsmarktpolitik vor große Herausforderungen. Betrug 1969 der Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor 42,3 %, so
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
15
wuchs dieser bis 2007 auf 72,4 % an (Daten des Statistischen Bundesamtes). Auch wenn ein großer Teil der Dienstleistungen ‚produktionsbezogen’ ist, d.h. der Planung und Durchführung der Güterproduktion sowie der Verteilung der Güter dient, und folglich die Zahlen nicht überzubewerten sind, hat sich die Art und Weise, wie gewirtschaftet wird, erheblich verändert. Erstens entstanden zahlreiche neue Berufe, und die Halbwertzeit von Wissen nahm ab. Unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ wird diese Notwendigkeit eines individuell und kollektiv veränderten Verständnisses von Qualifizierung in einem zunehmend von neuen Technologien und einem globalen Wettbewerb um Ideen und Innovation gekennzeichneten Arbeitsmarkt zusammengefasst. Veränderte Wissensanforderungen treffen zusammen mit häufigeren Berufs- und Tätigkeitswechseln. Der Arbeitsförderung ist es bislang nur unzureichend gelungen, die Weiterbildungsbeteiligung im notwendigen Maß zu steigern (CEDEFOP 2008). Zweitens ist mit der De-Industrialisierung auch das Ende der fordistischen Produktionsweise verbunden, die Grundlage einer auf Massenkonsum und damit allgemeinen Wohlstandsentwicklung zielenden Regulationsweise war. Folglich kann, drittens, ein Bedeutungsverlust des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Normalerwerbsbiografie des männlichen Industriearbeiters beobachtet werden (vgl. Geißler 2002; Wimbauer 2006). Der Bedeutungsverlust ist gespeist sowohl aus den veränderten Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes als auch einer sozialen Modernisierung.
Soziale Modernisierung Die soziale Modernisierung beschreibt eine Heterogenisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und einen Wandel der Wertorientierungen. Zu beobachten ist eine wachsende Pluralisierung von Lebensstilen, die sich in unterschiedlichen Familien-, Wohn- und Lebensformen zeigt. Dies zeigt sich auch in einer Modernisierung tradierter Geschlechterrollen, die einhergehen mit einer gewachsenen Erwerbsbeteiligung von Frauen, einem größerem Maß an Selbstbestimmung und sich wandelnder Lebens- und Haushaltsformen (Leiber et al. 2005). Die Frauenerwerbstätigkeit stieg in den vergangenen vier Jahrzehnten kontinuierlich. Die Erwerbsquote der Frauen lag in der BRD im europäischen Vergleich auf einem besonders niedrigen Niveau (1969 waren es 30,3 %, 2007 45,1 %, wobei die Teilzeitquote der Frauen 51,1 Prozent betrug, vgl. Tabelle 2 im Anhang). Mit der Wiedervereinigung trafen 1990 zwei gegensätzliche Traditionen der Arbeitsmarktintegration von Frauen aufeinander. Während in Westdeutschland das männliche Familienernährer-Modell dominierte und Frauen tendenziell als Hausfrau und Mutter zu Hause oder in Teilzeit erwerbstätig waren, waren in der DDR Frauen vollständig in die Erwerbsarbeit integriert (Trappe 1995). Die Rolle der Frau hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung in beiden Teilen Deutschlands jedoch insofern gewandelt, dass die Rollenteilung an Klarheit verloren hat. Vor diesen Hintergründen sind die sozialen Sicherungssysteme nur unzureichend in der Lage neue Übergänge zwischen unterschiedlichen Phasen einer Erwerbsbiografie angemessen abzusichern, um somit die für eine funktionierende Marktdynamik notwendige „Risikobereitschaft“ der Marktteilnehmer zu erhöhen (Schmid 2002). Vor allem aber hat
16
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
sich der deutsche Arbeitsmarkt im internationalen Vergleich als wenig flexibel und inklusiv erwiesen (vgl. Eichhorst et al. 2004; Schmid 2008).
Europäisierung und Machtverlust nationaler Regierungen Den gewachsenen Herausforderungen steht ein Verlust an nationalstaatlicher Regulierungsmacht im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gegenüber, die sich durch die Einbindung in die Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union und die Monitoring- und Bewertungssysteme der OECD ergibt. Dieser Wandel von einer nationalstaatlichen Sozialpolitik hin zu einer europäischen vollzog sich mit dem Inkrafttreten des EU-Vertrags von Amsterdam zum 1. Mai 1999 durch die Festschreibung der Gemeinschaftskompetenz nach Art. 136 Abs. 1 EG in diesem Feld mit den Schwerpunkten Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessener sozialer Schutz, Sozialer Dialog, Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und Bekämpfung von Ausgrenzungen. Es hat sich zwar die Einsicht durchgesetzt, dass Sozialpolitik nicht von Brüssel aus gemacht werden kann, sondern eine Kernaufgabe der Mitgliedsländer ist. Gleichwohl hat die europäische Ebene auf Grund der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ein eigenes Interesse an der Funktionsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems. Denn neben der eher juristisch orientierten Aufwertung der Sozialpolitik veränderte sich auch deren ökonomischer Stellenwert im Zuge der EWU, da sich durch die EWU die Optionen der nationalen Wirtschaftspolitik verändert haben. Auf der einen Seite entfallen die Möglichkeiten einer nationalen Geld-, Zins- und Wechselkurspolitik, und die Einsatzfähigkeit der Finanz- und Budgetpolitik ist durch die Maastricht-Kriterien restringiert. Auf der anderen Seite sind damit die regulierenden und mikroökonomisch ausgerichteten Politikfelder wie eben die Sozialpolitik als Träger der Anpassungslasten an makroökonomische Änderungen in das Zentrum nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik gerückt. Die EU hat somit nicht nur ein Interesse an den makroökonomischen Politikfeldern, sondern gerade auch an den mikroökonomisch orientierten Bereichen, da diese jetzt die Aufgabe haben, Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten zu bewältigen. Hier kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Aufgaben der Sozialpolitik – soziale Sicherung zum einen und zwischenstaatliches Allokationsinstrument zum anderen – kommen. Die Herausforderungen für und Anforderungen an eine effektive und effiziente aktive Arbeitsmarktpolitik haben sich in den vergangenen Jahren somit grundlegend verändert. Entgegen der Steuerungseuphorie von 1969 wurde allerdings in den Folgejahren – parallel zur wachsenden Arbeitslosigkeit und der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit – die Wirksamkeit der Arbeitsförderung seitens der Politik und der Wissenschaft angezweifelt und ihr Nutzen in Frage gestellt. Die in diesem Band diagnostizierten Veränderungen der arbeitsmarktpolitischen Ziele und Instrumente bilden den aktuellen Stand der Entwicklungen ab und bewerten ihn im historischen Kontext. Es deutet sich jedoch an – und dies werden die Beiträge im einzelnen zeigen – dass dieser keinesfalls das Ergebnis linearer Entwicklungsprozesse ist, wie es die Debatten um die arbeitsmarktpolitische Aktivierung (vgl. Aust et al. 2008; Eichhorst et al. 2008; Koch et al. 2009) oder den Wohlfahrtsstaatsumbau deutlich machen (stellvertretend für die nahezu unüberschaubare Literatur hierzu Lütz/Czada 2004 sowie Haubner et al. 2009).
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft 4
17
Wandel der arbeitsmarktpolitischen Ziele und Instrumente
Der vorliegende Band bilanziert die Entwicklung von 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. In Teil I werden die Veränderungen in den Grundzügen der deutschen Arbeitsmarktpolitik diskutiert. Teil II behandelt den Wandel der Instrumente und Teil III beschäftigt sich mit den alten und neuen Trägern der Arbeitsmarktpolitik und ihren sich wandelnden Rollen, um abschließend und zusammenfassend zu einer allgemeineren Diagnose bezüglich des aktuelle erreichten Standes nach 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu gelangen (Bothfeld/Sesselmeier/Bogedan). Im Anhang des Bandes werden die zentralen arbeitsmarktpolitischen Indikatoren im Zeitverlauf sowie institutionelle Informationen präsentiert. Die Mehrzahl der Beiträge wurde im kollegialen Kreis im Rahmen von zwei AutorInnenworkshops im August 2008 in Berlin und im Februar 2009 in Düsseldorf diskutiert. Das Engagement und die Diskussionsfreudigkeit der teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen haben zur Kohärenz des gesamten Bandes entscheidend beigetragen. Wir möchten außerdem Hartmut Seifert, Jürgen Kühl und Bernd Reissert für ihr Diskussionsbeiträge sowie Renate Anstütz und Florian Stege für ihre technische Unterstützung danken. Weiterer Dank gilt Frank Schindler vom VS-Verlag, der die Produktion des Bandes sofort befürwortete und die Herausgeberinnen und den Herausgeber durch schnelle und flexible Hilfe unterstützte.
Literatur Aust, J./Baethge-Kinsky,V./ Müller-Schoell, T./Wagner, A. (Hrsg.) (2008): Über Hartz hinaus. Stimmt die Richtung in der Arbeitsmarktpolitik? Edition Hans-Böckler-Stiftung 214, Düsseldorf. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008) Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Berlin. Bäcker, G./ Naegele, G./ Bispinck, R./ Hofemann, K./ Neubauer, J. (2008), Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. Wiesbaden: VSA. CEDEFOP (2008) http://www.cedefop.europa.eu/etv/projects_networks/Statistics/indicators_ continuing.asp (letzter Abruf 30.03.2009). Chetty, R. (2008): Moral Hazard vs. Liquidity and Optimal Unemployment Insurance. In: Journal of Political Economy 116. 2. 173-234. Eichhorst, W./Kaufmann, O./ Konle-Seidl, R. (Hrsg.) (2008): Bringing the Jobless into Work? Experiences with Activation Schemes in Europe and the US, Berlin u.a.: Springer. Eichhorst, W./Thode, E./Winter, F. (2004): Benchmarking Deutschland 2004. Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Berlin u.a: Springer. Gangl, M. (2004) Institutions and the structure of labour market matching in the United States and West Germany, European Sociological Review. 20. 3. 171-187. Geißler, R. (20023): Die Sozialstruktur Deutschlands. Die gesellschaftliche Entwicklung vor und nach der Vereinigung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Haubner, D./Mezger, E./Schwengel, H. (Hrsg.) (2009): Reformpolitik für das Modell Deutschland, Marburg: Metropolis. Koch, S./ Kupka, P./ Steinke, J. (2009): Aktivierung, Erwerbstätigkeit und Teilhabe. Vier Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende, Gütersloh und Nürnberg.
18
Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006) Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Berlin. Kühl, J. (1982): Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 15. 3. 251-260. Lampert, H. (1989): 20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 22. 2. 173-186. Lampert, H. (1997): Arbeitsmarktordnung. In: Schmid, A./D. Kahsnitz/G. Ropohl (Hrsg.) Handbuch zur Arbeitslehre,München: Oldenbourg. 429 - 442. Lampert, H./J. Englberger/U. Schüle (1991): Ordnungs- und prozeßpolitische Probleme der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker und Humblot. Leiber, S./ A. Thiel,/A. Ziegler (2005): Demografie. In: Bothfeld, S./C. Klenner/S. Leiber/A. Thiel/A. Ziegler: WSI-FrauenDatenReport 2005 - Handbuch zur ökonomischen und sozialen Situation von Frauen, Berlin: Edition Sigma.11-55. Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt /New York: Campus. Lütz, Susanne/Czada, Roland (Hrsg.) (2004): Wohlfahrtsstaat – Transformation und Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag. Neubäumer, Renate (2009): Mikroökonomische Evaluation aktiver Arbeitsmarktpolitik – Grundlagen, Ergebnisse und eine kritische Bestandsaufnahme, in: Sozialer Fortschritt. German Review of Social Policy 58 (im Erscheinen). Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2008): Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgutachten 2008/2009, Wiesbaden. Schmid, G. (1987): Zur politisch-institutionellen Theorie des Arbeitsmarkts. Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik bei der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. In: Politische Vierteljahresschrift. 28. 2. 133-161. Schmid, G. (Hrsg.) (1994) Labor Market Institutions in Europe. A Socioeconomic Evaluation of Performance, Armonk/ New York: M.E. Sharpe. Schmid, G. (2002): Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/New York: Campus. Schmid, G. (2008): Full Employment in Europe. Managing Labour Market Transitions and Risks, Cheltenham: Edward Elgar. Seifert, H. (Hrsg.) (1995): Reform der Arbeitsmarktpolitik. Herausforderung für Politik und Wirtschaft. Köln: Bund Verlag. Sesselmeier, W. (2008): Sozio-ökonomischer Wandel: Ein Überblick. In: Funk, L. (Hrsg.): Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie. Wirtschaftspolitische Aspekte von Strukturwandel, Sozialstaat und Arbeitsmarkt. Eckhard Knappe zum 65. Geburtstag. Marburg, 163-186. Trappe, H. (1995): Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin: Akademie Verlag. Wimbauer, C. (2006): Frauen – Männer, in: Lessenich, S./Nullmeier, F. (Hrsg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/New York: Campus. 136-157
Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft
I. Grundzüge der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im Wandel
19
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
21
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
1
Hintergrund
Die Rahmenbedingungen für die Arbeitsmarktpolitik, erst auf Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 und ab 1998 auf Grundlage des Sozialgesetzbuches II und III, veränderten sich stetig. Dies war mit einem Wandel im Verständnis und in der Stellung der Arbeitsmarktpolitik verbunden, welcher einerseits in den Veränderungen des theoretischen Mainstreams, der die Verlagerung von der nachfrageorientierten Wirtschafts- (makroökonomische Sicht) hin zur Angebotspolitik auf dem Arbeitsmarkt (mikroökonomische Sicht) beschreibt, begründet lag. Andererseits ist dieser Zeitraum von einem sozioökonomischen Strukturwandel gekennzeichnet, dessen Hauptaspekte die zunehmende internationale Verflechtung von Kapital und Akteuren durch Waren- und Dienstleistungsströme sind. Zudem kommt durch die Informatisierung der Arbeitswelt der IKT eine Schlüsselrolle zu, wodurch sich zu den bestehenden drei klassischen Sektoren der Informationssektor generiert (Sesselmeier 2008: 15). Dieser Strukturwandel ist vom Wegfall einfacher Tätigkeiten insbesondere im Industriesektor gekennzeichnet, womit sich die strukturelle Arbeitslosigkeit verschärfte (Schettkat 1999; Adnett/Hardy 2005: 71). So war die makroökonomische Wirtschaftspolitik mit Fokus auf die Nachfrageseite nicht mehr adäquat, um die Beschäftigungssituation zu verbessern. Eine Anpassung der Arbeitsmarktpolitik als Instrument für die Beschäftigungssteigerung wurde erforderlich (Høj et al. 2006 9ff.; Eichhorst/Hemerijck 2008: 5). Die OECD Jobs Study von 1994, die vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Rahmenbedingungen neben einer Deregulierung auch eine Effizienzsteigerung der aktiven Arbeitsmarktpolitik forderte, untermauerte das Ziel der Verbesserung der Beschäftigungssituation. Zudem veränderte die zunehmende Integration in die EU, welche mit einer Übertragung der Geld- und Währungspolitik an eine supranationale Instanz, der EZB, einherging, die politischen Rahmenbedingungen. Seither gewinnen die in nationaler Hand verbleibenden Politikfelder, wie Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten an Bedeutung. Um wohlfahrtsstaatlichen Unterschieden Rechnung zu tragen, bildet die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) den Rahmen für Reformen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation. In jüngerer Zeit konkretisiert sich dies in der Flexicuritystrategie, die eine Kombination verschiedener Arten von Flexibilität und sozialer Sicherung in Verbindung mit wohlfahrtsstaatlichen Merkmalen vorsieht. Kernelement der Flexicurity ist dabei die aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Unter Aktivierung wird ein Bündel an Maßnahmen verstanden, das unterstützend beim Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt wirkt (Eichhorst et al. 2008: 4). Ziel des Artikels ist die Herausarbeitung der Stellung der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Wirtschaftspolitik und deren Bedeutungswandel im Zeitverlauf. Um diesen auf europäischer Ebene darzustellen, werden im zweiten Kapitel zunächst die Kriterien zur Einteilung in die Wohlfahrtsstaatstypologie nach Esping-Andersen sowie das Zusammenspiel der einzelnen Politikbereiche beschrieben. Dies erklärt die verschiedenen Ausgangssi-
22
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
tuationen in den einzelnen Mitgliedsstaaten bei der Durchführung der Reformen, die unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb der Arbeitsmarktpolitik legen und sich zudem durch ein unterschiedliches Institutionengefüge auszeichnen. Daher wurde die Umsetzung der Reformen nicht einheitlich angegangen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden im dritten Kapitel dargelegt. Hierbei sind die theoretischen Wirkungskanäle der einzelnen arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Arbeitsmarktflexibilisierung von besonderer Relevanz. Der Bedeutungswandel der Arbeitsmarktpolitik wird zudem ländervergleichend skizziert.
2
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der europäischen Wohlfahrtsstaaten
Ein Staat wird als Wohlfahrtsstaat bezeichnet, wenn dieser die soziale Verantwortung zum Erhalt eines gewissen Mindestniveaus an Wohlfahrt übernimmt (Esping-Andersen 1990: 18). Im Allgemeinen zeichnen sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten durch ein entsprechendes soziales Sicherungssystem aus. Obwohl in diesem Kontext oft von einem Europäischen Wohlfahrtsstaat gesprochen wird (Shelburne 2005; Scharpf 2002), unterscheiden sich dessen soziale Sicherungssysteme meist erheblich. Dies ist auf verschiedene wohlfahrtsstaatliche Hintergründe und institutionelle Rahmenbedingungen in anderen Politikbereichen zurückzuführen, welche unterschiedliche Pfade für Reformen vorgeben und zugleich Erklärungsgrundlage für die diversen Ausgangspositionen der Reformvorhaben bilden.
2.1 Sozialpolitik in den einzelnen Wohlfahrtsstaatenclustern Grundsätzlich sind drei verschiedene Wohlfahrtsstaatstypologien identifizierbar: der liberale, der konservative sowie der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatentyp.1 Diese Einteilung geht auf Esping-Andersen (1990) zurück, der die Wohlfahrtsstaaten anhand der Ausprägung der einzelstaatlichen Sozialsysteme gruppierte. Dabei sind die Sozialstaaten meist jedoch nicht durchgängig durch die Strukturmerkmale nur eines Modells geprägt (Boeckh 2006: 410). 2.1.1 Kriterien zur Einteilung von Wohlfahrtsstaatstypologien Aufgrund der Vielschichtigkeit der Wohlfahrtsstaaten wird der Vergleich auf die Kriterien der Dekommodifizierung und der Destratifizierung reduziert. Unter Dekommodifizierung wird die relative Entkoppelung von den Risiken und Zwängen kapitalistischer Märkte im Falle eines Eintritts eines Arbeitsmarktrisikos verstanden (Sesselmeier 2008: 33). Ein Individuum kann sich in einem dekommodifizierenden Wohlfahrtsstaat einen gewissen Lebensstandard mit Hilfe staatlicher Institutionen unabhängig von Marktmechanismen sichern (Esping-Andersen 1990: 22). Darüber hinaus werden die Wohlfahrtsstaaten am Grad der Destratifizierung gemessen. Diese beschreibt die Struktur und die Durchlässigkeit sozialer Sicherungssysteme in 1 Häufig werden diese drei Typen um eine südeuropäische und – neuerdings – eine osteuropäische Variante ergänzt.
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
23
Bezug auf Lebenslagen und Solidaritätsbeziehungen (Sesselmeier 2008: 33). In diesem Kontext werden insbesondere die Aus- und Rückwirkungen sozialpolitischer Einkommensleistungen auf die Sozialstruktur der Gesellschaft und die Ausprägungen bzw. Reduzierung sozialer Ungleichheiten betrachtet (Bäcker et al. 2008: 51). Anhand dieser Kriterien werden die genannten Wohlfahrtsstaatencluster gebildet, welche im Folgenden genauer dargestellt werden. 2.1.2 Sozialpolitik in den Wohlfahrtsstaaten Die Wohlfahrtsstaatstypologien implizieren eine unterschiedliche Funktion der Sozialpolitik, weil politische Entscheidungen von nationaler Politik getroffen werden, welche die vorherrschenden Rahmenbedingungen berücksichtigen und die sozialen Gruppen repräsentieren (Armingeon 2007: 913). Im liberalen Wohlfahrtsstaat, wie bspw. Großbritannien ist die Sozialpolitik entsprechend der gesamten Volkswirtschaft flexibel ausgestaltet. Die staatlichen Aktivitäten beschränken sich auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Märkte frei von jeglichem politischen und sozialen Eingriff agieren (Cernat 2006: 15). Infolgedessen konzentriert sich der Staat auf die makroökonomische Stabilitätspolitik, wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Währungsstabilität und den Staatshaushalt. In diesen Wohlfahrtsstaaten erfüllen die Marktmechanismen eine selbstregulierende Funktion, die sich durch einen geringen Einfluss der Gewerkschaften sowie einen geringen Kündigungsschutz bei einer gleichzeitig hohen Lohnflexibilität kennzeichnet. Diese schwache Regulierung geht mit einer geringen finanziellen staatlichen Unterstützung einher, die aber mindestsichernde Leistungen für alle Betroffenen garantiert (Boeckh 2006: 412; Sesselmeier 2008: 34). Weitere wohlfahrtsstaatliche Elemente finden sich in der Unterstützung und Förderung von privaten Absicherungssystemen gegen Arbeitsmarktrisiken wider. Eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Arbeitsplatzsuche bzw. des Wiedereintritts ins Erwerbsleben kann der (aktiven) Arbeitsmarktpolitik nicht zugeschrieben werden. Der Grad an Dekommodifizierung ist sehr gering, das Individuum ist bei nur geringer Absicherung gegenüber Marktrisiken auf sich selbst gestellt (Esping-Andersen 1990: 22). Insgesamt ist eine hohe Ungleichheit verbunden mit einem geringen Grad an Destratifizierung zu konstatieren. Das sozialdemokratische Regime der skandinavischen Länder ist durch einen universalistischen Staat gekennzeichnet. Damit nimmt innerhalb dieses Wohlfahrtsstaatenclusters die Gleichheit eine hohe Priorität ein (Esping-Andersen 1990: 22; Hansen et al. 2002: 189), weshalb die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch Steuern erfolgt. Sowohl die Finanzierung als auch die soziale Sicherung schließt alle Bedürftigen ein. Der Fokus liegt vor allem auf der Absicherung gegenüber Arbeitsmarktrisiken und auf einer marktunabhängigen Existenzsicherung, woraus ein hoher Grad an Dekommodifizierung folgt. Die angestrebte Gleichheit wird durch einen hohen Grad an Destratifizierung erreicht. Dies erfordert eine starke Präsenz des Staates, der die Verteilungsprozesse koordiniert. Neben einer derartigen Regulierung sind auch liberale Elemente zu erkennen. Aufgrund eines niedrigen Kündigungsschutzes herrscht eine hohe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt vor. Um diese Flexibilität bei hohen Lohnersatzleistungen zu garantieren, ist eine aktiv ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik implementiert, die unterstützend beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt agiert. Gleichzeitig weist die Arbeitsmarktpolitik hohe Sanktionierungsmaß-
24
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
nahmen auf. Insgesamt ist die Sozialpolitik auf die Vollbeschäftigung ausgerichtet (Boeckh et al. 2006: 413). Für das konservative Regime, wie bspw. in Deutschland ist die enge Koordination zwischen Staat, Gewerkschaften und Industrieverbänden charakteristisch. Im Gegensatz zu den beiden anderen Wohlfahrtsstaatstypen ist der Arbeitsmarkt rigide. Die Lohnflexibilität wird durch die Gewerkschaften eingeschränkt. Zudem ist die passive Arbeitsmarktpolitik in Form hoher Lohnersatzleistungen ausgeprägt. Jedoch spielt die aktive Arbeitsmarktpolitik eine untergeordnete Rolle (Sesselmeier 2008: 33f.). Dies impliziert einen hohen Grad an Dekommodifizierung. Die Absicherung gegenüber Arbeitsmarktrisiken ist jedoch nur für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige gedacht. Demgemäß ist die soziale Sicherung vor allem durch Beiträge finanziert, was zu hohen Lohnnebenkosten führt. Aufgrund der einkommensabhängigen Leistungen der Sozialpolitik werden die vom Markt herbeigeführten Statusunterschiede reproduziert, wodurch Arbeitsmarktsegmentation entsteht. Dies fördert die Ungleichheit, was ebenfalls, wie im liberalen Typus, einen geringen Grad an Destratifizierung impliziert (Sesselmeier 2008: 34). Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation sowohl aus qualitativer als auch aus quantitativer Sicht ist es daher notwendig einen hohen Grad an Kommodifizierung und an Destratifizierung zu erlangen. Dies kann durch Aktivierungsstrategien erreicht werden, die aber im Einklang mit anderen Politikbereichen stehen müssen.
2.2 Das Zusammenspiel der Politikfelder in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten Eine umfassendere Betrachtung berücksichtigt neben dem Arbeitsmarkt noch weitere Märkte. Bei der Ausgestaltung der Politikfelder sind nationale wirtschaftspolitische sowie Produktmarktstrategien erkennbar, die eine unterschiedliche Funktion der Arbeitsmarktpolitik als Teilbereich der Sozialpolitik gegenüber anderen Politikbereichen und im Wechselspiel mit diesen implizieren (Schröder 2008). Aus dieser Komplementarität ergeben sich bei Reformen in einem Politikbereich Koordinationsprobleme, die in Betracht gezogen werden müssen (Klär/Fritsche 2008: 460). Die Ausprägungen der betrachteten Sektoren innerhalb der einzelnen Cluster werden in Tabelle 1 gezeigt. Diese zeigt, setzt das liberale Wohlfahrtsstaatenregime die politischen Instrumente nach den neoklassischen Annahmen und dem politischen Liberalismus ein. Güter- und Finanzmarkt sind kaum reguliert, der Preismechanismus koordiniert wirtschaftliche Aktivitäten. Flexible Märkte erfordern allgemeines Humankapital, um die Arbeitskräfte beliebig einsetzen zu können. Individuen sind eigenverantwortlich bei der Humankapitalbildung, womit der niedrige Bildungsstand erklärt werden kann. Im Gegensatz hierzu zieht sich in den konservativen Wohlfahrtsstaaten ein regulierter Arbeitsmarkt bis in die anderen Marktbereiche durch. Finanz- und Gütermarkt sind einem koordinierten Wettbewerb unterworfen. Die Produktmarktstrategie verlangt spezifisches Humankapital, dessen Bildung durch den Staat unterstützt wird und das zugleich die Arbeitsmarktflexibilität einschränkt. Eine Mischform stellt der sozialdemokratische Typus dar. Flexible Arbeitsmärkte stehen relativ rigiden Güter- und Finanzmärkten gegenüber, die durch staatliche Institutionen koordiniert werden. Dies schränkt aber den Wettbewerb dennoch nicht ein, weshalb eine hohe soziale Absicherung notwendig ist (Eichhorst/Hemerijck 2008: 5).
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
25
Tabelle 1: Überblick über die Sektoren in den Modellen des Kapitalismus nach Amable (2003) Sektor Marktwettbewerb, Produktmarkt
Arbeitsmarkt
liberal freierWettbewerb, Koordinationdurch Preismechanismen, kurzfristigausgerichtet, geringeHürdenbei Kreditvergabe allgemeinesHumankaͲ pital,geringerBilͲ dungsstand flexibel
Lohnsystem
flexibel
SozialeSicherung
alsMindestsicherung
Finanzsektor
Bildungssektor
konservativ koordinierter Wettbewerb
sozialdemokratisch hoheKoordinationund staatlicheEingriffe
langfristigausgeͲ richtet
langfristigausgerichtet, hoheHürdenbeiKreditͲ vergabe spezifischesHumankapiͲ tal,hoherBildungsstand
spezifischesHuͲ mankapital,hoher Bildungsstand rigide rigide
fürsorgend,staͲ tuserhaltend
flexibelmitstarken Sanktionen zentralisierteundkoorͲ dinierteLohnverhandͲ lungen fürsorgend
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Amable (2003) Die komplementäre Abstimmung der Marktbereiche beeinflusst das Reaktionsvermögen bei Störungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Wohlfahrtsstaaten. Daraus resultieren für die Arbeitsmarktflexibilität unterschiedliche Möglichkeiten, welche in den Wohlfahrtstaaten in verschiedener Weise auftreten (Esping-Andersen/Regini 2000: 16): extern (numerische) Flexibilität, intern (numerische) Flexibilität, funktionale Flexibilität, Lohnflexibilität. Bei externer Flexibilität reagieren die Unternehmen auf Veränderungen in der Güter- bzw. Dienstleistungsnachfrage mit Einstellungen oder Entlassungen. Vor allem die liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten sind von diesem Flexibilitätstyp geprägt (Madsen 2006). Im Gegensatz hierzu steht die interne Flexibilität. Unternehmen passen bei konjunkturellen Schwankungen ihre Arbeitsnachfrage durch Arbeitszeitänderungen (Überstundenauf- bzw. -abbau, Kurzarbeit etc.) an. Dieser Flexibilitätstypus kennzeichnet insbesondere das konservative Wohlfahrtsstaatsregime. Bei funktionaler Flexibilität können die Arbeitskräfte unterschiedliche Aufgaben übernehmen und innerhalb des Unternehmens an verschiedenen Stellen der Arbeitsprozesse flexibel eingesetzt werden. Liegt Lohnflexibilität vor, werden Arbeitsnachfrageschwankungen mit Lohnanpassungen kompensiert. Lohnflexibilität ist insbesondere in den liberalen Wohlfahrtsstaaten zu beobachten. Durch die Integration der Länder in die Europäische Währungsunion (EWU) mit damit einhergehenden geld- und fiskalpolitischen Restriktionen entsteht die Notwendigkeit auf nachfrageseitige Veränderungen mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu reagieren. Ziel ist es, die gesamtwirtschaftliche Flexibilität trotz eines Wandels des Instrumentenmix zu erhalten oder sogar zu erhöhen, wobei gerade die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik die
26
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
Struktur der Arbeitslosigkeit bestimmt (Esping-Andersen/Regini 2000: 6), die sich durch Reformen beeinflussen lässt. Ansätze hierzu werden durch die unterschiedlichen Funktionen der Arbeitsmarktpolitik innerhalb der Wohlfahrtsstaatentypen vorgegeben, was unterschiedliche Ausgangssituationen für Reformen impliziert. Zugleich geben die verschiedenen Politikfelder den Pfad eines jeweiligen Wohlfahrtsstaates für notwendige Reformen vor.
3
Arbeitsmarktpolitik als Teil der Sozialpolitik innerhalb der Wohlfahrtsstaatstypologien vor dem Hintergrund der Flexicurity
Die Bedeutung der Arbeitsmarktpolitik in den europäischen Wohlfahrtsstaaten ist sehr unterschiedlich. Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation sind verschiedene arbeitsmarktpolitische Instrumente einzusetzen, deren Einfluss den Arbeitsmarkt verschiedenartig flexibilisiert. Vor dem Hintergrund der zunehmenden strukturellen Arbeitslosigkeit empfahl die OECD Jobs Study von 1994 eine Ausrichtung der Reformen auf die externe Flexibilität. Von Seiten der EU wird ebenfalls Druck auf die Wohlfahrtsstaaten zu Reformen ausgeübt (Lodovici 2000: 53): Die EU gibt dabei den Rahmen in Form der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) zur Beschäftigungssteigerung vor. Die Reformen, die auf der EBS basieren, finden vor dem Hintergrund der Flexicurity statt, innerhalb derer zwei Ziele verfolgt werden: Erstens die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Flexibility) und zweitens die soziale Sicherung (Security). Dabei werden verschiedene Arten von Flexibilität im Kontext der sozialen Sicherung innerhalb der jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen berücksichtigt (European Commission 2007, Madsen 2006). Damit eröffnen sich verschiedene Ansatzpunkte für zielführende Reformen.
3.1 Arbeitsmarktpolitik im Kontext der Arbeitsmarktflexibilität Die Arbeitsmarktpolitik innerhalb der einzelnen Wohlfahrtsstaaten setzt unterschiedliche Instrumente ein, die verschiedenartig auf die Arbeitsmarktflexibilität wirken. Die relativ hohe soziale Sicherung der Arbeitskräfte innerhalb der europäischen Wohlfahrtsstaaten wird durch arbeitsmarktpolitische Instrumente gekennzeichnet (Lodovici 2000: 33), die unterschiedliche Ansatzpunkte von Reformen bilden: Arbeitsmarktordnungspolitik o Lohnbildungsprozess o Beschäftigungsschutz Finanzierung von aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik, Anspruchsvoraussetzungen für Sozialleistungen Bezugsdauer und -höhe von Lohnersatzleistungen, Beim Lohnbildungsprozess ist die Rolle der Gewerkschaften hervorzuheben, die durch einen hohen Machteinfluss bei Lohnverhandlungen die externe und Lohnflexibilität beeinflussen, was sich aber nicht unbedingt nachteilig auf die Beschäftigung auswirken muss. So berücksichtigen zentralisierte Gewerkschaften in den Lohnverhandlungen ihren Einfluss auf die makroökonomischen Rahmenbedingungen und üben bspw. während eines Abschwungs Lohnzurückhaltung aus (Bassanini/Duval 2006: 91). Allerdings kann sich dies
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
27
negativ auf die Beschäftigung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte auswirken, deren Produktivität unterhalb der tariflichen Entlohnung liegt. Dezentral organisierte Gewerkschaften tragen dagegen der unternehmerischen Situation Rechnung. So beeinflussen sie die Beschäftigung ebenfalls positiv. Insgesamt reagiert der Lohn im unteren Bereich unabhängig vom Zentralisierungsgrad der Gewerkschaften nicht flexibel. Ein weiterer Aspekt der Arbeitsmarktordnungspolitik sind die Regelungen des Beschäftigungsschutzes. Diese wirken einschränkend auf die externe Flexibilität. Denn der Arbeitsmarkt kann bei einem niedrigen Beschäftigungsschutz flexibel reagieren. In diesem Fall begegnen Arbeitgeber einer veränderten Nachfrage mit Entlassungen oder Einstellungen. Bei einem Anstieg der Nachfrage setzt ein geringer Beschäftigungsschutz für die Unternehmen Anreize einzustellen, auch wenn zu Beginn eines Aufschwunges dessen Nachhaltigkeit nicht einzuschätzen ist. Die Folgen für die Beschäftigung sind daher negativ mit dem Beschäftigungsschutz korreliert (Bassanini/Duval 2006: 93). Bei hohem Beschäftigungsschutz gewinnen alternative Reaktionsmöglichkeiten, wie die interne oder die funktionale Flexibilität, an Bedeutung. Eine weitere Komponente mit Einfluss auf die Flexibilisierung ist die Finanzierung, die entweder durch Steuern und/oder durch Beiträge erfolgt. Deren Beschäftigungswirkung wird durch den Abgabenkeil bestimmt.2 Je höher dieser ist, bspw. bei vorwiegender Beitragsfinanzierung, desto höher ist der tarifliche Lohn festzulegen, damit sich der Nettolohn erhöht. Dies wirkt einschränkend auf die Lohnflexibilität. Ebenso reduziert sich die externe Flexibilität durch tendenziell geringere Einstellungen aufgrund des höheren Arbeitgeberlohnes. Empirisch liegt nach Bassanini und Duval (2006) für die Auswirkungen der Finanzierungsarten auf den Arbeitsmarkt jedoch keine Evidenz vor. Ferner beeinflusst die Arbeitsmarktpolitik auf unterschiedliche Weise die Arbeitsmarktflexibilität. Die passive Arbeitsmarktpolitik (Konle-Seidl/Eichorst 2008: 39), worunter die Höhe und die Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen zu subsumieren ist, schränkt die externe und die Lohnflexibilität ein. Dabei sind drei Effekte in Betracht zu ziehen: Erstens bilden Lohnersatzleistungen eine finanzielle Absicherung, mit der Arbeitsuchende ein adäquates Job-Matching erzielen können (OECD 2006: 56), was aber auch Anreize für einen schnellen Wiedereinstieg reduziert. Zweitens kann eine höhere finanzielle Absicherung den Lohn erhöhen und Neueinstellungen verringern (Bassanini/Duval 2006: 89). Drittens bedeuten hohe gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen Leistungseinschränkungen und Aktivierung. Der Anspruch hängt dabei in der Regel von in der Vergangenheit kumulierten Beschäftigungszeiten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ab. Schließlich können Bildungsmaßnahmen, wie Umschulungen, Fort- und Weiterbildungen sowie die aktive Unterstützung bei der Arbeitssuche, Subventionen im privaten Sektor (vor allem Lohnsubventionen für Arbeitgeber) als Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Arbeitsmarkteingliederung fördern (Kluve et al. 2007; Eichhorst et al. 2008). Sie fördert die Arbeits(kräfte)mobilität und -anpassung, erleichtert das Matching von Arbeitskräften und produktiven Arbeitsplätzen und fördert zudem die Besetzung von Arbeitsplätzen. Diese werden zumeist mit Hilfe von Sanktionen hinsichtlich der passiven Arbeitsmarktpolitik durchgesetzt. Diese Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten der arbeitsmarktpolitischen Instrumente scheinen auch die Arbeitsmarktindikatoren, wie die unterschiedlichen Arbeitslosenoder Beschäftigungsquoten in den jeweiligen Wohlfahrtsstaaten aufzeigen, zu beeinflussen. 2 Dieser ergibt aus der Differenz zwischen dem Arbeitgeberlohn, also der Teil der Arbeitskosten, der Unternehmen pro Arbeitskraft entsteht, und dem Nettolohn der Arbeitnehmer.
28
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
Ein Zusammenhang zwischen den Arbeitsmarktindikatoren und den institutionellen Rahmenbedingungen drängt sich auf. Dabei wirken Regulierungen stärker auf die Betroffenheit von verschiedenen Personengruppen als auf die Höhe der Arbeitslosigkeit an sich. Infolgedessen erhöht sich das Risiko von Arbeitslosigkeit und deren Persistenz für Problemgruppen (Esping-Andersen/Regini 2000: 3). Die Ausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf die Wiedereingliederung von bestimmten Personengruppen erfolgt in den Wohlfahrtsstaaten auf unterschiedliche Weise.
3.2 Wandel der Stellung der Arbeitsmarktpolitik Auf der Grundlage der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und ihrer Wirkungen auf die Arbeitsmarktflexibilität erfolgt nun eine kursorische Einordnung der jeweiligen nationalen Arbeitsmarktpolitik der Wohlfahrtsstaaten. Hierzu werden Länder gewählt, die repräsentativ für jeweils einen Wohlfahrtsstaatentyp und für Arbeitsmarktreformen unterschiedlicher Intensität stehen. So wird die Entwicklung von Großbritannien (liberaler Wohlfahrtsstaat), Dänemark (eher sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat und Vorbild bei der Umsetzung der Flexicuritystrategie) und Deutschland (konservativer Wohlfahrtsstaat) kurz betrachtet. In die Analyse einbezogen werden zudem die Niederlande, die radikale Änderungen zu einem recht frühen Zeitpunkt durchgeführt haben (Sproß/Lange 2008: 31). Es wird im Folgenden die Situation vor und nach den Reformen getrennt skizziert. 3.2.1 Arbeitsmarktpolitik mit unterstützender Funktion Lange Zeit wurden die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik auf die geltenden Rahmenbedingungen der anderen Politikbereiche abgestimmt und so die Arbeitsmarktrisiken minimiert. Die Arbeitsmarktpolitik reagierte vielmehr, als dass sie vorbeugte, und war daher als Hilfsinstrument der Konjunktur- und Wachstumspolitik zu betrachten (Altmann 2004: 251). Spezifische Marktmechanismen wurden unterstützt oder zumindest nicht behindert. Bis in die 1990er Jahre lag daher der Fokus auf dem Einsatz der fiskal- und geldpolitischen Instrumente, um der Dämpfung konjunktureller Schwankungen Vorrang einzuräumen und Arbeitsmarktrisiken zu reduzieren. Nahezu in allen beschriebenen europäischen Wohlfahrtsstaaten waren durch die Arbeitsmarktpolitik wenig Anreize gegeben, schnell wieder in Beschäftigung zu gelangen. Im Gegenteil wurden zwischen 1970 und 1990 die Lohnersatzleistungssysteme großzügiger ausgestaltet, der Abgabenkeil größer und die Anreize für eine Frühverrentung erhöht (Høj et al. 2006: 7). Zudem wurde, bspw. in Deutschland, versucht, durch moderate Lohnforderungen die Arbeitslosenquote zu senken. Die Arbeitsmarktpolitik flankierte damit die makroökonomische Nachfragepolitik, indem sie sowohl in den konservativen als auch in den sozialdemokratischen Wohlfahrtstaatenclustern zur Erreichung von Chancengleichheit und dem Statuserhalt eine gut ausgebaute passive Arbeitsmarktpolitik implementierte, die durch hohe Lohnersatzleistungen gekennzeichnet war. Diese finanzierte sich in den konservativen Wohlfahrtsstaaten vor allem aus Beiträgen, welche proportional zum Einkommen festgelegt wurden, was die Arbeitsmarktsegmentation förderte und die externe Arbeitsmarktflexibilität einschränkte, welche durch den rigiden Kündigungsschutz verstärkt wurde (Allard/Lindert 2006: 10). Interne Flexibilität kompensierte dieses Arrangement bis zu einem gewissen Grad. Obwohl im
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
29
liberalen Wohlfahrtsstaat die externe Flexibilität durch freie Märkte, Deregulierung und Privatisierung (Palaginis 2002: 230) mit einer wenig ausgestalteten Arbeitsmarktpolitik hoch war, lag die Beschäftigungsquote auf einem relativ niedrigen Niveau. Trotz der Reduktion der sozialen Leistungen auf ein Mindesteinkommen, das lediglich bedürftigen Menschen, wie Geringqualifizierten, Alleinerziehenden und Arbeitslosen zugute kam (Peter 2005: 2), gab es auch hier wenige Anreize, wieder zügig in Beschäftigung einzutreten. Zudem galten erleichterte Bedingungen für den Eintritt in den Vorruhestand, die zwar eine Verringerung der Arbeitslosenquote mit sich brachten, welche aber an der Senkung des Erwerbstätigenpotenzials ansetzten. Erst mit der Regierung Thatchers im Jahr 1979 gewann die aktive Arbeitsmarktpolitik an Bedeutung und wirkte unterstützend auf die Arbeitsmarktflexibilität (Boyle 2007: 141). So entstanden bereits erste Grundzüge des WorkWelfare, dessen Inhalt arbeitgeberorientiert war (Boyle 2007: 142). Dagegen wurde mit den Wirtschaftskrisen in den 1970er und 1980er Jahren die externe Flexibilität durch Verringerungen der passiven Arbeitsmarktpolitik in den konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten erhöht (van Orschoot 2008: 466; Sproß/Lang 2008: 43; Wurzel 2006: 5; Björklund 2000: 155). Auch hinsichtlich der Lohnflexibilität waren Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatenclustern zu erkennen. Diese war insbesondere während den 1970er Jahren aufgrund mächtiger Gewerkschaften eingeschränkt, die hohe Lohnsteigerungen durchsetzten und damit die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigten (Hansen et al. 2002: 191; Altmann 2004: 251). In Dänemark wurden deshalb Reformen bereits nach den Ölkrisen in den 1970er und 1980er Jahren durchgeführt. Maßnahmen, wie Reformen zur Erweiterung des öffentlichen Dienstleistungssektors, die Fokussierung auf die Aktivierung Langzeitarbeitsloser, also Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit sind, gestalteten den Arbeitsmarkt flexibler (Hansen et al. 2002: 191). Allerdings wurde die Arbeitsmarktflexibilität zwar nicht durch die Existenz eines Mindestlohns reduziert, aber starke Gewerkschaften begünstigten die Beschäftigten, was für Arbeitsuchende die Hürden für eine Wiederbeschäftigung erhöhte. Dagegen herrschte in den liberalen Wohlfahrtsstaaten eine relative hohe Lohnflexibilität vor, die durch die Machtbeschneidung der Gewerkschaften noch verstärkt wurde. Trotz der Notwendigkeit von Anpassungen der arbeitmarktpolitischen Instrumente an die wirtschaftliche Situation wurden in den Wohlfahrtsstaaten zunächst weitreichende arbeitsmarktpolitische Reformen umgangen. Bis in die 1990er Jahre spielte damit die Arbeitsmarktpolitik in den nationalen wirtschaftspolitischen Portfolios eine unterstützende und eher nachrangige Rolle. Die Ineffizienz der institutionellen Rahmenbedingungen nahm zu (Lodovici 2000: 31). Diese Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik deutete auf eine ungünstige Ausrichtung im Hinblick auf die Beschäftigung hin, was auf das ökonomische Paradigma während dieses Zeitraumes zurückzuführen war. Die Forschung und damit auch die Politikberatung basierte auf den Grundlagen der modernen Arbeitsmarkttheorien (vgl. Sesselmeier et al. 2009), die alle das Versagen des Lohnes als Allokationsmechanismus und damit das Versagen des Arbeitsmarktes diagnostizierten. Seit den 1990er Jahren wird dies als Grund für eine sich verfestigende, persistente Arbeitslosigkeit angesehen. 3.2.2 Arbeitsmarktreformen innerhalb der Wohlfahrtsstaatencluster Durch die Veränderungen der makroökonomischen Rahmenbedingungen und dem stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit rückte die Arbeitsmarktpolitik unweigerlich ins Zentrum der
30
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
Politikgestaltung, womit sich deren Funktion und darüber hinaus auch der ökonomische Blickwinkel wandelten. Damit wurde anerkannt, dass die anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen kein adäquates Mittel gegen die steigende Arbeitslosigkeit waren. Diese Empfehlungen waren einheitlich auf Deregulierung und Effizienzsteigerung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet im Hinblick auf die Erhöhung der externen Flexibilität und der Lohnflexibilität nach dem Vorbild des liberalen Wohlfahrtsstaatentyps. Abhängig vom Wohlfahrtsstaatentyp und dessen institutionellen und makroökonomischen Rahmenbedingungen gestalteten sich jedoch die Reformen auf unterschiedliche Weise (Adnett 1996: 79ff.). Daher wurden die tatsächlichen Reformvorhaben aber letztlich durch die Integration in die EWU angestoßen, die selbst Anforderungen an die nationale Arbeitsmarktpolitik stellte und gleichzeitig die nationalen Makropolitiken relativierte. Im ersten Schritt trat mit der EWU die EBS in Kraft, die sich an den Empfehlungen der OECD orientiert. Den Rahmen setzt in einem zweiten Schritt das Konzept der Flexicurity, welches gerade den wohlfahrtsstaatlichen Unterschieden der Länder Rechnung trägt. Dadurch vollzieht sich ein Wandel hin zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, welche den Fokus auf die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer und Arbeitslosen legt (Tergeist/Grubb 2006). Arbeitsmarktpolitische Instrumente, welche aktivierend wirken, basieren auf der Grundlage des „Make work pay“ (Peter 2005: 3; Boyle 2007: 138). In Großbritannien sind die Reformvorhaben als „Dritter Weg“ bekannt, weil sie einen Kompromiss zwischen sozialdemokratischem und marktliberalem Kurs darstellen. Dem Konzept der Flexicurity am meisten entspricht das Ergebnis der dänischen Reformen. Dort bleibt der Arbeitsmarkt weiter flexibel, indem mangelnde Kooperation bei der Stellenvermittlung bzw. bei Teilnahme an Bildungsmaßnahmen sanktioniert wird. Daher spielt die Arbeitsmarktpolitik zur Erreichung des Beschäftigungsziels eine wichtige Rolle. Dies verdeutlicht das „goldene Dreieck“, welches durch einen flexiblen Arbeitsmarkt (geringer Kündigungsschutz), hohe soziale Sicherung und aktive Arbeitsmarktpolitik charakterisiert ist (Kvist/Pedersen 2008; Erhel/Gazier 2007; Hansen et al. 2002). Die konservativen Wohlfahrtsstaaten führten die Reformen zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik unterschiedlich durch. Während die Niederlande die Bildungsmaßnahmen und Vermittlungsunterstützung für Leistungsansprüche voraussetzen (van Oorschot 2008: 476), werden die Leistungen in Deutschland seit den Hartz-Reformen bei mangelnder Inanspruchnahme der Maßnahmen reduziert. Zudem wurden diese Ersatzleistungen mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II stark gekürzt (Eichhorst/Hemerijck 2008: 21), was die Arbeitsanreize erhöhen sollte. Damit vollzog sich eine Verschiebung von der Status- zur Bedarfsorientierung und zur Grundsicherung. Darüber hinaus ist in den konservativen Wohlfahrtsstaaten der Arbeitsmarkt durch verstärkte Arbeitszeitflexibilisierungen gekennzeichnet (Gorter 2000: 204). Dagegen verringern starke Gewerkschaften (Deutschland, Dänemark) sowie die Existenz von Mindestlöhnen (Deutschland, Niederlande) die Lohnflexibilität. Wie in anderen europäischen Ländern fokussieren die Reformen in Deutschland die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die durch den Einsatz ihrer Maßnahmen in einem frühen Stadium der bzw. bei einer absehbaren Erwerbslosigkeit ansetzt (Knuth 2000: 66). Dies verdeutlicht die Verlagerung der reparierenden, unterstützenden hin zur vorbeugenden Funktion und damit einen Bedeutungsgewinn der Arbeitsmarktpolitik, welcher den Anpassungsmechanismus untermauert, den dieser Politikbereich seit der Schaffung der EWU zunehmend ausüben muss, um angemessen auf externe Störungen auf den nationalen Märk-
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
31
ten zu reagieren. Mit den in Deutschland durchgeführten Reformen ist hierbei mehr eine Annäherung an die liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten als umgekehrt zu erkennen.
4
Ausblick
Steigende strukturelle Arbeitslosigkeit, welche die OECD Jobs Study 1994 auf den Plan brachte, machte Reformen auf dem Arbeitsmarkt erforderlich. Ziel war es, diesen in allen Ländern durch Deregulierung zu flexibilisieren (OECD 1994). Dies rief Kritik der Institutionenökonomik hervor, in deren Folge ein Paradigmenwechsel erfolgte. Das Ziel der Flexibilisierung wurde zwar akzeptiert, jedoch sollte dieses auf der Grundlage der geltenden nationalen institutionellen Rahmenbedingungen erreicht werden. So, anders als von der OCED gefordert, geht die Arbeitsmarktflexibilisierung nicht mit einer gleichförmigen Deregulierung einher (Eichhorst/Hemerijck 2008: 4), da das Zusammenspiel zwischen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Wohlfahrtsstaaten die Übertragung nur einzelner Komponenten auf verschiedene Länder erschwert (Green-Pedersen/Lindbom 2005: 82). Ferner hat die OECD lediglich eine beratende Funktion. Deshalb steht die EU als Intermediär zwischen OECD mit deren Forderungen und den nationalen Regierungen, welche die Forderungen der OECD im Rahmen der EU umsetzen sollen (Armingeon 2004: 239). Diese Umsetzung erfolgt mit der EBS, die den einzelnen Wohlfahrtsstaaten Leitlinien zur Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik an die Hand gibt. Diese Leitlinien konzentrieren sich auf Flexicurity, die einerseits die Flexibilisierung (Flexibility) berücksichtigt, aber andererseits der sozialen Absicherung (Security) Rechnung trägt. Die Verbesserung der Beschäftigungssituation vollzieht sich innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen pfadabhängigen Kombination der beiden Komponenten. Bisherige Reformansätze erfolgten so an unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, weil sie unter Berücksichtigung unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Aspekte durchgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund prägte eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit die Einführung des SGB II, das nunmehr die Problemgruppen fokussiert, während sich das AFG bzw. jetzt SGB III auf den Erhalt des Status konzentrierte. Dies implizierte eine Verschiebung von der passiven zur aktiven Arbeitsmarktpolitik mit aktivierenden Komponenten. Im Rahmen der Flexicurity gestaltete sich auch der deutsche Arbeitsmarkt flexibler. Jedoch ging dies mit einer Zunahme an befristeten und Zeitarbeitsverträgen einher, die de facto die externe Flexibilität erhöhten. Zudem wurde durch Arbeitszeitregelungen die interne Flexibilität erhöht, ohne dass die Arbeitslosenquote in Deutschland merklich gesunken wäre (OECD 2006: 30). Dagegen erzielten in den 1990er Jahren die liberalen und sozialdemokratischen Länder starke Rückgänge in der Arbeitslosenquote und ein Anstieg der Beschäftigungsquote. Dennoch waren die Beschäftigungsraten der Problemgruppen in allen Ländern weiterhin unterdurchschnittlich, was u. a. durch die zunehmende Teilnahme an Bildungsmaßnahmen zu erklären ist (OECD 2006: 34). Insgesamt scheint bisher aber das sozialdemokratische Modell am besten abzuschneiden und den Trade-off zwischen Sozialausgaben und Wettbewerbsfähigkeit überwunden zu haben (De Grauwe/Polan 2003). Kritiker sind aber skeptisch, was die Nachhaltigkeit dieser Ausrichtung anbelangt, denn gerade in Dänemark existiert eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit, welche bei jedem weiteren wirtschaftlichen Abschwung mehr zu Tage tritt (Green-Pedersen/Lindbom 2005: 83). Zudem kommen Seifert und Tangian
32
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
(2008) in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die Flexibilität am Arbeitsmarkt nicht gleichgewichtig mit der sozialen Sicherung einhergeht. Vielmehr besteht ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Komponenten. Dies deutet darauf hin, dass das Konzept der Flexicurity erst noch beweisen muss, ob sie ein Allheilmittel ist.
Literatur Adnett, N. (1996): European Labour Markets. Analysis and Policies. New York: Addison Wesley Longman Publishing. Adnett, N./Hardy, St. (2005): The European Social Model. Modernisation or Evolution. Cheltenham: Edgar Elgar. Allard, G., J./ Lindert, P., H. (2006): Euro-Productivity and Euro-Jobs since the 1960s. Which Institutions Really Mattered? In: National Bureau of Economic Research, Inc, NBER Working Papers, Nr. 12460. Altmann, G. (2004): Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformrezepts in der Bundesrepublik Deutschland. In: Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Beihefte Nr. 176. Stuttgart: Viktor Steiner Verlag. Amable, B. (2003): The Diversity of Modern Capitalism. New York: Oxford University Press. Armingeon, K. (2004): OECD national Welfare State Development. In: Armingeon, K./Beyeler, M. (Hrsg.) (2004): The OECD European Welfare States. Cheltenham: Edgar Elgar. 226-242. Armingeon, K. (2007): Active Labour Market Policy, international Organizations and domestic Policy. In: Journal of European Public Policy 14. 6. 905-932. Bäcker, G./Naegele, G./Bispick, R./Hofemann, K./Neubauer, J. (2008): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung, 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bassanini, A./Duval, R. (2006): Employment Patterns in OECD Countries. Reassessing the Role of Policies and Institutions. In: OECD Economics Department Working Paper, Nr. 486. Björklund, A. (2000): Going different Ways. Labour Market Policy in Denmark and Sweden. In: Esping-Andersen, G./Regini, M. (Hrsg.) (2000): Why deregulate Labour Market?. New York: Oxford University Press. 148-180. Boeckh, J./Huster, E.-U./Benz, B. (2006): Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung, 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Boyle, N. (2007): Shared Mental Models and Active Labor Market Policy in Britain and Ireland. Ideational Coalitions and Divergent Policy Trajectories. In: Roy, R. K. (Hrsg.) (2007): Neoliberalism: National and Regional Experiments with Global Ideas, London: Routledge. 135-159. Cernat, L. (2006): Europeanization, Varieties of Capitalism and Economic Performance in central and eastern Europe. Studies in Economic Transition. New York: Palgrave. De Grauwe, P./Polan, M. (2003): Globalisation and social spending. In: CESifo Working Paper Nr. 885. European Commission (2007): Employment in Europe 2007, Brüssel. Eichhorst, W./Hemerijck, A. (2008): Welfare and Employment: A European Dilemma? In: IZA Discussion Paper, Nr. 3870. Eichhorst, W./Kaufmann, O./Konle-Seidl, R./Reinhard, H.-J. (2008): Bringing the Jobless into work? An Introduction to Activation Policies. In: Eichhorst, W./Kaufmann, O./Konle-Seidl, R. (2008): Bringing the Jobless into work? Experiences with Activation Schemes in Europe and the US. Berlin: Springer. 1-16. Erhel, Ch./Gazier, B. (2007): Flexicurity and Beyond: Micro- and Macro- Aspects of Transitions Management in the European Employment Strategy. Preparatory Workshop on the employment guidelines, Lisabon 25th Mai 2007. Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press.
Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich
33
Esping-Andersen, G./Regini, M. (2000): Introduction. In: Esping-Andersen, G./Regini, M. (Hrsg.) (2000): Why deregulate Labour Market?. New York: Oxford University Press. 1-10. Gorter, C. (2000): The Dutch Miracle? In: Esping-Andersen, G./Regini, M. (Hrsg.) (2000): Why deregulate Labour Market?. New York: Oxford University Press. 181-210. Green-Pedersen, Ch./Lindbom, A. (2005): Employment and Unemployment in Denmark and Sweden: Success or Failure for the Universal Welfare Model? In: Becker, U./Schwartz, H. (Hrsg.) (2005): Employment 'Miracles'. A Critical Comparison of the Dutch, Scandinavian, Swiss, Australian and Irish Cases versus Germany and the US. Amsterdam: Amsterdam University Press. 65-85. Hansen, E. B./Hummelgaard, H./Jensen, T. P. (2002): The state of the welfare state anno 1992 and five years later in Denmark. In: Pacolet, J. (Hrsg.) (2002): The State of the Welfare State in Europe anno 1992 and beyond: Proceedings of a Conference organized with the Support of EZA and the European Commission. Toronto: APF Press. 187-209. Høj, J./ Galasso, V./Nicoletti, G./Dang, T. (2006): The Political Economy of Structural Reform. Empirical Evidence from OECD Countries. In: OECD Economics Department Working Papers, Nr. 501. Klär, E./Fritsche, U. (2008): Mehr Beschäftigung durch weitere Arbeitsmarktreformen?. In: Wirtschaftsdienst 7. 451-460. Kluve, J./Card, D./Fertig, M./Góra, M./Jacobi, L./Jensen, P./Leetmaa, R./Nima, L./Patacchini, E./ Schaffner, S./Schmidt, Ch. M./van der Klaauw, B./Weber, A. (2007): Active Labor Market Policies in Europe. Performance and Perspectives. Heidelberg: Springer. Knuth, M. (2000): How long does it take to turn around a Tanker? Worker displacement and preventive Labour Market Policy in Germany. In: Klemmer, P./Wink, R. (Hrsg.) (2000): Preventing Unemployment in Europe. A new Framework for Labour Market Policy. Cheltenham: Edgar Elgar. 65-87. Konle-Seidl, R./Eichhorst, W. (2008): Erwerbslosigkeit, Aktivierung und soziale Ausgrenzung, Deutschland im internationalen Vergleich. In: WISO Diskurs, Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Dezember 2008, Bonn. Kvist, J./Pedersen, L. (2008): Danish Labour Activation Policies. National Insitute Economic Review. http://ner.sagepub.com/cgi/content/abstract/202/1/99. Stand: 09.12.2008. Lodovici, M. S. (2000): The Dynamics of Labour Market Reform in European Countries. In: EspingAndersen, G./Regini, M. (Hrsg.) (2000): Why deregulate Labour Market?. New York: Oxford University Press. 30-65. Madsen, P. K. (2006): Labour Market Flexibility and Social Protection in European Welfare States – Contrasts and Similarities. In: Australian Bulletin of Labour 32. 2. 139-162. OECD (1994): The OECD Jobs Study. Evidence and Explanations Part 1, Paris. OECD (2006): OECD Employment Outlook 2006, Paris. Paliginis, E. (2002): The State of the welfare state in UK. In: Pacolet, J. (Hrsg.) (2002): The State of the Welfare State in Europe anno 1992 and beyond: Proceedings of a Conference organized with the Support of EZA and the European Commission. Toronto: APF Press. 229-246. Peter, W. (2005): Sozialreformen im Vereinigten Königreich. In: IW-Trends 32. 4. Scharpf, F. W. (2002): The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity. In: Journal of Common Market Studies 40. 4. 645-670. Schettkat, R. (1999): Soziale Sicherung und Beschäftigung: Wohlfahrtstaaten im Vergleich. In: Schmähl, W./Rische, H. (Hrsg.) (1999): Wandel der Arbeitswelt – Folgerungen für die Sozialpolitik. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 107-122. Schröder, M. (2008): Integrating Welfare and Production Typologies: How Refinements of the Varieties of Capitalism Approach call for a Combination of Welfare Typologies. In: Journal of Social Policy 38.1. 19-43. Seifert, H./Tangian, A. (2008): Flexicurity – Gibt es ein Gleichgewicht zwischen Arbeitsmarktflexibilität und sozialer Sicherheit? In: WSI-Mitteilungen 61. 11+12. 627-635.
34
Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio
Sesselmeier, W. (2008): Soziale Inklusion in Europa: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Schlussfolgerungen. Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung. In: Böckler Forschungsmonitoring, Nr. 6. Sesselmeier, W./Funk, L./Waas, B. (2009): Arbeitsmarkttheorien. 3. überarbeitete Auflage. Heidelberg: Physica Verlag (Im Erscheinen). Shelburne, R. C. (2005): Is Europe Sick? In: Global Economy Journal 5. 3. 1-35. Sproß, C./Lange, K. (2008): Länderspezifische Ausgestaltung von Aktivierungspolitiken. Chronologie und gesetzliche Grundlagen. In: IAB-Forschungsbericht, Nr. 9. Tergeist, P./Grubb, D. (2006): Activation Strategies and Performance of Employment Services in Germany, The Netherlands and United Kingdom, OECD Social, Employment and Migration Working Paper, Nr. 42. Van Oorschot, W. (2008): Von kollektiver Solidarität zur individuellen Verantwortung: Der niederländische Wohlfahrtsstaat. In: Schubert, K./Hegelich, S./Bazant, U. (Hrsg.) (2008): Europäische Wohlfahrtssysteme: Ein Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 465-482. Wurzel, Eckhard (2006): Labour Market Reform in Germany: How to Improve Effectiveness. In: OECD Economics Department Working Papers, Nr. 512.
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
35
Sigrid Gronbach
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik – von der Verteilung zur Teilhabe Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
1
Einführung: „Gerechtigkeit“ in der Arbeitsmarktpolitik?
Gerechtigkeitsvorstellungen strukturieren moderne Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht: Erstens liegen sie den staatlichen Institutionen als Zuteilungsregeln (Leisering 2007) zugrunde. Zweitens spiegeln sie sich in den in der Bevölkerung vorherrschenden Wertvorstellungen, die idealerweise mit den institutionellen Strukturen übereinstimmen. Drittens strukturieren Gerechtigkeitsvorstellungen auch die öffentlichen Diskurse, in denen immer wieder eine Vergewisserung über gemeinsame Vorstellungen erzielt werden muss. Insbesondere soziale Gerechtigkeit verkörpert institutionalisierte Verteilungsprinzipien demokratischer Wohlfahrtsstaaten, die gesellschaftlich legitimiert werden müssen und deshalb auch immer wieder Gegenstand politischen Streits sind. Im Rahmen der Legitimierung sozialpolitischer Reformen wird das kulturell verankerte Verständnis von sozialer Gerechtigkeit – wenn auch zumeist implizit – aufgerufen, definiert und diskutiert, denn es werden Fragen nach den Kernaufgaben des Sozialstaats aufgeworfen, nach den Zielgruppen der Sozialpolitik und nach den Verteilungsmodi der Sozialleistungen. Sozialreformerische Diskurse sind daher immer auch Gerechtigkeitsdiskurse, weil die gesellschaftliche Konzeption sozialer Gerechtigkeit die sozialstaatlichen Aufgaben definiert und sie legitimieren soll. Vor einigen Jahren wurde mit den rot-grünen Arbeitsmarktreformen das normative Gerüst der Arbeitsmarktpolitik verschoben: Erwerbslose, die steuerfinanzierte Lohnersatzleistungen (Arbeitslosen- und/oder Sozialhilfe) bezogen, wurden aus Gründen der Gerechtigkeit in ein gemeinsames Transfer- und Institutionensystem überführt und sollten gleichermaßen in die aktive Arbeitsförderung einbezogen werden. Dieser Aufsatz geht der Frage nach, welche gerechtigkeitsspezifischen Grundlagen der arbeitsmarktpolitischen Institutionen durch die rot-grünen Arbeitsmarktreformen 2003 bis 2005 revidiert wurden. Dabei wird deutlich, dass hinsichtlich der Verknüpfung zwischen den neu implementierten Gerechtigkeitsvorstellungen und den Einstellungen der Bevölkerung eine deutliche Diskrepanz bestand. Sie ließ sich auch oder vielmehr gerade durch den politischen Vermittlungsdiskurs der Regierungsverantwortlichen nicht verringern, denn dieser offenbarte die fehlende Anschlussfähigkeit der Aktivierungsrhetorik an gesellschaftlich legitimierte, bestehende Gerechtigkeitsvorstellungen. Insbesondere der so genannten Hartz-IV-Reform fehlt daher – bis heute – die breite gesellschaftliche Akzeptanz. Im Folgenden werden zunächst die sozialphilosophischen Grundlagen der sozialen Gerechtigkeitsbegriffe und im zweiten Teil ihre Institutionalisierung im deutschen Sozialstaat, insbesondere im Feld der Arbeitsmarktpolitik dargestellt. Im dritten Teil wird der durch die rot-grünen Reformen eingeleitete gerechtigkeitspolitische Paradigmenwandel und seine mangelhafte diskursive Vermittlung gegenüber der Öffentlichkeit geschildert.
36 2
Sigrid Gronbach Sozialphilosophische Gerechtigkeitsprinzipien
Heutige westliche Gerechtigkeitstheorien haben ihre ideengeschichtlichen Wurzeln in der antiken griechischen Philosophie. Die Ahnväter der Gerechtigkeit als philosophischtheoretisches Sujet, Platon und sein Schüler Aristoteles, sprachen von ihr als der vornehmsten politischen Tugend, weil sie das menschliche Zusammenleben regelt (Demandt 1999: 63). Seit der Antike hat sich Gerechtigkeit zu einem zentralen Gegenstand in der Moral-, Rechts- und politischen Philosophie entwickelt. Dies setzte voraus, dass Gerechtigkeit als über-individuelle Kategorie definiert wurde. Die Entstehung des modernen Rechts- und später des Sozialstaats gründen auf einer theoretischen und später institutionellen Konzeptionalisierung der formalen Gerechtigkeit in der politischen Verfassung und der Rechtsprechung sowie auf der materialen Gerechtigkeit des Sozialstaates. „Theorien der Gerechtigkeit drehen sich darum, ob, wie und warum Personen unterschiedlich behandelt werden sollen. Welche ursprünglichen oder erworbenen Charakteristika oder Positionen in der Gesellschaft, so fragen sie, legitimieren eine unterschiedliche Behandlung von Personen durch soziale Institutionen, Gesetze und Sitten?“ (Moller Okin 1995 [1987]: 281)
Soziale Gerechtigkeit ist keine spezifisch sozialpolitische Begriffspaarung, sondern bezieht sich auf die politische und institutionelle Gestaltung eines Gemeinwesens, also darauf, wie gesellschaftliche Güter, Pflichten und Rechte in einer Gesellschaft verteilt werden, weshalb sie auch oft mit distributiver Gerechtigkeit gleichgesetzt wird. Normen sozialer Gerechtigkeit betreffen die Gestaltungsprinzipien gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen zur Erreichung bzw. Erhaltung einer definierten „sozial gerechten Gesellschaft“, sie beziehen sich also auf Prinzipien einer gesteuerten (Um-) Verteilung gesellschaftlicher (das heißt auch privater) Güter. Zu diesen zählen sowohl materielle Grundgüter wie Einkommen oder Vermögen als auch gesellschaftliche Positionen und Beteiligungsmöglichkeiten. Während soziale Gerechtigkeit in erster Linie Verteilungsfragen gesellschaftlicher Güter, das heißt sozialer Positionen und ökonomischer Chancen thematisiert, beziehen sich die ausgleichende oder Tauschgerechtigkeit sowie die politische Gerechtigkeit im Rahmen des politischen und des Recht sprechenden Systems auf Fragen der bürgerlichen und politischen Freiheiten und Rechte. So unterscheiden die heutigen sozialphilosophischen Gerechtigkeitstheorien in der Regel zwischen der politischen, der Tausch- bzw. ausgleichenden Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Letztere kann verschiedenen Verteilungsprinzipien folgen; die relevantesten sind das Bedarfs- und das Leistungsprinzip. Als weiterer Aspekt sozialer Gerechtigkeitskonzeptionen ist die Teilhabe- oder Chancengerechtigkeit zu nennen, der kein spezifisches Verteilungsprinzip sondern ein Zielprinzip innewohnt. Unter Leistungsgerechtigkeit wird heute eine Gerechtigkeit verstanden, die auf Grund erbrachter Leistungen Güter oder Ansprüche zuteilt und dabei von allen askriptiven Merkmalen absieht (Kramer 1992: 102). Diesem Prinzip wird häufig eine normative Überlegenheit gegenüber anderen Verteilungsprinzipien attestiert, weil es erstens objektiv sei (denn Leistung sei messbar), und zweitens ein reziprokes Prinzip als die am plausibelsten zu rechtfertigende Form der Gerechtigkeit argumentierbar sei (Möhring-Hesse 2004: 200f.; Neckel/Dröge 2002; Hinsch 2002; Ullrich 1999). Das Leistungsprinzip gilt gleichermaßen als Rechtfertigungsinstanz legitimer sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften, denn Ungleichheiten gelten in dessen Rahmen als gerecht, wenn sie den Ungleichheiten der Leistungen zwischen Individuen und Gruppen entsprechen (Neckel et al. 2004: 141).
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
37
Das Bedarfs- oder auch Fürsorgeprinzip gewährt öffentliche Sach- oder Geldleistungen vorleistungsfrei, wenn eine als solche politisch definierte Notlage eintritt. Voraussetzung ist in der Regel die vorherige Überprüfung und Bestätigung materieller Bedürftigkeit. Wenn das Bedarfsprinzip mit dem Subsidiaritätsgedanken verbunden ist, tritt das Anrecht auf staatliche Transfers nur und erst dann ein, wenn der/die Einzelne nicht in der Lage ist, sich selbst oder mit Unterstützung seiner nächsten Angehörigen zu helfen (Zohlnhöfer 1990: 4). Teilhabegerechtigkeit ist ursprünglich ein vorrangig politischer Gerechtigkeitsbegriff. Er bezieht sich auf gleiche Zugangsmöglichkeiten bei der Gestaltung des Gemeinwesens, also auf die Gleichverteilung der demokratischen aktiven und passiven Mitwirkungsrechte in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen (Koller 2002: 103). Teilhabegerechtigkeit wurde und wird daher häufig von der materiellen, unmittelbar Güter verteilenden Verteilungsgerechtigkeit abgegrenzt, weil sie auf einer – vermeintlich – immateriellen Dimension der gleichen Chancenverteilung basiere (Nolte 2005). Sie ist jedoch in der Regel unabdingbar zugehöriges Leitziel in leistungsgerechten Verteilungssystemen. „Der Begriff ‚Teilhabe’ … wird heute für alle Formen der Beteiligung an Prozessen demokratischer Willensbildung, sozialer Gestaltung und Produktion wie Verteilung des ökonomischen Reichtums verwendet.“ (Nullmeier 1997: 221) Denn moderne Wohlfahrtsstaaten, die das Ausmaß sozialer Ungleichheiten begrenzen wollen, verknüpfen die Geltung leistungsgerechter Normen in der Regel mit dem Prinzip der Chancen- bzw. Teilhabegerechtigkeit, um die ungleichen Startbedingungen der Einzelnen im Wettkampf um Güter und sozialen Status auszugleichen: Werden bestimmte gesellschaftliche Güter, z.B. Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze, öffentliche Ämter, nach dem Kriterium der individuell erworbenen Qualifikation, d.h. der erbrachten und vorweisbaren individuellen Leistungen, vergeben, muss der Zugang zu diesen Möglichkeiten allen gleichermaßen möglich sein, um gerecht zu sein. Das bedeutet, allen Gesellschaftsmitgliedern müssen die gleichen Möglichkeiten offenstehen (ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, aber im Rahmen ihrer kognitiven und anderen personalen Fähigkeiten), sich entsprechend ihrer Ambitionen die erforderlichen Qualifikationen oder anderen Fähigkeiten und Merkmale anzueignen, die dafür benötigt werden, in Auswahlverfahren um leistungsadäquat verteilte gesellschaftliche Güter oder Positionen mit gleichen Chancen teilnehmen zu können. „[W]enn Leistung ein Resultat von freier Tätigkeit (am Markt) ist, dann ist die Herstellung von Leistungsfähigkeit eine Frage der Umverteilung von Chancen.“ (Blanke 2005: 40, Hervorhebung im Original) Gerechte Teilhabe soll hier deshalb als Bestandteil des sozialen Gerechtigkeitsspektrums zählen, weil sie die Verteilung vor allem gesellschaftlicher Bildungsgüter und Chancen thematisiert und dadurch, wie auch bedarfs- oder leistungsgerechte Verteilungen, individuelle Positionen in der Gesellschaft beeinflusst. Die Gewährung formaler Freiheitsrechte reicht nicht aus, um allen Individuen die volle Nutzung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen (Zohlnhöfer 1990: 10), anders formuliert: „[F]ormale Gleichheit1 zieht Forderungen auf der materialen Ebene nach sich.“ (Schnabl 2006: 44) Chancen oder Teilhabemöglichkeiten beziehen sich zwar auf immaterielle Güter (Bildungschancen, Arbeitsmarktintegration, kulturelle Partizipation), zu ihrer Erlangung sind jedoch materielle Zuteilungen und Umver1 Formale Gleichheit wird gesichert durch die Institutionalisierung von Menschenrechten und Lebenschancengleichheit, die Bekämpfung von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung und die Ermöglichung der Ausbildungschancengleichheit (Schnabl 2006: 43).
38
Sigrid Gronbach
teilungen notwendig, die zum Abbau von finanziellen und anderen Zugangsbarrieren bzw. zur Erweiterung von Optionen für Individuen führen, damit diese ihre Fähigkeiten in größtmöglichem Umfang einsetzen können. Als sozialstaatliche Zielsetzung gilt daher die angemessene Teilhabe an der Entwicklung der gesellschaftlichen Wohlfahrt (Blanke 2005: 39).
3
Gerechtigkeit als politische und soziale Kategorie
3.1 Institutionalisierte Gerechtigkeit im deutschen Sozialstaat Die Übernahme staatlicher und gesellschaftlicher Verantwortung für sozialen Ausgleich, um Armut und gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, setzt die Anerkennung von sozialen Menschenrechten voraus. Die Erweiterung der bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilhaberechte um soziale Rechte seit Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie Thomas H. Marshall (1992 [1949]) am Beispiel Großbritanniens nachgezeichnet hat, dehnte den Geltungsbereich gesellschaftlicher Gerechtigkeitsnormen von der Marktsphäre (Tauschgerechtigkeit), der rechtlich-formalen (bürgerlichen) und der politischen auf die neu entstehende sozialpolitische Sphäre aus. Soziale Rechte kamen als weiteres gesellschaftliches Integrationsinstrument hinzu. An den modernen Verfassungsstaat wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts materielle Gerechtigkeitsforderungen herangetragen, die nicht schon durch die Wahrung von Verfahrensgerechtigkeit verwirklicht waren (Kaube 2003: 46). Umgekehrt wird seither die Legitimität einer politischen Ordnung auch an den durch sie versprochenen und hergestellten verteilungsgerechten Zuständen gemessen (ebenda: 47). Heutigen sozialpolitischen Institutionen als „geronnene Werte“ liegen spezifische Gerechtigkeitskonzeptionen zu Grunde, die sich aus einem dominantem Gerechtigkeitsprinzip des Sozialstaats ableiten lassen. So kann sozialdemokratischen Regimes das Egalitätsprinzip als das prioritäre zugeordnet werden, das sich in der universellen Gewährung von Leistungen und der Gewährung umfassender sozialer Rechte abbildet. Liberale und konservative Regimes basieren hingegen stärker auf leistungsgerechten Äquivalenz-Prinzipien. Die „normative Qualität des bundesdeutschen Sozialstaats“, die seine legitimatorische Grundlage bildet, liegt nach Frank Nullmeier (1997: 222) in der Verknüpfung, Durchdringung und Hierarchisierung der drei Gerechtigkeitsprinzipien Leistung, Bedarf und Teilhabe. Der bundesdeutsche Sozialstaat stiftet Gemeinschaftlichkeit erstrangig durch die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft, was sich in seinem erwerbszentrierten sozialen Sicherungssystem widerspiegelt (ebenda: 224). So gilt im deutschen Sozialsystem als dominantes Verteilungsprinzip die Leistungsgerechtigkeit, die sich in der Konstruktion des sozialen Sicherungssystems als Sozialversicherung und ihrem inhärenten Ziel der Lebensstandardsicherung ausdrückt. Die beitragsabhängige Bestimmung der Höhe von Sozialleistungen ist das legitimatorische Prinzip der deutschen Sozialversicherung vor allem in der Renten- und in der Arbeitsmarktpolitik. Die Sozialversicherung ist zwar anerkanntermaßen das gestaltungsprägende Merkmal des deutschen Sozialstaats, neben dem hier zu vernachlässigenden Versorgungsprinzip2 2 Das Versorgungsprinzip gleicht politisch definierte Leistungen oder verursachte Schäden aus. Seine Adressaten sind gesellschaftliche Gruppen, die dem Staat gegenüber besondere Dienstleistungen (z.B. BeamtInnen, SoldatInnen) oder politisch verursachte Opfer gebracht haben (z.B. Kriegsversehrte). Da das Versorgungsprinzip eher auf
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
39
spielt aber auch die Existenzsicherung durch die bedarfsabhängige Fürsorge der Sozialhilfe eine gewichtige Rolle. In der Politik der Armutsvermeidung gilt als Verteilungsmaßstab die Bedarfsorientierung, also das Anrecht auf existenzsichernde staatliche Unterstützung bei individuell nachgewiesenem Bedürfnis und eigener Hilflosigkeit. Das dritte, gewissermaßen übergeordnete Gerechtigkeitsprinzip legitimiert Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe. Trotz seines Ursprungs als politischer Gerechtigkeitsbegriff ist das Teilhabeziel in der deutschen Sozialpolitik nicht neu. Er wurde und wird vor allem verwendet zur Legitimation von Integrationspolitiken zugunsten von Menschen mit Behinderungen oder von Einkommensarmut Betroffener, die deren materielle und gesellschaftliche Ausgrenzung bekämpfen sollen – beides zum einen im Sinne der ausreichenden materiellen Versorgung Nichtarbeitsfähiger bzw. der Arbeitsmarktintegration Arbeitsfähiger und zum anderen im Sinne der Erhöhung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten.
3.2 Institutionalisierte Gerechtigkeit in der Arbeitsmarktpolitik Die Finanzierung des Systems, Zugangsvoraussetzungen, Art und Höhe der gewährten Leistungen in der Arbeitsmarktpolitik gründen bis zur Reform 2004 auf dem leitenden Prinzip der Sozialversicherung, der Leistungsgerechtigkeit. Gleichwohl entspricht die Arbeitslosenversicherung „weit weniger als gemeinhin vermutet dem Versicherungsprinzip. Dies äußert sich an solchen sprachlichen Details wie der hier geltenden ‚Beitrags-’ statt der sonst üblichen ‚Versicherungspflicht’.“ (Nullmeier/Vobruba 1995: 25) Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist in erster Linie eine Risikoversicherung; das Arbeitslosengeld ist als Versicherungsleistung ausgestaltet, die bedarfsunabhängig gewährt wird und auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Arbeitslosenversicherung sollte vor allem für diejenigen Gruppen vorsorgen, denen eine eigenständige, private Vorsorge nicht möglich ist (Rieger 1992: 161f.). In der Orientierung der Lohnersatzrate am vorherigen Einkommen und am Familienstand drückte sich das Ziel der Lebensstandardsicherung wie die Berücksichtigung auch von Bedarfsaspekten aus (Nullmeier/Vobruba 1995: 25). Als Konsequenz aus der Lohn- bzw. Beitragsabhängigkeit des Arbeitslosengeldes sind niedrig Verdienende, wenn sie arbeitslos werden, gegebenenfalls auf ergänzende Leistungen der sozialen Fürsorge (bis Ende 2004 Sozialhilfe, seither Grundsicherung für Arbeitsuchende) angewiesen. Institutionen und Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Erwerbslose i.S. der Erfassung durch die Bundesagentur für Arbeit waren bis Ende 2004 ausschließlich an die Arbeitslosenversicherung geknüpft. Verkürzt formuliert: Wer keinen Anspruch auf passive Versicherungsleistungen (Arbeitslosengeld, -hilfe) hatte, musste in der Regel auch auf aktive Arbeitsförderung durch Fortbildungsmaßnahmen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verzichten. Begründet wurde dieses Äquivalenzprinzip mit der Finanzierung der passiven wie der aktiven Leistungen aus dem Beitragsaufkommen, das ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen an die Bundesanstalt für Arbeit abführten. Während aber aus dem Beitragssystem Rechtsansprüche auf passive Transferleistungen entstehen, wurden Rechtsansprüche auf aktiv arbeitsfördernde Maßnahmen seit Bestehen des AFG sukzessive abgebaut. dem Gedanken der ausgleichenden als der distributiven Gerechtigkeit beruht (Huster 2004: 35) und ihm kein Verteilungskriterium zugrunde liegt, wird es im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.
40
Sigrid Gronbach
Das Äquivalenzprinzip wurde und wird darüber hinaus dadurch aufgeweicht, dass einige der Leistungen Nicht-BeitragszahlerInnen offen stehen (z.B. Berufsberatung, Vermittlung). Mit Einführung der steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende im Jahr 2005 (Sozialgesetzbuch II) war denn auch die Absicht verbunden, das aktive arbeitsmarktpolitische Instrumentarium für all jene Erwerbslose zu öffnen, die keine Ansprüche gegenüber der Arbeitslosenversicherung aufbauen können. Übersicht: Arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitsnormen Norm
Teilhabe
Leistung
Bedarf
Ziel
gesellschaftliche Integration
LebensstandardͲ sicherung
Existenzsicherung
Wert Leitidee
Stärkungsozialer Integrationschancen
Äquivalenzbeziehung
solidarischer Ausgleich
Verteilungsmodus
universell
selektiv
bedarfsabhängig
AdressatInnen
gesamteBürgerschaft
versicherungspflichtige ArbeitnehmerInnen
einkommensarme BürgerInnen
SozialerSicheͲ rungszweig
Arbeitslosengeld (SGBIII)
Arbeitslosenhilfe (SGBIII) aktiveArbeitsmarktpolitik (SGBIII)
aktiveArbeitsmarktͲ politik(SGBII)
Sozialhilfe (SGBXII)
ArbeitslosengeldII
Quelle: eigene Darstellung 3.3 Sozialpolitische Gerechtigkeitsdiskurse Der Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstandes und der Verteilung gesellschaftlich erwirtschafteter Güter liegen gerechtigkeitstheoretische Maßstäbe zu Grunde, die verhandel- und wandelbar sind. Während die „Zuteilung“ politischer Freiheits- und
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
41
Partizipationsrechte in modernen Gesellschaften weitestgehend konsensuell symmetrisch erfolgt3 (Iser 2003: 262), werden materiale gesellschaftliche Güter, Positionen oder soziale Anrechte auch asymmetrisch vergeben. So ist soziale Gerechtigkeit ein politischer, weil interessengebundener moralisch-ideologischer Kampfbegriff (Blasche 2003: 15). Er ist zugleich eine analytische Kategorie, die als der normative Strang der Sozialstaatsdiskurse erfasst werden kann. Lange Zeit schien über den Stellenwert der bundesdeutschen Verteilungsprinzipien gesellschaftlicher Konsens zu bestehen. Seit den 1990er Jahren werden diese allerdings wieder stärker in Frage gestellt. So ist das Wiedererstarken gerechtigkeitsbezogener Diskurse, wie sie in der Bundesrepublik im Zuge der Rentenreform Ende der 1950er Jahre, der Sozialhilfeeinführung Anfang der 1960er und der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes Ende der 1960er Jahre geführt wurden, mit der Wahrnehmung grundlegender Herausforderungen zu verstehen: Erfolgreiche Handlungskonzepte der Vergangenheit scheinen für die momentanen und künftigen Probleme nur noch bedingt tauglich zu sein (Blanke 2005: 31). In den Sozialstaatsdebatten seit den 1990er Jahren wird jedoch weniger die umverteilungspolitische Aufgabe der Sozialpolitik betont als vielmehr – wieder – ihre sozialintegrative Zielsetzung: in Deutschland als Integration in die Erwerbsarbeit. So ist nicht erstaunlich, dass arbeitslose SozialleistungsempfängerInnen seit den neunziger Jahre im Zentrum sozialpolitischer Reformdiskurse und Reformbemühungen der Aktivierung stehen, die auf die schnellstmögliche Reintegration arbeitsfähiger TransferleistungsempfängerInnen in die Erwerbsarbeit abzielt (vgl. auch Mohr in diesem Band). In der gerechtigkeitspolitischen Dimension verschiebt der Aktivierungsdiskurs den Fokus von der (um-)verteilungsgerechten zur gesellschaftlichen Teilhabe (oder besser: Teilnahme) am Arbeitsmarkt. Anstelle der ‚alten’ Wohlfahrtspolitik der Umverteilung des Wohlstandes müsse die ‚neusozialdemokratische’ Politik darauf zielen, die Wohlstandsproduktion zu stimulieren, um dadurch die Arbeitsmarktintegration zu verbessern (so der sozialdemokratische Vordenker Anthony Giddens 2001: 10). In den Worten von Rolf G. Heinze (2002: 186), einem Mitglied der Benchmarking-Gruppe des Bündnisses für Arbeit, heißt dies: „Im Zuge der andauernden Beschäftigungskrise wird die Integration in den Arbeitsmarkt zur Schlüsselaufgabe sozialer Gerechtigkeit in Deutschland, denn damit steht und fällt die Verteilung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals.“
4
Soziale Gerechtigkeit unter Rot-Grün
4.1 Die Verschiebung des arbeitsmarktpolitischen Normengerüstes durch Rot-Grün Der Abbau der Arbeitslosigkeit als wichtigstes Ziel der rot-grünen Regierung führt denn auch zur größten arbeitsmarktpolitischen Reform der Bundesrepublik, wozu insbesondere die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zählt. Schließlich würde sich nach Aussage des damaligen Bundeskanzlers die Effizienz des Sozialstaates nicht an Transfers oder der Höhe des Sozialbudgets, sondern an den Möglichkeiten, die er zur Erwerbsbeteiligung eröffne, bemessen (Schröder 2003: 29). 3 Politische Rechte und Freiheitsrechte sind, jedenfalls innerhalb der westlichen Bürgergemeinschaft, kollektive Güter.
42
Sigrid Gronbach
Bereits die ersten beiden „Hartz-Gesetze“ spiegeln die Grundannahmen wider, die seither in der Arbeitsmarktpolitik handlungsleitend bleiben: Der Arbeitsmarkt müsse flexibilisiert werden, indem das „Fordern“ gegenüber den Arbeitslosen nach Mobilität und Anpassung an den Arbeitsmarkt sowie Anreize zur unternehmerischen Eigenaktivität erhöht werden. Dem weit verbreiteten Deutungsmuster entsprechend, dass die Lohnzusatzkosten und restriktive Kündigungsregelungen die Schaffung neuer Beschäftigung verhindern, wird niedrig entlohnte sowie geringfügige Beschäftigung attraktiv geregelt und befristete Beschäftigung erleichtert. Allen anders lautenden Ankündigungen zum Trotz werden die „fördernden“, qualifizierungsorientierten Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht gestärkt und von den Arbeitsämtern immer weniger gefördert.4 Die schnellstmögliche Reintegration Arbeitsuchender als primäre Zielsetzung aktivierender rot-grüner Arbeitsmarktpolitik wird von der SPD mit dem Erreichen „gerechter Teilhabe“, vom Koalitionspartner mit der Ermöglichung „gerechten Zugangs“ begründet: „Denn für uns als Grüne ist es eine der zentralen arbeitsmarktpolitischen Aufgaben in dieser Gesellschaft, Zugangsgerechtigkeit herzustellen, weil Massenarbeitslosigkeit ein Gerechtigkeitsproblem ist. Mit dem Hartz-Konzept gehen wir auf einem Weg weiter, den wir begonnen haben, einen Weg des Paradigmenwechsels, der die Integration in den Arbeitsmarkt will, diese vorbereitet und der die Ausgrenzung endlich beendet.“ (Abg. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, Plenarprotokoll (PlPr) 15/11, 15.11.2002: 676)
Auch wenn der eher technische Begriff des „Zugangs“ zum Arbeitsmarkt weniger euphemistisch anmutet als der demokratietheoretisch aufgeladene Teilhabebegriff der SozialdemokratInnen, ist den Regierungsparteien gemeinsam, dass sie nichts weniger als einen „fundamentale[n] Systemwechsel“ (Sell 2005a: 14) einleiten. Dieser wird jedoch nicht durch eine breite gesellschaftliche Debatte auch im Parlament vorbereitet und begleitet, wie noch bei der Entwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes Mitte der sechziger Jahre. Er „vollzieht sich in den Hinterzimmern von Kommissionen und durch die Zuarbeit von Unternehmensberatungen, die sich wie Roland Berger und McKinsey im Zentrum der umgetauften Bundesanstalt für Arbeit positioniert haben und dort die gleichen Strategien realisieren, die sie früher bei der Treuhandanstalt und dann bei der Bahn, Post und Telekom ‚erfolgreich’ durchgespielt haben“ (ebenda: 14). Aus der Überordnung des arbeitsmarktlichen Integrationsziels resultiert eine Befürwortung bzw. zumindest Hinnahme wachsender, wie weit auch immer ‚begrenzter’ sozialer Ungleichheiten und die Relativierung der gerechtigkeitspolitisch motivierten staatlichen Umverteilung materieller Ressourcen. So wird auf die institutionalisierten verteilungsgerechten Prinzipien des Bedarfs und der Leistung in der Regel nicht rekurriert – und wenn, mit bemerkenswerten Ergebnissen. So spitzt der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück zu: „Der Staat hat die Aufgabe, für eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung zu sorgen. Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder be4 Von 2002 auf 2003 sanken die TeilnehmerInnenzahlen in Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung von 340.000 auf 260.000. 2004 erhielten nur noch 184.000 Personen eine Weiterbildungsförderung, 2005 schließlich noch 114.000. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung Behinderter (Bundesagentur für Arbeit 2006: 44).
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
43
kommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“ (Steinbrück 2003: 18)
Kern des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist die neue Systematisierung der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik durch die Zusammenlegung der Leistungssysteme Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zur neuen, steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende. Um die Chancen für alle Arbeitsuchenden zu erhöhen, sollen Zuständigkeiten und Leistungen künftig „aus einer Hand“ kommen. Durch das einheitliche System soll die Verantwortungsverschiebung zwischen Arbeits- und Sozialämtern unterbunden, der verwaltungsaufwendige Bezug zweier Leistungen (d.h. ergänzende Sozialhilfe bei niedrigem Arbeitslosenhilfe-Satz) beendet und die Gerichtsbarkeit vereinheitlicht werden (Bundestags-Drucksache (BT-Drs) 15/1516, 05.09.2003: 42f.). Einsparungen, die bei den Transferleistungen erzielt werden, sollten im Wesentlichen für eine bessere Betreuung, verstärkte Eingliederungsförderung durch eine höhere Arbeitsförderungsquote und eine bessere soziale Absicherung aufgewendet werden (BT-Drs. 15/1279, 27.06.2003: 23). Allen erwerbsfähigen LeistungsbezieherInnen sollte gleichermaßen der Zugang zu arbeitsfördernden Maßnahmen eröffnet werden, die außerdem im Sinne der Aktivierungslogik dem Bezug passiver Leistungen vorgezogen werden sollen. Die zentralen politischen Legitimationsargumente für die Zusammenlegung lauten, das bestehende System sei intransparent, ineffizient und ungerecht (vgl. ausführlicher Gronbach 2007). Diese auf institutionelle Fehlwirkungen abhebenden Argumente werden gleichwohl immer wieder mit Begründungen verknüpft, die die Ursache von Arbeitslosigkeit auf der Angebotsseite verorten. Letztendlich steht hinter dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt „die Vorstellung, dass es durchaus möglich sei, über niedrigere Leistungen und mehr Druck die Mobilität der Arbeitslosen zu erhöhen und damit zumindest die Dauer der Arbeitslosigkeit zu reduzieren“ (Sell 2005b: 302). Die normativen key words der Reform lauten Eigenverantwortung und Aktivierung. Die folgende Äußerung des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering in seinem Plenarbeitrag zur Agenda 2010 macht stellvertretend das zugrundeliegende Denkmuster der Aktivierungsrhetorik deutlich: Während die Statusorientierung ansonsten legitimes Ziel sozialstaatlicher Institutionen ist, wird sie im Falle Arbeitsloser als Fehlverhalten markiert: „Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte Arbeit mit einem bestimmten Status und einem bestimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle anfällt. (…) Es kann nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen des Status nicht erledigen.“ (PlPr 15/32, 14.03.2003: 2508)
Normatives Ziel der Zusammenlegung soll die Gleichbehandlung aller Arbeitslosen sein, die steuerfinanzierte Transferleistungen beziehen. Hierzu zählen Personen, die keine Rechtsansprüche auf Lohnersatzleistungen gegenüber der Arbeitslosenversicherung erworben haben sowie, in der Regel, Langzeitarbeitslose, deren Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen ausgelaufen sind und die daher Arbeitslosen- oder/und Sozialhilfe erhalten. Die Gleichbehandlung bezieht sich sowohl auf die Höhe der passiven arbeitsmarktpolitischen Leistungen wie auf den Zugang zu den aktiven, deren prioritäres Ergebnis künftig die schnellstmögliche Vermittlung Arbeitsloser in den regulären Arbeitsmarkt sein soll.
44
Sigrid Gronbach
Als ungerecht wird die Trennung in Arbeitslosenhilfe- und SozialhilfeempfängerInnen aus zweierlei Gründen befunden: Zum einen könne die unterschiedliche Höhe der Transferbezüge nicht länger gerechtfertigt werden. Zum anderen widerspreche der Ausschluss arbeitsuchender SozialhilfeempfängerInnen vom Arbeitsmarkt bzw. von Maßnahmen der Arbeitsförderung dem rot-grünen Gerechtigkeitsverständnis. Das zentrale Gerechtigkeitsargument zur Rechtfertigung der niedrigen Höhe des Arbeitslosengeldes II lautet, dass zum Ausgleich für dessen geringe Höhe die künftig erhöhte „Zugangsgerechtigkeit“ für ehemalige SozialhilfeempfängerInnen zu Arbeitsförderungsmaßnahmen deren „Selbstbestimmung“ stärken würde (z.B. Abg. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, PlPr 15/67, 17.10.2003: 5744). Zudem dient der Bedarfscharakter der neuen Grundsicherung als Rechtfertigung dafür, ihre Höhe an der der Sozialhilfe zu orientieren und den Zugang zur Transferleistung durch niedrige Vermögensfreibeträge auf die Gruppe der „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren. Die Statusunterschiede zwischen Sozialhilfe- und ArbeitslosenhilfeempfängerInnen werden auch hinsichtlich ihrer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme eingeebnet. Letztere waren, da sie sich im Rechtskreis des Sozialgesetzbuch III befanden, niedrigeren Zumutbarkeitserwartungen ausgesetzt als SozialhilfeempfängerInnen, die zu Tätigkeiten herangezogen werden konnten, die lediglich mit einer Mehraufwandsentschädigung vergolten wurden. Im neuen Rechtskreis des SGB II orientieren sich die Zumutbarkeitserwartungen an denen des alten Bundessozialhilfegesetzes, womit die Erwerbslosen im Grundsicherungsbezug deutlich höheren Erwartungen an die Arbeitsaufnahme ausgesetzt sind als diejenigen im Arbeitslosengeldbezug.
4.2 Die diskursive Vermittlung des neuen arbeitsmarktpolitischen Paradigmas Mittlerweile ist die Einschätzung weit verbreitet, dass die politische Vermittlung der so genannten Hartz-Gesetze, und hier wiederum vor allem des Vierten, ein ausgewiesenes Beispiel für einen äußerst misslungenen politischen Legitimierungsversuch darstellt. Vivien Schmidts (2002: 184) Analyse der frühen rot-grünen Reformen verweist bereits auf den nicht erfolgten Gebrauch „kommunikativer Diskurse“ der RegierungsakteurInnen zur Vermittlung ihrer sozialpolitischer Reformziele. Dies sei jedoch unabdingbar, um die Öffentlichkeit einerseits von der Notwendigkeit der Reformen, andererseits von ihrer Passförmigkeit mit vorhandenen Normen und Werten der in Deutschland verankerten Wohlfahrtskultur zu überzeugen. Paul Nolte attestiert eine generelle „große Sprachlosigkeit der Reformen“ (Nolte 2004: 33), und der Sozialdemokrat Thomas Meyer (2004: 188) sekundiert, als eigentliches Gerechtigkeitsproblem der Agenda 2010 erweise sich „das fast völlige Ausbleiben eines öffentlichen Begründungsdiskurses“, in dem die verantwortlichen AkteuerInnen deutlich machen, welche Maßstäbe sie zugrunde legen, worin der normative Zusammenhang zwischen den einzelnen Projekten bestehe und welche Ziele sie mit dem Projekt verfolgten. Im Fall der rot-grünen arbeitsmarktpolitischen Reformen ist schließlich nicht gelungen, die Öffentlichkeit für die neue normative, gerechtigkeitsbezogene Zielsetzung zu gewinnen, die hinter dem Bruch mit dem – wenn auch eingeschränkten – Äquivalenzprinzip der Arbeitsmarktpolitik und der Hierarchieverschiebung von der Verteilungs- zur Teilhabe-
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
45
gerechtigkeit innerhalb eines stark verteilungsgerecht, hier: leistungsgerecht besetzten Systems steht. In ihrem Sozialbericht 2005 stellt die Bundesregierung fest, die Agenda 2010 definiere die Aufgabenverteilung zwischen Staat und BürgerInnen neu, wodurch „die grundlegenden Sozialstaatsprinzipien von Solidarität und Subsidiarität neu gewichtet“ werden (BT-Drs 15/5955, 11.08.2005: 19). Das hinter den arbeitsmarktpolitischen Reformen stehende Aktivierungskonzept stellt vor allem die Revitalisierung des zwar durchaus wohlfahrtsstaatlich verankerten Subsidiaritätsprinzips in der Arbeitslosensicherung dar. Während aber einerseits der Äquivalenzaspekt des leistungsgerechten Prinzips der Arbeitsmarktpolitik stark geschwächt wird, wird andererseits der Reziprozitätsaspekt überproportional, und zwar einseitig für die Seite der LeistungsempfängerInnen, gestärkt. Neugebauer (2007) konstatiert, dass in der Reformkommunikation nur unzureichend die gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen nach staatlich verbürgter sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit unterlegt waren und vermittelt wurden. In der Öffentlichkeit wurde der rot-grüne Reformdiskurs als Absicht antizipiert, die Verbindung dieser beiden Grundwerte, die traditionell fest verknüpft sind, auflösen zu wollen und somit auf eine Reformulierung des wohlfahrtsstaatlichen Grundgerüstes zu zielen. Um einen solchen Wandel zu rechtfertigen, müssten die proklamierten „neuen“ Werte an die gesellschaftlich vorhandenen aber anschlussfähig sein in dem Sinne, dass sie entweder an die traditionellen ankoppeln oder an Werte, die sich in der Gesellschaft neu herausgebildet oder deren Geltung sich verstärkt haben. In der öffentlichen politischen Vermittlung thematisierte Rot-Grün jedoch vehement individuelle Tugenden, in erster Linie die der Eigenverantwortung. Zur Legitimation hilft die Rhetorik der Eigenverantwortung allerdings nicht viel weiter. Wie Kaufmann (2006) und Nullmeier (2006) verdeutlichen, stellt die Forderung nach verstärkter Übernahme von eigener Verantwortung kein Gerechtigkeitskriterium dar sondern eine Verbrämung für sozialstaatliche Kürzungen durch die (Re-)Individualisierung gesellschaftlicher Risiken. Eigenverantwortung genießt zwar im Wertespektrum der Deutschen generell eine sehr hohe Wertschätzung, jedoch vor allem in Verbindung mit dem Wunsch, „seine eigene Phantasie ausleben zu können“ sowie mit dem Bedürfnis, „von anderen Menschen unabhängig zu sein“ (Klages 2006: 115). Die Wertschätzung bezieht sich also vor allem auf Muster der privaten Lebensführung, nicht darauf, wie die Sicherung der individuellen Lebensverhältnisse organisiert und finanziert sein soll. Da im Gegenteil Klages feststellt, dass das Streben nach Eigenverantwortlichkeit fest verbunden ist mit dem Wertelement der Hilfsbereitschaft gegenüber sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Gesellschaft der Bundesrepublik die Norm der Eigenvorsorge über kollektiven Vorsorgesystemen dominiert. Wird der Begriff der Eigenverantwortung so eindimensional eingesetzt wie im mainstream der rot-grünen Sozialstaatsdebatte, transportiert er keine Ermöglichungsideen sondern reduziert die Verantwortungsmöglichkeiten der BürgerInnen auf ihre Marktteilnahme und auf ihre Arbeitsverpflichtung. So wirkt die „neue“ Arbeitsmarktpolitik denn auch nicht als Angebot sondern als Zwang zur Eigenverantwortung, der durch erheblich erweiterte staatliche Kontroll- und individuelle Mitwirkungspflichten durchgesetzt wird – und mitnichten die propagierte Rücknahme staatlicher Steuerung bewirkt. Die Begründung der Reformpolitik mit ihren prognostizierten Beschäftigungswirkungen, der notwendigen Haushaltskonsolidierung und der erforderlichen Senkung der Lohn-
46
Sigrid Gronbach
nebenkosten haben in der Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Reformrichtung geweckt, sondern sogar so weit geführt, dass der Begriff der Reform seine bislang positive Konnotierung verloren hat (Neugebauer 2007: 129f.). Angesichts dessen, dass sich auch in den gesellschaftlichen Mittelschichten eine Furcht vor sozialer Ausgrenzung durch Armut und Arbeitslosigkeit ausbreitet – ungeachtet ihrer tatsächlich begrenzten Betroffenheit (hierzu Böhnke 2006: 126ff.) –, unterlief die rot-grüne politische wie diskursive Praxis die gesellschaftlichen Erwartungen an ein Sicherheit und tatsächliche Teilhabegerechtigkeit verkörperndes Reformprojekt.
5
Fazit
Der von der rot-grünen Bundesregierung initiierte arbeitsmarktpolitische Paradigmenwechsel hat keineswegs zur Gleichstellung aller Erwerbslosen geführt, sondern den Graben zwischen den versicherungs- und steuerfinanzierten Leistungssystemen noch vertieft. Die Leistungshöhe und -voraussetzungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die für den weit überwiegenden Teil der Erwerbslosen gelten, orientieren sich an paternalistischen Leitlinien der Fürsorge, die zur Legitimation der Reform versprochenen gleichen Zugangsmöglichkeiten zu qualifizierten Förderinstrumenten sind dem überwiegenden Teil der Arbeitsuchenden jedoch weitest gehend verschlossen. „Fordern und Fördern“ überzeugt dann als sozialpolitisches Leitbild nicht, wenn neben dem Fordern nicht auch, der sozialinvestiven Zielsetzung folgend, die bestehende asymmetrische gesellschaftliche Verteilung der Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem thematisiert und verändert wird. Jene Diskursbeiträge, die Teilhabe-, Beteiligungs- oder Zugangsgerechtigkeit als neues arbeitsmarktpolitisches Leitbild in den Mittelpunkt stellen, tun dies häufig in Abgrenzung von der vermeintlich „veralteten“ Verteilungsgerechtigkeit. Diese Polarisierung ist allerdings nicht zwangsläufig notwendig. Vielmehr sind Verteilung und Teilhabe zwei Seiten einer Medaille: die Erhöhung gesellschaftlicher Teilhabechancen in der Bundesrepublik erfordert auch die Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen.
Literatur Blanke, B. (2005): Vom Sozialversicherungsstaat zum „sozialen Dienstleistungsstaat“. Essay über eine andere Perspektive auf den deutschen sozialpolitischen Diskurs. In: Hitzel-Cassagnes, T./Schmidt, Th. (Hrsg.) (2005): Demokratie in Europa und europäische Demokratien. Festschrift für Heidrun Abromeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 31-55. Blasche, S. (2003): Begründung des Sozialstaates aus philosophischer Sicht. In: Blasche, S./v. Hauff, M. (Hrsg.) (2003): Leistungsfähigkeit von Sozialstaaten. Marburg: Metropolis. 11-28. Böhnke, P. (2006): Am Rande der Gesellschaft – Risiken sozialer Ausgrenzung. Opladen: Barbara Budrich. Bundesagentur für Arbeit (2006): Arbeitsmarkt in Deutschland. Zeitreihen bis 2006. Nürnberg. Demandt, A. (1999): Die Idee der Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles. In: Münkler, H./Llanque, M. (Hrsg.) (1999): Konzeptionen der Gerechtigkeit. Kulturvergleich – Ideengeschichte – Moderne Debatte. Baden-Baden: Nomos. 57-68. Giddens, A. (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik
47
Gronbach, S. (2007): Von der Verteilung zur Teilhabe. Sozialhilfe- und arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitsdiskurse unter Rot-Grün. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosphie, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. 10. September 2007. Unveröff. Manuskript. Heinze, R. G. (2002): Die Berliner Räterepublik: viel Rat – wenig Tat? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Hinsch, W. (2002): Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Berlin, New York: Walter de Gruyter. Huster, St. (2004): Was ist sozial(staatlich)e Gerechtigkeit? Korreferat zu Wolfgang Kersting. In: Goldschmidt, N./Wohlgemuth, M. (Hrsg.) (2004): Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft. Sozialethische und ordnungsökonomische Grundlagen. Tübingen: Mohr Siebeck. 33-39. Iser, M. (2003): Welche Güter? Welche Verteilung? In: Erwägen Wissen Ethik (vormals Ethik und Sozialwissenschaften) 14. 2. 261-263. Kaube, J. (2003): Das Reflexionsdefizit des Wohlfahrtsstaates. In: Lessenich, St. (Hrsg.) (2003): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt am Main, New York: Campus. 41-54. Kaufmann, F.-X. (2006): „Verantwortung“ im Sozialstaatsdiskurs. In: Heidbrink, L./Hirsch, A. (Hrsg.) (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt am Main, New York: Campus. 39-60. Klages, H. (2006): Eigenverantwortung als zivilgesellschaftliche Ressource. In: Heidbrink, L./Hirsch, A. (Hrsg.) (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt am Main, New York: Campus. 109-150. Koller, P. (2002): Was ist und was soll soziale Gleichheit? In: Schmücker, R./Steinvorth, U. (Hrsg.) (2002): Gerechtigkeit und Politik. Philosophische Perspektiven. Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 3. Berlin: Akademie Verlag. 95-115. Kramer, R. (1992): Soziale Gerechtigkeit: Inhalt und Grenzen. Berlin: Duncker & Humblot. Leisering, L. (2007): Gerechtigkeitsdiskurse im Umbau des deutschen Sozialstaats. In: Empter, St./Vehrkamp, R. (Hrsg.) (2007): Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. 77-108. Marshall, Th. H. (1992 [1949]): Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt am Main, New York: Campus. Meyer, Th. (2004): Die Agenda 2010 und die soziale Gerechtigkeit. In: Politische Vierteljahresschrift 45. 2. 181-190. Möhring-Hesse, M. (2004): Die demokratische Ordnung der Verteilung. Eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit. Frankfurt am Main, New York: Campus. Moller Okin, S. (1995 [1987]): Gerechtigkeit und die soziale Institutionalisierung des Geschlechterunterschiedes. In: v. d. Brink, B./v. Reijen, W. (Hrsg.) (1995): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 281-322. Neckel, S./Dröge, K. (2002): Die Verdienste und ihr Preis: Leistung in der Marktgesellschaft. In: Honneth, A. (Hrsg.) (2002): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt am Main, New York: Campus. 93-116. Neckel, S./Dröge, K./Somm, I. (2004): Welche Leistung, welche Leistungsgerechtigkeit? Soziologische Konzepte, normative Fragen und einige empirische Befunde. In: Berger, P. A./Schmidt, V. H. (Hrsg.) (2004): Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 137-164. Neugebauer, G. (2007): Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: Dietz. Nolte, P. (2004): Die große Sprachlosigkeit der Reformen. In: Hartwig, I./Spengler, T. (Hrsg.) (2004): Kursbuch 157. Die große Entsolidarisierung. Berlin: Rowohlt. 33-47. Nolte, P. (2005): Soziale Gerechtigkeit in neuen Spannungslinien. In: Universitas: Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 60. 10. 995-1009.
48
Sigrid Gronbach
Nullmeier, F. (1997): Gerechtigkeitsziele des bundesdeutschen Sozialstaates. In: Montada, L. (Hrsg.): Beschäftigungspolitik zwischen Effizienz und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main, New York: Campus. 213-231. Nullmeier, F. (2006): Paradoxien der Eigenverantwortung. In: Heidbrink, L./Hirsch, A. (Hrsg.) (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt am Main, New York: Campus. 151-164. Nullmeier, F./Vobruba, G. (1995): Gerechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs. In: Döring, D./Pioch, R./Rüb, F. W./Vobruba, G. (1995): Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Marburg: Schüren. 11-66. Rieger, E. (1992): Die Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaates. Opladen: Westdeutscher Verlag. Schmidt, V. A. (2002): Does Discourse Matter in the Politics of Welfare State Adjustment? In: Comparative Political Studies 35. 2. 168-193. Schnabl, Ch. (2006): Soll man Gerechtigkeit egalitaristisch oder nonegalitaristisch konzipieren? Zur Bedeutung von Gleichheit für das Gerechtigkeitsverständnis im Kontext der neuen Egalitarismuskritik. In: Schramm, M./Große Kracht, H.-H./Kostka, U. (Hrsg.) (2006): Der fraglich gewordene Sozialstaat. Aktuelle Streitfelder – ethische Grundlagenprobleme. Paderborn: Schöningh. 37-54. Schröder, G. (2003): Das Ziel der sozialen Gerechtigkeit und die Herausforderungen moderner sozialer Demokratie. In: Deufel, K./Wolf, M. (Hrsg.) (2003): Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaats. Freiburg u.a.: Herder. 25-30. Sell, St. (2005a): Tiefen und Untiefen rotgrüner Arbeitsmarktpolitik – eine Zwischenbilanz. Thesenpapier. In: Tagungsunterlage der Fachtagung „Die vier Stationen der Hartz-Reise. Erste Bilanz der Arbeitsmarktreformen“ am 8. Februar 2005. World Trade Center, Bremen. 13-14. http://www.arbeitnehmerkammern.de/cms/upload/Downloads/Dokumentationen Die_vier_Stationen_der_Hartz-Reise.pdf. Stand: 11.11.2006. Sell, St. (2005b): Vom Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit zu Hartz IV: Tiefen und Untiefen rot-grüner Arbeitsmarktpolitik in einer Mediengesellschaft. In: Haubner, D./Mezger, E./Schwengel, H. (Hrsg.) (2005): Agendasetting und Reformpolitik: strategische Kommunikation zwischen verschiedenen politischen Welten. Marburg: Metropolis: 285-310. Steinbrück, P. (2003): „Etwas mehr Dynamik bitte“. In: Die Zeit Nr. 47 vom 13.11.2003: 18. Ullrich, C. G. (1999): Reziprozität und die soziale Akzeptanz des „Sozialversicherungsstaates“. In: Soziale Welt 50. 1. 7-34. Zohlnhöfer, W. (1990): Markt oder soziale Gerechtigkeit. Eine falsche Alternative. Köln: J.P. Bachem.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
49
Katrin Mohr
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
Wie in vielen anderen westlichen Ländern hat in Deutschland in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik statt gefunden, der sich als Wandel von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik beschreiben lässt und der im größeren Kontext eines Wandels vom Welfare- zum Workfare-Staat (Jessop 1994) steht, in dessen Zuge sich auch andere Sicherungssysteme und Politikfelder grundlegend verändern. Dieser Wandel verlief zunächst schleichend und inkrementell, fand in den ‚HartzReformen’ aber seinen plötzlichen Kulminationspunkt. Im Beitrag soll dieser Wandel der Arbeitsmarktpolitik rekonstruiert werden. Hierzu soll zunächst der Begriff des Workfare-Staats vorgestellt und gegenüber enger gefassten Definitionen von Workfare-Programmen abgegrenzt und diskutiert werden (1. Abschnitt). Dann soll der Wandel der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland als Paradigmenwechsel von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sowie als Teil und Ausdruck des Wandels vom Welfare- zum Workfare-Staat dargestellt werden (2. Abschnitt). In einem dritten Schritt soll schließlich der Versuch unternommen werden, den sich zwar längerfristig anbahnenden, dann aber doch recht plötzlichen Durchbruch der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu erklären (3. Abschnitt). Dabei wird insbesondere auf politische Gelegenheitsstrukturen und die Rolle internationalen Politiklernens abgehoben. Der letzte Teil (4. Abschnitt) dient der Zusammenfassung und abschließenden Bewertung.
1
Welfare- und Workfare-Staat: Begriffe, Definitionen, Implikationen
Der Begriff „Workfare“, der aus der Zusammenziehung der englischen Wörter „work“ und „welfare“ rührt und erstmals Ende der 1960er Jahre von Präsident Nixon in einer Fernsehansprache zum „War on Poverty“ verwendet wurde (vgl. Nathan 1993), wird in der Debatte über den Wandel der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sehr unterschiedlich verwendet. In einem engen Sinn bezeichnet Workfare die Abhängigkeit der Gewährung von Fürsorgeleistungen von der Teilnahme der Hilfebedürftigen an Arbeit (Lødemel/Trickey 2001: 6). In dieser strikten „work-for-benefit“-Form ist Workfare aber nur in sehr wenigen Ländern verwirklicht und wird häufig mit Sozialhilfeprogrammen in den USA assoziiert. Selbst in seinem Mutterland USA sind Programme, bei denen lediglich der „welfare cheque“ abgearbeitet werden muss, jedoch nicht die einzige und häufig auch nicht die dominante Form, in der aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik betrieben wird.1 Auch hier existieren unterschiedlichste Programme, die mit einer Mischung aus „carrots“ and „sticks“ (Peck 2001: 10) arbeiten, und durch Verhaltensmodifikationen sowie institutionelle Unters1 So standen etwa im weithin als Vorbild gepriesenen und häufig kopierten Riverside County-Programm Unterstützung bei der Arbeitssuche und Vermittlung im Mittelpunkt des Agierens der Sozialbehörde (Handler 2004: 28).
50
Katrin Mohr
tützung versuchen, erwerbsfähige Hilfebedürftige (wieder oder erstmalig) in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Rahmen der britischen New-Deal-Programme stellt das pure Abarbeiten der staatlichen Leistung im gemeinnützigen Sektor ebenfalls nur eine von vier „Optionen“ dar, die von den Erwerbslosen wahrgenommen werden können bzw. müssen.2 Über den angelsächsischen Raum hinaus spielen Workfare-Programme im strikten Sinn kaum eine Rolle. Gleichwohl haben in den meisten westlichen Ländern in den letzten Jahren Reformen der sozialen Absicherung bei Erwerbslosigkeit und der Arbeitsförderung stattgefunden, bei denen es darum ging, staatliche Unterstützungsleistungen stärker von Pflichten zur Mitwirkung an der eigenen Vermittlung und/oder der Teilnahme an aktivierenden Arbeitsfördermaßnahmen abhängig zu machen und Anreizstrukturen so zu restrukturieren, dass Teilhabe an Erwerbsarbeit maximiert wird. Innerhalb dieser generellen Entwicklungsrichtung bestehen wiederum große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern (Barbier/Ludwig-Mayerhofer 2004) – etwa zwischen skandinavischen Staaten, wo eine Ausrichtung auf Qualifizierung oder „human capital development“ vorherrscht (vgl. Torfing 1999), und dem liberalen Großbritannien, wo die Arbeitsmarktpolitik einer „workfirst“-Logik folgt (vgl. Mohr 2007)3. Diese Bandbreite von Variationen innerhalb eines generellen Entwicklungstrends sowie das breite Spektrum an Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration lassen sich mit dem engen Begriff von Workfare nicht erfassen. Diese lassen sich besser mit einem weiten Begriff von Workfare beschreiben, wie er zuerst von Bob Jessop (1994, 1999) für den allgemeinen Wandel des Wohlfahrtsstaats geprägt und später von Jamie Peck (2001) für das Feld der Arbeitsmarktpolitik verwendet wurde. Jessop betrachtet den Wandel von Wohlfahrtsstaaten, der sich im Zuge des Umbruchs vom Fordismus zum Postfordismus ereignet, als einen Wandel vom stärker auf Dekommodifizierung und sozialstaatliche Regulierung ausgerichteten keynesianischen Wohlfahrtsund Nationalstaat (KWNS) zum postfordistischen, auf Kommodifizierung und Deregulierung ausgerichteten postnationalen Schumpeterianischen Workfare-Regime (SWPR). Der KWNS war „keynesianisch, weil er versuchte durch eine makroökonomische Nachfragesteuerung Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum herzustellen“ (Jessop 1999: 350, Hervorhebung K.M.). Das SWPR demgegenüber ist schumpeterianisch, weil es permanente Innovation und Flexibilität durch angebotsseitige Maßnahmen fördert und die Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie stärken will. Die alte Regulationsform kann als „welfare state“ charakterisiert werden, da sie in besonderem Maß auf die Steigerung der Wohlfahrt der Gesellschaftsmitglieder und die Verallgemeinerung des kollektiven und des Massenkonsums ausgerichtet war. Die neue Regulationsweise kann nach Jessop entsprechend als Workfare-Regime bezeichnet werden, weil sie die Sozialpolitik den Zielen der Arbeitsmarktflexibilität und Wettbewerbsfähigkeit unterordnet. War der KWNS national, weil der territoriale Nationalstaat die primäre Ebene politischer Regulation darstellte, ist das SWPR postnational, weil verschiedene Ebenen von Governance eine Rolle spielen und die Funktion des Staates vor allem darin besteht, den Austausch und die Koordination zwischen diesen Ebenen herzustellen. Schließlich war der KWNS Staat, weil staatliche Institutionen Marktkräfte ergänzten und eingrenzten und der Staat eine dominante Rolle in der Formung 2 Die anderen Optionen bestehen in der Teilnahme an einer Aus- bzw. Weiterbildung, Lohnkostenzuschüssen sowie der Unterstützung bei der Existenzgründung (Mohr 2004: 296). 3 Für die Unterscheidung zwischen „human capital development“- und „work first“-Ansätzen vgl. Peck/Theodore 2000 sowie Hanesch 2001.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
51
der Zivilgesellschaft und der Identitäten seiner BürgerInnen spielte. Das SWPR ist demgegenüber Regime, da nicht-staatliche Koordinationsmechanismen wichtiger werden und der Staat deshalb seine Vorherrschaft einbüßt. Wie sein Vorgänger ist das SWPR ein Idealtyp, der in dieser reinen Form in Realität nicht existiert, sondern spezifische Kombinationen der vier Merkmale aufweist und national unterschiedlich ausgeformt ist. Dennoch gibt es eine in allen Ländern zum Tragen kommende Essenz von Workfare: „the imposition of a range of compulsory programs and mandatory requirements for welfare recipients with a view to enforcing work while residualizing welfare” (Peck 2001: 10, Hervorhebung im Original). In Abgrenzung vom Idealtyp „Welfare“, der für das Recht auf staatliche Unterstützung im Bedarfsfall steht und auf die passive Kompensation des Ausfalls von Markteinkommen ausgerichtet ist, charakterisiert Peck Workfare als marktorientierten Zwang, der auf die aktive Arbeitsmarktintegration orientiert. Während Welfare die Subjekte als Leistungsempfänger konstruiert, rekonstituiert Workfare sie als aktive Arbeitsuchende (ebd.: 12). Welfare und Workfare stehen auch für verschiedene Modi der Reproduktion der Arbeitskraft: Stärkte und sicherte die Wohlfahrtspolitik die Masseneinkommen als Nachfragefaktor und sorgte für die Reproduktion einer geschlechtlich strukturierten Industriearbeiterschaft, werden Workfare-Strategien in einem anderen Arbeitsmarktkontext verfolgt: Im Kontext fallender Löhne, chronischer Arbeitslosigkeit und der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen ist Workfare darauf ausgerichtet, die Teilnahme an prekärer und niedrig entlohnter Beschäftigung zu maximieren, indem Erwerbslose in die untersten Bereiche des Arbeitsmarktes kanalisiert oder in unmittelbarer Nähe dazu permanent beschäftigungsfähig gehalten werden (ebd.).
2
Der Wandel vom Welfare- zum Workfare-Staat in Deutschland
Auch der Wandel des deutschen Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen und der Arbeitsmarktpolitik im Speziellen lässt sich mit der von Jessop entwickelten Figur eines Wandels vom keynesianischen Welfare- zum schumpeterianischen Workfare-Staat beschreiben. Auch hier wurde in einem längeren Prozess die Sozialpolitik den Imperativen der Wettbewerbsfähigkeit und der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte untergeordnet und die makroökonomische Steuerung von Nachfrage- auf Angebotsorientierung umgestellt. Leistungen wurden stärker von Gegenleistungen abhängig gemacht und die Arbeitsmarktpolitik darauf ausgerichtet, Erwerbslose so schnell wie möglich auch in prekäre und niedrig entlohnte Arbeit zu integrieren. Dieser Wandel erstreckt sich über mehr als zwei Jahrzehnte und ist über weite Strecken durch inkrementelle Reformen – zu Beginn der ersten rot-grünen Regierungszeit sogar kurzfristig durch eine gegenläufige Bewegung – gekennzeichnet. Dennoch lässt er sich als Paradigmenwechsel im Sinne Peter Halls (1993) charakterisieren, bei dem nicht nur die Instrumente und ihre Justierung verändert werden, sondern eine grundlegende Veränderung der Annahmen und Ziele von Politik stattfindet (Mohr 2008). In den ‚Hartz-Reformen’ der Jahre 2003 bis 2005 fand dieser längerfristige Paradigmenwechsel seinen Kulminationspunkt.
52
Katrin Mohr
2.1 Inkrementeller Wandel in den 1980er und 1990er Jahren Seinen Ausgangspunkt nimmt dieser Wandel Mitte der 1980er Jahre nicht in der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, sondern in der Sozialhilfe, wo sich in Deutschland die ersten Ansätze einer konditionierten Sozialpolitik entwickelten (Brütt 2001: 273f.). Das Bundessozialhilfegesetz, durch das in Deutschland ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe geschaffen wurde, beinhaltete zwar bereits seit seiner Einführung 1962 die Verpflichtung zur Selbsthilfe sowie Instrumente zur Arbeitsverpflichtung.4 Bis Ende der 1980er Jahre waren sie jedoch selten eingesetzt worden. Zehn Jahre Massenarbeitslosigkeit sowie Einschnitte in die beiden vorgelagerten Systeme der Arbeitslosensicherung – das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe – hatten jedoch dazu geführt, dass die Kommunen die administrative und finanzielle Verantwortung für immer mehr Arbeitslose trugen. Indem sie Programme finanzierten, durch die Sozialhilfeempfänger einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erwerben konnten, war es ihnen möglich, einen Teil dieser Verantwortung zurück an die Bundesanstalt für Arbeit zu verschieben. Zum anderen konnten die Workfare-Elemente des BSHG auch genutzt werden, um Leistungsbezieher abzuschrecken und so die kommunalen Haushalte zu entlasten. Dementsprechend wurden diese Programme seit Ende der 1980er Jahre von den Kommunen verstärkt genutzt, um die fiskalischen Lasten, die ihnen die andauernde Massenarbeitslosigkeit aufbürdete, zu reduzieren. In der Arbeitsförderung selbst kam es zu Kürzungen der Leistungen5 und zu einer Verschärfung der Anspruchsbedingungen. Auch senkte die konservativ geführte Regierung die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie hob aber gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an, um das Budget der Bundesanstalt für Arbeit zu konsolidieren. Zudem weitete sie die Anspruchsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere sukzessive bis auf drei Jahre aus (Clasen 1994: 179), um die Erosion des Versicherungsprinzips zu stoppen. Auf die hohe Arbeitslosigkeit wurde außerdem mit einer Strategie der Reduzierung des Arbeitskräfteangebots durch Frühverrentung und abgefederte Übergänge in die Rente reagiert (vgl. Trampusch 2005). Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik und ihre grundsätzliche Ausrichtung blieben in den 1980er Jahren nahezu unverändert. In den 1990er Jahren weitete sich das kommunale Engagement in der Aktivierung von SozialhifebezieherInnen aus. In der klassischen Arbeitsförderung führten die Konsequenzen der deutschen Vereinigung zu einer Delegitimierung der traditionellen Instrumente und zu einer Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Heinelt 2003: 140). Diese kulminierte in der Verabschiedung des Arbeitsförderungsreformgesetzes von 1997,6 mit dem das Ziel der Herstellung von Vollbeschäftigung mithilfe staatlicher Intervention aus den Prinzipien der Arbeitsmarktpolitik getilgt und die spezielle Verantwortung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Angelegenheiten des Arbeitsmarktes betont wurde (Bäcker et al. 2008: 540).7
4
Nach der „Hilfe zur Arbeit“ des BSHG konnten die Kommunen Arbeitsgelegenheiten in regulär entlohnter Beschäftigung im gemeinnützigen Bereich (so genannte Entgeltvariante) oder nach der Aufwandsentschädigungsvariante, bei der den Arbeitslosen eine geringe Aufstockung ihrer Leistung gewährt wird und die der Praxis der heutigen Ein-Euro-Jobs entspricht, schaffen. 5 Das Arbeitslosengeld wurde von 68 auf 63 Prozent und die Arbeitslosenhilfe von 58 auf 56 Prozent des früheren Nettoeinkommens gesenkt. 6 Mit dem Arbeitsföderungsreformgesetz (ARFG) wurde das Arbeitsfördergesetz (AFG) von 1969 reformiert und als Drittes Buch (SGB III) in das Sozialgesetzbuch eingegliedert. 7 Vgl. auch Oschmiansky/Ebach in diesem Band.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
53
Die Enttäuschung über die traditionellen Instrumente8 führte außerdem zu einer deutlichen Senkung des Budgets dieser Maßnahmen sowie zu mehreren Veränderungen, die einen ‚marktnäheren’ Einsatz der Maßnahmen erlaubten (Heinelt 2003: 127 und 134f.). So wurden Lohnkostenzuschüsse an private Arbeitgeber ausgeweitet, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch für den gewerblichen Bereich geöffnet und private Arbeitsvermittler zugelassen. Gleichzeitig wurden die Auflagen für Arbeitslose, sich um Arbeit zu bemühen, Arbeitsangebote oder Arbeitsgelegenheiten anzunehmen, sowohl in der Arbeitslosenversicherung als auch in der Sozialhilfe ausgeweitet (Heinelt 1994: 201, Mohr 2004: 293, 299ff.). Auch die Leistungen gerieten in den 1990er Jahren weiter unter Druck: Die Anspruchsbedingungen und die Zumutbarkeitskriterien wurden verschärft, die Leistungshöhe des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe wurde erneut gesenkt9 und die Anpassung der Sozialhilfesätze an steigende Lebenshaltungskosten mehrfach ausgesetzt. Der Zugang zur ‚originären Arbeitslosenhilfe’, die Arbeitslosen mit wenigstens 150 Tagen Beitragszeit den Bezug von Versicherungsleistungen ermöglicht hatte und die bereits während der 1980er Jahre mehrfach zur Zielscheibe von Kürzungen geworden war, wurde weiter verschärft, bis sie 1999 endgültig abgeschafft wurde (Trube 2002: 20). Die 1990er Jahre stehen damit für eine schleichende Residualisierung und schrittweise Konditionierung der Leistungen sowie für die beginnende angebotsorientierte Reformulierung der Arbeitsmarktpolitik. Eine radikale Umorientierung und -strukturierung der Arbeitsmarktpolitik fand jedoch erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit den rot-grünen ‚Hartz-Reformen’ statt.
2.2 Die ‚Hartz-Reformen’ Die rot-grünen Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen ‚Hartz-Reformen’ allgemein bekannt geworden sind, stehen im Kontext der Neuformulierung sozialdemokratischer Politik. Sie bilden zudem den Kernbestand eines umfassenden Reformpakts, das dazu dienen sollte, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und die Sozialausgaben zu begrenzen. Neben wirtschafts-, bildungs- und familienpolitischen Maßnahmen beinhaltete die „Agenda 2010“ auch Kürzungen im Gesundheitswesen und bei den Renten. Wie in vielen anderen europäischen Ländern bemühten sich auch die deutschen Sozialdemokraten in den späten 1990er Jahren darum, ihr Politikverständnis zu reformulieren, um für neue Wählerschichten attraktiv zu werden. Sie bezogen sich dabei stark auf das von Anthony Giddens formulierte und von Tony Blair erfolgreich adaptierte Paradigma des Dritten Wegs und das Konzept eines aktivierenden Staats (Giddens 1999). Dieser soll – so das damals wegweisende gemeinsame Papier von Schröder und Blair – „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“ (Schröder/Blair 1999). Statt lediglich (nun als passiv geltende) Leistungen zu gewähren, soll er seine BürgerInnen aktivieren und dabei unterstützen, unabhängig von staatlicher Hilfe zu werden. Um dazu in der Lage zu sein, muss der Staat sich selbst reformieren und in der Erbringung seiner Dienstleistungen effizienter werden. Gleichzeitig sollen die BürgerInnen 8
Hierunter fallen vor allem die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie Maßnahmen im zweiten Arbeitsmarkt. Die Sätze für Arbeitslose ohne Kinder wurden von 63 auf 60 Prozent beim Arbeitslosengeld und 56 auf 53 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe gesenkt. 9
54
Katrin Mohr
mehr Eigenverantwortung an den Tag legen. Diese doppelte Inpflichtnahme bringt das deutsche Prinzip des Workfare – das „Fördern und Fordern“ - sinnfällig zum Ausdruck. Obwohl das theoretische Fundament damit gelegt war, fanden in den ersten Jahren der rot-grünen Bundesregierung keine weit reichenden politischen Veränderungen der leistungsrechtlichen Strukturen und Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik statt. Im Gegenteil wurden in der ersten Legislaturperiode sogar einige Reformen unternommen, die als Abkehr von dem von der Vorgängerregierung eingeschlagenen Weg der Deregulierung und Aktivierung gedeutet werden können (vgl. Feil et al. 2008: 173).10 Dies kann zum einen auf die Abgrenzung von der Vorgängerregierung zurückgeführt werden, deren Sozialabbaukurs die Sozialdemokraten im Wahlkampf heftig kritisiert hatten. Zum anderen war das linke Lager in der SPD zu Beginn der ersten Amtszeit der Regierung Schröder noch relativ einflussreich und hatte in Oskar Lafontaine als Parteivorsitzendem und Finanzminister eine starke, dem Lager der „neuen“ Sozialdemokraten um den Kanzler Paroli bietende Führungsfigur. Der Rücktritt Lafontaines 1999 schwächte die SPD-Linke dauerhaft. Das politische Klima war durch einen hegemonialen Diskurs über Reformstau und Reform erzwingende Sachzwänge geprägt (vgl. Lessenich 2003). Auch begannen die Arbeitslosenzahlen 2001 weiter zu steigen, woraufhin die Regierung stärkere Initiative in Richtung einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik entwickelte. Im September 2001 wurde das “Job-AQTIV-Gesetz” (vgl. Trube 2002) verabschiedet, dessen zentrales Ziel es war, den Service der Bundesanstalt für Arbeit zu verbessern, um Erwerbslose schneller in Arbeit zu bringen. Zudem beinhaltete es Maßnahmen zur Früherkennung drohender Langzeitarbeitslosigkeit sowie eine Eingliederungsvereinbarung zwischen Arbeitsverwaltung und Leistungsbeziehenden. Dieses neue Instrument, welches das Prinzip des „Förderns und Forderns“ institutionalisieren sollte, wurde in der Praxis jedoch kaum angewandt. Das Job-AQTIV-Gesetz wurde auch schnell von den sich überschlagenden Entwicklungen überholt. Im Januar 2002 wurde bekannt, dass die Bundesanstalt für Arbeit ihre Vermittlungsergebnisse geschönt hatte. Unter dem öffentlichen Druck der nahenden Bundestagswahlen setzte Bundeskanzler Schröder deshalb umgehend eine Kommission ein, die Vorschläge für eine weitreichende Reform der Arbeitsmarktpolitik unterbreiten sollte. Deren Bericht wurde im August 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt (Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 2002). Er beinhaltete nicht nur Vorschläge für eine grundlegende Restrukturierung der Arbeitsverwaltung (1.), sondern auch für weitreichende Veränderungen im Leistungsrecht (2.) sowie der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik (3.). Zentrale Vorschläge der Kommission wurden in den Jahren 2003 bis 2005 mit den vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt umgesetzt. 1.) Im Rahmen der Reform der Arbeitsverwaltung, die durch das dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt erfolgte, wurde die Bundesanstalt für Arbeit in Bundesagentur umbenannt und nach den Grundsätzen des New Public Management neu strukturiert. Das bisherige Weisungsverhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesanstalt wurde durch ein „Agency Modell“ und die Steuerung über Zielvereinbarungen ersetzt. Die Selbstverwaltung und der sozialpolitische Auftrag der BA wurden geschwächt (vgl. Klenk 10
So wurde unmittelbar nach der Wahl die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall revidiert. Auch der in die Rentenformel eingeführte „demografische Faktor“ wurde zunächst zurück genommen und zur Eindämmung von Scheinselbständigkeit wurden geringfügige Beschäftigungsverhältnisse der Versicherungspflicht unterworfen.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
55
in diesem Band). Eine weitere zentrale Neuerung war die Öffnung der Arbeitsvermittlung für private Anbieter, die durch Konkurrenz die Effizienz der BA auf diesem Gebiet steigern sollte. Vor Ort wurden die lokalen Arbeitsämter zu „Kundenzentren der Zukunft“ umgebaut, in denen neue Formen des Kundenstrommanagements, verstärkte Zusammenarbeit mit den Unternehmen im Rahmen von Arbeitgeberservices und Online-Stellenangebote für höhere Vermittlungserfolge sorgen sollten. 2.) Die Veränderungen im Leistungsrecht, die im Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt sowie dem vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt enthalten waren, betrafen die drei Bereiche der Mindestsicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit, die Bezugsdauer des versicherungsbasierten Arbeitslosengelds sowie das Zumutbarkeits- und Sanktionsregime. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur neuen, deutlich stärker bedürftigkeitsgeprüften und auf Niveau der Sozialhilfe liegenden Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde die alte Arbeitslosenhilfe abgeschafft und eine neue einheitliche Mindestsicherung für alle Langzeitarbeitslosen geschaffen. Die neue Leistung, die im Sozialgesetzbuch II (SGB II) kodifiziert ist, ist in noch stärkerem Maße als die Arbeitslosen- und Sozialhilfe von der Bereitschaft des/der Arbeitslosen abhängig, Arbeit zu suchen oder an Aktivierungsmaßnahmen teilzunehmen und wie bei der Jobseeker’s Allowance in Großbritannien signalisiert bereits der Name einen Paradigmenwechsel: LeistungsbezieherInnen werden nicht länger als Arbeitslose betrachtet, deren Einkommen gesichert werden muss, sondern als Arbeitsuchende, die so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Die zweite gravierende Veränderung des Leistungssystems trat mit der Verkürzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach dem SGB III für Ältere von maximal 32 auf maximal 18 Monate zu Beginn des Jahres 2006 in Kraft. Beide Veränderungen erhöhen auf dem Wege der Residualisierung von Leistungen den Druck auf Erwerbslose zur raschen Integration in den Arbeitsmarkt. Die Verkürzung der Bezugsdauer des versicherungsbasierten Arbeitslosengelds zwingt Erwerbslose sich schneller eine neue Arbeitsstelle zu suchen, da sie sonst in das Arbeitslosengeld II mit seinen geringen Leistungen und seinen strikten Bedürftigkeitsprüfungen fallen würden. Wirkt hier eher die Angst vor dem Absturz als treibende Kraft, sind es beim Arbeitslosengeld II die „Hungerpeitsche“ (Weber) niedriger Leistungen sowie der verstärkte direkte Druck zur Aufnahme einer Arbeit, die der Workfare-Logik Geltung verschaffen. Beide Veränderungen schwächen das im deutschen Sozialstaat bisher dominante Prinzip der Lebensstandardsicherung, denn eine solche relative Absicherung der bisherigen Einkommensposition wird im Rahmen des Arbeitslosengelds nun deutlich kürzer gewährt und im Bereich der Sicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit vollständig zugunsten des Mindestsicherungsprinzips aufgegeben. Dabei war vor allem die rasche Verweisung vom Versicherungs- auf das Fürsorgesystem politisch sehr umstritten, was schließlich dazu führte, dass die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von der Nachfolgeregierung teilweise wieder zurück genommen wurde. Die dritte wesentliche Veränderung im Leistungsrecht betrifft das Zumutbarkeits- und Sanktionsregime. Existierte in der Arbeitslosenhilfe noch eine abgestufte Zumutbarkeitsregelung, bei der in der ersten Zeit noch Rücksicht auf den vorherigen Berufsstatus genommen wurde, gilt für BezieherInnen der Grundsicherung nach dem SGB II nun jede Arbeit
56
Katrin Mohr
als zumutbar, zu die oder der Arbeitslose körperlich und geistig in der Lage ist, unabhängig von der Länge der Arbeitszeit, ortsüblichen Löhnen oder tariflichen Regelungen. Dies hat den Druck auf Langzeitarbeitslose, fast jede Arbeit annehmen zu müssen, enorm verschärft. Damit sind auch Arbeitsbedingungen und Löhne in den unteren Segmenten des Arbeitsmarkts unter Druck geraten. Gleichzeitig wurden auch die Sanktionsmöglichkeiten erheblich ausgeweitet und das Instrument einer sanktionsbewehrten Eingliederungsvereinbarung verbindlich für alle Langzeitarbeitslosen gemacht.11 3.) Um eine schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen, wurde außerdem eine Reihe neuer Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik eingeführt (vgl. Oschmiansky/Ebach in diesem Band). Gemeinsam ist den neuen Förderinstrumenten, dass es bei ihnen nicht um die Erhaltung oder gar Verbesserung des beruflichen Status des/der Arbeitslosen geht, sondern um die schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt, die auch in Beschäftigung führen kann, die früher als unterwertig gegolten hätte. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Zuführung von beschäftigungsfähigen Arbeitskräften in diesen ist bewusstes Ziel dieser work-first orientierten aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Die Aufwertung der Arbeitskraft durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, die Kernstück der aktiven Arbeitsmarktpolitik war und die in den skandinavischen Ländern auch im Rahmen aktivierender Arbeitsmarktpolitik noch einen hohen Stellenwert einnimmt, spielen im Repertoire der neuen deutschen Arbeitsmarktpolitik dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch die am ehesten einer engen Definition von Workfare entsprechenden „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (auch „Ein-Euro-Jobs“ genannt), die bisher vor allem im Bereich der Sozialhilfe genutzt wurden, wurden mit Einführung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende stark ausgeweitet. Sie stellen hinsichtlich Teilnehmerzahl und finanziellen Aufwendungen mittlerweile das gewichtigste Arbeitsförderinstrument im Rechtskreis des SGB II dar. Auf den ersten Blick widersprechen sie der Logik des workfirst-Ansatzes, da sie vor allem dazu dienen, Hilfebedürftige wieder an Arbeit heranzuführen und ihre Beschäftigungsfähigkeit wieder herzustellen bzw. zu erhalten. Sie sind jedoch auch in dieser Funktion elementarer Bestandteil einer Workfare-Politik, welche die Erwerbslosen in Niedriglohnarbeitsmärkte kanalisiert bzw. in ihrer Nähe beschäftigungsfähig hält. Bestimmte Workfare-Elemente existierten in Deutschland bereits lange vor den ‚Hartz-Reformen’ – wie etwa die Hilfe zur Arbeit im BSHG – oder waren bereits im Vorfeld schrittweise eingeführt worden – wie Lohnkostenzuschüsse an private Arbeitgeber sowie die Eingliederungsvereinbarung. Auch der Trend zur Residualisierung von Leistungen ist bereits seit längerem zu beobachten. Dennoch stellen die rot-grünen Arbeitsmarktreformen eine neue Qualität und den entscheidenden Durchbruch zu einer workfaristischen Politik der Aktivierung dar, da sie alle Ressourcen, leistungsrechtlichen Strukturen und Instrumente dafür mobilisieren, erwerbsfähige Hilfebedürftige so schnell wie möglich in Arbeit zu integrieren. In geradezu prototy11
Die Verschärfung der Sanktionen geschah in zwei Schritten. Zunächst wurde für Erwachsene eine 30-prozentige Kürzung eingeführt, die sich bei mehreren Verstößen innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten akkumulieren konnte. Bei Jugendlichen konnte ein mehrfacher Verstoß gegen Auflagen zur Einstellung der Leistungen bzw. Ersetzung der Geld- durch Sachleistungen führen. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Deutscher Bundestag 2006) wurden die Sanktionen nochmals verschärft. Bei einem zweiten Verstoß binnen Jahresfrist können nun die Leistungen bei Erwachsenen um 60 Prozent gekürzt und bei einer weiteren Pflichtverletzung komplett eingestellt werden. Bei jungen Erwachsenen ist dies bereits bei der zweiten Regelwidrigkeit möglich.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
57
pischer Weise sind die Reforminhalte – Leistungskürzungen, Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und Sanktionen sowie neue Instrumente, die in Niedriglohnarbeit kanalisieren – darauf ausgerichtet, Arbeit zu erzwingen, während Sozialleistungen residualisiert werden, was laut Peck (2001: 10), die Essenz von Workfare darstellt.
3
Der plötzliche Durchbruch der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik
Der Wandel der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland verlief dennoch zunächst eher inkrementell als radikal. Die 1990er Jahre waren zwar von einer Neuformulierung der Ziele und Prinzipien der Arbeitsmarktpolitik sowie einer graduellen Umwandlung der aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik gekennzeichnet. Erst mit den ‚Hartz-Gesetzen’, die zwischen 2003 und 2005 verabschiedet wurden, erfolgte eine radikale Reform, die eine strukturelle Neuorganisation des Leistungssystems und des institutionellen Settings beinhaltete (vgl. Knuth in diesem Band) und den Paradigmenwechsel vollendete. Wie ist es zu erklären, dass der Durchbruch des Workfare-Staats damit in Deutschland relativ spät (und nach einem Intermezzo gegenläufiger Politik), dann aber sehr plötzlich und rasch erfolgte? Hierfür spielen zum einen situative Faktoren sowie die spezifische politische Gelegenheitsstruktur, in deren Kontext die Reformen durchgeführt wurden, eine Rolle. Zum anderen muss dem internationalen Policy-Transfer und Politiklernen eine wichtige Rolle zugeschrieben werden. Die Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik auf Aktivierung der Erwerbslosen war bereits seit Mitte der 1990er Jahre von supranationalen Akteuren wie der OECD und der EU propagiert worden. Auch die US-amerikanische „Welfare Reform“ der New Democrats im Jahr 1996 übte starken Einfluss auf die europäische Reformpolitik aus. In Großbritannien wurden diese Reformimpulse besonders engagiert aufgenommen und von Tony Blair im Vorfeld der Unterhauswahlen von 1997 mit den Ideen des wichtigsten Stichwortgebers der neuen Sozialdemokratie, Anthony Giddens, zu einer publizitätsmächtigen Reformstrategie amalgamiert. Als wichtiges Element des „Dritten Weges“ fand das Konzept des „Förderns und Forderns“ auch bei anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa starken Widerhall und beeinflusste nationale Reformstrategien (s.o. Kap. 2.2.). Auch für die Hartz-Reformen bildeten die britischen Arbeitsmarktreformen ein wichtiges Vorbild (vgl. Knuth 2006). Durch Diffusion und Expertisentransfer wurden die britischen Konzepte bis hinein in die Gestaltung der Instrumente auf die deutsche Arbeitsmarktpolitik übertragen. Dafür dass der Durchbruch zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in Deutschland schließlich relativ plötzlich erfolgte – auch wenn der Pfad dorthin bereits seit längerem angelegt war –, sind sicher situative Faktoren (Heinelt 2003: 142f.) wie der Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit und die massiv steigende Arbeitslosigkeit im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 mit entscheidend gewesen. Diese Ereigniskonstellation eröffnete ein Window of Opportunity, dass es den herrschenden Akteuren ermöglichte, auch innerhalb eines grundlegende Reformen eher behindernden politischen Systems weitreichende Reformen durchzusetzen. Normalerweise zwingt die Struktur des politischen Systems in Deutschland Regierungen dazu, die Zustimmung verschiedener Akteure zu suchen und kompromisshafte, kleinteilige Reformschritte zu unternehmen. Dies liegt zum einen an der föderalen Struktur des Staats, zum anderen am Verhältniswahlrecht, das Koalitionsregierungen hervor bringt, die
58
Katrin Mohr
oftmals nur mit knappen Mehrheiten ausgestattet sind. Zu den sich daraus ergebenden Vetopunkten kommt, dass die Gewerkschaften in Deutschland vergleichsweise stark sind und gegen ihren Widerstand in Kernbereichen ihrer Interessenvertretung – und hierzu gehört die Arbeitsmarktpolitik – nur schwer weitreichende Veränderungen durchgesetzt werden können. In der politischen Konstellation kurz vor und während der Hartz-Reformen fiel jedoch eine Reihe von Vetospielern aus. Der Vermittlungsskandal und der Kampf Schröders um die nahende Bundestagswahl beschleunigten und radikalisierten zudem den Reformprozess. Um überhaupt eine Chance auf Wiederwahl zu haben, musste Kanzler Schröder Handlungsfähigkeit in der Arbeitsmarktpolitik beweisen. Programmatisch stand die Umwandlung des versorgenden Wohlfahrtsstaats in einen aktivierenden Wettbewerbstaat bereits seit längerem auf der Agenda der neuen Sozialdemokratie und die Reformen waren entsprechend ideologisch vorbereitet (siehe 2.). Die Linke in der SPD war nach dem Rücktritt Lafontaines im März 1999 geschwächt und konnte der plötzlichen Entschlossenheit der neuen Sozialdemokraten um Kanzler Schröder wenig entgegen setzen. Auch andere Vetospieler fielen als Hindernis weitgehend aus, da sich die Gewerkschaften gegenüber der sozialdemokratisch geführten Regierung defensiv verhielten und ihr Protest gering blieb. Durch die Auslagerung des Agenda-Settings in eine unabhängige Kommission konnte die Regierung sich darauf zurückziehen, dass die Empfehlungen von externen und parteiunabhängigen Experten gemacht worden waren, was eine erhöhte Legitimität versprach. Schließlich wurden die Reformen von den Unionsparteien mit getragen, so dass auch aus der parlamentarischen Opposition kein Widerstand erwuchs.
4
Fazit: Workfare als neue Regulation der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland
Legt man die Maßstäbe des engen Workfare-Begriffs auf die deutsche Politik der Aktivierung an, so muss die Frage einer Entwicklung von Welfare zu Workfare mit nein beantwortet werden. Zwar werden Workfare-Programme, bei denen Leistungsbeziehende als Gegenleistung für die Grundsicherung ohne weitere Entschädigung gemeinnützige Arbeit leisten müssen, immer wieder von einzelnen AkteurInnen aus Wissenschaft und Politik als Mittel zur gebotenen Herstellung von Reziprozität zwischen LeistungsbezieherInnen und staatlichem Gemeinwesen sowie als Anreizverstärker zur Aufnahme regulärer Existenz sichernder Beschäftigung propagiert (vgl. BMWI 2007). Sie sind in dieser Form in Deutschland bisher aber nicht umgesetzt.12 Dagegen steht eine in Deutschland in weiten Teilen der politischen Eliten und in der Bevölkerung verankerte Zurückhaltung gegenüber allzu direkten Formen der Zwangsarbeit. Aber auch pragmatische Gründe wie das Problem der Schaffung und Administration von Millionen von „work-for-benefit“-Maßnahmen und der Verdrängung regulärer Beschäftigung verhindern bisher und auf absehbare Zeit eine flächendeckende Einführung dieses Prinzips.13
12 Die hauptsächlich bei Jugendlichen zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft und zur Arbeitsgewöhnung eingesetzten Trainingsmaßnahmen dienen einem anderen ideologischen und funktionalen Zweck. Auch werden sie nur selektiv angewendet und beziehen sich in der Regel auf den ersten Arbeitsmarkt. 13 Bereits heute üben auch VertreterInnen der Wirtschaft Kritik an den Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung, da diese dazu führen, dass z.B. dem lokalen Handwerk Aufträge entgehen.
Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik
59
Begreift man Workfare jedoch im Sinne von Jessop und Peck als polit-ökonomische Tendenz, bei dem die Arbeitsmarktpolitik den Imperativen der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet und auf die Bedingungen von Niedriglohnarbeitsmärkten ausgerichtet wird, bei dem an die Stelle des Rechts auf staatliche Unterstützung die Pflicht zur Wiedererlangung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit tritt und bei dem die Arbeitsmarktbeteiligung maximiert, während die Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung minimiert werden soll, so ist die im Titel gestellte Frage eindeutig positiv zu beantworten. Auch in Deutschland hat ein solcher Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik statt gefunden. Dieser erfolgte über weite Strecken inkrementell, fand jedoch in den ‚HartzReformen’ seinen Kulminationspunkt. Bereits seit Ende der 1980er Jahre fanden ausgehend von der Sozialhilfe eine Entwicklung zu einer stärkeren Konditionierung des Leistungsbezugs sowie eine schrittweise Residualisierung staatlicher Unterstützungsleistungen für Erwerbslose statt. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ersetzte zunehmend eine makroökonomische Beschäftigungspolitik und wurde ihrerseits immer stärker auf die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten und die Ausdehnung des Niedriglohnsektors ausgerichtet. Erwerbslose wurden als Arbeitsuchende redefiniert und auf ihre Eigenverantwortung verpflichtet. Diese Tendenz erlangte mit den Hartz-Reformen eine neue Qualität und einen bis dato unvergleichlichen Schub. Die Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er Jahre stehen dabei im Kontext einer allgemeineren Strategie, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Rahmen der Globalisierung – vor allem durch eine Rückführung der so genannten Lohnnebenkosten und damit durch einen Rückbau des Sozialstaats – zu stärken. Zwar ist diese Ausrichtung des Sozialstaats sowie der Arbeitsmarktpolitik nicht unumstritten und in sich widerspruchsfrei. Dennoch ist derzeit nicht in Sicht, dass die mit den Hartz-Reformen vollendete Neuausrichtung der aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik von einer kritischen Masse machtvoller politischer Akteure grundlegend in Frage gestellt und revidiert würde. Workfare im Sinne von Jessop und Peck kann daher auch in Deutschland mittlerweile als etablierter Modus der Regulation der Arbeitsmarktpolitik gelten.
Literatur Bäcker, G./Naegele, G./Bispinck, R./Hofemann, K/Neubauer,J. (2008): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Barbier, J.-C./Ludwig-Mayerhofer, W. (2004): Introduction. The Many Worlds of Activation. In: European Societies 6. 4. 423-436. BMWI - Bundesministerium für Wirtschaft (2007): Das BMWI-Modell einer Existenz sichernden Beschäftigung. In: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht 2007. 05. Brütt, Ch. (2001): Neoliberalismus plus. Re-Kommodifizierung im aktivierenden Sozialstaat. In: Candeias, M./Deppe, F. (Hrsg.) (2001): Ein neuer Kapitalismus? Hamburg: VSA. 265-283. Deutscher Bundestag (2006). Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bundestagsdrucksache 16/1410). Clasen, J. (1994): Paying the Jobless. A comparison of unemployment benefit policies in Great Britain and Germany. Aldershot: Ashgate. Feil, M./Tillmann, L./Walwei, U. (2008): Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik nach der Wiedervereinigung. In: Zeitschrift für Sozialreform 54. 2. 161-187.
60
Katrin Mohr
Giddens, A. (1999): Der dritte Weg: Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hall, P. A. (1993): Policy Paradigms, Social Learning, and the State. In: Comparative Politics 25. 3. 275–296. Handler, J. F. (2004): Social Citizenship and Workfare in the United States and Western Europe. The Paradox of Inclusion. Cambridge: Cambridge University Press. Hanesch, W. (2001): Activation: Narratives and Realities. A Seven Countries Comparison. Vortrag auf der Workshop on "Social Exclusion, Minimum Income Support and Workfare in Europe". 5. ESA-Conference "Visions and Divisions". Helsinki/Finland. http://www.shakti.uniurb.it/Eurex/ esa/PDF/ESA-Hanesch.pdf. Stand: 24.03.2009 Heinelt, H.(1994): Arbeitsmarktpolitik nach der Vereinigung - Überforderung und Substanzverlust des Beitragsfinanzierungsprinzips. In: Olk, T./Riedmüller, B. (Hrsg.): Grenzen des Sozialversicherungsstaates, (Leviathan Sonderheft Nr. 14), 191-205. Heinelt, H. (2003): Arbeitsmarktpolitik - von "versorgenden" wohlfahrtsstaatlichen Interventionen zur "aktivierenden" Beschäftigungsförderung. In: Gohr, A./Seeleib-Kaiser, M. (Hrsg.) (2003): Sozial- und Wirtschaftspolitik unter Rot-Grün. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 125-145. Jessop, B. (1994): From the Keynesian Welfare to the Schumpeterian Workfare State. In: Burrows, R./Loader, B. (Hrsg) Towards a Post-Fordist Welfare State? Routledge, 13-38. Jessop, B. (1999): The Changing Governance of Welfare: Recent Trends in its Primary Functions, Scale, and Mode of Coordination. In: Social Policy and Administration 33. 4. 348-359. Knuth, M. (2006): 'Hartz IV' - die unbegriffene Reform. In: Sozialer Fortschritt 2006. 7. 160-168. Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (2002): Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht der Kommission. Berlin. Lessenich, St. (2003): Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell. Frankfurt a.M./New York: Campus. Lødemel, I./Trickey, H. (Hrsg.) (2001): An Offer You Can't Refuse. Workfare in International Perspective. Bristol: Policy Press. Mohr, K. (2004): Pfadabhängige Restrukturierung oder Konvergenz? Reformen in der Arbeitslosensicherung und der Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland. In: Zeitschrift für Sozialreform 50. 3. 283-312. Mohr, K. (2007): Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. Arbeitslosensicherung und Sozialhilfe in Großbritannien und Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mohr, K. (2008): Creeping Convergence - Wandel der Arbeitsmarktpolitik in Großbritannien und Deutschland. In: Zeitschrift für Sozialreform 54. 2. 187-209. Nathan, R. P. (1993): Turning Promises into Performance: The Management Challenges of Implementing Workfare. New York: Columbia University Press. Peck, J./Theodore, N. (2000): "Work First": Workfare and the Regulation of Contingent Labour Markets. In: Cambridge Journal of Economics 24. 1. 119-138. Peck, J. (2001): Workfare States. New York: The Guilford Press. Schröder, G./Blair, T. (1999): Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. http://www.kpm.unibe.ch/ladner/dokumente/arbeitspapiere/blair_schroeder.html. Stand: 18.02.2005. Torfing, J. (1999): Towards a Schumpeterian Workfare Postnational Regime: Path-shaping and Pathdependency in Danish Welfare State Reform. In: Economy & Society 28. 3. 369-402. Trampusch, Ch. (2005): Institutional Resettlement. The Case of Early Retirement in Germany. In: Streeck, W./Thelen, K. (Hrsg.) Beyond Continuity. Institutional Change in Advanced Political Economies, Oxford: Oxford University Press, 203-228. Trube, A. (2002): Entwicklungslinien in der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik. Trends und Gegenvorschläge. In: Arbeit und Sozialpolitik 2002. 1-2. 18-25.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
61
Matthias Knuth
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“: ein hybrides Regime sozialer Sicherung auf der Suche nach seiner Governance Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
1
Einleitung
Vier Jahre nach ihrer Einführung hat die Grundsicherung „für Arbeitsuchende“1 noch immer keine sichere Governance gefunden. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass das zentrale Versprechen der Hartz-Reformen, nämlich „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt aus einer Hand“ zu schaffen, für die Mehrheit der Erwerbslosen und Erwerbsarmen am Ende unerfüllt bleibt, weil dafür keine verfassungskonforme und politisch mehrheitsfähige Lösung gefunden werden kann. Die von diesem Dilemma Betroffenen sind zum großen Teil jene, die den nach der Logik der Hartz-Reformen angeblich notwendigen Preis - die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe – für die versprochenen „Dienstleistungen aus einer Hand“ zu zahlen hatten. Der Artikel fragt nach den Ursachen dieser Entwicklung jenseits von parteipolitischen Mehrheitskonstellationen und verfassungsrechtlicher Auslegung. Nach einer kurzen Bilanz der Reformen (Kap. 2) werden Theorieansätze der Pfadabhängigkeit und der Regimetheorie eingeführt (Kap. 3), um die Grundsicherung als einen Pfadwechsel weg vom Regime der Arbeitslosenversicherung charakterisieren zu können (Kap. 4). Dieser Pfadwechsel hat zu einem eigenständigen „hybriden“ Regime sozialer Sicherung geführt, das Elemente von Sozialfürsorge und Arbeitsförderung kombiniert (Kap. 5). Die Abkoppelung dieses Regimes von den Prinzipien der Sozialversicherung impliziert eine Stärkung der Rolle der Kommunen, ungeachtet der empirischen Evidenz über deren Leistungsfähigkeit und auch entgegen den Interessen eines großen Teils von ihnen (Kap. 6).
2
„Hartz IV“ – die Unvollendete
2.1 Vorläufige Bilanz der Hartz-Reformen Die mit dem Namen „Hartz“ verbundenen Reformen lassen sich – nicht ganz kongruent mit der Nummerierung der einzelnen Gesetzgebungsschritte – in vier Elemente unterteilen: (1) Einführung einiger neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente und Modifikation weiterer, letzteres teilweise auch unabhängig von den Empfehlungen der Hartz-Kommission („Hartz I/II“– 2003);
1 Da die Mehrzahl der LeistungsbezieherInnen im SGBII in Wirklichkeit nicht arbeitsuchend ist, kann die offizielle Bezeichnung dieses Leistungssystems nur in Anführungszeichen benutzt werden. Eine treffendere Bezeichnung wäre „Grundsicherung für Erwerbsarme“, womit Mangel an Erwerbsmöglichkeiten ebenso umfasst wäre wie Armut trotz Erwerbstätigkeit.
62
Matthias Knuth
(2) Modernisierung der Aufbau- und Ablauforganisation der Bundesanstalt für Arbeit („Hartz III“ – 2004)2, die in diesem Zusammenhang umbenannt wurde in „Agentur“, ohne dass ihre rechtliche Stellung tatsächlich dem entsprechen würde, was in der Theorie öffentlicher Verwaltung als government agency bezeichnet wird; (3) Umgestaltung des Sozialleistungssystems für Erwerbslose und Erwerbsarme ohne (ausreichenden) Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung, kommuniziert als „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“ – 2004); (4) Versuch der Schaffung einheitlicher und effizienterer Anlaufstellen für alle Arbeitsuchenden und Leistungen wegen Erwerbslosigkeit oder Erwerbsarmut Beziehenden unter dem Neologismus Job-Center („Hartz IV – 2004 mit Nachspiel 2005). Unter dem Motto „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ stellte die HartzKommission das Element (4) ins Zentrum ihrer Reformvorschläge, um damit (2) zu begründen und (3) zu rechtfertigen. Denn nach seinerzeit herrschender Vorstellung war die „Zusammenlegung“ der steuerfinanzierten Sozialleistungen einerseits des Bundes, andererseits der Kommunen die unabdingbare Voraussetzung dafür, auch die Dienstleistungen von (damals noch) Bundesanstalt für Arbeit und Sozialämtern zusammenzuführen. Dadurch sollten einerseits bestehende institutionelle Brüche in der Arbeitsmarktpolitik überwunden, andererseits die aktive Arbeitsförderung durch Einbeziehung von „flankierenden“ sozialen Dienstleistungen der Kommunen ganzheitlicher und damit für Langzeitarbeitslose mit multiplen Vermittlungshemmnissen wirksamer gestaltet werden. Die Bilanz dieser vier Reform-Elemente fällt differenziert aus: (1) Soweit es sich bei der Instrumenten-Reform um originäre Innovationen handelte, waren diese nach den Ergebnissen der Evaluationen überwiegend nicht erfolgreich im Sinne einer Verbesserung der Integrationschancen am Arbeitsmarkt (vgl. Kaltenborn et al. 2006; Jacobi, Kluve 2007 sowie den Beitrag von Neubäumer in diesem Band), und mehrere wurden inzwischen schon wieder abgeschafft.3 (2) Dem Umbau der Bundesanstalt zur Bundesagentur für Arbeit wurden in der Evaluation tendenziell positive Effekte attestiert (vgl. BMAS 2006: Vff.).4 Jedoch führt das Scheitern von (4) dazu, dass diese Errungenschaften unmittelbar nur dem versicherten Teil der Arbeitslosen bzw. dem nicht bedürftigen Teil der Arbeitsuchenden zugute kommen. Auf dem vorläufigen Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit im Oktober 2008 waren dies rd. 30% der Arbeitslosen und sogar nur rd. 14% der Personen, die Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II bezogen (Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2009). Das System „BA pur“ ist also eine Dienstleistung nur für eine Minderheit der Erwerbslosen bzw. Erwerbsarmen. (3) Die „Zusammenlegung“ der Leistungen für erwerbsfähige Bedürftige unter der den Charakter der neuen Leistung verschleiernden Bezeichnung „Arbeitslosengeld II“ (ALG II) wurde durch die Schaffung eines neuen Sozialgesetzbuches „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II) verwirklicht. Bis dahin Sozialhilfe Beziehende hatten 2 Teilweise auch schon durch Art. 3 des Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat vom 23. März 2002. 3 Insbesondere durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008. 4 Zur Kritik der Qualität der so produzierten Dienstleistungen vgl. Hielscher, Ochs 2009.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
63
davon in finanzieller Hinsicht leichte Vorteile, Arbeitslosenhilfe Beziehende – und damit die Mehrheit der Betroffenen – eher Nachteile (Blos, Rudolph 2005; Goebel, Richter 2007). Die neuen Geldleistungen werden von Sozialverbänden und Teilen der Wissenschaft als zu niedrig kritisiert, insbesondere die Leistungssätze für Kinder (vgl. Becker 2008). Die Unzufriedenheit der Betroffenen sowie Ungereimtheiten einzelner Vorschriften beschäftigen die Sozialgerichte. (4) Zur Schaffung von örtlich jeweils einer einheitlichen Anlaufstelle kam es nicht. Politische Differenzen über die Trägerschaft der neuen Leistungen führten zunächst zu einem zweifachen Kompromiss: (a) Dienstleistungen für ALG II Beziehende werden im Regelfall durch eine „Arbeitsgemeinschaft“ (ARGE) erbracht, die in öffentlicher oder privater Rechtsform von der jeweiligen Kommune zusammen mit der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit zu bilden ist. (b) 69 Kreise oder kreisfreie Städte, die durch ein auf die Bundesländer nach Maßgabe ihrer Stimmen im Bundesrat kontingentiertes Antragsverfahren ermittelt wurden, haben als so genannte „zugelassene kommunale Träger“ (zkT) die Aufgaben nach dem SGB II zur alleinigen Wahrnehmung übernommen. Der Kompromiss, das neue Gesetz in zwei unterschiedlichen Formen der Aufgabenwahrnehmung umsetzen zu lassen, wurde als ein bis 2010 befristetes Experiment5 deklariert. Da es jedoch verfassungsrechtlich nicht möglich ist, die Kommunen zum Eingehen einer Arbeitsgemeinschaft mit der Agentur für Arbeit zu zwingen, kam es in einigen Regionen zu einer dritten Form, bei der BA und Kommunen die ihnen im Gesetz originär zugeordneten Aufgaben jeweils für sich allein, in mehr oder weniger loser Kooperation wahrnehmen (vgl. Kirsch et al. 2009). In dieser „getrennten Aufgabenwahrnehmung“ erbringt die Agentur für Arbeit die Unterhaltsleistungen und die arbeitsmarktpolitische Förderung, während die Kommune zuständig ist für die Kosten der Unterkunft und Heizung und die flankierende soziale Förderung. Durch Auflösung von Arbeitsgemeinschaften erhöhte sich die Anzahl der Regionen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung, von denen es aktuell (Frühjahr 2009) 23 gibt.6 Es stellte sich bald heraus, dass der für die Mehrzahl der Arbeitslosen und Leistungsempfänger geschaffene eigenständige „Rechtskreis“ des SGB II auch eigenständige Organisationsformen verlangte. Deshalb wurde die Fiktion eines gemeinsamen „Job-Centers“ für Versicherte und Nichtversicherte bereits nach 18 Monaten aus dem Gesetz gestrichen.7 Das Ziel, eine „einheitliche Anlaufstelle“ für alle Arbeitslosen und Arbeitsuchenden zu schaffen, wurde also gleich in dreifacher Hinsicht verfehlt: a) Versicherte und nicht versicherte Erwerbslose haben unterschiedliche Anlaufstellen, b) die Anlaufstellen für die Nichtversicherten sind nicht einheitlich verfasst, sondern existieren in drei verschiedenen Varianten und tragen – infolge von Marketing-Strategien dieser neuen Akteure am Arbeitsmarkt – von Ort zu Ort unterschiedliche Bezeichnungen, c) in Regionen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung müssen alle ALG II Beziehenden zwei Dienststellen „anlaufen“. 5 Da die Entscheidung für die eine oder andere Form durch Selbstrekrutierung der Kommunen zu Stande kam, handelte es sich jedoch nicht um ein Zufallsexperiment; vielmehr waren die regionalen Ausgangsbedingungen der einen und der anderen Gruppe im Durchschnitt höchst unterschiedlich (IAW 2006), und die Herausforderung der Evaluation bestand darin, mit diesem Problem methodisch angemessen umzugehen. 6 Etwa 70 ARGE-Verträge laufen schon vor dem Ende des Experimental-Zeitraums aus, was in die getrennte Aufgabenwahrnehmung führt, wenn nicht eine grundlegend neue Konstruktion gefunden wird. 7 Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende v. 20. Juli 2006.
64
Matthias Knuth
2.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende im Verfassungsstreit Welche der beiden hauptsächlichen Formen der Aufgabenwahrnehmung – ARGE oder zkT – im Wettbewerb besser abschneidet, war die Kernfrage der offiziellen, gesetzlich verankerten Evaluation (§ 6c SGB II).8 Nach dem inzwischen vorliegenden Ergebnis haben die ARGEn - unter bestmöglicher statistischer Kontrolle der beträchtlichen Unterschiede zwischen den Arbeitsmärkten und der Struktur der Leistungen Beziehenden in Regionen mit der einen oder der anderen Form der Aufgabenwahrnehmung – in dem durch gesetzliche Vorgaben begrenzten Beobachtungszeitraum einen leichten Vorsprung bei der Integration in bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit vorzuweisen (Bundesregierung 2008). Mit diesem Ergebnis ist jedoch die Kontroverse über die richtige Form der Aufgabenwahrnehmung keineswegs entschieden. Denn selbst wenn die Politik mehrheitlich der wissenschaftlich gewonnenen Evidenz folgen wollte, so könnte sie es doch nicht in der einfachen Weise tun, die ARGE ab 2011 unbefristet zur Regelform zu erklären. Denn bereits am 20. Dezember 2007 hat das Bundesverfassungsgericht auf Antrag von fünf Kreisen mit knapper Mehrheit von 5 : 3 Richterstimmen entschieden, dass die ARGE als eine „Mischverwaltung“ zwischen dem Bund und einer dem jeweiligen Bundesland zuzuordnenden Kommune nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 20.12.2007). Andererseits, selbst wenn man sich über die Ergebnisse der Evaluation vollständig hinwegsetzen würde, ist der umgekehrte Weg einer Verallgemeinerung des kommunalen Modells durch die Föderalismusreform I verbaut, da nunmehr durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden dürfen (Art. 84 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 GG). Rein kommunale Lösungen sind also nur auf freiwilliger Basis möglich, und die Mehrzahl der Kommunen – oder zumindest die Mehrzahl der Großstädte, in deren Zuständigkeit sich die Mehrheit der zu betreuenden Personen befindet – scheint daran nicht interessiert zu sein. Den gordischen Knoten der Aufgabenwahrnehmung durchschlagen zu wollen, indem man zu den ursprünglichen Vorstellungen der Hartz-Kommission und des ersten Gesetzentwurfs (Bundesregierung 2003) einer alleinigen Bundeszuständigkeit für die Umsetzung zurückkehrt, wäre rechtspolitisch zumindest riskant, da interessierte kommunale Spitzenverbände das Grundgesetz gegen eine solche Lösung in Stellung bringen würden.9 Die verfassungsrechtlich einfachste Lösung, die Zuständigkeit für die Grundsicherung „für Arbeitsuchende“ den Ländern zu übertragen, wurde von diesen wegen der damit langfristig verbundenen finanziellen Risiken einhellig abgelehnt, indem sie sich für eine rechtliche Absicherung des Status quo mit ARGEn und Opti8 Die gesetzliche Definition des Untersuchungsgegenstandes lautete „Wahrnehmung der Aufgaben durch die zugelassenen kommunalen Träger im Vergleich zur Aufgabenwahrnehmung durch die Agenturen für Arbeit“ – aber letztere gibt es in Reinform nur in Fällen der „getrennten Aufgabenwahrnehmung“, die vom Gesetzgeber nicht vorgesehen war und im Grunde ein Vollzugsdefizit des Gesetzes darstellt. 9 „Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt.“ (Art. 87 Abs. 2 GG). Die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit für die Arbeitslosenhilfe als einem regimekompatiblen Anhängsel der Arbeitslosenversicherung blieb unangefochten; nach Wegfall der Arbeitslosenhilfe müsste jedoch die Alleinzuständigkeit des Bundes für die Umsetzung der neuen Aufgabe der Grundsicherung nach Art. 87 Abs. 2 GG geregelt werden: „Erwachsen dem Bunde auf Gebieten, für die ihm die Gesetzgebung zusteht, neue Aufgaben, so können bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden mit Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages errichtet werden.“ Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Hans-Günther Henneke, wird nicht müde, die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Infragestellung der Bundeskompetenz für die Grundsicherung immer wieder anzudeuten (vgl. Henneke 2008a u. b).
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
65
onskommunen aussprachen.10 Also: Wer die Zuständigkeit für die Ausführung des SGB II problemlos haben dürfte, will sie nicht; wer sie ursprünglich wollte, bekommt sie von anderen mit politischen und rechtlichen Mitteln streitig gemacht; die Interessenlage der Kommunen ist nicht zu vereinheitlichen; der inzwischen weithin akzeptierte Status quo ist sowohl aufgrund der „Experimentierklausel“ als auch des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nur noch bis Ende 2010 aufrecht zu erhalten und bedarf zu seiner Absicherung neuer Regelungen. Nach vielfältigen Debatten und Verhandlungen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Entwürfe zur Anpassung des Grundgesetzes an die Realität der ARGEn sowie zur einzelgesetzlichen Schaffung einer auf Dauer tragfähigen rechtlichen Grundlage für ihr Funktionieren lanciert (BMAS 13.02.2009). Aufgrund von Widerständen in der Unionsfraktion wird es jedoch in der 16. Legislaturperiode nicht mehr zur Verwirklichung dieser Vorschläge kommen. Nach den aktuellen Umfragen über Wählerpräferenzen wird die Bundestagswahl im Herbst 2009 wahrscheinlich zu Mehrheitsverhältnissen führen, die eine Grundgesetzänderung schwieriger machen als derzeit. Somit ergibt sich die äußerst widersprüchliche Zwischenbilanz einer unvollendeten Reform. Auf der vordergründigen Ebene der Verwaltungsabläufe wurde die Umstellung trotz anfänglich massiver Mängel der verwendeten Software recht gut bewältigt. Durch gesteigerten Personaleinsatz und damit verbesserte quantitative Betreuungsrelationen konnte die Kontaktdichte mit den nunmehr als „Kunden“ bezeichneten Klienten erhöht werden. Ob ihnen damit auch wirksamer geholfen wird, wird womöglich nie wissenschaftlich zufriedenstellend geklärt werden können, da die Datenlage bezüglich des alten Zustandes – insbesondere bei der Sozialhilfe – unzureichend ist (vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band). Gesichert ist nur, dass das „Fördern und Fordern“ trotz günstiger Konjunktur keine Integrationen im versprochenen Ausmaß erzeugt.11 Das Versprechen von „Dienstleistungen aus einer Hand“, deren angemessener Preis der Umbau des Sozialleistungssystems sein sollte, wurde in geradezu grotesker Weise verfehlt. Die verfassungsrechtliche und politische Blockade gegen eine Stabilisierung der Strukturen der Leistungserbringung birgt das Risiko, dass diese sich vom Ideal von Leistungen „aus einer Hand“ noch weiter entfernen und dass die Intensität und Qualität von „Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ für Nichtversicherte hinter den Stand vor der Reform zurückfällt. Wie ist es möglich, dass sich das organisationsrechtliche Kernstück der Reform so schwierig in die Governance des deutschen Gemeinwesens einpassen lässt?
3
Pfadabhängigkeit von Regimes sozialer Sicherung
3.1 Pfadabhängigkeit und Pfadwechsel Aufbauend auf dem Neo-Institutionalismus und der Analyse der historischen Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten hat Pierson (2000, 2004) viel zur Popularisierung des Konzepts der 10
Sonderkonferenz der 85. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 9. Mai 2008 in Berlin. In den ersten drei Jahren nach der Reform waren 1,5 Mio. Bedarfsgemeinschaften ohne Unterbrechung im Leistungsbezug – das sind rund 20% der Bedarfsgemeinschaften, die in diesem Zeitraum jemals im Leistungsbezug waren, oder rund 36% der 2006 erreichten Höchstzahl von Bedarfsgemeinschaften, oder 45% des Anfangsbestandes vom Januar 2005 (Graf, Rudolph 2009). 11
66
Matthias Knuth
Pfadabhängigkeit als Instrument zur Analyse wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung beigetragen. Gegen vage Konzepte, nach denen Früheres „irgendwie“ bedeutsam sei für spätere Entwicklungen, grenzt er sich ab, indem er die metaphorische Veranschaulichung von Pfadabhängigkeit zitiert, die von Levi (1997) vorgeschlagen wurde: Wenn man einen Baum erklettert, dessen Stamm sich verzweigt, dann ist es durchaus möglich, von einem Zweig zum anderen überzuwechseln – aber je weiter man sich schon vom Stamm entfernt hat, desto mühsamer und teurer (im Sinne der Entwertung früherer Anstrengungen) wird diese Übung. Diese Metapher enthält nicht nur die ökonomische Begründung für Pfadabhängigkeiten, sondern auch die Relativierung und Dynamisierung des Konzepts: Pfadwechsel sind möglich, verursachen aber ökonomische, soziale und politische Kosten, die im Falle von „Hartz IV“ nur zu offensichtlich sind.12 Ein weiterer Aspekt ist für die Analyse hervorzuheben: Pfadwechsel führen nicht in beliebige Richtungen, sondern sie münden in andere bereits vorgezeichnete Pfade, die ihre eigene Entwicklungslogik aufweisen. Neben der institutionellen Pfadabhängigkeit verweist die jüngere Forschung über „Wohlfahrtskulturen“ (Pfau-Effinger 2005; van Oorschot et al. 2008) auf eine weichere Form der Pfadabhängigkeit, die sich daraus ergibt, dass nicht nur die jeweilige nationale Ausprägung des Wohlfahrtsstaates, sondern auch einzelne Zweige sozialer Sicherung innerhalb eines nationalen wohlfahrtsstaatlichen Gefüges durch Ideen und Diskurse von Gerechtigkeit, Reziprozität und „Verdienthaben“ (deservingness) geprägt sind, die wiederum notwendiger Weise in Sprache und Sprachgebrauch eingeschrieben sind (Barbier 2008). Ein Pfadwechsel, der als Bruch der etablierten Wohlfahrtskultur wahrgenommen und nicht durch die erfolgreiche Etablierung eines neuen und positiv wahrnehmbaren Diskurses vorbereitet wird, führt zu den politischen Rückwirkungen, die wir in Deutschland seit „Hartz IV“ beobachten. Außerdem erfordert ein solcher Pfadwechsel die Entwicklung neuer sprachlicher Formen, in denen das Neue verhandelt werden kann. Die Einführung des SGB II hat zur Entwicklung einer Fülle von neuen Begriffen geführt, deren Gebrauch sich bei einem Regime, das so viele erfasst13 und die Gesellschaft so nachhaltig prägt und bewegt, nicht auf die Gesetzessprache und den Verwaltungsvollzug beschränken kann. Nach wie vor aber fehlt ein entsprechender Oberbegriff, weshalb diese Lücke durch das inzwischen zum Schimpfwort gewordene, einstige gesetzgebungstechnische Kürzel „Hartz IV“ ausgefüllt wird (Knuth 2006) – zum Missvergnügen der Politiker, die keine bessere Sprachschöpfung hervorgebracht haben.
3.2 Regimes sozialer Sicherung Die einflußreichsten Paradigmen in der Geschichte zumindest der Sozialwissenschaften sind wohl jene, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens eine Bedarfslücke füllen und zugleich so unvollständig und unvollkommen ausgeführt sind, dass sie zur kritischen Weiterentwicklung herausfordern. Diese Feststellung trifft mit Sicherheit auf Esping-Andersens „Wohlfahrtsregimes“ (Esping-Andersen 1990) zu. Neben der Abarbeitung am theoretischen Kern der „Dekommodifizierung“ (Room 2000) und der Kritik an der Geschlechterblindheit des 12
Zusammen mit den fiskalischen Mehrausgaben können die politischen Rückwirkungen - das mögliche Ende der SPD als Volkspartei - als Kosten des Pfadwechsels aufgefasst werden. 13 In nur drei Jahren haben 22,1% der nach Alter und Erwerbsfähigkeit mindestes eines Mitglieds potenziell betroffenen Bedarfsgemeinschaften Bekanntschaft mit der Grundsicherung gemacht. (Graf, Rudolph 2009)
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
67
ursprünglichen Konzepts (Lewis 1992) gab es Erweiterungen der Typologie „nach außen“ zur besseren Einordnung der südeuropäischen Länder (Ferrera 1996). Ebenso aber ist eine Erweiterung „nach innen“ erforderlich: Nationale Wohlfahrtsregimes sind keineswegs funktional optimierte und hinsichtlich ihrer tragenden Ideen konsistente Gebilde, sondern sie sind stets labile und vorübergehende Arrangements von Interessen, Institutionen und Ideen, wobei sich unterschiedliche historische Schichten von Arrangements überlagern können (Pfau-Effinger 2005, S. 7). Nationale Wohlfahrtsregimes sind „hybrid“ in dem Sinne, dass Teilbereiche nach jeweils unterschiedlichen institutionellen und ideologischen Logiken konstruiert sein können, die, wenn man sie für sich allein klassifizieren wollte, sogar unterschiedlichen Regime-Typen im Sinne von Esping-Andersen zugeordnet werden müssten (Barbier 2004). In diesem Sinne unterscheide ich Regimes sozialer Sicherung, die zusammen ein je nationalstaatlich spezifisches, mehr oder weniger konsistentes oder spannungsreiches wohlfahrtsstaatliches Arrangement bilden. „Regime-Qualität“ erlangt ein Teilbereich sozialer Sicherung, wenn folgende Merkmale gegeben sind: (1) Es gibt eine konstitutive und distinkte Problemdefinition und Anspruchsgrundlage („Arbeitslosigkeit“, „Bedürftigkeit“, „Behinderung“; „Arbeitsunfall“ etc.). Sofern ein Regime nicht nur der materiellen Versorgung, sondern auch der Prävention und Problemüberwindung dient, ergibt sich aus der Problemdefinition explizit oder implizit auch die Zielsetzung und Handlungslogik aktiver Interventionen. (2) Es gibt eine Bevölkerungsgruppe von relevanter Größe und relativ stabiler Zusammensetzung, für deren Lebenslage – oder einen bestimmten Aspekt davon, z. B. Krankenversicherung – die Leistung wesentlich ist. Deshalb sind Änderungen, die große Teile der bisherigen Leistungsbezieher von der Leistung ausschließen oder im Umstellungsprozess die Kontinuität des Leistungsbezuges gefährden würden, mit hohen sozialen und politischen Risiken belastet. (3) Es gibt ein eigenständiges System der Finanzierung, das nicht ohne Rückwirkung auf die fiskalische Lastenverteilung zwischen verschiedenen öffentlichen Händen, auf die Arbeitskosten oder die Brutto-Netto-Relation der Arbeitseinkommen geändert werden kann. Deshalb sind Änderungen kaum ohne kompensatorische Folge-Änderungen in anderen Bereichen durchzusetzen und folglich mit hohen politischen Kosten verbunden. (4) Ein Regime verfügt über eine eigenständige interne wie externe Governance im Sinne von definierter Gewährleistungsverantwortung für die Erbringung von Leistungen, Mechanismen der Steuerung dieser Leistungen, interner organisatorischer Verfasstheit einschließlich etwaiger partizipativer Elemente (siehe Ziff. 8 unten) sowie schließlich eine gesicherte Einbettung in die gesamtgesellschaftliche Governance. (5) Es entwickelt sich eine eigenständige Fachbürokratie mit eigenen professionellen Standards, Karrieremustern und Interessen an Beschäftigungssicherheit, Kontinuität professioneller Handlungsroutinen und Aufstiegschancen. (6) Zwischen Sozialbürokratie und LeistungsempfängerInnen entwickelt sich eine Beziehung von relativer Dauerhaftigkeit, die durch ein eigenständiges System von Rechten und Pflichten geregelt wird – die wiederum Einfluss auf das Verhalten der LeistungsempfängerInnen haben (sollen). Die gewählte Bezeichnung „Regime“ soll nicht zuletzt diesen Zwangs- oder Verpflichtungscharakter ausdrücken.
68
Matthias Knuth
(7) Aus dem Diskurs über Rechte und Pflichten in einem solchen Regime entsteht eine spezifische Rechtfertigungs- und Gerechtigkeitslogik, d. h. eigenständige Argumentations- und Denkfiguren von Gerechtigkeit, Angemessenheit, Zumutbarkeit und dem „Verdient-Haben“ einer Leistung. Wer Änderungen des Regimes durchsetzen will, muss diese Diskurse verändern. (8) Nicht notwendiger, aber typischer Weise besitzt ein solches Regime eine eigenständige Form der Einbeziehung externer Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen in seine Steuerung und Legitimation. Korporatistische Partizipation an der governance eines Regimes sozialer Sicherung zieht ihre gesellschaftliche Legitimation und Stabilität üblicher Weise aus der Art und Weise der Finanzierung, d. h. die partizipierenden Organisationen repräsentieren diejenigen, die das Regime in relevanten Teilen finanzieren. Sowohl diese Repräsentanten als Individuen als auch die Organisationen, die sie repräsentieren, entwickeln im Maße ihrer Einflusschancen und ihres Prestigegewinns ein Interesse am Erhalt des Regimes und damit ihrer Position.14 (9) Soweit ein Regime wesentlich nicht nur Geldleistungen, sondern auch Sach- und Dienstleistungen administriert, die die Fachbürokratie nicht vollständig selbst erbringt, entwickelt sich eine „Industrie“ von spezialisierten, privaten oder gemeinnützigen Dienstleistern, die Interesse an der Erhaltung und Ausweitung ihres jeweiligen Tätigkeits- und Geschäftsfeldes haben, also einerseits an der Erhaltung des institutionellen Status quo, andererseits an der Ausweitung des Dienstleistungsmarktes, in dem sie tätig sind.
4
„Hartz IV“ als Pfadwechsel
Nach den im vorstehenden Abschnitt entwickelten Kriterien ist offensichtlich, dass die Arbeitslosenhilfe - ungeachtet ihrer Finanzierung aus Steuermitteln – Bestandteil des Regimes der Arbeitslosenversicherung war:15 Problemdefinition, Bürokratie, Rechte und Pflichten, Steuerung und Dienstleister waren identisch, und der Unterschied zwischen LeistungsempfängerInnen von Arbeitslosengeld und -hilfe war gradueller Art. Aus der Sicht der Versicherten handelte es sich beim Gesamtsystem beider Leistungen um eine degressive Lohnersatzleistung bei Arbeitslosigkeit mit der Besonderheit, dass die Degression nach Erschöpfung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Form der niedrigeren Lohnersatzrate der Arbeitslosenhilfe sprunghaft einsetzte und sich dann langsamer mit jährlich 3% real fortsetzte. Bedürftigkeit war nur die letzte von fünf kumulativ erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen (vgl. § 190 Abs. 1 SGB III a. F.). Im Bewusstsein der Anspruchsberechtigten war nicht die Bedürftigkeit der wesentliche Anspruchsgrund, sondern die vorherige Beitragsleistung bzw. – solange es noch eine „originäre“ Arbeitslosenhilfe gab – der Eintritt in den Arbeitsmarkt. Die Bedürftigkeit – oder genauer: der eventuelle Mangel an Bedürftigkeit – hatte insofern in der Arbeitslosenhilfe anspruchsbegrenzende, nicht anspruchsbegründende Funktion wie in der Sozialhilfe (und heute in der Grundsiche14 Im Extremfall der freiwilligen skandinavischen Arbeitslosenversicherungen nach dem „Genter System“ (vgl. Clasen, Viebrock 2006) bildet das Regime sozialer Sicherung einen wesentlichen Kanal der Mitgliederrekrutierung und damit einen Stützpfeiler gewerkschaftlicher Organisation. 15 Ausführlicher wurde diese Argumentation entwickelt in Knuth 2006.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
69
rung). Dieser für die Verankerung der Arbeitslosenhilfe in der Wohlfahrtskultur wesentliche Unterschied wurde im Reformdiskurs ausgeblendet, indem das Nebeneinander von zwei steuerfinanzierten Leistungen mit Bedürftigkeitsprüfung als unsinnige Verdoppelung hingestellt wurde (vgl. Berthold et al. 2000). Ungeachtet der Steuerfinanzierung der Arbeitslosenhilfe wurde weder die Zuständigkeit des Bundes16 noch die Zuständigkeit von Arbeitgebern und Gewerkschaften im Rahmen der korporatistischen Selbstverwaltung auch für die Administrierung der Arbeitslosenhilfe und die arbeitsmarktpolitische Förderung der BezieherInnen dieser Leistung in Frage gestellt, zumal die aktive Förderung dieses Personenkreises aus Beitragsmitteln finanziert wurde – soweit nicht die Selbstverwaltung durch Anordnungen den Zugang von Arbeitslosenhilfe Beziehenden in kostenintensive Maßnahmen wie z. B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit dem Argument der „versicherungsfremden Leistungen“ kontingentierte. Die Arbeitslosenhilfe war insofern integraler Bestandteil des in Deutschland traditionell auf gesamtstaatlicher Ebene zusammengefassten Regimes von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung. Die Arbeitslosenhilfe wurde von den Versicherten nach den gleichen Grundprinzipien Bismarck’scher Sozialversicherung betrachtet wie die eigentliche Versicherung: als einen durch Beiträge erworbenen Anspruch, der in einer Äquivalenzbeziehung zu der in den Beiträgen ausgedrückten Lebensleistung stand.17 Insofern war dieses Regime den Systemen anderer Länder nicht unähnlich, in denen durch Beitragszahlungen ein Anspruch auf eine Lohnersatzleistung erworben wird, die zu einem erheblichen Teil aus Steuermitteln bezuschusst wird.18 Die deutsche Besonderheit bestand lediglich darin, dass die Scheidelinie zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung vertikal statt horizontal verlief, d. h. der steuerfinanzierte Teil wurde nach dem beitragsfinanzierten Teil bezogen, anstatt dass die beitragsfinanzierten Leistungen von vornherein aus Steuermitteln komplementiert worden wären. Von diesem Regime der Arbeitslosenversicherung war das der Sozialhilfe in allen Dimensionen klar getrennt. Die einzigen Überlappungen bestanden in zuletzt 210.00019 Personen (Kaltenborn, Schiwarov 2006), die Leistungen aus beiden Systemen bezogen, sowie darin, dass manche Dienstleister – insbesondere Beschäftigungsträger – in beiden Regimes tätig waren. Der Bund war nur für die Rahmengesetzgebung zuständig, während die Regelsätze auf Länderebene festgesetzt wurden und die letztlich für die Finanzierung verantwortlichen Kommunen große Spielräume bei der Umsetzung besaßen. Der wesentliche Anspruchsgrund war die Bedürftigkeit im Rahmen der Haushaltsgemeinschaft, mit gewissen über sie hinausgreifenden intergenerationellen Rückgriffsmöglichkeiten. Nicht zuletzt infolge der schrittweisen Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe zwischen 1976 und 1999 wuchs die Anzahl der in erster Linie wegen fehlenden Zugangs zum Arbeitsmarkt bedürftigen SozialhilfebezieherInnen so stark an, dass es zur Herausbildung einer eigens16
Vgl. Fußnote 9. Diese Denkfigur dominierte die „Nachwehen“ der Leistungsreform, insbesondere die Debatten um die WiederHeraufsetzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für langjährig beitragszahlende Ältere. 18 Für das in Skandinavien verbreitete “Genter System“ vgl. Clasen, Viebrock 2006, Leonardi 2006; zur zunehmenden Fiskalisierung der Sozialversicherungen in Frankreich vgl. Barbier, Théret 2004. 19 Diese Zahl muss immer wieder hervorgehoben werden gegenüber dem seinerzeitigen Diskurs, der die Unzulänglichkeiten deutscher Arbeitsmarktpolitik vorrangig auf die Reibungen an der Schnittstelle zwischen Arbeitslosen- und Sozialhilfe erklären wollte, um damit die Abschaffung der ersteren zu begründen - siehe auch den Bericht der Hartz-Kommission, in dem die Anzahl der Betroffenen nur geringfügig höher geschätzt wurde (Hartz 2002). Um diesen angenommenen 240.000 unmittelbar von Schnittstellenproblemen Betroffenen eine Leistung „aus einer Hand“ bieten zu können, wurde eine neue Leistung für 6-7 Mio. Personen geschaffen. 17
70
Matthias Knuth
tändigen Fachbürokratie nicht nur für die Gewährung der Geldleistung, sondern auch für die Überwindung der Hilfedürftigkeit durch „Hilfe zur Arbeit“ kam. Vor dem Hintergrund dieser Regime-Explikationen erweist sich die vierte Stufe der Hartz-Reformen nicht einfach nur als eine leistungstechnische „Zusammenlegung“ zweier steuerfinanzierter Sozialleistungen, sondern sie beinhaltete die „Hybridisierung“ von zwei Regimes sozialer Sicherung mit jeweils eigenen Traditionen und Entwicklungslogiken. Deshalb musste das Ansinnen der rot-grünen Bundesregierung in ihrem ersten Gesetzentwurf, dieses zu schaffende hybride Regime ausschließlich durch die Bundesagentur für Arbeit und unter Fach- und Rechtsaufsicht des Bundes administrieren zu lassen, nicht nur aufgrund der seinerzeitigen parteipolitischen Konstellation und ungeachtet der versprochenen finanziellen Entlastungen für die Kommunen den Widerstand eines Teils der Kommunen und Länder hervorrufen. Es ging und geht hier nicht einfach nur um einen Meinungsstreit darüber, ob die Bundesagentur oder die Kommunen die besseren „Dienstleister am Arbeitsmarkt“ sind. Deshalb ändert auch die Evidenz der wissenschaftlichen Evaluation nichts an der Debattenlage, die in ähnlicher Form bereits die Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927 begleitete (vgl. Engeli 1983). Das Verfassungsdilemma, in dem das angeblich zentrale Element der Reform – „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt aus einer Hand“ – zu scheitern droht, wurde dadurch heraufbeschworen, dass die Architekten der „Agenda 2010“ die Reform der Leistungen für nicht versicherte Erwerbslose als „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gerahmt und substanzielle Anleihen am kommunal geprägten Regime der Sozialfürsorge genommen haben. Ein kleines Gedankenexperiment möge helfen, die angebliche Alternativlosigkeit der „Zusammenlegung“ zu durchbrechen: Mit ähnlichem materiellem Ergebnis hätte man auch die Arbeitslosenhilfe stärker degressiv ausgestalten, aber mit einem „armutsfesten“ Sockel leicht oberhalb der Sozialhilfe ausstatten können.20 Unter der Bedingung des Abschlusses einer Eingliederungsvereinbarung hätten für den Arbeitsmarkt verfügbare Bezieher von Sozialhilfe in die Arbeitslosenhilfe auf Sockelniveau überwechseln können, evtl. unter Zahlung einer „Einsteuerungsprämie“ des Sozialhilfeträgers an die BA. Auch auf diese Weise hätte man die Kommunen entlasten und das Doppelbezieher-Problem lösen können. Die Zuständigkeit des Bundes für die so reformierte Arbeitslosenhilfe wäre wohl von niemandem in Frage gestellt worden und es hätte weder politischen noch verfassungsrechtlichen Streit über die Trägerschaft gegeben. Allerdings wären bei dieser Reform innerhalb des Regimes der Arbeitslosenversicherung auch die Zuständigkeit der Selbstverwaltung und die Regeln der Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten vermutlich unverändert geblieben. Man hätte offen über die Leistungskürzung debattieren müssen, anstatt sie unter der Formel von der „Zusammenlegung“ bis zur „Agenda“-Fernsehansprache von Bundeskanzler Schröder im März 2003 zu verschleiern. Das neue hybride Regime der Grundsicherung entspricht in seiner anspruchs- und leistungsrechtlichen Grundlogik der Sozialhilfe; die überwiegend als Fortschritte gegenüber der Sozialhilfe zu charakterisierenden Veränderungen (Bedarfsgemeinschaft statt Haushaltsgemeinschaft, Einschränkung der intergenerationellen Unterhaltspflichten, Pauschalierung von Leistungen, höhere Freibeträge bei Einkommen und Vermögen, gleitende Anrechnung von Erwerbseinkommen) sind gradueller Natur. Auch die Verpflichtung zur be-
20
Vorschläge zur „armutsfesten“ Ausgestaltung der Arbeitslosenhilfe lagen vor – vgl. Adamy 1995; Hauser 1995.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
71
dürftigkeitsmindernden Verwertung21 der eigenen (Rest-) Arbeitskraft entstammt der Sozialhilfe22: Grenzen der Zumutbarkeit von Arbeit liegen allein in der Person oder der Bedarfsgemeinschaft des Hilfebedürftigen, allenfalls noch in der rechtsstaatlichen Ordnung im Allgemeinen (Unzumutbarkeit von rechts- oder sittenwidriger Arbeit), aber nicht in der Ordnung des Arbeitsmarktes (Zumutbarkeit der Unterschreitung von Tarifstandards oder ortsüblichen Marktlöhnen). Die Auswirkungen dieser fast schrankenlosen Zumutbarkeit in der Grundsicherung auf die Arbeitsmarktordung werden im Vergleich zur Sozialhilfe erheblich dadurch gesteigert, dass – im Gegensatz zur Sozialhilfe – der unzureichende Zugang oder die unzureichende Bereitschaft zu Erwerbstätigkeit als vorrangige Ursache der Hilfebedürftigkeit gesehen wird (vgl. § 1 Abs. 1 SGB II).23 In der Grundsicherung für „Arbeitsuchende“ wurde das Regime der Sozialhilfe - durch Einschränkung auf Bedarfsgemeinschaften mit Personen, die als erwerbsfähig definiert sind – in einen arbeitsmarktpolitischen Kontext gestellt. Dadurch wurden die schlummernden, d. h. von den Kommunen nicht konsequent exekutierten „Workfare“-Elemente der Sozialhilfe „aktiviert“ (vgl. den Beitrag von Katrin Mohr in diesem Band): Dieses ist gemeint, wenn die „Zusammenlegung“ der Leistungssysteme und der ihnen zugrunde liegenden Regimes hier als „Hybridisierung“ bezeichnet wird.
5
Die Grundsicherung als eigenständiges Regime sozialer Sicherung
Inzwischen hat sich die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ als ein – nach den oben in Abschnitt 3.2 entwickelten Kriterien – weitgehend eigenständiges Regime sozialer Sicherung etabliert: (1) Die Bevölkerungsgruppe, für deren Lebenslage die Grundsicherung wesentlich ist, ist weitaus größer als in den Vorläufersystemen, und sie ist trotz aller Aktivierungsbemühungen ziemlich stabil. (2) Es gibt ein eigenständiges System der Finanzierung aus Haushaltsmitteln des Bundes und der Kommunen und damit indirekt der Länder, dessen Änderung Folgewirkungen für die gesamte fiskalische Architektur der Bundesrepublik haben würde und deshalb von den politischen Akteuren möglichst vermieden wird. (3) Entgegen ursprünglich skeptischen Erwartungen hat sich gerade aus den Schwierigkeiten des Neuanfangs im Jahre 2005 (vgl. Czommer et al. 2005) eine eigenständige „SGB-II-Bürokratie“ entwickelt. Selbst in den meisten zugelassenen kommunalen Trägern unterscheidet sich diese organisatorisch wie mental vom alten Sozialamt (Knuth et al. 2007); selbst in den 23 regionalen Einheiten mit „getrennter Aufgaben21 Vorrangiges Ziel der Grundsicherung ist nicht die Überwindung von Arbeitslosigkeit, sondern die Verringerung oder Überwindung von Hilfebedürftigkeit. An die Stelle des dichotomen Zielkonzepts der Arbeitsförderung tritt ein graduelles, weshalb auch die Zielgruppe nicht zutreffend als „Arbeitslose“ angesprochen werden kann. Auch die Bezeichnung des Gesetzes „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ bezeichnet lediglich einen Anspruch, aber nicht die Realität, in der ein großer Teil der BezieherInnen von ALG II von der Arbeitsuche entbunden ist. 22 Zur Rücknahme und späteren erneuten Verschärfung der „Workfare“-Elemente in der Sozialhilfe vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band (m. w. N.). 23 Vgl. die wesentlich offenere Formulierung in § 1 BSHG, in dem „eine der Würde des Menschen entsprechende Lebensführung“ als Oberziel genannt wird – während sich das Oberziel des SGB II als „Unabhängigkeit vom Leistungsbezug durch Erwerbstätigkeit“ zusammenfassen lässt.
72
(4)
(5)
(6)
(7)
Matthias Knuth wahrnehmung“ haben die jeweils zuständigen Arbeitsagenturen eigenständige Einheiten für die Grundsicherung geschaffen (Kirsch et al. 2009). Das mehrheitlich praktizierte Modell der Arbeitsgemeinschaften entdeckte seine eigene Identität spätestens, seit sein Bestand durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefährdet erscheint: Über Nacht sind die Klagen über die ARGE als eine „unmögliche Organisationsform“ verstummt; die Auflösung der ARGEn erscheint den dort Beschäftigten nicht attraktiv. Es gibt in Deutschland bisher kein anderes System sozialer Sicherung, in dem der Zwangs- und Verpflichtungscharakter, der mit dem Regimebegriff ausgedrückt werden soll, so deutlich hervortritt. Dieses ergibt sich nicht nur aus der Philosophie des Gesetzes, sondern ist nach den Ergebnissen der Evaluation bezüglich Aktivierung, Eingliederungsvereinbarungen und Sanktionen auch eine empirische Realität (vgl. ZEW et al. 2008). Der öffentliche Diskurs über das Regime der Grundsicherung ist noch ein widersprüchliches Konglomerat von Ideologemen teils aus der Tradition von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, teils der Sozialhilfe. Die Fachkräfte vor Ort dagegen haben durchaus eine eigene, regime-typische und in sich konsistente Sichtweise ihres Tuns entwickelt. Obwohl nicht verpflichtend, wurden in der Mehrzahl der regionalen Einheiten Beiräte gebildet, in denen die Sozialpartner beteiligt sind (Bundesregierung 2008, S. 52). Offensichtlich besteht also doch ein Bedarf an korporatistischer Legitimationshilfe, auch wenn man den Beiräten keine Entscheidungsrechte einräumen will.24 Insbesondere durch die sprunghafte Ausweitung der Arbeitsgelegenheiten hat sich eine auf SGB II-Maßnahmen spezialisierte Dienstleistungsindustrie entwickelt.
Allein die Governance bleibt teilweise ungeklärt: Die Gewährleistungsverantwortung ist zwischen BA und Kommunen aufgeteilt; es gibt keine auf Dauer verfassungskonforme und politisch konsensfähige Form, wie diese originären Zuständigkeiten zu einem einheitlichen Gesamtprozess zusammengefügt werden könnten. Diese Zusammenfügung der originären Zuständigkeiten ist aber nicht nur politisches Versprechen, sondern auch sachliche Notwendigkeit, da die Trennlinie der originären Zuständigkeiten „quer“ zu den Teilprozessen von Geldleistung einerseits und Dienstleistung andererseits verläuft. Die Gewährung der Kosten für Unterkunft und Heizung durch die Kommunen setzt die gleiche Bedürftigkeitsprüfung voraus wie die eigentliche Unterhaltsleistung, und insbesondere bei der Anrechnung von Einkommen in monatlich wechselnder Höhe sind beide Leistungsprozesse wie kommunzierende Röhren miteinander verbunden. Die Aktivierung durch „Fördern“ ist auf flankierende soziale Leistungen angewiesen, für die die Kommunen die Gewährleistungsverantwortung haben. Die Auflösung dieser Gemengelage durch erneute Verschiebung der originären Zuständigkeiten ist in beiden Extremen verfassungsrechtlich blockiert: Weder können die Kommunen durch Bundesgesetz verpflichtet werden, die Verantwortung für die Grundsicherung allein zu übernehmen, noch kann der Bund diese Zuständigkeit an sich ziehen bzw. der BA allein zuweisen, ohne erneute Verfassungsklagen erwarten zu müssen. 24
Der Entwurf des BMAS zur Stabilisierung der ARGEn als „Zentren für Arbeit und Grundsicherung“ sieht obligatorische Beiräte vor – vgl. BMAS 13.02.2009.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
73
Also gibt es keine Alternative zur Fortsetzung der Kooperation zwischen BA und Kommunen; diese ist aber ohne Änderung des Grundgesetzes über 2010 hinaus nicht zulässig.
6
Ausblick: Stärkung des kommunalen Elements
Da die Grundsicherung für Erwerbsarme inzwischen als eigenständiges Regime sozialer Sicherung etabliert ist, erscheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass das verfassungsrechtliche Dilemma seiner Verortung in der Governance der Bundesrepublik dadurch gelöst wird, dass man dieses Regime flächendeckend in seine bundesstaatlichen und kommunalen Bestandteile zerfallen lässt. Auch wenn es unmöglich ist, Prognosen zu treffen über eine künftige Lösung des Governance-Dilemmas, so ist doch zumindest eine sehr wahrscheinliche Tendenz hervorzuheben: Die Stärkung des kommunalen Elements. Mindestens wird die Fortdauer der kommunalen Optionsmodelle gesichert werden, was bei allen durch die Bundesevaluation festgestellten Performanz-Schwächen ihre relative Stärkung bedeutet, wenn alle ARGEn in getrennte Aufgabenwahrnehmung zerfallen würden. In diesem Fall würden auch mehr Kommunen als bisher die damit verbundenen Unannehmlichkeiten von ihren Bürgern abwenden sowie das Entstehen von nicht mehr durch den Bund finanzierten Personalüberhängen25 vermeiden wollen, indem sie Alleinverantwortung für die Grundsicherung übernehmen. Diesem Wunsch wird sich der Gesetzgeber nicht verschließen können, da die Ausweitung der Option einzelgesetzlich möglich ist und keine Änderung des Grundgesetzes verlangt. Falls es dagegen doch noch zu einer Verfassungsänderung kommen sollte, die die Arbeitsgemeinschaften zwischen Agenturen für Arbeit und Kommunen absichert, so wird der politische Preis auch in diesem Fall in einer Ausweitung der Optionsmöglichkeiten bestehen. Die Ausweitung des kommunalen Elements würde zwar den Ergebnissen der „Experimentierklausel“-Evaluation widersprechen und Erwartungen auf eine „evidenzbasierte“ Politik ins Reich naiver Träume verweisen, aber die theoretischen Überlegungen zur Pfadabhängigkeit beim Umbau von Regimen sozialer Sicherung bestätigen: Da der Rückbau des Regimes der Arbeitslosenversicherung als „Zusammenlegung“ der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe betrieben wurde, wächst die Bedeutung der Kommunen, die traditionell für die Sozialhilfe zuständig sind.
Literatur Adamy, W. (1995): Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe - Ausgrenzung stoppen. In: Soziale Sicherheit, H. 6, S. 201–209. Barbier, J.-C. (2004): Systems of social protection in Europe: Two contrasted paths to activation, and maybe a third. In: Lind, Jens; Knudsen, Herman; Jørgensen, Henning (Hg.): Labour and employment regulation in Europe. Bruxelles: PIE Lang (Work & society, 45), S. 233–254. Barbier, J.-C. (2008): The puzzling resilience of nations in the context of Europeanized welfare states. Communication to the RC19 Meeting “The future of social citizenship: politics, institutions and outcomes”, Stockholm, September 2008. Barbier, J.-C.; Théret, B. (2004): Le nouveau système français de protection sociale. Paris: La Découverte. 25
Zur Personalsituation der Kommunen vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band.
74
Matthias Knuth
Becker, I. (2008): Konsumausgaben von Familien im unteren Einkommensbereich. In: boeckler impuls, H. 9. Berthold, N.; Thode, E.; Berchem, S. v. (2000): Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe: Zwei sind eine zuviel. In: Wirtschaftsdienst, H. 9, S. 576–584. Blos, K.; Rudolph, H. (2005): Simulationsrechnungen zum Arbeitslosengeld II: Verlierer, aber auch Gewinner. (IAB-Kurzbericht, 17). BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (2006): Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2006 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (ohne Grundsicherung für Arbeitsuchende). Kurzfassung der Ergebnisse. Berlin. BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (13.02.2009): Regierungsentwurf - Gesetz zur Regelung der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bundesregierung (August 2003): Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bundesregierung (2008): Bericht zur Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bundesregierung. Berlin. (Bundestagsdrucksache, 16/11488). Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 20.12.2007, Aktenzeichen 2 BvR 2433/04 - 2 BvR 2434/04. Czommer, L.; Knuth, M.; Schweer, O. (2005): ARGE "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eine Baustelle der Bundesrepublik Deutschland. Abschlussbericht des von der Hans-BöcklerStiftung geförderten Projekts "Pilotstudie zur Entwicklung von JobCentern". Hans-BöcklerStiftung. Düsseldorf. (Arbeitspapier). Clasen, J.; Viebrock, E. (2006): Das Genter System der Arbeitslosenversicherung - immer noch gewerkschaftliches Rekrutierungsinstrument oder sozialpolitisches Auslaufmodell. Dänemark und Schweden im Vergleich. In: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 52, H. 3, S. 351–371. Deutscher Bundestag (23. März 2002): Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat. In: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 20, S. 1130–1140. Deutscher Bundestag (20. Juli 2006): Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. In: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. Nr. 36, S. 1706–1720. Deutscher Bundestag (21.12.2008): Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. In: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 64, S. 2917–2932. Engeli, C. (1983): Städte und Staat in der Weimarer Republik. Hans Herzfeld zum Gedenken. In: Kirchgässner, Bernhard; Schadt, J. (Hg.): Kommunale Selbstverwaltung. Idee und Wirklichkeit. 20. Arbeitstagung in Mannheim, 13. - 15. November 1981. Sigmaringen: Thorbecke (Arbeitstagung / Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung, 20), S. 163–181. Esping-Andersen, G. (1990): Three worlds of welfare capitalism. Oxford: Polity. Ferrera, M. (1996): The 'Southern Model' of welfare in social Europe. In: Journal of European Social Policy, Jg. 6, H. 1, S. 17–37. Goebel, J.; Richter, M. (2007): Nach der Einführung von Arbeitslosengeld II: Deutlich mehr Verlierer als Gewinner unter den Hilfeempfängern. In: DIW-Wochenbericht, Jg. 74, H. 50, S. 753–762. Graf, T.; Rudolph, H. (2009): Viele Bedarfsgemeinschaften bleiben lange bedürftig. Dynamik im SGB II 2005-2007. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. (IAB-Kurzbericht, 5). Henneke, H.-G. (2008a): Ist die dauerhafte Ausweitung des Optionsmodells nach i 6a SGB II verfassungsrechtlich untersagt? Deutscher Landkreistag. Henneke, H.-G. (2008b): Karlsruhe setzt Signale für kommunale Gesamtträgerschaft des SGB II. In: Wirtschaftsdienst, H. 2, S. 85–90. Hartz, P. et al. (2002): Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Vorschläge der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Berlin. Hauser, R. (1995): Reformperspektiven des Systems der sozialen Sicherung bei veränderten Rahmenbedingungen. In: Döring, Diether; Hauser, Richard (Hg.): Soziale Sicherheit in Gefahr. Zur Zu-
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
75
kunft der Sozialpolitik. Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp), S. 51–79. Hielscher, V.; Ochs, P. (2009): Arbeitslose als Kunden. Beratungsgespräche in der Arbeitsvermittlung zwischen Druck und Dialog. Abschlussbericht zum HBS-Projekt „Von der Sozialbehörde zur ‚Matching-Maschine’?“. 1. Aufl. Berlin: edition sigma (Modernisierung des öffentlichen Sektors, 32). IAW (2006): War die Ausgangslage für zugelassene kommunale Träger und Arbeitsgemeinschaften unterschiedlich. Eine vergleichende Analyse von wirtschaftlichem Kontext und Arbeitsmarkt vor Einführung des SGB II. Erster Schwerpunktbericht. Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. Tübingen. Jacobi, L.; Kluve, J. (2007): Before and after the Hartz reforms: The performance of active labour market policy in Germany. In: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung, H. 1, S. 45–64. Kaltenborn, Bruno; Knerr, Petra; Schiwarov, Juliana (2006): Hartz: Bilanz der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. (Blickpunkt Arbeit und Wirtschaft, 3). Kaltenborn, B.; Schiwarov, J. (2006): Hartz IV: Deutlich mehr FürsorgeempfängerInnen. (Blickpunkt Arbeit und Wirtschaft, 5). Kirsch, J.; Knuth, M.; Mühge, G.; Schweer, O. (2009): Chancen der Integration von Leistungsprozessen in der getrennten Aufgabenwahrnehmung im SGB II. Abschlussbericht des Projektes GAW, gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung. IAQ (Institut Arbeit und Qualifikation). Duisburg. Knuth, M. (2006): "Hartz IV" - die unbegriffene Reform. Wandel der Erwerbsordnung durch Verallgemeinerung des Fürsorge-Regimes. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 55, H. 7, S. 160–168. Knuth, M.; Koch, F.; Schweer, O. (2007): Kommunalisierte Grundsicherung für Arbeitsuchende. Abschlussbericht zum Projekt "Pilotstudie zur optionalen Alleinträgerschaft von hessischen Kommunen für die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II" für die Hans-Böckler-Stiftung. Institut Arbeit und Qualifikation. Gelsenkirchen. (IAQ-Forschungsbericht, 1). Leonardi, S. (2006): Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat: Das Gent-System. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 59, H. 2, S. 79–85. Levi, M. (1997): A model, a method, and a map: Rational choice in comparative and historical analysis. In: Lichbach, M.; Zuckerman, A. S.; Lichbach, M. I. (Hg.): Comparative politics. Rationality, culture, and structure/. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press (Cambridge studies in comparative politics). Lewis, J. (1992): Gender and the development of welfare regimes. In: Journal of European Social Policy, Jg. 2, H. 3, S. 159–174. Oorschot, W. v., Opielka, M.; Pfau-Effinger, B. (Hg.) (2008): Culture and welfare state. Values and social policy in comparative perspective. Cheltenham: Edward Elgar. Pfau-Effinger, B. (2005): Culture and welfare state policies: reflections on a complex interrelation. In: Journal of Social Policy, Jg. 34, H. 1, S. 3–20. Pierson, P. (2000): Increasing returns, path dependence, and the study of politics. In: American Political Science Review, Jg. 94, H. 2, S. 251–267. Pierson, P. (2004): Politics in time. History, institutions, and social analysis. Room, G. (2000): Commodification and decommodification: a developmental critique. In: Policy and Politics, Jg. 28, H. 3, S. 331–351. Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2009): Arbeitsmarkt in Zahlen - Arbeitslosigkeit und Grundsicherung für Arbeitsuchende (2009). Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit. ZEW; IAQ; TNS Emnid (2008): Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c SGB II - Vergleichende Evaluation des arbeitsmarktpolitischen Erfolgs der Modelle der Aufgabenwahrnehmung "Optierende Kommune" und "Arbeitsgemeinschaft". Untersuchungsfeld 3: "Wirkungs- und Effizienzanalyse". Abschlussbericht. Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung; Institut Arbeit und Qualifikation; TNS Emnid. Mannheim, Gelsenkirchen und Bielefeld.
Grundsicherung „für Arbeitsuchende“
77
II. Das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik zwischen Universalismus und Zielgruppenorientierung
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
79
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009: Der Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
1
Einleitung
Im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) war von Beginn an ein breites Spektrum arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen angelegt. Die verfolgten Ziele waren vielfältig und zeugten von den hohen Erwartungen, die in das AFG gesetzt wurden. Die Maßnahmen waren darauf auszurichten, dass ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur und Qualifikation insbesondere auch der Erwerbstätigen ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert wird. Außerdem sollte die Eingliederung dreier Zielgruppen (Frauen, Behinderte, Ältere) speziell gefördert werden. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) als Träger der Maßnahmen wurde in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung eingebunden. Zur Realisierung seiner Zielsetzungen sah das AFG ein Ensemble von Maßnahmen vor, die auch heute noch überwiegend zum arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium gehören, aber schrittweise erheblich verändert und durch eine Vielzahl zusätzlicher Maßnahmen ergänzt wurden. Etappenweise hat sich die Zielrichtung der Arbeitsförderung erheblich verändert. Mit dem Übergang in das SGB III 1998 war zwischenzeitlich der ausführliche Zielkanon komplett eliminiert worden, da „ein solcher Katalog nicht erfüllbare Erwartungen und Forderungen an die Arbeitsförderung auslöst“ (BT-Drs. 13/4941: 142). Die „Kernnorm“ des Arbeitsförderungsrechts war zurechtgestutzt auf das Ziel Unterstützung des Ausgleichs am Arbeitsmarkt durch zügige Stellenbesetzung. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz 2001 kehrte erneut ein ausdifferenzierter Zielkanon ein, der nun auch wieder Ziele aktiver Arbeitsförderung enthielt, insbesondere die ständige Verbesserung der Beschäftigungsstruktur und die Förderung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit durch Erhalt und Ausbau von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne dass dies allerdings praxisrelevant wurde. Im Folgenden soll zunächst der vierzigjährige Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums von 1969 bis zur 2009 in Kraft getretenen Instrumentenreform beschrieben werden (Abschnitt 2).1 Anschließend wird dargestellt, zu welchem Wandel es beim Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente gekommen ist (Abschnitt 3). Abschließend werden der Wandel bilanziert und Anforderungen an zukunftsfähige arbeitsmarktpolitische Instrumente formuliert (Abschnitt 4).
1 Zielgruppenspezifische Maßnahmen (berufliche Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung, Vorruhestandsund Altersteilzeitregelungen) werden aufgrund der gebotenen Kürze nicht berücksichtigt.
80 2
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach Das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium gestern und heute
Betrachten wir die ersten Ansätze aktiver Arbeitsmarktpolitik vor Inkrafttreten des AFG, so zeigt sich zum einen, dass sie sehr defensiv angewandt wurden2 und zum anderen, dass insbesondere Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ihnen sehr kritisch gegenüberstanden, vor allem einer Finanzierung solcher Maßnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen (vgl. Schmid/Oschmiansky 2006 und 2007). Rein „passiv“ war die Arbeitsmarktpolitik aber auch vor 1969 nicht. Mit dem Kurzarbeitergeld, den beruflichen Bildungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüssen (unter dem Namen Eingliederungsbeihilfen), Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (unter dem Namen „Wertschaffende Arbeitslosenhilfe“ bzw. „Notstandsarbeiten“) und der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft (durch Schlechtwettergeld und Beihilfen zu Winterbaumehrkosten) waren diverse „aktive“ Arbeitsförderinstrumente vorhanden. Selbst eine Überbrückungsbeihilfe zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit sah das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ (AVAVG) bereits vor (§ 135), auch wenn sie nur in Ausnahmefällen gewährt werden sollte. Eine größere Bedeutung erlangte allerdings nur die Winterbauförderung, während beispielsweise berufliche Bildungsmaßnahmen lediglich in Ansätzen verwirklicht wurden. Das AFG: Innovation und Kontinuität Der im AVAVG bereits angelegte Instrumentenkasten wurde ins AFG praktisch unverändert übernommen.3 Betrachten wir nur separat die Arbeitsförderinstrumente, so würde man aus heutiger Sicht in der Rückschau allenfalls von einem „Reförmchen“ sprechen. Allerdings hatte sich die Zielstellung der Arbeitsförderung deutlich verändert. Den aktiven Arbeitsmarktinstrumenten kam nunmehr im Rahmen der Globalsteuerung die Rolle der flankierenden Feinsteuerung zu, insbesondere die Zuführung qualifizierter Arbeitskräfte bei der Wachstumsförderung und beim regionalpolitischen Ausgleich. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem AVAVG war zudem, dass auf die vormals als Kann-Leistungen definierten Bildungshilfen nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen ein Rechtsanspruch bestand. Dieser beinhaltete vor allem die Sicherung des Lebensunterhaltes der ArbeitnehmerInnen während der Bildungsmaßnahme.4 Durch die Maßnahmen der beruflichen Ausund Fortbildung, dem „Herzstück“ der reformierten Arbeitsförderung, sollte Arbeitslosigkeit präventiv vermieden werden. Daher ging nach § 5 AFG neben der Vermittlung von Arbeit auch die Förderung der beruflichen Bildung der Zahlung von Arbeitslosengeld und -hilfe vor, die nur als letztes Mittel der Sicherung der Existenz bei Arbeitslosigkeit greifen sollte. Die Reform der Förderbedingungen bei beruflichen Bildungsmaßnahmen führte zu einem gewaltigen Anstieg der Teilnehmerzahlen (vgl. hierzu auch die Tabellen im Anhang) 2 In der Regel wurden in den sechziger Jahren weniger als 0,2 % des BSP für aktive Arbeitsfördermaßnahmen ausgegeben. Der größte Anteil (bis zu 84 % im Jahr 1963) entfiel auf saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft (vgl. Schmid/Oschmiansky 2007). 3 Gleichwohl kam es im Detail zu erheblichen Verbesserungen bei den Fördervoraussetzungen und -konditionen (vgl. Schmid/Oschmiansky 2006). 4 Die Unterhaltsregelung sah eine Unterstützung in Höhe von 120 % des in Frage kommenden Arbeitslosengeldes zuzüglich Familienzuschlag vor. Durch das Erste AFG-Änderungsgesetz vom 22. Dezember 1969 wurde es auf 130 % im ersten Halbjahr und anschließend 140 % des Arbeitslosengeldes erhöht.
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
81
und damit verbunden zu einer grundlegenden Verschiebung der Ausgabenstruktur der BA. Fortbildung und Umschulung wurden zu Beginn der siebziger Jahre vom finanziellen Aufwand her das gewichtigste Tätigkeitsgebiet der BA. Im Jahr 1971 übertrafen die Ausgaben für berufliche Bildungsmaßnahmen die Ausgaben für das Arbeitslosengeld um fast das Doppelte. Der Anteil der Ausgaben für berufliche Bildungsmaßnahmen an allen Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik (aktiv, passiv und Verwaltung) lag Anfang der siebziger Jahre bei über 30 %. Im Zeichen der Beschäftigungskrise: Neue Problemlage, alte Instrumente Mit dem Einsetzen der Massenarbeitslosigkeit in Folge der ersten Ölpreiskrise 1973/74 zeigte sich, dass das Instrumentarium des AFG primär auf die Vermeidung struktureller, saisonaler oder kurzfristig konjunktureller Arbeitslosigkeit abzielte. Da eine Phase anhaltender Arbeitslosigkeit damals nicht vorstellbar erschien, wurden in den folgenden Jahren die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen des AFG nur schrittweise, die detaillierte inhaltliche Ausgestaltung der Instrumente dagegen durch zahlreiche Gesetzesnovellierungen, Anordnungen und Erlasse um so häufiger den „neuen Erfordernissen“ des Arbeitsmarktes angepasst. Dabei glich die Anpassung der Ausgestaltung der Instrumente einer permanenten Achterbahnfahrt nach Haushaltslage, wobei unterm Strich und über die Jahre die Fördervoraussetzungen erschwert und die Konditionen verschlechtert wurden (vgl. detailliert Steffen 2008, Schmid/Oschmiansky 2005, 2006 und 2008). Als Beispiel sei nur die Höhe des Unterhaltsgeldes bei beruflicher Weiterbildung genannt, das zeitweise erhöht wurde (so 1975 zwecks antizyklischer Steuerung auf 90 % des maßgeblichen Nettoarbeitsentgelts) und letztlich auf der Höhe des Arbeitslosengeldes gelandet ist. Folgerichtig wurde es in Arbeitslosengeld bei Weiterbildung umbenannt. Einem ähnlichen Entwicklungsmuster folgen auch ABM (vgl. dazu Wagner in diesem Band) und das Kurzarbeitergeld (vgl. ausführlicher die Chronik im Anhang). Zwischenzeitlich stark aufgewertet wurden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Lohnkostenzuschüsse, die vorher nur eine Randexistenz führten. In den Jahren 1977/78 wurde mehr als jede zwölfte Arbeitsvermittlung mit Lohnkostenzuschüssen subventioniert (noch 1973 war es nur jede zweihundertste). Aber auch hier wurde schnell die Reißleine gezogen, da eine Evaluation erhebliche Mitnahme- und Verdrängungseffekte diagnostizierte (vgl. Schmid/Semlinger 1980). 1981 wurde eine Nachbeschäftigungspflicht eingeführt und Anfang 1982 der Kreis, der für eine Förderung in Frage kommenden Arbeitskräfte, sowie Höhe und Dauer der Förderung drastisch eingeschränkt. Im Grunde dauerte es bis zum Jahr 1986, als mit der Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit (Überbrückungsgeld) ein gänzlich neues Instrument aufgenommen wurde, auch wenn, wie oben beschrieben, es in Ansätzen bereits im AVAVG vorhanden war. Im Zeichen der deutschen Vereinigung: Im Osten wenig Neues Nach der deutschen Vereinigung wurde das AFG im Grundsatz auf die neuen Bundesländer übertragen. Lediglich für eine Übergangszeit galten einige Sonderregelungen, insbesondere erweiterte Regelungen zum Kurzarbeitergeld, großzügigere Vorruhestands-, ABM- sowie
82
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Fortbildungs- und Umschulungs-Regelungen. So kamen die aus der alten Bundesrepublik bekannten arbeitsmarktpolitischen Instrumente zügig, in großer Zahl und verbunden mit einem beispiellosen Mittelaufwand zur Anwendung. Die Nebenwirkungen waren sinkende Effizienz und ein Imageschaden gerade für Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, da der Arbeitsmarktpolitik die Hauptlast zur Lösung der anpassungsbedingten Beschäftigungskrise in Ostdeutschland aufgebürdet worden war. Die quantitative Ausweitung beruflicher Bildungsmaßnahmen lockte zahlreiche Bildungsträger an, die ohne ausreichende Gegenleistung eine „schnelle Mark“ verdienen wollten, von den unerfahrenen Arbeitsämtern profitierten und dadurch Weiterbildungsmaßnahmen diskreditierten. Bei bis zu über einer halben Million Zugängen in ABM (1991) waren Wettbewerbsverzerrungen und Verdrängungseffekte in großem Umfang nicht zu vermeiden. Eine Zielgruppenorientierung bei insgesamt fast drei Mio. Personen (1991) in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen war gar nicht möglich. Instrumente wie „Kurzarbeit Null“ hatten im Grunde keine positive arbeitsmarktpolitische Funktion, sondern dienten der statistischen Verringerung der Arbeitslosenzahl und der sozialpolitischen Abfederung. Nachdem die Sonderregelungen für Ostdeutschland überwiegend ausgelaufen waren, kam es bei verschiedenen Instrumenten bundeseinheitlich zu starken Restriktionen. 1994 wurde das Unterhaltsgeld bei beruflicher Weiterbildung auf die Höhe des Arbeitslosengeldes abgesenkt und die individuelle Förderung auch bei den als arbeitsmarktpolitisch notwendig anerkannten Fällen in eine Ermessenleistung in Abhängigkeit von der Haushaltslage umgewandelt. Das ursprüngliche Ziel, mit der Förderung von Fortbildung und Umschulung über die Verbesserung individueller Arbeitsmarktchancen hinaus auch strukturwirksam zur Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung beizutragen, wurde mit diesen Änderungen endgültig aufgegeben. Auch die TeilnehmerInnenstrukturen in beruflichen Bildungsmaßnahmen hatten sich erheblich verändert. Während 1973 nicht einmal 6 % der neu eingetretenen TeilnehmerInnen zu den Arbeitslosen zählten, waren es 1975 schon über 31 und Mitte der neunziger Jahre etwa 95 %. Die anhaltend extrem hohe Arbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland intensivierte eine bis heute währende Diskussion über die Möglichkeit, „passive“ Leistungen in Mittel zur aktiven Beschäftigungsförderung umzuwandeln. In Folge dieser Diskussion wurde 1993 die „Produktive Arbeitsförderung Ost“ nach § 249h AFG, einem „Zwitterinstrument“ aus ABM und Lohnkostenzuschuss, eingeführt. Grundgedanke war, kostenneutral statt Arbeitslosigkeit gesellschaftlich notwendige Arbeit in den Bereichen Umwelt, soziale Dienste und Jugendhilfe zu finanzieren, die auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht geleistet wurde. Der Lohnkostenzuschuss entsprach den durchschnittlichen monatlichen Aufwendungen für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge und wurde für maximal drei Jahre gewährt. Das Instrument war zunächst auf Ostdeutschland begrenzt, wurde später (als § 242s AFG) aber in ähnlicher Form auf Westdeutschland ausgeweitet. Mit diesem Instrument waren zunächst große Hoffnungen verbunden und es wurde bis 1999 offensiv angewandt (mit über 270.000 Zugängen im Rekordjahr 1998). Umbenannt in Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) wurde es allerdings rasch zu einem Nischeninstrument (Zugänge 2003: 38.000). Die SAM gingen zu Beginn des Jahres 2004 in den damals reformierten ABM auf. Zudem wurde 1993 ein Sonderprogramm des Bundes für Langzeitarbeitslose befristet ins AFG (§ 62d AFG) übernommen. Wesentliche Besonderheit war, dass in diesem Rahmen (wie auch bei § 249h AFG) als Ergänzung der Förderung von Einzelmaßnahmen Pro-
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
83
jektförderung ermöglicht wurde, die sich nach Evaluation des Sonderprogramms „als eindeutig sinnvoll bestätigt“ hatte (Schmid et al. 1994: 254). Einordnung in das Sozialgesetzbuch: Abgesang an alte Hoffnungen, alter Wein in neuen Schläuchen und wirkliche Innovationen Mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) und der Einordnung des AFG in das Sozialgesetzbuch als SGB III ist die Philosophie der öffentlichen Arbeitsförderung grundlegend geändert worden. In den Vordergrund rückte der Arbeitsmarktausgleich; betont wurde die „besondere Bedeutung“ der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen. Der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde ausdrücklich aufgegeben, „die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen nicht zu gefährden“. Gleichzeitig erhielt die Palette der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erheblichen Zuwachs durch die Einführung eines Eingliederungsvertrags für Langzeitarbeitslose, eines Einstellungszuschusses bei Neugründungen, der Beauftragung Dritter mit vermittlungsunterstützenden Dienstleistungen sowie Zuschüssen zu Sozialplanmaßnahmen. Dazu wurde bei einer Vielzahl der Instrumente die Terminologie geändert.5 Eine wichtige Neuerung war, dass durch die Einführung eines Eingliederungstitels6 die Gestaltungsspielräume der Arbeitsämter beim Einsatz des Instrumentenkastens erhöht wurden. In die gleiche Richtung zielte die erstaunlichste Neuerung, die als eine wirkliche Innovation bezeichnet werden kann: die Einführung der Freien Förderung (§10 SGB III a. F.). Die Arbeitsämter konnten danach bis zu 10 % ihres Eingliederungstitels für neuartige Förderansätze und Modellversuche einsetzen.7 Im Laufe des Jahres 1998 ging auch die Projektförderung nach § 62d AFG (siehe oben) in der Freien Förderung auf. Die Zentrale der BA schloss jedoch 2003 mit einer Geschäftsanweisung Projektförderungen ausdrücklich aus. Dem innovativen Charakter des Instrumentes waren damit die Flügel gestutzt. Das Job-AQTIV-Gesetz: Lernen von Nachbarländern? Weit mehr als eine erneute Hinzufügung zusätzlicher Instrumente setzte mit dem JobAQTIV-Gesetz ein. Es war einerseits der Beginn einer Phase des „Reformfiebers“ und wurde andererseits als Übergang von der aktiven zur „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik interpretiert (vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Mohr in diesem Band). Auf Instrumentenebene wurden drei neue Instrumente hinzugefügt: die Möglichkeit zur Beauftragung Dritter mit der gesamten Vermittlung von Arbeitsuchenden, Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung (ein den SAM ähnliches Instrument) sowie ein Einstellungszuschuss bei Vertretung (Job-Rotation). Letzteres hatte sich in Dänemark als höchst erfolgreich er5 Eingliederungsmaßnahmen, kurzzeitige Qualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen der Arbeitsberatung wurden unter dem neuen Begriff Trainingsmaßnahmen gebündelt. Die Lohnkostenzuschüsse West bzw. Ost wurden in Strukturanpassungsmaßnahmen umbenannt. An die Stelle des alten Begriffs „Fortbildung und Umschulung“ (FuU) trat der Begriff „Förderung der beruflichen Weiterbildung“ (FbW). Mit dem Instrument Eingliederungszuschuss wurden die Leistungen Einarbeitungszuschuss, Eingliederungsbeihilfe, Eingliederungshilfe und der Lohnkostenzuschuss für Ältere zusammengefasst. Mobilitätshilfen lösten die Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme ab. 6 Im Eingliederungstitel sind die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung zusammengefasst. 7 Der maximale Prozentsatz wurde im Verlauf nur von wenigen Ämtern ausgeschöpft. Der durchschnittliche Anteil der Freien Förderung lag 1999 bei 4 %. 2002 war mit 2,2 % der geringste Anteil zu verzeichnen, 2006 mit 4,5 % der höchste.
84
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
wiesen. Betriebe, die ihren Beschäftigten die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung ermöglichen und für diese Zeit Arbeitslose als VertreterIn einstellten, konnten einen Zuschuss in Höhe von 50 bis 100 % des Arbeitsentgelts der VertreterInnen erhalten. In Deutschland konnte sich das Instrument allerdings nicht etablieren.8 Im März 2002 wurde in Folge des „Vermittlungsskandals“ der Vermittlungsgutschein eingeführt. Mit der gleichzeitigen Abschaffung der Erlaubnispflicht für private Arbeitsvermittlung und der Möglichkeit, Vermittlungsverträge zwischen privaten Vermittlern und Arbeitsuchenden abzuschließen, wurde der Markt für private Arbeitsvermittlung bzw. Personaldienstleistung nahezu vollständig dereguliert. Die „Hartz“-Instrumente“: Viel Wind um nichts? In Fortführung der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ band die „Hartz-Kommission“ einen riesigen bunten Strauß neuer Instrumente, auch wenn ein Großteil der Vorschläge in erster Linie auf einen Mix von Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsvermittlung (Frühzeitige Meldepflicht, Neue Zumutbarkeit, PSA etc.) und einer Subventionierung potentiell prekärer Arbeitsverhältnisse (Ich-AG, Mini-Jobs etc.) zielte (vgl. Oschmiansky 2004a und b). Infolge der Vorschläge wurden folgende Instrumente neu eingeführt: Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer (ein Kombi-Lohn-Modell), ein Lohnkostenzuschuss für Betriebe bei Einstellung Älterer in Form der Befreiung von den Arbeitgeberbeiträgen zur Arbeitslosenversicherung (Beitragsbonus für Arbeitgeber bei Beschäftigung Älterer), ein Existenzgründungszuschuss (die sog. „Ich-AG“ als Pflichtleistung der Arbeitsagenturen), Personal-Service-Agenturen (PSA) als integrationsorientierte Zeitarbeitsgesellschaften, die zunächst in jeder Agentur einzurichten waren, die Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen nach § 421i a. F. sowie ein „Job-Floater“, der kleinen und mittleren Unternehmen, die einen Arbeitslosen einstellen, günstige Darlehen ermöglichte. „Hartz IV“: Instrumenteninnovation für Langzeitarbeitslose? Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zum 1. Januar 2005 wurde der arbeitsmarktpolitische Instrumentenkatalog des SGB III im Wesentlichen auch auf das SGB II übertragen. Ausgeschlossen ist die Förderung über den Gründungszuschuss, der aus den beiden Instrumenten Existenzgründungszuschuss und Überbrückungsgeld hervorgegangen ist. Eine Förderung der Existenzgründung ist im SGB II über ein Einstiegsgeld möglich, das im Gegensatz zum Gründungszuschuss eine Ermessensleistung ist. Neben dieser Gründungsförderungsvariante ist das Einstiegsgeld aber auch als Kombilohnvariante zur Förderung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung möglich. Zusätzlich zu arbeitsmarktpolitischen Eingliederungsleistungen nach dem SGB III können für erwerbsfähige Hilfebedürftige „Weitere Leistungen“ erbracht werden (§ 16 Abs. 2 a. F.), die die Leistungen des SGB III allerdings nicht aufstocken dürfen. Das Gesetz nannte beispielhaft die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder sowie die Pflege von Angehörigen, Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung, das angesprochene Einstiegsgeld und Leistungen nach dem Altersteilzeitgesetz. Die offene Formulierung dieser „Weiteren Leistungen“ führte zu heftigen Auseinandersetzungen über den Ge8
Die höchsten Zugangszahlen gab es noch im Jahr 2004 mit bundesweit lediglich 1831 Personen.
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
85
staltungsspielraum (vgl. FH Frankfurt am Main et al. 2008: 36f.). Einige SGB II-Einrichtungen sahen darin eine Generalklausel für ergänzende Ermessens-Eingliederungsleistungen (so auch die juristische Fachliteratur; vgl. ebd.: 37). Das BMAS hingegen hob den Charakter der ergänzenden Einzelfallhilfe hervor und schloss Projektförderungen über § 16 Abs. 2 a. F. im Verlauf des Jahres 2007 grundsätzlich aus. 9 Das am stärksten diskutierte und kritisierte (vgl. u.a. Bundesrechnungshof 2006; Kettner/Rebien 2007; Bundesagentur für Arbeit 2008) arbeitsmarktpolitische Instrument sind die Arbeitsgelegenheiten (AGH oder „1-Euro-Jobs“) des SGB II. Dieses Instrument ist nicht neu, sondern wurde bereits in großem Umfang im Rahmen des Bundessozialhilferechts eingesetzt (vgl. Kaps in diesem Band). AGH sollen für diejenigen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen geschaffen werden, die keine Arbeit finden können. Diese Arbeiten begründen kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts und sollen zusätzlich und im öffentlichen Interesse sein. Eine Entlohnung gibt es nicht, lediglich der Mehraufwand (Fahrtkosten, Arbeitskleidung etc.) wird durch eine Aufwandsentschädigung ersetzt.10 Mit je etwa 800.000 Teilnehmern in den Jahren 2006 und 2007 und Jahresdurchschnittsbeständen von ca. 300.000 sind AGH unterdessen das am stärksten genutzte arbeitsmarktpolitische Instrument in Deutschland (zu den Teilnehmerzugängen an den unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten vgl. auch die Tabellen im Anhang). Ergänzt wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des SGB II zum 1. Oktober 2007 durch einen Beschäftigungszuschuss, den Arbeitgeber erhalten können, wenn sie einen langzeitarbeitslosen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einstellen, der mehrere Vermittlungshemmnisse aufweist und absehbar in den nächsten 24 Monaten auch bei Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Regelinstrumenten nicht in ein Beschäftigungsverhältnis integriert werden kann. Der Beschäftigungszuschuss kann bis zu 75 % des berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelts betragen. Die Förderungsdauer von zunächst zwei Jahre kann danach unbefristet verlängert werden, wenn sich die Integrationsaussichten des Beschäftigten in ein ungefördertes Beschäftigungsverhältnis nicht verändert haben. Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente 2009: Mehr Schein als Sein? Mit dem Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (BGBl. I 2008: 2917ff., überwiegend in Kraft seit 1.1.2009) ist das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium erneut erheblich überarbeitet worden. Ziel des Gesetzgebers war es, die hohe Anzahl an arbeitsmarktpolitischen Instrumenten zu reduzieren und zu vereinfachen und sie für die Anwender vor Ort handhabbarer zu gestalten (BT-Drs. 16/10810: 2). Abgeschafft wurden im SGB III u.a. die Förderung der beruflichen Weiterbildung durch Vertretung (JobRotation), der Einstellungszuschuss bei Neugründungen, der Beitragsbonus für Arbeitgeber bei Beschäftigung Älterer, die Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung sowie einige Maßnahmen zur Förderung der Berufsausbildung. Ein neuer § 46 SGB III (Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung) bündelt eine Reihe von Maßnahmen, die zuvor einzeln geregelt waren. Er soll die positiven 9
Die „Weiteren Leistungen“ wurden von den SGB-II-Trägern sehr unterschiedlich genutzt (zwischen 0,2% und 71,1% der TeilnehmerInnen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen). Im Schnitt wurden hierfür in 2007 14,1% der Mittel (rund 600 Mio. EUR) aufgewandt. 10 Neben dieser Mehraufwandsvariante ist eine AGH auch in Entgeltvariante möglich, d.h. in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, seit 1. Januar 2009 aber ohne Einbezug in die Arbeitslosenversicherung. 2007 entfielen allerdings nur 7 % aller AGH auf die Entgeltvariante.
86
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Elemente der Instrumente Beauftragung Dritter mit der Vermittlung (§ 37 SGB III a.F.), PSA, Trainingsmaßnahmen, Eingliederungsmaßnahmen (§ 421i SGB III a.F.) sowie Aktivierungshilfen zu einem einzigen Instrument zusammenfassen. Neben einer Betreuung und Unterstützung durch Dritte bei der Arbeit- und Ausbildungssuche sind z.B. auch Bewerbungstrainings, Arbeitnehmerüberlassungen mit dem Ziel der Vermittlung oder ganzheitliche Maßnahmen zur Erreichung von Integrationsfortschritten möglich. Ein weiteres zentrales neues Instrument ist das Vermittlungsbudget (§ 45 SGB III), in dem alle bisherigen sehr differenzierten Leistungen bei der Anbahnung und Aufnahme eines Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses zusammengeführt sind. So gehen alle Leistungen zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung, Mobilitätshilfen, Einzelfallhilfen im Rahmen der Freien Förderung (§ 10 SGB III a.F.) sowie Einzelfallhilfen als „Weitere Leistungen“ (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II a.F.) im Vermittlungsbudget auf. Was künftig konkret „bei der Anbahnung oder Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung“ (§ 45 Abs. 1) geleistet wird, entscheidet der Vermittler oder Fallmanager. Das Vermittlungsbudget soll nur in Betracht kommen, wenn die Eingliederungsaussichten erheblich verbessert werden können. Zu befürchten ist hier der fortschreitende Ausschluss von arbeitsmarktfernen Personen (die sog. Betreuungskunden; vgl. hierzu den Beitrag von Hielscher/Ochs in diesem Band), die bislang zumindest noch Ansprüche auf Erstattung von Bewerbungskosten und ähnliches hatten. Weitere wichtige Änderungen11 betreffen die Freie Förderung und die „Weiteren Leistungen“. Die Nutzung der Freien Förderung im SGB III ist zum einen von den örtlichen Agenturen für Arbeit auf die BA-Zentrale übergegangen, zudem von 10 % des Eingliederungstitels auf 1 % reduziert und mit einer Begründungspflicht hinterlegt worden. Im SGB II ist die Nutzung der offenen Generalklausel „Weitere Leistungen“ in eine Freie Förderung überführt worden. Die Nutzung ist auf einen Anteil von 10 % des Eingliederungstitels beschränkt worden. Projektförderung ist möglich, aber auf maximal zwei Jahre und ein Mittelvolumen von weniger als zwei Mio. Euro begrenzt. Hinzu kommt auch hier eine „rigide Begründungspflicht für die Nutzung des Instrumentariums, die eher eine Nicht-Nutzung generieren wird (und soll)“ (Sell 2008: 4). Der Förderkatalog des SGB II gleicht nunmehr noch mehr als zuvor dem des SGB III. Eine Orientierung an speziellen Problemlagen langzeitarbeitsloser oder stark arbeitsmarktferner Personen ist nicht zu erkennen. Wenn die angestrebte Vereinfachung durch schlichte Reduzierung der Instrumentenanzahl erzielt werden sollte, ist auch dies nur bedingt gelungen. Die Anzahl einzelner Maßnahmen wurde durch Zusammenlegung in den §§ 45 und 46 zwar verringert, aber solange fast alle bisherigen Instrumente weiterhin einsetzbar bleiben sollen und außerdem wechselnde Sonderprogramme eine Reduzierung der Instrumentenanzahl unterlaufen, bleibt die Reform hier widersprüchlich. Zudem ist kaum anzunehmen, dass die zentralen neuen §§ 45 und 46 SGB III von detaillierten Weisungen der BA-Zentrale und Rechtsverordnungen des BMAS (§ 47 SGB III) verschont bleiben. 11 Die Vielzahl der Änderungen kann an dieser Stelle nur auszugsweise referiert werden. Zu nennen wären beispielsweise noch der neu eingeführte Rechtsanspruch auf eine Hauptschulabschlussvorbereitung im Rahmen einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme für Jugendliche (§ 61a SGB III) und für Erwachsene im Rahmen einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme (§ 77 SGB III) sowie die Abschaffung der Förderung über eine ABM im SGB II. Ersatz sollen die AGH in der Entgeltvariante bieten. Außerdem wurde die institutionelle Förderung von Einrichtungen der beruflichen Aus- und Weiterbildung oder der beruflichen Rehabilitation (§§ 248-251 SGB III a.F.) gestrichen.
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
87
Bezweifeln lässt sich auch, ob Arbeitsuchende nun besser verstehen, welche Förderinstrumente ihnen (potentiell) zur Verfügung stehen, weil diese ab jetzt nicht mehr Trainingsmaßnahme, PSA oder Aktivierungshilfe heißen, sondern hinter der Bezeichnung „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ verschwunden sind. Für die Arbeitsuchenden kommt es auf die VermittlerInnen bzw. FallmanagerInnen und deren Kompetenz an. Diese „AnwenderInnen vor Ort“ sind mit hohen Anforderungen an ihre Flexibilität und Kreativität konfrontiert, wenn sie einerseits eine individuelle bedarfsgerechte Unterstützung anbieten sollen, andererseits aber der flexible Fördermitteleinsatz im Rahmen Freier Förderung (SGB III) bzw. „Weiterer Leistungen“ (SGB II) reduziert wird, die Erprobung innovativer Ansätze aktiver Arbeitsförderung zentralisiert wird und eine hierarchische Steuerung der praktischen Umsetzung zu erwarten ist. Da weiterhin fast durchgängig eine Ausschreibung nach Vergabeverfahren für die einzelnen Maßnahmen erfolgen muss, werden vor Ort ebenfalls weiterhin regelmäßige Trägerwechsel stattfinden, die einer kontinuierlichen Arbeit nicht förderlich sind.
3
Der Wandel des Instrumenteneinsatzes: Vom Niedergang der „Klassiker“ und der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Bis Ende der achtziger Jahre wurden in der Regel etwa 90 % der Ausgaben12 für aktive Arbeitsmarktpolitik auf die „klassischen“ Instrumente berufliche Bildungsmaßnahmen, Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft verwandt (vgl. Abb. 1). Dabei standen bis zum Einsetzen der Beschäftigungskrise 1974 berufliche Bildungsmaßnahmen und Maßnahmen für die Bauwirtschaft im Vordergrund. Beide Maßnahmen zusammen machten bis zu 92,5 % (1970 und 1973) der Ausgaben aus. Mit dem Einsetzen der Massenarbeitslosigkeit gewannen das Kurzarbeitergeld und ABM stark an Bedeutung. Der Anteil für diese beiden Maßnahmen summierte sich 1983 auf 47 % an allen Ausgaben und 1991 auf 50 %. Insbesondere in den 1990er Jahren hatte die Förderung des Zweiten Arbeitsmarktes (durch ABM, §249h und später SAM) einen Anteil von in der Regel einem Drittel an den Gesamtausgaben der hier betrachteten Arbeitsfördermaßnahmen. Das Kurzarbeitergeld wurde in den Krisenjahren 1974/75, 1982/83 sowie im ostdeutschen Transformationsprozess 1991 stark eingesetzt; in den jüngeren Krisen (1993, 1996/97 und 2003) dagegen kaum noch.13 Kurzarbeitergeld und Saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft sind seit Mitte der 1990er Jahre nahezu bedeutungslos.
12
Ohne Berücksichtigung der Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung und Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise in Folge der Banken- und Finanzkrise beschert dem Kurzarbeitergeld allerdings ein Comeback. Im Dezember 2008 wurde an 270.000 ArbeitnehmerInnen Kurzarbeitergeld gezahlt mit stark steigender Tendenz. 13
88
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Abbildung 1:
Verteilung der Ausgaben für aktive Arbeitsförderung nach Art der Instrumente 1969-2007 in % (ohne SGB II)
100
90
Sonstige Ausgaben
Saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft
80
70 "Beschäftigung schaffende Maßnahmen" (ABM, SAM, Produktive Lohnkostenzuschüsse)
60 Kurzarbeitergeld 50
40
30
20
Berufliche Bildung
10
19 69 19 70 19 71 19 72 19 73 19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07
0
Quellen: BA 1969-2007 und BMAS 1999; eigene Berechnungen. Ohne Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung und Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen. Unter „Sonstiges“ wurde u.a. zusammengefasst: Lohnkostenzuschüsse, PSA, Beauftragung Dritter, Vermittlungsgutschein, Mobilitätshilfen, Förderung der Selbständigkeit, Freie Förderung und Trainingsmaßnahmen.
Der sprunghafte Anstieg des Anteils der Sonstigen Ausgaben ab 1988 gründet sich auf der Übertragung von Maßnahmen zur Eingliederung von AussiedlerInnen (insbesondere Sprachförderung) in den Finanzierungsbereich der BA. Im „Rekordjahr“ 1990 kamen knapp 400.000 AussiedlerInnen in die Bundesrepublik und die BA wendete allein vier Mrd. DM für spezielle Maßnahmen für diese Gruppe auf (zur Entwicklung der Ausgaben insgesamt vgl. die Tabellen im Anhang). Die exorbitante Zunahme der Sonstigen Ausgaben ab 2003 hat unterschiedliche Gründe. Zum einen sinken die Gesamtausgaben für die hier betrachteten Instrumente (von 15,8 Mrd. € 2002 auf 12,5 Mrd. € 2004 und 5,2 Mrd. € 2007 bedingt durch die SGB II Einführung). Betroffen sind davon besonders Bildungsmaßnahmen sowie „Beschäftigung schaffende Maßnahmen“. Bei beiden Maßnahmetypen kommt es allein von 2002 auf 2004 fast zu einer Halbierung der Ausgaben. Gleichzeitig wurden diverse neue unter Sonstiges fallende Instrumente dem Instrumentenkasten hinzugefügt (vgl. Abschnitt 2). Hauptursache waren aber starke Ausgabenverlagerungen in den Bereich der Förderung der Selbständigkeit. Der Anteil der Ausgaben zur Förderung der Selbständigkeit stieg in großen Schritten von 6 % im Jahr 2002 auf 44 % im Jahr 2006 an. 2005 wendete die BA (im SGB III) eine
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
89
größere Summe für die Förderung der Selbständigkeit auf als für die vier „Klassiker“14 zusammen. Betrachten wir den Instrumenteneinsatz ausgewählter Arbeitsförderinstrumente seit der Einordnung des AFG ins SGB III 1998 (siehe hierzu auch die Tabellen im Anhang, die die Entwicklung der Zugänge abbilden), diesmal unter Einbeziehung des SGB II, differenzierter anhand von Teilnehmerbeständen ergibt sich folgendes Bild. Abbildung 2:
Teilnehmerbestände in ausgewählten Arbeitsfördermaßnahmen (Anteile in Prozent)
100% 90% 80% 70% 60% 50%
Förderung der Selbständigkeit
Sonstiges Förderung abhängiger Beschäftigung (EGZ, PSA etc.) Trainingsmaßnah men Beschäftigung schaffende Maßnahmen (ABM, AGH etc.)
Unterstützung der Arbeitsuche durch Dritte
40% 30% 20%
Berufliche Bildung
10% 0% 1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
Quellen: BA 1998-2007; eigene Berechnungen. Ohne Daten für zugelassene kommunale Träger; Beauftragung Dritter ist erst ab 2004 ausgewiesen; für Eingliederungsmaßnahmen nach §421i lagen für 2003 keine Zahlen vor; Unter Sonstiges ist zusammengefasst: Freie Förderung; „Sonstige Weitere Leistungen“, flankierende Leistungen des SGB II und das ESF-BA-Programm. Daten für die Freie Förderung lagen erst ab 2000 vor. Ohne Berücksichtigung der Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung, Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen, Kurzarbeitergeld und Maßnahmen für die Bauwirtschaft.
In den letzten Jahren zeigt sich ein deutlich veränderter Instrumenteneinsatz. Eine starke Verschiebung auch auf der Teilnehmerebene geht vor allem zu Lasten der beruflichen Bildungsmaßnahmen. Das einstige „Herzstück“ der aktiven Arbeitsmarktpolitik innerhalb des AFG ist bei Betrachtung der Teilnehmerrelationen auf dem Weg zu einem Nischenprodukt. 14
Berufliche Bildungsmaßnahmen, Kurzarbeitergeld, ABM, Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft.
90
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Eine ähnliche Entwicklung nahmen bis zur Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch die „Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“. Hier ist es durch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung im SGB II zu einer Renaissance gekommen. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere die Förderung der Selbständigkeit stark angestiegen. Allerdings führte die Zusammenlegung der Instrumente Überbrückungsgeld und Existenzgründungszuschuss zum neuen Gründungszuschuss zu einer Reduktion. Auch die Unterstützung der Arbeitsuche durch Dritte wird häufiger genutzt als berufliche Bildungsmaßnahmen.15 Darüber hinaus wurde hinsichtlich der Struktur des Mitteleinsatzes umgesteuert. Machten die im Eingliederungstitel des SGB III festgelegten Mittel für Ermessensleistungen im Jahr 1999 noch 66 % aller für aktive Leistungen der Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel aus, sank dieser Anteil auf unter 50 % im Jahr 2004.16 Auch zeigt sich, dass der Anteil für aktive Arbeitsmarktpolitik an den Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik insgesamt seit Jahren stark sinkend ist. Nur noch ein Fünftel der Mittel wird darauf verwendet (vgl. Oschmiansky u.a. 2007: 292f.). Besonders eklatant ist das Verhältnis im Rahmen des SGB II. Hier wurden im Jahr 2006 nur 12,6 % der Gesamtausgaben für aktive Maßnahmen eingesetzt. Die Planungen für 2008 sahen hier nur eine marginale Steigerung auf 13 % vor (vgl. BIAJ 2008; eigene Berechnungen).
4
Einige Lehren aus 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik: Anforderungen an zukunftsfähige arbeitsmarktpolitische Instrumente
Deutlich geworden ist, dass das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium sowie der Einsatz einzelner Instrumente einen erheblichen Wandlungsprozess durchliefen. Mit der Installierung des AFG wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgewertet. Zielsetzung war, zur Feinsteuerung auf dem Arbeitsmarkt beizutragen, unterwertige Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu verhüten. Mit dem Einsetzen der Beschäftigungskrise wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium im Wesentlichen zum Kürzungsposten öffentlicher Ausgaben. Einen Bedeutungszuwachs erhielten die Arbeitsförderinstrumente durch die deutsche Vereinigung. Zum einen wurden die Instrumente in einem zuvor nicht gekannten quantitativen Ausmaß eingesetzt. Zum anderen diente der Einsatz der Arbeitsförderinstrumente in Ostdeutschland häufig in erster Linie der sozialpolitischen Abfederung der dortigen Beschäftigungskatastrophe. Innovative neue Instrumente kamen allerdings kaum zur Anwendung. Dagegen waren die letzten Jahre geprägt von einer fortwährenden Implementierung neuer Instrumente. Allerdings zeigte sich in umfangreichen Evaluationsstudien, dass kaum eines dieser neuen Instrumente erfolgreich ist. Gerade die meisten der durch die „HartzGesetze“ implementierten Instrumente erwiesen sich als Misserfolg. Außerhalb des § 46 SGB III ist kein einziges der vielen durch „Hartz I“ und „Hartz II“ hinzugefügten Instrumente mehr in Kraft. 15 Obwohl in die Abbildung nur eingelöste und nicht ausgegebene Vermittlungsgutscheine integriert wurden. Hinzu kommen hier die Maßnahmen zur Beauftragung Dritter nach § 37 a.F. und Eingliederungsmaßnahmen nach § 421i a.F.. 16 Ein Vergleich mit späteren Jahren ist aufgrund der SGB-II-Reform nicht sinnvoll.
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
91
Die skizzierte Kritik an der Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zum Jahresbeginn 2009 hat deutlich gemacht, dass dieses Gesetz nicht als vorläufiger Schlusspunkt arbeitsmarktpolitischer Reformen auf der Instrumentenebene verstanden werden darf. Abschließend wollen wir daher Anforderungen an künftige Reformen formulieren.
Gerade Maßnahmen zur Behebung oder Verminderung der häufig komplexen und höchst unterschiedlichen Problemlagen der SGB II-BezieherInnen lassen sich meist nur schlecht in ein striktes Regelwerk packen. Der Fachkraft vor Ort sollte daher ein möglichst flexibles Instrumentarium zur Verfügung gestellt werden. Ein kleinteiliger, stark normierter Rechtsrahmen (Sell 2008: 9) ist hier kontraproduktiv. Entsprechend müssen die örtlichen Maßnahmeträger in der Lage sein, ein generelles Angebot zur Leistungserbringung vorzuhalten und dieses bedarfsorientiert auszudifferenzieren. Das ist nur möglich, wenn diese Träger frühzeitig strukturell in die Planung und Steuerung von Maßnahmen einbezogen werden (Reis 2007: 185). In Abschnitt 3 wurde zeigt, dass sich der Instrumenteneinsatz stark von den beruflichen Bildungsmaßnahmen hin zu vermittlungsorientierten Maßnahmen wie der Einschaltung privater Vermittler oder dem Einsatz von Lohnkostenzuschüssen verschoben hat. Angesichts der enormen Unterbeschäftigung sind die Erfolgsmöglichkeiten dieser Instrumente jedoch begrenzt. Einen arbeitsmarktpolitischen Beitrag zum Strukturwandel leisten sie nicht. Dagegen ist die Gefahr von Substitutions- und Verdrängungseffekten bei diesen Instrumenten besonders stark angelegt. Zudem zeigen Evaluationen (vgl. BMAS 2006), dass diese Instrumente keineswegs erfolgreicher als berufliche Bildungsmaßnahmen sind. Angesichts dieser Befunde sollte berufliche Weiterbildung, nachdem die Ausgaben dafür in den letzten Jahren deutlich gesunken sind, sukzessive wieder zum Kern aktiver Arbeitsmarktpolitik werden. Individuelle Problemlagen arbeitsmarktnäherer Arbeitsloser korrelieren häufig mit Begebenheiten des regionalen Arbeitsmarktes. So wichtig der Blick nach außen (in andere Länder) sein kann, so ist nicht nur aufgrund der Erfahrungen mit Job-Rotation davor zu warnen, anderswo erfolgreiche Instrumente einfach zu adaptieren. Passende Instrumente müssen sich aus dem Umfeld entwickeln, in dem sie anschließend eingesetzt werden. Unterschiedlichste Bedingungen sind entsprechend zu berücksichtigen und dies gilt nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf Ebene der Bundesländer und Kommunen. Ein arbeitsmarktpolitisches Instrument ist nie per se „gut“ oder „schlecht“. Sein Wert hängt vom richtigen Einsatz bei den richtigen Zielgruppen ab. Ein Instrument kann im ländlichen Raum sinnvoll sein, im städtischen oder großstädtischen weniger und umgekehrt. Ein Instrument kann bei höherer regionaler Arbeitslosigkeit sinnvoll sein, bei geringerer weniger. Daher benötigt eine dezentralisierte Arbeitsmarktpolitik qualifizierte Informationen für eine effektive Steuerung der Prozesse am Arbeitsmarkt, beispielsweise Analysen zum Ungleichgewicht regionaler Arbeitsmärkte, Informationen zu regionalen Problemstrukturen auf der Angebots- und Nachfrageseite und zu regionalen Erfolgen bzw. Misserfolgen einzelner arbeitsmarktpolitischer Instrumente und Träger, um darauf aufbauend passgenaue Instrumente und Projekte zu entwickeln.
92
Frank Oschmiansky/Mareike Ebach
Zusammenfassend lassen sich unsere Vorschläge auf folgenden Nenner bringen: Zukunftsweisend wäre eine größere Flexibilität für die Akteure vor Ort, auch damit die arbeitsmarktpolitischen Instrumente stärker auf regionale Problemlagen zugeschnitten werden können und eine Rückbesinnung auf berufliche Bildungsmaßnahmen, die sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgebaut werden sollten.
Literatur BIAJ (2008): Kurzmitteilung vom 27. Juni 2008 (sgb2-ausgaben-2005-2008). http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/080629%20Ausgaben%20des%20Bundes%20fuer%2 0die%20Grundsicherung%20fuer%20Arbeitsuchende%20sinken.pdf. BMAS (1999): Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 Band West. Verfasser Hermann Berié. Bonn. BMAS (2006): Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2006 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (ohne Grundsicherung für Arbeitsuchende). Berlin. Bundesagentur für Arbeit: Amtliche Nachrichten der Bundesagentur (Bundesanstalt) für Arbeit. Nürnberg. Jahrgänge 1969-2007. Bundesagentur für Arbeit (2008): Ordnungsmäßigkeit der Eingliederungsleistungen (1. Halbjahr 2008). Bericht gemäß § 49 SGB II der Internen Revision. Revision SGB II. Bundesrechnungshof (2006): Bericht an den Haushaltsausschuss und an den Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages nach § 88 Abs. 2 BHO. Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende – Wesentliche Ergebnisse der Prüfungen im Rechtskreis des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Bonn. Fachhochschule Frankfurt am Main/infas/WZB (2008): Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c SGB II - Vergleichende Evaluation des arbeitsmarktpolitischen Erfolgs der Modelle der Aufgabenwahrnehmung "Optierende Kommune" und "Arbeitsgemeinschaft". Untersuchungsfeld 2: Implementations- und Governanceanalyse. Endbericht Mai 2008 an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Genz, H./Werner, W. (2005): Job Center und Fallmanagement. Herzstücke der Arbeitsmarktreformen. In: Egle, F./Nagy, M. (Hrsg.) (2005): Arbeitsmarktintegration. Gabler Verlag, Wiesbaden: 173244. Kettner, A./Rebien, M. (2007): Soziale Arbeitsgelegenheiten. Einsatz und Wirkungsweise aus betrieblicher und arbeitsmarktpolitischer Perspektive. IAB Forschungsbericht 2. Nürnberg. Oschmiansky, F./Mauer, A./Schulze Buschoff, K. (2007): Arbeitsmarktreformen in Deutschland – Zwischen Pfadabhängigkeit und Paradigmenwechsel. In: WSI-Mitteilungen 60. 6. 291-297. Oschmiansky, F. (2004a): Reform der Arbeitsvermittlung (Erhöhung der Geschwindigkeit einschließlich neue Zumutbarkeit und PSA). In: Jann, W./Schmid, G. (Hrsg.) (2004): Eins zu eins? Eine Zwischenbilanz der Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt. Ed. Sigma, Berlin: 19-37. Oschmiansky, F. (2004b): Bekämpfung von Schwarzarbeit (Ich-AG, Mini-Jobs). In: Jann, W./Schmid, G. (Hrsg.) (2004): Eins zu eins? Eine Zwischenbilanz der Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt. Ed. Sigma, Berlin: 51-62. Schmid, A./Krömmelbein, S./Klems, W./Gaß, G. (1994): Neue Wege der Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose. Berlin. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2008): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Geyer, M. H. (Hrsg.) (2008): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 6: 19741982: Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 313-363.
Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009
93
Schmid, G./Oschmiansky, F. (2007): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Ruck, M./Boldorf, M. (Hrsg.) (2007): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 4: 1957-1966: Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 235-283. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2006): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung 1966-1974. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv. Band 5: Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs. Hans Günter Hockerts (Band-Hrsg.). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 331-379. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2005): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung 1982-1989. In: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und dem Bundesarchiv. Band 7/1: Bundesrepublik 1982-1989: Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Manfred G. Schmidt (Band-Hrsg.). BadenBaden: Nomos Verlagsgesellschaft. 239-287. Schmid, G./Semlinger, K. (1980): Instrumente gezielter Arbeitsmarktpolitik. Kurzarbeit, Einarbeitungszuschüsse, Eingliederungsbeihilfen. Königstein/Ts. Sell, S. (2008): Die schiefe Ebene der Standardisierung und Zentralisierung – Argumente gegen einen Systemwechsel im SGB II durch den Gesetzentwurf zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und alternative Lösungsansätze. Expertise für die LAG Arbeit Hessen. Remagener Beiträge zur aktuellen Sozialpolitik. Steffen, J. (2008): Sozialpolitische Chronik: Arbeitslosenversicherung (seit 1969). http://www.arbeit nehmerkammer.de/sozialpolitik/doku/02_politik/chronik/chronik_alv.pdf
94
Gerhard Bosch
Gerhard Bosch
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Entwicklung und Reformoptionen Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
1
Einleitung
In der international vergleichenden Arbeitsmarktforschung dient der deutsche Arbeitsmarkt meistens als Referenzfall für vergleichsweise stark ausgeprägte berufliche Arbeitsmärkte (Marsden 1990). Kaum bekannt ist, dass sich die unterschiedliche Struktur des deutschen Arbeitsmarktes erst in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. In den 50er Jahren hatten die meisten angelsächsischen Länder noch ähnlich hohe Anteile an Auszubildenden wie in Deutschland. Während dort aber berufliche Arbeitsmärkte zumindest unterhalb der Ebene der Professionals an Bedeutung verloren, expandierten sie in Deutschland seit den 70er Jahren kräftig. Der Anteil der Beschäftigten mit einem beruflichen Abschluss stieg von 29 Prozent 1964/65 auf 70 Prozent im Jahre 2000 (Geissler 2002: 339). Damit wurden in Deutschland Tätigkeitsbereiche ‚verberuflicht‘, die in vielen anderen Ländern entweder Anlerntätigkeiten blieben oder mittlerweile sogar eine akademische Ausbildung voraussetzen. Berufliche Arbeitsmärkte brauchen einen starken Ordnungsrahmen und viele Akteure, die an ihrer Stabilisierung und Weiterentwicklung interessiert sind. Die Voraussetzungen hierfür wurden 1969 mit dem Berufsbildungsgesetz geschaffen. Dabei ist es kein Zufall, dass fast zeitgleich auch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verabschiedet wurde. Beide Gesetze sind gedanklich eng verknüpft und wurden als ‚bildungspolitische Einheit‘ gesehen (Voelzke 1991: 257). In der ersten großen Wirtschaftskrise 1966/67 war deutlich geworden, dass bei raschem strukturellem Wandel Beschäftigungssicherheit mit und ohne Betriebswechsel oft erst mit Weiterbildung gewährleistet werden konnte. Die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder reformierten Berufsbilder und die anerkannten Aufstiegsfortbildungen zum Meister, Techniker oder Fachwirt boten den zentralen Referenzrahmen für die durch das AFG geförderten Umschulungen und Fortbildungen. In der Neuordnung von Berufen wurde auch immer wieder versucht, die Verbindung von Erstaus- und Weiterbildung zu stärken (Bosch 2008). Ein Beispiel sind Wahlmodule, die man sowohl in der Erstaus- oder in der Weiterbildung absolvieren kann. Durch den in den Zumutbarkeitskriterien verankerten Berufsschutz sollten zudem die Anreize zur Weiterbildung erhöht und bei Arbeitslosigkeit der Erhalt von Bildungsinvestitionen gesichert werden. Auch für die betriebliche Weiterbildung boten die Berufsbilder einen wichtigen Orientierungsrahmen. Im AFG von 1969 wurden zunächst relativ großzügige Weiterbildungsanrechte für Beschäftigte und Arbeitslose verankert. Damit kam zwangsläufig die bis heute diskutierte Frage auf, ob eine Finanzierung über Beitragsmittel angemessen sei. Sowohl bei der Beratung des AFG als auch in den folgenden Jahren wurden immer wieder Alternativen zur Beitragsfinanzierung erörtert. Zur Diskussion standen eine Steuerfinanzierung der Weiterbildungsmaßnahmen, eine Arbeitmarktabgabe, die auch von Selbständigen und Beamten
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
95
erhoben wird und eine Umlagefinanzierung durch die Unternehmer. Das zentrale Argument für eine Steuerfinanzierung war, dass der Kreis der Begünstigten über die Beitragszahler weit hinausreiche. Über eine Arbeitsmarktabgabe sollten alle Erwerbstätigen Anrechte auf Weiterbildung erwerben, was angesichts der hohen Mobilität vor allem zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung Sinn macht. Eine Umlagefinanzierung lässt sich mit dem hohen betrieblichen Nutzen einer praxisorientierten Weiterbildung für die Unternehmen rechtfertigen (Siegers 1973; Sachverständigenkommission Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung 1974). Hinter diesen unterschiedlichen Finanzierungsmodellen stand die Vorstellung, die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung auf eine breitere Basis zu stellen und dazu beizutragen, die Weiterbildung zu einer vierten Säule des Bildungssystems mit universellem Zugang auszubauen. Die Praxis hat jedoch einen ganz anderen Verlauf genommen. Heute dient die berufliche Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik vorrangig nur noch als kurzfristige Vermittlungshilfe. Im Zuge der zunehmenden Verengung der Weiterbildungsförderung in den letzten 40 Jahren ist es zu Abspaltungen in andere Finanzierungssysteme gekommen. So wurde nach Beendigung der Förderung der Aufstiegsfortbildung als Ersatz mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG) das steuerfinanzierte sogenannte ‚MeisterBAföG‘ geschaffen. Zudem hat die weitgehende Reduzierung längerfristiger Weiterbildungsmaßnahmen durch die Hartz-Gesetze die Debatte über alternative Finanzierungskonzepte (Steuerfinanzierung, Fondsregelungen, Arbeitsversicherung) wiederbelebt. Im Folgenden soll zunächst nachgezeichnet werden, wie sich die Weiterbildungskonditionen und Teilnehmerstrukturen in der durch die Arbeitsmarktpolitik geförderten beruflichen Weiterbildung in den letzten 40 Jahren entwickelt haben (Abschnitt 2). Anschließend werden die Evaluationsergebnisse zu dieser Weiterbildung skizziert (Abschnitt 3). Es folgt eine Analyse der Teilnahme an beruflicher Weiterbildung insgesamt, also unter Einschluss der betrieblichen Weiterbildung (Abschnitt4). Abschließend werden neue Finanzierungskonzepte skizziert (Abschnitt 5).
2
Vom Recht auf Weiterbildung zur Vermittlungsförderung
Schon im Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 war eine Möglichkeit zur Förderung beruflicher Weiterbildung vorgesehen. Diese setzte jedoch Arbeitslosigkeit voraus und war eine Ermessensleistung. Bis 1969 spielte berufliche Weiterbildung in der Praxis der Arbeitsmarktpolitik nur eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich mit dem AFG von 1969, mit dem erstmals ein Rechtsanspruch auf berufliche Weiterbildung für Arbeitslose und Beschäftigte geschaffen wurde. Weiterbildung sollte nicht alleine Arbeitslosigkeit abbauen oder vermeiden, sondern auch unterwertige Beschäftigung vermeiden und beruflichen Aufstieg ermöglichen. Zugleich sollten damit auch makroökonomische Ziele erreicht werden. Angestrebt war ein auf Wachstum und Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen ausgerichtetes Weiterbildungsgesetz, das aber aus praktischen Erwägungen, vor allem zur Vermeidung des Aufbaus neuer Strukturen und Finanzierungsmodi, in die Hände der Bundesanstalt für Arbeit (BA) gelegt wurde, einer Behörde, die keine gesamtwirtschaftlichen Ziele verfolgt. Das damit erzeugte Spannungsverhältnis zwischen langfristigen makroökonomischen Weiterbildungszielen und
96
Gerhard Bosch
arbeitsmarktpolitischer Vermittlungslogik bestimmt die Weiterbildungspolitik der BA bis heute. Mit dem Rechtsanspruch auf eine berufliche Weiterbildung wollte man 1969 vor allem die individuelle Initiative fördern. Der Kreis der Begünstigten wurde weit gezogen und war nicht auf Beitragszahler beschränkt. Anfangs wurde sogar ein Studium an Hochschulen gefördert. Das Unterhaltsgeld (UHG) lag in den ersten 6 Monaten einer Maßnahme bei 81,25 Prozent des Nettogehalts und erhöhte sich dann auf 87,5 Prozent für die weitere Dauer der Maßnahme. Zudem wurde das UHG dynamisiert, indem nach einem Jahr die Bemessungsgrundlage halbjährlich um 4 Prozent angehoben wurde. Damit wurden insbesondere Anreize für die Teilnahme an längerfristigen Maßnahmen geschaffen. Diese neuen Möglichkeiten wurden dankbar angenommen, wie aus Abbildung 1 ersichtlich. Vor allem schon gut qualifizierte Beschäftigte nutzten die Chance zu einer Aufstiegsfortbildung, während die Förderung von Arbeitslosen bis 1975 nur eine untergeordnete Rolle spielte. Abbildung 1:
Eintritte in berufliche Fortbildung und Umschulung (FuU) 1971 – 1997, entnommen aus: Klose/Bender 2000: 423
In den folgenden Jahren wurden die Leistungen vor allem zur Haushaltssanierung und weniger aus grundsätzlicher Kritik am Sinn von beruflicher Weiterbildung reduziert, wobei es je nach Haushaltslage zwischendurch immer mal wieder auch Verbesserungen zu verzeichnen gab. Die Kürzungen ließen sich sehr gut mit dem Vorrang der Vermittlung von Beitragszahlern in Arbeit vor weiter gefassten bildungspolitischen Zielen begründen. Der Verfasser des Nachfolgegesetzes des AFG beschreibt diese sukzessive Zielverschiebung, wie folgt: „Dabei galt für die Reform der Arbeitsförderung die gleiche Erkenntnis und Grundüberzeugung wie für die Reformen in anderen sozialen Sicherungssystemen, nämlich dass
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
97
die aus vielerlei Gründen erhaltenswerten Sozialversicherungssysteme nur bewahrt werden können, wenn sie auf ihre Kernaufgaben konzentriert und nicht mit Aufgaben aus anderen Bereichen überfrachtet werden“ (Ammermüller 1997: 8). Die wichtigsten Etappen des Umbaus der Weiterbildungsförderung lassen sich so zusammenfassen (Steffens 2008; Weinkopf/Bosch 1992):
Mit dem Haushaltstrukturgesetz von 1976 hatten nur noch Beitragszahler mit einer Mindestdauer von 3 Jahren vorheriger Beitragszahlung einen Weiterbildungsanspruch. Bildungsmaßnahmen im Hochschulbereich wurden nicht mehr gefördert. Das UHG wurde bei arbeitsmarktpolitisch ‚notwendigen‘ Maßnahmen auf 80 Prozent und bei ‚zweckmäßigen‘ (alle Aufstiegsfortbildungen) auf 58 Prozent abgesenkt. Durch das Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetz (AFKG) wurde die Förderung beruflicher Weiterbildung 1982 auf Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte konzentriert. Das UHG für notwendige Maßnahmen wurde von 80 Prozent auf 75 Prozent bzw. 68 Prozent (Personen mit bzw. ohne unterhaltsberechtigte Kinder) verringert und bei Aufstiegsfortbildung nur noch als zinsloses Darlehen gewährt. Die Teilnahme an Weiterbildung galt nunmehr als zumutbar, so dass eine Ablehnung mit Sperrzeiten belegt werden konnte. 1984 wurde mit dem Haushaltstrukturbegleitgesetz das UHG für notwendige Maßnahmen von 75 auf 70 Prozent bzw. von 68 auf 63 Prozent reduziert. Die ‚Neigung des Antragstellers‘ wurde als Förderungsgrund gestrichen. Das UHG-Darlehen für die Aufstiegsfortbildung wurde zur Kann-Leistung. Zur Unterstützung der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung und wegen der verbesserten Haushaltslage im Aufschwung wurde 1985 mit dem 7. Gesetz zur Änderung des AFG das UHG auf 73 Prozent bzw. 65 Prozent des vormaligen Nettogehalts erhöht und für Darlehen für die Aufstiegsfortbildung der Rechtsanspruch wieder eingeführt. In der 9. Novelle des AFG wurde 1989 der Anspruch auf Kostenerstattung für eine Bildungsmaßnahme in eine Kann-Leistung umgewandelt. Durch Veränderung in der FuU-Anordnung wurde es 1991 bis Ende 1992 möglich, in Ostdeutschland auch TeilnehmerInnen zu fördern, die nicht unmittelbar von Kündigung bedroht waren. Auch wurden vorrübergehend wegen des Mangels an Trägern Bildungsmaßnahmen in Hochschulen und Fachschulen gefördert. 1994 wird mit dem 1. Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1.SKWPG) der Rechtsanspruch auf eine UHG bei beruflicher Weiterbildung zur Kann-Leistung. Die Möglichkeit zur Gewährung von Darlehen bei ‚zweckmäßigen‘ Maßnahmen wird endgültig abgeschafft. Das UHG wird auf 65 Prozent bzw. 60 Prozent gekürzt. 1997 wird das AFG durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung abgelöst und in das Sozialgesetzbuch III eingliedert (Ammermüller 1997). In diesem Gesetz werden nicht nur die makroökonomischen Zielsetzungen des AFG sondern auch die Bestrebungen, unterwertige Beschäftigung zu verringern, zugunsten der Vermittlung in jede Beschäftigung aufgegeben. Berufliche Bildung wird zudem zur reinen Ermessungsleistung. In diesem ‚Auswahlermessen‘ haben TeilnehmerInnen mit besseren Eingliederungschancen Vorrang vor TeilnehmerInnen mit geringeren Chancen (Ammermüller 1997: 9). Weiterhin wird der Berufsschutz bei der Vermittlung aufgehoben. Die bishe-
98
Gerhard Bosch rigen fünf Qualifikationsstufen in der Zumutbarkeitsanordnung von 1982 entfallen. Als zumutbar gelten nunmehr alle der Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen entsprechende Tätigkeiten. Es gibt nur noch einen gestaffelten Einkommensschutz, der allerdings mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sukzessive abnimmt. Hinzu kommt, dass mit einer Teilnahme an Weiterbildung keine neuen Arbeitslosengeldansprüche mehr aufgebaut werden können. Nach Beendigung der Maßnahme wird allerdings ein Anschluss-UHG von drei Monaten zur Verbesserung der Vermittlungschancen gewährt. Mit dem Job-AQTIV Gesetz von 2002 wurde das Fenster für die berufliche Qualifizierung Beschäftigter wieder etwas geöffnet. Unternehmer, die An- und Ungelernte qualifizieren, können durch einen Zuschuss zu den Lohnkosten gefördert werden. Kleinen und mittleren Unternehmen, die über 50-jährige qualifizieren, werden die Weiterbildungskosten erstattet. Weiterhin werden bei der Qualifizierung von Beschäftigten Zuschüsse zu den Lohnkosten gezahlt, wenn dafür ein arbeitsloser Vertreter eingestellt wird (Job-Rotation). Das Anschluss-Unterhaltsgeld entfällt und Zeiten der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme werden zur Hälfte auf den Arbeitslosengeldanspruch angerechnet, soweit der Anspruch damit nicht auf unter einen Monat sinkt. Das UHG wird nicht mehr an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst und somit entdynamisiert. Durch die Hartz-Gesetze (2003-2005) wird vor allem die Steuerungslogik in der Weiterbildung verändert. Weiterbildung soll nur noch bei einer zu erwartenden Wiedereingliederungsquote von 70 Prozent gefördert werden. Die Betroffenen werden nicht mehr einer von der BA in Auftrag gegebenen Maßnahme (sogenannte Auftragsmaßnahmen) zugewiesen, sondern erhalten einen Bildungsgutschein, mit dem sie sich selbst eine Maßnahme aussuchen müssen. Die Aufteilung der Arbeitsmarktpolitik auf zwei Rechtskreise lässt unterschiedliche Steuerungslogiken und Denkweisen in zuständigen Institutionen entstehen. Mit ihrem einjährigen Planungshorizont konzentrierte sich die BA zunehmend auf kurzfristige Maßnahmen. Bildungsmaßnahmen ‚rechnen‘ sich für sie nur, wenn sie innerhalb eines Jahres den Gesamtaufwand pro Arbeitslosen verringern. Die Institutionen des Rechtskreises des SGB II (ARGEn, Optionskommunen oder getrennte Aufgabenwahrnehmung) betreuen die weiterbildungsferneren Arbeitslosen. Ihr Planungshorizont ist nicht durch eine Jahresperspektive begrenzt. Allerdings konzentrieren sie sich zunehmend auf andere Maßnahmen, wie die Förderung von Arbeitsgelegenheiten (sogenannte ‚1 Euro-Jobs‘). Mit dem Gesetz zur Neuausrichtung arbeitsmarktpolitischer Instrumente wurde ab 2009 das Instrument der Job Rotation und der institutionellen Förderung in der Weiterbildung abgeschafft. Da die Zahl der Weiterbildungsmaßnahmen nach den Hartz-Gesetzen stark einbrach und vor allem gering Qualifizierte, Ältere und Personen mit Migrationshintergrund prozentual weniger als zuvor gefördert wurden, kam es zu leichten Korrekturen im Verwaltungshandeln. Die Vorgabe einer Wiedereingliederungsquote von 70 Prozent wurde gelockert und vereinzelt wurden auch wieder längerfristige Umschulungsmaßnahmen durch die BA gefördert. Auf Initiative der Gewerkschaften wurde für die betriebliche Weiterbildung An- und Ungelernter ein eigenes Programm (‚Wegebau‘) mit eigenem Budget außerhalb der Steuerungslogik der BA im Vermittlungsgeschäft aufgelegt.
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
99
Die zahlreichen und auch für Experten kaum noch zu überblickenden Änderungen in der Weiterbildungsförderung der BA in den letzten 40 Jahren haben zunächst zu einer schleichenden Zielverschiebung geführt, die 1997 mit der Ablösung des AFG durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung auch manifest wurden. Die wichtigsten Trends der Veränderungen lassen sich so zusammenfassen: Erstens wurde der Rechtsanspruch auf eine berufliche Weiterbildung durch eine Pflicht zur Teilnahme an angeordneter Weiterbildung ersetzt. Individuelle Eigeninitiative ist auf die Einlösung von Bildungsgutscheinen von zuvor verordneten Weiterbildungsmaßnahmen beschränkt. Zweitens wurden abschlussbezogene Weiterbildungen zur Randerscheinung und der Berufsschutz in der Vermittlung abgeschafft. Damit wurde das traditionelle Band zwischen Erst- und Weiterbildung zerschnitten und die bildungspolitische Einheit von Berufsbildungsgesetz und Arbeitsmarktpolitik aufgelöst. Eine zweite Chance zum Eintritt, oder nach strukturellem Wandel zum Verbleib in beruflichen Arbeitsmärkten, ist nur noch in Ausnahmefällen vorgesehen. Drittens wurde das in den 80er Jahren formulierte Ziel der Förderung sogenannter ‚Problemgruppen‘ aufgegeben. Weiterbildungspolitik wurde durch ihre kurzfristige Kosten- und Effizienzorientierung zunehmend selektiver. Vor allem mit den Hartz-Gesetzen sind die Chancen auf eine berufliche Weiterbildung für gering Qualifizierte, Ältere oder Arbeitslose mit Migrationshintergrund in beiden Rechtskreisen drastisch gesunken. Viertens wurde als Kompensation eine kleine präventive Säule der Förderung betrieblicher Weiterbildung von Beschäftigten, vor allem gering Qualifizierter und Älterer in Klein- und Mittelbetrieben, aufgebaut. Fünftens hat sich im Zuge der Hartz-Reformen sowohl in der BA als auch in den Institutionen des SGB II eine weiterbildungsskeptische Haltung etabliert, die anderen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten Vorrang einräumt. Möglicherweise hat sich diese Haltung durch den massiven Kompetenzverlust der BA im Bereich der Weiterbildung verfestigt, die durch die Aufgabe der Auftragsmaßnahmen den direkten Kontakt zu Bildungsträgern und der Planung von Maßnahmen verloren hat. Auch wenn sich die gesetzlichen Veränderungen im Nachhinein als sukzessive Einschränkung der Weiterbildungsförderung lesen lassen, bestand immer die Möglichkeit, den gesetzlichen Rahmen je nach Budgetvorgaben unterschiedlich weit auszuschöpfen. Die von 1977 bis 1993 anhaltende Expansion der Weiterbildungsförderung war nur durch eine expansive Auslegung des Rechtsrahmens und eine entsprechende Budgetierung möglich. So vereinbarten etwa die Bundesregierung und die Sozialpartner unter dem Eindruck des damaligen Fachkräftemangels Mitte der 80er Jahre eine ‚Qualifizierungsoffensive‘, die zu einem nochmaligen Anstieg der Eintritte in Weiterbildungsmaßnahmen in Westdeutschland führte (Abbildung 1). Dabei wurde ausdrücklich eine Politik der ‚Bildung auf Vorrat‘ verfolgt, um künftigem Fachkräftemangel vorzubeugen (Bosch 1993). Dahinter stand die Erfahrung, dass man wegen des langen Planungs- und Durchführungsvorlaufs einer Fachkräfteausbildung eine kurzfristig formulierte Nachfrage der Unternehmen nicht befriedigen konnte. Es bot sich daher an, Arbeitslose in den reformierten und zunehmend breiten Berufsbildern mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten auszubilden. Die Berufsbildungsreformen boten auch für die Weiterbildung die Chance einer verlässlichen Zukunftsorientierung. Bei den traditionellen, sehr eng spezialisierten Berufsbildern bzw. Weiterbildungen für konkrete Tätigkeiten, war hingegen die Gefahr sehr hoch, dass der Markt der Weiterbildung ‚da-
100
Gerhard Bosch
vonläuft‘ (Bosch 1987).1 Nach der deutschen Wiedervereinigung bestand hoher Weiterbildungsbedarf in Ostdeutschland. In den Jahren 1991 und 1992 traten jeweils fast 900.000 Ostdeutsche in Weiterbildungsmaßnahmen ein. Für eine qualitativ befriedigende Weiterbildungspolitik fehlte aber nicht nur die Infrastruktur, sondern es war in dieser Umbruchsituation auch unmöglich, die Maßnahmen zu koordinieren und wegen unzureichender Marktsignale und Erfahrungswerte sinnvoll zu planen. Von dem Imageverlust durch diese teilweise fragwürdigen Massenveranstaltungen, an denen viele Träger gut verdienten, hat sich die Weiterbildungspolitik bis heute nicht erholt. Seit Mitte der 90er Jahre ändert sich die Geschäftspolitik der BA. Es wird zunehmend nur auf Sicht gefahren, also nur für konkret absehbaren Bedarf qualifiziert. Damit wurde die Weiterbildungspolitik prozyklisch, da in Krisenzeiten die Unternehmen weniger einstellen und keinen aktuellen Bedarf äußern. In Abbildung 2 sind bei insgesamt abnehmenden Förderzahlen zyklische Zwischenhochs in den Wirtschaftsaufschwüngen 1998 - 2001 und 2005 - 2006 zu erkennen. Der Übergang zur Bedarfsorientierung traf insbesondere die längerfristigen Umschulungsmaßnahmen, die überproportional verringert wurden und heute nur noch ein Schattendasein fristen.2 Mit den neuen präventiven Qualifizierungsmaßnahmen des Job-AQTIV Gesetzes und des Wegebau-Programms wurden nur kleine Fallzahlen erreicht (IAB 2007). Die Förderbedingungen waren auch restriktiv gehalten, so dass die Betriebe kein großes Interesse entwickelten.3
1 Auch die berufliche Erstausbildung und die Hochschulausbildung bergen wegen ihrer langen Ausreifungszeiten immer die Gefahr, dass sich der Arbeitsmarkt anders als vorausgesagt entwickelt. Zur Verringerung von Fehlinvestitionen wird daher breites Grundlagenwissen mit unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten vermittelt. 2 2007 gab es insgesamt 23.904 Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung mit Abschluss eines anerkannten Ausbildungsberufes (BiBB 2009a: 258) . 3 Erst in der Krise 2009 wurde das Wegebau-Programm für die Weiterbildung auch Qualifizierter, zum Teil in Anschluss an Kurzarbeit, geöffnet und begann stark zu expandieren.
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009 Abbildung 2:
101
Teilnahme an beruflicher Weiterbildung, Deutschland gesamt
Die Geschichte der öffentlichen Förderung beruflicher Weiterbildung wäre unvollständig, wenn man nur die Arbeitsmarktpolitik betrachtet. Vor allem auf Druck des Handwerks, dessen Betriebsinhaber aus dem Kreis der Meister kommen, wurde 1996, also zwei Jahre nach Einstellung der Aufstiegsfortbildung durch die BA, ein Ersatzsystem geschaffen, dass an den Stipendiensystemen für Schüler, Auszubildende und Studenten anknüpft. Das ‚MeisterBAföG‘ unterstützt im Anschluss an eine abgeschlossene Berufsbildung die Teilnahme an Lehrgängen, die zu öffentlich-rechtlich geregelten Fortbildungsabschlüssen nach dem Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung bzw. gleichwertigen anerkannten Fortbildungsabschlüssen führen. Die Förderung ist bis zu 24 Monaten und bei Teilzeitmaßnahmen bis zu 48 Monaten möglich. Die in Abhängigkeit vom Einkommen und Vermögen gewährten Stipendien liegen leicht über den Sätzen für Studenten. Wegen des höheren angenommenen Privatinteresses wurde aber der Darlehensanteil auf 66 Prozent anstelle von 50 Prozent bei den Studenten angesetzt. Durch relativ großzügige Freibeträge beim Vermögen (rund 36.000€) und Nichtanrechnung des selbst genutzten Wohneigentums, sowie einem Teilerlass des Darlehens bei bestandener Prüfung (25 Prozent Erlass) und einem weiteren Erlass bei einer Existenzgründung und der Einstellung von Auszubildenden und Beschäftigten, wurde das ‚Meisterbafög‘ auch für Erwachsene, die schon Geld verdient hatten, attraktiv und zudem in die Nähe eines Existenzgründerprogramms gerückt. Die Förderangebote wurden deshalb auch gut angenommen. So stieg die Zahl der geförderten Anträge von 88.000 im Jahre 2002 auf 134.000 im Jahre 2007 (BiBB 2009a: 260 - 261).
102 3
Gerhard Bosch Evaluation der beruflichen Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik
In den 70er Jahren wurden die zumeist hohen Wiedereingliederungsquoten der TeilnehmerInnen an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen als Beleg für die Effizienz dieser Maßnahmen gewertet (Hofbauer 1979). Danach wurden die Evaluationsmethoden verfeinert. Der Erfolgsmaßstab war nicht mehr die Höhe der Wiedereingliederungsquote, sondern ihre Höhe im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit gleichen Merkmalen und gleicher Ausgangssituation sowie der Verlauf der Wiedereingliederung. Bei den ersten Evaluationen mit Kontrollgruppen in den 80er Jahren, die zu positiven Ergebnissen kam, wurde die mangelnde Vergleichbarkeit mit den Kontrollgruppen sowie die unzureichende Untersuchung des Entwicklungsverlaufes beider Gruppen bemängelt (Kasperek/Koop 1991). Eine weitere Welle von verfeinerten Evaluationsstudien, die sich vor allem auf Daten des sozioökonomischen Panels stützte, kam zu sehr gemischten Ergebnissen. Überwiegend wurde kein oder sogar ein negativer und nur im Einzelnen ein positiver Wiedereingliederungseffekt festgestellt (Fitzenberger/Speckesser 2000). Als wichtigster Grund für eine neutrale bzw. negative Wirkung galt der sogenannte ‚Lock-in‘-Effekt. Damit ist die Tatsache gemeint, dass TeilnehmerInnen von Weiterbildungsmaßnahmen im Vergleich zu Personen in der Kontrollgruppe vorübergehend die Arbeitsplatzsuche einstellen und diesen Zeitverlust später nicht mehr aufholen können. Ohne Zweifel gibt es den ‚Lock-in‘-Effekt und er ist ja auch gewollt, da ansonsten die Weiterbildungsmaßnahme abgebrochen werden müsste. Vor allem bei abschlussbezogenen Maßnahmen mit längeren Ausreifungszeiten kann sich der Markt in der Zwischenzeit auch anders entwickeln, als BA und TeilnehmerInnen bei der Aufnahme der Weiterbildung erhofft haben, was den Übergang in eine neue qualifizierte Beschäftigung erschwert. Zudem kann der Markt durch eine nicht koordinierte Weiterbildungspolitik übersättigt werden. Schließlich bieten Maßnahmen mit zweifelhafter Qualität vermutlich weniger Arbeitsplatzchancen als die Aufnahme einer Tätigkeit mit der Chance zu innerbetrieblichem Lernen. Genau diese Argumente wurden zunehmend gegen Weiterbildung ins Feld geführt. Die Evaluationsstudien der 90er Jahre lieferten die politische Munition zur Einschränkung nicht nur des Niveaus der Weiterbildungsförderung, sondern auch zur überproportionalen Einschränkung der längerfristigen abschlussbezogenen Maßnahmen. Dabei wurde kaum beachtet, dass erstens die Datenbasis dieser Studien unzureichend war und wegen der geringen Fallzahlen keine ausreichende Differenzierung zwischen Maßnahmearten zuließ und zweitens der Untersuchungszeitraum oft nur sehr kurz war und Langfristeffekte nicht berücksichtigt wurden. Eine dritte Generation von Evaluationsuntersuchungen konnte auf einer erheblich verbesserten Datenbasis aufbauen (siehe im einzelnen hierzu Biewen et al. 2006: 371-374). Sie konnte wegen größerer Fallzahlen nicht nur genauer zwischen den unterschiedlichen Weiterbildungsmaßnahmen unterscheiden, sondern nahm auch Mittel- und Langfristwirkungen in den Blick. Diese Untersuchungen rehabilitierten die berufliche Weiterbildungspolitik der BA und dabei insbesondere die vielfach geschmähten abschlussbezogenen Umschulungsmaßnahmen. Während der Laufzeit der Maßnahmen wurde, was eigentlich trivial ist, ein ‚Lock-in‘-Effekt diagnostiziert. Mittel- (1-3 Jahre) und langfristig (4-6 Jahre) zeigten sich aber positive Beschäftigungs- und Einkommenseffekte gegenüber den Vergleichsgruppen. In Ostdeutschland fielen die ‚Lock-in‘-Effekte etwas stärker und die positiven Wirkungen etwas schwächer aus (Biewen et al. 2006: 380). Angesichts der Sondersituation nach dem
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
103
dortigen Strukturbruch, in der Arbeitsmarktpolitik auch eine Auffangrolle spielte, verwundert dies nicht weiter und kann sicherlich nicht für Weiterbildung im ‚Normalgeschäft‘ verallgemeinert werden. Fitzenberger (2008) stellt sich mit Blick auf seine Daten die Frage, ob die starke Reduktion von Förderung beruflicher Weiterbildung in Westdeutschland nicht ein Fehler gewesen sein könnte. Die letzte Evaluationswelle sollte die Erfahrungen mit den Hartz-Gesetzen auswerten. Obgleich die Evaluation der Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) nur einen kurzen Zeitraum (2003-2006) umfasste und somit langfristige Wirkungen ausblendet, stellt sie gerade bei den Umschulungsmaßnahmen einen besonders starken Integrationseffekt fest (Schneider et al. 2007: 13). Interessant sind auch die qualitativen Ergebnisse. Abbildung 3 zeigt, wie sehr sich die interne Geschäftspolitik der BA verändert hat. Die Orientierung am Bedarf der Arbeitslosen ist gegenüber vereinbarten Integrationszielen und Effizienzgesichtspunkten deutlich in den Hintergrund getreten. Die Steuerung der Weiterbildung hängt von der Qualität der jährlichen Bildungszielplanung ab, für die es aber nach allen Erfahrungen keine verlässliche Basis gibt. Die Kompetenz der BA bei der längerfristigen Planung von Weiterbildungsmaßnahmen in der Region schwindet, da sich regionale Netzwerke auflösen und die Kommunikation mit dem Bildungsträger ‚einseitiger‘ wird (Schneider et al. 2007: 9). Die Führungskräfte der BA sehen deshalb ihre Planung als zu ‚vage‘ an, um eine zielorientierte Steuerung des ‚Bildungsmarktes‘ zu bewirken (Deutscher Bundestag 2006: 91). Die Bildungsgutscheine überfordern die Arbeitslosen vielfach und haben nach Ansicht der Agenturen zu einer harten Kundenselektion beigetragen. Im Rechtskreis des SGB II war die „Einpassung von FbW in die neuen ARGE-Prozesse noch nicht abgeschlossen gewesen“ (Schneider et al. 2007: 10). Wegen des höheren Anteils an bildungsfernen Langzeitarbeitslosen „fällt die Ausrichtung von FbW in den ARGEn bei Integrationszielen, Effizienzgesichtspunkten und grundsätzlichen Wirkungserwartungen bislang weniger akzentuiert aus“ (Schneider et al.: 10). Diese etwas kryptische Formulierung soll andeuten, dass sich die ambitionierten Zielgrößen bei der Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen nicht realisieren lassen.
104 Abbildung 3:
Gerhard Bosch Geschäftspolitische Ausrichtung der FbW-Politik, entnommen aus: Schneider et al. 2007:7
Mit der Evaluationsforschung der letzten 15 Jahre wurden durch die Schaffung neuer Datensätze „Träume eines Wissenschaftlers wahr“ (Fitzenberger 2008), genauer gesagt, Träume mikro-ökonomisch quantitativ forschender Wissenschaftler, die in einem sehr engen Zielrahmen forschen. Dies ist an überspitzten Schlussfolgerungen, wie der folgenden, abzulesen: „Selbst ein 100%iger Eingliederungserfolg in Verbindung mit einer Maßnahme ist wertlos, wenn sich ohne Maßnahme der gleiche Eingliederungserfolg einstellt“ (Schneider et al. 2007: 11). Die vielfältigen anderen möglichen Wirkungen gelten damit als belanglos. Weiterbildung kann etwa individuelles Selbstbewusstsein stabilisieren und damit die negativen psychisch-sozialen Wirkungen von Arbeitslosigkeit abwenden oder die Arbeitsbedingungen durch Abbau von Überforderungen mit positiven Folgen für die Gesundheit verbessern. Positive gesamtwirtschaftliche Wirkungen können im Abbau von Fachkräftemangel, der Erhöhung der Produktivität und der Förderung von Innovationen liegen. Es fehlt immer noch eine faire Würdigung des Beitrags der beruflichen Weiterbildung der BA zum Strukturwandel in Ostdeutschland, die immerhin einem beachtlichen Teil der dort Beschäftigten den Übergang in Tätigkeiten mit modernen Technologien und in einem völlig veränderten sozialen und rechtlichen Rahmen ermöglicht hat. Schließlich kann der gesellschaftliche Zusammenhalt durch einen Abbau von sozialer Ungleichheit gestärkt werden. Anzeichen für viele Mikro- und Makrowirkungen sind in anderen Untersuchungen
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
105
festgestellt worden,4 ohne dass es allerdings bislang gelungen ist, sie mit gleicher Präzision wie die Wiedereingliederung zu messen.
4
Teilnahme an beruflicher Weiterbildung insgesamt
Die Förderung beruflicher Weiterbildung durch die Arbeitsmarktpolitik macht nur einen Teil der Weiterbildungsinvestitionen aus. Hinzu kommen noch Weiterbildungsinvestitionen aus anderen öffentlichen Quellen, wie das ‚MeisterBAföG‘, Eigenbeiträge der TeilnehmerInnen sowie die betrieblich finanzierte Weiterbildung. Der Anteil der Investitionen in Weiterbildung (einschließlich der Investitionen in die allgemeine Weiterbildung) am Bruttosozialprodukt ist in den letzten Jahren von 1,48 Prozent 1996 auf 1,05 Prozent 2006, also um fast 30 Prozent zurückgegangen (DIE 2008: 98). So überrascht es nicht, dass die Teilnehmerquote an beruflicher Weiterbildung in Deutschland im letzten Jahrzehnt rückläufig ist (Abbildung 4). Die größten Rückgänge entfielen auf die schon beschriebenen Einschnitte in die berufliche Bildung in der Arbeitsmarktpolitik. Aber auch die Unternehmen haben ihre Weiterbildungsinvestitionen teilweise deutlich zurückgefahren. Im europäischen Vergleich liegen die deutschen Unternehmen nur im Mittelfeld, mit hohen Rückständen gegenüber den skandinavischen Ländern, aber auch Frankreich, das mit seinem Weiterbildungsfonds beachtliche Teilnahmequoten erreicht (BIBB 2009b). In Deutschland sind die Differenzen zwischen der Weiterbildungsteilnahme nach Altersgruppen und Qualifikationsstufen deutlich ausgeprägter als etwa in Frankreich5 mit seinen Weiterbildungsfonds oder Schweden und Dänemark mit ihrer weiterbildungsorientierten Arbeitsmarktpolitik und ihren Stipendien für die allgemeine und berufliche Weiterbildung Erwachsener (Tabelle 1).
4 So geben in drei Befragungen von 1997, 2000 und 2003 jeweils deutlich mehr als drei Viertel aller Befragten an, nach einer beruflichen Bildung ihre Arbeit besser als vorher erledigen zu können (BMBF 2005: 102), ein möglicher Indikator für Stressabbau, Gesundheitsförderung und Produktivitätserhöhung. 5 In Frankreich brechen allerdings die Weiterbildungszahlen für die über 55jährigen aufgrund der immer noch üblichen Frühpensionierung stark ein. Die Beschäftigtenquote der 55-64-jährigen lag 2007 in Frankreich bei 38,3 Prozent, in Deutschland bei 51,5 Prozent und in Dänemark bei 58,6 Prozent (European Commission 2008: 232 ff) .
106
Gerhard Bosch
Abbildung 4: Schaubild 4: Teilnahme an beruflicher Weiterbildung 1979 – 2007. Basis: alle 19 – 64 Jährigen, Quelle: TNS Infratest Sozialforschung 2008: 12
Tabelle 1: Zu erwartende Teilnahmestunden an berufsbezogener Fort- und Weiterbildung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren nach Alter und Bildungsabschluss, Quelle: OECD 2008: 445 25-34 Jahre 35-44 Jahre 45-54 Jahre 55-64 Jahre Unterhalb Sekundarstufe I
239
243
171
65
Sekundarstufe II
205
284
199
147
Tertiärer Bereich
282
379
362
207
Unterhalb Sekundarstufe I
245
118
75
12
Sekundarstufe II
324
227
123
18
Tertiärer Bereich
488
291
206
76
Unterhalb Sekundarstufe I
54
39
32
5
Deutschland Sekundarstufe II
162
120
87
22
Tertiärer Bereich
243
187
153
66
Dänemark
Frankreich
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
107
Das berufliche Bildungssystem bietet in Deutschland nicht nur Orientierungspunkte für individuelle Weiterbildungsinitiativen, wie wir beim ‚MeisterBAföG‘ sahen, sondern auch für die betriebliche Weiterbildung. So werden etwa in 40 Prozent der Betriebe das Ausbildungspersonal auch für Weiterbildung genutzt. In 68 Prozent der weiterbildenden Unternehmen, in denen Berufe ausgebildet werden, die Wahlqualifikationen beinhalten, werden die Inhalte der Zusatzqualifikationen auch für Weiterbildungszwecke genutzt (BIBB 2009b). Diese mehrfache Nutzung von Wahlqualifikationen zeigen Chancen der besseren Verzahnung der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die künftig in der Neuordnung von Berufen stärkere Beachtung finden sollten.
5
Alternative Finanzierungskonzepte
Die starken Einschnitte in die öffentlich geförderte und betrieblich berufliche Weiterbildung sowie ihre zunehmende Selektivität ist aus mehreren Gründen nicht nachhaltig. Erstens ist der vorzeitige Rentenbezug erheblich erschwert und verteuert worden. Die Voraussetzungen, dass Ältere auch tatsächlich länger arbeiten können, sind allerdings noch nicht geschaffen worden. Die weiterhin geringen Beschäftigungsquoten der geringer qualifizierten Älteren zeigen, dass die Rentenreformen bildungspolitisch unterfüttert werden müssen, damit sie nicht nur die Arbeitslosigkeit Älterer erhöhen (Bosch/Schief 2009). Zweitens muss weiterhin eine große Zahl von Zuwanderern integriert werden. Viele von ihnen haben keine oder eine in Deutschland nicht anerkannte Berufsbildung. Eine berufliche Weiterbildung in Verbindung mit einem erleichterten Anerkennungsverfahren kann berufliche Arbeitsmärkte für sie öffnen und ein Abgleiten in Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Drittens differenzieren sich Bildungs- und Erwerbsbiographien in Deutschland aus. Nicht jeder nimmt den gradlinigen Weg durchs Bildungssystem. Zudem wurden Patchwork-Karrieren mit geringen Bildungschancen auf dem Arbeitsmarkt6 mit der Deregulierung von Beschäftigungsformen, vor allem der Leiharbeit sowie der Mini- und Midijobs, zielgerichtet gefördert. Wer mehr externe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt in einer Wissensgesellschaft ohne ihre negativen Begleiterscheinungen, wie Fachkräftemangel und wachsende soziale Polarisierung, will, muss die Beschäftigungsfähigkeit dieser mobilen Arbeitskräfte durch zusätzliche Lernangebote stärken. Zur Finanzierung der beruflichen Weiterbildung Erwachsener bieten sich folgende Optionen an, die zum Teil in anderen Ländern schon praktiziert werden:
Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission „Finanzierung lebenslangen Lernens“ (2004) hat ein ‚ErwachsenenBAföG‘ vorgeschlagen. Im Anschluss an das schwedische und dänische Vorbild sollen Maßnahmekosten und Lebensunterhalt beim Nachholen schulischer und beruflicher Abschlüsse von Erwachsenen bis zum 50. Lebensjahr bei Bedarf durch Zuschüsse und Darlehen gefördert werden. In der Arbeitsmarktpolitik sollten abschlussbezogene Weiterbildungen für Personen ohne Berufsausbildung und Personen, die in ihrem Beruf nicht mehr tätig sein können,
6 Im Vergleich zu einem unbefristet Vollzeitbeschäftigten lieget die Chance einer Teilnahme an einer Weiterbildung für einen befristet Vollzeitbeschäftigten bei 0,82, einen LeiharbeitnehmerInnen bei 0,61 und bei einem gering Beschäftigten sogar nur bei 0,17 (Brehmer/Seifert 2007: 35).
108
Gerhard Bosch wieder als Instrument der nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt genutzt werden. Jedem Beschäftigten wird ein bestimmtes Kontingent an Weiterbildungsstunden zur Verfügung gestellt, das er oder sie flexibel im Erwerbsverlauf abrufen können. Zur Finanzierung wird die BA zu einer Arbeitsversicherung für Beschäftigte ausgebaut, die für diese Bildungskonten einen Teil der Beiträge reserviert.7 Die Unterinvestition in betriebliche Weiterbildung wird durch eine Fondsfinanzierung, wie wir sie in vielen europäischen Ländern finden (CEDEFOP 2008) verringert. Solche Fonds können flächendeckend oder für besondere Branchen oder Beschäftigungsgruppen, wie z.B. LeiharbeitnehmerInnen, eingerichtet werden. Ein Fonds konnte auch die Finanzierung der innerbetrieblichen Weiterbildungsprogramme der BA übernehmen, die eigentlich wegen des hohen betrieblichen Eigeninteresses systemfremd und immer in der Gefahr sind, betriebliche Investitionen zu ersetzen.
Diese Instrumente können auch kombiniert werden. So hat man in Frankreich 2004 für alle Beschäftigten einen individuellen Weiterbildungsanspruch von 20 Stunden pro Jahr geschaffen, der auf 120 Stunden kumuliert werden kann. Gleichzeitig wurde die Fondsumlage für betriebliche und individuell initiierte Maßnahmen von 1,5 auf 1,6 Prozent der Bruttolohnsumme erhöht. Für LeiharbeitnehmerInnen und befristet Beschäftigte müssen wegen des höheren Arbeitsplatzrisikos 2 Prozent abgeführt werden. Die neuen individuellen Rechte wurden erstaunlich schnell genutzt. 2005 wurden die Stunden von 29.000 Personen beansprucht, 2006 von 166.000 und 2007 schon von 400.000. Für 2008 wurde mit 500.000 gerechnet (La Cour des Comptes 2008: 39). Für Deutschland bietet sich eine Kombination von Maßnahmen an, die sowohl die individuelle Weiterbildungsinitiative fördern, als auch die langfristige Beschäftigungsfähigkeit Arbeitsloser und von Arbeitslosigkeit Bedrohter im Strukturwandel fördert. So ließe sich ein ErwachsenBAföG ohne große technische und juristische Probleme in die schon bestehenden Systeme des Schüler-, Lehrlings-, Studenten- und MeisterBAföGs integrieren. In der Arbeitsmarktpolitik ist ein Umsteuern sicherlich schwieriger. Man könnte zwar in der BA ein eigenes Umschulungsbudget außerhalb der jetzigen Steuerungslogik verankern. Gleichzeitig müsste man aber die Mitarbeiter, denen in den letzten Jahren ‚Neinsagekompetenzen gegenüber den Kunden‘ (Schneider et al. 2007: 8) antrainiert wurden, wieder vom Wert längerfristiger Weiterbildungsmaßnahmen zu überzeugen und ‚Jasagekompetenzen‘ entwickeln.
6
Schlußfolgerungen
Mit dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969 wurde ein Anspruch auf berufliche Weiterbildung verankert, der seiner Zeit weit voraus war. Es wurde aber versäumt, dafür adäquate Finanzierungsstrukturen zu entwickeln. Dieser Webfehler sollte in den folgenden Jahren auf Kosten der Weiterbildung gehen. Im Zuge der mehrfachen Haushaltskonsolidierungen wurde die Förderung beruflicher Weiterbildung sukzessive auf Arbeitslose eingeschränkt und schließlich auf eine rein kurzfristige Vermittlungshilfe reduziert. Die teilweise negati7 Dieser Vorschlag wird vor allem in der SPD diskutiert, die eine Arbeitsgruppe zur ‚Arbeitsversicherung‘ eingerichtet hat.
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
109
ven Evaluierungsergebnisse der 1990er Jahre dienten als willkommene Rechtfertigung für Budgetkürzungen. Die neueren Evaluierungen haben vor allem längerfristige Weiterbildungen wieder rehabilitiert und zeigen positive Wiedereingliederungswirkungen. Bedenklich ist die zunehmende Verengung der Evaluationskriterien, die sich auch in einer wertenden Sprache ausdrücken. Weiterbildung wird mit dem Begriff ‚Lock-in‘ unter den Generalverdacht gestellt, von der Arbeitsplatzsuche abzuhalten. Künftige Evaluationen sollten über die Untersuchung der Wiedereingliederung auch die vielfältigen sonstigen sozialen und ökonomischen Wirkungen von beruflicher Weiterbildung in den Blick nehmen. Vor allem fehlen Untersuchungen über die Programmplanung vor Ort, ohne die man die Qualität von Weiterbildungsmaßnahmen nicht verbessern kann. Obgleich der Bedarf an Weiterbildung mit der Heraufsetzung des Rentenalters, der Zuwanderung und der Prekarisierung der Beschäftigung gestiegen ist, sind die Weiterbildungsinvestitionen gesunken. Berufliche Weiterbildung lässt sich sicherlich nicht mehr, wie bei Verabschiedung des AFG, über eine Finanzierungsquelle unterstützen. Von daher ist eine neue Kombination unterschiedlicher Finanzierungsmechanismen anzustreben, die Stipendien für Erwachsene, Umschulungen über die Arbeitsmarktpolitik, Fonds für die betriebliche Weiterbildung und individuelle Ziehungsrechte einschließen kann. Schließlich sollte man wegen der sogar wachsenden Bedeutung beruflicher Arbeitsmärkte durch die Förderung von abschlussbezogenen Maßnahmen die Einheit zwischen Berufsbildung- und Arbeitsmarktpolitik wieder herstellen, was allerdings auch Reformen im Berufsbildungssystem, wie etwa die Entwicklung zusätzlicher Wahl- oder Weiterbildungsmodule, erfordert.
Literatur Ammermüller, M. (1997): Grundlinien. In: Bundesarbeitsblatt 7-8. 7-13. BIBB (2009a): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn BIBB (2009b): Ein Blick hinter die Kulissen der betrieblichen Weiterbildung in Deutschland. Daten und Fakten der nationalen CVTS3 Zusatzerhebung. Datenreport No. 7. Bonn. http://datenreport.bibb.de/media2009/datenreport_bbb_090525_screen.pdf Biewen M./Fitzenberger, B./Osikomino, A./Völter, R./Waller, M. (2006): Beschäftigungseffekte ausgewählter Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme. In: ZAF Heft 3 und 4. 365-390. BMBF (2005): Berichtssystem XI. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung zur Weiterbildungssituation in Deutschland. Berlin Bosch G. (1987): Qualifizierungsinitiative und regionale Weiterbildungsplanung. In: WSIMitteilungen 10/1987. 589- 599. Bosch G. (1993): Regionale Entwicklung und Weiterbildung. In: Berufliche Weiterbildung als Faktor der Regionalentwicklung. Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover ALR 193. 63-80. Bosch G. (2008): Herausforderungen für das deutsche Berufsbildungssystem. In: Zimmer, G./ Dehnbostel, P. (Hrsg.) (2008): Berufsausbildung in der Entwicklung - Positionen und Leitlinien: duales System, schulische Ausbildung, Übergangssystem, Modularisierung, Europäisierung. Bielefeld. 47-67. Bosch, G./Schief, S. (2009): Zur Beteiligung Älterer auf dem Arbeitsmarkt: lebenslanges Lernen als Kernelement einer Beschäftigungsstrategie. In: Kocka, J./Staudinger, U. M. (Hrsg.) (2009): Al-
110
Gerhard Bosch
tern, Bildung und lebenslanges Lernen. Halle an der Saale: Dt. Akad. der Naturforscher Leopoldina. 199-217. Brehmer, W./Seifert, H. (2007): Wie prekär sind atypische Beschäftigungsverhältnisse? Eine empirische Analyse. WSI-Diskussionspapier Nr. 156. Düsseldorf. CEDEFOP (2008): Sectoral training funds in Europe. Cedefop panorama series 156. Luxemburg. Deutscher Bundestag (2006): Bericht der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt Drucksache 16/505. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/005/1600505.pdf DIE (2008): Trends der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2008. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. European Commission (2008): Employment in Europe 2008. Luxemburg. Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens (2004): Schlussbericht der unabhängigen Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens. Der Weg in die Zukunft. Bertelsmann Schriftenreihe Bd. 6. Bielefeld. http://www.bmbf.de/pub/schlussbericht_kommission_lll.pdf Fitzenberger B./Speckesser S. (2000): Zur wissenschaftlichen Evaluation der Aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Ein Überblick. In: MittAB. 3. 357-370. Fitzenberger B. (2008): „Perspektiven aktiver Arbeitsmarktpolitik“ – Evaluationsergebnisse zur aktiven Arbeitsmarktpolitik in der Diskussion – Die durch die BA geförderte berufliche Weiterbildung, Vortrag im Rahmen des Spitzengesprächs "Perspektiven der aktiven Arbeitsmarktpolitik", Termin: 21. Februar 2008, Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg (http://doku.iab.de/ veranstaltungen/2008/Spitzengespraech_2008_BerndFitzenberger.pdf, letzter Abruf: 29.06. 2009) Geissler, R. (2002): Die Sozialstruktur Deutschlands. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Hofbauer, H. (1979): Wirksamkeit der beruflichen Erwachsenenbildung. In: MittAB. 1. 42-50. IAB (2007): Wenig Betrieb auf neuen Wegen der betrieblichen Weiterbildung. In: IAB-Kurzbericht Nr. 23. Nürnberg. Kasperek P./Koop W. (1991): Zur Wirksamkeit von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. In: MittAB. 2. 317-331. Klose, C./Bender, S. (2000): Berufliche Weiterbildung für Arbeitslose – ein Weg zurück in die Beschäftigung. Analyse einer Abgängerkohorte des Jahres 1986 aus Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung mit einer ergänzten IAB-Beschäftigtenstichprobe 1975-1990. In: MittAB. 3. 421-444. La Cour des Comptes (2008): Rapport public thématic «la formation professionnelle tout au long de la vie. Paris. Marsden, D. (1990): Institutions and labour mobility: occupational and internal labour markets in Britain, France, Italy and West Germany. In: Brunetta R./Dell’Aringa C. (1990) (Hrsg.): Labour relations and economic performance. Proceedings of a conference held by the International Economic Association in Venice, Italy. 414 – 438. OECD (2008): Bildung auf einen Blick. Paris Sachverständigenkommission Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung (1974): Kosten und Finanzierung der außerschulischen beruflichen Bildung (Abschlußbericht). Bielefeld. Schneider H. et al. (2007): Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der HartzKommission. IZA Research Report 10. Bonn. Siegers, J. (1973): Der Arbeitsförderungsbericht der Bundesregierung. In: Bundesarbeitsblatt. 6. 281286. Steffen J. (2008): Sozialpolitische Chronik. Arbeitslosenversicherung (seit 1969). Bremen: Arbeitnehmerkammer Bremen. TNS Infratest Sozialforschung (2008): Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland – Eckdaten zum BSW-AES 2007. München. Voelzke, T. (1991): Weiterbildung und Arbeitsmarktpolitik. Rechtliche Aspekte der Regelung der individuellen Weiterbildungsförderung im Arbeitsförderungsgesetz. In: MittAB. 2. 256-262.
Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009
111
von Rosenbladt, B./Bilger, F. (2008): Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland. Eckdaten zum BSW-AES 2007. TNS Infratest Sozialforschung, München im Projektverbund mit Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE), Bonn, Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung (IES), Hannover, Helmut Kuwan Sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung, München. Weinkopf, C./Bosch, G. (1992): Berufliche Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik: Anforderungen an einen Reformkonzept“. In: WSI Mitteilungen 6/1992. 388 - 396.
112
Peer Rosenthal
Peer Rosenthal
Arbeitslosenversicherung im Wandel
1
Einleitung
Die Arbeitslosenversicherung (ALV) ist die jüngste der klassischen Sozialversicherungen. Sie wurde erst 1927 nach intensiven politischen Auseinandersetzungen verabschiedet und vereint die Lohnersatzleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit und die Maßnahmen der Arbeitsförderung. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde auf die Grundpfeiler des Arbeitslosenversicherungssystems der Weimarer Republik zurückgegriffen. Nichtsdestotrotz stellt die Geschichte der ALV keine lineare Entwicklung dar. Sie ist vielmehr davon geprägt, welche Vorstellungen für eine Politik der Arbeitslosigkeit und des Arbeitsmarktes bei den Entscheidungsträgern handlungsleitend (gewesen) sind. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Policy-Prinzipien der ALV beschrieben. Daran anschließend werden Ziele und Funktionen der ALV im Spannungsverhältnis zwischen normativ begründeten sozialpolitischen Zielsetzungen und ökonomischen Effizienzkriterien dargelegt. In Kapitel vier wird die Geschichte einer Versicherung im Wandel am Beispiel der originären Versicherungsleistung Arbeitslosengeld (ALG) nachgezeichnet. Der Bedeutungsverlust der ALV steht im Mittelpunkt des fünften Abschnitts: es werden Gründe für diese Entwicklung beschrieben sowie auf eine fortschreitende Dualisierung des Arbeitslosensicherungssystems in Deutschland hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird abschließend der Frage nachgegangen, ob das Versicherungssystem mit dem neuen arbeitsmarktpolitischen Paradigma der Aktivierung überhaupt vereinbar ist.
2
Die Policy-Prinzipien der Arbeitslosenversicherung im konservativkorporatistischen Wohlfahrtsstaatsregime1
2.1 Soziales Risiko Arbeitslosigkeit im Versicherungssystem Die den deutschen Sozialstaat kennzeichnende Dominanz des Versicherungssystems findet sich in der Absicherung des „sozialen Risikos“ von Arbeitslosigkeit durch die Institution der ALV wieder. Diese institutionalisiert den politischen Risikoausgleich zur Reduzierung von Unsicherheiten (Nullmeier/Rüb 1993: 84). Kennzeichen einer Versicherung ist es, durch die Zusammenfassung eines Personenkreises eine Sicherung durch Ersatz des Schadens sowie eine Garantie auf Erfüllung der eigentlichen Versicherungsfunktion für den Fall zukünftiger und ungewisser Ereignisse herzustellen (Sell 1998: 534). Die Versicherung des sozialen Risikos Arbeitslosigkeit ist 1 Unter Policy-Pinzipien wird darauf rekurriert, dass Entwicklungen der Sozialpolitik „in allen Situationen durch Mischungen vielfältiger und unterschiedlicher Ziele, Interessen, Normen und Wissensbestände geprägt“ (Nullmeier/Rüb 1993: 93) und damit im Kern politisch bestimmt sind.
Arbeitslosenversicherung im Wandel
113
komplex, da die Ursachen von Arbeitslosigkeit immer eine Mischung aus individuellen und sozialen, angebots- und nachfrageseitigen sowie endogenen und exogenen Faktoren darstellen (Schmid 2002: 334), so dass sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe kaum mathematisch berechnen und versicherungstechnisch kalkulieren lassen (Bäcker et al. 2008: 522). Die Sozialversicherung zielt darauf ab, durch die Gewährleistung sozialer Rechte, soziale Risiken zu kompensieren und diese Kompensationsleistungen staatlicherseits zu garantieren. So ist der Staat zur Finanzierung von Leistungen in Form von Darlehen bzw. Zuschüssen verpflichtet, wenn die Einnahmen und Rücklagen der Arbeitsverwaltung nicht ausreichen (Defizitdeckung). Der durch die ALV institutionalisierte Risikoausgleich hat zur Grundlage, dass bestimmte Tatbestände als risikobehaftet anerkannt, entsprechende Lebenslagen normiert und mit einem Anspruch auf Sozialleistungen verknüpft werden. Daraus ergibt sich, dass die politische Interventionsebene nicht erst bei Schadenseintritt ansetzt, sondern einen Personenkreis festlegt, für den die Möglichkeit des Eintritts von Schäden identifiziert wird (Nullmeier/Rüb 1993: 86). Dies bedingt, neben der obligatorischen Versicherung einer festgelegten Gruppe, eine Umlagefinanzierung über einkommensproportionale Beiträge (Rüb 2003: 317). So wird eine Gemeinschaft von Versicherten konstruiert und damit ein Risikoausgleich nach dem Solidarprinzip implementiert. Vor diesem Hintergrund wird der Unterschied zwischen einem politisch gewollten und sozialrechtlich verfassten Risikoausgleich in Form der Sozialversicherung im Vergleich zu einer privatrechtlich organisierten Versicherung deutlich. Im Mittelpunkt der Privatversicherung steht eine auf dem Kosten-Nutzen-Kalkül gründende individualisierte Absicherung gegen ein berechenbares und einzelwirtschaftlich kalkulierbares Risiko. Die Versicherungspflicht entfällt. Die Grundlage bildet ein privatrechtlicher Vertrag, durch den ein zweiseitiges verpflichtendes Rechtsverhältnis auf dem Versicherungsmarkt geschlossen wird. Es werden risikoabhängige Prämien festgeschrieben, die allein der Versicherte zu tragen hat, und im Schadensfall wird ein wertentsprechender Schadensersatz bereitgestellt (Nullmeier/Rüb 1993: 77 ff.).
2.2 Lohnarbeitszentrierung und Lebensstandardsicherung als Charakteristika im internationalen Vergleich Die einflussreichste Typologie vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung stellt das Regimemodell von Esping-Andersen (1990) unter Verwendung des Ansatzes der sozialen Staatsbürgerrechte (Marshall 1992 [1949]: 33 ff.) dar. Esping-Andersen bildet anhand von zentralen Unterscheidungskriterien ab, inwieweit erstens durch staatliche Politik der Warencharakter der Arbeitskraft eingeschränkt und die Marktabhängigkeit der BürgerInnen reduziert (De-Kommodifizierung), zweitens soziale Ungleichheit strukturiert (Stratifizierung) und drittens die Wohlfahrtsproduktion zwischen Staat, Markt und Familie organisiert wird. Darauf gründend unterscheidet er drei Typen von Wohlfahrtsstaatsregimen: das liberale, das konservativ-korporatistische und das sozialdemokratische (siehe Sesselmeier/Somaggio in diesem Band). Das deutsche Sozialmodell wird dem Typ des konservativ-korporatistischen Regimes zugeordnet. Daraus ergeben sich spezifische Charakteristika hinsichtlich der Organisation sozialer Sicherung, der sozialen Ungleichheit und der Formen gesellschaftlicher Integration
114
Peer Rosenthal
und Ausgrenzung. Die Integration in die Sozialversicherungen ist an das Beschäftigungsverhältnis geknüpft, so dass von einem lohnarbeitszentrierten Modell gesprochen wird (Nullmeier/Vobruba 1994: 12). Folglich wird soziale Sicherung selektiv organisiert, die ALV stellt kein System der universellen Sicherung bzw. Staatsbürgerversorgung dar. Die Höhe der Leistungen folgt dem Ziel der Lebensstandardsicherung, indem sie sich am vorherigen Einkommen orientiert. Dadurch findet eine Reproduktion der auf dem Arbeitsmarkt bestehenden Lohnungleichheiten statt, bestehende Statusdifferenzen werden konserviert und der Stratifizierungrad ist dementsprechend groß.
2.3 Reziprozitätsnormen in der Arbeitslosenversicherung Grundlegendes Gerechtigkeitsprinzip des deutschen Sozialstaats und damit auch der ALV ist die Leistungsgerechtigkeit (siehe Gronbach in diesem Band). Dies bedeutet, dass sich die in das Sozialversicherungssystem eingelassenen Verteilungsstandards auf die im Arbeitsmarkt legitimierte Verteilungslogik beziehen. Grundlage für diese Leistungsvorstellung bildet ein Dreischritt, wonach Qualifikationsniveaus in entsprechende berufliche Positionierungen überführt würden, diese ein entsprechendes Einkommen nach sich ziehen würden und schließlich ein bestimmtes Niveau sozialstaatlicher Absicherung begründen (Nullmeier/Vobruba 1994: 32). Anders gesagt: Auf der Basis erreichter Marktpositionen ergeben sich Ansprüche an das Versicherungssystem. Diese Orientierung ist in der Bevölkerung stark verankert und scheint grundlegend für die gesellschaftliche Akzeptanz der ALV (siehe Nüchter/Schmid in diesem Band). Die Leistungsgerechtigkeit ist durch das Äquivalenzprinzip institutionalisiert. Dies zeigt sich in einkommensproportionalen Beiträgen, die paritätisch von ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern erbracht und in Bezug auf das Arbeitnehmerbrutto bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben werden. Für die Höhe des Arbeitslosengeldes ist wiederum die Höhe der geleisteten Beiträge ausschlaggebend, zur Berechnung wird das vorherige Nettoeinkommen herangezogen.2 Der Anspruchszeitraum auf ALG richtet sich nach der Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung und wurde später durch die Berücksichtigung des Lebensalters der Arbeitslosen ergänzt. Es besteht also ein Entsprechungsverhältnis zwischen erbrachten Beiträgen und den zu erwartenden Leistungen. Infolgedessen ist die interpersonelle Umverteilungsfunktion der ALV begrenzt. Um Ansprüche auf ALG geltend machen zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. So muss innerhalb eines definierten Zeitraums (Rahmenfrist) für eine festgelegte Dauer (Anwartschaftszeit) einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen worden sein. Dementsprechend drohen bei Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis (Bäcker et al. 2008: 434) Sicherungsdefizite. Darüber hinaus ist die Zahlung von ALG an weitere Anspruchskriterien geknüpft, die unter den Begriff der Reziprozitätsnormen gefasst werden können. Diese Normen gründen auf innergesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und haben eine Koppelung von Rech2 Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird im Fall von Arbeitslosen mit Kindern durch das Bedarfsprinzip ergänzt, da in diesen Fällen ein höheres Arbeitslosengeld gezahlt wird (siehe Gronbach in diesem Band; Nullmeier/Vobruba 1994: 25). Kritisch zu dem Verhältnis Leistungsgerechtigkeit auf der einen und einkommensproportionale Beiträge, Beitragsbemessungsgrenze und Beitragsfreiheit anderer Einkommensarten jenseits der Erwerbsarbeit auf der anderen Seite vergleiche Nullmeier/Vobruba (1994: 27).
Arbeitslosenversicherung im Wandel
115
ten und Pflichten zum Ergebnis. Die Pflichten können die auf sozialen Rechten basierenden Ansprüche relativieren (Lessenich/Mau 2005: 261 ff.). Reziprozität kann als Überbegriff für Normen verstanden werden, die wechselseitige Verpflichtungsbeziehungen zwischen unterstützendem Kollektiv und unterstützungsbedürftigem Individuum begründen. Grundsätzlich beinhaltet jedes Leistungssystem individuelle Pflichten zur Vermeidung, Reduzierung oder Beendigung von Leistungen. Es hängt allerdings von der konkreten Ausgestaltung ab, in welchem Umfang die Pflichten normiert, kontrolliert und durchgesetzt werden (Brettschneider 2007: 114 ff.). Institutionelle Umsetzung erfahren die Reziprozitätsnormen in der ALV durch die Definition der Arbeitslosigkeit, der Arbeitslosmeldung, der Verfügbarkeit, der Zumutbarkeit und der Sanktionsregelungen. Solche festgelegten „Reziprozitätspolitiken“ (Lessenich/Mau 2005: 271) sind demnach:
Arbeitslosigkeit: Per Gesetz wird der Status der Arbeitslosigkeit definiert. Dazu zählen Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen und Verfügbarkeit. Arbeitslosigkeit ist Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von ALG. Arbeitslosmeldung: Hier wird bestimmt, wann eine Arbeitslosmeldung erfolgen oder erneuert werden muss und wie allgemeine Meldepflichten geregelt sind. Verfügbarkeit: Durch die Verfügbarkeit wird bestimmt, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitslose für eine versicherungspflichtige Beschäftigung zur Verfügung stehen muss, Vorschlägen der Arbeitsverwaltung zur Eingliederung Folge leisten kann oder der Aufnahme einer Beschäftigung gesundheitliche Gründe entgegenstehen. Zumutbarkeit: In diesem Zusammenhang spielen Regelungen zur Aufgabe eines bestehenden Arbeitsverhältnisses eine Rolle. Darüber hinaus legen die Zumutbarkeitskriterien fest, ob im Falle von Arbeits- oder Maßnahmeablehnung bzw. Abbruch das Verhalten der Arbeitslosen gerechtfertigt ist. Hinsichtlich der Aufnahme einer neuen Beschäftigung sind Bestimmungen bzgl. Qualifikation, Arbeitsentgelt und Mobilitätsanforderungen von besonderer Bedeutung. Sperrzeiten: Sperrzeitenregelungen legen versicherungswidriges Verhalten fest, das mit einer Sperrzeit von bestimmter Dauer zu belegen ist. Während der Sperrzeit ruht der Anspruch auf ALG. Zudem wird bestimmt, ob die Sperrzeit auf die Anspruchsdauer angerechnet wird.
Zusammenfassend und in Bezugnahme auf die Kriterien Esping-Andersens lässt sich festhalten, dass die de-kommodifizierende Wirkung der deutschen ALV sozial selektiv organisiert ist und kein gleiches Recht auf De-Kommodifizierung für alle gilt. Es muss vielmehr von einem asymmetrischen De-Kommodifizierungssystem gesprochen werden, in dem die Zugänge einer mit diesbezüglichen sozialen Rechten versehenen Gruppe immer auch den Ausschluss einer anderen Gruppe begründen (Lessenich 1998: 97). Darüber hinaus ist durch Beitragsbemessungsgrenze und Äquivalenzprinzip die interpersonelle Umverteilungswirkung der ALV begrenzt und die Stratifizierungswirkung hoch. Dagegen sichert das Versicherungsprinzip individuelle und damit nicht bedürftigkeitsgeprüfte Ansprüche, wenn aufgestellte Reziprozitätserwartungen erfüllt werden.
116 3
Peer Rosenthal Ziele und Funktionen der Arbeitslosenversicherung
Neubauer und Bäcker (2003: 234) identifizieren sieben Ziele der ALV. Erstens zielt sie auf die finanzielle und soziale Absicherung von Versicherten ab, wodurch ein starkes Absinken des Lebensstandards vermieden werden soll, und folgt damit einer sozialpolitischen Funktionslogik. Zweitens reduziert die materielle Absicherung den Kommodifizierungsgrad, stellt Zeit für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zur Verfügung und verringert damit den Druck auf die Arbeitslosen, jede Beschäftigung annehmen zu müssen. Infolgedessen ist eine höhere Passgenauigkeit (matching) zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage zu erwarten und damit eine wichtige arbeitsmarktpolitische Funktion gewährleistet. Eng damit verbunden ist drittens die Sicherung des sozialen Friedens durch die Existenz eines gesellschaftlich akzeptierten Sicherungssystems im Falle von Massenarbeitslosigkeit. Weitergehend wird durch die de-kommodifizierende Wirkung der ALV der Druck auf bestehende Lohn- und Tarifstandards reduziert. Dieses Ziel lässt sich der gesellschaftlichen Funktionsebene zuordnen. Viertens ist die konjunkturpolitische Funktion zu nennen, da durch die Lohnersatzleistungen Einkommensverluste infolge von Arbeitslosigkeit teilweise kompensiert werden und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gestützt wird. Fünftens fördert die Existenz einer ALV die Risikobereitschaft von ArbeitnehmerInnen bei Weiterbildungs- und Berufsentscheidungen. Dies ist insbesondere in Zeiten wechselhafter wirtschaftlicher und struktureller Rahmenbedingungen von Bedeutung, so dass letztlich von einer wachstums- und insbesondere strukturpolitischen Funktion gesprochen werden kann. Sechstens sorgt eine bundesweit organisierte ALV dafür, dass die regional variierenden Arbeitslosenquoten nicht zu einer unverhältnismäßig hohen Belastung der besonders betroffenen Gebietskörperschaften führen, weil eben jene Regionen entlastet werden, die infolge des Strukturwandels überproportional hohe Arbeitslosenquoten aufweisen. Damit erfüllt die ALV eine bundesweite Ausgleichsfunktion. Siebtens führt eine entgeltbezogene ALV dazu, dass unterschiedlich verteilte Arbeitslosigkeitsrisiken von allen Versicherten getragen werden, da ein Ausgleich zwischen Beschäftigtengruppen mit hohem und niedrigem Arbeitslosigkeitsrisiko vorgenommen wird. Diese Zielsetzung ist der verteilungspolitischen Funktion zuzuordnen. Die Gewichtung und Bewertung der Ziele und Funktionen der ALV sind immer wieder Bestandteil politischer und wissenschaftlicher Diskussionen und bewegen sich dabei im Spannungsverhältnis zwischen einer (normativ) sozialpolitischen Fokussierung auf der einen und der Betonung ökonomischer Effizienzkriterien auf der anderen Seite (siehe Bothfeld/Kremer in diesem Band). So wird auf der Basis von Effizienzüberlegungen argumentiert, dass die Lohnersatzleistungen der ALV den Reservationslohn, also den Lohn, zu dem Arbeitslose bereit sind zu arbeiten, erhöhen würden. Darüber hinaus würde der Erhalt von ALG, insbesondere wenn es lange gezahlt wird, zu einer verminderten Suchintensität führen. Beides habe zur Konsequenz, dass Arbeitslose länger als notwendig arbeitslos blieben und die Arbeitslosigkeit steigen würde. Darüber hinaus wird argumentiert, dass durch die ALV „moral hazard“ dahin gehend gefördert werde, dass entweder anspruchsberechtigte Beschäftigte ihr Arbeitsverhältnis verlassen oder aber Arbeitgeber schneller zu Entlassungen neigen würden. Damit werde das Sicherungssystem als Flexibilitätspuffer ausgenutzt. Folglich wird deshalb die Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen der ALV kritisiert und auf eine Verschärfung der Reziprozitätsnormen (Verfügbarkeit, Zumutbarkeit, Sanktionen) abgehoben. Als
Arbeitslosenversicherung im Wandel
117
problemadäquate Lösung wird eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes empfohlen (Klär/Fritsche 2008: 453). Dahingegen betonen Klär und Fritsche (2008: 459 ff.), dass die empirische Evidenz derlei Forderungen gering sei und warnen davor, die soziale und ökonomische Schlechterstellung von Arbeitslosen auf der Basis von Argumenten, die sich auf ökonomische Effizienzgewinne berufen, weiter voranzutreiben. Unter Effizienzgesichtspunkten wird auch immer wieder die Umwandlung der ALV in eine an privatwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Versicherung diskutiert. Sowohl gegen eine freiwillige als auch gegen eine obligatorische Privatversicherung spricht, dass in Phasen hoher Arbeitslosigkeit Marktversagen droht und unvollkommene Kreditmärkte zu Sicherungslücken in den Fällen führen würden, in denen das angesparte Kapital für die Dauer der Arbeitslosigkeit nicht ausreicht. Demnach erscheint die staatliche der privatwirtschaftlich organisierten Versicherung auch aus Effizienzgründen überlegen zu sein (Sesselmeier et al. 2006: 3).
4
Policy-Prinzipien und Reziprozitätsnormen beim Arbeitslosengeld im Zeitverlauf
4.1 Strukturentscheidungen und Ausweitung der Versicherungspflicht (1949-1969) Ziel der Gesetzgebung zur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit war in den 1950er Jahren die Vereinheitlichung der nach dem Krieg bestehenden länderspezifischen Regelungen von Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge. Dabei wurde auf das dreistufige System von Unterstützungsleistungen zurückgegriffen, das mit der Gründung der ALV durch das ‚Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‘ (AVAVG) 1927 gebildet wurde. Diese „Dreifaltigkeit“ (Leibfried et al. 1985: 157) bestand aus den Versicherungsleistungen ALG und der bedürftigkeitsgeprüften, aber auf das vorherige Einkommen bezogenen Arbeitslosenhilfe (ALHI) sowie dem kommunal verwalteten Fürsorgesystem. Die grundlegenden Prinzipien der ALV waren gelegt, im Bereich der Reziprozität kam es teilweise zu Verbesserungen. Der Versichertenkreis wurde um HeimarbeiterInnen, HausgehilfInnen und Lehrlinge (Schmuhl 2003: 445), ab 1966 auch um alle Angestellten erweitert (Schmid/Oschmiansky 2006: 350). Damit wurde der selektive Charakter des Versicherungssystems reduziert. Die Höhe der Leistung sollte 40 Prozent des Bruttolohns nicht unterschreiten und wurde auch mit der Einführung des AFGs kaum verändert (Schmid/Oschmiansky 2007a: 251 f.).3 Auch die Leistungsdauer blieb nahezu unverändert. In Abhängigkeit von der Vorbeschäftigungszeit wurde nun ALG für elf bis maximal 45 Wochen ausgezahlt (§ 106 AFG). Im Bereich der Reziprozitätsnormen wurde die Anwartschaftszeit für den Bezug von ALG auf 26 Wochen innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren normiert (Schmid/ Oschmiansky 2007a: 253 f.). Die Möglichkeit, die Gewährung von ALG von der Teilnahme an gemeinnütziger Arbeit abhängig zu machen (sog. Pflichtarbeit), wurde abgeschafft
3
Die beitragsabhängige Lohnersatzleitung wurde durch einen Familienzuschlag ergänzt.
118
Peer Rosenthal
(Schmid et al. 2005: 291).4 Als zumutbar galt bis zum AFG jede Form der Beschäftigung, danach nur noch jede „zumutbare“ wobei auf eine gesetzliche Konkretisierung des Zumutbarkeitsbegriffs verzichtet wurde (§ 103 AFG). Sanktionen konnten in Form von Sperrfristen zwischen sechs Tagen (Meldeversäumnisse) und vier Wochen (Auflösung eines Arbeitsverhältnisses, Ablehnung von zumutbarer Arbeit, Ablehnung oder Abbruch einer Maßnahme) verhängt werden, wobei eine wiederholte Sperrfrist von vier Wochen zum Erlöschen des Leistungsanspruchs führte (§ 111 AFG).
4.2 Zwischen Leistungsausweitungen und ersten Verschärfungen (1970-1990) Die Phase von 1970 bis zur Wiedervereinigung ist durch zahlreiche leistungsrechtliche Veränderungen im AFG geprägt, die teilweise Wellenbewegungen zwischen Ausweitung und Verschärfungen beim Schutz gegen Arbeitslosigkeit in Zeiten erstmals auftretender Massenarbeitslosigkeit glichen und daher auch als „stop-and-go-Politik“ (Schmid/ Oschmiansky 2005: 262) bezeichnet werden. In den Jahren 1974/75 wurden zunächst Leistungsverbesserungen eingeführt, indem das ALG dynamisiert und auf 68 Prozent festgesetzt wurde5 (Schmid/Oschmiansky 2008: 322), bevor 1983 Leistungskürzungen erfolgten und das ALG für Kinderlose von 68 auf 63 Prozent reduziert und die Sätze für nach der Ausbildung arbeitslos gewordene Jugendliche auf 50 statt wie vorher 75 Prozent des erzielbaren Facharbeiterlohnes reduziert wurde (Steffen 2008: 7), was eine Stärkung des Äquivalenzprinzips bedeutete. Einem permanenten Wandel unterlag in dieser Phase auch die Höchstbezugsdauer: Seit 1986 wurde hierbei auch das Lebensalter der Arbeitslosen berücksichtigt (Abkehr vom Äquivalenzprinzip). Sie wurde schließlich auf bis zu 32 Monate ausgedehnt (Steffen 2008: 7 f.; vgl. die Chronik im Anhang). Die Verfügbarkeitsbestimmungen wurden dahingehend verschärft, dass nur noch diejenigen Arbeitslosen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, die das Arbeitsamt täglich aufsuchen konnten und die für das Amt täglich erreichbar waren. Mit dem Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) wurden 1982 die Anwartschaftsregelungen verschlechtert, indem nun zwölf Monate beitragspflichtige Beschäftigung innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren nachgewiesen werden musste - eine Verschärfung, die hinter die Fassung des AVAVG von 1927 zurückfiel und schließlich wieder rückgängig gemacht wurde (Schmid/Oschmiansky 2005: 263 f.). Bei den Reziprozitätsnormen wurde die gesetzliche Unbestimmtheit der Zumutbarkeit erstmals dahingehend konkretisiert, dass eine Beschäftigung auch dann als zumutbar galt, wenn sie nicht der bisherigen beruflichen Tätigkeit entsprach, vom Wohnort weiter als bislang entfernt war, ungünstigere Arbeitsbedingungen aufwies und schlechter entlohnt wurde. Dies mündete in den Runderlass 230/1978 der Bundesanstalt für Arbeit, durch den die Zumutbarkeit bzgl. Pendel- und Mobilitätsbereitschaft, veränderter Arbeitsbedingungen hinsichtlich Einkommen und Arbeitszeit und der Übernahme von Tätigkeiten geringerer 4 Darüber hinaus wurde die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt als Leistungsvoraussetzung festgelegt. Der Anspruch auf ALG setzte voraus, dass Arbeitslosigkeit vorlag, der Antragsteller der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand und die Anwartschaftszeit erfüllt war (Schmid/Oschmiansky 2006: 351). 5 Dagegen wurde bei der Berechnung die Berücksichtigung von Sonderzahlungen (z. B. Weihnachts- und Urlaubsgeld) gestrichen.
Arbeitslosenversicherung im Wandel
119
Qualifikationsstufen erheblich verschärft wurde. Auch die Sperrzeiten kamen ins Blickfeld politischer Handlungen. Neben der Anrechnung von Sperrzeiten auf die Bezugsdauer des ALG wurde zunächst die Dauer der Sperrzeit von vier auf acht und später sogar zwölf Wochen erhöht (Steffen 2008: 6). Zudem konnten ab 1988 Sperrzeiten auch dann verhängt werden, wenn Arbeitslose ihren Ausschluss aus Maßnahmen der Arbeitsförderung herbeigeführt hatten (Schmid/Oschmiansky 2005: 266).
4.3 Die Phase der Transformation und permanenten Intervention (1990-1997) Nach der Wiedervereinigung wurden im Rahmen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion die bundesrepublikanischen Sozialleistungssysteme auf die neuen Länder übertragen. Der Kreis der Versicherten wurde dadurch insofern erweitert, dass Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR mit Beitragszahlungen zur ALV gleichgestellt wurden. Allerdings geriet insbesondere die ALV nach dem kurzen Wiedervereinigungsboom durch die massiv steigende Arbeitslosenzahl unter Druck. Dies beruhte auf dem allgemeinen Verständnis, dass die sozialpolitischen Risiken der Wiedervereinigung, bedingt durch die Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland, ein beträchtliches finanzielles Engagement erforderten. Vor diesem Hintergrund stand das AFG „praktisch im Dauerzustand der Kürzung und Novellierung“ (Schmid/Oschmiansky 2007b: 456). Insbesondere druch die europäischen Konvergenzkriterien für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion wurden die ergriffenen Maßnahmen in den Folgejahren mehr und mehr als Bremse im internationalen Standortwettbewerb bewertet (Schmuhl 2003: 576). Als Resultat wurde mit der 10. AFG-Novelle der Weg von Leistungskürzungen beschritten. Die Höhe des Arbeitslosengelds wurde 1994 auf 60 Prozent, bei Arbeitslosen mit Kindern auf 67 Prozent reduziert (Schmuhl 2003: 579). Verbessert wurde hingegen die Bemessung von ALG beim Wechsel von Voll- in Teilzeitbeschäftigung (Schmid/Oschmiansky 2007b: 456 ff.). Auch im Bereich der Reziprozitätsnormen wurden Verschärfungen durchgeführt. So minderten Sanktionen im Falle der Arbeitsaufgabe die Anspruchsdauer um 25 Prozent. Der Anspruch auf ALG ruhte fortan nicht nur bei Meldeversäumnissen, sondern auch wenn der Aufforderung zur Teilnahme an einer Maßnahme der Arbeitsberatung nicht nachgekommen wurde (Steffen 2008: 9). Die Sperrzeitendauer bei der Ablehnung zumutbarer Beschäftigung wurde von acht auf zwölf Wochen verlängert (Schmid/Oschmiansky 2007b: 458). Insgesamt kann die Entwicklung in den 1990er Jahren als schrittweise Verschärfung und Leistungskürzung bewertet werden.
4.4 Aussteuerung und Leistungssenkung durch Aktivierung (ab 1998) Mit den zwei Arbeitsförderungsgesetzen wurde die Arbeitsförderung neu konzipiert und 1998 in das SGB III überführt. Damit wurde der Wandel zum Paradigma der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik eingeleitet (siehe Mohr in diesem Band). Der Versichertenkreis wurde insoweit erweitert, dass Selbstständigen und Pflegenden fortan die Möglichkeit gegeben wurde, freiwillig Beiträge zur ALV zu leisten, sofern die
120
Peer Rosenthal
Selbstständigkeit oder Pflege direkt an eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder den Bezug von Lohnersatzleistungen anschloss (Bothfeld et al. 2005: 8). Die Dauer des ALG-Bezugs wurde 2004 auf ein Jahr verkürzt, wobei für über 55Jährige auch 18 Monate möglich waren (Steffen 2008: 16). Nach einer anhaltenden politischen Debatte wurde 2008 die Bezugsdauer für Arbeitslose ab 58 Jahren auf zwei Jahre erhöht (§ 127 SGB III). Verfügbarkeit wurde durch das Konzept der Beschäftigungssuche ersetzt, fortan zusammen mit den Eigenbemühungen unter Beschäftigungssuche zusammengefasst und dahingehend erweitert, dass die Arbeitslosen aktiv alle Möglichkeiten nutzen mussten, um die Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Bothfeld et al. 2005: 29). 2003 wurden die Leistungen entdynamisiert und das ALG damit nicht mehr der allgemeinen Lohnentwicklung angepasst (Steffen 2008: 25). Auch die Reziprozitätsnormen wurden zur Durchsetzung der Aktivierungsstrategie genutzt. Die Anwartschaftszeit wurde 2004 von einem halben auf ein Jahr erhöht und zugleich die Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre abgesenkt (Steffen 2008: 26). Die Zumutbarkeit wurde verschärft und direkt im Gesetz geregelt. Der befristete Qualifikationsschutz wurde aufgehoben und durch ein gestuftes Einkommensmodell ersetzt. Danach galt nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit jede Beschäftigung mit einem Nettoeinkommen in Höhe des Arbeitslosengelds als zumutbar (Sell 1998: 538). Die Sperrzeitendauer wurde 2003 flexibilisiert und stärker gestaffelt (drei bis zwölf Wochen), wobei von nun an bereits bei 21 Wochen der Anspruch auf Leistungen erlosch. Die Beweislast wurde für die Fälle der Arbeitsaufgabe und Arbeitsablehnung umgekehrt und auf den Arbeitslosen verschoben (Steffen 2008: 22 ff.). Damit kann die Aktivierungsphase als der Zeitraum mit den bedeutendsten Verschärfungen bei den Reziprozitätsnormen betrachtet werden. Mit der Abschaffung des Berufsschutzes ist sogar ein Rückfall hinter die Regelungen des AVAVG von 1927 zu konstatieren (Bothfeld et al. 2005: 30). Schließlich wurde mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die „Dreifaltigkeit“ des deutschen Sicherungsregimes abgeschafft, indem die zugleich von Bedürftigkeit und früherem Erwerbsstatus geprägte ALHI in das neue Grundsicherungsregime des SGB II überführt wurde. Durch die Schaffung eines eigenständigen und von der ALV getrennten Fürsorgeregimes mit verschärften Reziprozitätsnormen wurde den vormaligen ALHI-EmpfängerInnen der Arbeitsbürgerstatus genommen und durch den Status von Hilfebedürftigen abgelöst (Knuth 2006: 166). Im Zusammenspiel verweisen diese Veränderungen auf einen paradigmatischen Wandel, durch den die alte Zielsetzung der Lebensstandardsicherung abgelöst und durch Existenzsicherung ersetzt wurde.
5
Dualisierung als Folge des Bedeutungsverlusts der Arbeitslosenversicherung
5.1 Gründe für den Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung Verfestigte Arbeitslosigkeit und Segmentierung des Arbeitsmarkts Mit zunehmender Dauer individueller Arbeitslosigkeitsphasen erhöht sich die Gefahr, ALG-Ansprüche zu verlieren. Vor diesem Hintergrund ist auf die seit den 1990er Jahren steigende Dauer der Arbeitslosigkeit hinzuweisen (Abbildung 1). Während 1991 der Anteil
Arbeitslosenversicherung im Wandel
121
der Langzeitarbeitslosen noch bei 28 Prozent lag, ist er bis zum Jahr 2007 auf 40 Prozent gewachsen. Über ein Fünftel der Betroffenen war sogar zwei Jahre und länger arbeitslos. Abbildung 1:
Bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit in Deutschland 1991-2007
100% 90%
15%
15%
16%
80%
13%
17%
17%
70%
20%
17%
23%
17%
60% 33% 50%
36%
35%
40%
40%
33%
23%
27%
2005
2007
30% 20%
38%
32%
32%
1995
2002
10% 0% 1991
bis zu 3 Monate 12 bis 24 Monate
3 bis 12 Monate 24 Monate und länger
Quelle: Bäcker et al. 2008: 495; BA 2008: 46. Dynamische Messkonzepte von Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit verweisen auf ausgeprägte soziale Ungleichheitsstrukturen, da zwar auf der einen Seite für die Mehrzahl der Erwerbspersonen (87 Prozent in West- und 79 Prozent in Ostdeutschland) dauerhafte Beschäftigung bzw. nur kurze und schnell zu überwindende Arbeitslosigkeitsphasen festgestellt werden (Alda/Bartelheimer 2008: 67 f.) und die ALV hier erfolgreich eine Kompensations- und Brückenfunktion übernimmt. Andererseits ist für eine zweite Gruppe von ArbeitnehmerInnen (10 Prozent im Westen und 16 Prozent im Osten Deutschlands) ein häufiger Wechsel zwischen Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsphasen zu erkennen. Ihnen gelingt es nicht, dauerhaft in das sichere Arbeitsmarktsegment aufzusteigen. Die kleinste Gruppe (3 Prozent in West- und 5 Prozent in Ostdeutschland) bilden die dauerhaft vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen (Alda/Bartelheimer 2008: 65 ff.).6 Damit gibt es ein festes Segment von ArbeitnehmerInnen, denen es nicht gelingt, ausreichendes soziales Eigentum im Sinne des Versicherungssystems aufzubauen und die daher immer wieder oder dauerhaft auf Grundsicherungsleistungen verwiesen werden.
6 Die Ergebnisse beziehen sich auf den Zeitraum 2000 bis 2004 und auf Erwerbspersonen im mittleren Erwerbsalter zwischen 30 und 50 Jahren, so dass Übergangsrisiken bei jungen und alten Erwerbspersonen unberücksichtigt bleiben (Alda/Bartelheimer 2008: 59).
122
Peer Rosenthal
Zunahme atypischer Beschäftigung Das Ausmaß atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, geringfügig entlohnte Beschäftigung, befristete Beschäftigung, Leiharbeit) ist in der jüngeren Vergangenheit stetig gewachsen. Infolgedessen hat sich der Anteil stark erhöht und umfasst aktuell über ein Drittel, bei den Frauen sogar über die Hälfte aller abhängig Beschäftigten (Keller/Seifert 2006: 236). Dies ist von daher problematisch, als dass die ALV immer noch am Normalarbeitsverhältnis ansetzt. Da dieses aber für viele Beschäftigte nicht mehr die Regel ist, entstehen Sicherungslücken im Falle von Arbeitslosigkeit (Nullmeier/Vobruba 1994: 35). Dies zeigt sich vor allem bei der geringfügig entlohnten Beschäftigung, bei der keine anspruchsbegründenden Beiträge zur ALV abgeführt werden und die aber inzwischen für über 4,8 Millionen Beschäftigte die einzige Form der Erwerbsbeteiligung darstellt. Bei der Teilzeitarbeit droht abhängig von Entlohnung und Arbeitszeit das ALG so gering auszufallen, dass keine existenzsichernden Ansprüche entstehen. Befristete Beschäftigung ist in diesem Kontext als problematisch einzuschätzen, weil oftmals kein nahtloser Übergang in ein neues Arbeitsverhältnis gelingt und Arbeitslosigkeitsphasen überbrückt werden müssen. Ansprüche entstehen aber nur, wenn die Anwartschaftszeit innerhalb der Rahmenfrist erreicht werden kann (Klammer/Leiber 2006). Auch bei der Leiharbeit kann aufgrund der häufigen Kurzfristigkeit der Beschäftigungsverhältnisse die Anwartschaftszeit ein Problem darstellen. Hinsichtlich der Höhe der Lohnersatzleistungen wirkt sich der überproportionale Einsatz von LeiharbeitnehmerInnen in ohnehin niedrig entlohnten Tätigkeitsfeldern aus. Die Löhne liegen dabei deutlich unter den Vergleichslöhnen der Stammbelegschaften von Entleihbetrieben (siehe Bothfeld/Kremer in diesem Band). Politische Regulierung und Steuerung in der Arbeitsmarktpolitik Auch politische Regulierung von und die Steuerung der Arbeitsmarktpolitik haben Einfluss auf die Integrationskraft des Versicherungssystems. So wurde durch die Gesetzgebung die Ausgestaltung der arbeitsmarktpolitischen Beschäftigungsförderung dahingehend verändert, dass die Instrumente mit Ausnahme des Kommunal-Kombis keiner Versicherungspflicht zur ALV mehr unterliegen (siehe Wagner in diesem Band; zur Diskussion um Drehtüreffekte siehe Kaps in diesem Band). Während es früher noch möglich war, über Beschäftigung im „zweiten Arbeitsmarkt“ wieder Leistungsansprüche aufzubauen, ist dieser Weg inzwischen verschlossen. Darüber hinaus wurde die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit den Gesetzen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt auf neue Steuerungsmodelle verpflichtet, die eine betriebswirtschaftliche Sparlogik zur Folge hatten und die sozialpolitische Funktion der BA schwächten. ALG-BezieherInnen, bei denen der BA eine Beendigung der Arbeitslosigkeit im Bezugszeitraum unwahrscheinlich erscheint (Betreuungskunden), wurden aus betriebswirtschaftlichen Kostenkalkülen nicht gefördert (Hielscher 2006: 123).
5.2 Dualisierung des Sozialstaats in der Arbeitslosensicherung Als Folge der skizzierten Entwicklungen hat die Bedeutung des Arbeitslosengelds als Lohnersatzleistung im Zeitverlauf stetig abgenommen. Dagegen haben die bedürftigkeitsgeprüften Fürsorgeleistungen (bis zum Jahr 2005 ALHI, dann Arbeitslosengeld II) an Ge-
Arbeitslosenversicherung im Wandel
123
wicht gewonnen. Wie Tabelle 1 zeigt, bezogen im Jahr 1999 noch über 40 Prozent der Arbeitslosen ALG, 2004 waren es nur noch 35 Prozent. Dieser Trend verstärkte sich nach der Einführung des SGB II, infolgedessen im Jahr 2007 mit 21 Prozent der Tiefststand erreicht wurde. Es ist also ein konstanter Prozess des Bedeutungsverlusts der Versicherungsleistung erkennbar, die immer mehr zu einer „Exklusivleistung für einen privilegierten Kreis von Arbeitslosen geworden“ ist (Bäcker et al. 2008: 532). Tabelle 1: Arbeitslose ArbeitslosengeldempfängerInnen an allen Arbeitslosen 19992008* Jahr
Arbeitslose Arbeitslose Leistungsempfängerquote ArbeitslosengeldbezieherInnen Arbeitslosengeld 1999 1.648.818 4.100.499 40,2% 2000 1.518.852 3.889.695 39,0% 2001 1.527.249 3.852.564 39,6% 2002 1.668.849 4.061.345 41,1% 2003 1.754.351 4.376.795 40,1% 2003 1.685.216 4.376.795 38,5% 2004 1.534.322 4.381.281 35,0% 2005 1.427.060 4.860.880 29,4% 2006 1.123.095 4.487.233 25,0% 2007 797.002 3.776.425 21,1% 2008 781.271 3.102.085 25,2% *Rückwirkend ab 2003 erfolgte die Datenaufbereitung mit einer neuen Informationstechnologie, deshalb ergeben sich Abweichungen zu früher veröffentlichten Daten, Vergleiche mit den Jahren davor sind deshalb nur eingeschränkt möglich. Längere Zeitreihen sind nicht verfügbar.
Quelle: BA 2008: 138; eigene Berechnungen. Dieser Prozess – Bedeutungsverlust des Versicherungssystems auf der einen, stärkere Gewichtung von Fürsorgesystemen auf der anderen Seite – kann als Dualisierung des Sozialstaats beschrieben werden (Palier/Martin 2007). Zwar ist die Versicherungssystemen inhärente Selektivität unstrittig. Diese wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik allerdings seit den 1990er Jahren politisch verschärft und kann nicht nur über ökonomische Parameter wie verfestigte Arbeitslosigkeit erklärt werden. Dabei können die Hartz-Reformen ab 2003 als entscheidender Wendepunkt bewertet werden. Durch das SGB II ist eine vollständig vom Versicherungssystem und dessen Prinzipien abgekoppelte „zweite Welt sozialer Sicherung“ (Palier/Martin 2007: 550) implementiert worden (siehe Knuth in diesem Band). Die Veränderungen auf der Leistungsseite und bei den Reziprozitätsnormen werden auf dem deutschen Aktivierungspfad durch eine gezielte gesetzliche Erleichterung atypischer Beschäftigung flankiert. Vor diesem Hintergrund kann der Arbeitsmarktpolitik nicht mehr zugeschrieben werden, „unterwertige Beschäftigung“ (AFG 1969) zu verhindern. Sie ist vielmehr zum Hebel für die Durchsetzung abweichender Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse geworden. Diesem Funktionswandel ist ein Wandel in den Grundüberzeugungen und Deutungsmustern von Arbeitslosigkeit bei den verantwortlichen Akteuren vorangegangen. So wird Arbeitsmarktpolitik und damit auch die ALV auf ihre ökonomische Effizienzfunktion konzentriert, während von vormals normativ verankerten sozialen Zielzuschreibungen Abstand genommen wurde (Baethge-Kinsky et al. 2008: 4 ff.). Dies führt zu
124
Peer Rosenthal
einer tieferen gesellschaftlichen Spaltungslinie zwischen Bevölkerungsgruppen, die vermittelt über ihre Arbeitsmarktposition entweder weiter in den alten Sicherungssystemen verbleiben oder auf Sicherungsformen jenseits bekannter Muster verwiesen werden (Palier/Martin 2007: 550) und wirft die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit von Versicherungsprinzip und Aktivierungsparadigma auf.
6
Die offene Zukunft: Aktivierung oder Versicherungsprinzip?
Die mit der Aktivierung verbundenen veränderten Vorstellungen über die soziale Regulierung von Arbeitslosigkeit und des Arbeitsmarkts üben in dreifacher Hinsicht Druck auf das Versicherungssystem aus. Erstens, indem im Versicherungssystem selbst aktivierende Elemente ausgebaut und soziale Rechte reduziert werden. Zweitens, indem die Zugänge zum Versicherungssystem erschwert werden, um Aktivierung im Fürsorgesystem voll entfalten zu können. Und schließlich drittens dadurch, dass im Zuge der Aktivierung explizit Arbeitsverhältnisse erleichtert werden, die keine Zugangsmöglichkeiten zur ALV eröffnen. Anders gesagt: Während das Versicherungssystem immer noch auf dem Normalarbeitsverhältnis gründet, wird genau dieses durch die Aktivierung immer stärker zurückgedrängt. Infolgedessen wächst nicht nur die Gruppe der Arbeitslosen, die die Anwartschaften nicht erfüllen. Hinzu kommen diejenigen, deren ALG unterhalb des Existenzminimums liegt, durch ALG II aufgestockt werden muss und die LeistungsbezieherInnen daher in den Rechtskreis des SGB II überführt werden. Vor diesem Hintergrund können Aktivierung und Versicherungsprinzip nicht als sich ergänzende, sondern müssen als gegenläufige Prinzipien identifiziert werden. Eine Stabilisierung bzw. Stärkung des Versicherungssystems würde daher den nächsten Paradigmenwandel erfordern. Von der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in ihrer heutigen Form bliebe dann nicht mehr viel übrig. Ob dies aber eine zu erwartende Entwicklung ist, steht auf einem anderen Blatt.
Literatur Alda, H./Bartelheimer, P. (2008): Ungleiche Erwerbsbeteiligung. Messkonzepte für ein segmentiertes Beschäftigungssystem. In: Gensior, S./Lappe, L./Mendius, H. G. (Hrsg.) (2008): Im Dickicht der Reformen. Folgen und Nebenwirkungen für Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnis und Beruf. SAMF-Arbeitspapier 1/2008. Cottbus. Bäcker, G./Naegele, G./Bispinck, R./Hofemann, K./Neubauer, J. (2008): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Baethge-Kinsky, V./Bartelheimer, P./Wagner, A./Aust, J./Müller-Schoell, T. (2008): Arbeitsmarktpolitik: Nachsteuern oder neu orientieren? Anstöße zu einer überfälligen Debatte. Projektbericht für die Otto-Brenner-Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt am Main und Düsseldorf. Bothfeld, S./Gronbach, S./Seibel, K. (2005): Eigenverantwortung in der Arbeitsmarktpolitik: zwischen Handlungsautonomie und Zwangsmaßnahmen. WSI-Diskussionspapier Nr. 134. Düsseldorf. Brettschneider, A. (2007): Die Rückkehr der Schuldfrage. Zur politischen Soziologie der Reziprozität im deutschen Wohlfahrtsstaat. In: Marten, C./ Scheuregger, D. (Hrsg.) (2007): Reziprozität und
Arbeitslosenversicherung im Wandel
125
Wohlfahrtsstaat. Analysepotential und sozialpolitische Relevanz. Opladen: Verlag Barbara Budrich. 111-145. Bundesagentur für Arbeit (BA) (2008): Arbeitsmarkt 2007. Nürnberg. Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton: University Press. Hielscher, V. (2006): Reorganisation der Bundesagentur für Arbeit: „Moderner Dienstleister“ für wen? In: WSI-Mitteilungen 3/2006. 119-124. Keller, B./Seifert, H. (2006): Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Flexibilität, soziale Sicherheit und Prekarität. In: WSI-Mitteilungen 5/2006. 235-246. Klammer, U./Leiber, S. (2006): Atypische Beschäftigung und soziale Sicherheit. In: WSIMitteilungen 5/2006. 287-292. Klär, E./Fritsche, U. (2008): Mehr Beschäftigung durch weitere Arbeitsmarktreformen? In: Wirtschaftsdienst 7/2008. 451-460. Knuth, M. (2006): „Hartz IV“ - die unbegriffene Reform. In: Sozialer Fortschritt 7/2006. 160-168. Leibfried, St./Hansen, E./Heisig, M. (1985): Politik mit der Armut. Notizen zu Weimarer Perspektiven anläßlich bundesrepublikanischer Wirklichkeiten. In: Leibfried, St. (Hrsg.) (1985): Armutspolitik und die Entstehung des Sozialstaats. Entwicklungslinien sozialpolitischer Existenzsicherung im historischen und internationalen Vergleich. Bremen: Zentraldruckerei der Universität Bremen. 146-167. Lessenich, St. (1998): „Relations matter“: De-Kommodifizierung als Verteilungsproblem. In: Lessenich, St./Ostner, I. (Hrsg.) (1998): Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt am Main/New York: Campus. 91-108. Lessenich, St./Mau, St. (2005): Reziprozität und Wohlfahrtsstaat. In: Adloff, F./Mau, St. (Hrsg.) (2005): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt am Main/New York: Campus. 257-276. Marshall, Th. H. (1992 [1949]): Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: Marshall, Th. (1992 [1949]): Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Vorwort von Elmar Rieger. Frankfurt am Main/New York: Campus. 33-94. Neubauer, J./Bäcker, G. (2003): Abbau der Arbeitslosigkeit durch Abbau der Arbeitslosenversicherung. In: Sozialer Fortschritt 9/2003. 233-239. Nullmeier, F./Rüb, F. W. (1993): Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat. Frankfurt am Main/New York: Campus. Nullmeier, F./Vobruba, G. (1994): Gerechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs. In: Nullmeier, F./Pioch, R./Vobruba, G. (Hrsg.) (1994): Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Marburg: Schüren. 9-66. Palier, B./Martin, C. (2007): Editorial Introduction. From ‚a Frozen Landscape’ to Structural Reforms: The Sequential Transformation of Bismarckian Welfare Systems. In: Social Policy & Administration 6/2007. 535-554. Rüb, F. W. (2003): Risiko: Versicherung als riskantes Geschäft. In: Lessenich, St. (Hrsg.) (2003): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag. 303-330. Schmid, G. (2002): Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt am Main/New York: Campus. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2005): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.) (2005): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 7: Bundesrepublik Deutschland 1982-1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Baden-Baden: Nomos. 238-287. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2006): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 5: Bundesrepublik Deutschland 1966-1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs. Baden-Baden: Nomos. 331-379.
126
Peer Rosenthal
Schmid, G./Oschmiansky, F. (2007a): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.) (2007): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 4: Bundesrepublik Deutschland 1957-1966. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstands. Baden-Baden: Nomos. 238-283. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2007b): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.) (2007): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 11: Bundesrepublik Deutschland 1989-1994. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung. Baden-Baden: Nomos. 436-489. Schmid, G./Oschmiansky, F. (2008): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.) (2008): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 6: Bundesrepublik Deutschland 1974-1982. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheit. Baden-Baden: Nomos. 312-363. Schmid, G./Wiebe, N./Oschmiansky, F. (2005): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.) (2005): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 3: Bundesrepublik Deutschland 1949-1957. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität. Baden-Baden: Nomos. 267-320. Schmuhl, H.-W. (2003): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 270. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit. Sell, St. (1998): Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an flexible Erwerbsformen? Zur Zumutbarkeit von Arbeit und Eigenverantwortung von Arbeitnehmern. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 3/1998. 532-549. Sesselmeier, W./Somaggio, G./Yollu, Aysel (2006): Mögliche Implikationen der gegenwärtigen Arbeitsmarktreformen für die zukünftige Entwicklung der Arbeitslosenversicherung. Arbeitspapier 126 der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf. Steffen, J. (2008): Sozialpolitische Chronik. Arbeitslosenversicherung (seit 1969). Bremen.
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
127
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland
1
Einleitung
Arbeitsmarktsmarktpolitik basiert hinsichtlich der Datenbasis in der Regel auf Primärerhebungen und Sekundärstatistiken. Auch die Arbeitslosenversicherung und die Grundsicherung für Arbeitsuchende als zentrale Bereiche der Arbeitsmarktpolitik werden anhand diverser Datenbasen erfasst, analysiert und bewertet. Diese Basen beziehen sich auf deren Leistungen sowie auf Wechselwirkungen mit anderen Bereichen. Die Bedeutung der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Leistungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder die Verwendung der Einnahmen der Arbeitslosenversicherung für aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sind zwei Beispiele (vgl. dazu z.B. diverse Jahresgutachten und Memoranden). In dieser Perspektive spiegeln sich die Ergebnisse des Handels der Individuen und Organisationen wider. Die diesen Ergebnissen vor gelagerte Stufe der Einstellungen zu den Systemen der Absicherung in Arbeitslosigkeit bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Bislang existieren unseres Wissens kaum Ansätze (vgl. Nüchter/Schmid 2009: 77ff.), die diese „subjektive“ Perspektive, also die Einstellungen der Menschen gegenüber der Absicherung in Arbeitslosigkeit untersuchen. Die soziologische Einstellungsforschung bietet jedoch Anhaltspunkte für die Bewertung von sozialer Gerechtigkeit und dem Sozialstaat generell (vgl. z.B. Roller 1992; Andreß et al. 2001; Nüchter et al. 2008). Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass der fürsorgende Sozialstaat in der Bevölkerung eine traditionell hohe Akzeptanz genießt und zudem sowohl die Aspekte der Lebensstandardsicherung als auch der Nivellierung von sozialen Unterschieden grundlegende Bedeutung haben. Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende markiert einen Bruch mit diesen tradierten Funktionsweisen und Ansprüchen. Dies wirft die Frage auf, wie es um die bis dato hohe Akzeptanz der Sicherungssysteme heute bestellt ist. Wenn man zugleich annimmt, dass eine breite Akzeptanz notwendige Bedingung für die Durchsetzbarkeit von Reformen ist, so wird klar, dass die Betrachtung der Einstellungen neben wissenschaftlicher auch von gesellschaftlich-politischer Relevanz hinsichtlich der Steuerung von Veränderungen ist. An diesem Befund setzt dieser Beitrag an. Wir untersuchen die Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld) und zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV). Weitere Fragestellungen richten sich darauf, ob bei der Bewertung dieser beiden Systeme Unterschiede bestehen und welche individuellen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren für diese Einstellungen maßgeblich sind.
128
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Den Anknüpfungspunkt bietet eine Untersuchung für das Bundesarbeitsministerium, in dem die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber dem Sozialstaat und seinen Teilssystemen empirisch auf der Basis einer telefonischen Repräsentativbefragung von 5.000 Menschen in vier Wellen erhoben wurden (vgl. dazu Krömmelbein et al. 2007; Nüchter et al. 2008). Wir beginnen den Beitrag mit einigen konzeptionell-theoretischen Überlegungen für das Untersuchungsdesign. Anschließend werden empirische Ergebnisse über die Einstellungen zur Absicherung in Arbeitslosigkeit referiert. Der Beitrag schließt mit einigen Folgerungen für Theorie und Empirie dieser subjektiven Dimension für die beiden Sicherungssysteme.
2
Konzeptionelle Überlegungen
Einstellungen werden „als eine Bewertung von Menschen, Objekten oder Ideen“ (Aronson et al. 2004: 230) definiert. Sie drücken Haltungen zu und Beurteilungen von Sachverhalten und Gegenständen aus (vgl. Hartmann/Wakenhut 1995: 13ff.). Einstellungen sind durch individuelle Interessen sowie durch gesellschaftliche Normen und Werte geprägt (vgl. z.B. Andreß et al. 2001; Aizen/Fishbein 2005: 173ff; Jungermann et al. 2005: 201ff; Förg et al. 2007; Heinemann et al. 2008: 383ff.). Wir rekurrieren in diesem Beitrag auf ökonomische Verhaltens- und Fairnesstheorien als Basis für die empirische Untersuchung von Einstellungen zur Absicherung in Arbeitslosigkeit (vgl. u.a. Magen 2005; Nüchter/Schmid 2009: 78ff.). Diese Ansätze decken sowohl das traditionelle ökonomische Rationalmodell als auch Erweiterungen und Modifikationen durch die Behavioral Economics ab.1 Ökonomisches Rationalmodell Nach dem ökonomischen Rationalmodell werden Einstellungen von Individuen durch Maximierung des Erwartungswertes ihrer Nutzenfunktion unter Nebenbedingungen bestimmt. Danach bestehen aufgrund unterschiedlicher Präferenzen und Handlungsbedingungen Unterschiede in den Kosten-Nutzen-Relationen und damit Unterschiede in der Bewertung der Arbeitslosenversicherung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Referenzpunkte Auf der individuellen Ebene spielt nach der Prospecttheorie (vgl. Kahnemann/Tversky 1979: 263ff.; Bischoff 2007: 1334ff.) die subjektive Entscheidungssituation mit subjektiven Entscheidungsgewichten eine wesentliche Rolle bei der Bewertung von Alternativen. Bewertungen erfolgen danach relativ zu einem Referenzpunkt. Einen solchen Referenzpunkt bildet der status quo. Diese Entscheidungsgewichte und Bewertungen sind danach vom status quo als Referenzpunkt abhängig. Der status quo wird seinerseits durch die jeweils vorherrschende soziostrukturelle und soziokulturelle Situation bestimmt. In Kontext dieser Thematik sind dafür u.a. Einkommen und Vermögen, psychische Situation, Geschlecht, Qualifikation und Alter einschlägig. 1
Einstellung und Verhalten sind im ökonomischen Rationalmodell nicht getrennt; wenn die Bewertung erfolgt ist, wird auch danach gehandelt. Bei den neueren ökonomischen Verhaltenstheorien besteht, wenn wir das richtig sehen, dieser eindeutige Zusammenhang nicht. Hier dominieren die Bewertungen; inwieweit daraus auch Handlungen folgen, ist u.E. nicht immer eindeutig. Teilweise wird aus dem Verhalten auf Einstellungen geschlossen, z.B. in Fairnesstheorien, teilweise steht die Einstellung im Mittelpunkt wie z.B. bei dem Referenzbezug, ohne dass daraus unmittelbar auf das daraus folgende Verhalten geschlossen werden kann (vgl. Aizen/Fishbein 2005: 173ff.)
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
129
Verlustaversion Einfluss auf Einstellungen hat die Verlustaversion (vgl. z.B. Bischoff 2007: 1337). Verluste werden erheblich stärker gewichtet als Gewinne. Reformen der Arbeitslosenversicherung und der Grundsicherung, die einen Verlust zur Folge haben, werden demnach negativer bewertet als mögliche positive Auswirkungen (vgl. Förg et al. 2007). „endowment effect“ Nach dem endowment effect hängen Einstellungen davon ab, ob man etwas bereits besessen hat oder nicht. So wird Gütern ein höherer Wert beigemessen, wenn man sie bereits im Besitz hatte. Danach dürften bereits erworbene Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung die Einstellungen mit bestimmen. Diskontierungsrate Entgegen der Annahme der traditionellen Rationaltheorie ist die Diskontierungsrate der Zukunft nicht konstant. Vielmehr gibt es empirische Belege dafür, dass je ferner der Nutzen in der Zukunft anfällt, desto geringer die gegenwärtige Bewertung dieses künftigen Nutzens ist. Die Diskontierungsrate ist demnach nicht konstant, sondern hyperbolisch (vgl. u.a. Förg et al. 2007). Soziale Präferenzen Mit der Berücksichtigung sozialer Präferenzen erfolgt eine Erweiterung des Eigennutzaxioms, indem der eigene Nutzen auch vom Nutzen anderer abhängt. Damit lassen sich gesellschaftliche Normen als Einflussfaktoren auf Einstellungen begründen. In diesem Kontext spielen Gerechtigkeitsnormen eine zentrale Rolle (vgl. Nüchter et al. 2008); vor allem egalitaristische und individualistische Gerechtigkeitsnormen sind von Bedeutung.2 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl nach der ökonomischen Rationaltheorie als auch nach der behavioristischen Verhaltensökonomie unterschiedliche Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Bevölkerung bestehen dürften.
3
Empirische Befunde
Auf Basis der konzeptionellen Überlegungen wird im Folgenden versucht, auf empirischem Wege Anhaltspunkte für diese Überlegungen und Thesen zu finden. Geprüft wird dies anhand von drei Themenbereichen, die zentrale Aspekte der sozialen Sicherung berücksichtigen und zugleich Rückschlüsse für die Bedeutung des Kosten-Nutzen-Axioms sowie den aus der Behavioral Economics abgeleiteten Thesen – Wertefunktion, soziale Präferenzen, endowment effect und Diskontinuierungsrate – für die Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung für Arbeitslose liefern können: Die allgemeine Bewertung der derzeitigen Leistungen der beiden Systeme, die eigene Absicherung im Fall kurzer oder länger andauernder Arbeitslosigkeit, die Akzeptanz von Funktionsprinzipien und Reformideen der beiden Sicherungssysteme. In allen drei Bereichen lässt sich begründet annehmen, dass unterschiedliche Einflussgrößen die Einstellungen dominieren und dass mehrere Erklärungshypothesen zusammenfallen 2 Zusätzlich sind noch askriptivistische und fatalistische Gerechtigkeitsnormen zu nennen (vgl. Krömmelbein u.a. 2007).
130
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
können. Die Darstellung erfolgt dabei getrennt für das Arbeitslosengeld und die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aus unserer Untersuchung steht zur Prüfung der Zusammenhänge eine umfangreiche Liste von Einflussfaktoren zur Verfügung. Einbezogen werden allerdings nur jene Indikatoren, die auf Basis der Vorüberlegungen die jeweils stärksten Zusammenhänge erwarten lassen, bzw. eine klare Zuordnung zu den Thesen ermöglichen (in der Übersicht fett markiert). Tabelle 1: Übersicht von Einflussgrößen SozioökonomischeLage Haushaltseinkommeni KurzfristigeLiquidität („2000€ͲFrage“) Immobilienbesitz Erwerbsstatus BildungsͲ/QualifikatiͲ onsindex
Soziodemografische Faktoren Region Alter Geschlecht Haushaltstyp HaushaltemitKindern
NormativeWerte/ SubjektiveLebensqualität Wissen ii
Egalitarismus Individualismus Askriptivismus Fatalismus Informiertheitsindex
iii
Zufriedenheitsindex iv Ängstlichkeitsindex GerechterAnteil WirtschaftlicheLageheute WirtschaftlicheLage:AufͲ stieg/Abstieg Schichtzugehörigkeit
i Das Haushaltseinkommen wird bedarfsbezogen auf die Personen im Haushalt berechnet und in Einkommensquintile unterschieden. Hierzu wurde zunächst der Äquivalenzfaktor des Hauhalts ermittelt, wobei der erste Erwachsene den Wert 1,0, alle weiteren Erwachsenen den Wert 0,7 und alle Kinder bis einschließlich 14 Jahren den Wert 0,5 zugewiesen bekamen (alte OECD-Skala). Das ursprünglich angegebene absolute Haushaltseinkommen bzw. der Mittelwert der angegebenen Einkommensklasse wurde daraufhin durch den ermittelten Faktor geteilt und so das bedarfsgewichtete Nettohaushaltseinkommen errechnet. Dieses wurde schließlich in fünf Einkommensklassen unterteilt, die jeweils 20% der Haushalte umfassen (Einkommensquintile). ii Die Gerechtigkeitsvorstellungen werden auf Basis des Instruments „Gerechtigkeitsideologien“ des International Social Justice Project (ISJP) gebildet. Nach einer faktorenanalytischen Überprüfung, mit der die bekannten Gerechtigkeitsvorstellungen Egalitarismus, Fatalismus, Individualismus und Askriptivismus reproduziert werden konnten, erfolgt die Bildung von dichotomen Indexvariablen anhand der Skalenmittelwerte, die jene Personen, die eine starke Affinität zu den entsprechenden Einstellungen haben, zusammenfasst. iii Den Einfluss der Zufriedenheit erfassen wir anhand einer dreistufigen Indexvariable (niedrig / mittel / hoch). Diese schließt verschiedene öffentliche und private Lebensbereiche ein. Ausgeschlossen bleibt die Zufriedenheit mit dem Leben überhaupt, weil diese bereits ein bilanzierendes Maß ist, in die die Zufriedenheit mit den einzelnen Lebensbereichen unterschiedlichen Eingang findet. Um der Zufriedenheit mit den einzelnen Lebensbereichen analytisch ein stärkeres Gewicht zu verleihen und diesbezügliche Unterschiede zu erfassen, wird in der analytischen Auswertung dem Zufriedenheitsindex vor der „Lebenszufriedenheit“ Priorität eingeräumt iv Ein weiteres Maß des subjektiven Wohlbefindens bildet die Stärke der individuellen Angstsymptome. Zu ihrer Bestimmung werden Fragen nach der Erschöpfung, dem Unglücklichfühlen, der Nervosität sowie der Ängste und Sorgen zusammengefasst. Sie bilden gemeinsam den Index aus verschiedenen Angstsymptomen, der als dichotome Unterscheidung (gering / hoch) vorliegt.
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
131
Für alle Fragen werden zunächst die Häufigkeitsverteilungen der Indikatoren für die verschiedenen Einflussdimensionen dargestellt. Anschließend prüfen wir die Zusammenhänge in einem multivariaten Regressionsmodell.
3.1 Arbeitslosenversicherung Die Einstellungen zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und die diese bestimmenden Einflussgrößen lassen sich auf mehreren Ebenen messen. Zum einen kann allgemein nach der Angemessenheit des aktuellen Arbeitslosengelds gefragt werden. Zum anderen wird das subjektive Absicherungsgefühl im Falle einer eigenen zukünftigen Arbeitslosigkeit erhoben. Zusätzlich untersucht wird anhand von zwei Beispielen die Zustimmung zu Neuregelungen bei der Leistungsgewährung. 3.1.1 Leistungen heute Die aktuellen Leistungen des Arbeitslosengelds werden von den Bürgern gemischt bewertet, etwas über die Hälfte sehen die Leistungen als gut oder eher gut an. Tabelle 2: Leistungen des Arbeitslosengelds (in %)* Eherschlecht /Schlecht
Ehergut/
46
54
UnterstesQuintil
52
48
OberstesQuintil
38
62
AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
Abhängigbeschäftigt
46
54
Selbständig
46
54
Arbeitslos(bis1Jahr)
53
47
Langzeitarbeitslos
60
40
18Ͳ34Jahre
43
57
35Ͳ59Jahre
48
52
45
55
Egalitarismus(ja/nein)
(51/30)
(49/70)
Individualismus(ja/nein)
60Jahreundälter Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
Gut
(38/52)
(62/48)
Gering
63
37
Hoch
34
66
Gering
42
58
Hoch
46
55
*Sind die Leistungen des Arbeitslosengelds Ihrer Meinung nach in der heutigen Zeit gut, eher gut, eher schlecht oder schlecht?
Quelle: Die Angaben zur Arbeitslosenversicherung basieren auf der Befragungswelle 2008
132
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Menschen, die direkt von der Sicherungsleistung betroffen sind, urteilen kritischer. So liegt der Anteil der kurzzeitig Arbeitslosen, welche die Leistungen als gut ansehen bei 47%, bei den Langzeitarbeitslosen nur bei 40%. Noch deutlicher fallen die Differenzen bei den Gerechtigkeitstypen und vor allem zwischen Hoch- und Geringzufriedenen aus. Die Bewertung der Leistungen erfolgt, so lässt sich hieraus folgern, vor allem im Rahmen der sozialen Präferenz und der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Lage, und etwas weniger anhand des unmittelbaren individuellen Nutzens. Die Überprüfung mittels einer linearen Regression bestätigt diese Annahme. Weder Einkommen noch Alter oder Erwerbsstatus sind signifikant. Es dominieren dagegen die individuelle Zufriedenheit sowie – in gegensätzlicher Richtung – staats- und marktorientierte Gerechtigkeitsvorstellungen. Tabelle 3: Leistungen des Arbeitslosengelds (Betawerte) Einkommen
Ͳ004
Selbstständig
Ͳ,010
Arbeitslos
Ͳ,026
Alter
Ͳ,022
Egalitarismus
Ͳ,140***
Individualismus
,133***
Zufriedenheit
,131***
Ängstlichkeit
Ͳ,068***
*:p<=0,05;**:p<=0,01;***:p<=0,001 Kosten-Nutzen-Erwägungen allein liefern demnach keine hinreichende Erklärung für die Einschätzung der Absicherungsgüte durch das Arbeitslosengeld. Vielmehr wird das Urteil von der Vorstellung der Menschen geprägt, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen soll; allerdings unterschiedlich je nach Gerechtigkeitsnorm. 3.1.2 Eigene Absicherung Ein skeptischer Blick richtet sich auf die eigene Absicherung im Falle einer Arbeitslosigkeit in der Zukunft. Hier sind es, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nur 42%, die in der Zukunft für sich selbst von einer (eher) guten Absicherung ausgehen. Zu erwarten wäre
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
133
hierbei, dass Gerechtigkeitsvorstellungen eine geringere Rolle spielen, da Verlustängste sowie strukturelle Kosten-Nutzen-Erwägungen bzw. deren Wahrnehmung dominieren. Tabelle 4: Eigene Absicherung bei Arbeitslosigkeit (in %)* Eherschlecht /Schlecht
Ehergut/
58
42
UnterstesQuintil
68
32
AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
OberstesQuintil
41
59
Abhängigbeschäftigt
44
56
Selbständig
71
29
Arbeitslos(bis1Jahr)
69
31
Langzeitarbeitslos
83
17
18Ͳ34Jahre
54
46
35Ͳ59Jahre
63
37
46
54
Egalitarismus(ja/nein)
(61/50)
(39/50)
Individualismus(ja/nein)
(53/62)
(47/38)
79
21
60Jahreundälter Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
Gut
Gering Hoch
42
58
Gering
53
47
Hoch
77
23
*Und wenn Sie an sich selber denken, was meinen Sie: Werden Sie in Zukunft im Falle einer Arbeitslosigkeit gut, eher gut, eher schlecht oder schlecht abgesichert sein?
Diese These findet in der bivariaten Differenzierung einen Beleg. Die Unterschiede zwischen den Gerechtigkeitstypen sind geringer als in der allgemeinen Einschätzung, eine deutlichere Polarisierung findet sich dagegen beim Einkommen, dem Alter und dem Erwerbsstatus. Erwartbar sehen Menschen mit gutem Einkommen seltener Probleme im Falle einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit. Allerdings liegt auch hier der Anteil bei über 40%, was zeigt, dass hohe Haushaltseinkommen allein nicht die Angst vor dem Statusverlust bannen. Hinsichtlich des Alters sieht sich vor allem die mittlere Generation der 35- bis 59Jährigen bedroht. Demgegenüber sehen das die jüngere und besonders die ältere Generation etwas entspannter. Tendenziell gut abgesichert fühlen sich die abhängig Beschäftigten, während bei den bereits Arbeitslosen eine große und mit Dauer der Arbeitslosigkeit steigende Mehrheit eine schlechte Absicherung konstatiert. Ebenfalls sehr niedrig liegt der Wert bei den Selbstständigen. Diese Erwerbsgruppe gelangt nicht in den Genuss einer gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und muss ein berufliches Scheitern mit eigenen Mitteln auffangen. Der Anteil, der sich dies zutraut, liegt bei unter 30%.
134
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Dass Selbständige im besonderen Maße der eigenen Absicherung im Falle einer Arbeitslosigkeit misstrauen, zeigt auch die Prüfung im multivariaten Modell. Tabelle 5: Eigene Absicherung bei Arbeitslosigkeit (Betawerte) Einkommen
,113***
Selbstständig
Ͳ,138***
Arbeitslos
Ͳ,046*
Alter
Ͳ,011
Egalitarismus
Ͳ,032*
Individualismus
,091***
Zufriedenheit
,223***
Ängstlichkeit
Ͳ,052*
*:p<=0,05;**:p<=0,01;***:p<=0,001 Die Einschätzung, aus eigener Kraft für eine gute Absicherung sorgen zu können, drückt sich ebenso im Einfluss des Einkommens und einer individualistischen Gerechtigkeitsvorstellung aus. Noch klarer zeigt sich diese subjektive Komponente bei der individuellen Zufriedenheit, die den größten Erklärungswert für die eigene Absicherung bietet. Diese hohe Bedeutung der Zufriedenheit zeigt, dass die „gefühlte“ Sicherheit als subjektives Entscheidungsgewicht eine zentrale Rolle bei der Bewertung einnimmt. 3.1.3 Prinzipien und Reformmaßnahmen Anfang 2008 wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Versicherte wieder angehoben. Die Bevölkerung begrüßt diese Verlängerung der Bezugszeiten, mehr als die Hälfte stimmt der Aussage voll zu, dass „Ältere Arbeitslose in jedem Fall länger Arbeitslosengeld als Jüngere beziehen sollten“. Hierbei ist zu erwarten, dass – neben den normativen Überzeugungen – die unmittelbare Betroffenheit, vor allem das Alter der Befragten selbst, eine Rolle spielt. Beim Arbeitslosengeld ebenfalls neu gestaltet wurden die Zumutbarkeitsregelungen bezüglich der Annahme einer angebotenen Arbeit, deren Anforderungen sich unterhalb des Qualifikationsgrads befinden. 30% der Bevölkerung stimmen der vollkommenen Streichung von finanziellen Versicherungsleistungen zu, falls eine angebotene Arbeit mit Berufung auf den Qualifikationsgrad abgelehnt wird. Auch hier sind Rückkopplungen an die
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
135
Gerechtigkeitsvorstellungen zu erwarten; zudem sollte der Erwerbsstatus der Menschen deren Urteil mitbestimmen. Tabelle 6: Zustimmung zu Regelungen des Arbeitslosengelds (in %) Älterelänger Leistung beziehen*
KeineLeistung beiAblehnung vonArbeit**
54
30
UnterstesQuintil
56
32
OberstesQuintil
44
30
JeweilsvolleZustimmung/AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
Abhängigbeschäftigt
54
25
Selbständig
56
38
Arbeitslos(bis1Jahr)
66
22
Langzeitarbeitslos
71
14
18Ͳ34Jahre
39
30
35Ͳ59Jahre
59
25
60Jahreundälter Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
60
37
Egalitarismus(ja/nein)
(55/47)
(29/30)
Individualismus(ja/nein)
(55/52)
(33/27)
Gering
63
31
Hoch
49
31
Gering
52
30
Hoch
59
32
Ich lese Ihnen nun verschiedene Aussagen zum Arbeitslosengeld vor. Bitte sagen Sie mir für jede, ob Sie ihr voll zustimmen, ihr eher zustimmen, ihr weder zustimmen noch sie ablehnen, sie eher ablehnen oder voll ablehnen. * Ältere Arbeitslose sollten in jedem Fall länger Arbeitslosengeld beziehen als Jüngere. ** Wer als Arbeitsloser eine zumutbare Arbeit ablehnt, sollte keine Leistungen mehr erhalten, auch wenn die angebotene Arbeit unter seiner Qualifikation liegt oder schlecht bezahlt wird.
Wie vermutet gibt es einen klaren Alterseffekt: Je älter der Befragte, desto deutlicher fällt seine Zustimmung zum längeren Leistungsbezug aus. Neben dem damit verbundenen individuellen Nutzen verweist dies auch auf das Einklagen der Gegenleistung für die lange geleisteten Beiträge, mithin auf die Dimension des Äquivalenzgebots, die bei Gleichbehandlung aller Arbeitslosen verletzt scheint, sowie auf den endowment effect, nachdem einmal Erworbenes ungern preisgegeben wird. Die Stellung im Beruf spielt dagegen keine Rolle, während bereits Arbeitslose die höchsten Zustimmungswerte zeigen. Das unmittelbare Kosten-Nutzen-Kalkül tritt hier eindeutig in den Vordergrund. Die klare Orientierung am persönlichen Vorteil erklärt auch, dass Menschen mit hohem Einkommen dieser Forderung eher seltener zustimmen, und zudem die Gerechtigkeitsvorstellungen einen geringeren Einfluss auf die Bewertung haben. Letzteres gilt interessanter Weise auch für die Aussage, Arbeitslosen sollten die Leistungen gestrichen werden, wenn sie eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation ablehnen. Weder finden egalitaristisch Orientierte diese Forderung besonders anstößig, noch wird sie
136
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
von „Nicht-Egalitaristen“ überdurchschnittlich begrüßt. Offenkundig ist auch hier die tatsächliche oder erwartete Betroffenheit von einer solchen Sanktion maßgeblich, die vor allem von der eigenen Arbeitssituation bestimmt wird. Alter, Einkommen, Zufriedenheit und Ängstlichkeit zeigen daher keinen Einfluss, die Stellung im Erwerbsleben aber sehr deutlich. Selbständige haben tendenziell geringere Bedenken gegen die Sanktion, während Arbeitslose, vor allem Langzeitarbeitslose diese vehement ablehnen. Ebenfalls nur gering fällt die Zustimmung der abhängig Beschäftigten aus – bei diesen zeigt sich recht deutlich die Angst vor dem Verlust des einmal erworbenen Status, was als Beleg für die These der Verlustaversion zu werten ist. Tabelle 7: Zustimmung zu Regelungen des Arbeitslosengelds (Betawerte) Älterelänger Leistungbeziehen
KeinLeistungbei Ablehnungvon Arbeit
Einkommen
Ͳ,036*
Ͳ,031
Selbstständig
,018
Ͳ,010
Arbeitslos
,025
Ͳ,093***
Alter
,132***
,040*
Egalitarismus
,101***
Ͳ,049
,005
,116***
Zufriedenheit
Ͳ,045*
,037*
Ängstlichkeit
,003
Ͳ,004
Individualismus
*:p<=0,05;**:p<=0,01;***:p<=0,001 Die multivariate Überprüfung liefert eine Präzisierung der bivariat gefundenen Zusammenhänge. Während die Zustimmung zum längeren Leistungsbezug primär vom Alter determiniert wird, werden Sanktionen gegen Arbeitslose vor allem vor dem Hintergrund der eigenen Arbeitslosigkeit beurteilt. Beide Berechnungen bieten darüber hinaus einen Erklärungszusammenhang, der bivariat noch nicht so deutlich war, nämlich den eingangs vermuteten Effekt der Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Akzeptanz des längeren Leistungsbezugs Älterer wächst mit dem Wunsch nach einer egalitaristischen Ordnung, und noch deutlicher führt eine individualistische Gerechtigkeitsorientierung dazu, dass eine Sanktion gegen arbeitsunwillige Arbeitslose begrüßt wird. Beides zeigt recht deutlich, dass neu eingeführte administrative Regelun-
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
137
gen neben ihrem unmittelbaren Nutzen auch vor dem Hintergrund der zugrunde liegenden Äquivalenz- und Leistungsgerechtigkeit beurteilt werden.
3.2 Die Grundsicherung für Arbeitsuchende Anlass für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe waren ein Finanzierungs- und ein Anreizproblem. Ziel der Reformen war es zum einen, unter dem Motto „Fördern und Fordern“ die Eigenverantwortung Langzeitarbeitsloser stärker als bisher zu „stärken“, wodurch die traditionelle Arbeitsmarktpolitik zunehmend durch aktivierende Elemente ergänzt wurde. Zum anderen richtete sich die Intention darauf, die Orientierung der Leistungen am bisherigen Lebensstandard und Einkommen, wie sie in der Arbeitslosenhilfe verankert war, durch das Prinzip der Mindestsicherung zu ersetzen. Dieses Prinzip ist jedoch umstritten; zudem bedeutet diese Neuorientierung einen realen Verlust für viele Betroffene. Dies lässt erwarten, dass die derzeitigen Leistungen, die eigene Absicherung sowie die zugrunde liegenden Regelungen kritischer gesehen werden und zu größeren Polarisierungen der Einstellungen führen als beim etablierten Arbeitslosengeld. 3.2.1 Leistungen heute Etwas überraschend ist, dass die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende von den Menschen nicht so negativ eingeschätzt werden, wie man das aufgrund der großen Kritik erwarten konnte. Immerhin 42% halten die Leistungen für eher gut oder gut.
138
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Tabelle 8: Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (in %)* Eherschlecht /Schlecht
Ehergut/
58
42
UnterstesQuintil
61
39
OberstesQuintil
51
49
Jeweilssehrwichtig/AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
Gut
Abhängigbeschäftigt
59
41
Selbständig
53
47
Arbeitslos(bis1Jahr)
73
27
Langzeitarbeitslos
70
30
18Ͳ34Jahre
55
45
35Ͳ59Jahre
62
38
60Jahreundälter
55
45
Egalitarismus(ja/nein)
(62/48)
(38/52)
Individualismus(ja/nein)
(51/64)
(49/36)
Gering
70
30
Hoch
47
53
Gering
58
42
Hoch
56
44
* Seit 2005 erhalten Langzeitarbeitslose und arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger gemeinsam eine Grundsicherung für Arbeitsuchende, das so genannte Arbeitslosengeld II. Halten Sie die Leistungen des Arbeitslosengelds II für gut, eher gut, eher schlecht oder schlecht?
Quelle: Die Angaben zur Grundsicherung für Arbeitslose basieren auf der Befragungswelle 2007
Auch die Differenzen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen fallen nicht höher aus als beim Arbeitslosengeld, wobei sich das dort schon beobachtete Muster erneut zeigt: Das Alter spielt keine, das Einkommen nur eine untergeordnete Rolle. Von Bedeutung sind dagegen die Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen sowie ihr subjektives Wohlbefinden und ihr Erwerbsstatus. Bei Letzterem ist eine interessante Beobachtung zu machen: Kurzzeitarbeitslose bewerten die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende schlechter als Langzeitarbeitslose. Mit anderen Worten: Wer von „Hartz IV“ bedroht ist, sieht diese Situation skeptischer als die real Betroffenen, die Verlustaversion wirkt sich demnach stärker vor Eintreten des Verlustes aus.
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
139
Tabelle 9: Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Betawerte) Einkommen
,000
Selbstständig
Ͳ,034*
Arbeitslos
Ͳ,034*
Alter
,005
Egalitarismus
Ͳ,111***
Individualismus
,137***
Zufriedenheit
,174***
Ängstlichkeit
,024
*:p<=0,05;**:p<=0,01;***:p<=0,001 Die oben getroffenen Folgerungen halten einer multivariaten Überprüfung stand. Menschen, die sich eher für eine Gleichverteilung der Güter aussprechen, sehen das Leistungsniveau kritischer, während Menschen, die eine marktmäßige Verteilung gemäß dem Einsatz des Einzelnen stärker betonen, die Leistungen eher als angemessen betrachten. KostenNutzen-Überlegungen spielen, wenn überhaupt eine untergeordnete Rolle, wie z.B. bei der Bewertung durch Selbständige und Arbeitslose. Die Einflussstärken sind dabei in etwa gleich hoch wie bei der Bewertung der Leistungen des Arbeitslosengelds. Allerdings behält bei der Grundsicherung der Erwerbstatus seine Signifikanz, d.h. die Leistungen der Grundsicherung werden stärker vor dem Hintergrund der eigenen Erwerbssituation betrachtet. 3.2.2 Eigene Absicherung Wenn auch die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende von der Bevölkerung insgesamt nicht so schlecht angesehen werden, ist die Angst vor dem Angewiesensein auf „Hartz IV“ in der Gesellschaft weit verbreitet. Dies wird noch deutlicher, wenn man die Menschen fragt, wie sie sich in der Zukunft bei einer länger andauernden Phase der Arbeitslosigkeit abgesichert fühlen. In diesem Fall hält sich nur ein Viertel der Befragten eher gut oder gut abgesichert.
140
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Tabelle 10: Eigene Absicherung bei längerer Arbeitslosigkeit (in %)* Eher schlecht/ Schlecht
Ehergut/
74
26
UnterstesQuintil
81
19
OberstesQuintil Abhängigbeschäftigt
57
43
74
26
Selbständig
67
33
Arbeitslos(bis1Jahr)
76
24
Langzeitarbeitslos
86
14
18Ͳ34Jahre
73
27
35Ͳ59Jahre
74
26
60Jahreundälter
65
35
Egalitarismus(ja/nein)
(76/67)
(24/33)
Individualismus(ja/nein)
(70/76)
(30/24)
Gering
84
16
Hoch
58
42
Gering
71
29
Hoch
87
13
AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
Gut
* Und wenn Sie an Ihre eigene Zukunft denken, was meinen Sie: werden Sie in Zukunft bei einer länger andauernden Arbeitslosigkeit gut, eher gut, eher schlecht oder schlecht abgesichert sein?
Die Unterschiede bei den normativen Vorstellungen fallen deutlich geringer als bei der allgemeinen Einschätzung aus, was aufgrund der unmittelbareren Verbindung zur persönlichen Situation auch erwartbar war. Die soziale Lage und die subjektive Zufriedenheit führen dagegen zu großen Einstellungsdifferenzen. Die unmittelbare Betroffenheit von Arbeitslosigkeit dagegen zeigt erst bei längerer Dauer einen Effekt, während Kurzzeitarbeitslose ihre Absicherung ähnlich gut oder schlecht einschätzen wie (noch) Beschäftigte.
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
141
Tabelle 11: Eigene Absicherung bei längerer Arbeitslosigkeit (Betawerte) Einkommen
,101***
Selbstständig
,000
Arbeitslos
,019
Alter
Ͳ,021
Egalitarismus
Ͳ,031*
Individualismus
,055**
Zufriedenheit
,210***
Ängstlichkeit
Ͳ,072***
Die multivariate Analyse bestätigt zwar die hohe Bedeutung des Einkommens und der Zufriedenheit mit dem subjektiven Absicherungsgefühl; anders als bei der Wahrnehmung der eigenen Absicherung bei kürzerer Arbeitslosigkeit sind nun aber deutlich weniger Einflüsse signifikant. So spielt es keine Rolle mehr, ob der Befragte selbständig oder arbeitslos ist, und auch die Stärke des Zusammenhangs mit den normativen Überzeugungen fällt bei der Vorstellung, länger arbeitslos zu sein, geringer aus. Die „Bedrohung“ auf eine Grundsicherungsleistung angewiesen zu sein, verengt offenkundig den Blick der Menschen und lässt nur wenige, dafür aber maßgebliche Entscheidungsgewichte übrig. Ob die Status-quoReferenz und/oder der endowment effect dominiert, lässt sich hier nicht beantworten. Gerechtigkeitsvorstellungen spielen eine untergeordnete Rolle bei der Bewertung der eigenen Absicherung. 3.2.3 Prinzipien und Reformmaßnahmen Neben dem zum Teil als zu gering angesehenen staatlichen Leistungsniveau bei der Absicherung im Falle von längerer Arbeitslosigkeit werden insbesondere auch die speziellen Prinzipien und Regelungen der Leistungsgewährung kritisiert. Die Bevölkerung hält grundsätzlich eher an der Idee einer Lebensstandardsicherung auch bei einer längeren Arbeitslosigkeit fest. Über zwei Drittel der Befragten wollen auch in einem solchen Fall die Transferleistung an den vorherigen Lohn gekoppelt wissen. Während die Idee der Mindestsicherung demnach in der Gesellschaft umstritten ist, stoßen die Verschärfungen bei den Zumutbarkeitsregelungen und die Durchführung stärkerer Kontrollen beim Bürger eher auf Zustimmung. Um dem Missbrauch von Sozialleistungen entgegen zu wirken, sollen nach Meinung einer Mehrheit die Leistungsbezieher permanent kontrolliert werden.
142
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Beide Items sind im Kontext der Fragestellung interessant, da bei ihnen neben der unmittelbaren Betroffenheit und dem Eigennutz auch die Dimension der Gerechtigkeit sowie die Bewertung der eigenen Lage und der sozialen Angemessenheit der Neuregelungen von Belang sind. Es lässt sich daher erwarten, dass sowohl die soziale Lage als auch die normativen Überzeugungen und das subjektive Wohlbefinden Einfluss auf die Beurteilung nehmen. Tabelle 12: Zustimmung zu Regelungen der Grundsicherung (in %) Leistungsollen Kontrollezur vomLohn MissbrauchsͲ abhängen* bekämpfung**
JeweilsvolleZustimmung/AlleBefragten Einkommenslage
Erwerbsstatus
Alter
Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit
33
53
UnterstesQuintil
40
49
OberstesQuintil Abhängigbeschäftigt
30
53
34
52
Selbständig
26
50
Arbeitslos(bis1Jahr)
45
45
Langzeitarbeitslos
46
36
18Ͳ34Jahre
23
50
35Ͳ59Jahre
35
50
60Jahreundälter
39
61
Egalitarismus(ja/nein)
(36/24)
(53/54)
Individualismus(ja/nein)
(34/33)
(58/50)
Gering
44
58
Hoch
29
49
Gering
32
53
Hoch
45
65
*Auch bei längerer Arbeitslosigkeit sollte die Leistung vom vorherigen Lohn abhängen, damit der Lebensstandard gesichert wird. **Es ist nötig, Leistungsbezieher permanent zu kontrollieren, um den massenhaften Missbrauch von Sozialleistungen zu bekämpfen.
Dies trifft jedoch nur bedingt zu. Vor allem die Kontrolle der Leistungsbezieher wird wenig kontrovers gesehen, in nahezu allen Gruppen der Bevölkerung stimmt etwa die Hälfte einer solchen Forderung vollkommen zu, unabhängig vom Alter, dem Einkommen und der Wertorientierung. Lediglich die Gruppe der unmittelbar betroffenen Langzeitarbeitslosen zeigt eine geringere Neigung, sich permanent kontrollieren zu lassen, aber auch innerhalb dieser Gruppe hat über ein Drittel keinerlei Einwände gegen die Sanktionen. Differenzierter fällt die Betrachtung der Lebensstandardsicherung auch bei längerer Arbeitslosigkeit aus. Starke Unterschiede bestehen aufgrund der potentiellen bzw. realen
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
143
Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, was sich durch Kosten-Nutzen-Erwägungen erklären lässt. Von ebenfalls großer Bedeutung ist jedoch auch eine egalitaristische Gerechtigkeitsvorstellung. Wer für mehr Umverteilung plädiert, wünscht auch häufiger, dass Langzeitarbeitslose entsprechend ihrem vorherigen Lohn unterstützt werden. Zwar werden hierdurch soziale Unterschiede weiter getragen, was dem Gleichheitsgrundsatz des Egalitaristen widerspräche. Aber schwerer wiegt offensichtlich, für geleistete Beiträge gemäß dem Äquivalenzprinzip auch eine Gegenleistung zu erhalten. Interessanterweise ist hier auch ein recht klarer Effekt des Alters zu beobachten. Während Jüngere geringere Zustimmung zeigen, halten Ältere eher an der früheren Regelung fest. Neben den unterschiedlichen Referenzpunkten, die aufgrund des Alters gesetzt werden, kann auch die Vorstellung Jüngerer, von Arbeitslosigkeit weniger bedroht zu sein, sowie die geringere Verlustaversion aufgrund niedrigerer Einkommen hierfür maßgeblich zu sein. Mit anderen Worten: Im Alter kulminieren die Einflüsse der sozialen Lage, der kulturellen Prägung sowie die Selbstwahrnehmung. Tabelle 13: Zustimmung zu Regelungen der Grundsicherung (Betawerte) Leistungensollen vomLohnabhänͲ gen
KontrollezurMissͲ brauchsͲ bekämpfung
Einkommen
Ͳ,009
Ͳ,012
Selbstständig
Ͳ,063***
Ͳ,029
,031*
Ͳ,096***
Alter
,172***
,040*
Egalitarismus
,146***
Ͳ,013
,014
,141***
Zufriedenheit
Ͳ,066***
Ͳ,070***
Ängstlichkeit
Ͳ,008
Ͳ,005
Arbeitslos
Individualismus
*:p<=0,05;**:p<=0,01;***:p<=0,001 Beide zuletzt genannten Dimensionen, Alter und Egalitarismus, zeigen sich auch im multivariaten Modell stabil in ihrer Bedeutung, was sie als grundlegende Einflüsse kennzeichnet. Auch der Erwerbsstatus und die subjektive Zufriedenheit haben signifikanten Einfluss auf den Wunsch nach Lebensstandardsicherung für Langzeitarbeitslose.
144
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Bei der Kontrolle der Leistungsempfänger dagegen zeigen sich erneut geringere Differenzierungen. Neben der oben schon erwähnten, nahe liegenden Bedeutung der Arbeitslosigkeit zeigt sich jedoch noch ein weiterer Einfluss, der bivariat nicht so deutlich in Erscheinung trat: der Individualismus, also die Überzeugung, dass die Güter nach Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit verteilt sein sollten. Zwar kann eine Grundsicherung nicht nach Leistungskriterien gewährt werden, aber zumindest größtmögliche Transparenz und Effizienz sollten dabei nach dieser Überzeugung hergestellt sein.
4
Schlussbemerkungen
Auch wenn einige markante Unterschiede zwischen den Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung für Arbeitsuchende zu verzeichnen sind, darf dies nicht über einen Kernbefund hinwegtäuschen: Die Differenzen sind zumeist eher gering, offenbar werden beide Sicherungssysteme nach ähnlichen Gesichtspunkten betrachtet. Dies überrascht insofern, als das Arbeitslosengeld nach dem tradierten und weithin akzeptierten Äquivalenzprinzip funktioniert, während dieses Prinzip bei der Grundsicherung aufgegeben wurde, was eine deutliche kritischere Einschätzung erwarten ließe. Vorstellbar ist, dass zum einen bereits ein Gewöhnungseffekt an die Grundsicherung statt gefunden hat und zum anderen die Arbeitslosenversicherung generell unter dem derzeitigen Negativbild leidet, wodurch die Unterschiede zwischen den Systemen verwischt werden. So herrscht auch weitgehend Einigkeit bei der Bewertung von Reformideen und – regelungen zwischen beiden Sicherungssystemen. Beide Sanktionsmaßnahmen, also der Wegfall von Leistungen bei Ablehnung von Arbeit und die Kontrolle von Leistungsbeziehern, werden nach dem gleichen Muster beurteilt: Wer von einer solchen Maßnahme betroffen sein könnte, lehnt diese tendenziell ab, und Zustimmung äußern vor allem jene, die eine individualistische Gerechtigkeitsvorstellung haben. Es handelt sich demnach um eine Mischung aus rationalökonomischer und sozialer Bewertung, wobei jeweils ausschlaggebend die Perspektive der Menschen ist. Die Einschätzung der derzeitigen Leistungen der Arbeitslosigkeitssysteme wird vor allem von den Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen bestimmt. Wer sich einen interventionistischen Staat und eine möglichst große Gleichheit der Lebensverhältnisse wünscht, hält die derzeitigen Leistungen eher für schlecht, wer dagegen die Wohlstandsverteilung primär über den Markt und die eigene Leistungsfähigkeit hergestellt sehen will, hält das heutige Sicherungsniveau tendenziell für ausreichend. Sozialisatorische und strukturelle Faktoren wie Alter und Einkommen sind dagegen kaum von Belang, mit anderen Worten: die ökonomische Rationaltheorie bietet wenig Anhaltspunkte für die allgemeinen Einstellungen zur Absicherung Arbeitsloser. Anders stellt sich dies dar, wenn nach der eigenen Absicherung im Falle einer Arbeitslosigkeit gefragt wird. Hier spielen die Gerechtigkeitsvorstellungen eine untergeordnete Rolle, während die soziale Lage des Betroffenen eine hohe Signifikanz hat. Interessanter Weise ist für die Einschätzung, im Falle einer kurzen Arbeitslosigkeit gut abgesichert zu sein, der eigene Erwerbsstatus von Bedeutung; angesichts einer längeren Arbeitslosigkeit verschwindet dieser Effekt. Dies kann als klarer Beleg für die Relevanz des Referenzpunkts gesehen werden: Bei einer kurzen Arbeitslosigkeit wird die Güte der Absicherung noch vor dem Hintergrund der vorherigen Beschäftigung beurteilt, bei langer Arbeitslosigkeit wird
Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik
145
dies nebensächlich. Die Angst vor Arbeitslosigkeit und dem damit einhergehenden Statusund Wohlstandsverlust drückt sich auch in der hohen Bedeutung der persönlichen Zufriedenheit aus. Wer mit sich und seinem Leben unzufriedener ist, bewertet auch die eigene Absicherung im Fall einer Arbeitslosigkeit schlechter, unabhängig von seiner realen sozialen Lage. Hieraus lässt sich folgern, dass Verlustaversionen kein Automatismus angesichts einer Bedrohung sind, sondern in ihrem Ausmaß selbst von der subjektiven Deutung der Situation determiniert werden. Generell lässt sich aber festhalten, dass die untersuchten Einstellungen nicht monokausal begründbar sind: Auch wenn ein Erklärungszusammenhang dominant ist, wird er stets von weiteren signifikanten Einflüssen „begleitet“. Tendenziell werden die allgemeine Absicherung primär nach Gerechtigkeits- und die eigene Absicherung primär nach KostenNutzen-Erwägungen beurteilt. Die Empirie liefert demnach Anhaltspunkte dafür, dass sowohl das ökonomische Rationalmodell als auch die Ansätze der Bevavioral Economics von Belang für die Einstellungen zur Absicherung in Arbeitslosigkeit sind. Je nach Themenbereich bestimmen unterschiedliche Einflussfaktoren das Antwortverhalten. Aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive für die Absicherung in Arbeitslosigkeit erscheint die Berücksichtigung der Einstellungen von nicht unerheblicher Bedeutung. Reformen, die auf die ökonomische Rationaltheorie gründen wie z.B. das Forderungspostulat aber auch das Förderungspostulat im Sinn einer Verringerung oder Vergrößerung der Kosten-Nutzen-Relation dürften auf erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich Akzeptanz und Wirksamkeit stoßen, wenn als Letztbegründung allein diese ökonomischen Faktoren betont werden. Dominiert eine egalitaristische Gerechtigkeitsnorm, dürften solche Anreize kaum zu dem erwarteten Verhalten führen oder zumindest auf die Personen beschränkt bleiben, die eine individualistische Orientierung haben. Eine wirksame arbeitsmarktpolitische Steuerung bedarf daher der Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden Bewertungen, um Verletzungen der grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu vermeiden. Wir konnten in diesem Beitrag Belege dafür bringen, dass bei den beiden untersuchten Systemen der Absicherung in Arbeitslosigkeit differenzierte Erklärungen für die Einstellungen zu diesen Systemen bestehen, die sowohl auf die ökonomische Rationaltheorie als auch auf Ansätze der Behavioral Economics zurückgeführt werden können. Wir können allerdings (noch) nicht adäquat erklären, warum in bestimmten Bereichen das KostenNutzen-Kalkül dominiert, in anderen Bereichen Verlustaversion, endowment effect, soziale Präferenzen und Status-quo-Orientierung. Hier besteht noch Forschungsbedarf; neuere Ansätze tragen diesem Bedarf Rechnung (vgl. u.a. Heinemann et al. 2008: 383ff.; Enste et al. 2009).
Literatur Aizen, I./Fishbein, M. (2005): The Influence of Attitudes on Behavior. In: Albarrazín, D. et al. (Eds.): The Handbook of Attitudes. Lawrence Erlbaum Associates: London. 173 - 221. Andreß, H.-J./Heien, T./Hofacker, D. (2001): Wozu brauchen wir noch den Sozialstaat? Der deutsche Sozialstaat im Urteil der seiner Bürger. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden. Aronson. E./Wilson, T. D./Akert, R. M. (2004): Sozialpsychologie. 4. Aufl. Pearson Studium Verlag., München. Bischoff, I. (2007): Prospect Theory. In: WISU 36. 1334-1341.
146
Oliver Nüchter/Alfons Schmid
Enste, D. H./Haferkamp, A./Fetchenhauer, D. (2009): Unterschiede im Denken zwischen Ökonomen und Laien – Erklärungsansätze zur Verbesserung der wirtschaftspolitischen Beratung. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10. 1/2009. 60-78. Förg, F./Frey, D./Heinemann, F./Jonas, E./Rotfuß, W./Traut-Mattausch, E./Westerheide, P. (2007): Psychologie, Wachstum und Reformfähigkeit. Schlussbericht, Forschungsauftrag 15/05 des Bundesministeriums der Finanzen. Berlin (bisher unveröffentlicht). Hartmann, H. A./Wakenhut, R. (1995): Gesellschaftlich-politische Einstellungen. Verlag Dr. Kovac, Hamburg. Heinemann, F./Förg, M./Jonas, E./Traut-Mattausch, E. (2008): Psychologische Restriktionen wirtschaftspolitischer Reformen. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 9, 4/2008. 383 – 404. Jungermann, H./Pfister, H.-R./Fischer, K. (2005): Die Psychologie der Entscheidung. 2. Aufl. Spektrum, München. Kahnemann, D./Tversky, A. (1979): Prospect Theory. An Analysis of Decision under Uncertainty. In: Econometrica 47, 264-291. Krömmelbein, S./Bieräugel, R./Nüchter, O./Glatzer, W./Schmid, A. (2007): Einstellungen zum Sozialstaat. Frankfurter Reihe Sozialpolitik und Sozialstruktur. Band. 1. Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills. Magen, S. (2005): Fairness, Eigennutz und die Rolle des Rechts. Eine Analyse auf Grundlage der Verhaltensökonomik. Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods. 2005/22. Bonn. Nüchter, O./Bieräugel, R./Schipperges, F./Glatzer, W./Schmid, A. (2008): Einstellungen zum Sozialstaat II. Die Akzeptanz der sozialen Sicherung und der Reformen in der Renten- und Pflegeversicherung. Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills. Nüchter, O. /Schmid, A. (2009): Einstellungen zum Sozialstaat und Erwerbsstatus. In: Struck, O./ Seifert, H. (Hg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. VS Verlag, Wiesbaden. 77-97. Roller, E. (1992): Einstellungen der Bürger zum Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik Deutschland. Westdeutscher Verlag, Opladen.
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
147
Karen Jaehrling
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
1
Einleitung
Die im Zeichen des Aktivierungsparadigmas stehenden Veränderungen der Arbeitsmarktpolitik sind von einer stärkeren Institutionalisierung von Gleichstellungspolitik in der Arbeitsförderung begleitet worden. Mit dem SGB III und dem Job-AQTIV-Gesetz wurden zusätzliche organisatorische und prozedurale Vorgaben eingeführt, die der bereits zuvor geltenden Frauenförderquote sowie dem nunmehr an prominenter Stelle verankerten Ziel der Gleichstellung (§ 1 SGB III) stärkere Geltung verschaffen sollen. Zugleich sind mit der Einführung des SGB II die Zugangsschwellen zu den Eingliederungsleistungen des SGB III insbesondere für die weiblichen Erwerbslosen aus Sozialhilfe- und ArbeitslosenhilfeHaushalten gesunken, die bis dato von Arbeitsagenturen und kommunaler Hilfe zur Arbeit kaum als Adressatinnen der Arbeitsförderung betrachtet wurden. Gleichstellung und Aktivierung – eine Wahlverwandtschaft? Oder eine bloße zeitliche Koinzidenz zweier eigendynamischer Entwicklungstrends, die Stiefgeschwistern gleich außer der gemeinsamen Wohnung zunächst wenig gemein haben? Dass Gleichstellung und Aktivierung jedenfalls keine widerspruchsfreie Verbindung eingehen, zeigt bereits die kritische Würdigung der ‚Hartz-Reformen’ durch VertreterInnen gleichstellungspolitischer Anliegen. Hintergrund für die Kritik ist, dass die Einbeziehung des größeren Kreises von AdressatInnen zu veränderten Konditionen geschieht, insbesondere unter der Bedingung eines veränderten Verhältnisses von Zugangsrechten und Zugangspflichten. Während die einen dabei die Rücknahme von Zugangsrechten für bestimmte Gruppen von Frauen (Berufsrückkehrerinnen, Nichtleistungsbezieherinnen) kritisierten (vgl. Deutscher. Frauenrat 2003), haben andere sich mit Blick auf ‚Hartz IV’ vor allem kritisch auf die stärker eingeforderte Pflicht zur Erwerbsaufnahme bei gleichzeitig abgesenkten Zumutbarkeitskriterien bezogen; die einer Art Zwangs-Emanzipation ohne Rücksicht auf bestehende familiäre Verpflichtungen Vorschub leiste (vgl. etwa Spindler 2003). Der folgende Beitrag zeichnet das Neben- und Miteinander von Gleichstellung und aktiv(ierend)er Arbeitsmarktpolitik nach. Er argumentiert, dass die stärkere Institutionalisierung von Gleichstellungspolitik an entsprechende Bestrebungen im Kontext der vorangegangenen Phase aktiver Arbeitsmarktpolitik anknüpft und diese weiterentwickelt; dass das gleichstellungspolitische Instrumentarium jedoch nicht ausreichend auf den neuen Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitik abgestimmt ist, um potentiell positive Implikationen aktivierender Arbeitsmarktpolitik für das Gleichstellungsziel zu stützen und negativen entgegenzuwirken.
148 2
Karen Jaehrling Ein Rückblick: Gleichstellung im Kontext aktiver Arbeitmarktpolitik
Die Stärkung aktiver Arbeitsmarktpolitik durch das AFG versprach zunächst mittelbar und unmittelbar auch eine Stärkung der Gleichstellung von Frauen am Arbeitsmarkt. Bei der Einführung des AFG galten vornehmlich verheiratete Frauen mit ihrer niedrigen Erwerbsquote als eine Gruppe, die von einer Unterstützung bei der (Wieder-)Eingliederung in Erwerbstätigkeit profitieren würde. Entsprechend sollte die im Gesetz von Beginn an verankerte Frauenförderung Frauen zugute kommen, „deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, weil sie verheiratet oder aus anderen Gründen durch häusliche Pflichten gebunden sind oder waren“ (§ 2 Abs. 5 AFG, zitiert nach Maier 1996: 194). Zudem zeigten die darauf folgenden Jahrzehnte, dass das Aufholen von Frauen im Bereich allgemeinschulischer und universitärer Bildungsabschlüsse ihnen keineswegs in gleichem Maße den Zugang zu höherwertigen Arbeitsplätzen verschaffte. Frauen waren und sind nach wie vor häufiger als Männer nicht ihrer Qualifikation entsprechend beschäftigt (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 1998: 996) Das im AFG verankerte Ziel der Verhinderung unterwertiger Beschäftigung erwies sich mithin bereits für sich genommen als überaus gleichstellungsrelevant. Umsetzung und Wirksamkeit dieser gleichstellungsrelevanten Ziele wurden jedoch zum einen durch ihre Einbettung in einen gesellschaftlichen Kontext gebremst, der durch familien-, steuer- und sozialrechtliche Regelungen sowie ein niedriges Niveau staatlicher Investitionen in den Ausbau von Kinderbereuungseinrichtungen zugleich Anreize zugunsten einer Einschränkung der Erwerbstätigkeit von Frauen setzte (vgl. von Wahl 1999: 186ff). Dabei verbanden sich mit solchen Regelungen durchaus arbeitsmarktpolitische Zwecksetzungen und nicht allein konservative familien- oder frauenpolitische Ideale. Es scheint in der Tat „kein Zufall zu sein, dass das politische System auf die hohe Erwerbslosigkeit einerseits mit der sozialpolitisch abgesicherten Ausgliederung älterer (männlicher) Arbeitskräfte (Frühverrentung, Vorruhestand) reagiert, andererseits Frauen anbietet, ihre Erziehungsarbeit zu honorieren (Erziehungsgeld, Rentenanrechnung) und ihnen nach Erfüllung dieser Aufgabe einen ‚Wiedereinstieg’ verspricht“ (Maier 1996: 197). Die Wirksamkeit des AFG wurde aber auch durch Modifikationen des Gesetzes selbst beschränkt, genauer durch restriktivere Förderkonditionen. Dabei stand das AFG zunächst auch in dieser Hinsicht im Zeichen der Expansion des Sozialstaats: Es sollte nach dem Willen seiner Urheber weg von der Beschränkung der Dienstleistungen der Arbeitsämter auf Versicherte hin zu einem vielseitigen Angebot von Leistungen für alle führen (vgl. Lampert 1989: 175). Dieses Ziel hatte allerdings bekanntermaßen nur kurze Zeit Bestand. Bereits mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1976 reagierte die sozialliberale Koalition auf die Wirtschaftskrise nicht mit einer antizyklischen Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, sondern mit ihrer Einschränkung (vgl. Webber 1982). Grundsätzlich wurde nun beispielsweise nur noch gefördert, wer in den letzten drei Jahre vor Beginn der Maßnahme mindestens zwei Jahre lang versicherungspflichtig beschäftigt war oder Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe aufgrund einer vorausgegangenen beitragspflichtigen Beschäftigung von mindestens einem Jahr bezogen hatten. Durch solche und weitere Regelungen in den Folgejahren wurden die Leistungen nicht nur stärker auf den Kreis der Leistungsbeziehenden beschränkt, sondern auch innerhalb dieses Kreises eine Art Kundensegmentierung ‚avant la lettre’ vorgenommen.
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
149
Zu einer Reduzierung des Adressatenkreises der Arbeitsförderung trugen zudem die leistungsrechtlichen Veränderungen und die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bei. Insbesondere das Wachstum der versicherungsfreien geringfügigen Beschäftigung hat dazu geführt, dass die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen ihnen nicht auch in gleichem Maße den Zugang zum Kreis der vorrangig geförderten Leistungsbezieher eröffnet hat. Die Reduzierung der originären Arbeitslosenhilfe sowie die zunehmende Anrechnung von Partnereinkommen in der ‚Anschluss-Arbeitslosenhilfe’ hat zudem dazu geführt, dass auch ein wachsender Teil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Männer und Frauen bei Arbeitsplatzverlust vom Leistungsempfang ausgeschlossen waren. Sie konnten sich zwar als Nicht-Leistungsbeziehende (mit oder ohne Sozialhilfebezug) bei den Arbeitsämtern als arbeitslos melden, hatten hier aber auch aufgrund der besagten Regelungen nur eingeschränkt Zugang zu den Leistungen der Arbeitsförderung. Für SozialhilfebezieherInnen blieb der ‚zweite Pfeiler’ der Arbeitsmarktpolitik in Form der kommunalen ‚Hilfe zur Arbeit’. Gleichstellungspolitik im Rahmen des AFG richtete sich unter diesen Bedingungen primär darauf, Zugangsrechte zu sichern und die restriktiven Förderprinzipien zumindest partiell zu korrigieren, zumal diese auch von der Arbeitsmarktforschung als ein Haupthindernis für die Teilnahme von Frauen an Maßnahmen der Arbeitförderung identifiziert wurden (vgl. u.a. Gottschall 1987). Bereits 1979 war etwa die dreijährige Rahmenfrist bei Fortbildung und Umschulung-Förderung um erziehungsbedingte Erwerbspausen erweitert worden (bis zu drei Jahre pro Kind). Für die Gruppe der BerufsrückkehrerInnen wurden erleichterte Bedingungen für den Zugang zu aktiven und passiven Leistungen (Unterhaltsgeld) gewährt. Darüber hinaus wurden mit der Einführung der Frauenförderquote im Jahr 1992 auch die Arbeitsämter in die Pflicht genommen, für eine quantitativ angemessene Förderung von Frauen Sorge zu tragen. Neben Quotierung und individuellen Zugangsrechten zählten schließlich auch Förderkonzepte, die auf die spezifischen Unterstützungsbedarfe von Frauen bzw. bestimmter Gruppen von Frauen abgestimmt sind, zum Instrumentarium der Gleichstellungspolitik. Solche Förderkonzepte wurden ab dem Ende der 70er Jahre zunächst außerhalb des AFG, durch Modellversuche auf Bundes- und Länderebene, aber auch durch die entstehende kommunale Arbeitsmarktpolitik entwickelt (vgl. Henninger 2000: 19f. und 44ff.). Nicht zuletzt durch die Einsetzung von ‚Beauftragten für Frauenbelange’ auf den verschiedenen Organisationsebenen der Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 1990 wurden aber auch auf Seiten der Arbeitsverwaltung die personellen Ressourcen geschaffen, um eigene Förderprogramme zu entwickeln. Insgesamt standen Gleichstellung und real existierende aktive Arbeitsmarktpolitik damit in einem Spannungsverhältnis, das jedoch in erster Linie aus der mangelnden Einlösung von Zielen und Prinzipien aktiver Arbeitsmarktpolitik resultierte. Die gleichstellungspolitischen Instrumentarien haben dieses Spannungsverhältnis nicht auflösen können, dürften aber als wichtiges Korrektiv dazu beigetragen haben, die Auswirkungen des Sparkurses auf Frauen verringert zu haben und das Versprechen einer verbesserten beruflichen Eingliederung in einem verhältnismäßig konservativ geprägten gesellschaftlichen Kontext wenigstens partiell einzulösen. Diesbezüglich waren auch Mitte der 1990er Jahre die Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft: So forderte das ‚Memorandum für ein neues Arbeitsförderungsgesetz’ des Arbeitskreises AFG-Reform im Jahr 1995 unter anderem eine jährliche Berichtspflicht der Arbeitsämter über die geschlechtsspezifische Besetzung von Maßnahmen, mehr Kompetenzen für die (damals noch nebenamtlichen) Frauenbeauftragten in den
150
Karen Jaehrling
Arbeitsämtern und die Gleichstellung von Kindererziehungszeiten mit einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (vgl. Maier 1996: 198f). Wie dieser Forderungskatalog veranschaulicht, bezog sich die gleichstellungspolitische Kritik mithin weniger auf die Inhalte und Ziele aktiver Arbeitsmarktpolitik, sondern auf knapp bemessene Ressourcen zur Umsetzung eben dieser Ziele. Die damit verbundene prinzipiell positive Beurteilung des Nutzens der Arbeitsförderung für Frauen ist mit dem Schwenk zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ins Wanken geraten.
3
Eine Zwischenbilanz: Gleichstellung im Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitik
Wirft man im Jahr 2009 einen Blick auf gleichstellungspolitische Forderungen vor Einführung des SGB III (s.o.), so kann man zumindest auf den ersten Blick erfreulich viele Häkchen machen: Mit dem SGB III wurde eine jährliche Berichtspflicht in Form der geschlechterdifferenzierten Eingliederungsbilanz eingeführt. Mit dem SGB III wurden auch auf der Ebene der einzelnen Arbeitsämtern hauptamtliche ‚Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt’ (BCA) eingesetzt (§ 385 SGB III) Infolge des ‚Job-AQTIV-Gesetzes’ sind seit 2003 Eltern, die zuvor Arbeitslosengeld bezogen oder sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, während der Erziehung eines bis drei Jahre alten Kindes bei der Bundesanstalt für Arbeit versichert und haben dadurch im Anschluss an die Erwerbsunterbrechung Anspruch auf Arbeitslosengeldleistungen und entsprechend vorrangigen Zugang zu Leistungen der Arbeitsförderung. Im SGB II selbst ist das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter wie im SGB III an prominenter Stelle (§ 1) verankert worden und die Frauenförderquote des SGB III auch auf den Rechtskreis SGB II übertragen worden. Allerdings ist im SGB II anders als im SGB III für die umsetzenden Stellen nicht vorgeschrieben, das Thema Gleichstellung auch personell zu verankern – mit dem Resultat, dass bislang ein Großteil der Grundsicherungsstellen nicht einmal nebenamtliche Beauftragte für Chancengleichheit haben (vgl. IAQ/FIA/GendA 2007). Hat das Leitbild der Aktivierung mithin auch Schwung in die Gleichstellungspolitik gebracht? Fügen sich ganz allgemein „Gleichstellungsprogramme und Quotierungsmodelle als Instrumente einer faktischen Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsmarkt (…) in die neue aktivierende Arbeitsmarktpolitik“, wie dies Ilona Ostner (1998: 92) in kritischer Absicht konstatiert? Oder soll die sichtbare Aufwertung des Gleichstellungsziels im Gegenteil lediglich problematische Implikationen kaschieren, die der Schwenk zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik auf die Geschlechtergerechtigkeit mit sich bringt – zu denken wäre hier etwa an die stark kritisierte Zumutbarkeit geringfügiger Beschäftigung oder den Wegfall des Anspruchs auf Unterhaltsgeld und Weiterbildungskosten für BerufsrückkehrerInnen? Ich vertrete eine dritte Auffassung: Die stärkere Institutionalisierung stellt eher eine pfadabhängige Fortsetzung und Übertragung bisheriger Gleichstellungspolitik auf den neuen Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitik dar. Diese Übertragung schließt jedoch nicht alle Regelungslücken (vgl. auch Bothfeld/Gronbach 2002), bringt sogar neue Regelungslücken und Schnittstellenprobleme mit sich und bleibt außerdem zu allgemein und unverbindlich,
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
151
um die potentiell gleichstellungsförderlichen Implikationen des Aktivierungs-Paradigmas zu stützen und die potentiell gleichstellungshinderlichen Implikationen abzuwenden.
3.1 Fördern: weniger Hürden, diskretere Diskriminierung? Der Wandel verläuft auch in der Arbeitsmarktpolitik nicht immer gradlinig. Eine Reihe von Neuregelungen im Kontext der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik vertiefte zunächst die Tendenz zur Ausgliederung von Erwerbslosen in den ‚zweiten Pfeiler’ der Arbeitsmarktpolitik (kommunale Sozialhilfe) bzw. in den ‚dritten Pfeiler’ (arbeitslos gemeldete Nichtleistungsbezieher ohne Sozialhilfeanspruch) und in den ‚vierten Pfeiler’ (stille Reserve): Nicht zuletzt durch die Anhebung der Verdienstgrenze auf 400€ und den Wegfall der Stundenbeschränkung im Jahr 2003 ist es zu einer starken Ausweitung von ausschließlich geringfügiger Beschäftigung gekommen. Zudem erhöht die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe (1999) und der Anschluss-Arbeitslosenhilfe (2005) den Kreis der Nichtleistungsbeziehenden zusätzlich. Gleichzeitig hat jedoch die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Pfeilern zumindest formal an Bedeutung für den Zugang zu Leistungen der Arbeitsagenturen verloren. Die Einebnung der Unterschiede resultiert zum einen daraus, dass starre Rahmenfristen als Zugangsbedingung für bestimmte Maßnahmetypen mittlerweile größtenteils entfallen sind, zum anderen aus der Rücknahme von individuellen Förderansprüchen, die Leistungsbeziehenden oder ihnen durch Sonderregelungen partiell gleichgestellten Gruppen (z.B. Berufsrückkehrerinnen) einen privilegierten Zugang zu Eingliederungsleistungen eröffnet hatten. Das SGB II hat außerdem den Adressatenkreis der Arbeitsförderung um viele Erwerbslose erweitert, die zuvor eher zur stillen Reserve zu zählen waren, jedenfalls häufig nicht als arbeitslos oder arbeitsuchend gemeldet waren. Die Leistungen des SGB III stehen nun mit wenigen Ausnahmen allen Erwerbslosen gleichermaßen offen – wenngleich nur als Ermessensleistungen. Das bedeutet allerdings eben nicht, dass faktisch alle Binnendifferenzierungen entfallen. Inwieweit und in welcher Weise differenziert oder ‚segmentiert’ wird, ist nun nur noch stärker als zuvor vom Ermessen der einzelnen Fachkräfte und den für sie handlungsleitenden Vorgaben abhängig. Hier sind aus gleichstellungspolitischer Sicht folgende vier Punkte ausschlaggebend für die Frage, ob Aktivierung effektiv weniger Hürden oder lediglich eine diskretere Diskriminierung mit sich bringt: Erstens impliziert die betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Arbeitsförderung in den Arbeitsagenturen im Gefolge der Hartz-Reformen (Ochs/ISO 2006) nicht nur für arbeitsmarktferne LeistungsbezieherInnen, sondern auch für die Gruppe der Nicht-LeistungsbezieherInnen eine nachrangige Förderung. Es ist daher nachvollziehbar, dass der Ausschluss vieler Frauen aus dem Leistungsbezug infolge der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe als Re-Traditionalisierung der Arbeitsmarktpolitik interpretiert worden ist (vg. Ostendorf 2006). Auch die zum 1.1.2009 in Kraft getretenen Änderungen des SGB III erwecken eher den Eindruck, dass die höhere Aufmerksamkeit der BA für die Gruppe der Nichtleistungsbezieherinnen stark durch das Ziel motiviert ist, einen statistischen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu erreichen: Denn statt z. B. auch eine Quote für Nichtleistungsbezieherinnen einzuführen, werden diese nun hinsichtlich der Mitwirkungspflichten den Leistungsbeziehenden gleichgestellt und mit der ‚Vermittlungssperre’ (§ 38, Abs. 3 SGB III) für 12 Wo-
152
Karen Jaehrling
chen eine Sanktionsmöglichkeit eingeführt, welche die NichtleistungsbezieherInnen für die Dauer der Sperre um die rentenrechtlichen Anrechnungszeiten bringt. Zweitens stellt die Veränderungen des Instrumentenprofils (insbesondere die Einschnitte bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung), sowie das Prinzip des Vorrangs der Vermittlung vor Qualifizierung eine problematische Reduzierung von Arbeitsmarktpolitik auf die Matchingfunktion dar (vgl. Hielscher/Ochs 2009), die einen weiteren Genderbias birgt. Denn in Verbindung mit der ohnehin häufigeren unterwertigen Beschäftigung von Frauen und dem starken Wachstum des weiblich dominierten Niedriglohnsegments lässt dies erwarten, dass dies vor allem die Qualität der Erwerbsintegration von weiblichen Hilfebeziehenden negativ berührt. Selbst wenn Grundsicherungsstellen und Arbeitsagenturen nicht vermittels Sanktionsandrohung aktiv in niedrig entlohnte und gering qualifizierte Stellen hinein zwingen, können sie die gestiegenen Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedriglohnsektor zum Anlass nehmen, eine Förderung selbst dann für verzichtbar zu halten, wenn Neigung und Eignung der Erwerbslosen mit entsprechender Förderung eine Integration in höher qualifizierte, besser bezahlte und vor allem nachhaltigere Beschäftigung ermöglichen würden. Dass Fachkräfte und Erwerbslose selber in der Einschätzung ihrer Möglichkeiten (bzw. arbeitsmarktpolitischer Notwendigkeiten) oftmals auseinanderliegen, zeigen qualitative Befragungen von Erwerbslosen, die relativ häufig von einer Ablehnung ihrer Förderwünsche berichten (vgl. Ames 2008: 77ff.). Hier machen sich auch die Abschaffung von Pflichtleistungen und die Erhöhung des Ermessenspielraums negativ bemerkbar. Zum Dritten ergeben sich durch das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft im Rechtskreis SGB II finanzielle Anreize und Schnittstellenprobleme, die insbesondere den Zugang von Frauen wiederum potentiell beschränken: Anders als in der Arbeitslosenhilfe ist die Beendigung oder Reduzierung des Leistungsbezugs nicht mehr allein durch die Erwerbsintegration des einzelnen Leistungsbeziehenden, sondern auch durch die des jeweiligen Partners möglich. Dadurch bestehen finanzielle Anreize, die Vermittlungsbemühungen in PaarHaushalten selbst bei Paaren mit egalitären Erwerbsorientierungen auf die arbeitsmarktnähere Person zu konzentrieren – umso mehr, wenn die personellen Ressourcen auf Seiten der Vermittlungsfachkräfte zu knapp bemessen sind, um die aufwändigere Unterstützung arbeitsmarktferner Erwerbsloser leisten zu können. Begünstigt wird eine solche Strategie zudem durch die Zielsteuerung der BA, in deren Rahmen dem Ziel der Senkung passiver Leistungen gleichrangige Bedeutung eingeräumt wie der Steigerung der Anzahl von Integrationen. Nicht zuletzt bleiben viertens durch die getrennten Rechtskreisen Schnittstellenprobleme bestehen bzw. kommen zusätzliche hinzu. Wie oft ein Wechsel zwischen beiden Rechtskreisen und damit ein Wechsel der Ansprechpartner ansteht, ist dabei nicht nur von individueller Arbeitslosigkeitsdauer und Erwerbsverlauf abhängig, sondern auch vom jeweiligen Partnereinkommen: Denn ein Wechsel von der Grundsicherungsstelle zur Arbeitsagentur steht auch dann an, wenn sich am individuellen Erwerbsstatus ‚arbeitslos’ nichts geändert hat, sondern die oder der erwerbsfähige Hilfebedürftige lediglich deswegen aus dem ALG II-Bezug ausscheidet, weil ein anderes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft eine bedarfsdeckende Tätigkeit aufgenommen hat. Zuständig wird dann wieder die Arbeitsagentur, soweit der oder die NichtleistungsbezieherIn sich dort arbeitslos meldet. Aufgrund der getrennten Finanzierungskreise muss in dieser Fallkonstellation unter Umständen auch eine laufende Fördermaßnahme abgebrochen werden, weil sie aus dem Eingliederungstitel der Grundsicherungsstelle in der Regel nur als Darlehen weiterfinanziert werden kann (§ 16g
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
153
Abs. 1 Satz 1 SGB II). Verliert der Partner erneut seine Erwerbstätigkeit, steht auch für die Partnerin ein erneuter Wechsel der Zuständigkeit an. Angesichts der starken Bedeutung von Zeitarbeit im Vermittlungsgeschäft der Grundsicherungsstellen und der auch statistisch belegten geringen Nachhaltigkeit von Integrationen1 dürften solche Betreuerwechsel ohne Statuswechsel keine Seltenheit sein, und sie dürften Frauen häufiger betreffen als Männer. Es stellt sich daher die Frage, ob die Schnittstellenprobleme im Status Quo ante in Gestalt der Arbeitslosen, die zugleich Arbeitslosengeld oder -hilfe und ‚aufstockende’ Sozialhilfe bezogen, nicht durch neue Schnittstellenprobleme abgelöst wurden, die eine Förderung ‚aus einer Hand’ vor allem für Frauen eher in weitere Ferne rücken lassen.
3.2 Fordern: Zwangs-Emanzipation? Gegen die stärkere Einforderung und Kontrolle von sanktionsbewehrten Mitwirkungspflichten - ein zentrales Kennzeichen der ‚aktivierenden’ Arbeitsmarktpolitik - richten sich auch aus gleichstellungspolitischer Sicht gewichtige Bedenken. Innerhalb der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung mehrten sich mit Beginn der 1990er Jahre Skepsis und Kritik an einer einseitigen Orientierung an der Norm der ‚universellen Erwerbsbürgerschaft’ oder des ‚adult worker models’, also am Leitbild einer kontinuierliche Erwerbstätigkeit in vollzeitnahen Arbeitsverhältnissen für beide Geschlechter (vgl. u.a. Fraser 1994). Im Kontext der erwerbszentrierten Sozialhilfereformen in den USA und später in anderen Ländern wurde die Orientierung am ‚adult worker model’ mit dem Verweis auf die möglicherweise gegenläufigen Wünsche von Frauen (vgl. z.B. Ostner 2004), auf die möglichen negativen gesellschaftlichen Folgen einer ‚Marginalisierung’ von Familienarbeit (vgl. Knijn 2000), sowie die Belastungen, die eine Verbindung von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit oder ‚Sorgearbeit’ für die einzelnen Frauen bedeute (vgl. u.a. Betzelt 2008) kritisiert. In Bezug auf das SGB II wurde dabei mit Blick auf die geänderten Zumutbarkeitsregelungen die Erwartung geäußert, „dass im Rahmen einer gnadenlos umgesetzten Gleichstellungspolitik in Zukunft auch die EhepartnerIn voll von der Erwerbsobliegenheit getroffen wird (…) Alleinerziehende werden ihre Kinder an Arbeitstagen vermutlich nur noch nachts zu Gesicht bekommen wie heute in den USA und früher in der DDR.“ (Spindler 2003: 298). Tatsächlich ist das bestehende Gleichstellungsinstrumentarium auf diese problematischen Implikationen des ’Forderns’ nur schlecht ausgerichtet. Im Prinzip ist auch in dieser Frage so verfahren worden, wie im Falle des Förderns: Die Regelungen aus den Vorgängersystemen wurden schlichtweg übernommen, lassen jedoch breiten Ermessenspielraum, der insbesondere in dem veränderten Kontext in hohem Maße Rechtsunsicherheit erzeugt. Der Ermessensspielraum ist auch durch untergesetzliche Regelungen nur zum Teil verringert worden, denn diese orientieren sich an Regelungen und Rechtsprechung in anderen Bereichen des Sozial- und Familienrechts und passen auf die Arbeitsförderung nur bedingt. Außerdem ist das Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen in den beiden Rechtskreisen konserviert bzw. noch zugespitzt worden. 1 Laut Bericht der Bundesagentur für Arbeit ist im Rechtskreis SGB II die Anzahl der Integrationen, bei denen nach einem Zeitraum von 6 Monaten weiterhin ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis besteht, gesunken und betrug für den Berichtsmonat Juni 07 lediglich rund 41 % - d.h. bei 3 von 5 ‚integrierten’ Leistungsbeziehern endete das Beschäftigungsverhältnis vorher (Bundesagentur für Arbeit 2008: 37).
154
Karen Jaehrling
Bei den Ermessenspielräumen und ihrer untergesetzlichen Einhegung im Rechtskreis SGB II wurden die Regelungen zur Freistellung für die Betreuung von Kindern weitgehend aus dem BSHG (§ 18, Abs. 3) in die Zumutbarkeitsregelungen des SGB II (§ 10 Abs. 1) übernommen.2 Diese Regelung hat schon im BSHG Interpretationsspielräume gelassen. So war zu Sozialhilfezeiten rechtlich umstritten, ob § 18, Abs. 3 einem Anspruch der Sozialhilfebeziehenden auf eine Freistellung von der Arbeitssuche für die ersten drei Lebensjahre des jüngsten Kindes gleichkam. Von einigen Gerichten, etwa dem Oberverwaltungsgerichts NRW, wurde dies mit Verweis auf das Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (BErzG) bejaht.3 Eine engere Auslegung findet sich in Urteilen, die sich auf einen Passus im BErzG stützten, der auf den Nachrang der Sozialhilfe verwies.4 Auch das SGB II präzisiert nicht, wer darüber entscheidet, welcher Elternteil sich wie lange ausschließlich um die Betreuung eines Kleinkindes kümmern darf. Die BA hat jedoch durch untergesetzliche Weisungen und Handlungsempfehlungen in den Jahren nach Einführung des SGB II in diesem Punkt eine vereindeutigende Interpretation vorgenommen:5 So formuliert der einschlägige Durchführungshinweis zu § 10 SGB II abweichend vom Gesetz, dass die Erziehung eines Kindes der Zumutbarkeit einer Arbeitsaufnahme nicht entgegensteht, „es sei denn, dass das Kind das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Zudem vertrat die BA bereits von Beginn an die Auffassung, dass die Freistellungsmöglichkeit bis zum 3. Lebensjahr des Kindes auch für den Fall gilt, dass das Kind bereits von Dritten betreut wird (WDB Fachinformation, Eintrag 10004 zu § 10 SGB II vom 20.10.2004). In der Frage, welcher Elternteil sich in einer Paar-Bedarfsgemeinschaft freistellen lassen darf, hatte der Durchführungshinweis zu § 10 SGB II zunächst vorgesehen, dass diese Frage so lange offen zu halten sei, „bis ein Elternteil wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zeitlich als Betreuungsperson nicht mehr in Frage kommt.“ (Fachlicher Hinweis zu § 10 SGB II vom 30.12.2004). Die aktuelle, überarbeitete Weisung bestimmt hingegen: “Die Eltern sind frei darin, zu bestimmen, wer die Kinderbetreuung übernimmt. Die Entscheidung ist unabhängig von der Frage, welcher Partner Elterngeld bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt.“ (Fachliche Weisung zu § 10 vom 30.1.2008). Diese Änderung beruht auf einer Auslegung des neuen Elterngeld- und Elternzeitgesetztes (BEEG), das anders als das VorgängerGesetz BErzG keine Bestimmung mehr zum Verhältnis von Rechtsanspruch auf Elternzeit und Nachrangigkeitsprinzip der Grundsicherung enthält (vgl. WDB-Eintrag 10005 und 10006 zu § 10 vom 19.11.2007). Ob diese Implikationen vom Gesetzgeber bei Einführung des BEEG intendiert waren, sei dahingestellt; festzuhalten bleibt, dass durch die implizite Übertragung der Elternzeit-Regelung auf die Arbeitsförderung für Eltern von Kleinkindern (möglicherweise nicht zufällig) parallel zur Erhöhung sanktionsbewehrter Mitwirkungs2 „Dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass (…) die Ausübung der Arbeit die Erziehung seines Kindes oder des Kindes seines Partners gefährden würde; die Erziehung eines Kindes, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, ist in der Regel nicht gefährdet, soweit seine Betreuung in einer Tageseinrichtung oder in Tagespflege im Sinne der Vorschriften des Achten Buches oder auf sonstige Weise sichergestellt ist“ 3 Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss des 22. Senats vom 10.04.2000, AZ 22 B 282/00. 4 § 8, Abs. 1, Satz 3 BErzG: „Im Übrigen gilt für die Dauer der Elternzeit, in der dem Berechtigten kein Erziehungsgeld gezahlt wird, der Nachrang der Sozialhilfe und der Nachrang der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch.“ 5 Für ARGEn und die Träger mit getrennter Aufgabenwahrnehmung (gAw) besitzen die Ausführungsvorschriften der BA in Form von ‚Fachlichen Weisungen’ oder ‚Handlungsempfehlungen/Geschäftsanweisungen (HEGA)’ unmittelbar bindende Wirkung. Darüber hinaus gibt es mit der ‚Wissensdatenbank’ der Bundesagentur für Arbeit (WDB Fachinformation - http://wdbfi.sgb-2.de) einen beständig aktualisierten Katalog von Antworten auf Fragen zu konkreten Fallkonstellationen, die allerdings lediglich Empfehlungscharakter haben.
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
155
pflichten auch mehr Freistellungsmöglichkeiten von eben diesen Mitwirkungspflichten geschaffen wurden als zuvor. Die von anderen problematisierte staatliche Aufkündigung des Ernährermodells „von unten“ durch Hartz IV (vgl. u.a. Knuth 2007: 74f.), d.h. primär für einkommensschwache Haushalte, bei gleichzeitiger Konservierung des Ernährermodells für einkommensstärkere Haushalte gilt also bezüglich Eltern von Kleinkindern gerade nicht, im Gegenteil: Hier tritt der Staat bei Haushalten von ALG II-Beziehenden weiterhin in die Rolle des Ernährers, während er dies bei Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen oberhalb der Bedürftigkeitsgrenze in deutlich geringerem Maße tut: Denn im Rechtskreis SGB III müssen Erziehungspersonen wie schon zu Zeiten des AFG bereits ab dem Ende der Mutterschutzfrist eine Tätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden suchen, um weiterhin Leistungen zu beziehen. Für Haushalte außerhalb des Leistungsbezugs greifen nach dem Auslaufen des Eltergeldes mögliche (niedrige) Wohngeldansprüche6 sowie steuerliche Erleichterungen in Form des Ehegattensplittings. Letztere sind jedoch bei Niedrigeinkommenshaushalten gering und erreichen selbst bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 3000 € nicht die Höhe des ALG II-Regelsatzes. Auch bei Haushalten mit älteren Kindern gibt es ein Nebeneinander verschiedener Regelungen: Im Rechtskreis SGB III ist es – soweit Teilzeitarbeit im gesuchten Tätigkeitsfeld marktüblich ist (§ 120 SGB III, Abs. 4) – den Leistungsbeziehenden freigestellt, ihre Arbeitsuche hinsichtlich Dauer und Lage der Arbeitszeit einzuschränken, dies ist je nach vorherigem Tätigkeitsumfang aber mit Leistungsreduzierungen verbunden (§ 131, Abs. 5 SGB III). Im Rechtskreis SGB II hingegen gibt es keine Leistungsreduzierungen, dafür sind die Ermessensspielräume der Fachkräfte hier größere als im SGB III und auch größer als zuvor. Denn in der Sozialhilfe galt für die Zeit nach dem dritten Geburtstag des jüngsten Kindes eine Erwerbstätigkeit jedes Elternteils grundsätzlich als zumutbar. Bezüglich Arbeitszeitumfang und -lage wurde in der Rechtssprechung mit Verweis auf das Kindeswohl die Zumutbarkeit jedoch eingeschränkt. So entschied das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1995, dass einem allein erziehenden Elternteil eines neunjährigen Schulkindes „in aller Regel nur eine Halbtagsarbeit zuzumuten“ sei, „falls Betreuung und Verpflegung des Kindes durch die Schule (z.B. Ganztagsschule) oder Dritte (z.B. Verwandte, Nachbarn) ausscheiden“.7 Die Durchführungsrichtlinien einiger Sozialhilfeträger sahen eine solche Beschränkung auf eine Halbtagstätigkeit ebenfalls vor. Damit wurden Höchstgrenzen der Zumutbarkeit definiert. Solche Höchstgrenzen finden sich im SGB II nicht mehr. Durch die bereits zitierte Weisung wurde zum Zeitpunkt der Einführung des SGB II lediglich klargestellt, dass „ein je nach Alter unterschiedlicher Betreuungsbedarf“ für Kinder bis zum vollendeten 15. Lebensjahr besteht (Fachliche Weisung zu § 10 vom 30.12. 2004), nähere Bestimmungen zum Höchstmaß der zumutbaren Arbeitszeit enthält die Weisung hingegen nicht. Ebenso bleibt offen, ob eine Paar-Bedarfsgemeinschaft selbst entscheiden kann, wer von beiden Elternteilen sich dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt zur Verfügung stellt. Im Ergebnis wurde in das SGB II damit nicht nur die Elternzeit-Regelung importiert, sondern die Regelungen entsprechen auch dem 2008 reformierten Unterhaltsrecht. Dieses 6 Der Wohngeldanspruch beträgt derzeit (Stand 1.1.2009) für einen 3-Personenhaushalt bei der Höchsteinkommensgrenze von 2071 € Brutto abhängig von Miete und Wohnort maximal 136€. 7 Bundesverwaltungsgericht – Urteil vom 17.5.1995 – Az.: BVerwG 5 C 20.93 . Im konkreten Fall wurde die Beschränkung auf eine Tätigkeit am Vormittag von 8 bis12 Uhr für angemessen gehalten.
156
Karen Jaehrling
schreibt einen Betreuungsunterhalt für die ersten drei Lebensjahre des Kindes vor, sieht darüber hinaus jedoch keine an das Lebensalter des Kindes geknüpften pauschalen Einschränkungen der Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils mehr vor, sondern macht dies vom Einzelfall abhängig. Damit wird im Streitfall die Entscheidung der Rechtsprechung überantwortet – mit der Besonderheit, dass bei Unterhalt von ‚Vater Staat’ nicht getrennte oder geschiedene Eltern, sondern Grundsicherungsstelle und LeistungsempfängerInnen miteinander streiten. Es ist jedoch fraglich, ob im Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitik diese Einzelfall-Lösung der Weisheit letzter Schluss ist. Die Delegation der Entscheidung an die vorgerichtlichen oder gerichtlich ausgetragenen Verhandlungen der Beteiligten schafft jedenfalls erhebliche Rechtsunsicherheit und auch Raum für vorgerichtliche willkürliche Entscheidungen, insbesondere wenn Kläger und Beklagte so asymmetrische Ressourcen im Zugang zum Rechtssystem haben wie im Falle von Grundsicherungsstellen und Leistungsbeziehenden. Und auch bei der demgegenüber pauschalen 3-JahresRegelung ist fraglich, ob diese Anleihe an das Elternzeitgesetz für die Arbeitsmarktpolitik passend ist. Denn sie sichert den Hilfebeziehenden ja kein Rückkehrrecht in ein früheres Arbeitsverhältnis, sondern lediglich einen dreijährigen Unterhalt. Diese Rückzugsoption erscheint insbesondere bei jungen Frauen ohne Ausbildung und Erwerbserfahrung problematisch, bei denen diese drei Jahre (je nach Kinderanzahl auch mehr) den Einstieg in ein Erwerbleben nicht bloß aufschieben, sondern nahezu ausschließen dürften; zumindest den Einstieg in qualifizierte oder jedenfalls dauerhafte und zufrieden stellende Tätigkeiten. Wer glaubt, ihnen damit einen Gefallen zu tun und bedauert, dass „nicht einmal gering qualifizierte Frauen (…) bei ihren Kindern bleiben dürfen, auch wenn keine Karriere auf sie wartet“ (Ostner 2004: 50) hält offenbar ein Berufsleben ohne Karriere für wertlos, und scheint zudem ‚geringe Qualifikation’ mit geringen Qualifikationsneigungen und –fähigkeiten gleichzusetzen. All dies spricht dafür, die Debatte über die Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik aus den Händen der Rechtsprechung und der Arbeitsverwaltung wieder stärker in den politischen Raum zu verlagern und dabei auch die Erfahrungen mit dem SGB II einzubeziehen. Festzuhalten ist zum einen, dass die Unterschreitung der Frauenförderquote im Rechtskreis SGB II insbesondere durch die geringere Teilnahmehäufigkeit von arbeitsmarktfernen Frauen in Westdeutschland und vor allem von Frauen mit Kindern zustande kommt -- und dies gilt auch für diejenigen, die über eine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder verfügen (vgl. ausführlicher Jaehrling 2009). Diese Befunde enthalten somit Hinweise, dass zumindest in Westdeutschland eher nach den Routinen der vorherigen Sozialhilfepraxis verfahren wird, die Mütter beim Fördern und Fordern häufig außen vor ließ. Gleichwohl verbergen sich hinter diesen Durchschnittswerten auch gegenteilige Umgangspraktiken. Dies belegt die Rechtsprechung selbst8, entsprechende Beispiele sind aber auch in qualitativen Studien dokumentiert (vgl. Bartelheimer/Henke 2007: 38ff). Insbesondere zwei Erkenntnisse sind dabei für eine Reformdebatte beachtenswert: Zum einen, dass die zeitlich aufwändigere und langwierigere Unterstützung von Frauen oder Männern mit Betreuungsaufgaben und ggf. längeren Erwerbsunterbrechungen mit den begrenzten zeitlichen Ressourcen der Fachkräfte kollidiert, aber auch mit den Aktivierungs-Vorgaben, die vor allem kurzfristigere ‚Erfolge’ (Beendigung oder Reduzierung des Hilfebezugs) honorieren. Zum zweiten, „dass auch eine Fallbearbeitung, die sich als sehr sensibel für Lebensumstände und Geschlechterrollen zeigt“, im „institutionelle[n] (Zwangs-)kontext“ des SGB II 8
Vgl. das Urteil des Landessozialgerichts Hessen vom 29. September 2006 (AZ L 9 AS 179/06 ER).
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
157
als bevormundend erlebt werden kann (vgl. Bartelheimer/Henke 2007: 42) und dadurch erfolglos bleibt, zumindest bei eingelebten, verfestigten traditionalen Erwerbsorientierungen. Neben den Ressourcen für ein geschlechtergerechtes Fallmanagement ist also auch der Rahmen zu überdenken.
4
Fazit und Ausblick: Gleichstellung als Korrektiv und Reformziel
Gleichstellung und Aktivierung sind weder wahlverwandt, noch unverbunden oder sogar unvereinbar, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis, das jedoch nicht unlösbar erscheint. Die konkrete Ausgestaltung des Aktivierungsparadigmas in Deutschland hat allerdings zweifellos eine Reihe von gleichstellungspolitisch negativen Implikationen; gleichzeitig ist das gleichstellungspolitische Instrumentarium in beiden Rechtskreisen noch nicht ausreichend darauf ausgerichtet, diese zu beheben. Frauenförderquote, geschlechterdifferenzierte Eingliederungsbilanz und Beauftragte für Chancengleichheit in den Arbeitsagenturen und Grundsicherungsstellen können sicherlich dazu beitragen, auf die angesprochenen gleichstellungspolitischen Fallstricke bei der Umsetzung aktivierender Arbeitsmarktpolitik aufmerksam zu machen und gegensteuernde Konzepte zu entwickeln. Gleichstellungspolitik im engeren Sinne ist also ein wichtiges Korrektiv innerhalb der bestehenden Strukturen, muss aber durch eine Änderung des gesamten Rahmens und seine stärkere Ausrichtung am Grundgedanken des ‚Gender Mainstreaming’ ergänzt werden. Denn die gleichstellungspolitischen Fallstricke berühren so grundlegende Fragen der Ausgestaltung von aktivierender Arbeitsmarktpolitik, die außerhalb der Reichweite dezentraler gegensteuernder Konzepte und Handlungsstrategien liegen. So resultiert eine Reihe der angesprochenen Probleme beim ‚Fördern’ aus den getrennten Rechtskreisen (Schnittstellenprobleme) und aus der organisatorischen Integration von passiven und aktiven Leistungen. Eine neuerliche Großreform, die die Zusammenführung der Arbeitsförderung in einer Hand’ und ggf. auch ihre organisatorische Trennung von der Verwaltung der passiven Leistungen realisiert, steht zwar derzeit nicht auf der politischen Tagesordnung, scheint aber nach wie vor die beste Lösung, um die Leistungen der Arbeitsförderung nach dem tatsächlichen Unterstützungsbedarf, und nicht nach Art, Dauer und Umfang des Anspruchs an passiven Leistungen auszurichten. Auch unterhalb einer solchen Großreform gibt es aber Verbesserungsmöglichkeiten, die den Charakter von Aktivierung in Deutschland zum Vorteil nicht nur von Gleichstellung verändern dürften: Unter anderem eine andere Zielsteuerung, die auf die Vorgabe einer Senkung passiver Leistungen verzichtet und demgegenüber das Ziel der Nachhaltigkeit bei Integrationen stärker gewichtet. Dies müsste auch mit einer stärkeren Orientierung an Neigung und Eignung der Arbeitslosen einhergehen, ohne deren Berücksichtigung Integrationen nicht nachhaltig sein können. Um ihnen Raum zu geben, wäre eine Reihe von Änderungen erforderlich; dazu gehören mehr Wahlrechte aus dem Spektrum der Eingliederungsleistungen und generell mehr Zeit und weniger sanktionsbewehrte Kontrollen bei der Arbeitsuche. Dies kann auf lange Sicht nicht nur die ‚Matching-Effizienz’ verbessern (vgl. Gangl 2004), sondern würde auch vermeiden helfen, dass sich Hilfesuchende frag- und klaglos der Nachfragestruktur des geschlechtersegregierten Arbeitsmarktes anpassen müssen.
158
Karen Jaehrling
Zudem könnten die Verringerung von Kontrolle auch bei den Fachkräften Ressourcen freisetzen, die an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt wären: Denn die Ergebnisse der empirischen Forschung verdeutlichen, dass ein gendersensibles Fallmanagement zumindest auch an knapp bemessenen zeitlichen Ressourcen seine Grenzen findet und z.B. für die weniger intensive Einbeziehung insbesondere von arbeitsmarktfernen Frauen eine Erklärung bieten. Gleichzeitig ist auch mit diesen Ressourcen nicht jede Hürde überwunden. Die Erkenntnis, dass eine institutionalisierte Drohung mit Leistungskürzungen die Entstehung eines belastbaren und produktiven Vertrauensverhältnisses zwischen Fachkräften und ALG IIBeziehenden erschwert, beantwortet noch nicht die Frage, wie auf andere Weise vor allem jungen Frauen im ALG II-Bezug berufliche Wahlmöglichkeiten zur ‚Alternativrolle’ Hausfrau eröffnet werden können. Die bloße Gewährung von mehr Wahlfreiheit würde hier in erster Linie die Freiheit zum ‚opt-out’ aus dem Erwerbsleben stärken, die auch im Status quo ante gegeben war. Schwieriger zu bewerkstelligen ist hingegen die Freiheit zum ‚optin’. Die Verbesserung des Förderns im oben skizzierten Sinne ist dabei das eine; zu überdenken ist aber auch, ob die an das Unterhaltsrecht angeglichenen Ermessenspielräume und Einzelfalllösung im Kontext aktivierender Arbeitsmarktpolitik so glücklich sind. Zeitliche Obergrenzen für die Erwerbsobliegenheit von Eltern und eine Abstufung dieser zeitlichen Obergrenzen nach Anzahl und Lebensalter der Kinder, vielleicht auch nach dem Lebensalter der Eltern mögen den Nachteil pauschaler Regelungen haben, hätten aber zum Vorteil, mehr Rechtssicherheit zu schaffen und dadurch auch den Aktivierungsprozess selbst nicht so stark durch konfliktbeladene Aushandlungsprozesse zwischen Fachkräften und Hilfesuchenden zu ‚überfordern’. Wie diese Obergrenzen aussehen, dazu bedarf es eines gesellschaftlichen oder jedenfalls politischen Konsenses, sollte also politisch entschieden und nicht der Rechtsprechung und Arbeitsverwaltung übertragen werden. Mit anderen Worten: Gleichstellung und Aktivierung brauchen politische Eltern, um miteinander zu harmonieren.
Literatur Ames, A. (2008): Hartz IV in Baden-Württemberg. Die Erfahrungen der Betroffenen mit der Umsetzung und den Auswirkungen des SGB II. Eine Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2008-113-4-1.pdf. Bartelheimer, P./Henke, J. (2007): Eher ein Randbereich. Sicherlich auch ganz wichtig. GenderFragen in der Fallbearbeitung nach dem SGB II. Typoskript. Bielefeld, Göttingen. Betzelt, S. (2008): Universelle Erwerbsbürgerschaft und Geschlechter(un)gleichheit. Einblicke in das deutsche Aktivierungsregime unter ‚Hartz IV’. In: Zeitschrift für Sozialreform 54. 3: 305-327. Bothfeld, S./Gronbach, S. (2002): Autonomie und Wahlfreiheit – neue Leitbilder für die Arbeitsmarktpolitik? In: WSI-Mitteilungen 4/2002: 220-226. Bundesagentur für Arbeit (2008): Bericht zu den Leistungszielen SGB II 2007. Nürnberg. Bundesagentur für Arbeit (2009): Chancen des Marktes professionell nutzen. Geschäftsbericht 2008. Nürnberg. Bundesanstalt für Arbeit (1998): Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA) 46. 9. Nürnberg. Deutscher Frauenrat (2003): Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 8. Oktober 2003 in Berlin, Bundestags-Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, Ausschussdrucksache 15(9)683.
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
159
Fraser, N. (1994) After the Family Wage: Gender Equity and the Welfare State. In: Political Theory 22. 4: 591-618. Gangl, M. (2004): Arbeitsmarktinstitutionen und die Struktur von Matchingprozessen im Arbeitsmarkt: ein deutsch-amerikanischer Vergleich. In: Schmid, G./Gangl, M./Kupka, P. (Hrsg.) (2004): Arbeitsmarktpolitik und Strukturwandel: Empirische Analysen. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 59-72. Gottschall, K. (1987): Arbeitsmarktpolitik für Frauen? Zur Teilhabe erwerbsloser Frauen an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. In: Rudolph, H./Manthey, H./Mayer, Ch./Ostendorf, H./RabeKleberg, U./Stahr, I. (Hrsg.) (1987): Ungeschützte Arbeitsverhältnisse. Hamburg: VSA. 42-52. Henninger, A. (2000): Frauenförderung in der Arbeitsmarktpolitik. Feministische Rückzugsgefechte oder Zukunftskonzept? Opladen: Leske & Budrich. Hielscher, V./Ochs, P. (2009): Arbeitslose als Kunden? Beratungsgespräche in der Arbeitsvermittlung zwischen Druck und Dialog. Berlin: Edition Sigma. Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ)/Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt (FIA)/Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg (GendA) (2007): Bewertung der SGB IIUmsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht. Jahresbericht 2007. http://www.iaq.unidue.de/aktuell/veroeff/2007/hieming01.pdf. Jaehrling, K. (2009): Aktivierung oder Exklusion? Genderrelevante Befunde zu Zugangschancen und Erwerbspflichten im SGB II. In: Betzelt, S./Lange, J./Rust, U. (Hrsg.) (2009): Wer wird ‚aktiviert’ - und warum (nicht)? Loccumer Protokolle 79/08, S. 111-140. Evangelische Akademie Loccum (im Erscheinen). Knijn, T. (2000): The Rationalized Marginalization of Care: Time is Money, Isn’t it? In: Hobson, B. (Hrsg.) (2000): Gender and Citizenship in Transition. New York: Routledge. 201-219. Knuth, M. (2007): Zwischen Arbeitsmarktpolitik und Armenfürsorge. Spannungsverhältnis und mögliche Entwicklungen der ‚Grundsicherung für Arbeitsuchende’. In: Rudolph, C./Niekant, R. (Hrsg.) (2007): Hartz IV. Zwischenbilanz und Perspektiven. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot. 66-91. Lampert, H. (1989): 20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 22. 2: 173-186. Maier, F. (1996): Arbeitsmarkt und Geschlechterverhältnis. Frauenarbeit als Gegenstand politischer Regulierung. In: Kulawik, T./Sauer, B. (Hrsg.) (1996): Der halbierte Staat. Grundlagen feministischer Politikwissenschaft. Frankfurt/Main, New York: Campus. 175-205. Ochs, P./Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (ISO) (2006): Organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit. Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Arbeitspaket 2. Saarbrücken. http://www.iso-institut.de/download/2007_01 _16_iso-ochs-Bericht_BAEval_AP2.pdf. Ostendorf, H. (2006): Arbeitsmarktreformen – Kommodifizierung, Familialisierung und Stratifizierung. In: Degener, U./Rosenzweig, B. (Hrsg.) (2006): Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit. Feministische Analysen und Perspektiven. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. 259-280. Ostner, I. (1998): Anmerkungen zur Gleichstellungspolitik und Quotierung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Swiss Political Science Review 4. 3: 92-97. Ostner, I. (2004): Review-Essay: Aus Anlass eines Geburtstags: ‚Gender and Welfare Revisited’. In: Leitner, S./Ostner, I./Schratzenstaller, M. (Hrsg.) (2004): Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnis im Umbruch. Was kommt nach dem Ernährermodell? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 44-62. Spindler, H. (2003): Fördern und Fordern. Auswirkungen einer sozialpolitischen Strategie auf Bürgerrechte, Autonomie und Menschenwürde. In: Sozialer Fortschritt 11-12: 296-301. Von Wahl, A. (1999): Gleichstellungsregime: Berufliche Gleichstellung von Frauen in der Bundesrepublik und den USA. Opladen: Leske & Budrich.
160
Karen Jaehrling
Webber, D. (1982): Zwischen programmatischem Anspruch und politischer Praxis: Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1974 bis 1982. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 15. 3: 261-275.
Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?
III. Akteure der Arbeitsmarktpolitik zwischen Aufgabenerfüllung und Steuerungswandel
161
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
163
Holger Schütz
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
1
Einleitung
Die deutsche Arbeitsverwaltung weist eine hohe Kontinuität ihrer organisatorischen Grundzüge auf: Schon seit den Gründungstagen der Bundesrepublik handelt es sich um eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und dreistufiger Gliederung. Als klassische Behörde entsprach ihr Aufbau und ihre Funktionsweise lange den Prinzipien des traditionellen Bürokratiemodells mit hierarchischer, amtsförmiger Linienorganisation und Recht und Legalität als dominantem Steuerungsmodus (Konditionalsteuerung). In den 1990er Jahren wurde mit dem „Arbeitsamt 2000“ ein erster – und schließlich scheiternder – Reformversuch eingeleitet, um die Bürger- und Dienstleistungsorientierung sowie die Mitarbeiterzufriedenheit zu stärken. Erst der zweite Reformanlauf im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen ab 2003 erbrachte signifikante Veränderungen des Steuerungsmodells der deutschen Arbeitsverwaltung, ohne dabei allerdings die benannten Basisprinzipien (dreigliedrige öffentliche Körperschaft mit Selbstverwaltung) völlig über Bord zu werfen. Die Reform der mit dem neuen Namen ausgestatteten Bundesagentur für Arbeit war dennoch durchgreifend und wurde in ihren Kernelementen in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum umgesetzt. Zugleich hat die Bundesagentur für Arbeit mit der Einführung des SGB II die alleinige Umsetzungsverantwortung für die Arbeitsmarktpolitik verloren. Für die Trägerschaft des SGB II haben sich mit den Arbeitsgemeinschaften (ARGEn), den Optionskommunen (formale Bezeichnung: „zugelassene kommunale Träger“, im Folgenden mit (zkT) abgekürzt) und der getrennten Aufgabenwahrnehmung drei grundlegende Organisationstypen etabliert (mit jedoch nur beschränkter Fortexistenz bis 2010/11). Dezentrale Organisationsvielfalt besteht nicht nur zwischen diesen drei Typen, sondern auch innerhalb dieser Modelle. Allerdings sind Ziel- und Steuerungskonzepte auch in den ARGEn und den Einrichtungen in getrennter Aufgabenwahrnehmung stark von Konzepten und Steuerungsinstrumenten der reformierten Bundesagentur für Arbeit geprägt. Der (empirische) Schwerpunkt dieses Beitrages liegt auf den Entwicklungen im SGB III, geht aber auch auf das SGB II ein. Unter analytischen Gesichtspunkten versucht der Beitrag eine Antwort auf die Frage zu formulieren, inwieweit Organisationsmodell(e) und Steuerungsmodi der Arbeitsverwaltung die Umsetzung der deutschen Arbeitsmarktpolitik bestimm(t)en oder beeinfluss(t)en. Hierzu werden die im Zeitverlauf aufgetretenen Kontinuitäten und Veränderungen der Steuerungsmodi in der Bundesanstalt/-agentur nachgezeichnet und diskutiert. Trotz reformbedingter signifikanter Änderungen in den Steuerungsprämissen, so die These dieses Beitrags, wird die Steuerungspraxis in der Bundesagentur für Arbeit auch heute von einem – wenn auch neuartigen – System der Regelsteuerung bestimmt.
164 2
Holger Schütz Empirische Entwicklung: Vom Arbeitsamt zum Kundenzentrum
2.1 Das Arbeitsamt als klassische Bürokratie In den Arbeitsämtern bestimmte bis zu Beginn der 90er Jahre ein weitgehend uniformes Organisationsmodell bürokratischer Linienorganisation die Arbeitspraxis (vgl. Diekjobst/Erdmann 2003; Maibaum et al. 1986). Das bedeutet, die Kernaufgabenbereiche Administration der Leistungen der Arbeitslosenversicherung, der Arbeitsvermittlung und – beratung (AVuAB) sowie der Berufsberatung erfolgten in getrennten Organisationssparten. Innerhalb einer Sparte wurde in klassischen Führungshierarchien (Abteilungsleiter, Abschnittsleiter) und nach hoher fachlicher Spezialisierung gearbeitet (Bsp. AVuAB: Arbeitsberater, Arbeitsvermittler, Bürosachbearbeiter, Bearbeiter). Die Handlungsrationalität der Arbeitsämter wurde vornehmlich von zwei Prämissen bestimmt: Rechtmäßigkeit des Handelns einerseits, optimale Bewirtschaftung der zugewiesenen Budgetmittel andererseits. Rechtmäßigkeit des Handelns bedeutete zu AFG-Zeiten vor allem die Sicherung von individuellen Rechtsansprüchen1 und die Einhaltung der instrumentspezifischen Detailregelungen der Förderung bei „Kann-Leistungen“ (vgl. Reissert 2001: 117) sowie die termingerechte Umsetzung der gesetzlichen Novellen und von Sonderprogrammen. Die Umsetzung des AFG durch die Arbeitsämter - wie auch später des SGB III - bezog sich also nie nur auf die Gesetzestexte im engeren Sinne, sondern beinhaltete stets auch die Anwendung von Verwaltungsvorschriften aus den Fachabteilungen der BA-Hauptstelle sowie des für die Fachaufsicht zuständigen Landesarbeitsamtes. Diese Runderlässe und Weisungen hatten überwiegend hohe geschäftspolitische Relevanz und damit auch hohen Einfluss auf die örtliche Arbeitsamtspraxis.2 Das Phänomen der in der BA so benannten „Weisungsflut“ ist im Laufe der Jahre sogar gestiegen (Mosley et al. 2003). Hiervon abgesehen, sicherte die Konditionalsteuerung dauerhaft die Einhaltung professioneller Verfahrensstandards in allen Einheiten der bürokratischen Organisation (Legalität, Produktnormen, Prozessqualität). Die optimale Bewirtschaftung der Budgetmittel beinhaltete als wichtigstes Kriterium die maximale Ausschöpfung der (nach Einzelinstrumenten bewirtschafteten) Budgetmittel zum Abschluss des Haushaltsjahres (‚Punktlandung’). Weitere Kriterien betrafen die Mittelverfügbarkeit (Liquidität) über das gesamte Haushaltsjahr und keine übermäßigen Vorbindungen für das kommende Haushaltsjahr, um Handlungsflexibilität bei der Mittelbewirtschaftung zu bewahren. Die Arbeitsämter orientierten sich also am Budgetvollzug mittels der Umsetzung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Maßstäbe einer arbeitsmarktpolitischen Erfolgskontrolle dieser Aktivitäten waren in diesem Referenzsystem nicht enthalten. An diesem Punkt setzte erst die SGB-III-Reform durch die Einführung von Eingliederungstitel und -bilanz explizit an.
1 Der Anteil von Pflichtleistungen war in den 1970er und 1980er Jahren um einiges höher als heute (vgl auch den Beitrag von Oschmiansky/Ebach in diesem Band). 2 Daneben gab es auch Weisungen im Sinne bürokratischer ‚Papiertiger’, die in den Arbeitsämtern allenfalls zur Kenntnis genommen wurden.
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
165
2.2 Das Reformmodell Arbeitsamt 2000 Zu Beginn der 1990er Jahre starteten Reformaktivitäten in der Bundesanstalt für Arbeit, die über die bis dahin praktizierte informationstechnische Rationalisierung zur Bewältigung des sukzessive gestiegenen Arbeitsanfalls in der Vermittlung hinausgingen (vgl. Bahnmüller/Faust 1992). Die Zielsetzungen lauteten: Steigerung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Arbeitsvermittlung (bessere Arbeitsergebnisse, rationellere Arbeitsverfahren, höherer Marktanteil), Weiterentwicklung der Arbeitsvermittlung, erweiterte Handlungsspielräume in den Arbeitsämtern zur Verbesserung der Wahrnehmung der Aufgaben, Verbesserung der Zusammenarbeit der Abteilung Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung mit der Leistungsabteilung und der Abteilung Berufsberatung, höherer Grad an Bürgernähe und Kundenservice, Mitarbeiterbeteiligung, besseres Dienstleistungsangebot. Aus beschränkten Modellprojekten wurden zunächst drei richtungsweisende Organisationsansätze für die Arbeitsämter identifiziert (Runderlass 24/94). Im selben Jahr 1994 legte die Bundesanstalt für Arbeit ihr Reformkonzept „Arbeitsamt 2000“ vor, mit dem die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der BA-Dienstleistungen sowie Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit verbessert werden sollte. Kernbereiche bildeten die Einrichtung kundenorientierter Mitarbeiter-Teams und der Ausbau dezentralisierter Leistungserbringung. Arbeitsamtsintern ging es um den Aufbau neuer Führungsstrukturen mit flacheren Hierarchien, Mitarbeiterbeteiligung und verstärkter Personalentwicklung. Im Zuge dieser Reform wurde auch mit Zielsteuerung und dem Aufbau eines arbeitsmarktpolitischen Controllings (im Sinne der regelmäßigen Erfassung und Auswertung von Leistungskennziffern) begonnen, das aber über Jahre nur relativ begrenzte und lokal uneinheitliche Wirkungen entfaltete (Mosley et al. 2003; Schütz 2005a). Die konzeptionelle Stoßrichtung der behördeninternen AA-2000-Reform in Richtung Dezentralisierung wurde durch die Einführung des SGB III 1998 unterstützt (ausführlicher dazu Reissert 2001: 122f.): Mit der Einführung des Eingliederungstitels (und des Instruments der freien Förderung) waren die Handlungsspielräume der Arbeitsämter für die Festlegung des Instrumentenmix beträchtlich erhöht worden. Gleichzeitig zielten die jährlichen Eingliederungsbilanzen (§11 SGB III) darauf ab, die Performanz der Arbeitsämter in vergleichbarer Weise zu dokumentieren. Die Umsetzung des AA-2000-Konzeptes wies jedoch zum Teil starke Defizite auf. Ein Kernproblem bildete die Umsetzung der fachlichen Verzahnung von vermittlungsbezogenen und leistungsrechtlichen Aspekten in den Kundenbüros bei den Kräften im mittleren Dienst. Die Komplexität der fachlichen Anforderungen bedeutete für einen Teil der betroffenen Mitarbeiterschaft eine Überforderung. Außerdem wurde versäumt, zur Reform der Arbeitsämter komplementäre Reformschritte auch frühzeitig in der Nürnberger Hauptstelle und den Landesarbeitsämtern einzuleiten. Der vielleicht schwerwiegendste Fehler war die zögerliche, sich über mehrere Jahre schleppende Flächeneinführung des Konzepts, bis schließlich im Nachgang zum sogenannten Vermittlungsskandal im Herbst 2002 das Modell AA 2000 faktisch außer Kraft gesetzt wurde (BA-Rundbrief 73/2002).
166
Holger Schütz
2.3 Die BA-Reform ab 2003 Der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit (auf der gesetzlichen Basis des „dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“) vollzog sich weitgehend in behörderninterner Projektorganisation, unterstützt von der Unternehmensberatung McKinsey, die maßgebliche Schlüsselkonzepte der Reform entwickelte. Die Eckpunkte des neuen Steuerungsmodells der „BA (neu)“ – die sich an die Empfehlungen der Hartz-Kommission anlehnten, zum Teil aber auch von diesen abwichen - standen 2003 bereits fest: Umbau der Zentrale und Aufwertung der Mittelinstanzen (Regionaldirektionen, vormals: Landesarbeitsämter), das Kundenzentrum der Zukunft (KuZ) als neues operatives Organisationsmodell der Arbeitsagenturen (vormals Arbeitsämter), Grundüberlegungen für nach Kundengruppen neu gestaffelte Dienstleistungen („Handlungsprogramme“) und Dienstleistungstiefe („Produkteinsatzlogik“), Wirkungsorientiertes Steuerungsmodell mit integrierter Budgetplanung („BASteuerungslogik“).
2.3.1 Umbau der BA Die nach Auflösung der alten Fachabteilungen in neu strukturierte Zentralbereiche umgebaute „Zentrale“ wurde funktional als Strategieinstanz im Gesamtsystem der BA konzipiert. Der neue Vorstand wurde als dreiköpfige Geschäftsführung mit fünfjähriger Amtszeit aufgestellt. Zugleich wurde mit der Reorganisation der Selbstverwaltung deren Rückzug aus den operativen Aufgaben erreicht und das Aufgabenspektrum des Verwaltungsrates als dem Selbstverwaltungsgremium auf zentraler Ebene reduziert (vgl. Klenk in diesem Band). Die Restrukturierung der Landesarbeitsämter erfolgte in der zweiten Jahreshälfte 2004; die Landesarbeitsämter gingen in zehn personell deutlich verkleinerten Regionaldirektionen auf. Im Reformprozess der BA ist die Bedeutung der Regionaldirektionen nicht zu unterschätzen. Sie stellen als ihre Kernaufgabe die zielorientierte Umsetzung der BASteuerungslogik sicher. Bei dieser regelmäßigen Zielnachhaltung werden die Agenturleistungen und etwaige Verbesserungsmöglichkeiten zwischen Regionaldirektion und lokaler Geschäftsführung diskutiert. Dabei kann im Falle kontroverser Sichtweisen über die angemessenen Maßnahmen der örtlichen Geschäftspolitik im Zweifelsfall die Regionaldirektion hierarchische Druckmittel einsetzen, um nicht-konforme Agenturleitungen auf Anpassungskurs zu bringen. Die Regionaldirektion übt jedoch nicht nur hierarchische Führung und Kontrolle gegenüber den Agenturen aus. Vielmehr nehmen sie auch umfangreiche Beratungs- und Dienstleistungsfunktionen für die Agenturen wahr, die von diesen auch durchaus geschätzt werden (vgl. WZB/infas 2006). Analog zu den oberen Dienststellen erfolgte auch in den Arbeitsagenturen die Einführung eines Geschäftsführungsmodells mit befristeten Amtszeiten. Bei der Personalauswahl der neuen Agenturleitungen wurden nüchtern jene MitarbeiterInnen ausgesiebt, die für die „neue BA-Welt“ der Wirkungs- und Effizienzorientierung nicht geeignet erschienen. Dies brachte so klare Gewinner und Verlierer hervor (siehe auch Ochs/iso 2006: 214ff.; Schütz 2005a).
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
167
2.3.2 Wirkungsorientierte Steuerung und Zielsystem Beim Controlling gab es wie beim Organisationsmodell der Arbeitsagenturen eine deutliche Zäsur zur Vergangenheit. Die Neukonzeption führte die sogenannte neue Steuerungslogik ein und wies dem Controlling einen neuen Rang zu: Das Controlling sollte sich zum „zentralen Angelpunkt aller Geschäftsprozesse und letztlich zur Sprache der Organisation entwickeln“ (BA 2003: 7). Die neue Steuerungslogik unterschied fortan die ökonomische Bewirtschaftung von Beitragsgeldern und die wirkungsorientierte Erfüllung politischer Aufgaben in zwei getrennten Rechnungskreisen. Der Rechnungskreis „Versicherung“ verwendet nach dieser Konzeption im Auftrag der Beitragszahler die Beitragseinnahmen für Vermittlungsaktivitäten für alle Arbeits- und Ausbildungssuchenden und bietet zeitlich begrenzten Arbeitslosenversicherungsschutz. Der Rechnungskreis „Auftrag“ erfüllt hingegen Aufgaben, die vom Rechnungskreis Versicherung nicht abgedeckt werden – zum Beispiel die Unterstützung von Nicht-Versicherten oder die Förderung von Zielgruppen. Um das Reformziel einer wirkungsorientierten Steuerung zu erreichen, wurden im Haushalt 2004 erstmalig die Budgets mit Wirkungszielen verknüpft, Inputs und Outputs also miteinander verbunden, nachdem in den Vorjahren die Zielsteuerung auf die Outputgrößen der geschäftspolitischen Ziele beschränkt war. Ein Teil des Eingliederungshaushaltes der BA (Eingliederungszuschüsse, Zuschüsse zur beruflichen Weiterbildung, bei Neugründungen und zu Trainingsmaßnahmen sowie Mittel für beschäftigungsschaffende Maßnahmen) wurde nun auf Basis von Zielvereinbarungen zu geplanten Integrationen und dazu erforderlichen Aufwendungen verteilt. Stärker als früher spielen nun auch Kosten und erwartete Eingliederungsquoten der Instrumente (geförderte Integrationen) eine Rolle, die als Richtgrößen in der Zielvereinbarung mit aufgenommen sind. Eine weitere Neuerung war die weitere Rationalisierung der Zielplanung mit regressionsanalytischer Methodik und biographischer Datenbasis, um die agenturspezifischen Integrationspotenziale zu schätzen. Zugleich ist der Zielplanungsprozess aufwendiger und aufgrund der Einbeziehung komplexerer Annahmen auch riskanter geworden. Und schließlich legte die sogenannte „neue Produkteinsatzlogik“ fest, dass die verfügbaren Ressourcen für Fördermaßnahmen nunmehr auf Fälle mit hoher Wirkungserwartung zu konzentrieren seien. Die neue Steuerungslogik flankierend sind in den letzten Jahren enorme Fortschritte bei der IT-technischen Verarbeitung von Controlling-Daten erzielt worden. Das bundesweit einheitliche neue Führungs-Informations-System bietet umfangreiche Daten und Werkzeuge zur Zielplanung, Zielnachhaltung und des Leistungsvergleichs und steht in jeder Agentur und Geschäftsstelle zur Verfügung. Die Einführung erwerbsbiographischer Daten sowie andere Erweiterungen durch diverse Analyse- und Prozesskennzahlen haben die Qualität des Controllings im Sinne der Datengrundlagen und deren steuerungsrelevanter Aufbereitung erheblich gesteigert. Seit 2006 wird das geschäftspolitische Zielsystem in 6 strategischen Geschäftsfeldern und gemäß der zwei „Rechnungskreise“ nach Beitrags- und Auftragsfinanzierung differenziert (Übersicht 1).
168
Holger Schütz
Übersicht 1: Geschäftspolitisches Zielsystem der Bundesagentur für Arbeit Beitrag
Auftrag
I
Integration LeistungsgewährungALG1(SGBIII)
II
Integration LeistungsgewährungALG2(SGBII)
III
Markttransparenz/Marktordnung
IV
Auftragsleistungen(SGBII)
V
MarkterschließungfürNLEundBerufseinsteiger(SGBIII)
VI
BeruflicheReha(SGBIX,III,II)
Quelle: Bundesagentur für Arbeit Die grundlegenden geschäftspolitischen Ziele sind im SGB III seit 2006 im Wesentlichen gleich geblieben: nachhaltige Integration hohe Qualität der Beratung hohe Kundenzufriedenheit Steigerung der Mitarbeitermotivation /Identifizieren und Ausschöpfen von Potentialen wirkungsorientiert und wirtschaftlich arbeiten (2007/2008) bzw. Optimierung der Arbeitsprozesse (2006). Im SGB II gibt es für ARGEn und die Einrichtungen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung (gAw) seit 2006 ebenfalls ein quantitatives Zielsteuerungssystem, das seit 2007 auch vollständig auf Grundlage von Zielvereinbarungen arbeitet (vgl. isr/infas/WZB 2008: 3134). Das Zielsystem beinhaltete zunächst fünf, für 2009 lediglich drei (vom BMAS festgelegte) Ziele (vgl. Übersicht 2). Übersicht 2: Zielsystem im SGB II
x x x x x
Ziele2007/2008 VerringerungderHilfebedürftigkeit VerbesserungderIntegrationinErͲ werbstätigkeit VerbesserungderIntegration derUnterͲ25ͲJährigen SicherungdesLebensunterhalts SteigerungvonWirtschaftlichkeit undNachhaltigkeit
x x x
Ziele2009 VerringerungderHilfebedürftigkeit VerbesserungderIntegrationinErͲ werbstätigkeit Langzeitbezugvermeiden
Kontinuierlich über die Jahre bilden hier die Integrationsquote(n) und die Reduzierung der passiven Leistungen die Schlüsselindikatoren, 2009 ergänzt durch den neuen Indikator „Bestand der Kunden im Kundenkontakt mit mehr als 24 Monaten Dauer“.
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
169
2.3.3 Kundenzentrum und Handlungsprogramme Das neue Organisationsmodell der deutschen Arbeitsagenturen, das „Kundenzentrum der Zukunft“ (KuZ), bestimmt die Prozessorganisation der Vermittlung. Die sogenannten „Handlungsprogramme“ standardisieren in diesem Rahmen Vermittlungsprozesse, Mittelund Instrumenteneinsatz nach Maßgabe einer Kundengruppenzuordnung auf Basis des Beratungsgesprächs. Für die vier Kundengruppen „Marktkunden“, „Beratungskunden Aktivieren“, „Beratungskunden Fördern“, „Betreuungskunden“ stehen insgesamt sechs Handlungsprogramme zur Verfügung, die mit einem Instrumentenportfolio unterlegt sind. Die Kundengruppenzuordnung erfolgt als nach Themen standardisiertes Profiling. Ziel der Handlungsprogramme ist es, die Beratungsqualität durch höhere Strukturiertheit der Gespräche zu steigern und Fehlallokationen der Mittel und Instrumente durch die Vermittler zu verringern. Im Rahmen der BA-Geschäftspolitik bedeutet dies auch, dass die Personengruppen mit den größten Vermittlungshemmnissen und Problemen am Arbeitsmarkt nur noch in Ausnahmefällen arbeitsmarktpolitisch gefördert werden (Schütz/Oschmiansky 2006; WZB/infas 2006). Das Ziel einer Standardisierung und Formalisierung des Vermittlungsgesprächs durch Anwendung der ‚Handlungsprogramme Arbeitnehmer’ wird nach empirischen Befunden recht stringent umgesetzt (ebd.; Hielscher/Ochs 2009). Die Umsetzungskontrolle erfolgt durch Monitoring von Prozesskennziffern auf Teamebene sowie durch regelmäßige Teamleiterhospitationen, bei denen Teamleiter als passive Beobachter bei Vermittlungsgesprächen teilnehmen und diese mit den Vermittlern im Anschluss kritisch analysieren. Mit diesem neuen Instrument kann individuelle Kontrolle und Nachschulung gemäß den Vorgaben der Handlungsprogramme gleichermaßen erreicht werden. 2.3.4 Die Reform der Förderung der beruflichen Weiterbildung Der (geschäfts)politisch motivierte Rückbau und die institutionelle Neuordnung des Managements der Förderung der beruflichen Weiterbildung (FbW) (vgl. infas et al. 2006; Schmid 2006: 496ff.; Oschmiansky et al. 2007) bedeutete eine wichtige Akzentverschiebung in der deutschen Arbeitsförderung seit ihrem Bestehen. Die Förderung der beruflichen Weiterbildung wurde zunächst in ihrem normativen Stellenwert abgewertet sowie unter den Maßstab strengerer Effizienzorientierung gestellt. Zudem bedeutete die Einführung des Bildungsgutscheinverfahrens eine klare Beschneidung eines der klassischen Gestaltungsräume der Arbeitsämter/-agenturen. Den Arbeitsagenturen blieb allein die Bildungszielplanung und die Ausgabe der Gutscheine. Die Möglichkeit, z.B. als Reaktion auf kurzfristig erkannte Bedarfslagen und Vermittlungsmöglichkeiten zeitnah eine passende Qualifizierungsmaßnahme aufzulegen, war fortan versperrt. Die Qualitätskontrolle der Weiterbildung erfolgt nun durch Zertifizierungsstellen, die Maßnahmebesetzung über das Quasi-Marktinstrument des Gutscheins. 2.3.5 Die neue Einkaufsorganisation Bundesweit wurde zum Beginn des Jahres 2004 in der Bundesagentur eine zentrale Einkaufsorganisation eingeführt. Mittels regionaler Einkaufszentren werden seitdem auch viele Arbeitsmarktdienstleistungen (Trainingsmaßnahmen, die Beteiligung Dritter, berufsvorbe-
170
Holger Schütz
reitende Bildungsmaßnahmen, Eingliederungsmaßnahmen, Ausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen) über Ausschreibungsverfahren beschafft. Ein Ziel der Einrichtung der Einkaufsorganisation war unter anderem, Personal für die operativen Bereiche Beratung und Vermittlung zu gewinnen. Für die Arbeitsagenturen bedeuten die regionalen Einkaufsprozesse eine deutliche Beschneidung vormalig vorhandener Spielräume für eigenständige geschäftspolitische Gestaltungen von Arbeitsmarktdienstleistungen. Kurzfristig erkannte Nachfrage-/Angebotsbedarfe können praktisch nicht mehr durch kurzfristig aufgelegte, freihändig vergebene Maßnahmen flexibel gedeckt werden. Stattdessen müssen die Agenturen bereits im Sommer des Vorjahres die gewünschten Maßnahmen für das folgende Jahr in genauer Losgröße an den zuständigen Regionaleinkauf melden. Planungsaufwand und Planungsunsicherheit sind gestiegen. Die Einflussmöglichkeiten der Agentur auf die Auswahl der Anbieter sind nur indirekt und damit begrenzt. Unter dem Strich wiegen bisher die Entlastungseffekte des Regionaleinkaufs die neuen Belastungseffekte und den Verlust an agenturspezifischen Interventionsmöglichkeiten nicht auf (vgl. Kaps/Schütz 2007).
2.4 Steuerungsmodelle und Controlling im SGB II Bereich Die ARGEn und die SGB-II-Träger in getrennter Aufgabenwahrnehmung sind in weiten Teilen an Organisations- und Controllingmodell der Bundesagentur für Arbeit gebunden oder haben BA-Vorgaben übernommen. Sie sind also in vielen Organisationsfragen an die Struktur des Kundenzentrums im Versicherungsbereich angepasst. Dabei unterliegen die SGB-II-Einheiten in der getrennten Aufgabenwahrnehmung noch stärker als die ARGEn der Normierungslogik der BA in Bezug auf Personal, Organisation und Strategien, weil es keinen externen Akteur als Korrektiv gibt. Dennoch haben sie potentiell größere Freiräume als Arbeitsagenturen im SGB III. Die hierarchische Zielsteuerung der BA-Zentrale wird in weiten Teilen der ARGEn und gAw umgesetzt. Dafür wurden in Abstimmung zwischen BA und BMAS ab 2006 ein Zielvereinbarungsprozess und ein spezielles Controllingsystem für die ARGEn eingeführt. Wegen des Experimentiercharakters des Optionsmodells kann auf die zugelassenen kommunalen Träger kein überregionaler Akteur hierarchisch einwirken. Die Optionskommunen können deshalb allenfalls indirekt beeinflusst werden, lediglich im Fall mangelnder Rechtmäßigkeit kann die Rechtsaufsicht durch die Länder greifen (vgl. Kaps 2009). Die organisatorische Vielfalt der Optionskommunen ist groß. Das Spektrum reicht von der Beauftragung kommunaler Beschäftigungsgesellschaften oder privater Dritter für spezifische Kernaufgaben (z.B. Fallmanagement) bis zu diversen hybriden Formen öffentlichprivater Aufgabenerfüllung (ebd.).
2.5 Zusammenfassung Die neue BA-Reform seit 2003 war schon von Beginn zentralistischer angelegter als die noch auf Partizipation setzende Vorgängerreform. Im Zuge dieser Reform haben sich der Steuerungs- und Kontrolldruck auf die Arbeitsagenturen erhöht und die Gestaltungsspielräume der Agenturen deutlich verringert.
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
171
Zusammengefasst ist im SGB-III-Bereich eine Situation entstanden, in der eine lokal eigenständige Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik im Sinne regionalspezifischer Programmakzente durch die örtliche Geschäftsführung allenfalls dann möglich – d.h. durch die vorgesetzten Dienststellen duldungsfähig – erscheint, wenn Konzeptkonformität der örtlichen AA-Organisationsstruktur3 und relativer Erfolg bei der offiziellen Zielnachhaltung in einer Agentur zusammentreffen. Regionale Akzente sind in diesem Sinne nur ‚zusätzlich’, Priorität hat die Umsetzung der kennzifferngestützten Geschäftspolitik. Im SGB-II-Bereich hat die mittelfristige Durchsetzung vieler organisatorischer Maßgaben und Leitideen der Bundesagentur – wenn auch in modifizierten Formen (z.B. Betreuungsstufen, Eingangszone) – ebenfalls zu bestimmten lokalen Organisationsstandards geführt, ohne allerdings schon die (relative) Uniformität des SGB III zu erreichen. Die Optionskommunen weisen demgegenüber untereinander uneinheitliche formale Organisationsstrukturen auf, was sich am besten an der Verwendung unterschiedlicher Statistik- und Controlling-Software veranschaulichen lässt. Zugleich, so der Befund der 6c-Evaluation, AP2 (isr et al. 2008: XiX), polarisiert sich die Prozessorganisation der Leistungserbringung der SGB-II-Einrichtungen zusammengefasst in zwei Modellen: In dem einen, vornehmlich in ARGEn und gAw umgesetzten Modell werden Vermittlung/Integration, Fallmanagement und Aktivierung stark arbeitsteilig und spezialisiert von unterschiedlichen Organisationseinheiten und Fachkräften erbracht. In dem zweiten, in Optionskommunen (in diversen Varianten) umgesetzten Modell, wird dagegen darauf gesetzt, die genannten Funktionsbereiche stärker zu integrieren und personell ‚aus einer Hand’ anzubieten. In der Umsetzung der Arbeitsvermittlung, Aktivierung und Maßnahmeneinsatz unterscheiden sich Optionskommunen von den ARGEn und den Einrichtungen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung tendenziell vor allem in ihrer strategischen Ausrichtung: Während in den ARGEn (und gAw) die Matchingorientierung ähnlich zum SGB-III-Bereich dominiert, steht bei den Optionskommunen die einzelfallbezogene Bestandsaufnahme der sozialen und beruflichen Situation im Vordergrund.
3
Auswirkungen der Organisationsreformen
3.1 Arbeitsvermittlung und Dienstleistungsqualität Durch die Einführung des Kundenzentrums wurden einige Prozessverbesserungen bei der Vermittlungsberatung erreicht (Mindeststandards der Gesprächsdauern; ungestörte, auf Vermittlung fokussierte Beratungsgespräche; Auslagerung einfacher Anliegen an telefonische Servicecenter und örtliche Eingangszone), zugleich wurden durch das neue Profiling und die sog. Handlungsprogramme die Selektivität der arbeitsmarktpolitischen Förderung zu Lasten der arbeitsmarktferneren Personengruppen verschoben4 (WZB/infas 2006, Schütz/Oschmiansky 2006; Ochs/iso 2006).
3 Die Konformität der örtlichen Umsetzungselemente zu den Organisationsvorgaben des KuZ wird Monate nach ihrer Einführung durch die BA-Zentrale nochmals überprüft und bei positiver Beurteilung durch die Verleihung eines sog. „Reformsiegels“ bestätigt. 4 Diese Tendenz wurde ab 2006 durch die Wiedereinführung von Zielgruppenprogrammen (WeGebAU; SGB II: Ganzil) wieder abgeschwächt.
172
Holger Schütz
In der Vermittlung bestimmen Kundengruppensegmentierung und Handlungsprogramme die Praxis und verengen die Handlungsmöglichkeiten der Vermittler auf standardisierte Lösungen, welche die Vielfalt an individuellen Problemlagen und Beratungsbedarfen nicht eindeutig abdecken können. Für den Adressatenkreis von Arbeitsmarktdienstleistungen bestehen zusammengefasst weiterhin begründete Zweifel, ob die Kundendifferenzierungen der BA nicht zu einer Dienstleistungsunterversorgung genau der Arbeitslosen und der Betriebe mit dem höchsten Service- und Beratungsbedarf führen (Schütz/Ochs 2005; Franck 2006). Fehlallokationen von knappen Dienstleistungen können in diesem Zusammenhang auch als eine spezifische Form von schwacher Dienstleistungsqualität verstanden werden. In der Bundesagentur für Arbeit dominiert in Bezug auf die Dienstleistungsqualität weniger die Kunden-, sondern die Prozessperspektive (Franck 2006), im Gegensatz zu verschiedenen ausländischen Arbeitsverwaltungen (Schütz 2005b; Di Domenico 2003). Berücksichtigung findet die Adressatenperspektive vor allem mit Bezug auf die Differenzierung der Dienste nach unterschiedlichen Leistungstiefen für festgelegte Kundengruppen bei sowohl Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden als auch bei Arbeitgebern. Die im Zielsystem definierte Kundenzufriedenheit nimmt dagegen weder einen besonders prominenten Raum in der Umsetzungspraxis noch in der medialen Außendarstellung der Bundesagentur ein.
3.2 Controllingbasierte Arbeitsmarktpolitik und Organisation: Pathologien des manageriellen Steuerungsmodells In Kurzform bedeutet Controlling, mittels systematisch generierter Informationen und Instrumente, partielle oder umfassende (Organisations-, Politik-) Ziele zu planen, umzusetzen und den relativen Grad der sachgerechten Umsetzung zu prüfen und zu bewerten.5 Controlling ist als Führungsinstrumentarium für größere Organisationen unverzichtbar, obwohl Controllingsysteme für Funktionsstörungen grundsätzlich stark anfällig sind (s.u.) und zu den Auswirkungen von Controllingsystemen insbesondere auf die Qualität der Arbeitsmarktpolitik keine systematischen, vergleichenden Studien vorliegen. Controllingsysteme weisen eine Reihe an Fehlerpotenzialen auf (vgl. Naschold 1995; Schütz 2001 und 2008): Die Festlegung auf bestimmte Ziele kann z.B. zur Vernachlässigung anderer relevanter, aber nicht im Controlling enthaltener Ziele führen. Leistungsindikatoren und -anreize können soziale Benachteiligungen bei der Arbeitsförderung begünstigen. Ziele und Indikatoren verursachen möglicherweise nur operativen Erhebungsaufwand, ohne Steuerungswirkung zu entfalten. Ein prominenter Folgeeffekt - funktionierender Controllingpraxis ist zudem das „Performanzparadox“, d.h. schwache bzw. abnehmende Zusammenhänge zwischen tatsächlicher Leistung und Leistungsindikatoren (Thiel/Leeuw 2002). Auch der enorme technische und professionelle Fortschritt des BA-Controllings in den jüngeren Reformjahren ist von solch typischen Störungen begleitet (vgl. Ochs/iso 2006: Abschnitte 5.3 und 5.4). Dabei handelt es sich in diesem Fall keineswegs nur um zeitweili5 Controlling bietet ein Instrumentarium für Steuerungsprozesse in der Organisationspraxis und beschränkt sich in der Regel auf die Messung von Bruttoeffekten, weshalb Controlling von Ansatz und Reichweite nicht mit dem Ansatz der wissenschaftlichen Evaluation gleichgesetzt werden darf.
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
173
ge Anpassungsprobleme, sondern um institutionell bedingte, relativ stabile Funktionsstörungen, die mit der ambitionierten Funktionszuschreibung des BA-Controllings (s.o.) begründbar sind. Die in diesem Sinne wichtigsten Pathologien des Controllings der BA bilden Übersteuerungs- und Verselbständigungstendenzen: Das (zur Selbstverstärkung neigende) Phänomen der Übersteuerung charakterisiert sich durch die Einbeziehung zu vieler Ziel- und Steuerungsdimensionen in immer kleinteiligeren Analyseeinheiten; ehrgeizige, stets an den oberen Leistungsgrenzen orientierte Zielhöhen sowie übergenaue, penible Leistungsmessung und strenge Leistungsbewertung in kurzen Kontrollabständen. Diese Überdeterminierung des Steuerungssystems begünstigt wiederum eine wachsende Ausrichtung der lokalen Leitungs- und Führungskräfte am „Zahlen bringen“. Das Controlling gerät tendenziell zum Selbstzweck, entwickelt also eine handlungsprägende Eigenrationalität, die z.T. nur noch bedingt an die eigentlichen Ziele der Geschäftspolitik und die Prozesse der operativen Leistungserbringung gekoppelt ist. Die Bewertung der arbeitsmarktpolitischen Zielerreichung unterliegt zusehends einem ‚Tunnelblick’, bei dem allein die Kennzifferndimensionen des Controllings zählen. Besonders kritisch sind im Performanzmanagement zudem traditionell – d.h. auch international – die Zielindikatoren. So haben Indikatoren in der Regel nur einen beschränkten Geltungsbereich, messen also nur bedingt das anvisierte Ziel, vernachlässigen Variationen und Qualitätsaspekte von Zieldimensionen (z.B. von Beschäftigung) und erzeugen zudem häufig unbeabsichtigte negative Nebeneffekte. Bei der BA ist im SGB-III-Bereich als positive Tendenz der jüngeren Zeit zu verbuchen, dass seit 2006 wenigstens offiziell ein Zielindikator auf nachhaltige Integrationen abzielt (d.h. den Verbleib im Arbeitsmarkt über die Dauer von sechs Monaten hinaus). Vormals wurde ausschließlich auf die kurzfristigen Integrationen abgestellt, was die Vermittlung als Mengengeschäft und in auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse begünstigte. Dennoch bleibt aktuell (2008/2009) weiterhin die kurzfristige Integration zielbestimmend, was sich auch am Indikator der Verkürzung der „erweiterten Dauer der faktischen Arbeitslosigkeit“ zeigt. Der Indikator bezieht die inzwischen praktisch das operative Kerngeschäft bestimmende „Job-to-Job-Vermittlung“ (nach §38 [§37b alt] SGB III) ein und lässt sich vornehmlich durch zügige Integrationsprozesse beeinflussen. Daher kann der Indikator auch als Negativanreiz für die Einleitung von Qualifizierungsmaßnahmen wirken (dazu Hielscher/Ochs 2009).
3.3 Reformziele vs. Organisationselemente der Reform Nicht zu Unrecht wurde in kritischen Bestandsaufnahmen der BA-Reform die Stimmigkeit oder „Folgerichtigkeit“ (Hielscher/Ochs 2009: 20f.) der verschiedenen Reformelemente betont: Das Kundenzentrum ist in dieser Sichtweise das bewusst konstruierte lokale Organisationsmodell zur Durchsetzung der seit 2004 effizienzzentrierten Arbeitsmarktpolitik, die zum einen nach Maßgaben einer konzeptionell verkürzten, privatwirtschaftlichen Versicherungslogik arbeitet (vgl. WZB/infas 2006: 81ff.; Hielscher 2007; Schütz 2008: 98f.), zum zweiten das internationale Mainstreamprinzip der ‚fordernden Aktivierung’ als standardisiertes Massengeschäft in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit organisiert und umsetzt. Das Controllingsystem dient dabei der Leistungs- und Erfolgskontrolle der auf diesen programmatischen Eckpfeilern gestützten quantifizierten Wirkungs- und Prozessziele.
174
Holger Schütz
Bei dieser Sichtweise der relativen Stimmigkeit der Reformelemente werden allerdings die Ziele und die Organisationsformen immer gemeinsam diskutiert und gedacht, als seien diese untrennbar verbunden. Dagegen ist es durchaus sinnvoll, Ziele und Organisationsansätze der Reform analytisch auch getrennt zu diskutieren. Dann gerät ins Blickfeld, dass die Ziele der BA-Organisationsreform weitgehend untergesetzlich, d.h. behördenintern unter Führung der BA-Reformeliten (Vorstand, Zentralbereich „Produkte und Programme“ plus Unternehmensberatung) entwickelt wurden. Dabei ist bis heute weitgehend unklar, in welchem Maße die Reformzielentwicklung der Bundesagentur in Abstimmung und Koordination mit dem Bundesministerium für Arbeit erfolgte (vgl. Schütz 2008: 98f. und 241). Dies verweist zugleich auf den Punkt, dass eine klar umrissene gesetzliche Funktions- oder Zielbestimmung der BA wie der Arbeitsvermittlung trotz der umfänglichen Reformgesetze der letzten Jahre letztendlich aussteht (so bereits die Hartz-Evaluation; vgl. WZB/infas 2006: 459ff.). In jedem Fall ist die gegenwärtige Zielbestimmung der BA im SGB III weder zwangsläufig (als Folge des manageriellen Referenzsystems) noch politisch irreversibel. Zusammengefasst liegt das Hauptproblem der jüngeren BA-Reformen vor allem in ihren Einseitigkeiten und Übertreibungen. Das betrifft nicht zuletzt ihre Zielsetzungen. So ist eine Orientierung an Kriterien der Wirksamkeit und Effizienz grundsätzlich sinnvoll, wenn diese nicht die alleinigen Kriterien bilden. Statt eine Balance unterschiedlicher Zieldimensionen anzustreben wie im offiziellen Zielsystem eigentlich definiert, hat allerdings die BAReformstrategie ihre Zielfunktion zunächst einseitig in Richtung Effizienz sowie kurzfristige Integrationen aufgelöst. Die Schieflage zur Effizienzorientierung folgt dabei in typischer Weise der managerialistischen Modellvariante des New Public Management. Zugleich sind die Organisationskomponenten der letzten BA-Reform nicht zwingend auf diese Politikvariante festgelegt. Beispielsweise wäre der Organisationsrahmen des Kundenzentrums durchaus sinnvoll mit anderen Ziel- und Prozessprämissen als den gegenwärtigen verknüpfungsfähig (etwa Veränderung oder Abschaffung der Handlungsprogramme; Rückbau der Arbeitsverdichtung). Auch die Nutzung betriebswirtschaftlicher Konzepte wie das Controlling bilden kein Übel an sich. Kennziffernbasierte, mengenorientierte Zielsteuerung steht zwar in Spannung, aber nicht in zwangsläufig unüberbrückbaren Gegensatz zu einem Dienstleistungskonzept zur adäquaten Bearbeitung individueller (Beratungs)Bedarfslagen (vgl. Hielscher/Ochs in diesem Band). Tatsächlich kann Controlling auch für komplexe, anspruchsvolle Zielsysteme ausgelegt werden; wie z.B. die Balancierung der drei Ziele bedarfsgerechte Dienstleistungsorientierung und Beratungsqualität, wirksame und effiziente Leistung zu Markttransparenz und –ausgleich sowie Mitarbeiterorientierung. Gerade bei der Balancierung dieser Ziele sind in der BA-Steuerung noch Defizite vorhanden, insbesondere die (sogenannte) Kundenzufriedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit wurden bisher zu wenig berücksichtigt.
4
Fazit
Im Zuge der BA-Reform ab 2003 haben die örtlichen Arbeitsagenturen im SGB III dezentrale Gestaltungskompetenzen eingebüßt, was zu einer zunehmenden Uniformisierung der lokalen Vermittlungsmodelle führt (Schütz 2008). Dies erscheint als eine Fehlentwicklung
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
175
angesichts vielfältiger regionaler Unterschiede in den Problemlagen, für deren Bearbeitung und Lösung auch eine hinreichende Vielfalt der Politikstrategien und Organisationsmodelle nötig ist. Die jüngere Reformpraxis erscheint stattdessen von einem starken sozialtechnologischen Steuerungsoptimismus geprägt, dem offenbar die Annahme zugrunde liegt, die Arbeitsmarktpolitik sei umso erfolgsträchtiger, je engmaschiger und standardisierter die Ziele und lokalen Umsetzungsprozesse konzipiert, geplant und kontrolliert werden. Die Grenzen dieses Ansatzes hat jedoch bereits Lindblom (1959) karikiert. Zugleich hat sich die konditionale Regelsteuerung vom AFG bis zum SGB III bis in das 21. Jahrhundert hinein als langjährig stabil erwiesen (im SGB II ist diese hingegen schwächer verankert). Auch mit der Anfang 2009 vollzogenen „Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ wird trotz verschiedener Vereinfachungen keine grundlegende Abkehr von der Konditionalprogrammierung eingeleitet (die gegenwärtig u.a. auch durch die Maßgaben von BA-internen Handlungsprogrammen gestützt wird). Das Nebeneinander von regelgebundener Steuerung und quantitativer Zielsteuerung (Controlling) hat den Aufgabenprofi BA allerdings nicht in der vielfach dokumentierten Schlüsselkompetenz behindert, gesetzliche Vorgaben und Sonderprogramme professionell abzuarbeiten oder zusätzlich zu erledigen. Das Nebeneinander von Regelsteuerung und Zielsteuerung hat auch nicht zu einem Rückfall in die alte Form der Regelsteuerung geführt (wie aus theoretischer Sicht erwartet, vgl. Naschold 1995). Vielmehr, so lässt sich thesenartig schlussfolgern, hat die BA die ‚klassischen’ Elemente der Konditionalsteuerung und die Elemente der wirkungsorientierten (Ziel)Steuerung in eine neue Form von Regelsteuerung überführt. In dieser Steuerungsform genießen die Ziele der wirkungsorientierten Steuerung zwar oberste Priorität, die Umsetzung der wirkungsorientierten Steuerung erfolgt aber nach standardisierten Prozessregeln. Die Umsetzungskontrolle via Kennziffern erstreckt sich neben In- und Outputs auf Wirkungsergebnis und auf Prozesskonformität (Einhaltung der Prozessregeln). Damit wird im Endeffekt eine größere Verregelung erzeugt als bei ‚alter’ Regelsteuerung, weshalb die dezentralen Steuerungsimpulse und Handlungsspielräume – im Gegensatz zur Zielsteuerungsidee – unterhalb der Möglichkeiten des alten Bürokratiemodells liegen. Vor diesem Hintergrund bestünde gerade im SGB III Bereich Bedarf an einer deutlichen Reduzierung zentraler Prozessvorgaben und einer Verstärkung der dezentralen Kompetenzen für die Gestaltung der örtlichen Geschäftspolitik und Vermittlungsstrategien. Die Kehrseite einer durchgreifenden Dezentralisierung zeigt sich im Bereich des SGB II an den Optionskommunen, die eine hohe Varianz an Organisationsmodellen, aber zugleich eine Fragmentierung in den IT-, Kennziffern- und Monitoringsystemen aufweisen, was Probleme der Transparenz impliziert und die Möglichkeiten von Leistungsvergleichen erschwert. Trotz der vielfältigen Funktionsfallen des Controllings bilden eine vollständige Rückkehr zur Konditionalsteuerung oder der Verzicht auf Zieldefinitionen und Zielerreichungskontrollen auch unter Legitimationsgesichtspunkten (accountability) keine gangbaren Alternativen zur Fortführung eines Performanzmanagements. Auf Basis einer nüchternen Einschätzung der Kapazitäten einer Zielsteuerung könnte ihre zukünftige Nutzung in der deutschen Arbeitsmarktpolitik aber möglicherweise unter dem Motto ‚weniger, reflektierter, bescheidener’ erfolgen. Dazu müssten die seit Jahren virulenten Tendenzen der Übersteuerung und Verselbständigung sowie auch des quantitativen Wachstums des Controllings abgestellt werden. So wäre z.B. bei der Zielhöhenfestlegung und -nachhaltung ein Ansatz quantifizierter Zielkor-
176
Holger Schütz
ridore und/oder bestimmter Abweichungsmargen vom Ziel eine Alternative zum bisher praktizierten penibel genauen Zahlenfetischismus. Auch die Planungs- und Vergleichsinstrumente der wirkungsorientierten Steuerung sollten einer kritischen Prüfung hinsichtlich ihrer Validität und Prognosegenauigkeit unterzogen werden. Ein stärker dezentralisiertes Organisationsmodell, wie hier für den SGB III Bereich vorgeschlagen, schließt die Anbindung an ein übergreifendes Steuerungs- und Controllingsystem mit quantifizierten Indikatoren keineswegs aus, im Gegenteil: Ein zentrales Zielsystem, kombiniert mit dezentralen Umsetzungseinheiten mit hoher Handlungsautonomie ohne zentrale Prozessvorgaben, entspricht dem Ursprungskonzept der Zielsteuerung (vgl. Schütz 2001). Eine gewisse Einheitlichkeit des Zielsystems, der Indikatoren und von Servicestandards sorgt für ein Dienstleistungsgefüge aus einem Guss und verhindert die Fragmentierung der örtlichen Dienste, was im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse begrüßenswert erscheint.
Literatur Bahnmüller, R./ Faust M. (1992): Das automatisierte Arbeitsamt. Legitimationsprobleme, EDVMythos und Wirkungen des Technikeinsatzes. Frankfurt a.M./New York: Campus. Bundesanstalt für Arbeit (2003): Führung in der neuen BA: Gesamtkonzept Steuerung und Controlling. Abschlussbericht der Konzeptphase. Nürnberg. 5. August 2003. Di Domenico, G. (2003): Public Employment Services in Europe. Innovative practices in the provision of services: on-line, to companies, and to long-term unemployed. Rome: Isfol –RP(MDL10/03). Diekjobst, B./Erdmann, F. (2003): Modernisierungskonzepte in der Arbeitsverwaltung. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Franck, M. (2006): Zur Qualität der Arbeitsvermittlung der BA: Kundenzufriedenheit durch Dienstleistungsqualität oder Dienstleistungsqualität durch Kundenzufriedenheit? In: Soziale Sicherheit. Heft 4. 110-115. Hielscher, V. (2007): Die Arbeitsverwaltung als Versicherungskonzern? Zum betriebswirtschaftlichen Umbau einer Sozialbehörde. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 148. 351-368. Hielscher, V./Ochs, P. (2009). Arbeitslose als Kunden? Beratungsgespräche in der Arbeitsvermittlung zwischen Druck und Dialog. Berlin: edition sigma. infas/iza/DIW (2006): Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der HartzKommission. Modul 1b: Förderung beruflicher Weiterbildung und Transferleistungen. Bericht 2006. Bonn u. a. isr/infas/WZB (2008): Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c SGB II. Untersuchungsfeld 2: Implementations- und Governanceanalyse. Abschlussbericht Mai 2008 an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Frankfurt a.M., Bonn, Berlin. Kaps, P. (2009). Konstitutionelles Experiment als Governanceform. In: Botzem, S./Hofmann, J./Quack, S./Schuppert, G.F./ Strassheim, H. (Hrsg.): Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel. Baden-Baden: Nomos. 607-633. Kaps, P./Schütz, H. (2007): Privatisierung von Vermittlungsdienstleistungen – Wundermittel für Effizienz? Eine Bestandsaufnahme deutscher und internationaler Erfahrungen. WZB Discussion Paper SP I 2007-101. Berlin. Lindblom, C. E. (1959): The Science of Muddling Through. In: Public Administration Review 19. 7988. Maibaum, K./Pfuhlmann, H./Rademacher, M. (1986): Die Praxis der Arbeitsvermittlung. Aufgaben und Praxis der Bundesanstalt für Arbeit. Heft 14. Stuttgart: Kohlhammer.
Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung
177
Mosley, H./Schütz, H./Schmid, G. (2003): Effizienz der Arbeitsämter: Leistungsvergleich und Reformpraxis. Berlin: edition sigma. Naschold, F. (1995): Ergebnissteuerung, Wettbewerb, Qualitätspolitik. Entwicklungspfade des öffentlichen Sektors in Europa. Berlin: edition sigma. Ochs, P./iso (2006): Organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitspaket 2. Evaluationsbericht 2006 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Saarbrücken. Oschmiansky, F./Mauer, A./Schulze Buschoff, K. (2007): Arbeitsmarktreformen in Deutschland – zwischen Pfadabhängigkeit und Paradigmenwechsel. In: WSI-Mitteilungen. 06/2007. 291-297. Reissert, B. (2001): Auf dem Weg zu einem neuen Steuerungsmodell in der Arbeitsmarktpolitik. In: Schröter, E. (2001) (Hrsg.): Empirische Verwaltungs- und Policy-Forschung. Für Hellmut Wollmann zum 65. Geburtstag. Opladen: Leske & Budrich. 117-131. Schmid, G. (2006): Gewährleistungsstaat und Arbeitsmarkt: Zur Wirksamkeit neuer Steuerungsformen in der Arbeitsmarktpolitik. In: Leviathan 4. 487-513. Schütz, H. (2001): Zielsteuerung in europäischen Arbeitsverwaltungen. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2. 207–225. Schütz, H. (2005a): Vom Arbeitsamt zum Kundenzentrum – Reformveränderungen der deutschen Arbeitsvermittlung. In: H. Schütz und H. Mosley (Hrsg.) (2005): 135-178. Schütz, H. (2005b): Reformprozesse und Controlling öffentlicher Beschäftigungsdienste: Großbritannien, die Niederlande und Deutschland im Vergleich. In: Schütz, H. und Mosley, H. (Hrsg.) (2005): 241-269. Schütz, H./Mosley, H. (2005): Arbeitsagenturen auf dem Prüfstand – Leistungsvergleich und Reformpraxis der Arbeitsvermittlung. Modernisierung des öffentlichen Sektors. Sonderband 24. Berlin: edition sigma. Schütz, H. (2008): Reform der Arbeitsvermittlung. Uniformisierungsdruck in der Bundesagentur für Arbeit. Opladen & Farmington Hills: Budrich UniPress Schütz, H./Oschmiansky, F. (2006): Arbeitsamt war gestern – Neuausrichtung der Vermittlungsprozesse in der Bundesagentur für Arbeit nach den Hartz-Gesetzen. In: Zeitschrift für Sozialreform 1. 5-28. Schütz, H./Ochs, P. (2005): Das Neue im Alten und das Alte im Neuen – Das Kundenzentrum der Bundesagentur für Arbeit: Die öffentliche Arbeitsvermittlung zwischen inkrementellen und strukturellen Reformen. WZB Discussion Paper SP I 2005-106. Berlin. Thiel, S. van/Leeuw, F.L. (2002): The Performance Paradox in the Public Sector. In: Public Performance and Management Review Vol. 25. No. 3. 276-281. WZB/infas (2006): Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der HartzKommission. Modul 1a: Neuausrichtung der Vermittlungsprozesse. Endbericht 2006. Berlin, Bonn.
178
Volker Hielscher/Peter Ochs
Volker Hielscher/Peter Ochs
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
Der Begriff der Dienstleistung steht im Zentrum der arbeitsmarktpolitischen Rhetorik der so genannten „Hartz-Reformen“, die auf den vier Gesetzen „für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ beruhen. Faktisch jedoch weiß man wenig über die Praxis der Leistungsprozesse in der Arbeitsverwaltung – insbesondere darüber, ob diese Praxis dem Dienstleistungsanspruch gerecht wird. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was die Substanz einer Dienstleistung in der öffentlichen Arbeitsverwaltung ausmacht bzw. ausmachen könnte und worin sich ein entsprechender gesellschaftlicher und individueller Dienstleistungsanspruch begründet. Er kontrastiert anhand der Ergebnisse einer empirischen Studie die in den letzten Jahren breit durchgesetzte Kunden- und Dienstleistungsmetaphorik mit den faktischen Asymmetrien im Dienstleistungsverhältnis und den gegenwärtigen Rahmenbedingungen, unter denen die Fachkräfte in der Arbeitsvermittlung mit ihren „Kunden“ arbeiten.
Warum brauchen wir personale Dienstleistungen in der öffentlichen Arbeitsverwaltung? Wandel arbeitsmarktpolitischer Paradigmen Welche Funktionen der öffentlichen Arbeitsverwaltung zuzuschreiben sind, ist eine der Grundfragen der Arbeitsmarktpolitik und dementsprechend politisch umstritten. Unter den wechselnden arbeitsmarktpolitischen Paradigmen haben sich die jeweiligen Akzentsetzungen in den Funktionszuschreibungen verschoben. So ist die Arbeitsverwaltung in sozialpolitischer Perspektive eine Institution der sozialen Risikoabsicherung durch die Bereitstellung von Unterstützungsleistungen (vgl. Bäcker et al. 2008); und aufgrund des Auftrags im Sozialgesetzbuch ebenso eine Institution zur Herstellung von Markttransparenz und des Marktausgleichs durch Vermittlung (§ 1, Abs. 1 SGB III); sie hat als Institution der Arbeitsförderung die Aufgabe, die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu fördern, unterwertiger Beschäftigung entgegenzuwirken und zur Verbesserung der regionalen Beschäftigungs- und Infrastruktur beizutragen (ebenda); und sie ist nicht zuletzt auch eine ordnungspolitische Institution zur Kontrolle der Leistungsempfänger und Disziplinierung der Arbeitslosen.1 Die Arbeitsverwaltung hat in den 1960er Jahren eine deutliche Ausweitung ihres Aufgabenspektrums erfahren. Damals wurde infolge des Strukturwandels, der Folgen von Rationalisierungsprozessen und der erstmals auf dem Arbeitsmarkt spürbaren Abschwächung 1 Dies dokumentiert sich in der Vielzahl der Mitwirkungspflichten im SGB III (prominent in § 2 Abs. 5) und mehr noch im SGB II.
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
179
des Nachkriegsbooms der Ruf laut, auf die Veränderungen der Tätigkeitsprofile und der Qualifikationsanforderungen durch staatliches Handeln zu reagieren. Die Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1969 kann als Geburtsstunde der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland gelten. Sie wurde fortan als aktives, über die Zahlung von Unterstützungsleistungen hinausgehendes politisches Handeln am Arbeitsmarkt begriffen mit dem Ziel, durch Qualifizierung und Maßnahmen zum Marktersatz die Beschäftigungsstruktur zu verbessern, Marktversagen zu kompensieren und somit die Folgen des ökonomischen und technischen Wandels abzufedern. Aktive Arbeitsmarktpolitik basierte zum einen auf der in den 1970er Jahren sich durchsetzenden makroökonomischen Position, dass für die Herstellung von Vollbeschäftigung zu wenig Arbeitsplätze vorhanden seien, und zum anderen auf einem gleichwohl aufrechterhaltenen normativen Postulat eines Rechts auf Arbeit (vgl. Knuth 2005). Die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre hingegen sind durch ein entgegengesetztes, neoklassisches Paradigma der Arbeitsmarktökonomie geprägt. Sie fokussieren im Kern auf einen beschleunigten Marktausgleich. Die dahinter stehende Philosophie versteht Arbeitslosigkeit als Angebotsüberhang am Arbeitsmarkt, der sich primär aus einem (zu) hohen Lohnniveau heraus erklärt. „Hochlohnarbeitslosigkeit“ entstehe dann, wenn das durchschnittliche Lohnniveau über dem Niveau des Gleichgewichtslohnes liege, zu welchem ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage erfolgen würde. Aufgabe der Arbeitsverwaltung und Arbeitsmarktpolitik sei es demnach, diesen Ausgleich zu befördern. Eine solche Betrachtung geht von idealtypischen Marktverhältnissen („vollkommener Markt“) aus, das heißt vor allem von vollständiger Konkurrenz, von einem Verhältnis von Angebot zu Nachfrage, welches ohne zeitliche und räumliche Differenzen funktioniert und reagiert, und von vollkommener Informiertheit der Marktteilnehmer (Markttransparenz) (vgl. Egle 2008: 7 ff.).
Der Dienstleistungsauftrag der öffentlichen Arbeitsverwaltung Das neoklassische Paradigma abstrahiert von einer Besonderheit des Arbeitsmarktes, nämlich von der untrennbaren Verbindung zwischen dem Anbieter als Person und der Arbeit als angebotener Faktorleistung: „Er als Person muß sich beständig zu seiner Arbeitskraft als seinem Eigentum und daher seiner eigenen Ware verhalten, und das kann er nur, soweit er sie dem Käufer stets nur vorübergehend, für einen bestimmten Zeittermin zur Verfügung stellt“ (Marx 1962: 182). Die Einheit von Person und Angebot bringt es mit sich, dass sich der Arbeitskraftanbieter bei Abschluss eines Arbeitsvertrages für die vereinbarte Zeit immer auch als Person bindet. Der Verkauf des Faktors Arbeitskraft berührt somit in besonderer Weise die Integrität der Arbeitskraft als Person (vgl. Schlösser/Mehret 1999). Umgekehrt bedeutet die fehlende Möglichkeit zum Verkauf der Arbeitskraft immer auch ein existenzielles Risiko für den Arbeitskraftanbieter: Er ist unmittelbar seiner Reproduktionsmöglichkeiten beraubt und gezwungen (in der Regel im Gegensatz zum Nachfrager der Arbeitskraft), um seiner physischen Existenz willen seine Arbeitskraft unmittelbar wieder zu verkaufen. Zudem ist er vor die Aufgabe gestellt, „an sich selbst“ zu arbeiten, um die Marktfähigkeit seines Arbeitskraftangebots aufrechtzuerhalten bzw. wieder herzustellen. Diese Besonderheit des „Faktors Arbeit“ begründet in funktionaler Hinsicht einen über die Bereitstellung von Transferleistungen und Matching-Aufgaben hinausgehenden Dienstleis-
180
Volker Hielscher/Peter Ochs
tungsauftrag der öffentlichen Arbeitsverwaltung. Es geht um nicht weniger als darum, Arbeitslose und Arbeitssuchende durch Beratung, Qualifizierung und ggf. weitere Unterstützungsleistungen zu befähigen, als kompetente Teilnehmer am Arbeitsmarkt aufzutreten. Die Arbeitsverwaltung gehört somit, wie viele andere soziale Dienste auch, zur „Zweiten Säule“ des Wohlfahrtsstaates, die auf solche Probleme und Hilfebedarfe zu reagieren haben, die nicht allein durch die Umverteilung von Einkommen zu lösen sind (Bäcker et al. 2008).
Der Dienstleistungsdiskurs in der Arbeitsverwaltung Die institutionelle Reform der deutschen Arbeitsverwaltung in diesem Jahrzehnt stand explizit unter dem Anspruch, die bisherige behördenförmige Organisation in einen „modernen Dienstleister“ zu transformieren, wie sich schon in der Diktion des politischen Auftrages an die „Hartz-Kommission“ des Jahres 2002, der nachfolgenden Arbeitsmarktgesetze und in der Selbstbeschreibung der BA nachvollziehen lässt. Was aber ist ein moderner Dienstleister? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Postulat für die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Leistungserbringer und Leistungsadressaten? Mit dieser Frage musste sich bereits die vom Gesetzgeber veranlasste und in den Jahren 2004 bis 2006 durchgeführte Evaluation zum organisatorischen Umbau der Arbeitsagentur (iso/Ochs 2005 und 2006; Hielscher 2006) auseinander setzen. Liegt "Modernität" allein auf der Ebene der institutionellen Strukturen, also zum Beispiel in einer Reduzierung der Staatsaufgaben und in der Stärkung des Steuerungsmechanismus „Markt“ (vgl. Butterwegge et al.1999) und ist etwa die Übernahme ökonomischer Grundsätze und Instrumente (Hielscher 2007) per se schon Modernisierung? Liegt „Modernisierung“ vor, wenn durch institutionelle Reformen eine Effizienzsteigerung in den Leistungsprozessen bewirkt wird? Gilt eine Behörde dann schon als modern, wenn sie den Bürger zum „Kunden“ erklärt, ihre Leistungen in „Produkte“ umformuliert und deren Kosten transparent macht und kontrolliert? Die Reformdebatte zur Neugestaltung der Staatsaufgaben und der Modernisierung öffentlicher Verwaltung stimmt zwar überein in der Behauptung eines Veränderungsbedarfes (Schmid 2002). Über die Richtung herrscht jedoch keineswegs Einigkeit (vgl. Kropp 2004). Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Modernisierungsdebatte unterschiedliche Staats-Leitbilder zu Grunde liegen (Jann 2002), die etwa ihren Ausgang in der Kritik des „aktivistischen Interventionsstaates“ (Schmid 2002: 2) nehmen, getragen von neo-liberalem Staatsverständnis den „schlanken Staat“ (vgl. König/Füchtner 2000) einfordern oder aus der Perspektive der Stärkung des zivilgesellschaftlichen Elements den „ermöglichenden“ oder „aktivierenden Staat“ (Mezger/West 2001) proklamieren. Die Reformansätze des New Public Management (NPM) nehmen vornehmlich eine Binnenperspektive ein, wobei sie ihr Interesse auf Instrumente der Effizienzsteigerung der Verwaltung richten und die Gestaltung der Außenperspektive auf den Aspekt der Vermarktlichung durch Wettbewerb oder Wettbewerbssurrogate und der Umformung des Verhältnisses von Verwaltung und Bürgern in eine Kundenbeziehung beschränken. Die umfangreiche Literatur zur wissenschaftlichen Staatsmodernisierungsdebatte (vgl. hierzu im Überblick Kropp 2004) und zu „Philosophie“, Praxis und Ergebnissen der Verwaltungsmodernisierung in Deutschland (vgl. Naschold/Bogumil 2000) lassen erkennen: Ein schlüssig ausformuliertes Konzept „moderner Dienstleistung“ im öffentlichen Sektor
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
181
liegt keineswegs vor. Wir haben es vielmehr mit verschiedenartigen und konkurrierenden normativen Konzepten zu tun. In dem Maße, wie die Institutionenreform auf den Aspekt der Verschlankung, Dezentralisierung, Bürokratieabbau und damit insbesondere auf Steigerung der Effizienz staatlicher und halbstaatlicher Leistungsprozesse fokussiert, bleibt die Frage weitgehend außen vor, welche neue Qualität des Dienstleistungsverhältnisses aus dem Postulat der Stärkung von Eigenverantwortung und der Aktivierung zivilgesellschaftlicher Ressourcen im konkreten Fall resultiert. Das Verständnis, „Dienstleister“ zu sein und nicht (mehr) nur eine rechtanwendende Behörde, ist der Bundesagentur für Arbeit (BA) selbst noch nicht allzu lange eigen. Prominent wurde dieser Anspruch zum ersten Mal Ende der 90er Jahre mit dem Organisationskonzept „Arbeitsamt 2000“ und dem damit einhergehenden Ansatz des „Neuen Steuerungsmodells“ formuliert. Nach der Übernahme des Reformauftrages im Jahre 2002 hatte die BA trotz anders lautender Empfehlung der Hartz-Kommission dieses frühere Reformkonzept gestoppt und stattdessen auf einen strategisch herbeigeführten Kontinuitätenbruch gesetzt. Drei Reformfelder standen seitdem im Zentrum der Veränderungen: Die Umorganisation des zentralen Führungs- und Steuerungsapparates, die Einführung eines alle Ebenen durchdringenden Steuerungssystems sowie die Umgestaltung der örtlichen Arbeitsämter in Arbeitsagenturen auf der Grundlage des „Geschäftssystems Kundenzentrum“ (iso/Ochs 2006; Ochs/Schütz 2005). Die operativen Leistungsprozesse der Arbeitsvermittlung werden seitdem über so genannte Handlungsprogramme und die Fachsoftware VerBIS detailliert gesteuert. Als Leitmotto der neuen Arbeitsvermittlung gilt: „Vermittler vermitteln“. Der damit angesprochene Sachverhalt gilt als so klar und eindeutig, dass er im Reformkontext der öffentlichen Arbeitsverwaltung in keiner Weise in Frage gestellt wird: Es geht hierbei explizit um die Verhinderung bzw. Beendigung der Arbeitslosigkeit oder genauer: um die Verkürzung der Dauer der Arbeitslosigkeit. Die gegenwärtige Fokussierung auf die Matchingfunktion der Vermittlung mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Sie geht kongruent zum grundsätzlichen Wirkungsauftrag der (politischen) Institution „öffentliche Arbeitsverwaltung“, welcher darin besteht, über beschleunigte Integrationen einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Sie geht darüber hinaus kongruent mit einem betriebswirtschaftlichen Verständnis der Unternehmung Arbeitslosenversicherung: Es gilt, die Dauer des „Schadenfalles“ Arbeitslosigkeit möglichst zu minimieren. Kurzum, die BA definiert sich als „moderner Dienstleister“ neben den eingeführten Servicestandards wesentlich über messbare Wirkungen am Arbeitsmarkt, und sie wird von Politik und Öffentlichkeit auch an diesen Wirkungen gemessen.
Konzeptionelle Grundüberlegungen zur Qualität von personalen Dienstleistungen Rekurriert man dagegen auf die Qualität sozialstaatlicher Leistungserbringung, dann bestimmt sich der konkrete Inhalt der Dienstleistung danach, was letztlich der Adressat der Leistung braucht. Damit öffnet sich ein breites Spektrum von individuellen Bedarfslagen vor dem Hintergrund jeweiliger persönlicher Merkmale, sozialer Lage, subjektiver Interessen und aktueller Befindlichkeit. Es kommt also für eine adressatenorientierte Dienstleistung entscheidend darauf an, wie das Generelle - sozialgesetzliche Vorgaben und die allgemeine Wirkungsperspektive - mit dem Individuellen und vice versa vermittelt werden.
182
Volker Hielscher/Peter Ochs
Hier liegt ein Ansatzpunkt für eine Dienstleistungsstrategie der öffentlichen Arbeitsverwaltung, welcher im Folgenden noch untermauert werden kann, wenn weitere Argumente der sozialwissenschaftlichen Dienstleistungstheorie herangezogen werden. In der theoretischen Diskussion um den Begriff der Dienstleistung in der sozialen Arbeit wird Dienstleistung als „Vermittlungsarbeit“ definiert, die die Spezifika des jeweiligen Falles mit der jeweiligen sozialen Bezugsnorm vermittelt. Dienstleistung trägt somit dazu bei, gesellschaftliche „Normalzustände“ zu gewährleisten (Offe 1987; Schaarschuch 1996). In kapitalistischen Marktgesellschaften mit Lohnarbeit als dominierender, gesellschaftlich „normaler“ Subsistenzform können viele der Aktivitäten in den Institutionen des Arbeitsmarktes als Dienstleistung in ebendiesem Sinne gefasst werden. Als wesentliche Charakteristika personaler Dienstleistungen gelten das uno-actuPrinzip und die koproduktive Erbringung der Dienstleistung. Uno-actu meint das Zusammenfallen von Produktion und Konsumtion der Leistung. Die Dienstleistung ist nicht speicherbar, sie kann nicht auf Vorrat gehalten werden, vielmehr müssen Angebotsstrukturen vorgehalten werden, in denen bei Bedarf die Dienstleistung erbracht werden kann. Des Weiteren ist die direkte Interaktion zwischen Erbringer und Empfänger der Leistung notwendig. Eine Kompensation durch Medien wie Telefon oder Internet ist nur in engen Grenzen möglich (Bäcker et al. 2008: 509 ff.). Der Aspekt der Koproduktion bezieht sich darauf, dass für das erfolgreiche Zustandekommen der Dienstleistung die aktive Mitwirkung des Adressaten notwendig ist. Personale Dienstleistung als einseitige Problemlösung der Organisation läuft Gefahr, eine Leistung zu produzieren, die am Adressaten vorbeigeht und Resultate ohne nachhaltige Wirkung zur Folge hat. Sie ist als Ergebnis einer Ko-Produktion von Dienstleistungserbringer und Dienstleistungs„nehmer“ zu betrachten, indem sich beide Seiten in ihren Erwartungen und Aktivitäten aufeinander beziehen, wobei neben den Leistungsbeiträgen der Organisation auch solche des Adressaten eingebracht werden (ebenda; Grün/Brunner 2002; Dunkel/Rieder 2006). Das Bild der Ko-Produktion von Dienstleistung setzt somit Kooperationsfähigkeit und Kooperationswillen beider Seiten voraus. Der Dienstleistungsrhetorik wohnt überdies ein spezifischer „Appeal“ inne (Schaarschuch 1996): Sie räumt der Nachfrageseite einen klaren Primat ein. Das Versprechen des Dienstleistungsbegriffes schafft einen semantischen Platz für die Vielfalt der Fragen, Anliegen und Unterstützungsbedarfe, mit denen die Adressaten, also in unserem Fall die Arbeitslosen und Arbeitsuchenden, die Dienstleistungsorganisationen konfrontieren. Dieses Versprechen gilt es in seiner ganzen Tragweite ernst zu nehmen und mit Nachdruck zu reklamieren bzw. zum Prüfstand für die Qualität von (Arbeitsmarkt-) Dienstleistungen zu machen: nämlich an der Frage, inwieweit es den Organisationen (der öffentlichen Arbeitsverwaltung) gelingt, Dienstleistung als einen von den nachfragenden Subjekten als KoProduzenten ausgehenden und mitgesteuerten professionellen Handlungsmodus zu organisieren (ebenda).
Warum der „Kunde“ kein Kunde ist Zur Dienstleistungsrhetorik gesellt sich die rhetorische Verwandlung der Arbeitslosen in „Kunden“. Die breite Durchsetzung des Kundenbegriffs im alltäglichen Sprachgebrauch von Arbeitsagenturen und Job-Centern ist auf den ersten Blick eines der wesentlichen äußerlichen Merkmale der modernisierten Arbeitsverwaltung. Die Einführung des „Kunden“
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
183
als Begriff für die Adressaten von Arbeitsverwaltung und Arbeitsförderung geht in die 1990er Jahre zurück. Zuvor war er in Anlehnung an „Customer-Care“-Strategien privater Unternehmen bereits in Reformprozessen kommunaler Verwaltungen eingeführt worden. Er hatte Einzug in die Terminologie der damaligen Bundesanstalt für Arbeit gehalten, ursprünglich mit der Intention, die stärkere Orientierung der Arbeitsämter auf Bürgernähe im Konzept „Arbeitsamt 2000“ zum Ausdruck zu bringen. Diese Bemühungen korrespondierten mit Versuchen, den Begriff der Kundenorientierung auf eine Stärkung der Responsivität von Verwaltungsorganisationen anzuwenden und diesen somit als Demokratiechance zu begreifen (vgl. Bogumil/Kißler 1995). Trotz dieser guten Absichten ist der Versuch, die Adressaten sozialer Dienstleistungen mit der Kundensemantik zu belegen, zu hinterfragen. Der Kundenbegriff verschleiert die Tatsache, dass sich die Adressaten der Bundesagentur für Arbeit nicht an einem Markt bewegen, an dem sie über „exit“-Optionen (Hirschman 1970) verfügen, also bei einer Unzufriedenheit mit der Dienstleistung zwischen Anbieteralternativen wechseln können. Er verschleiert überdies den grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Tatsache, dass ein Kunde für den Konsum von Dienstleistungen einen marktfähigen Preis zu zahlen hat, wogegen öffentliches Handeln den Prämissen von Sozialstaatlichkeit, Rechtstaatlichkeit und Wahrung des Allgemeinwohls unterliegt. Mit Blick auf die grundlegenden Differenzen zwischen marktförmig erbrachten personalen Dienstleistungen und solchen, die sozialstaatlich organisiert werden, wurde bereits vor einiger Zeit vorgeschlagen, begrifflich präzise zwischen dem "Kunden" im Erbringungskontext des Marktes, und dem "Nutzer" im sozialstaatlichen Erbringungskontext zu differenzieren (Schaarschuch 1996). Zum anderen ist die Provenienz des Kundenbegriffs bestimmt durch die Tatsache, dass das Maß der dem Kunden zukommenden Zuwendung und Bedarfsorientierung in der Regel nur soweit gehen wird, wie es den (wirtschaftlichen) Zielen zuträglich ist. Im äußersten Falle entzieht der Dienstleister seine Leistungen gegenüber Kunden, soweit die erwartbare oder realisierte Rendite nicht den Geschäftszielen entspricht. Darüber hinaus muss der Kunde sich in das Konzept des Dienstleistungsanbieters einfügen (vgl. Voßwinkel 2005): Die Organisation reagiert nicht einfach auf jedweden Wunsch des Kunden, sondern entwirft ein Bild des „funktionalen Kunden“ und seiner Bedarfe, um danach die Dienstleistungsprozesse zu strukturieren. Wenn der Kunde als Person nicht entsprechend funktioniert, kommt die Dienstleistung nicht zustande: Ein Restaurantgast z.B. würde in einem Schnellimbiss vergeblich auf eine Bedienung warten. So hat „Kundenorientierung“ im Unternehmenskontext stets eine instrumentelle Funktion. Die Kundenwert-Konzepte des strategischen Marketings zeigen, dass der Kunde letztlich nur dann und insoweit „König“ ist, wie er dem Unternehmen grosso modo nutzt (vgl. Günter/Helm 2006). In besonderer Weise wird das Kundenkonzept für die öffentliche Arbeitsverwaltung brüchig, wenn man auf das Zwangsverhältnis rekurriert, das durch die rechtlichen Grundlagen zwischen Arbeitslosen und Arbeitsverwaltung konstituiert wird. Die Dienstleistungsprozesse am Arbeitsmarkt stehen in einem spezifischen rechtlichen und institutionellen Rahmen: Sie fußen zunächst auf einem juristisch gesetzten Zwangskontext, der durch die im Sozialgesetzbuch definierten rechtsfolgenbewehrten Mitwirkungspflichten der Arbeitsuchenden definiert ist. In diesen Pflichten findet auch der Anspruch seinen Ausdruck, dass soziale Transfers faktisch (das heißt: historisch gewachsen, vgl. Geiger 2004) immer auch an die Einhaltung von Regeln bzw. an (wenn auch teils symbolische) Gegenleistungen der Empfänger gebunden sind. Im Primat des „Forderns“ der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik
184
Volker Hielscher/Peter Ochs
wird diese Rückbindung von sozialen Leistungen an entsprechende individuelle Verhaltens- und Leistungsanforderungen nur noch besonders zugespitzt. Eine Asymmetrie zwischen dem Rat- und Arbeitsuchenden und der öffentlichen Arbeitsverwaltung ist also nicht allein deshalb gegeben, weil der Arbeitslose angesichts der entfallenden Entgeltzahlungen der Fähigkeit zur Reproduktion beraubt und deshalb in einer strukturell schwachen Position ist, sondern weil die Asymmetrie ebenso in juristischer Hinsicht wie auch durch die institutionelle Verfasstheit der Arbeitsmarktorganisationen (Monopolstellung, keine alternativen Anbieter von Arbeitsmarktdienstleistungen) gesetzt ist. Vermittlungsberatung in ihrer gegenwärtigen Form kann daher als personale Dienstleistung in verrechtlichtem Rahmen mit Zwangscharakter (kurz: Beratung unter Zwang) bestimmt werden. Dieser Zwangskontext fließt latent oder manifest in die Dienstleistungsinteraktion ein und prägt die Beratungskonzepte und die Interaktionslogiken zwischen den Vermittlungsfachkräften und den Arbeitslosen. Im Lichte dieser Überlegungen kann kaum davon die Rede sein, dass substanzielle Charakteristika des im Markt-Kontext gebundenen Kunden-Begriffes auf Arbeits- und Ratsuchende in der Arbeitsverwaltung übertragen werden können. Im Gegenteil, die hier angeführten Gründe signalisieren mit einer gewissen Evidenz eine konstitutive Unmöglichkeit des Kundenverhältnisses zwischen der öffentlichen Arbeitsverwaltung und ihren Adressaten. Stattdessen muss der prominente Stellenwert des Kundenbegriffs in der neuen Organisationsrealität der BA als Ausdruck der von Beraterseite forcierten Vermarktlichung und Verbetriebswirtschaftlichung der BA gedeutet werden. Dabei steht nicht so sehr das nach außen gerichtete, dem Kundenbegriff annotierte Dienstleistungsversprechen im Vordergrund (soweit es die Seite der Arbeitnehmer-„Kunden“ betrifft), sondern die nach innen gerichtete Steuerungs- und Normalisierungsfunktion von Kundenmanagement-Strategien.
Zwischen komplexen Bedarfen und standardisierter Bearbeitung – Was bleibt vom Dienstleistungsversprechen in der Praxis? Wie können nun innerhalb der konstitutiven Rahmenbedingungen und der strukturellen Asymmetrien zwischen Arbeitsverwaltung und ihren Adressaten substanzielle personale Dienstleistungen in der Praxis erbracht werden? Auch wenn der Zwangskontext, in dem die Arbeitslosen stehen, nicht ohne weiteres aufgelöst werden kann, wäre es denkbar, dass Vermittlerinnen und Vermittler nicht nur als Arbeitsmarktexperten fungieren, sondern vor allem als Berater, die in der Lage sind, den „Kunden“ als Ko-Produzenten ins Spiel zu bringen, um überhaupt erst eine Kooperation zu ermöglichen. Sie müssen sich daher in der Dienstleistungsinteraktion auf die personale Seite der Arbeitskraft, ihre aktuelle Situation, ihre Erwartungen, ihren Orientierungsbedarf, ihre Informationsbedürfnisse, ihre offen und verdeckt thematisierten Anliegen beziehen, um von dort ausgehend realitätshaltige Zielvorstellungen zu erarbeiten, Handlungspläne gemeinsam festzulegen und Vereinbarungen über eigene und gemeinsame Schritte zu treffen – so die Anforderung, die zum Teil auch zur Grundlage der Beratung in Fallmanagementkonzepten im SGB II gemacht worden ist (vgl. Göckler 2005). Wie sieht nun unter dieser Perspektive die Praxis der Arbeitsvermittlung aus? Wie gehen Vermittlerinnen und Vermittler mit dem Spannungsverhältnis zwischen den komplexen Bedarfen und den konkreten Rahmenbedingungen ihrer Arbeit um? Inwieweit gelingt es,
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
185
die oben genannten Anforderungen an eine Dienstleistungsstrategie im alltäglichen Arbeitshandeln aufzunehmen? Dies waren Leitfragen einer Studie2, deren Ergebnisse in die folgende Argumentation einfließen.
Bedarfsvarianz versus Standardroutinen in der Vermittlung Die Befunde zeigen unter anderem, dass sich in den Erstkontakten, die Arbeitslose mit ihren Vermittlerinnen und Vermittlern haben, nicht nur eine breite Auffächerung von persönlichen Problemlagen, Informationsbedürfnissen und Entwicklungsperspektiven findet. Die „Kunden“ begegnen in dieser Situation dem Vertreter der Arbeitsverwaltung auch in sehr unterschiedlicher Weise, sowohl was ihre Gesprächskompetenz als auch den Grad ihrer aktiven Beteiligung anbelangt. Dabei spielen nicht alleine Milieubindungen, Sprachkompetenz und Institutionenkenntnis eine Rolle, sondern ebenso auch strategische Zurückhaltung, Vorsicht oder Eingeschüchtertheit. Nicht jeder, der der gesetzlichen Aufforderung nachkommt, sich bei bevorstehender Arbeitslosigkeit arbeitsuchend zu melden, zielt in der Vermittlungsberatung sofort auf „die neue Stelle“. Und selbst wenn Arbeitsuchende dies tun, so wird deutlich, dass sie in dieser existenziellen Situation von einer Vielzahl von Besorgnissen und Problemen erfüllt sind oder zumindest erwarten, dass ihr Informationsbedürfnis hinreichend bedient wird. Für eine nicht geringe Zahl steht die Vermittlung in eine neue Stelle zunächst nicht erst im Vordergrund, weil die Arbeitslosen mit zum Teil multiplen persönlichen Problemen konfrontiert sind. Dieser Aspekt spielt im Fallmanagement der Träger der Grundsicherung (SGB II), welche die deutliche Mehrzahl an (Langzeit-)Arbeitslosen betreuen, eine große Rolle (vgl. Baethge-Kinsky u.a. 2006), kam aber auch in den hier untersuchten Agenturen der Arbeitslosenversicherung (SGB III) deutlich zum Tragen. In der Praxis standen vor allem gesundheitliche Probleme (in jedem vierten Fall), Fragen zu beruflichen Perspektiven oder Wechselorientierung und Weiterqualifizierung (in jedem dritten Fall) und schließlich Probleme, die aus der persönlichen oder familiären Situation erwachsen (in vier von 10 Fällen) im Vordergrund. Manche „Kunden“ haben diese Themen aktiv angesprochen, andere wieder nur verhalten erkennen lassen, dass sie an dieser Stelle Hilfe und Unterstützung erwarten es wurde deutlich, dass von ihrer Bedarfslage her diese Menschen das bloße Matching ihres Arbeitskraftprofils mit einem Stellenangebot oftmals nicht als das zentrale Element der Vermittlungsberatung betrachten. Nicht selten standen dabei für die „Kunden“ gleich mehrere Themen und Anliegen zur Diskussion, z.B. die weiteren beruflichen Perspektiven in Zusammenhang mit ihrer gesundheitlichen Situation; vielfach waren auch Fragen zur beruflichen Situation mit Leistungsfragen verknüpft. Die Vielfalt der Berufs- und Lebenssituationen, der Anliegen, Unterstützungs- und Beratungsbedarfe zeigt, dass es einen normierbaren Fall des „Normalarbeitslosen“ nicht gibt. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass für die Vermittlungsfachkräfte die Thematisierungen seitens der „Kunden“ angesichts der vorgeschriebenen Standardroutinen mit ihren Formalanforderungen und Vereindeutigungsnotwendigkeiten oft Umwege darstellen, was 2 Das Forschungsprojekt „Von der Sozialbehörde zur Matchingmaschine?“ wurde von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert und von den beiden Autoren in den Jahren 2007 und 2008 durchgeführt. Die empirische Basis bildeten Expertengespräche mit Führungs- und Vermittlungsfachkräften in Arbeitsagenturen (SGB III) sowie begleitende Interaktionsbeobachtungen von Erstgesprächen in der Arbeitsvermittlung (vgl. Hielscher/Ochs 2009).
186
Volker Hielscher/Peter Ochs
die Gesprächsführung betrifft, oder „Hemmnisse“, was den schnellen Integrationserfolg betrifft. Im Sinne einer erfolgsorientierten Gesprächsführung soll in der Regel ein Gesprächsabschluss in der Erstberatung nach präziser Erfassung des Bewerberprofils mit der schriftlichen Ziel-Eingliederungsvereinbarung erfolgen. Daraus resultiert ein zeitlicher Druck, der es Vermittlungsfachkräften erschwert, die Umwege mitzugehen, die sich aus der Bedarfsartikulation der Arbeitsuchenden ergeben.
Schlüsselrolle der Vermittler Die organisationale Realität mit ihrer dominanten Ausrichtung auf Wirkungen, mit standardisierenden Vorgaben, formaler Prozessführung und Entscheidungsregeln wird nun in der lebendigen Beratungsinteraktion allerdings gebrochen durch die Subjektivität von Vermittlerinnen und Vermittlern und durch die der Arbeitslosen. Es konnte demzufolge eine hohe Varianz der Interaktionsgestaltung festgestellt werden. Eine typologische Verdichtung von Interaktionsmustern bezieht sich auf zwei Achsen: Zum einen versucht sie abzubilden, inwieweit die adressatenseitigen Bedarfe Gegenstand einer Thematisierung und Ausgangspunkt für Beratungs- und Förderaktivitäten werden. Hier folgen die (sechs) Typen der Logik einer abnehmenden Optionalität für die Arbeitsuchenden, ihre Anliegen im Rahmen der Dienstleistungsinteraktion zu formulieren. Zum anderen jedoch sollen mit Hilfe der Interaktionstypen auch die unterschiedlichen Modi herausgearbeitet werden, in denen die KoProduktion der Dienstleistung zwischen beiden Akteuren stattfindet. Damit wird der Aspekt erfasst, wie die Rat- und Arbeitsuchenden ihrerseits durch Kommunikationsstil, Aktivitätsniveau, kurzum: einer offensiven, defensiven oder einer gar nicht stattfindenden Artikulation ihrer Bedarfe und Interessen die Dienstleistungsinteraktion und das Ergebnis der Dienstleistung mitdefinieren. Neben der Varianz der von den Arbeitslosen thematisierten Bedarfe konnte im Rahmen der Typologie eine erhebliche Spannbreite zwischen einer unterstützenden, den „Kunden“ zugewandten Interaktionsgestaltung und einer bürokratisch-formalistischen oder gar die Kundenanliegen abwehrenden Auslegung der Dienstleistungsinteraktion herausgearbeitet werden. Dies betrifft auch den Grad der Explorierung, Bearbeitung oder Neutralisierung individueller Bedarfe, Anliegen und Berufs(wechsel)wünsche; die Intensität, wie Aktivierungsdruck aufgebaut oder den Arbeitsuchenden eine Phase eigenständigen Orientierens und Suchens zugestanden wird. Die Varianzen der Dienstleistungsinteraktionen lassen sich in zwei Richtungen hin interpretieren: Zum einen haben die jeweiligen Mikropolitiken der Organisationseinheiten (Regionaldirektionen, Arbeitsagenturen) und damit auch regionale Einflüsse einen spürbaren Einfluss auf einzelne Aspekte des Dienstleistungsgeschehens. Zum anderen sind das professionelle Selbstverständnis, die Rollengestaltung und damit verbunden der Kommunikationsstil der Vermittlerinnen und Vermittler letztlich ausschlaggebend für die konkrete Ausgestaltung der Dienstleistungsinteraktion. Trotz der weitgehenden Standardisierung und der durch Programmsteuerung, Controlling und Führungspraxis nachdrücklich präsenten Organisationsrealität war in einer nicht geringen Fallzahl eine Individualbedarfsorientierung des Beratungsgesprächs stark ausgeprägt. Anhand der Typologie lässt sich zeigen, dass in rund zwei Fünfteln der beobachteten Gespräche die Vermittlerinnen und Vermittler eine unterstützende Dienstleistungsinterakti-
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
187
on zum jeweiligen Rat- und Hilfesuchenden aufzubauen versuchten. Insofern kann nicht davon die Rede sein, dass durch den Standardisierungsdruck eine dem Einzelfall zugewandte Auslegung des Gesprächs von vornherein verunmöglicht wird. Allerdings muss eine solche Gesprächsführung eher „gegen“ Prozessstandards realisiert werden, als dass sie von diesen unterstützt wird. Die empirischen Ergebnisse dieser Studie machen dreierlei deutlich: Einerseits den hohen Beratungsbedarf von Menschen in oftmals existenziell schwieriger Situation bei zugleich unterschiedlich ausgeprägter Fähigkeit, sich mit den daraus ergebenden Anliegen und Fragestellungen in aktiver Weise in das Beratungsgespräch einzubringen. Andererseits eine Organisation, die mit der Vorgabe von Standardprozeduren die Möglichkeiten der adäquaten individuellen Bearbeitung dieses Beratungsbedarfs einschränkt. Und schließlich bleibt noch ein Drittes, durchaus Bemerkenswertes: Die subjektive Rollengestaltung des Vermittlers und der Vermittlerin, die in dieser Zwischenzone zwischen Binnenwelt und Außenwelt durchaus eine Öffnung und Zuwendung zur individuellen Bedarfslage von „Kunden“ zustande bringen – in einer nicht geringen Zahl von Fällen.
Fazit: Vermittlerinnen und Vermittler als Dienstleister der Arbeitsverwaltung Die allgemeine Einsicht, dass es „den“ Arbeitslosen nicht gibt, schließt nicht aus, dass die Organisation, deren Aufgabe in der Befassung mit Arbeitslosen liegt, genau dies tut: Sie konstruiert „den“ Arbeitslosen: als Leistungsempfänger oder Nicht-Leistungsempfänger, Job-to-Job-Kunden, Marktkunden, Förderkunden, Aktivierungskunden, Betreuungskunden, Reha-Fall, U25 und Ü25, Wiedereinsteller, Langzeitarbeitslosen etc. Hinter diesen Klassifikationen stehen verschiedenartige Problemdeutungen, Leistungsversprechen, Ressourceneinsätze und Verfahrenswege. Durch diese Strukturgebung, Normalisierung genannt, ist es der Organisation möglich, die Vielzahl und Komplexität individueller Bedarfslagen in eine beherrschbare Bandbreite von Fallgestaltungen zu transformieren. In diesem Zusammenhang haben die neuen, IT-gestützten Steuerungs- und Controllingsysteme der ehedem schon überwunden geglaubten Konditionalsteuerung zu unerwarteter Blüte verholfen. Das Ideal scheint dabei der process flow zu sein, der die normalisierten Entscheidungsfälle und –wege systemgestützt „vordenkt“ und als Handlungsanweisung an die Fachkräfte zurückgibt (vgl. auch Schütz 2008). Ist damit die Individual- und Bedarfsorientierung in der Arbeitsverwaltung obsolet geworden? Verunmöglicht die aus Organisationssicht notwendige Reduzierung der Kundenkomplexität personale Dienstleistungen, die am Individualbedarf in all seiner idiosynkratischen Erscheinung ansetzen? Ist, um auf die Leitfrage dieses Beitrags zurückzukommen, die öffentliche Arbeitsverwaltung unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen überhaupt zu einer im oben entwickelten Sinne substanziellen Dienstleistung für die Arbeitund Ratsuchenden fähig? Die Überlegungen zu dieser Fragen folgen der Annahme, dass trotz aller Bemühungen der Steuerungs- und Controllingexperten und IT-Berater kein noch so raffinierter Algorithmus, kein noch so stringentes Entscheidungsschema, kein noch so feinverästeltes Itemsystem des Profilings den Handlungsmodus ersetzen kann, durch den erst die Individualität des Bedarfsfalles zur Artikulation gebracht und für die weitere ko-produktive Bearbeitung erschlossen wird: Beratung als nicht-direktives Gesprächssetting zweier Personen, in der
188
Volker Hielscher/Peter Ochs
beide als Experte besonderer Art eintreten: Hier der oder die Arbeitslose bzw. Arbeitsuchende, in eigener Sache, dort die Fachkraft, die für die Regeln und Normen der Institution steht und deren Handlungsressourcen einbringt. Diese Form einer Gesprächssituation „auf Augenhöhe“ war empirisch nur in wenigen Fällen zu finden. Der aushandelnde Interaktionstypus war vor allem dadurch geprägt, dass die Sanktionspotenziale und die formale Prozessführung im Gespräch zurückgetreten sind und beide Seiten sich auf ein aushandelndes Procedere für das Integrationsziel und für beiderseitige Beiträge zu diesem Ziel eingelassen haben. In diesem Sinne müsste eine Dienstleistungsstrategie „mittlerer Reichweite“ in der öffentlichen Arbeitsverwaltung neben den organisationsspezifischen Unterstützungsleistungen (Stellensuche, Förderangebote etc.) erweitert werden. Sie muss darauf rekurrieren, die Arbeitskraft nicht allein als ökonomischen Faktor zu betrachten, sondern in ihrer Bindung an die Person; die individuellen Bedarfe und den individuellen Nutzen in den Mittelpunkt stellen und in Anknüpfung an das Subsidiaritätsprinzip die „Selbstbefähigung“ als Prämisse für den Dienstleistungsprozess setzen. Eine Beratungssituation, die auf Selbstbefähigung setzt, fokussiert darauf, die „Kunden“ zur kompetenten und selbstbewussten Mitwirkung im Prozess der Ko-Produktion zu verhelfen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wie der in der Regel situationsmächtigere Partner in der Beratung, die Vermittlerin oder der Vermittler, mit den Machtressourcen umgeht, die ihm die Organisation zu Verfügung stellt. Die Bedarfs- und Chancenabklärung eines Neu-Arbeitslosen gilt bereits heute als originäre Aufgabe der Vermittlungsberatung in den Agenturen für Arbeit. Die Vermittlerin und der Vermittler stehen dabei mit ihren individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen sowie ihrer professionellen Qualifizierung auf der Schnittstelle zwischen Organisation und „Kunde“. Sie sind die Dienstleister im eigentlichen Sinne. Die öffentliche Arbeitsverwaltung kann den Begriff einer „modernen Dienstleistungsorganisation“ für sich in Anspruch nehmen, wenn sie in der Lage ist, die Dienstleistungsarbeit ihrer Fachkräfte erfolgreich – im Sinne einer gelingenden Ko-Produktion – zu unterstützen. Dies schließt die Standards der heutigen Organisationswelt wie Strategiefähigkeit, Steuerungsrationalität, Wirkungsorientierung und Effizienz keineswegs prinzipiell aus, allerdings dementiert ein solches Verständnis eines modernen Dienstleisters die Eigenrationalität des Steuerungssystems und fokussiert auf die Vermittlerin und den Vermittler als eigentlichen Dienstleister. Die empirischen Erfahrungen ermutigen dazu nach Wegen zu suchen, wie durch eine „Inszenierung von Augenhöhe“ eine Ko-Produktion von Dienstleistung an der Schnittstelle Vermittler-„Kunde“ ermöglicht werden kann. Diese Inszenierungsleistung wird zur Zeit weder durch die Steuerung der Dienstleistungsprozesse noch durch qualifikatorische Maßnahmen oder ein entsprechendes Beratungskonzept unterstützt. Sie wird durch einen Teil der Vermittlungsfachkräfte eher kontrafaktisch gegen die Organisationsmacht durchgehalten. Sie ist prekär, im Kontext der Handlungsprogramme wenig controllingresistent und es mangelt ihr an einer grundständigen Qualifizierung wie auch an flankierenden Anreizen. Dennoch zeigen die Leistungen der Vermittlerinnen und Vermittler die Potenzialität eines auf ko-produktive Interaktionsgestaltung hin angelegten Dienstleistungsansatzes.
Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung
189
Literatur Bäcker; G./Naegele, G./Bispinck, R./Hofemann, K./Neubauer, J. (2008): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 2: Gesundheit, Familie, Alter und Soziale Dienste. Wiesbaden: VSVerlag. Baethge-Kinsky, V./Bartelheimer, P./Henke, J./Land, R./Willisch, A./Wolf, A. (2006): Neue soziale Dienstleistungen nach SGB II (Konzeptstudie). Forschungsbericht. Göttingen: Selbstverlag. Bogumil, J./Kißler, L. (1995): Vom Untertan zum Kunden? Möglichkeiten und Grenzen von Kundenorientierung in der Kommunalverwaltung. Berlin: Edition Sigma. Butterwegge, C./Kutscha, M./Berghahn, S. (Hrsg.) (1999): Herrschaft des Marktes – Abschied vom Staat? Folgen neo-liberaler Modernisierung für Gesellschaft, Recht und Politik. Baden-Baden: Nomos. Dunkel, W./Rieder, K. (2006): Interaktionsarbeit und Koproduktion als Ressourcen für Innovationen. In: Streich, D./Wahl, D. (Hrsg.): Moderne Dienstleistungen - Impulse für Innovation, Wachstum und Beschäftigung. Beiträge der 6. Dienstleistungstagung des BMBF. Frankfurt a.M./New York: Campus. 279-285. Egle, F. (2008): Arbeitsmarkt und Beschäftigung. In: Egle, F./Nagy, M. (Hrsg.) (2008): Arbeitsmarktintegration. Grundsicherung, Fallmanagement, Zeitarbeit, Arbeitsvermittlung. Wiesbaden: Gabler. 1–92. Geiger, M. (2004): Die Verlorenen der Arbeitsgesellschaft und das Projekt der Integration. Beispiel „Wohnungslose im Straßenmilieu". Münster u.a.: Lit-Verlag. Göckler, R. (Hrsg.) (2005): Fachkonzept “Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement im SGB II“. Abschlussfassung des Arbeitskreises. Nürnberg. Grün, O./Brunner, J.-C. (2002): Der Kunde als Dienstleister. Von der Selbstbedienung zur CoProduktion. Wien: Gabler. Günter, B./Helm, S. (2006): Kundenwert: Grundlagen - innovative Konzepte – praktische Umsetzungen. Wiesbaden: Gabler. Hielscher, V. (2006): Reorganisation der Bundesagentur für Arbeit - "Moderner Dienstleister" für wen? In: WSI-Mitteilungen, 59. 3.. 119 - 124. Hielscher, V. (2007): Die Arbeitsverwaltung als Versicherungskonzern? Zum betriebswirtschaftlichen Umbau einer Sozialbehörde. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 148. 3. 351368. Hielscher, V./Ochs, P. (2009): Arbeitslose als Kunden? Beratungsgespräche in der Arbeitsvermittlung zwischen Druck und Dialog. Berlin: Edition Sigma. Hirschmann, A. O. (1970): Exit, voice and loyality. Responses to decline in firms, organizations and states. Cambridge: Harvard University Press. iso/Ochs, P. (2005): Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der HartzKommission. Arbeitspaket 2: Organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit. Saarbrücken. iso/Ochs, P. (2006): Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der HartzKommission. Arbeitspaket 2: Organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit. Saarbrücken. Jann, W. (2002): Thesenpapier zur Umwandlung der Bundesanstalt für Arbeit in eine "Bundesagentur". In: CD-ROM Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Knuth, M. (2005): Reflexionen zum deutschen Reformpfad vor dem Hintergrund der Erfahrungen westdeutscher Nachbarn. In: Burghardt, H./Enggruber, R. (Hrsg.) (2005): Soziale Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Weinheim: Juventa. 175–192. König, K./Füchtner N. (2000): „Schlanker Staat“ – eine Agenda der Verwaltungsmodernisierung im Bund. Baden-Baden: Nomos.
190
Volker Hielscher/Peter Ochs
Kropp, S. (2004): Modernisierung des Staates in Deutschland: Konturen einer endlosen Debatte. In: Politische Vierteljahresschrift 45. 3. 416-439. Löffler, E. (2001): Governance – die neue Generation von Staats- und Verwaltungsmodernisierung. In: Verwaltung und Management 7. 4. 212-215. Marx, Karl (1962): Das Kapital. Band 1. Marx-Engels-Werke Bd. 23. Berlin: Dietz-Verlag. Mezger, E./West, K. (2001): Aktivierender Sozialstaat und politisches Handeln. Marburg: SchürenVerlag. Naschold, F./Bogumil, J. (Hrsg.) (2000): Modernisierung des Staates. New Public Management in deutscher und internationaler Perspektive. 2. erw. Auflage. Opladen: Leske+Budrich. Ochs, P./Schütz, H. (2005): Das BA-Kundenzentrum der Zukunft. In: Schütz, H./Mosley, H. (Hrsg.): Arbeitsagenturen auf dem Prüfstand. Leistungsvergleich und reformpraxis der Arbeitsvermittlung. Berlin: Edition Sigma, S. 221-240. Offe, C. (1987): Das Wachstum der Dienstleistungsarbeit: Vier soziologische Erklärungsansätze. In: Olk, T/Otto, H.-U. (Hrsg.) (1987): Soziale Dienste im Wandel 1. Helfen im Sozialstaat. Neuwied/Frankfurt: Luchterhand. 171-198. Schaarschuch, A. (1996): Dienst-Leistung und Soziale Arbeit. Theoretische Überlegungen zur Rekonstruktion Sozialer Arbeit als Dienstleistung. In: Widersprüche 59. 87 - 97 Schlösser, H.-J./Mehret, St. (1999): Didaktik der Arbeitsmarktökonomik. Grundsachverhalte der Arbeitsmarkttheorie. Basisartikel Arbeitsmarktpolitik 4/1999. Schmid, G. (2002): Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Positionspapier zur HartzKommission. 18.3.2002. Berlin. Schütz, H. (2008): Reform der Arbeitsvermittlung. Uniformisierungsdruck in der Bundesagentur für Arbeit. Opladen und Farmington Hills: Budrich Uni-Press. Voßwinkel, St. (2005): Der funktionale und der personale Kunde. In: Jakobsen, H./Voßwinkel, S. (Hrsg.): Der Kunde in der Dienstleistungsbeziehung., Wiesbaden: VS-Verlag. 81 – 100.
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
191
Petra Kaps
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
1
Einleitung
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik lagen und liegen in der Verantwortung der Bundesebene. Den Kommunen standen und stehen dennoch verschiedene Aktivitäten in diesem Politikfeld zur eigenen Gestaltung offen: a.
b.
c.
d.
e. f. g.
Sie konnten bis zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) aktive Beschäftigungspolitik für SozialhilfeempfängerInnen gestalten. Die Kommunen sind an der lokalen Selbstverwaltung der Arbeitsagenturen beteiligt und können auf diesem Wege die lokale arbeitsmarktpolitische Programmatik mitgestalten. Sie können sich als Träger von Maßnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt nach dem SGB III an der Umsetzung dieser Programmatik beteiligen. So können sie die eigene Personalpolitik durch temporäre Beschäftigung von geförderten Arbeitnehmer/innen flexibilisieren oder in kommunalen Beschäftigungsgesellschaften und Jugendwerkstätten Beschäftigungsprojekte umsetzen.1 Die Kommunen sind nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) für die Jugendsozialarbeit (§ 13) sowie für Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Jugendliche (§ 35 a) und Hilfen für junge Volljährige (§ 41) zuständig. Alle drei Felder enthalten arbeitsweltbezogene Elemente (Braun et al. 2001; Weber 2001). Kommunen sind im Rahmen der kommunalen Wirtschaftsförderung struktur- und beschäftigungspolitische Akteure (Grabow/Henckel 1998; Haug 2004). Kommunen können beschäftigungspolitische Projekte freier Träger durch Befürwortung gegenüber Fördermittelgebern und durch zusätzliche Ressourcen fördern. Sie können zivilgesellschaftliche Prozesse im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik moderieren und lokale Netzwerke fördern.2
1 Dabei kamen bisher vor allem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als Regie-ABM (zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten) nach § 260 Abs. 1 und 2 sowie § 261ff. oder als Vergabe-ABM (Arbeiten im gewerblichen Bereich, durchgeführt von Wirtschaftsunternehmen) nach § 260 Abs. 3 und § 262, Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) nach § 272 ff. (zuvor § 249h AFG) und Beschäftigung schaffende Infrastrukturmaßnahmen (BSI) nach § 279a SGB III zum Einsatz (vgl. Heinelt (1989: 305 ff.), Linder (1994) oder Hild (1997)). Die Mitgliedsstädte des Deutschen Städtetages beschäftigten im Jahre 2002 bundesweit neben 133.000 SozialhilfeempfängerInnen in Hilfen zur Arbeit rund 46.800 Personen direkt in ABM (Deutscher Städtetag 2003). Zwischen 2005 und 2008 konnten ABM auch im Rahmen des SGB II durchgeführt werden. Das wichtigste Instrument waren hier aber Arbeitsgelegenheiten (siehe Abschnitt 4.2) 2 Zur europäischen Strategie der lokalen Beschäftigungsbündnisse vgl. Huget (2002), zu lokalen Netzwerken vgl. Bertelsmann Stiftung et al. (2002b).
192
Petra Kaps
Im Folgenden wird für die Zeit bis zum Jahre 2005 unter kommunaler Beschäftigungspolitik im engeren Sinne die Gesamtheit der den Kommunen nach dem BSHG, dem SGB VIII und in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren zur Verfügung stehenden Instrumente zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und zur (Re-)Integration in Erwerbsarbeit verstanden. Im weiteren Sinne sind auch die genannten Möglichkeiten, Beschäftigungsförderung durch Dritte strategisch zu unterstützen, gemeint. Kommunale Beschäftigungspolitik in diesem Sinne zielte bis 2005 neben der Konsolidierung der Sozialhaushalte vor allem auf die Integration von arbeitslosen SozialhilfeempfängerInnen in Erwerbsarbeit, die soziale Integration der Menschen in die lokale Gemeinschaft und die Schaffung von Mehrwert für das kommunale Gemeinwesen (vgl. Trube 1997: 131 ff.; Berlit et al. 1999: 10). Vor allem die Möglichkeiten des BSHG wurden von vielen Kommunen in steigendem Maße genutzt und stehen deshalb im Fokus des ersten Teils dieses Beitrags. Seit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Jahre 2005 hat sich die Rolle der Kommunen in der Beschäftigungspolitik deutlich verändert. Je nach dem, welche institutionelle Lösung vor Ort Anwendung findet, hat sich der kommunale Gestaltungsspielraum entweder auf deutlich mehr Personen und um einige Instrumente erweitert oder wurde durch die Verlagerung der Trägerschaft für die Leistungen der aktiv(ierend)en Arbeitsmarktpolitik an die Bundesagentur für Arbeit (BA) erheblich eingeengt. Diese veränderte Situation steht im Mittelpunkt des zweiten Teils dieses Beitrags.
2
Daten zu Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe
Der Anteil der Arbeitslosen, die länger als zwölf Monate ohne Arbeit waren, stieg seit Ende der 1970er Jahre kontinuierlich an und erreichte 1988 die 30-Prozent-Marke. Nach einem vereinigungsbedingten statistischen Knick in den Folgejahren betrug der Anteil der Langzeitarbeitslosen seit 1994 fast durchgängig deutlich über 30 % und stieg nach 2000 sogar auf mehr als 40 % (siehe Tabelle 4 im Anhang). Der Bund reagierte auf die Mehrbelastungen durch steigende Arbeitslosenzahlen bis 2004 wiederholt mit einer Kürzungen und Begrenzungen der steuerfinanzierten Lohnersatzleistungen des SGB III (vgl. Mohr in diesem Band). Die Belastung der kommunalen Sozialhaushalte stieg in der Folge kontinuierlich, da die Kommunen die sinkenden Einkommen der Langzeitarbeitslosen in wachsendem Maße durch ergänzende Sozialhilfe ausgleichen mussten (siehe Abbildung 1). Im Jahr 1997 war mit 2,89 Mio. HilfeempfängerInnen zunächst der Höhepunkt erreicht. Nach kurzem Absinken der Zahlen waren im Jahr 2004 rund 2,91 Mio. Menschen zur Existenzsicherung auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen.
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
SozialhilfeempfängerInnen (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, HLU, außerhalb von Einrichtungen und Hilfen in besonderen Lebenslagen, HBL) im Jahresdurchschnitt 1969-2004 und Ausgaben der Sozialhilfe 1969-2004
3.000
30.000
2.500
25.000
2.000
20.000
1.500
15.000
1.000
10.000
500
Ausgaben der Sozialhilfe in Tausend Euro
Sozialhilfeempfänger/innen in Tausend
Abbildung 1:
193
5.000
0
0 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 Empfänger/innen Ost
Empfänger/innen West
Empfänger/innen gesamt
HBL brutto
Gesamt brutto
Gesamt netto
HLU brutto
Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2008): Tab. A 5 und Statistisches Bundesamt (2005): Tab. B 4; eigene Zusammenstellung.
Zwar war der Anteil der Menschen, die zumindest teilweise von Sozialhilfe abhingen, in den neuen immer geringer als in den alten Bundesländern. In den neuen Ländern stieg die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen zwischen 1997 und 2002 aber um 30 % an, während sie im Westen um 9 % zurückging. Vor allem die Städte litten unter wachsender Sozialhilfedichte.3 Im Jahre 2004 waren von den rund 1,87 Mio. EmpfängerInnen der sog. laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren rund 930.000 arbeitslos gemeldet, rund ein Drittel von ihnen bezog Sozialhilfe als Ergänzung zu Leistungen nach dem SGB III. Rund 150.000 waren vollzeit- oder teilzeiterwerbstätig, knapp 156.000 befanden sich in Fort- und Ausbildung.4 Die Ausgaben der Sozialhilfe stiegen kontinuierlich. Zwar wurden die kommunalen Sozialhaushalte durch die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 und der Pflegeversicherung 1995 kurzzeitig entlastet. Die steigende Zahl der Sozialhilfeempfänge3 Vgl. Statistisches Bundesamt (2003), S. 4ff. Im Bundesdurchschnitt waren durchschnittlich 3,3 % der Einwohner zumindest teilweise von Sozialhilfe abhängig. In den 76 deutschen Großstädten benötigten 2002 durchschnittlich 5,5 % der Einwohner Leistungen der Sozialhilfe. 4 Vgl. Statistisches Bundesamt (2005): Tab. A 1.6.
194
Petra Kaps
rInnen führte jedoch bald zu wieder wachsenden Sozialausgaben. Im Jahre 2004 wurde mit 26,3 Mrd. Euro der bis dahin höchste Wert (26,7 Mrd. Euro im Jahre 1995) fast wieder erreicht.5 Die finanziellen Probleme der Kommunen durch steigende Sozialausgaben wurden zwischen 2000 und 2004 noch durch sinkende Gewerbesteuereinnahmen im Zuge der Reform der Unternehmenssteuer verstärkt. Im Jahre 2002 betrug das bundesweit saldierte Finanzierungsdefizit der Gemeinden insgesamt mehr als 4,6 Mrd. Euro, im Jahre 2003 rund 8,5 Mrd. Euro und im Jahre 2004 rund 3,8 Mrd. Euro.6 Die Entwicklung der Kreisfinanzen war weniger negativ. Das Finanzierungssaldo lag zwischen 2003 und 2005 jeweils zwischen 1,3 und 1,6 Mrd. Euro.7 Diese Entwicklung führte in den finanzschwachen Kommunen zu sinkenden kommunalen Investitionen, deren Ausfall wiederum das wirtschaftliche Klima verschlechterte.
3
Kommunale Beschäftigungspolitik unter dem Bundessozialhilfegesetz
3.1 Rechtliche Grundlagen Im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) war seit 1962 ein Rechtsanspruch auf die Unterstützung individueller Notlagen durch die Gemeinschaft verankert (§ 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Die Sozialhilfe sollte auf der Grundlage von Bedürftigkeitsprüfung und Nachrangigkeit als steuerfinanzierte Leistung im Einzelfall „die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG). Dabei sollten die Hilfesuchenden nach § 18 Abs.1 BSHG zunächst ihre Arbeitskraft zur Sicherung des Lebensunterhalts einsetzen. Zwar hatte die Bundesanstalt für Arbeit bis 1994 ein sog. Arbeitsvermittlungsmonopol und private Arbeitsvermittlung war bis auf wenige Ausnahmen verboten (vgl. Walwei 1998: 6), aber § 13 Abs. 3 Nr. 1 AFG nahm Maßnahmen der Sozialhilfeträger vom Begriff der Arbeitsvermittlung aus. Die Sozialhilfeträger konnten deshalb im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags im Einzelfall Vermittlungsaktivitäten für erwerbsfähige SozialhilfeempfängerInnen entfalten (vgl. Harks 2003: 26). Daneben wurden in den §§ 18-20 und 25 BSHG die sog. Hilfen zur Arbeit (HzA) geregelt. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde die rechtliche Stellung der Hilfesuchenden nach dem BSHG zunächst mehrfach verbessert. So wurde 1974 der § 26, der die Einlieferung „arbeitsscheuer“ Menschen in geschlossene Anstalten ermöglicht hatte, gestrichen (vgl. Meendermann 1992: 44). Im Zuge der Wirtschaftskrise wurden ab Anfang der 1980er Jahre jedoch über das Haushaltsstrukturgesetz 1982 und die Haushaltbegleitgesetze 1983 und 1984 in der Sozialhilfe wie auch im Leistungsbereich des AFG massive Leistungseinschränkungen vorgenommen und die Kriterien der Zumutbarkeit verschärft. Die Tendenz der Leistungskürzung und der verstärkten Kopplung von Leistungen an die Arbeitsbereitschaft der SozialhilfeempfängerInnen hielt in den 1990er Jahren an, nicht zuletzt, um die steigenden Sozialhilfekosten zu begrenzen. Im Jahre 1993 wurden mit dem „Gesetz zur 5 In den 16,3 Mrd. Euro für Hilfen in besonderen Lebenslagen (HBL) sind Krankenhilfe, Eingliederungshilfe für Behinderte und Hilfe zur Pflege summiert. 6 Vgl. Karrenberg/Münstermann (2003 und 2005). 7 Vgl. Deutscher Landkreistag (2005).
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
195
Förderung des Föderalen Konsolidierungsprogramms“ (FKPG) die materiellen Leistungen für SozialhilfeempfängerInnen durch eine prozentuale Begrenzung der Regelsatzanpassung und reduzierte Mehrbedarfszuschläge gekürzt und zugleich verstärkt an die Verpflichtung zur Arbeit gebunden. Mit dem im August 1996 in Kraft getretenen „Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts“ wurden neben weiteren Leistungsbeschränkungen vor allem die Kürzung der Sozialhilfe um 25 % bei Arbeitsverweigerung nach § 25 und § 18 Abs. 4 und 5 als neue Anreizinstrumente eingeführt.8 Die beschäftigungspolitischen Instrumente des BSHG waren damit in §§ 18-20, 25 und 30 festgeschrieben. Nach § 18 Abs. 4 konnten Lohnkostenzuschüsse an ArbeitgeberInnen, nach § 18 Abs. 5 Eingliederungszuschüsse an ArbeitnehmerInnen gezahlt werden. Das am häufigsten genutzte Instrument waren die so genannten Arbeitsgelegenheiten nach § 19 Abs. 2, befristete gemeinnützige und zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten, bei denen in der Mehraufwandsvariante die Hilfe zum Lebensunterhalt um eine geringfügige Entschädigung für zusätzliche, durch die Beschäftigung entstehende, Aufwendungen ergänzt wurde oder in der Entgeltvariante sozialversicherungspflichtige Arbeitsverträge geschlossen wurden. Daneben konnten nach § 19 Abs. 1 befristete regulär sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Arbeitsgelegenheiten gefördert werden. Nach § 20 konnten besondere Arbeitsgelegenheiten zur Gewöhnung an Arbeit oder zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft geschaffen werden. Darüber hinaus ermöglichte § 30 BSHG die Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage durch eigene Tätigkeit für Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen waren. Die Instrumente nach §§ 18, 19 Abs. 1 und § 19 Abs. 2 (Entgeltvariante) begründeten oder förderten sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Dagegen gaben § 19 Abs. 2 (Mehraufwandsvariante) und § 20 in Kombination mit § 25, der die Einschränkung der Leistungen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit regelte, der kommunalen Beschäftigungspolitik ein Instrument in die Hand, SozialhilfeempfängerInnen im Sinne der Aktivierungslogik in eine nicht sozialversicherungspflichtige Tätigkeit auch zu zwingen, wollten diese ihre materiellen Leistungen nicht riskieren. Die nach 2005 im SGB II verankerte Aktivierungslogik war somit im BSHG bereits angelegt. Mit Neuregelungen im BSHG (§§ 18 Abs. 2 S. 4 und 19 Abs. 4) und im AFG (§ 12 b) wurden Arbeits- und Sozialämtern seit 1993 gegenseitige Kooperation und den Sozialämtern auch Kooperation mit den Trägern der Jugendhilfe geboten, um erwerbsfähige SozialhilfeempfängerInnen effektiver in Beschäftigung zu bringen (vgl. BGBl. 1 1993, S. 944). Das SGB III forderte von den Arbeitsämtern später darüber hinaus, mit den „Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes“ und dabei besonders mit den Kommunen zusammenzuarbeiten (§ 9 Abs. 3), sowie mit den Kommunen die Eingliederungsbilanzen zu erörtern (§ 11 Abs. 3). Ferner erlaubte es den Arbeitsämtern, mit den Kommunen Verwaltungsvereinbarungen zur lokalen Kooperation zu schließen (§ 370 Abs. 4). Harks (2003: 81) interpretiert diese Regelungen als eine Option für Kommunen, die Aktivitäten der Arbeitsämtern dort zu ergänzen, wo „die Arbeitsämter nicht tätig werden (können) oder wo wegen der besonderen Nähe der Kommunen zu den Gegebenheiten vor Ort und den betroffenen Menschen besondere Einflussmöglichkeiten auf das Arbeitsmarktgeschehen bestehen“. Am 1. Dezember 2000 trat – unter dem Eindruck der zunehmenden Debatte um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – das „Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“ in Kraft (BGBl. 1 2000, 8
Vgl. Deutscher Bundestag-Drs. 13/10759: 2f.
196
Petra Kaps
S. 1591). Mit ihm wurden in BSHG und SGB III weitere Regelungen zur Kooperation beider Leistungsträger eingeführt, um die Leistungen enger aneinander anzubinden. So sollten Arbeits- und Sozialämter Kooperationsvereinbarungen abschließen, konnten gemeinsame Anlaufstellen eingerichtet und Modellprojekte zur Zusammenarbeit beider Ämter – wie MoZArT9 (Hess et al. 2003) – durchgeführt werden.
3.2 Die Praxis der kommunalen Beschäftigungspolitik bis 2004 In den ersten Jahren des BSHG spielte die Hilfe zur Arbeit angesichts geringer Arbeitslosenzahlen kaum eine Rolle. Mit steigenden kommunalen Kosten der Arbeitslosigkeit begannen Anfang der 1980er Jahre die ersten Kommunen, die Möglichkeiten der Hilfe zur Arbeit nach § 19 Abs. 2 BSHG sowohl in der Mehraufwands- als auch in der versicherungspflichtigen Variante zu nutzen. So wurden in Berlin im Jahre 1982 MigrantInnen in Hilfe zur Arbeit nach BSHG § 19 Abs. 2 (Mehraufwandsvariante) für gemeinnützige Tätigkeiten eingesetzt. Die Arbeitsaufforderung wurde, begleitet von einer Diskussion um Sozialhilfemissbrauch, kombiniert mit dem restriktiven § 25 BSHG. In Hamburg wurden 1983 Arbeits- und Beschäftigungsgesellschaften gegründet, die nach § 19 Abs. 2 (Entgeltvariante) SozialhilfeempfängerInnen in sozialversicherungspflichtigen Jahresarbeitsverträgen beschäftigten und sie so in den Leistungsanspruch des AFG steuerten (vgl. Meendermann 1992: 88 ff.).10 Motiviert durch die Bemühungen, steigenden Sozialausgaben fiskalpolitisch und der desintegrierenden Wirkung von Langzeitarbeitslosigkeit sozialpolitisch entgegenzuwirken, entwickelten in den 1980er und 1990er Jahren viele Kommunen eigene Strukturen zur Beratung, Qualifizierung und Vermittlung von erwerbsfähigen SozialhilfeempfängerInnen. Unbenommen ihrer Abhängigkeit von bundespolitischer Grobsteuerung in Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Ordnungs- und Finanzpolitik stellten die Kommunen in erheblichem Umfang vor allem bezahlte Arbeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt, in geringerem auch Qualifizierungsmöglichkeiten und Lohnkostenzuschüsse für den ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung. Sie erprobten neue Organisationsformen, kooperierten mit Unternehmen und Arbeitsämtern, initiierten regionale Netzwerke arbeitsmarktrelevanter Akteure oder entwickelten Steuerungskonzepte. Über die kommunalen Aktivitäten liegen eine Vielzahl von Einzelberichten und seit Mitte der 1990er Jahre punktuell auch vergleichende Untersuchungen vor.11 Einen vollständigen Überblick über die kommunale Beschäftigungsförderung hat es aber nie gegeben. Der Deutsche Städtetag veröffentlichte regelmäßig die Ergebnisse einer verbandsinternen Umfrage zur Hilfe zur Arbeit. Danach wurden zum Höhepunkt der Entwicklung 9 MoZArT steht für „Modellvorhaben zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“. 10 Nach Angaben des Deutschen Städtetages waren im Jahre 1983 bundesweit im Monatsdurchschnitt 22.000 Personen in Hilfe zur Arbeit beschäftigt, davon 90 % mit Mehraufwandsentschädigung. Daneben wurden von den Städten im Jahre 1984 rund 80.000 ABM, mehrheitlich in kommunaler Trägerschaft, durchgeführt (Deutscher Städtetag 1984: 83 ff.). Zur Nutzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den 1980er Jahren vgl. exemplarisch Heinelt (1989). 11 Exemplarisch seien hier aufgeführt Meendermann (1992), Freidinger/Schulze-Böing (1993), Heinelt et al. (1994), Trube (1997), Buhr et al. (1998), Fuchs/Schulze-Böing (1999), Empter/Frick (1999), Pohnke (2001), Bertelsmann Stiftung et al. (2001, 2002a und 2002b) und Kaps (2006).
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
197
im Jahre 2000 von den befragten Mitgliedstädten mindestens 142.000 SozialhilfeempfängerInnen über die verschiedenen Instrumente der Hilfe zur Arbeit beschäftigt. Der Anteil von Beschäftigten in der Mehraufwandsvariante stieg danach zwischen 1996 und 2002 von 47 auf 53 %. In knapp einem Viertel der Fälle war mit einer Beschäftigung Qualifizierung bis hin zu beruflichen Ausbildungszertifikaten verbunden.12 So hatte sich die Hilfe zur Arbeit spätestens in den 1990er Jahre „zu einem eigenständigen Handlungsfeld der kommunalen Sozial(hilfe)politik“ und nach Meinung vieler Protagonisten „zu einem Innovationskern moderner aktivierender Sozialpolitik entwickelt" (Berlit et al. 1999: 9, siehe auch Knuth in diesem Band). Dieses Innovationspotential war es dann auch, auf das sich die Befürworter einer Kommunalisierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende später beriefen. Die regionalen Unterschiede in der Innovationsfähigkeit waren aber immens. Fasst man die Ergebnisse diverser Wirkungsanalysen zu Maßnahmen nach dem BSHG zusammen, so lagen die ermittelten Vermittlungsquoten in den ersten Arbeitsmarkt bei 11 bis 60 %, Rückkehrquoten in die Sozialhilfe bei 5 bis 37 % und Abbrecherquoten um 15 %. Die Maßnahmen amortisierten sich aus Sicht der eingesetzten Kommunalfinanzen in der Regel nach zwei bis vier Jahren (vgl. Kaps 2006: 77). Allerdings waren die Verfahren der Erfolgsbeobachtung aus heutiger Sicht unterentwickelt und längst nicht überall verbreitet, wo Beschäftigungspolitik mit Mitteln der Hilfe zur Arbeit betrieben wurde. Insofern war auch das Innovationspotential nur punktuell beobachtbar und ist wenig dokumentiert. Die Entwicklung der Hilfe zur Arbeit nach dem BSHG ist als ambivalent zu beurteilen. Im Trilemma von Arbeitsmarktintegration, Sozialintegration und fiskalischem Ertrag (vgl. Trube 1997: 131 ff.) ermöglichten die Instrumente kommunaler Beschäftigungsförderung einerseits, jedwede Form von Arbeitstätigkeit zur Voraussetzung für Unterstützungsleistungen zu machen. Zugleich ging es der kommunalen Sozialpolitik aber auch darum, SozialhilfeempfängerInnen Optionen zur Rückgewinnung und Weiterentwicklung sozialer Kompetenzen, zum Abbau von Schulden oder zur (Wieder-)Herstellung sozialer Kontakte zu eröffnen und neue Wege der Integration auszuprobieren. Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit wurden nicht zuletzt mit dem Ziel durchgeführt, die kommunalen Sozialhaushalte von den Leistungen der Sozialhilfe für erwerbsfähige LeistungsempfängerInnen zu entlasten.13 Dies gelang entweder, wenn in ausreichend bezahlte reguläre Beschäftigung vermittelt werden konnte, oder wenn sozialversicherungspflichtige Maßnahmen von mindestens zwölfmonatiger Dauer durchgeführt wurden, in deren Anschluss die Teilnehmenden bei erneuter Arbeitslosigkeit in die Leistungen des SGB III und damit in die Finanzverantwortung der Bundesanstalt für Arbeit wechselten. Hier lag indes ein zentraler Ansatzpunkt für die Kritik an der kommunalen Beschäftigungsförderung, der später einen entscheidenden Impuls für die Abschaffung des BSHG lieferte: der Drehtüreffekt von der Sozialhilfe zum SGB III. Nimmt man allerdings die oben genannten Daten zum Maßstab, dann handelte es sich hierbei maximal um eine Gruppe von rund 50.000 Personen im Jahr.14 Zudem 12 Vgl. Fuchs/Spengler (1995), Deutscher Städtetag (1999, 2001, 2003). Die Befragungsdaten wurden von den Autoren hochgerechnet. Danach wären im Jahre 1994 rund 119.000, im Jahre 2000 rund 403.000 und im Jahre 2002 etwa 390.000 SozialhilfeempfängerInnen beschäftigt gewesen. Diese Daten wurden später zugrunde gelegt, um die mögliche Zahl der Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs. 3 (seit 2009 § 16d) SGB II zu schätzen. 13 Dieses Ziel diente in den meisten Fällen auch als entscheidendes Argument zur Legitimierung der Hilfe zur Arbeit in den kommunalen Entscheidungsprozessen. 14 Wenn von geschätzten 400.000 Teilnehmern an HzA im Jahre 2003 rund 50 % in Entgeltvarianten gearbeitet, die Integrationsquoten und die Nachhaltigkeit der Integration über 12 Monate jeweils bei 50 % gelegen hätten,
198
Petra Kaps
hätte man dieses Problem leicht lösen können, wenn man die Beschäftigung in der Entgeltvariante von der Versicherungspflicht zur Arbeitslosenversicherung ausgenommen hätte, wie dies seit 2009 im SGB II geregelt ist. Neben der Hilfe zur Arbeit hatten enge Beziehungen zwischen Kommune und lokalem Arbeitsamt eine hohe Bedeutung für die kommunale Beschäftigungspolitik, vor allem in Regionen mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit. Die kommunalen Strukturen der Beschäftigungsförderung konnten auch für die Umsetzung von Arbeitsbeschaffungs-, Strukturanpassungs- und Beschäftigung schaffenden Infrastrukturmaßnahmen nach dem SGB III genutzt werden. Erst die Verzahnung dieser Instrumente und Strukturen ermöglichte den Kommunen, eine umfangreiche Beschäftigungsförderung zu betreiben, zumal sich hier Synergieeffekte erzielen ließen. Ohne die Existenz kommunaler Beschäftigungsgesellschaften und Jugendwerkstätten und ohne die kommunale Kofinanzierung freier Träger von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen wäre auch die Umsetzung verschiedenster Sonderprogramme von Bund und Ländern – wie des Jugendsofortprogramms JUMP und seines Nachfolgers JUMP Plus in den Jahren 1999 bis 2004 – schwierig gewesen. Im Zuge der Diskussion um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe Ende der 1990er Jahre wurde in den Jahren 2001 bis 2003 das Modellprojekt MoZArT durchgeführt. Bundesweit wurden in 30 Regionen verschiedene Formen der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Sozialämtern bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen entwickelt, um die Vermittlung in Arbeit zu verbessern, Drehtüreffekte abzubauen, Verwaltungsverfahren zu vereinfachen und Kosten zu reduzieren. In den Modellregionen wurden Personen, die Leistungen nach dem BSHG, sowohl nach dem BSHG als auch nach dem SGB III oder nur Arbeitslosenhilfe erhielten, gemeinsam betreut. Im Ergebnis vermittelten die Modelleinrichtungen durchschnittlich deutlich erfolgreicher und nachhaltiger in Erwerbstätigkeit als entsprechende Vergleichsämter. Je stärker dabei die Leistungsprozesse verzahnt wurden, desto größer waren die Integrationserfolge, vor allem bei SozialhilfeempfängerInnen und jenen, die Leistungen aus beiden Systemen erhielten. Wurden die Leistungsprozesse nur gering verzahnt, ergaben sich für diese zwar immer noch höhere Integrationswahrscheinlichkeiten, aber für die gemeinsam betreuten ArbeitslosenhilfeempfängerInnen sanken die Integrationschancen unter jene in den Vergleichsregionen (Hess et al. 2003: 74 ff.).
4
Lokale Beschäftigungspolitik15 seit Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)
Mit der Einführung der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II) zum 1. Januar 2005, für die auch Projekte wie MoZArT das Feld geebnet hatten, und der gleichzeitigen Wohngeldreform hat sich die Rolle der Kommunen in der Beschäftigungspolitik fundamental verändert. dann wären ca. 50.000 Personen jährlich für sechs Monate in den Bezug eines in der Regel relativ geringen Arbeitslosengeldes und anschließend in die – wohl nicht bedarfsdeckende – Arbeitslosenhilfe gewechselt. Dann hätte für diese Leistungen nicht mehr die Kommune, sondern der Bund Steuermittel investiert. 15 Da die kommunale Beschäftigungspolitik mit dem BSHG einen wesentlichen Teil ihrer bisherigen Grundlagen verloren hat, ist im Folgenden von „lokaler Beschäftigungspolitik“ die Rede, wenn die notwendigen neuen Kooperationsbeziehungen zwischen Kommunen, Agentur für Arbeit und regionalen Beschäftigungsträgern und die Aufgaben nach dem SGB II gemeint sind.
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
199
4.1 Rechtliche Grundlagen Alle erwerbsfähigen HilfeempfängerInnen unterliegen nun den Regelungen des SGB II. Der Bund zahlt für sie das Arbeitslosengeld II bzw. das Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Angehörige ihrer Bedarfsgemeinschaften und ist für die aktive Arbeitsförderung zuständig. Die Kommunen finanzieren den größten Teil der Kosten der Unterkunft16, sind für die Bereitstellung der flankierenden Leistungen nach § 16 a SGB II17 sowie der einmaligen Leistungen nach § 23 Abs. 3 SGB II verantwortlich und finanzieren den für ihre Aufgaben notwendigen Teil der Verwaltungskosten. Für die aktive Arbeitsförderung ist im SGB II die Bundesagentur für Arbeit zuständig. Allen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stehen nun die meisten Instrumente des SGB III zur aktiven Arbeitsförderung offen (§ 16 Abs. 1 SGB II, siehe Oschmiansky/ Ebach in diesem Band).18 Sie können um die flankierenden Leistungen erweitert werden, die der Sicherung bzw. Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit dienen und in der Kompetenz der Kommunen liegen. Nach § 16 d SGB II (§ 16 Abs. 3 a. F.) sollen „für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, (...) Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden“. Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II (a. F.) konnten bis 2008 so genannte „sonstige weitere Leistungen“ zur Eingliederung der Hilfebedürftigen ins Erwerbsleben erbracht werden. Die Kommunen sollten nach § 44b SGB II mit den lokalen Arbeitsagenturen Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zur Umsetzung des SGB II bilden. Sie haben so nur noch indirekte Möglichkeiten, die lokalen Beschäftigungspolitik mitzugestalten, indem sie in den Trägerversammlungen und Beiräten der ARGEn Einfluss auf beschäftigungspolitischen Aktivitäten der lokalen Arbeitsagentur für die Hilfebedürftigen nehmen.19 Das Letztentscheidungsrecht haben aber die Arbeitsagenturen (vgl. ISR/infas/WZB 2008). Lediglich diejenigen 69 Kommunen, die zugelassene kommunale Träger im Sinne der Experimentierklausel nach § 6 a SB II sind, haben das Recht, das SGB II vollständig selbst umzusetzen. Sie erhielten damit zumindest formal auch die Freiheit, neue Wege der Beschäftigungsförderung zu gehen. Die arbeitsweltorientierten Aufgaben der Jugendhilfe für alle Jugendlichen jenseits des SGB II bleiben weiterhin eine kommunale Aufgabe. Für Jugendliche im Leistungsbezug des SGB II wurden dagegen die Leistungen nach dem SGB VIII mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) im Oktober 2005 denen nach § 3 Abs. 2 SGB II nachgeordnet, allerdings nur sofern es sich um gleiche Leistungsinhalte für gleiche Gruppen von Jugendlichen handelt (vgl. Kunkel 2007). 16 Die Kosten der Unterkunft für LeistungsempfängerInnen des SGB II werden seit der Wohngeldreform 2005 nicht länger hälftig von Bund und Ländern, sondern mehrheitlich von den Kommunen getragen. Der Bund beteiligt sich bisher an diesen Kosten mit im Schnitt rund 30 %, um die im Rahmen der politischen Kompromissfindung im Rahmen der Grundsicherung angestrebten finanziellen Entlastungen für die Kommunen in Höhe von 2,5 Mrd. Euro zu erreichen. 17 Dies entsprach in der alten Fassung §16 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Darunter fallen Suchtberatung, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung, die Betreuung von Kindern und die häusliche Pflege von Angehörigen. 18 Dies gilt für die Jahre 2005 bis 2008. Zum 1. Januar 2009 wurden mit dem „Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ einige Instrumente, so ABM, im SGB II abgeschafft, andere lediglich zu neuen Instrumenten gebündelt. Der § 16 SGB II wurde vollständig verändert, die Leistungen ausdifferenziert. Augenscheinlichste Veränderung ist hier die Abschaffung der sonstigen weiteren Leistungen, als deren Ersatz mit § 16 f SGB II eine Möglichkeit zur Freien Förderung geschaffen wurde. 19 Das betrifft Anfang 2009 rund 350 Kreise und kreisfreie Städte.
200
Petra Kaps
4.2 Die Praxis der lokalen Beschäftigungspolitik seit 2005 Den 69 zugelassenen kommunalen Trägern, den sog. Optionskommunen, wuchsen seit 2005 umfangreiche neue Aufgaben und neue Fördermöglichkeiten zu. Hier kann das Verhältnis zwischen „Fördern“ und „Fordern“ durch die Kommunalverwaltung bestimmt werden. Nach der Abschaffung des BSHG ist somit die Beschäftigungspolitik als ein eigenständiges kommunalpolitisches Handlungsfeld erhalten geblieben. Es wurde sogar auf einen größeren Personenkreis, die bedürftigen ehemaligen ArbeitslosenhilfeempfängerInnen ausgeweitet. Dagegen gab es in den Arbeitsgemeinschaften immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Agenturen und Kommunen um den kommunalen Einfluss auf die lokale Beschäftigungspolitik, und in Regionen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung haben die Kommunen jeden beschäftigungspolitischen Handlungsspielraum bezüglich des SGB II verloren. Damit ging der Mehrzahl der Kommunen – jenen in ARGEn und getrennter Aufgabenwahrnehmung – das eigenständige Handlungsfeld kommunaler Beschäftigungspolitik verloren. In der Folge der Abschaffung der Hilfe zur Arbeit nach dem BSHG wird zudem die Förderung kommunaler Beschäftigungsgesellschaften zu einer freiwilligen kommunalen Aufgabe, die vielerorts durch die schwierige kommunale Haushaltslage gefährdet ist. Interessanterweise wurden aber bisher die aus dem BSHG bekannten Arbeitsgelegenheiten in allen drei Modellen der Aufgabenwahrnehmung mit Abstand am stärksten genutzt. Im Jahre 2007 wurden bundesweit rund 798.000 Personen einer solchen Maßnahme zugewiesen. Davon wurden rund 95 % über Mehraufwandsentschädigungen aktiviert (Bundesagentur für Arbeit 2008). Die Umsetzung der im Vergleich zum BSHG erheblich ausgeweiteten Arbeitsgelegenheiten war äußerst umstritten, weil die Verdrängung regulärer Beschäftigung befürchtet wurde. Um Blockaden entgegenzuwirken, wurden in vielen Regionen in lokalen Netzwerken, vor allem in den Beiräten der ARGEn, mit allen Arbeitsmarktpartnern Richtlinien zur Umsetzung dieses Instruments erarbeitet (vgl. exemplarisch Ahlers 2005). Zur Umsetzung oder zur Steuerung dieser Leistung werden nach wie vor auch die kommunalen Beschäftigungsträger herangezogen, für die nach dem Ende des BSHG neue Aufgaben gesucht wurden. Nach wie vor beschäftigen die Kommunen auch selbst Menschen über Arbeitsgelegenheiten. Im Jahre 2007 waren mehr als 50 % der Teilnehmenden in Maßnahmen zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur, zum Umweltschutz und zur Landschaftspflege und rund 20 % in der Kinderbetreuung, der Jugendhilfe und diversen Beratungsdiensten eingesetzt (Bundesagentur für Arbeit 2008). Teilweise wurde den kommunalen Beschäftigungsgesellschaften in Gründungsverträgen von den ARGEn eine besondere Rolle zugestanden. In den zugelassenen kommunalen Trägern (zkT) werden sie in wesentlich stärkerem Maße in die Umsetzung des SGB II einbezogen. So hatten im Jahre 2005 rund ein Drittel aller zkT zumindest Teile des gesamten Leistungsprozesses an mehrheitlich kommunale Beschäftigungs- oder Wirtschaftsförderungsgesellschaften ausgelagert (vgl. ISR/infas/WZB 2008: 45). Die Bereitstellung der flankierenden Leistungen, vor allem einer bedarfsdeckenden Kinderbetreuung und Schuldnerberatung, stellt die Kommunen bisher vor große Schwierigkeiten, nicht zuletzt, weil oft ungeklärt ist, wie die Ressourcen dieser kommunalen Leistungen zwischen den EmpfängerInnen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und anderen Gemeindemitgliedern zu verteilen sind und wie die oftmals an Dritte ausgelagerten Dienstleistungen gesteuert werden können.
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
201
Daneben tragen die Kommunen im Rahmen des SGB II direkt das Risiko steigender Kosten der Unterkunft. Daraus ergeben sich trotz der Einsparungen im Bereich der Sozialhilfe Finanzierungsrisiken für die kommunalen Sozialhaushalte, da diese Kosten anders als das Wohngeld für Menschen, die keine Leistungen aus Grundsicherungssystemen erhalten, nicht von Bund und Ländern zu tragen sind. Die Kommunen können mit allen Instrumenten zur Erhöhung des Einkommens von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen versuchen, die Kosten der Unterkunft zu reduzieren, wobei sie in ARGEn die arbeitsmarktpolitischen Programme beeinflussen, sie als zkT dagegen allein gestalten können.20 Für benachteiligte Jugendliche spielt neben dem SGB II nach wie vor auch die Jugendberufshilfe (SGB VIII) eine Rolle. In nicht wenigen Kommunen fielen diese anfangs wegen ihrer Nachrangigkeit im Verhältnis zum SGB II als freiwillig erachteten Leistungen auch für andere Gruppen von Jugendlichen fiskalpolitischen Zwängen zum Opfer. Dennoch sind die Anforderungen an eine wirkungsvolle Vernetzung aller lokalen Aktivitäten der Beschäftigungsförderung für Jugendliche angesichts des besonderen Aktivierungsgebots für diese Gruppe eher gestiegen und viele Kommunen reagieren darauf auch mit dem weiteren Ausbau lokaler Kooperationsstrukturen (vgl. Brülle/Siegeroth 2006). In den ARGEn diskutieren die Kommunen über ihren Beitrag zur lokalen Beschäftigungspolitik auch, weil durch die Verlagerung der Leistungen für die bisherigen SozialhilfeempfängerInnen an das SGB II teilweise erheblicher Personalüberhang im Bereich der Sozialverwaltung entstand.21 Diese MitarbeiterInnen sind in den ARGEn an der Umsetzung des SGB II, aber nicht unbedingt an kommunalen Aufgaben beteiligt. Das bisherige Zielsystem kommunaler Beschäftigungspolitik hat sich verschoben. Fiskalpolitische Motive, die Hilfebedürftigen durch versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in die Zuständigkeit der Bundesagentur zu verweisen, sind hinfällig geworden. Fiskalpolitische Interessen bleiben aber bestehen. So können die Kommunen versuchen, (noch) nicht erwerbsfähige Hilfesuchende so zu aktivieren, dass sie aus der Zuständigkeit des SGB XII in die des SGB II fallen, oder möglicherweise nicht (mehr) erwerbsfähige Hilfebedürftige im SGB II zu halten.22 Im Bereich der Jugendhilfe besteht grundsätzlich das kommunale Interesse, Jugendliche – speziell aus der Förderung nach § 41 SGB VIII – möglichst frühzeitig in die Zuständigkeit des SGB II zu verweisen.23 Das Ziel der Integration in Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt dürfte angesichts der realisierbaren Arbeitseinkommen, der Minijobregelung24 , der Zumutbarkeits- und Hinzuverdienstregeln des SGB II sowie der Entscheidung, AufstockerInnen dem Rechtskreis des SGB II zuzurechnen, nur noch geringe Bedeutung für kommunale Politik einnehmen. Hingegen dürften sozialintegrative Zielstellungen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt nicht nur für den vom SGB II gesetzlich gebotenen Einsatz flankierender sozialer Leis20
Dieses Ziel bewegt auch die Arbeitsagenturen beim Einsatz von Fördermitteln, denn zunächst werden deren passive Leistungspflichten durch Einkommen der Hilfebedürftigen reduziert. Nicht zuletzt spielen hier Interessengegensätze zwischen kreisangehörigen Gemeinden als Trägern kommunaler Wohnungsgesellschaften und Kreisen als Finanziers der Kosten der Unterkunft eine Rolle. 21 Insgesamt sind ca. 18.000 kommunale MitarbeiterInnen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende beschäftigt. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2007, das ARGEn wegen der Mischverwaltung zwischen Bund und Kommunen für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, kommt der Frage des Einsatzes dieses kommunalen Personals eine erhebliche Bedeutung zu. 22 Hier haben die Arbeitsagenturen genau das gegensätzliche Interesse. 23 Zu den Problemen zwischen Jugendhilfe und Grundsicherung bei der Unterstützung junger Volljähriger vgl. ISR/infas/WZB (2008: 178 f.). 24 Diese wurden mit dem „Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ im SGB IV geregelt.
202
Petra Kaps
tungen, sondern beispielsweise auch für den Umgang mit Sanktionen gegen Jugendlichen im SGB II, denen bei entsprechendem Fehlverhalten nicht nur die Unterhaltsleistungen, sondern auch die Unterstützung für die Kosten der Unterkunft vollständig gestrichen werden können. Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Kindeswohlgefährdung oder gesundheitliche Probleme infolge von Langzeitarbeitslosigkeit bleiben auch mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende soziale Probleme, deren Bekämpfung Aufgabe der kommunalen Sozialpolitik ist. Einige dieser Probleme werden durch die Aktivierungslogik des SGB II noch verstärkt.
5
Fazit
Zu Zeiten des Bundessozialhilfegesetzes hatten die Kommunen umfangreiche Möglichkeiten, mit den Instrumenten der dort geregelten Hilfe zur Arbeit eigenständig Beschäftigungspolitik für eine begrenzte Zahl von SozialhilfeempfängerInnen zu betreiben. Diese Möglichkeiten wurden regional sehr unterschiedlich genutzt. Viele Kommunen betätigten sich daneben als Träger von ABM und anderen Maßnahmen des SGB III am zweiten Arbeitsmarkt, um sozial-, fiskal- und strukturpolitische Ziele zu erreichen. Kommunale Beschäftigungspolitik wurde zu einem eigenständigen kommunalen Handlungsfeld. Mit der Einführung des SGB II ist die Trägerschaft für die aktiven Leistungen an die Bundesagentur für Arbeit übergegangen. Lediglich in den so genannten Optionskommunen ist lokale Beschäftigungspolitik damit noch ein eigenständiges kommunales Handlungsfeld, das hier sogar an Bedeutung gewonnen hat. Die Auswirkungen auf die lokalen Strukturen der Beschäftigungsförderung in Regionen mit Arbeitsgemeinschaften und getrennter Aufgabenwahrnehmung sind noch nicht vollständig abzusehen. Einerseits fallen hier beschäftigungspolitische Aktivitäten nun in den Bereich der freiwilligen kommunalen Aufgaben, so dass gerade bei hohen Belastungen der Kommunalhaushalte entsprechende Strukturen von Streichung bedroht sind. Andererseits können die Kommunalverwaltungen in den Arbeitsgemeinschaften versuchen, strategischen Einfluss auf die arbeitsmarktpolitischen Programme der lokalen Agenturen im SGB II auszuüben und damit für die Klientel des SGB II auch lokale Strukturen zu erhalten oder zu entwickeln. Zudem ist ein erheblicher Anteil kommunaler MitarbeiterInnen in den ARGEn beschäftigt, was zu Wissenstransfer zwischen Agenturen und Kommunalverwaltung geführt hat. Allerdings bleibt abzuwarten, inwieweit sich in den ARGEn tatsächlich eine neue – Dienstherren übergreifende – Fachbürokratie entwickelt hat (vgl. Knuth in diesem Band) oder ob die Fachkräfte beider Seiten angesichts der rechtlichen Unklarheiten in Bezug auf die ARGE und potentielle Folgeorganisationen in die jeweilige Herkunftsverwaltung zurückstreben. In diesem Falle würden die Arbeitsagenturen mittelfristig die dominanten Akteure der Grundsicherung werden, denn sie sind nach dem SGB II verantwortlich für die aktiven arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
Literatur Ahlers, S. (2005): Modell Berlin: 9 Monate Zusatzjobs – Herausforderungen und Perspektiven. Vortrag auf dem Kongress „Aufbau am Arbeitsmarkt durch Hartz IV?“ am 07.09.05. http://www.
Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
203
deutscher-verein.de/03-events/Kongresse%20des%20Deutschen%20Vereins/2005/pdf/vortrag_ ahlers.pdf. Stand: 08.12.2005. Berlit, U./Fuchs, P./ Schulze-Böing, M. (1999): Thesen zu einem fachpolitischen Leitbild der Hilfe zur Arbeit. In: Fuchs, Petra/Schulze-Böing, M. (Hrsg.) (1999): Hilfe zur Arbeit und kommunale Beschäftigungspolitik. Zwischenbilanz und Perspektiven. Frankfurt am Main: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. 9-13. Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung, KGSt (Hrsg.) (2001): Benchmarking in der lokalen Beschäftigungsförderung. Recherche und Assessment bestehender Benchmarking-Ansätze. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung, KGSt (Hrsg.) (2002a): Netzwerk Kommunen der Zukunft. Produkte der Netzwerkarbeit, Steuerung der lokalen Beschäftigungsförderung. Bd. 14-1. Frankfurt am Main: VAS. Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung, KGSt (Hrsg.) (2002b): Netzwerk Kommunen der Zukunft. Produkte der Netzwerkarbeit, Arbeiten in Netzwerken. Bd. 14-3. Frankfurt am Main: VAS. Braun, F./Lex, T./Rademacher, H. (Hrsg.) (2001): Jugend in Arbeit. Neue Wege des Übergangs Jugendlicher in die Arbeitswelt. Opladen: Leske+Budrich. Brülle, H./Siegeroth, K. (2006): Eckpunkte kommunaler Konzepte für die berufliche Integration junger Menschen. E&C-Fachforum: Kinder- und Jugendhilfe im Prozess der Arbeitsmarktreform. Dokumentation der Veranstaltung vom 16. und 17. Februar 2006. Buhr, P./Gangl, M./Rentzsch, D. (1998): Wege aus der Soziahilfe – Wege in den Arbeitsmarkt? Chancen zur Überwindung des Sozialhilfebezugs in Ost- und Westdeutschland. In: Heinz, W. R./Dressel, W./Blascke, D./Engelbrech, G. (1998): Was prägt Berufsbiographien? Lebenslaufdynamik und Institutionenpolitik. Nürnberg: IAB. Bundesagentur für Arbeit (2008): Leistungen zur Eingliederung an erwerbsfähige Hilfebedürftige: Einsatz von Arbeitsgelegenheiten 2007. Bericht der Statistik der BA. Nürnberg. Deutscher Landkreistag (2005): Kreisfinanzbericht 2004/2005. Berlin. Deutscher Städtetag (1984): Kommunale Aktivitäten im Bereich Arbeitslosigkeit, Reihe D – DSTBeiträge zur Sozialpolitik. Heft 17. Köln. Deutscher Städtetag (1999): Arbeitslosigkeit – Herausforderung für die Städte, Reihe D – DSTBeiträge zur Sozialpolitik. Heft 30. Köln. Deutscher Städtetag (2001): Kommunale Beschäftigungsförderung: Ergebnisse einer Umfrage über Hilfen zur Arbeit nach BSHG und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach SGB III im Jahr 2000. Köln. Deutscher Städtetag (2003): Kommunale Beschäftigungsförderung. Ergebnisse einer Umfrage über Hilfen zur Arbeit nach BSHG und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach SGB III im Jahr 2002. Köln. Empter, St./Frick, F. (Hrsg.) (1999): Beschäftigungsorientierte Sozialpolitik in Kommunen. Strategien zur Integration von Sozialhilfeempfängern in das Erwerbsleben. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Freidinger, G./Schulze-Böing, M. (Hrsg.) (1993): Handbuch der kommunalen Arbeitsmarktpolitik. Marburg: Metropolis-Verlag. Fuchs, P./Schulze-Böing, M. (Hrsg.) (1999): Hilfe zur Arbeit und kommunale Beschäftigungspolitik. Zwischenbilanz und Perspektiven. Frankfurt am Main: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Fuchs, L./Spengler, I. (1995): Kommunale Beschäftigungsförderung in den neuen Bundesländern. Ergebnisse einer Umfrage über Hilfe zur Arbeit nach BSHG und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach AFG. In: Deutscher Städtetag (Hrsg.) (1995): Städte im Aufbruch. Fünf Jahre kommunale Selbstverwaltung in den neuen Ländern, DST-Beiträge zur Kommunalpolitik. Reihe A. Heft 21. Köln: 114-137. Grabow, B./Henckel, D. (1998): Kommunale Wirtschaftspolitik. In: Wollmann, H./Roth, R. (Hrsg.) (1998): Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. 2. Aufl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung: 616-632.
204
Petra Kaps
Harks, T. (2003): Kommunale Arbeitsmarktpolitik. Rechtliche Vorgaben und Grenzen. Stuttgart: Kohlhammer. Haug, P. (2004): Kommunale Wirtschaftsförderung: Eine theoretische und empirische Analyse. Hamburg: Kovaþ. Heinelt, H. (1989): Chancen und Bedingungen arbeitsmarktpolitischer Regulierung am Beispiel ausgewählter Arbeitsamtsbezirke. In: MitIAB 22. 2: 294-311. Heinelt, H./Bosch, G./Reissert, B. (1994): Arbeitsmarktpolitik nach der Vereinigung. Berlin: edition sigma. Hess, D./Schröder, H./Smid, M./Reis, C. (2003): MoZArT. Neue Strukturen für Jobs. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Bonn: infas - Institut für angewandte Sozialwissenschaft. Hild, P. (1997): Netzwerke der lokalen Arbeitsmarktpolitik. Steuerungsprobleme in theoretischer und empirischer Sicht. Berlin: edition sigma. Huget, H. (2002): Europäische Mehrebenen-Demokratie. Dezentrale Steuerung und demokratische Legitimation am Beispiel europäischer Beschäftigungspolitik, WIP Occasional Paper 18-2002. ISR/infas/WZB (2008): Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c SGB II – Vergleichende Evaluation des arbeitsmarktpolitischen Erfolgs der Modelle der Aufgabenwahrnehmung „Optierende Kommune“ und „Arbeitsgemeinschaft“. UF2: Implementations- und Governanceanalyse. Abschlussbericht. Frankfurt am Main, Bonn, Berlin. Kaps, P. (2006): Arbeitsmarktintegration oder Haushaltskonsolidierung? Interessen, Zielkonflikte und Ergebnisse kommunaler Beschäftigungspolitik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Karrenberg, H./Münstermann, E. (2003): Gemeindefinanzreform vor dem Scheitern? In: Der Städtetag 9/2003: 4-9. Karrenberg, H./Münstermann, E. (2005): Gemeindefinanzbericht 2005. Keine Entwarnung trotz gestärkter Gewerbesteuer. In: Der Städtetag 5/2005: 5-100. Kunkel, P.-Ch. (2007): Junge Menschen im „Bermudadreieck“ von SGB VIII, SGB III und SGB II. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (NDV) 87. 10: 397-404. Lindner, H. (1994): Beschäftigung von Sozialhilfeempfängern in Beschäftigungsgesellschaften. In: Schulze-Böing, M./Johrendt, N. (Hrsg.) (1994): Wirkungen kommunaler Beschäftigungsprogramme. Methoden, Instrumente und Ergebnisse der Evaluation kommunaler Arbeitsmarktpolitik. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser: 189-213. Meendermann, K. (1992): Die Hilfe zur Arbeit – Zugangschance oder Ausgrenzungsmechanismus? Münster, New York: Waxmann. Pohnke, Ch. (2001): Wirkungs- und Kosten-Nutzen-Analysen. Eine Untersuchung von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik am Beispiel kommunaler Beschäftigungsprogramme. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien: Lang. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2008): Soziale Mindestsicherung in Deutschland 2006. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2003): Sozialhilfe im Städtevergleich. Ein Vergleich 76 deutscher Großstädte. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2005): Statistik der Sozialhilfe 2004. Fachserie 13. Reihe 2.1. Wiesbaden. Trube, A. (1997): Zur Theorie und Empirie des zweiten Arbeitsmarktes. Exemplarische Erörterungen und praktische Versuche zur sozioökonomischen Bewertung lokaler Beschäftigungsförderung. Münster: LIT. Walwei, U. (1998): Job placement in Germany. Development before and after deregulation. In: IAB Labour Market Research Topics 31: 1-53. Weber, S (Hrsg.) (2001): Netzwerkentwicklung in der Jugendberufshilfe. Erfahrungen mit institutioneller Vernetzung im ländlichen Raum. Opladen: Leske+Budrich.
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
205
Tanja Klenk
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III: Pfadwechsel in der korporatistischen Arbeitsverwaltung? Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
1
Einleitung
„Wie ein roter Faden ist bei allen Beratungen des Ausschusses der Wille deutlich geworden, der dreistufigen Selbstverwaltung der Bundesanstalt so viel Entscheidungsmöglichkeiten zu geben, wie es nach den Grundsätzen der modernen Arbeitsmarktpolitik […] überhaupt irgend möglich war“, erklärte der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit, Adolf Müller, 1969 bei den Beratungen des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) (Deutscher Bundestag 1969: 12930). Beim Gesetzgebungsprozess zum AFG war nicht nur umstritten, was die ‚Grundsätze der modernen Arbeitsmarktpolitik’ auszeichnet, sondern auch welcher Stellenwert der Selbstverwaltung bei der Umsetzung just jener modernen Politik zukommt. Während das AFG beim arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium zu einer grundlegenden Neuausrichtung führte, hatten die Reformen der (Selbst)Verwaltung jedoch mehr inkrementellen Charakter. Überhaupt ist Kontinuität eines der zentralen Merkmale der Arbeitsverwaltung in Deutschland. Seit ihrer Errichtung im Jahr 1927 ist die Arbeitslosenversicherung in Deutschland eine selbstverwaltete Institution, deren Gremien tripartistisch mit VertreterInnen der Gewerkschaften, der ArbeitgeberInnen und der ‚öffentlichen Hand’ besetzt sind. Die Strukturen der Selbstverwaltung, etwa die Besetzung der Gremien oder ihre Kompetenzen, sind aber von Beginn an zwischen den Arbeitsmarktakteuren umstritten. Die wichtigen Arbeitsmarktreformen in der Bundesrepublik – das Errichtungsgesetz von 1952, das bereits erwähnte Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969, das AFG-Reformgesetz von 1996 und die Hartz-Reformen ab 2002 – waren immer auch mit Selbstverwaltungsreformen verbunden. Die Reformen haben das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden, zwischen Haupt- und Ehrenamt, zwischen zentraler, regionaler und lokaler Ebene neu justiert – aber bis 2002 haben sie das korporatistische Selbstverwaltungsmodell nicht prinzipiell in Frage gestellt. Zu einem Kontinuitätsbruch in der Arbeitsverwaltung kommt es aber, wie in dem folgenden Beitrag gezeigt werden soll, mit den Hartz-Gesetzen. Durch die Einführung des SGB II hat sich die Struktur der Interessenvermittlung in der Arbeitsverwaltung grundlegend verändert. Neu ist, dass die Verwaltung arbeitsmarktpolitischer Leistungen eines Großteils der erwerbsfähigen MaßnahmenempfängerInnen nun ohne institutionell garantierte Beteiligung der Tarifverbände stattfindet. Die Verwaltung der Träger des SGB II basiert nicht auf dem Selbstverwaltungsprinzip. Interessenbeteiligung findet – wenn überhaupt – in Form von Beiräten oder anderen fakultativen Gremien statt, in denen neben den Tarifverbänden u. a. auch die Sozial- und Wohlfahrtsverbände vertreten sind. Im Gegensatz zur korporatistischen Selbstverwaltung im SGB III hat die Interessenbeteiligung im SGB II einen eher pluralistischen Charakter.
206
Tanja Klenk
Der Beitrag stellt die Entwicklung der Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung seit der Gründung der Bundesrepublik dar. Er beginnt mit einer verwaltungspolitischen Einordnung dieses Verwaltungsmodells. Um die Reichweite der Veränderungen beschreiben und bewerten zu können, wird in Kapitel 2 die Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung mit möglichen organisatorischen Alternativen – den Selbstverwaltungsstrukturen anderer Sozialversicherungsträger und den Strukturen der Arbeitsverwaltung anderer Länder – kontrastiert. Der Vergleich zeigt, dass es keine funktionale, etwa aus der Finanzierungsstruktur abgeleitete Begründung für die Gestaltung der Verwaltungsstrukturen gibt. Organisationsstrukturen sind vielmehr Gegenstand machtpolitischer Auseinandersetzungen, und die Veränderung von Verwaltungsstrukturen ist Interessenpolitik. Die Arbeitsverwaltung ist nicht nur durch den Interessengegensatz zwischen Beschäftigten und ArbeitgeberInnen, sondern auch durch mögliche Konflikte zwischen Staat und Verbänden sowie zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen geprägt. Die Selbstverwaltungsstrukturen der BA können dementsprechend als Indikator für das Verhältnis der arbeitsmarktpolitischen Interessengruppen gedeutet werden. Kapitel 3 skizziert die wichtigsten Stationen der Entwicklung der Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung. Das abschließende Kapitel 4 des Beitrags fragt nach den langfristigen Konsequenzen der Trennung der Arbeitsverwaltung in ein korporatistisches und ein nicht-korporatistisches Regime für die Interessenrepräsentation in der Arbeitsverwaltung, insbesondere was die Position der Gewerkschaften betrifft.
2
Die Selbstverwaltung in der Arbeitslosenversicherung
2.1 Zum ‚anstaltlichen’ Charakter der Selbstverwaltung in der Arbeitslosenversicherung Selbstverwaltung lässt sich definieren als die Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben, die aus der unmittelbaren Staatsverwaltung ausgegliedert sind und zur Erledigung an eigenständige, öffentlich-rechtliche Rechtssubjekte übertragen werden. Die verselbstständigten Träger haben das Recht der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung und der eigenen Rechtssetzung. Sie haben damit – innerhalb eines gesetzlich definierten Rahmens – die Möglichkeit der politischen Gestaltung ihrer Aufgabe (Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier/ Welti 2008: 8). Die Selbstverwaltung unterscheidet sich von anderen Varianten der dezentralen Verwaltungsorganisation dadurch, dass sie Interessengruppen, die von der spezifischen Aufgabe betroffen sind, institutionalisierte Mitwirkungsrechte garantiert. Hinter dem Selbstverwaltungsbegriff steht aber kein eindeutiges Organisationsmodell. Das Verhältnis zwischen Staat und selbstverwalteter Körperschaft sowie die innere Organisationsverfassung der Selbstverwaltungsträger können erheblich variieren. Es lassen sich staatsnähere und staatsfernere Selbstverwaltungsmodelle unterscheiden, wobei die Übergänge zwischen den verschiedenen Modellen fließend zu denken sind (vgl. Tabelle 1). Ein erster Indikator ist die Rechtsform: Staatsferne Selbstverwaltungsinstitutionen sind typischerweise körperschaftlich, staatsnähere Institutionen anstaltlich verfasst.1 Weitere Indikatoren sind u. a. die Kom1 Die Rechtsformen ‚Anstalt’ und ‚Körperschaften’ können, müssen aber nicht zwingend ein Indikator für die Staatsnähe bzw. -ferne der selbstverwalteten Institution sein. Die Rechtsformen Anstalt und Körperschaft sind gestaltungsoffene Rechtsformen: Es gibt nur wenige rechtliche Vorgaben für ihre Organisationsstrukturen und der Übergang zwischen diesen beiden Rechtsformen ist offen. Unterschiede zwischen einer Körperschaft und einer
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
207
petenzen der Selbstverwaltungsorgane, das Vorhandensein staatlicher Interventionsrechte, das Ausmaß der staatlichen Aufsicht und die Repräsentanz von VertreterInnen der öffentlichen Körperschaften in den Selbstverwaltungsorganen sowie das Verhältnis zu den Versicherten. Zu den Kompetenzen staatsfernerer Selbstverwaltungsinstitutionen gehört beispielsweise die eigenverantwortliche Feststellung des Haushalts und sie haben ggf. das Recht zur eigenen untergesetzlichen Normsetzung; in ihren Selbstverwaltungsgremien sind wiederum ausschließlich zivilgesellschaftliche Akteure und keine staatlichen RepräsentantInnen vertreten. Bei staatsnahen Selbstverwaltungsinstitutionen ist die organisationale Autonomie demgegenüber eingeschränkt, weil beispielsweise der Haushalt auch gegen das Votum der Selbstverwaltungsgremien beschlossen werden kann, oder weil es staatliche Rechtsverordnungen gibt, die Vorrang vor den durch die Selbstverwaltungsgremien definierten Normen haben, oder weil Repräsentanten des Staates direkt in den Leitungsgremien mitwirken. Selbstverwaltung ist seit der Einführung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik das charakteristische Merkmal der Arbeitsverwaltung. Die Selbstverwaltungsstrukturen variieren jedoch im historischen Verlauf. Gegenwärtig ist die Verwaltung der Bundesagentur für Arbeit (BA), der Träger der Arbeitslosenversicherung, dreistufig aufgebaut. Neben der Zentrale in Nürnberg gibt es zehn Regionaldirektionen und 176 Agenturen für Arbeit auf lokaler Ebene. Selbstverwaltungsorgane bestehen jedoch (seit 2004) nur auf der zentralen und lokalen Ebene. Das Selbstverwaltungsrecht der Bundesagentur ist, nimmt man die obigen Indikatoren als Bewertungsmaßstab, schwach ausgeprägt. Die BA ist zwar als eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung verfasst (§ 367 SGB III). Diese Qualifikation als Körperschaft ist jedoch „irreführend“ (Wolff/Bachof/Stober 2004, § 88 VII 2) und die Bundesagentur ist nach dem üblichen juristischen Sprachgebrauch eine Anstalt. Der anstaltliche Charakter der Selbstverwaltung wird vor allem im Vergleich zu anderen Selbstverwaltungsträgern deutlich. Während beispielsweise Krankenkassen als rechtlich verselbstständigte Personenverbände verfasst sind, also auf Mitgliedschaft beruhen, fehlt der Bundesagentur dieses Element einer Körperschaft. Die ‚Nutzer’ der BA sind darüber hinaus nicht direkt in die internen organisationalen Entscheidungsprozesse eingebunden und entsenden keine InteressenvertreterInnen in die Leitungsorgane. Sehr umstritten, de facto aber seit 1927 immer gleich bleibend, ist die Besetzung der Selbstverwaltungsgremien. Die Selbstverwaltungsgremien der BA werden durch ein Berufungssystem bestellt2 und die Selbstverwaltungsgremien der BA sind drittelparitätisch mit VertreterInnen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften besetzt.3 Vorschlagsberechtigt für die VertreterInnen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber Anstalt bestehen vor allem in Bezug auf das jeweilige ‚Image’ der Rechtsform (Ipsen 2000: 241). Körperschaften sind mitgliedschaftlich verfasste, unabhängig vom Wechsel der Mitglieder bestehende Organisationen, die – ähnlich wie der Verein im Privatrecht – für den Idealtypus einer assoziativen Organisation stehen, die mittels demokratischer Entscheidungsverfahren durch ihre Mitglieder gesteuert wird. Die Anstalt hat demgegenüber ein eher technokratisches und instrumentelles, in erster Linie über die Sachaufgabe und die hierfür zur Verfügung stehenden Mittel bestimmtes Image. Sie ist eine Einrichtung, in der – der Idee nach – nicht Mitgliederinteressen repräsentiert, sondern Publikumsinteressen kooptiert werden (Wolff/Bachof/Stober 2004: 151). 2 Der Bundesarbeitsminister beruft auf Vorschlag der drei vertretenen Gruppen die Mitglieder des Verwaltungsrats, des Selbstverwaltungsorgans auf der zentralen Ebene; bei den Mitgliedern der dezentralen Selbstverwaltungsgremien (Verwaltungsausschüsse) erfolgt die Berufung durch den Verwaltungsrat (§ 377 SGB III). 3 Der Verwaltungsrat setzt sich zusammen aus jeweils sieben Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften (hiervon drei Vertreter des Bundes, drei Vertreter der Länder und ein Vertreter der
208
Tanja Klenk
sind die tarifschließenden Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, die eine ‚wesentliche’ Bedeutung haben. Die VertreterInnen der öffentlichen Körperschaften werden von der Bundesregierung, dem Bundesrat und den Spitzenvereinigungen der kommunalen Körperschaften vorgeschlagen (§ 379 SGB III). Tabelle 1: Staatsferne und staatsnahe Selbstverwaltungsmodelle
Aufgabe der Selbstverwaltungsgremien ist die Überwachung und Beratung der hauptamtlichen Verwaltung (§§ 373 u. 374 SGB III). Seit den jüngsten Reformen wird bei der Beschreibung der Selbstverwaltungsstrukturen in der Arbeitsverwaltung häufig der Vergleich zum Leitungsmodell privater Unternehmen bemüht (Marx/Schmachtenberg 2002: 7). Der Vergleich ist jedoch insofern unstimmig, als dass der Aufsichtsrat eines privaten Unternehmens weitreichendere Kompetenzen hat als der Verwaltungsrat der BA und vor allem als die lokalen Verwaltungsausschüsse. Zwar kann der Verwaltungsrat jederzeit vom Vorstand Auskunft über die Geschäftsführung verlangen und per Satzung bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Verwaltungsrats vorgenommen Kommunen). Die Zahl der Mitglieder der Verwaltungsausschüsse, der Selbstverwaltungsgremien auf örtlicher Ebene, setzt der Verwaltungsrat fest. Nach § 374 SGB III darf die Mitgliederzahl höchstens 15 betragen. Seit 2004 sind jeweils vier Vertreter der drei an der Selbstverwaltung beteiligten Akteursgruppen in den Gremien auf der örtlichen Ebene vertreten, d. h. die Verwaltungsausschüsse setzen sich derzeit aus zwölf Mitgliedern zusammen.
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
209
werden dürfen. Anders aber als der Aufsichtsrat privater Unternehmen können die Selbstverwaltungsorgane der BA den Vorstand bzw. die Geschäftsführung aufgrund der Mitwirkungsrechte des Bundesministeriums nicht eigenverantwortlich bestellen und abberufen. Zudem führt die BA auch Aufgaben im Auftrag der Bundesregierung durch (z. B. die Auszahlung des Kindergeldes) und handelt dabei ohne Selbstverwaltung. Die hauptamtlichen Leitungskräfte der BA dienen damit „zwei unterschiedlichen Herren“ (Adamy 2006: 181), was die Stellung der Selbstverwaltung im Vergleich zum Aufsichtsrat, aber auch zu vergleichbaren Gremien in anderen Sozialversicherungsträgern schwächt. Neben der Struktur der Selbstverwaltungsgremien und den Verfahren ihrer Besetzung unterscheidet sich die BA vor allem in der Reichweite der körperschaftlichen Autonomie von anderen Sozialversicherungsträgern. So kann der Haushalt der BA auch gegen den Willen der Selbstverwaltungsorgane der BA durch die Bundesregierung in Kraft gesetzt werden (§ 71a SGB IV). Im Unterschied zu den anderen Sozialversicherungszweigen unterliegt die BA darüber hinaus nicht nur der Rechtsaufsicht durch das Bundesarbeitsministerium (§ 393 Abs. 1 SGB III), sondern in Teilbereichen auch der Fachaufsicht.4
2.2 Organisatorische Varianten der Arbeitsverwaltung Der Vergleich der Arbeitsverwaltungen unterschiedlicher Länder zeigt eine erhebliche Variation in der Beteiligung von Interessenverbänden. Die institutionelle Verschränkung von Staat und Verbänden in den Leitungsgremien der Arbeitsverwaltung, wie sie in Deutschland praktiziert wird, ist nur eine von vielen Varianten. Der Blick in andere Länder zeigt darüber hinaus, dass die Wahrnehmung der beiden Kernaufgaben der Arbeitsverwaltung – Vermittlung und Versicherung – durch eine Institution wie in Deutschland eine Besonderheit ist. Bedingt durch die unterschiedliche Interessenstruktur der beiden Aufgaben – an einer funktionsfähigen Arbeitsvermittlung haben sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber ein Interesse, die Einkommenssicherung durch eine Arbeitslosenversicherung liegt hingegen zunächst vor allem im Interesse der Gewerkschaften – unterscheidet sich die Institutionengeschichte der beiden Aufgaben erheblich. In vielen Ländern haben sich für die Vermittlung von Arbeitssuchenden und für die Arbeitslosenversicherung unterschiedliche Institutionen mit jeweils unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen herausgebildet. Ganz grundsätzlich können in Bezug auf die beiden Kernaufgaben der Arbeitsverwaltung – Versicherung und Vermittlung – private, intermediäre und staatliche Organisationsmodelle voneinander unterschieden werden. Die Empirie zeigt, dass die verschiedenen Organisationsformen dabei nicht als klar abgegrenzte Alternativen, sondern vielmehr als ein Kontinuum zu denken sind. Ohne hier Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben und ohne im Rahmen dieses Beitrags auf Details zur Erklärung der Entstehung eingehen zu können, lassen sich folgende Varianten einer privat, intermediär oder staatlich organisierten Arbeitslosenversicherung bzw. einer privat, intermediär oder staatlich organisierten Arbeitslosenvermittlung benennen (vgl. Tabelle 2). 4
DasȱMinisteriumȱverfügtȱinȱderȱArbeitsverwaltungȱauchȱüberȱWeisungsrechteȱundȱführtȱdieȱFachaufȬ sichtȱ z.ȱ B.ȱ beiȱ derȱ Arbeitsmarktstatistikȱ (§ȱ 283ȱ Abs.ȱ 2ȱ SGBȱ III)ȱ undȱ derȱ Ausländerbeschäftigungȱ (§ȱ 288ȱ Abs.ȱ2ȱSGBȱIII).
210
Tanja Klenk
Im Bereich der Arbeitslosenversicherung bildet das sogenannte Genter Modell, für das vor allem die drei nordischen Länder Schweden, Finnland und Dänemark stehen, den deutlichsten Kontrast zur deutschen Arbeitslosenverwaltung. In Ländern mit dem Genter Modell ist die Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung im Gegensatz zu Deutschland (und zu der Mehrzahl der europäischen Länder) freiwillig. Die Arbeitslosenversicherung wird von gewerkschaftlichen Kassen verwaltet, die nach dem Branchenprinzip organisiert sind. Die Kassen finanzieren sich zum kleineren Teil durch Beiträge der ArbeitnehmerInnen, zum größten Teil aber durch staatliche Subventionen (Henning 1974; Leonardi 2006). Auch in Frankreich sind Arbeitslosenversicherung und Arbeitsverwaltung unterschiedlich organisiert. Die Arbeitslosenversicherung in Frankreich wird paritätisch von den Sozialpartnern finanziert und paritätisch von diesen verwaltet. Die Verwaltungsräte der Arbeitslosenkassen, die als gemeinnützige Vereine ohne Gewinnabsicht verfasst sind, setzen sich aus einer gleichen Zahl von VertreterInnen der Arbeitgeber und -nehmer zusammen, wobei der Vorsitz alle zwei Jahre turnusmäßig wechselt. Auch die paritätisch verwaltete französische Arbeitslosenversicherung ist freilich nicht frei von staatlichem Einfluss. Die Sozialpartner verhandeln zwar – ähnlich wie in Tarifverträgen – eigenverantwortlich Vereinbarungen zur Absicherung der abhängig Beschäftigten im Falle von Arbeitslosigkeit; diese bedürfen jedoch der staatlichen Genehmigung. Kommt es zwischen den Sozialpartnern zu keiner Einigung oder wird diese nicht genehmigt, werden die Anwendungsvorschriften vom Staatsrat durch Erlass festgelegt. In Großbritannien findet sich schließlich die Variante der staatlich organisierten Arbeitslosenversicherung. Dies war allerdings nicht immer so: In den 1970er Jahren wurde die Auszahlung der finanziellen Unterstützung bewusst von der Arbeitsvermittlung und förderung getrennt. Während die Verwaltung der Unemployments Benefits weiterhin staatlich blieb, wurde für den Bereich der Arbeitsvermittlung und -förderung in Anlehnung an das deutsche Modell der sozialpartnerschaftlichen Arbeitsverwaltung die Manpower Service Commission geschaffen. Die institutionelle Einbindung der Sozialpartner in die Arbeitsverwaltung war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde unter der Regierung Thatcher der Employment Service als staatliche, direkt der Regierung unterstellte und über Zielvereinbarungen gesteuerte Einrichtung ohne institutionalisierte Beteiligung der Sozialpartner neu konstituiert und auch die institutionelle Trennung von Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung wurde dabei wieder aufgehoben (Knuth/Finn 2004).5 Auch in den Niederlanden lässt sich der Wechsel zwischen einer korporatistisch gesteuerten und einer Arbeitsverwaltung ohne direkte Mitwirkung der Tarifverbände beobachten. Im Unterschied zu Großbritannien nimmt hier jedoch die kommunale Ebene eine besondere Stellung ein (Trampusch 2000). Eine privatwirtschaftlich organisierte Arbeitslosenversicherung spielt zwar in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion eine Rolle und wird in Deutschland beispielsweise von der FDP gefordert (vgl. Glismann/Schrader 2001; Deutscher Bundestag 2004). Eine ausschließlich auf einem marktlichen Modell basierende Arbeitslosenversicherung gibt es jedoch bislang in keinem OECD-Land. Privatwirtschaftlich organisierte Arbeitslosenversicherungen werden aber seit den 1990er Jahren verstärkt als Zusatzversicherungen angeboten. 5 In den Jahren 2002 bis 2006 schließlich wurden unter der Regierung Blair die Jobcentres Plus (JCP) eingeführt, die durch die Fusion des Employment Service mit Teilen der Benefits Agency entstanden und als ein One-StopShop für alle erwerbsfähigen Maßnahmenempfänger fungieren sollen (Knuth/Finn 2004).
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
211
Tabelle 2: Beispiele für organisatorische Varianten in der Arbeitsverwaltung
privat
ArbeitslosenͲ versicherung
Vermittlung
fürabhängige Beschäftigte: nuralsZusatzͲ versicherung Deutschland, Großbritannien, Italien(seit 1998)
intermediär gewerkschaftliche Organisation ‚GenterSystem’in Dänemark, Schwedenund Finnland z.B.Finnlandbis 1994
paritätische Organisation
tripartistische Organisation
Frankreich
Deutschland, Österreich
innerbetriebͲ licheArbeitsͲ vermittlung (quantitativ eherunbeͲ deutend)
Deutschland, Österreich
staatlich(zentral oderkommunal) Italien(mit Sozialpartnerim Aufsichtsrat), Großbritannien Italien(bis1998) Großbritannien (zentral),NiederͲ lande(kommuͲ nal)
Auch bei der Arbeitsvermittlung reicht die Bandbreite der organisatorischen Alternativen von der staatlichen bis zur privatwirtschaftlichen Vermittlung. Im Unterschied zur Arbeitslosenversicherung sind private Einrichtungen hier aber von zentraler Bedeutung; darüber hinaus kann bei der Vermittlung seit spätestens Mitte der 1990er Jahre eine organisatorische Vielfalt auch innerhalb der einzelnen Länder beobachtet werden. In Großbritannien gab es schon immer ein Nebeneinander von staatlichen, privaten, gewerkschaftlichen oder großbetrieblichen Vermittlungseinrichtungen. Anders hingegen in Italien: Hier versuchte man lange Zeit die Nutzung der staatlichen Vermittlungseinrichtungen obligatorisch zu machen (Blankenburg/Krautkrämer 1977: 12). Die staatlichen Vermittlungseinrichtungen fanden aber vor allem auf Seiten der Arbeitgeber keine Akzeptanz und wurden systematisch unterlaufen. 1998 wurden schließlich private Vermittlungseinrichtungen zugelassen. Auch in Deutschland beanspruchte die BA das Vermittlungsmonopol, hatte aber faktisch am Zustandekommen von Arbeitsverträgen nur einen minimalen Anteil. Eine Liberalisierung der Arbeitsvermittlung wurde hier bereits 1994 von der damaligen CDU/CSU-FDPRegierungskoalition beschlossen. Will man die organisatorischen Varianten der Arbeitsverwaltung erklären, so reichen funktionale Erklärungsmodelle, die etwa auf die spezifische Finanzierungsstruktur der Arbeitsmarktleistungen oder auf die organisatorischen Anforderungen der Aufgaben rekurrieren, nicht aus. Die Arbeitslosenkassen in Ländern mit dem Genter Modell sind private Organisationen, die aber stark steuerlich subventioniert und mit öffentlichen Aufgaben betraut sind. In Großbritannien gibt es im Unterschied dazu in der steuerfinanzierten Arbeitsverwaltung einen Wechsel von einer staatlichen hin zu einer korporatistischen und wieder zurück zu einer staatlichen Verwaltung. In Deutschland wiederum lässt sich trotz steigenden Anteils an Steuerfinanzierung eine Kontinuität der tripartistischen Selbstverwaltung beobachten. Der Vergleich der verschiedenen organisatorischen Varianten der Arbeitsverwaltung zeigt, dass die Verwaltungsstrukturen in der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nicht Ergebnis funktionaler Überlegungen, sondern vielmehr Gegenstand machtpolitischer Auseinandersetzungen sind.
212 3
Tanja Klenk Entwicklung der Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland
3.1 Das AVAVG von 1952: bi-paritätische oder drittelparitätische Selbstverwaltung? Das ‚Gesetz zur Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung’ (AVAVG) gehörte zu den umstrittensten Gesetzen der Anfangsjahre der Bundesrepublik. Zwar bestand zwischen den Arbeitsmarktakteuren Konsens darüber, dass wie in der Weimarer Republik die Arbeitsverwaltung von einem teilautonomen Träger unter Beteiligung der Tarifverbände durchgeführt werden sollte. Umstritten war aber die Reichweite des Einflusses staatlicher Akteure in der zukünftigen Arbeitsverwaltung (Hockerts 1980: 155-160). Die Tarifparteien hatten sich in ihren ‚Hattenheimer Grundsätzen’ von 1950 bereits auf eine bi-paritätische Selbstverwaltung ohne staatliche Beteiligung verständigt. Der Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums knüpfte demgegenüber an die Strukturen der ehemaligen Reichsanstalt der Weimarer Republik an und sah eine drittelparitätische Gremienstruktur auf allen Verwaltungsebenen vor. Lediglich in Fragen der aus Beiträgen finanzierten Arbeitslosenversicherung sollten die Vertreter der öffentlichen Körperschaften kein Stimmrecht haben. Von Seiten der Tarifparteien wurde dieses als ‚unecht’ bezeichnete Selbstverwaltungsmodell strikt abgelehnt (Henkelmann 1950: 172). Strittig war darüber hinaus die im Gesetzentwurf vorgesehene Bestellung der leitenden Beamten durch den Bundespräsidenten. Bei beiden Forderungen konnten sich die Sozialpartner jedoch mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen. Im Errichtungsgesetz von 1952 wurden sowohl die durchgängige drittelparitätische Leitungsstruktur wie auch die Bestellung der leitenden Beamten durch staatliche Instanzen verankert (Wübbels 1982: 32); beides blieb bis heute so erhalten.
3.2 Die Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung als Säule der korporatistischen Interessenvermittlung Die BA entwickelte sich in den Folgejahren zum Kern des bundesdeutschen Korporatismus (Schmidt 2003) – ungeachtet der Interessenkonflikte zwischen Staat und Verbänden beim Errichtungsgesetz und vor allem ungeachtet der Tatsache, dass die Möglichkeiten zur staatlichen Intervention beständig ausgeweitet wurden. Bereits die AVAVG-Novelle von 1957 definierte über 60 leistungsrechtliche Regelungen, über deren Ausgestaltung ab nun teils der Bundesminister, teils die Bundesregierung auf dem Wege der Rechtsverordnung entscheiden konnte (Kuck 1957). Anlass für die Ausweitung der staatlichen Interventionsmöglichkeiten waren erste Strukturkrisen im Bergbau und in der Bauwirtschaft. Im Vergleich zum Errichtungsgesetz wurde die AVAVG-Novelle wenig kontrovers diskutiert. Die Verwendung der Mittel der BA zur Lösung von betrieblichen Problemen und zur sozialverträglichen Gestaltung des wirtschaftlichen Strukturwandels lag auch im Interesse der Tarifparteien und führte angesichts eines insgesamt positiven Wirtschaftsklimas nicht zu unüberbrückbaren Konflikten zwischen den VertreterInnen der verschiedenen Wirtschaftszweige bzw. der verschiedenen Arbeitsnehmergruppen (Trampusch 2002). Zu einer größeren, öffentlichkeitswirksamen Debatte um die Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung kam es erst wieder Mitte der 1960er Jahre. Zwei Ereignisse gaben hierzu
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
213
Anlass: Zum einen die Forderung des damaligen Präsidenten der BA – Anton Sabel –, die organisationspolitischen Kompetenzen der BA auf zentraler Ebene bei Präsident, Vorstand und Verwaltungsrat zu konzentrieren (Sabel 1967), zum anderen die Überlegung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die BA in ein Bundesamt für Beschäftigung und Strukturpolitik umzubauen (Sachverständigenrat 1966: 57). In beiden Fällen führte die Kritik von außen zur Einigkeit im Inneren und bestehende organisationsinterne Konfliktlinien zwischen den Tarifparteien wurden sekundär. Sowohl der DGB wie auch die BDA wandten sich gleichermaßen gegen Sabels Vorschlag der Herabstufung der Verwaltungsausschüsse zu bloß beratenden Gremien (Wübbels 1984: 36-37) wie auch gegen die „revolutionäre Umgestaltung“ (Weber 1967: 73) der BA in ein Bundesamt. Letzteres wäre faktisch einer Abschaffung der Selbstverwaltung gleichgekommen und stieß auf die geschlossene Opposition der ehren- und hauptamtlichen Selbstverwaltung. Statt ‚revolutionärer’ wurden 1969 schließlich ‚zweckmäßige’ Maßnahmen zur Reform der Selbstverwaltung implementiert (Deutscher Bundestag 1967: 59). Aufgrund von Veränderungen im Arbeitskräfteangebot einerseits – Rückgang des deutschen Arbeitskräftepotenzials, deutliche Steigerung des Anteils ausländischer Arbeitskräfte –, und technischem und wirtschaftlichem Strukturwandel andererseits hatte sich die arbeitsmarkpolitische Situation Mitte der 1960er Jahre grundlegend verändert (Blankenburg/Krautkrämer 1977: 1; Schmuhl 2003: 450). Mit dem AFG von 1969 wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium an die veränderte Situation angepasst: Nicht mehr der Versicherungsgedanke sollte vorherrschend sein, sondern die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Die im AFG enthaltenen Selbstverwaltungsreformen lassen das Leitbild eines interventionistischen Staats deutlich werden, der sich nicht auf die Rechtsaufsicht beschränkt, sondern auch die Arbeitsverwaltung inhaltlich mitgestalten will. Die Vertreter der öffentlichen Körperschaften erhielten nun auch in Fragen der Arbeitslosenversicherung volles Stimmrecht (§ 192 AFG). Zudem wurden u. a. die Möglichkeiten des Verwaltungsrates, auf dem Wege der Anordnung die Ausführung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zu bestimmen, zugunsten des Arbeitsministeriums eingeschränkt. Der Bundesarbeitsminister erhielt darüber hinaus das Recht, bei Fragen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (§ 6 AFG), der Auslandsvermittlung (§ 18 AFG) und der Arbeitserlaubnis von Ausländern (§19 AFG) Weisungen zu erlassen, und auch bei der Vermögensverwaltung wurden die Rechte der Selbstverwaltung begrenzt.
3.3 Die korporatistische Arbeitsverwaltung im ‚nach-goldenen’ Zeitalter staatlicher Wohlfahrtspolitik Die wirtschaftlichen Bedingungen, auf die das Instrumentarium des AFG abgestimmt war, waren nur von kurzer Dauer: Bereits Mitte der 1970er Jahre endete das ‚goldene Zeitalter’ staatlicher Wohlfahrtspolitik. Die Notwendigkeit zur andauernden Krisenpolitik ließ den Konsens zwischen den Arbeitsmarktakteuren, den wirtschaftlichen Strukturwandel vor allem durch die Indienstnahme der Sozialversicherung zu bewältigen, mehr und mehr brüchig werden. Die gestiegene Konfliktintensität in der Arbeitsverwaltung im Verlauf der 1980er Jahre, die sich z. B. an der Frage der Höhe der Lohnnebenkosten manifestierte, wurde durch den Mauerfall und der von allen Arbeitsmarktakteuren einvernehmlich getroffenen Entscheidung, die deutsche Einheit mit den finanziellen Mitteln der BA zu finanzie-
214
Tanja Klenk
ren, zunächst überdeckt. Sie trat dann aber 1992 vor dem Hintergrund der immer weiter steigenden Kosten für Arbeitsbeschaffung (ABM) und Fortbildung und Umschulung (FuU) in den neuen Bundesländern mit aller Macht zu Tage. Konflikte über die adäquate arbeitsmarktpolitische Strategie gab es sowohl zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zwischen den Sozialpartnern und der öffentlichen Bank, aber auch innerhalb der öffentlichen Bank zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Um die immensen Kosten für die ABMund FuU-Maßnahmen zu finanzieren, setzte die hauptamtliche Selbstverwaltung der BA (mit Unterstützung der ehrenamtlichen Gremien) strategisch auf die Defizithaftung des Bundes und überzog den Haushalt. Diese Strategie hatte allerdings einen von den Selbstverwaltungsgremien nicht intendierten Nebeneffekt: Auf Druck des Bundesfinanzministeriums wurde 1993 das Haushaltsrecht der BA verändert. Der Bund erhielt das Recht, den Haushalt der BA auch gegen das Votum der Selbstverwaltungsorgane in Kraft zu setzen und machte von diesem Recht noch im selben Jahr Gebrauch (Schmuhl 2003: 577-578). Mit dem AFG-Reformgesetz von 1998 (AFRG) wurde knapp 30 Jahre nach Verabschiedung des AFG erneut eine Kurskorrektur in der Arbeitsmarktpolitik vollzogen: Statt umfassender Bildung wurden nun die Aktivierung der LeistungsbezieherInnen und die Effizienz der Implementation betont. Der Übergang von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik kam auch in (Selbst-)Verwaltungsreformen zum Ausdruck. Um die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik institutionell zu verankern, sollten nach den Vorstellungen der CDU/FDP-Regierungskoalition diejenigen Institutionen gestärkt werden, die am dichtesten an den ‚Betroffenen’, d. h. den Unternehmen und den (potentiell) Arbeitslosen, sind und mit diesen in direktem Austausch stehen: die lokalen Arbeitsämter. Eine Stärkung der dezentralen Dienststellen traf auch auf die Zustimmung der Sozialpartner, hatten diese doch mit ihren jeweiligen Fort- und Weiterbildungseinrichtungen auf der lokalen Ebene ganz eigene Interessen. Vorstand und Verwaltungsrat der BA forderten aber darüber hinaus auch eine Stärkung der mittleren und oberen Instanzen der Selbstverwaltung. Insbesondere die Möglichkeiten des Arbeitsministeriums, durch Ersatzvornahmen die Organisationspolitik der Bundesanstalt zu bestimmen und den Haushalt der Bundesanstalt gegen das Votum ihrer Gremien in Kraft zu setzen, sollten aufgehoben werden (vgl. Thesen zur Arbeitsmarktpolitik und Anliegen der Arbeitsgruppe AFG-Reform, abgedruckt in Kress 1996, D 15 und 16). Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition hingegen sah genau im Gegenteil eine weitere Ausdehnung der Interventionsmöglichkeiten des Arbeitsministeriums vor (Deutscher Bundestag 1996: 150). Im Ergebnis wurde mit dem AFRG von 1998 den örtlichen Arbeitsämtern mehr Entscheidungsfreiheit bei der Vergabe und Konzeption von Förderungsmöglichkeiten eingeräumt, die Stellung der oberen und mittleren Selbstverwaltungsinstanzen hingegen blieben weitgehend unverändert (für Details des Gesetzgebungsprozesses vgl. Trampusch 2000: 356-370).
3.4 Erosion der korporatistischen Arbeitsverwaltung Die Hartz-Reformen ab 2002 werden als ein Pfadwechsel in der deutschen Arbeitsmarkpolitik bewertet (vgl. z.B. den Beitrag von Knuth in diesem Band). Dies gilt auch für die korporatistische Selbstverwaltung. Zwar wurden die Vorschläge der Hartz-Kommission, die ein Aufsichtsrats-Modell auf zentraler und ein Beirats-Modell auf lokaler Ebene vorsahen (Bericht der Kommission 2002: 31), nicht „1 : 1“ umgesetzt. Aber sowohl die unmittelbar
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
215
nach Bekanntwerden des vom Bundesrechnungshof aufgedeckten ‚Vermittlungsskandals’ eingeleiteten ‚Sofortmaßnahmen’, und noch viel mehr die folgenden Hartz-Gesetze brachten strukturelle Veränderungen der Selbstverwaltung der BA mit sich. Auf der zentralen Ebene der BA (ab nun: Bundesagentur)6 wurde die bisherige dreistufige Leitungsstruktur der Bundesanstalt (Präsident, Vorstand, Verwaltungsrat) abgeschafft. Die Bundesagentur wird seitdem von einem hauptamtlichen Vorstand und einem ehrenamtlichen Verwaltungsrat geleitet. Der neue dreiköpfige Vorstand, dessen Mitglieder auf Zeit von der Bundesregierung berufen werden, hat die Aufgaben des ehemaligen Vorstands sowie des Präsidenten übernommen. Aufgabe des Verwaltungsrats, des einzigen noch verbleibenden Selbstverwaltungsorgans auf zentraler Ebene, ist die Beratung und Kontrolle der Tätigkeit des Vorstands (§§ 371 und 381 SGB III). Die Mitgliederzahl des Verwaltungsrats wurde zudem von 51 auf 21 verringert. Nicht nur quantitativ durch den Wegfall eines Selbstverwaltungsorgans und die reduzierte Zahl der Selbstverwaltungsakteure, auch qualitativ wurden die Selbstverwaltungsrechte verändert. Zwar wurden die Informationsrechte des Verwaltungsrats erweitert, die Exekutivfunktion hingegen erneut beschnitten: Die Bundesregierung hat nun das Letztentscheidungsrecht bei der Benennung der Vorstandsmitglieder und auch die Entlassung von Vorstandsmitgliedern kann nur mit Zustimmung der Bundesregierung erreicht werden. Der Vorstand ist daher mehr von der Bundesregierung als vom Verwaltungsrat abhängig und dies macht den Verwaltungsrat in der Tendenz zu einem schwächeren Kontrollgremium als vergleichbare Gremien in anderen Sozialversicherungsträgern oder im Vergleich zum Aufsichtsrat privater Unternehmen. Veränderungen gab es auch bei den Selbstverwaltungsorganen auf der regionalen und lokalen Ebene: Die Verwaltungsausschüsse auf regionaler Ebene – die Dienststellen dort wurden in Regionaldirektionen umbenannt – wurden gänzlich abgeschafft. Bei den Verwaltungsausschüssen auf lokaler Ebene wurden die erst mit der AFG-Novelle von 1996 ausgeweiteten Budget-Kompetenzen wieder relativiert. Es sind aber nicht das veränderte Verhältnis von Vorstand und Verwaltungsrat oder die neuen Regeln zur Bestellung der Organe, die den Strukturbruch bewirken. Zur Abkehr vom tradierten Steuerungsmodell kommt es vielmehr durch die Einführung des SGB II – obgleich dieses keine Regelungen enthält, die die Selbstverwaltungsstrukturen der Bundesagentur unmittelbar betreffen. Durch die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II, die Aufteilung der EmpfängerInnen arbeitsmarktpolitischer Leistungen auf zwei unterschiedliche Regelkreise (SGB III und SGB II) und ihre Zuordnung zu unterschiedlichen Institutionen (zur Bundesagentur für Arbeit oder zu den Argen bzw. Optionskommunen) hat sich jedoch die Struktur der Interessenvermittlung in der Arbeitsverwaltung grundlegend verändert. Die BA setzt das mit dem vierten Hartz-Gesetz eingeführte steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II als Auftragsangelegenheit des Bundes um und handelt dabei ohne Selbstverwaltung. Die Leistungen nach Hartz IV werden in den meisten Fällen7 in geteilter Aufga6 In Bezug auf das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesagentur wurde das bisherige Weisungsverhältnis durch ein Agency-Modell ersetzt, was durch die Umbenennung der Bundesanstalt in Bundesagentur symbolisch unterstrichen wurde (vgl. zur Struktur und zu den Effekten dieser Reformmaßnahme den Beitrag von Holger Schütz in diesem Band). 7 Mit Ausnahme der 69 Optionskommunen, in denen Kommunen im Rahmen einer Experimentierklausel nach § 6a SGB II die Gewährung des Arbeitslosengeldes II in eigener Zuständigkeit verwalten, und der Landkreise und der kreisfreien Städte, in denen die Aufgaben nach dem SGB II getrennt wahrgenommen werden.
216
Tanja Klenk
benwahrnehmung von der BA und den Kommunen verwaltet, die hierfür privat-rechtliche oder öffentlich-rechtliche Verträge abschließen und Arbeitsgemeinschaften (Argen) gründen. Die Gestaltung der Leitungsstrukturen der Arbeitsgemeinschaften lässt das SGB II offen. Vorgeschrieben ist lediglich, dass die jeweilige Agentur für Arbeit mit der Kommune einen Geschäftsführer für die Verwaltungsführung der Träger der SGB II-Leistungen bestimmt (§ 44b SGB II). Anders als bei den Trägern des SGB III sieht das SGB II keine institutionell abgesicherte Beteiligung von Interessenverbänden vor. Es sollen die Besonderheiten der beteiligten Träger, des regionalen Arbeitsmarktes und der regionalen Wirtschaftsstruktur berücksichtigt werden (§ 44b, 1 SGB II). Ob aber eine Trägerversammlung oder weitere Gremien gebildet werden und eine weitergehende Einbindung von Interessenverbänden angestrebt wird, obliegt den Entscheidungen der beiden Trägerinstitutionen. Seit der Einführung des ALG II werden die Leistungen eines Großteil der erwerbsfähigen Maßnahmenempfänger – politisch gewollt – außerhalb der korporatistischen Arbeitsverwaltung verwaltet. Zwar wurden in den meisten Fällen Beiräte gebildet (Deutscher Bundestag 2008: 52), in denen auch die Sozialpartner vertreten sind. Durch die (Teil)Kommunalisierung der Arbeitsverwaltung wuchs aber die Bedeutung der Wohlfahrtsverbände in diesem System, die als Träger von Arbeitsförderungsmaßnahmen nun ebenso wie die Sozialpartner in die fakultativen Beiräte der SGB-II-Träger berufen werden. Innerhalb der Selbstverwaltung gab es zu der Neuordnung der Arbeitsverwaltung unterschiedliche Positionen: Insbesondere von Seiten der Arbeitgebervertreter wurde die Nicht-Verantwortung der Sozialpartner für die Hartz IV-Leistungen angesichts der Steuerfinanzierung als ‚logisch richtig’ bewertet und zunächst nicht problematisiert, brachte diese Regelung doch auch den vermeintlichen Vorteil, in der breiten Öffentlichkeit für das sehr kontrovers diskutierte neue Fürsorgesystem keine Verantwortung tragen zu müssen. Rasch wurden aber die Schwierigkeiten einer solchen Position deutlich: In der öffentlichen Diskussion wird bei der Zuschreibung von Verantwortlichkeiten nicht systematisch zwischen den verschiedenen Finanzierungsarten der Leistungen nach SGB II und SGB III unterschieden und auch die Sozialpartner mussten sich in der Öffentlichkeit zum neuen SGB IISystem positionieren. Darüber hinaus hat das SGB II – trotz der getrennten Regelkreise – direkte Auswirkungen auf die originäre Arbeit der Selbstverwaltungsgremien im SGB IIISystem. In der Praxis gibt es zwischen den beiden Regelkreisen zahlreiche Schnittstellen: Sollen beispielsweise BezieherInnen des zwölfmonatigen Arbeitslosengeldes an zweijährigen Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen können, wenn sich inmitten der Maßnahme die organisatorische Zuständigkeit für den MaßnahmenempfängerInnen verändert? Wer entscheidet über die Regelung solcher Fälle – die BA oder die Argen? Schnittstellen zwischen den beiden Regelkreisen ergeben sich auch bei den sogenannten ‚Aufstockern’, dies sind Arbeitslosengeld I-Bezieher, deren Leistungen unter den Regelleistungen der Grundsicherung liegen und die daher Anspruch auf eine Aufstockung bis zu den im SGB II definierten Regelleistungen und zugleich Anspruch auf aktive Arbeitsförderung oder Eingliederungsleistungen nach dem SGB III haben. Der Verwaltungsrat der BA trat daher dafür ein, auch über Entscheidungen, die das SGB II betreffen, informiert und miteinbezogen zu werden. Er ging hier in Konflikt mit dem Vorstand und setzte durch, dass die Selbstverwaltungsorgane die hauptamtlichen Leitungskräfte auch im Hinblick auf die Auswirkungen von übertragenen Aufgaben auf den selbstverwalteten Bereich beraten und überwachen (Satzung der BA, Kapitel 1, Artikel 2,2; vgl. auch Adamy 2006: 183).
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III 4
217
Resümee: Kontinuität und Wandel
Will man ein Resümee der Entwicklung der Selbstverwaltungsstrukturen in der deutschen Arbeitsverwaltung ziehen, so lassen sich drei Aspekte benennen: Die Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung ist eine Säule der korporatistischen Interessenvermittlung in Deutschland, deren konkrete Ausprägung sich seit der Wiedererrichtung der Bundesanstalt nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1952 mehrfach verändert hat. Über den Zeitverlauf lässt sich ein Bedeutungsverlust der Selbstverwaltungsorgane (insbesondere der auf zentraler Ebene) zugunsten einer stärkeren Einflussnahme der Institutionen des Bundes konstatieren. Durch Veränderungen im Organisationsrecht der Bundesagentur, die vor allem das Budgetrecht und das Recht zur untergesetzlichen Normsetzung betreffen, erfährt der anstaltliche Charakter der Selbstverwaltung in der Arbeitslosenversicherung im Zeitverlauf eine deutliche Verstärkung. Die Selbstverwaltungsreformen verändern die konkrete Ausprägung des Selbstverwaltungsmodells der BA, sie stellen aber die tripartistische Verwaltung der BA nicht grundsätzlich in Frage. Gleichwohl ist es durch die Einführung von Hartz IV zu einem Bruch mit dem tradierten Selbstverwaltungsmodell gekommen: Die Verwaltung der Leistungen eines Großteils der erwerbsfähigen LeistungsempfängerInnen wird nun außerhalb der verbandlich gesteuerten Arbeitsverwaltung wahrgenommen. Die jüngsten Arbeitsmarktreformen haben das Verhältnis zwischen den Interessenverbänden, insbesondere zwischen den Gewerkschaften und den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, neu justiert. War die Arbeitsmarktverwaltung bislang die Domäne der Tarifparteien, so haben durch die Einführung von Arbeitslosengeld II die Wohlfahrtsverbände als Träger der Maßnahmen der Arbeitsförderungen ein stärkeres Gewicht in der Repräsentation der Interessen erwerbsfähiger Arbeitslosen erhalten und stellen hier das Repräsentationsmonopol der Gewerkschaften in Frage (vgl. auch Trampusch 2006). Ob aber die Gewerkschaften die Empfänger von Leistungen nach Hartz IV langfristig überhaupt als ihr originäres Klientel betrachten und ob es hier daher tatsächlich zu einem Wettbewerb zwischen den Interessenverbänden kommen wird, ist gegenwärtig noch offen. Vorstellbar ist auch, dass es dauerhaft zu einem Nebeneinander von einem korporatistisch gesteuerten Versicherungsbereich und einem nicht-korporatistisch gesteuerten Fürsorgesystem kommt. Plausibel erscheint dieses Szenario aufgrund der zunehmend begrenzten (personellen und finanziellen) Ressourcenausstattung der Gewerkschaften, die bereits zu einer innergewerkschaftlichen Diskussion über die zentralen gewerkschaftlichen Handlungsfelder geführt hat und die eine Konzentration der gewerkschaftlichen Strategien erforderlich erscheinen lässt (vgl. Schröder in diesem Band). Plausibel erscheint dieses Szenario aber auch aufgrund bestehender Interessengegensätze zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen in Zeiten mit einer prekären Arbeitsmarktsituation. Während für ‚Arbeitsmarktoutsider’ eine integrationsorientierte Arbeitsmarktpolitik von Vorteil wäre, ist für ‚Arbeitsmarktinsider’, dem originären Klientel der Gewerkschaften, eine statuserhaltende Arbeitsmarktpolitik von Relevanz. Ihre Interessen und die ihrer Repräsentanten sind daher in erster Linie auf den Schutz der bestehenden Arbeitsplätze und der bestehenden Beschäftigungsbedingungen ausgerichtet, in dem beispielsweise durch Frühverrentungsprogramme das Arbeitskräfteangebot sozialverträglich verknappt wird oder indem durch ein vergleichsweise rigides Kündigungsrecht der rechtliche Schutz
218
Tanja Klenk
des Arbeitsplatzes erhalten bleibt – auch wenn sich dadurch die Wiedereintrittsbarrieren für Outsider erhöhen. Die Trennung der Arbeitsverwaltung in einen korporatistisch gesteuerten Versicherungsbereich und in einen nicht-korporatistisch gesteuerten Fürsorgebereich fördert die wohlbekannten Probleme korporatistischer Arrangements: Entscheidungen zu Lasten dritter, nur schwach organisierter Interessen. Was fehlt, ist ein Partizipationsgremium, in dem Fragen der Verwaltung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums von einem übergeordneten, gesamtgesellschaftlichen Standpunkt unter Einschluss aller betroffenen Interessen, d.h. insbesondere auch der VertreterInnen der Arbeitslosen, behandelt werden.
Literatur Adamy, W. (2006): Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der Arbeitslosenversicherung? In: VSSR 2006: 175-189. Blankenburg, E./ Krautkrämer, U. (1977): Die Handlungsspielräume der Arbeitsverwaltung, Internationales Institut für Management und Verwaltung, Wissenschaftszentrum Berlin, discussion papers. Braun, B. /Klenk, T. / Kluth, W. / Nullmeier, F. / Welti, F. (2008): Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen, Baden-Baden: Nomos. Deutscher Bundestag (1967): Entwurf eines Arbeitsförderungsgesetzes, Bundestagsdrucksache V/2291 vom 16.11.1967. Deutscher Bundestag (1969): Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 5. Wahlperiode, stenographische Berichte, Band 70. Deutscher Bundestag (1996): Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung. Arbeitsförderungsreformgesetz. AFRG. Bundestagsdrucksache 13/4941 vom 18.6.1996. Deutscher Bundestag (2004): Antrag zur Neuordnung der Bundesagentur für Arbeit durch Auflösung. Drucksache 15/2421 vom 28.01.2004. Deutscher Bundestag (2008): Bericht zur Evaluation der Experimentierklausel nach § 6c des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/11488 vom 18. 12. 2008. Glisman, H. H./ Schrader, K. (2001): Optionen einer effizienten Gestaltung der Arbeitslosenversicherung. Kieler Arbeitspapiere, 1052, Institut für Weltwirtschaft, Kiel. Hartz, P. et al. (2002): Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Berlin: Bericht der Kommission vom 16. August 2002. Henkelmann, W. (1950): Die Selbstverwaltung in der Arbeitsverwaltung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1 (4): 170-172. Henning, H. (1974): Arbeitslosenversicherung vor 1914: Das Genter System und seine Übernahme in Deutschland, in: Kellenbenz, H. (Hrsg.): Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt, Wien: Verlag für Geschichte und Politik, S. 271-287. Hockerts, H. G. (1980): Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland: Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945-1957, Stuttgart: Klett-Cotta. Ipsen, J. (2000): Hochschulen als Stiftungen des öffentlichen Rechts? NdsVBl 7 (10), S. 240-244. Knuth, M. /Finn, D. (2004): Hartz oder Harrods? Reformen der Arbeitsförderung im Vereinigten Königreich, in: IAT-Report Nr. 4. Kress, U. (1996): Informationsmappe AFG-Reform. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit. Kuck, K. H. (1957): Aufgaben der Selbstverwaltung nach der Novelle zum AVAVG, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe – Das Arbeitsamt 8 (4): 86-90. Leonardi, S. (2006): Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat: Das Gent-System, in: WSI Mitteilungen 59 (2): 79-85.
Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
219
Marx, S. / Schmachtenberg, R. (2002): Reform der Arbeitsverwaltung. Mehr Wettbewerb und moderne Leitungsstrukturen, in: Bundesarbeitsblatt 4: 5-9. Sabel, A. (1967): Selbstverwaltung und Bundesanstalt für AV und AV. Grundsatzentscheidungen können nur zentral getroffen werden, in: Der Arbeitgeber 19 (15/16): 440-441. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1966): Expansion und Stabilität. Jahresgutachten 1966/67, Stuttgart: Kohlhammer. Schmidt, M. G. (2003): Bundesanstalt für Arbeit, in: Andersen, U. /Woyke, W. (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Leske & Budrich, 4950. Schmuhl, H.-W. (2003): Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit. Trampusch, .C. (2000): Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Ein Vergleich der Entstehung und Transformation der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden zwischen 1909 und 1999. Göttingen: Georg-August-Universität. Trampusch, C. (2002): Die Bundesanstalt für Arbeit und das Zusammenwirken von Staat und Verbänden in der Arbeitsmarktpolitik, MPIfG Working Paper 02/5. Trampusch, C (2006): Status Quo Vadis? Die Pluralisierung und Liberalisierung der „Social-Politik“, in: Zeitschrift für Sozialreform 52 (3): 299-323. Weber, R. (1967): Gedanken zu einer Novellierung des AVAVG, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe – Das Arbeitsamt 18 (4): 73-77. Wolff, H. J./ Bachof, O./ Stober, R. (2004): Verwaltungsrecht, Band 3. München: C.H.Beck. Wübbels, M. (1984): Zum Verhältnis von Interessengruppen und Selbstverwaltung: Eine Analyse am Beispiel der Bundesanstalt für Arbeit, Düsseldorf 1984.
220
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
1
Einleitung
Seit den Anfängen der tripartistischen Arbeitsmarktpolitik im Jahre 1927 prägen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Strukturen und Inhalte der staatlichen Arbeitsmarktpolitik in Deutschland mit. Sie üben nicht nur einen indirekten Einfluss auf die Politikformulierung in den Parteien, Ministerien und auf die Entscheidungsbildung in Regierung und Parlament aus, sondern sie verfügen auch über einen direkten Einfluss durch die Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit. Hinzu kommt ihre Rolle bei der Umsetzung von Gesetzen, vor allem in arbeitsmarktpolitischen Politiknetzwerken sowie als Träger von Beschäftigungsgesellschaften und berufsbildenden Qualifizierungs- und Weiterbildungsinstitutionen. Die bedeutende Rolle der deutschen Sozialpartner in der Arbeitsmarktpolitik hat historische und funktionale Ursachen. Historisch hat sich die deutsche Arbeitsmarktpolitik aus kommunalen und verbandlichen Initiativen entwickelt, die bereits im 19. Jahrhundert entstanden sind. Sowohl die Gewerkschaften wie auch die Arbeitgeberverbände bauten im 19. Jahrhundert eigenständige Institutionen der Arbeitsnachweise auf, die über einen längeren Zeitraum für jeden der beiden Verbände eine wichtige organisationspolitische Rolle einnahmen (Schmuhl 2003). Aufgrund der starken Stellung der Kommunen, Verbände aber auch der Länder war es deshalb für den Zentralstaat äußerst schwierig, eine ganz Deutschland erfassende Arbeitsmarktpolitik zu entwickeln. Die vorwiegend lokalen Arbeitspolitiken wurden erst nach einem 8 jährigen Verhandlungspoker - zwischen 1919 und 1927 zentralisiert und in das korporatistische deutsche Sozialversicherungssystem integriert. Diese 1927 entstandene Konfiguration hat sich trotz vieler politischer Krisen und vielfältiger politischer Kurswechsel institutionell kaum verändert. Funktional betrachtet haben sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als bürokratisch-professionelle Einheiten, die als überbetriebliche Akteure des institutionalisierten Klassenkampfes wirken, im Sinne der industriellen Demokratie etabliert. Gewerkschaften sind berufs- und unternehmensübergreifende Branchen- und Massenorganisationen; die Arbeitgeberverbände können als unternehmensübergreifende bürokratisch-professionalisierte Honoratiorenorganisationen charakterisiert werden. Auf dieser Basis waren sie zugleich prädestiniert, um als wesentliche Träger des Selbstverwaltungskorporatismus zu wirken, der zugleich dazu beitrug, den institutionalisierten Klassenkampf zu strukturieren, zu kanalisieren und zu dämpfen. Somit kann man die Entwicklung der deutschen Form der tarifpolitischen Sozialpartnerschaft und des Selbstverwaltungskorporatismus als zwei Seiten einer Medaille betrachten: Einerseits ist die Institution der Selbstverwaltung bei den großen kollektiven Versicherungssystemen ein historisches Resultat obrigkeitsstaatlicher Integrationspolitik, die auf diese Weise eine friedliche Regulierung des Großkonfliktes zwischen Arbeit und Kapital zu befördern versuchte. Andererseits drückt sich darin die mitbestimmungs-, also beteiligungsorientierte
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
221
Dimension des deutschen Modells aus, die im 19. Jahrhundert wurzelt und auf zentralstaatlicher Ebene durch das Hilfsdienstgesetz (1916) und die Zentralarbeitsgemeinschaft (191923) erstmals praktiziert wurden. Die unterschiedlichen Formen der Mitbestimmung wurden als Garanten für sozialen Ausgleich und Interessenpartizipation verstanden, was zugleich ein besonderes Merkmal des so genannten rheinischen Kapitalismus ist (Streeck 1999). In diesem Sinne deutet Matthias von Wulffen, der ehemalige Präsident des Bundessozialgerichtes, die Funktion der Selbstverwaltung: „In der sozialen Selbstverwaltung dokumentiert sich handgreiflich das den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland zu Grunde liegende Prinzip des solidarischen Ausgleichs. Soziale Selbstverwaltung ist gleichsam gelebte Sozialpartnerschaft. Die durch sie ermöglichte Partizipation der Betroffenen dient der Legitimation ihrer zwangsweisen Einbeziehung in ein System des solidarischen Ausgleichs und führt zu einer verstärkten Form ihrer Integration und Identifikation“ (Wullfen 2005; vgl. auch Kremer/ Bothfeld in diesem Band). Das Prinzip der Selbstverwaltung charakterisiert die Bundesagentur als eine Institution zwischen Markt und Staat. Im weiteren Sinne können die parafiskalischen Institutionen der Sozialversicherung als Teil des Dritten Sektors (vgl. Zimmer/ Priller 2000) verstanden werden. Die Einflussstärke von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden basiert auf deren Organisationskraft, ihrer Konfliktfähigkeit und ihren institutionellen Rechten. Insofern lässt sich durch die Pfadabhängigkeitsthese und Machtressourcentheorie (vgl. Schmidt 2007) die langfristige und relativ stabile korporatistische Einbindung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in die Arbeitsmarktpolitik verstehen. Zugleich ist aber auch zu berücksichtigen, dass in Phasen des Wandels und der Reform das Verhältnis zwischen beiden Akteuren sowie gegenüber dem Staat jeweils neu justiert wird. Dabei ging es meist um zwei Aspekte: a) Wie ist das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbänden hinsichtlich der Fähigkeit, die je eigenen Interessen durchzusetzen? und b) Inwieweit können die Sozialpartner den Einfluss des Staates in der Arbeitsmarktpolitik verringern? Diese Begrenzung des Staatseinflusses hat nicht nur den Zweck die eigenen Interessen besser durchzusetzen, sondern dies dient auch dazu, deutlich zu machen, dass ohne staatlichen Einfluss die direkt betroffenen Akteure besser und schneller reagieren können. In diesem Sinne können die Verbände durch ihre Beteiligung ihre eigene sozialpolitische Kompetenz verbessern und die Legitimation des Gesamtprozesses erhöhen. Zugleich hat aber auch der Staat ein Interesse, konflikthafte Aufgaben zu delegieren, um Verantwortung zu teilen. Geschichte und Struktur des Arbeitsmarktkorporatismus werden in diesem Beitrag vor allem aus zwei Perspektiven analysiert: Erstens aus der Sicht der beteiligten Akteure (Binnenperspektive) und zweitens aus der Perspektive sich wandelnder Umwelt- und Akteurskonstellationen (Außenperspektive). Es wird also einerseits die Bedeutung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände anhand der verbandlichen (Macht)ressourcen und -strategien beleuchtet und andererseits die wechselnden Anforderungen sowie die damit einhergehenden Verschiebungen zwischen den Akteuren in der Arbeitsmarktpolitik analysiert. Dazu werden zunächst die beiden Verbände im Hinblick auf die Frage untersucht, inwieweit sich deren Machtressourcen, wie Mitgliederstärke, Organisationsfähigkeit und Verbandsstrukturen, veränderten. Daran schließt sich die Darstellung der Außenbeziehung der Akteure im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik an, wobei wir uns auf drei Phasen konzentrieren: a) Arbeitsmarktpolitik vor 1969, b) aktive Arbeitsmarktpolitik zwischen 1969 und den HARTZ-Reformen einschließlich der Veränderungen im Rahmen
222
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
der deutschen Wiedervereinigung und des Bündnisses für Arbeit sowie c) aktivierende Arbeitsmarktpolitik im Rahmen des Zweiten und Dritten Sozialgesetzbuches (SGB II und SGB III). Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Bedeutung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit: Als erklärende Ansätze werden die historisch gewachsene Pfadabhängigkeit sowie die Machtressourcen herangezogen, um ihre Beteiligung in der Arbeitsmarktpolitik zu erklären (vgl. auch Klenk in diesem Band).
2
Die Sozialpartner in der Arbeitsmarktpolitik
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind ein fester Bestandteil des politischen Prozesses in der Arbeitsmarktpolitik. Dabei hängt das Potenzial der Interessenvertretung von Gewerkschaften und Arbeitgebern stark von deren Organisations- und Konfliktfähigkeit gegenüber politischen und staatlichen Akteuren ab. Die Akteurskonstellationen zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern in der Arbeitsmarktpolitik beruhen damit auch auf den Machtressourcen der beiden Verbände. Daneben sind auch die Pfadabhängigkeiten wesentlich, um die Entwicklungsdynamik der Arbeitsmarktpolitik zu verstehen. Denn in der Arbeitsmarktpolitik hat sich das Kräfteverhältnis der drei Akteure in den letzten 40 Jahren nicht grundsätzlich verändert. Man kann daher von relativ stabilen korporatistischen Bedingungen in der Interessensaushandlung ausgehen. Allerdings stehen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit einigen Jahren vor erheblichen strukturellen Herausforderungen, die durch den ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und demographischen Strukturwandel bedingt sind, und ihre jeweilige Handlungsfähigkeit geschwächt haben. Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen sind die Phänomene der Verbandsvermeidung, der Verbandsflucht, des Mitgliederrückganges, und der Erosion von Loyalitätsmustern zu deuten. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen intern Spannungen zwischen Einfluss- und Mitgliedschaftslogik regulieren. Die Durchsetzungsfähigkeit verbandlicher Interessen in der Arbeitsmarktpolitik hängt von der Kräftesituation der Interessenorganisationen ab, die durch interne Struktur- und Entwicklungsdeterminanten bestimmt wird. Im Folgenden werden die organisatorischen Profile von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden näher beleuchtet. Außerdem wird die Organisations- und Konfliktfähigkeit entlang der Mitgliederstärke und des Organisationsgrades bestimmt.
2.1 Gewerkschaften Die deutschen Gewerkschaften sind demokratische Massenorganisationen, die sich seit 1945 als Einheitsgewerkschaften auf der Ebene von Branchen bzw. Sektoren (föderal gegliedert) nach dem Prinzip „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ organisieren. Dies führt bislang zu einer im internationalen Vergleich geringen zwischengewerkschaftlichen Konkurrenz. Die deutschen Gewerkschaften sind einerseits hoch institutionalisiert, rechtlich gefestigt und ins politische System eingebettet. Andererseits sind sie aber auch in der Lage, zumindest punktuell, als soziale Bewegung zu agieren. Dazu zählt nicht nur eine gesellschaftliche Mobilisierungsfähigkeit während der Tarifrunden, sondern auch eine politische Veto-
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
223
fähigkeit gegen sozial als ungerecht bewertete Regierungsoptionen, ihre Aktionspolitik gegen Rechtsextremismus oder ihr gesellschaftspolitisches Engagement für Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Die deutschen Gewerkschaften sind also sowohl gesamtgesellschaftlich ausgerichtete politische Bewegungen als auch mitgliederorientierte Gestaltungs-, Interessen- und Serviceorganisationen. Im internationalen Vergleich erreichen die deutschen Gewerkschaften traditionell ein mittleres Organisationsniveau (vgl. Ebbinghaus 2003). Der Netto-Organisationsgrad liegt heute für die DGB-Gewerkschaften bei etwa 20%. Für den Gestaltungsanspruch der Gewerkschaften ist eine hohe Mitgliederzahl aus mindestens zwei Gründen existentiell: Erstens, um die finanziellen Ressourcen der Verbände, vom Personal bis zu den Kosten für ihr durchsetzungsorientiertes, konfliktorientiertes Handeln (Streik- und Aussperrungskasse) zu sichern, und um zweitens ihr Quasi-Repräsentationsmonopol auf der Einflussebene zu sichern. Darüber hinaus sind sie darauf angewiesen, dass neben der passiven Folgebereitschaft der Mehrheit auch ein bestimmter Mitgliederanteil aktiv mitarbeitet, um die Verbandsinteressen zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Die Struktur des deutschen Gewerkschaftsmodells zwingt also aus Finanz-, Repräsentations- und Einflussgründen dazu, einen hohen Mitgliederstand zu organisieren. Mittlerweile hat der Organisationsgrad der deutschen Gewerkschaften das geringste Niveau in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht. Auffallend an der gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung ist aber auch, dass sie zyklischen Schwankungen und strukturellen Veränderungen ausgesetzt ist. Seit Anfang der neunziger Jahre ist ein permanenter Rückgang der Mitgliederzahlen festzustellen, dessen Problematik insbesondere darin besteht, dass es den Gewerkschaften nur unzureichend gelungen ist, ihre Mitgliederstruktur an die veränderte Arbeitsmarktstruktur anzupassen. Der abnehmende Organisationsgrad birgt die Gefahr eines zusehenden Machtverlustes der Gewerkschaften in den industriellen Beziehungen und gegenüber staatlichen Institutionen. Externe Einflussfaktoren, wie die Tertiarisierung und damit der Wandel der Beschäftigtenstruktur, abnehmende Milieubindung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder abnehmende Betriebs- und Unternehmensgrößen, sowie interne Entwicklungsfaktoren, wie vertikale Interessenkonflikte zwischen Funktionären und Mitgliedern („ehernes Gesetz der Oligarchie“, Robert Michels) oder horizontale Interessensdifferenzen zwischen verschiedenen Mitgliedergruppen, aber auch das free rider Problem (Olson 2004) begünstigen diesen Abwärtstrend. Die Gewerkschaften reagieren auf diese Entwicklung mit Fusionen der Einzelgewerkschaften, vertreten zunehmend Sonderinteressen (wie z.B. Selbständige und einzelne Berufsgruppen), probieren neue Rekrutierungsstrategien aus (bspw. Organizing) und bauen ihre Serviceleistungen aus. Gleichzeitig entstehen machtvolle Berufsgewerkschaften, die gezielt Partikularinteressen einzelner Professionen „auch in Konkurrenz zu anderen Arbeitnehmergruppen“ durchsetzen und damit den horizontalen Interessenkonflikt verstärken.
224 Abbildung 1:
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz Mitgliederentwicklung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Eigene Darstellung
Die Gewerkschaften verlieren also bereits seit längerer Zeit Machtressourcen, womit auch ihre Konflikt- und Durchsetzungsfähigkeit sinkt. Die wachsende Bedeutung von Öffnungsklauseln, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die stagnierende bis sinkende Reallohnentwicklung in den letzten 10 Jahren zeigen, dass es den Gewerkschaften kaum noch gelingt ihre Funktion als Gestaltungs- und Schutzmacht offensiv wahrzunehmen. Ein zentrales Organisationsproblem der Gewerkschaften besteht dabei darin, dass die Kluft zwischen Mitglieder- und Arbeitsmarktstruktur gewachsen ist. Der Anteil der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt liegt bei etwa 37% und unter den Gewerkschaftsmitgliedern bei 64%. Umgekehrt ist das Verhältnis bei den Angestellten: 57% auf dem Arbeitsmarkt und 27% in den DGB-Gewerkschaften. Während die Gruppe der Frauen, der Angestellten sowie Jugendlichen gemessen an ihrem Arbeitsmarktanteil deutlich unterrepräsentiert sind, verhält sich dies bei den älteren, gewerblichen männlichen Arbeitern umgekehrt. Eine besondere Herausforderung für die Gewerkschaften ist die Vertretung der Interessen von Arbeitslosen (vgl. Bonß/ Heinze 1984; Nikolaus 2000). Sie können Mitglied in der Gewerkschaft werden, zudem gibt es eigene Angebote (Rechtsberatung, Bewerbungstraining, Umgang mit dem Arbeitsamt etc.) und Beteiligungsmöglichkeiten für diese Personengruppe. In einzelnen Gewerkschaften besteht auch die Möglichkeit, in deren Gremien vertreten zu sein und dort aktiv mitzuarbeiten. Dies alles bietet aber noch nicht die Gewähr für eine intensive Vertretung von Interessen der Arbeitslosen, wenngleich es Ausdruck der Einsicht ist, dass auch Gewerkschaften ihren Beitrag leisten wollen, um Arbeitslosen eine Plattform zu geben. Das dies jedoch meist kaum über symbolische Politik hinausgeht, hängt damit zusammen, dass es keine spezifischen Instrumente gibt, die den Gewerkschaften zur Verfügung stehen, um die Anliegen von Arbeitslosen zu vertreten. Sie können zwar in einzelnen Fällen persönliche Hilfen geben und advokatorisch deren Lage und Interessen öffentlich thematisieren. Die eigentliche Interessenarbeit der Gewerkschaften ist jedoch
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
225
präventiv; sie spielt sich in den Feldern der Tarif-, Betriebs- und Industriepolitik sowie der Mitarbeit in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherungen ab. Trotz dieser Aktivitäten lautet eine häufig vorgebrachte Kritik, dass die Gewerkschaften nichts für die Arbeitslosen tun. Manche gehen sogar einen Schritt weiter: Die Gewerkschaften stärken die Position der Insider (Erwerbstätigen) und Schwächen die der Outsider (Arbeitssuchende); indem sie zuwenig für die Lohndifferenzierung tun und zu hohe Sicherungsstandards (Kündigungsschutz etc.) für die Beschäftigten durchgesetzt haben. Ohne eine strategische Perspektive im Umgang mit dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit, laufen die Gewerkschaften Gefahr, dass sie aus der ihnen zugeschriebenen „Sündenbockrolle“ nicht herauskommen können, und die „Neoliberalen“ die Gewerkschaften vor sich her treiben, um die Misere auf dem Arbeitsmarkt und die Schwierigkeiten beim Umbau des Sozialstaates zu erklären. Was können die Gewerkschaften leisten, um die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und für Arbeitslose zu verbessern? Als Vorleistungen, um in einer Allianz mit den anderen Akteuren erfolgreich zu wirken, ist es wichtig, dass die Gewerkschaften sich konzeptionell auf eine Reform der Strukturen der Ausbildungs-, Qualifikationsund Sicherungssysteme einstellen. Dazu gehört, dass sie eine aktivierende individuumzentrierte Arbeitsmarktpolitik und eine Konzeption für leistungsfähige Übergangsarbeitsmärkte favorisieren (vgl. Schmid 2002: 175). Dabei ist zu sehen, dass dies nicht im Widerspruch zu einer aktiven Tarifpolitik steht, sondern erst deren Voraussetzung bildet.
2.2 Arbeitgeberverbände Arbeitgeberverbände gehören zur Gruppe der Unternehmerverbände, die angetreten sind, um kollektives Handeln von wirtschaftlichen Konkurrenten zu organisieren, indem sie versuchen, gemeinsame Interessen gegenüber dem Staat, den Gewerkschaften und der „Wirtschaft“ selbst zu artikulieren, zu repräsentieren und durchzusetzen. Der Dachverband der deutschen Arbeitgeber ist die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die es sich zur satzungsgemäßen Aufgabe für alle Unternehmen gemacht hat „solche gemeinsamen sozialpolitischen Belange zu wahren, … die von grundsätzlicher Bedeutung sind“ (§ 2 der Satzung vom 10. Oktober 1981). Die BDA erkennt das Prinzip der Sozialpartnerschaft an und sieht sich als Träger der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Hauptaufgabe des Dachverbandes ist die Öffentlichkeits-und Lobbyarbeit. Die BDA verfasst dazu Stellungnahmen, Presseveröffentlichungen und Expertisen. Zu diesem Zweck artikuliert sich die BDA auch mit eigenen Grundsatzprogrammen zur sozialen Ordnung. Das war im Jahre 1953 mit dem BDA-Programm „Gedanken zur sozialen Ordnung“ oder im Jahre 1994 mit dem Programm „Sozialstaat vor dem Umbau. Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit sichern“. Traditionell engagieren sich die Arbeitgeberverbände in der Selbstverwaltung der Deutschen Sozialversicherungen, an denen sie durch das Sozialversicherungsgesetz (1952) in der Regel gemeinsam mit den Gewerkschaften beteiligt sind. Seit einigen Jahren versuchen die Arbeitgeber die beitragsbezogenen Sozialversicherungssysteme neu zu justieren. Dabei geht es ihnen um nachhaltig reduzierte Sozialversicherungsbeiträge. Ein grundlegenderes Ziel besteht darin, von einem umlagefinanzierten Sozialversicherungssystem zu einem kapitalgedeckten System zu gelangen. Durch eine Entkopplung von sozialen Leistungs- und Erwerbssystemen, durch geringere Beitragssätze und eine Reduktion der Leis-
226
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
tungskataloge versuchen die Arbeitgeberverbände, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren. Gegenwärtig besteht die BDA aus 56 Bundesfachverbänden, die sich an den wichtigsten Branchen orientieren und 14 Landesvereinigungen gemäß den jeweiligen Landesgrenzen (Berlin und Brandenburg sowie Hamburg und Schleswig-Holstein bilden jeweils eine Landesvereinigung). Außerdem bestehen etwa 500 Facharbeitgeberverbände und ca. 468 regionale Arbeitgeberverbände. Die zehn Ausschüsse der BDA umfassen Themen wie Arbeitsmarktfragen, Arbeitsrecht, Arbeitssicherheit, betriebliche Altersvorsorge, betriebliche Personalpolitik, soziale Sicherung und Sozialpolitik in der Europäischen Union. Mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) arbeitet die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in vier weiteren Ausschüssen zusammen. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde den Arbeitgeberverbänden in der Forschung eine erstaunliche organisatorische Stabilität attestiert. So schrieb der Politikwissenschaftler von Alemann noch 1985, dass Wandlungstendenzen hinsichtlich der Organisationsform kaum zu beobachten seien (von Alemann 1985: 7), Weber konstatierte 1987, dass die Arbeitgeberverbände für den größten und bedeutendsten Teil der Firmen ebenso unersetzbar wie unverzichtbar sind (Weber 1987). Beide Aussagen sind heute nicht mehr aufrecht zu halten. Die Zunahme von Tarif- und Verbandsflucht, die Bildung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung und das Engagement für normative und organisatorische Alternativen können als Belege für Desorganisationsprozesse in den Arbeitgeberverbänden gewertet werden (Schroeder 1997). Ein wichtiger Indikator, um den arbeitsmarktpolitischen Einfluss von Arbeitgeberverbänden bewerten zu können, ist der Beschäftigtenorganisationsgrad, also der Anteil der Beschäftigten in den Mitgliedsunternehmen gemessen an der Gesamtzahl aller in der Branche Beschäftigten. Der Beschäftigtenorganisationsgrad der Arbeitgeberverbände liegt in Deutschland bislang meist über dem Organisationsgrad der Gewerkschaften. Der Mitgliederorganisationsgrad der westdeutschen Arbeitgeberverbände geht seit etwa zwei Jahrzehnten ständig zurück. Beispielsweise lag der Mitgliederorganisationsgrad in der westdeutschen Metallbranche 1964 bei etwa 65 Prozent, 1984 bei 56 Prozent, 1994 bei 43 Prozent, 1998 bei 35 Prozent; im Jahre 2008 sind es weniger als 30 Prozent. Auch der Beschäftigtenorganisationsgrad verringert sich seit fast zwei Jahrzehnten, jedoch deutlich langsamer. Dieser Indikator ist für die Gewerkschaften am wichtigsten; weil sich darin die rechtliche Geltungskraft des Flächentarifvertrages abbildet. Im Jahre 1984 erreichte der Beschäftigtenorganisationsgrad mit ca. 77% den höchsten Stand. Zehn Jahre später lag er bei 68 Prozent und 2000 bei 63 Prozent.
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner Abbildung 2:
227
Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie (ohne die 2005 eingeführten OT-Verbände1), eigene Darstellung
Exemplarisch für die Mitgliederentwicklung der Arbeitgeberverbände zeigt das obige Schaubild, dass sich der Mitgliederorganisationsgrad in den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie in Westdeutschland seit der Wiedervereinigung von etwa 42 Prozent auf fast 20 Prozent reduziert hat – im Osten der Republik ist der Rückgang (von 55 auf 7 Prozent) noch weit dramatischer. Entscheidend für den Flächentarifvertrag ist jedoch, dass trotz dieser signifikanten Abnahme der Mitgliedsbetriebe nach wie vor mehr als die Hälfte aller Beschäftigten durch die Mitgliedschaft der Betriebe an den Flächentarifvertrag gebunden ist (57 Prozent im Westen, 17 Prozent im Osten). Der Rückgang des Beschäftigtenorganisationsgrades verläuft zwar in der gleichen Dramatik nach unten wie der Mitgliederorganisationsgrad, insgesamt aber auf einem höherem Niveau. Mehrheitlich sind es kleine und einige mittlere Unternehmen, die sich den Arbeitgeberverbänden fern halten. Sie stellen zwar noch immer die Mehrheit der Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden; gleichwohl sehen sie ihre spezifischen Interessen im Vergleich zu den anderen Mitgliedergruppen nicht hinreichend berücksichtigt. Dagegen sind Traditionsunternehmen mit einer entsprechenden Belegschaftsgröße, starker gewerkschaftlicher Präsenz und den typischen Gremien des deutschen Modells industrieller Beziehungen nach wie vor in hohem Maße verbandlich organisiert. Durch den zunehmenden Ausstieg der kleinen und mittleren Betriebe könnte das Bündnis zwischen den verschiedenen Größenklassen der deutschen Industrie geschwächt werden und schließlich sogar zerbrechen. Damit stellt sich auch die Frage nach der Weiterentwicklung des deutschen Systems des Flächentarifvertrags neu. Verlierer dieser Entwicklung wäre an erster Stelle die deutsche Großindustrie, die sich nicht mehr hinter den niedrigeren Durchschnittswerten einer gesamtwirtschaftlich orientierten Tarifpolitik verstecken könnte. 1
OT-Verbände sind Verbände von Betrieben ohne Tarifbindung.
228
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Nichtsdestotrotz hat die BDA erhebliche Spannungen und Konflikte zwischen den Mitgliedsunternehmen und -verbänden auszuhalten, die als marktwirtschaftliche Akteure Konkurrenten sind. Durch eine hohe interne Differenzierung mit einer Vielzahl von Spezial-Arbeitsgruppen wird versucht, gemeinsame Interessen zu bündeln. Die Konsensfindung zu sozialpolitischen Themen ist dennoch angesichts der verschiedenen internen Zielkonflikte schwierig. Diese verschiedenen Zieldimensionen sind allerdings typisch für intermediäre Organisationen. Es existieren zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsunternehmen im Hinblick auf Struktur und Aufgaben des Wohlfahrtsstaates. Einige Unternehmen plädieren gar dafür, die finanziellen Grundsicherungen für Arbeitslose aufzuheben. Wenn im Folgenden von den Positionen der BDA gesprochen wird, dann handelt es sich immer um Kompromisspositionen. Zugleich können sich auch unterschiedliche Präferenzen im Zeitverlauf ergeben, wie z.B. der Einstellungswandel gegenüber einer steuerfinanzierten Arbeitsförderung, die der Verband noch in den 1990er Jahren ablehnte.
3
Vom kooperativen zum flexiblen Kapitalismus
3.1 Entstehungshintergründe und Pfadabhängigkeiten in der Arbeitsmarktpolitik bis zum Arbeitsförderungsgesetz 1969 Durch die Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in die Arbeitsmarktpolitik suchte das autoritäre Regime des Kaiserreiches die sozialen Verwerfungen zu dämpfen, um letztlich die industriellen Konflikte zu befrieden. Die spätere Selbstverwaltung in der Arbeitsmarktpolitik beruht auf vier Bausteinen: „erstens auf der klassenpolitischen Arbeitsmarktpolitik von vor 1918, zweitens auf den politischen Folgen des Ersten Weltkriegs, drittens auf der kommunalen Arbeitsmarktpolitik zwischen 1918 und 1927 und viertens auf die Einbeziehung der Gewerkschaften und Arbeitgeber in politische Entscheidungsprozesse“ (Trampusch 2000: 81). Noch bevor die Weimarer Republik die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zentralisierte, hatten die Verbände eigene Arbeitsnachweise aufgebaut, die sie für ihre klassenpolitischen Auseinandersetzungen instrumentalisierten. Aber schon 1918 erkannten beide Verbände die Vorteile der Kooperation und legten mit dem Stinnes-Legien-Abkommen - in dem die Arbeitgeber die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft respektierten - die Grundlagen für eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik. Bereits während des ersten Weltkrieges war das Kaiserreich auf eine zuverlässige Lenkung der Arbeitskräfte angewiesen; weshalb damals schon eine Zentralisierung der Arbeitsvermittlung angestrebt wurde. Gewerkschaften und Arbeitgeber waren zudem vehement für eine selbstverwaltete Organisation der Arbeitslosenversicherung, nachdem die Kommunen diese als alleinige Träger organisierten. Schließlich führten die Auseinandersetzungen zwischen dem Reichsarbeitsministerium und den Verbänden zu einer Politisierung, die dazu beitrug, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände entscheidend bei der Formulierung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung mitwirkten. Die hohe Bedeutung der Verbände in der Arbeitsmarktpolitik kann also nicht alleine mit dem Hinweis auf die Schwäche der Weimarer Regierungen erklärt werden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände waren vielmehr in dieser Zeit durch eine hohe Milieuverankerung, hohe Mitgliederzahlen und einen hohen Organisationsgrad stark in die Gesellschaft eingebettet.
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
229
Mit der Gründung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1927 wurden vier Aufgaben zusammengefasst: die Koordination der Arbeitsvermittlung, die Ausführung der Arbeitslosenversicherung sowie die Lehrstellenvermittlung und die Berufsberatung. Die Reichsanstalt wurde in einer föderalen Struktur mit einer Hauptstelle, Länderarbeitsämtern und lokalen Arbeitsämtern organisiert. In die Verwaltungsausschüsse wurden neben staatlichen Vertretern auch solche aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden berufen. Die staatlichen Vertreter besaßen allerdings kein Stimmrecht. Die Grundzüge dieser tripartistischen Steuerung der Arbeitsmarktpolitik - auf der Basis der sozialen Selbstverwaltung - finden sich bis heute in den Strukturen der Bundesagentur für Arbeit wieder. Vor allem die gemeinsame Opposition der Sozialparteien gegenüber den Kommunen führte schließlich zu diesem bis heute tragenden Kompromiss. Die Krise der Arbeitsverwaltung am Ende der Weimarer Republik kann damit erklärt werden, dass der Konsens der Verbände in der Arbeitslosenversicherung zerbrach. Auf Drängen der Arbeitgeber gewann in der Arbeitsmarkt- und Finanzkrise das Bedürftigkeitsprinzip in der Arbeitslosenversicherung an Dominanz und die Selbstverwaltung wurde durch eine „Re-Kommunalisierung tragender Kompetenzen“ (Bender 1991: 164) bei der Bedürftigkeitsprüfung eingeschränkt. Das Scheitern der Arbeitsmarktpolitik in der Weimarer Republik war daher eine institutionelle und eine Staatskrise. Nach dem Krieg setzte der Alliierte Kontrollrat durch die Einrichtung von Arbeitsausschüssen in den Arbeitsämtern und Landesarbeitsämtern die Selbstverwaltung wieder ein. Allerdings herrschte in den Arbeitsausschüssen eine Drittelparität zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, Arbeitgebern und den staatlichen Vertretern, was vor allem auf den Widerstand der Gewerkschaften stieß (vgl. Schmuhl 2003: 366). 1952 knüpfte man mit der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BAVAV) an die Arbeitsmarktpolitik der Weimarer Republik an. Allerdings sollte der Staat im Rahmen einer triparitätischen Selbstverwaltung eine stärkere Kontrollfunktion haben. In den „Hattenheimer Grundsätzen“ befürworteten Gewerkschaften und Arbeitgeber eine partistische Struktur ohne die öffentliche Hand (vgl. Schmuhl 2003: 413). Die Spitzenverbände betrachteten die Arbeitsverwaltung als eine gemeinsam zu verwaltende Institution. In diesem Sinne forderten die beiden Verbände auch im Ausschuss für Arbeit sowie in den parlamentarischen Entscheidungsprozessen eine paritätische Selbstverwaltung der BAVAV. Die Bundesregierung konnte sich schließlich mit ihrem Modell durchsetzen, das der öffentlichen Hand einen größeren staatlichen Einfluss als in der Weimarer Republik garantierte. Die Regierung konnte ihren Einfluss vor allem in zentralen fiskal- und machtpolitischen Punkten durchsetzen (vgl. Trampusch 2004: 25):
Der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit (BA) wird durch die Bundesregierung genehmigt; Der Bundesrechnungshof erhält ein Prüfungsrecht über den Haushalt und die Geschäftsführung der BA; Präsident der BA und die Präsidenten der Landesarbeitsämter werden vom Staat ernannt. Die Selbstverwaltung besitzt ein Vetorecht; Die Satzung der BA muss durch das zuständige Bundesministerium genehmigt werden;
230
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz Die Vertreter in der Selbstverwaltung werden auf der Grundlage von Vorschlagslisten berufen.
Diese Veränderungen führten schließlich zu einer Schwächung der Selbstverwaltung und beförderten eine Machtverschiebung zwischen den Verbänden und dem Staat. Obwohl insgesamt eine hohe strukturelle Pfadabhängigkeit in den Strukturen der verbandlichen Mitbestimmung in der Arbeitsmarktpolitik besteht, können doch erhebliche, eher inkrementale Veränderungen im Bereich der Governance festgestellt werden. Der Staat konnte sukzessive seine Machtposition in den oberen Selbstverwaltungsorganen ausbauen, während die Verbände an Einfluss verloren. Gleichzeitig verlagerten sich die Orte, an denen die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihren Einfluss geltend machen konnten. Erstens gab es zunehmend mehr Möglichkeiten, in den Parlamenten und in den Ministerien direkt an den Formulierungen von arbeitsmarktpolitischen Gesetzen mitzuwirken. Zweitens kam es durch eine Regionalisierung und Dezentralisierung der Arbeitsmarktpolitik zu einem Bedeutungsgewinn der lokalen Arbeitsämter und somit auch für die unteren Selbstverwaltungsorgane. In den 1950er Jahren schränkte die Bundesregierung angesichts der Strukturkrisen im Bergbau und der Beschäftigungskrise in der Bauwirtschaft durch 64 Verordnungsermächtigungen das Recht des Verwaltungsrates ein, Richtlinien und Anordnungen zu erlassen. Seit 1959 kann die Bundesregierung durch Rechtsverordnungen der Bundesanstalt zusätzliche Aufgaben übertragen. Die erste Konjunkturkrise führte dann 1967 dazu, dass die Tätigkeit der Bundesanstalt unter die Ziele des Stabilitätsgesetzes gestellt wurde.
3.2 Die Rolle der Sozialpartner in Zeiten der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik (bis zum Bündnis für Arbeit) Das Arbeitsförderungsgesetz 1969 kann als ein Markstein der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland gelten. In ihm wurde zunächst der Rechtsanspruch auf Förderung beruflicher Weiterbildung institutionalisiert, später kamen weitere Instrumente aktiver Beschäftigungsförderung dazu. Durch die Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber legitimierte der Staat die kooperative Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im dualen Bildungssystem (Streeck et al. 1987). Allerdings führte die Reform auch zu einem weiteren Einflussrückgang der Selbstverwaltung. Die damit einhergehenden Änderungen umfassen vor allem fiskal- und machtpolitische Aspekte, die mit einer deutlichen Zentralisierung der Personal- und Finanzpolitik einhergingen. Durch Fachgespräche im Bundesarbeitsministerium und in den Fraktionen konnten weitergehende Vorschläge abgemildert werden. Die Sozialpartner waren über Stellungnahmen der Spitzenorganisationen, die Mitgliedschaft im Verwaltungsrat und im Vorstand der Bundesanstalt an der Entstehung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) beteiligt. Die Bundesregierung versuchte die Arbeit der Bundesanstalt auf eine breitere Basis zu stellen, indem sie die Arbeitsmarktpolitik als eine Beschäftigungs- und Strukturpolitik konzipierte, die den strukturellen Problemen des Wirtschaftswachstums gerecht werden sollte. Die interventionistische Arbeitsmarktpolitik sowie die Reform der Berufsausbildung führten ebenfalls zu neuen Überlegungen, um die Funktion der Selbstverwaltung zu verändern.
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
231
Der ehemalige Präsident der Bundesanstalt (Anton Sabel) deklarierte die Verwaltungsausschüsse der Arbeits- und Landesarbeitsämter als „beratende Gremien“ und plädierte für eine Konzentration der Kompetenzen beim Präsidenten, dem Vorstand und dem Verwaltungsrat. Die Sozialpartner betonten daraufhin die Bedeutung der Verwaltungsausschüsse. Gleichzeitig plädierte der Sachverständigenrat (SVR) angesichts der ersten bundesdeutschen Wirtschafts- und Strukturkrise (1966/67) für ein „Bundesamt für Beschäftigungs- und Strukturpolitik“. Damit wäre die Selbstverwaltung abgeschafft worden, was erheblichen Widerstand bei den Verbänden provozierte. DGB und BDA kritisierten den Vorschlag des SVR scharf. Auch die CDU unterstützte die Kritik der Verbände. Der Bundesarbeitsminister war ebenfalls Mitglied im Verwaltungsrat der Bundesanstalt und lehnte den Vorschlag des SVR ab. Damit war die tripartistische Selbstverwaltung gerettet. Gegen den Widerstand der Selbstverwaltung und der Spitzenverbände wurde aber ein Organisationswandel durchgesetzt, der dem Bundesministerium für Arbeit (BMA) mehr Befugnisse gab (vgl. Trampusch 2000: 352). Die AFG-Reform machte deutlich, dass im Falle von grundlegenden Differenzen zwischen den Sozialparteien, sich deren Einfluss gegenüber dem Staat begrenzt. Im Rahmen der Verhandlungen hatten die Gewerkschaften und die BDA mit dem BMA bezüglich der Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik zwar engen Kontakt. Aber vor allem die Arbeitgeber begrenzten ihren Einfluss auf das Bundesministerium für Arbeit, da sie in der Frage nach ihrer sozialpolitischen Rolle eher gespalten waren, so dass die Gewerkschaften weit größeren Einfluss auf die Ausgestaltung des AFG hatten. Hinzu kam, dass die BDA an der Reform der Arbeitsmarktpolitik eher desinteressiert war. Mit den sozialpolitischen Auswirkungen der damals zentralen Themen wie dem technischen Fortschritt und der Automatisierung beschäftigte man sich nur, weil man Unruhen innerhalb der Belegschaften befürchtete. Die BDA hatte somit keine konzeptionelle Gegenposition zum Referentenentwurf und der Ausschussvorlage vorgebracht. Einfluss wurde nur bei bestimmten Einzelregelungen geübt. „Den geringeren Einflussmöglichkeiten auf die Arbeit des BMA stand mithin auf Seiten der BDA auch ein geringeres Interesse an einer Reform der Arbeitsmarktpolitik gegenüber, so dass die Bedeutung ihrer Vertreter als Akteure der Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik nicht an die anderer Akteure aus BMA und Gewerkschaften heranreicht.“ (Altmann 2004: 108). Differenzen zwischen BDA und DGB gab es auch in der Frage der Finanzierung der neuen Aufgaben. Der DGB sprach sich für eine neue steuerbasierte Finanzierungsform der aktiven Aufgaben aus. Die Arbeitgeber wandten sich gegen diese Forderung. Die BDA verwies in ihren Positionen auf den inneren Zusammenhang zwischen der Selbstverwaltung und der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung durch Beiträge. Deshalb befürchteten die Arbeitgeber, dass eine stärkere Steuerfinanzierung der Selbstverwaltung die Legitimation entziehen würde. Janoski (1990: 17) vermutet, dass sich die Arbeitgeber gegen die Steuerfinanzierung der beruflichen Weiterbildung wehrten, weil diese einen Einschnitt in die von ihnen kontrollierte berufliche Ausbildung bedeutete. In den Jahren bis zur nächsten Strukturreform war die Bundesanstalt vor allem ein „Spielball fiskalischer Notoperationen der Bundesfinanzminister und Rentenpolitiker sowie der Begehrlichkeiten der Sozialpolitiker und Betriebspartner“ (Trampusch 2005: 25). Arbeitsmarktpolitik wurde für die Rentenversicherung, als Strukturpolitik und mit zur Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung genutzt. Zwischen 1969 und 1996 gab es etwa 130 Änderungen des AFG, wobei die Rechte der BA und der Selbstverwaltung sukzessive zu Gunsten des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) eingeschränkt wurden (vgl. zur
232
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Einschränkung der Haushaltsautonomie der Selbstverwaltung Schmuhl 2003: 577). Durch schärfere Zumutbarkeitsregelungen konnte das BMF auf Entlastungen bei der Arbeitslosenhilfe hoffen, die im Verwaltungsrat der BA gegen die Stimmen der Kommunen und der Gewerkschaften durchgesetzt wurden. Mit der deutschen Wiedervereinigung kam es zu einer massiven Ausweitung der arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten der BA. Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungen galten erst nur befristet als Instrumente zur Abfederung des Übergangs der ostdeutschen Industrie in die Marktwirtschaft. Bald stellte sich aber heraus, dass die Belastungen langfristiger und umfassender sein würden als gedacht. Aktive Arbeitsmarktpolitik entwickelte sich zu einem Instrument des Strukturwandels und der sozialpolitischen Absicherung massiver Langzeitarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Diese Politik gelangte allerdings schnell an ihre Legitimitätsgrenze. Die Förderpraxis in Ostdeutschland kollidierte zunehmend mit den fiskalpolitischen Grenzen des Bundeshaushaltes. Dissonanzen zwischen den Gewerkschaften, die an der bisherigen Politik festhalten wollten, Arbeitgebern und dem Ministerium zeigten sich vor allem bei den Beratungen für den BA-Haushalt 1993. Das BMA schlug daraufhin eine Änderung des AFG vor, die es ihr ermöglichte auch ohne Zustimmung des Verwaltungsrates den BA-Haushalt in ihrem Sinne in Kraft zu setzen. Zudem stimmten Gewerkschaften und Arbeitgeber in den Selbstverwaltungsorganen immer häufiger unterschiedlich ab. Mit ihrem Vorschlag, die Arbeitsmarktpolitik aus Steuermitteln zu finanzieren, scheiterten die Verbände. Die Kontroversen um die Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland aus Beitragsmitteln sowie für einen staatlich subventionierten zweiten Arbeitsmarkt spalteten Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Selbstverwaltung. Im Rahmen des Arbeitsförderungsreform-Gesetzes (AFRG) sollte den Rechtsverordnungen des Ministeriums grundsätzlich Vorrang vor den Entscheidungen der Bundesanstalt eingeräumt werden. Damit wären Vorstand und Selbstverwaltung der BA entmündigt worden. Die Verbände nutzten daraufhin verstärkt ihren Zugang zu Regierung und Bundestag. Die Koalitionsfraktionen zogen daraufhin ihren Vorschlag zurück. Allerdings führten die eigenen Vorschläge der BA in der Folge zu einer weitreichenden Entmachtung der oberen Selbstverwaltung. Mit den „Thesen zur Arbeitsmarktpolitik“ und dem „Arbeitsamt 2000“ schlugen Vorstand und Verwaltungsrat 1994 eine weitere Dezentralisierung und Regionalisierung der Kompetenzen sowie eine Erhöhung der Effektivität und Effizienz vor. Beide Konzepte gingen in die nächsten Reformen des Arbeitsförderungsgesetzes ein. Damit wurden die unteren Selbstverwaltungsorgane erheblich gestärkt, indem ihre Budget- und Entscheidungskompetenzen erweitert, Ermessensleistungen ausgeweitet und als Kontrollinstrument die Eingliederungsbilanzen eingeführt wurden. Neben dieser Verlagerung der verbandlichen Mitsprache in der Arbeitsmarktpolitik von der zentralen auf die unteren Organisationsebenen zeigten sich auch an anderen Orten die Kontroversen zwischen den Verbänden. So war es im Bündnis für Arbeit, das eines der Kernprojekte der Regierungsarbeit von rot-grün sein sollte, nicht möglich einen eigenständigen arbeitsmarktpolitischen Konsens zwischen den Tarifparteien zu entwickeln, der als Basis für eine Neujustierung der deutschen Arbeitsmarktpolitik hätte dienen können. Im Bündnis für Arbeit, das keine formelle Verbindung zur sozialen Selbstverwaltung in der BA besaß, setzten die Arbeitgeber auf eine nachhaltige Kostensenkung, vor allem der Lohnnebenkosten. Die Bundesregierung sollte dafür gewonnen werden, die Gewerkschaften zu einer moderaten Lohnpolitik zu bewegen. Allerdings gab es von Anfang an auch im
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
233
Arbeitgeberlager divergierende Auffassungen zur Sinnhaftigkeit des Bündnisses. Da Regierung und Arbeitgeber die Gewerkschaften eher für die Lohnfrage brauchten, gab es zu keinem Zeitpunkt Bemühungen, die Gewerkschaften in eine Innovationsoffensive einzubinden. Thematisch blieb das Bündnis daher begrenzt und konnte seine Potenziale nicht ausschöpfen. Gleichzeitig fehlte es an politischer Steuerungsfähigkeit und Erneuerungswillen. Das Bündnis war immer auch ein medial inszenierter Korporatismus, der mit einer fehlenden Richtungsweisung des Kanzleramtes einherging. Dies leitete den Erosionsprozess des Bündnisses ein. Nach der Wahl 2002 blieben die Wiederbelebungsversuche erfolglos. Zu Beginn der Legislaturperiode 2002-2005 war allen Beteiligten klar, dass nur durch eine grundlegend modifizierte Bündniskonstruktion eine Perspektive gegeben sein würde. Diese blieb aus, so dass schließlich der Gesetzgeber das Heft des Handelns jenseits der Tarifparteien wieder in die Hand nehmen konnte. Das „Bündnis für Arbeit“ blieb eine temporäre Veranstaltung ohne Innovationskraft.
3.3 Die Sozialpartner und ihre Rolle in der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik nach den HARTZ-Gesetzen Der „Vermittlungsskandal“ der Bundesanstalt für Arbeit im Februar 2002 führte zur Bildung der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, die von Peter Hartz – damaliger Personalvorstand von Volkswagen – geleitet wurde und der Kommission seinen Namen gab. Die 15-köpfige Kommission sollte Strategien für neue Beschäftigungs- sowie Vermittlungsmöglichkeiten und Vorschläge zur Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit erarbeiten. Der Abschlussbericht enthielt allerdings darüber hinausgehende Vorschläge für ein umfassendes Konzept zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und leitete damit die weitgehendste Reform der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ein. Die Kommission sollte auch die Blockaden der Verbände im triparitätischen Selbstverwaltungsgremium der Bundesanstalt für Arbeit auflösen und den Stillstand in den Arbeitsmarktreformen überwinden. Die negativen Erfahrungen aus den „Bündnissen für Arbeit“, die zu einem weitgehenden Stillstand führten und als eine „Stagnation im Verhandlungslabyrinth“ interpretiert wurden (Blancke/ Schmid 2003: 220, 223), sollten nicht wiederholt werden. Die Veränderungsresistenz des „cozy triangle“ (Jann/Schmid 2004: 12) zwischen Sozialpartnern, Parlamentsausschuss und Bundesministerium wurde durch eine neuartige Zusammensetzung der Kommission aufgebrochen. Das Gremium umfasste neben Managern von Wirtschaftsunternehmen und Unternehmensberatern, Politikern, der Bundesanstalt für Arbeit und Wissenschaftlern nur zwei Gewerkschaftsfunktionäre und einen Verbandsvertreter der Arbeitgeber. Diese waren „Outsider im Vergleich zu den bislang dort agierenden Verbänden“ (Ramge 2003: 65). Die Hartz-Kommission brach somit mit dem bisherigen Verbandskorporatismus in der deutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. Eichhorst/ Wintermann 2006), da viele Kommissionsvertreter als Personen und weniger als Mitglieder von Verbänden angesprochen wurden. Nicht nur die Gewerkschaften sondern auch die Arbeitgeber versuchten in der Folge „mit Gewalt in die Kommission“ (Siefken 2007: 190) zu gelangen. Dem Kanzleramt gelang es aber, den Einfluss der Verbandsspitzen in der Kommission zurückzudrängen, obwohl die berufenen Kommissionsmitglieder des Arbeitgeberlagers auch jeweils indirekt Verbandsinteressen einbrachten.
234
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Die Ergebnisse der Kommission wollte die Bundesregierung „1 zu 1“ umsetzen. Allerdings bekamen die Verbände nach Abschluss der Kommissionsarbeit die Möglichkeit, als Veto-Player zu agieren und damit einige wichtige Veränderungen durchzusetzen. Die Arbeitgeberverbände hielten sich vor der offiziellen Bekanntgabe der Kommissionsergebnisse eher zurück, äußerten sich aber dann kritisch gegenüber dem Bericht. Die BDA sprach von einer „weitgehend mut- und perspektivlosen Konzeption“, in dem die recht weit gehenden Reformvorschläge verwässert sind. Während der Kommissionsarbeit veröffentlichte die BDA einige Forderungen, die vor allem die Durchsetzung der Pläne zu den Leistungskürzungen und eine stärkere Aktivierung von Arbeitslosen beinhalteten, wie die Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate, die enge Verknüpfung von Sozialleistungen mit verbindlichen Aktivitäten zur Arbeit, die Etablierung einer einheitlichen Erwerbshilfe sowie eine Abschaffung des zweiten und dritten Arbeitsmarktes (BDA 2002). Die Kritik an den Hartz-Vorschlägen konzentrierte sich daher vor allem auf Veränderungen im Leistungsrecht, den Zumutbarkeitskriterien und eine zu weit gehende Ausgestaltung der Funktionen der Job-Center (vgl. Welt-Online, 30.07.). Außerdem befürworteten die Arbeitgeber eher eine stärkere Kommunalisierung der Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Insgesamt gab es drei zentrale Auswirkungen der Hartz-Reformen auf die deutsche Sozialpolitik (vgl. Trampusch 2005): Erstens kann ein weiterer Einflussrückgang der Verbände im Sozialstaat beobachtet werden. Zweitens wurde der Sozialstaat zur Chefsache von Regierung und Parteien, weil die Verbände nicht in der Lage waren, eigenverantwortliche Impulse zu setzen, um den Sozialstaat zu reformieren. Drittens hat sich der Ort für sozialpolitische Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse von den Verbänden hin zu den Parteiführungen verlagert. Einige AutorInnen gehen gar von einem Ende des „kooperativen Kapitalismus“ aus. Ein Zeichen hierfür ist der politische Bedeutungsverlust der Selbstverwaltung auf der Bundesebene, die als Verwaltungsrat mehrheitlich technische Aufgaben eines Aufsichtsrats wahrnimmt. Noch eindeutiger ist die Abschaffung der sozialen Selbstverwaltung auf Landesebene. Zugleich kann die hier dargestellte Eindeutigkeit unter funktionalen Gesichtspunkten durchaus auch relativiert werden. Denn größere sozialpolitische Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Parteien, große Herausforderungen wie die im Herbst 2008 einsetzende Wirtschaftskrise sowie die Rolle der Verbände als operative und legitimierende politische Akteure staatlichen Handelns können immer wieder dazu beitragen, dass die Rolle der Verbände zumindest phasenweise aufgewertet wird. In diesem Sinne sind nicht nur die Initiativen und Stellungnahmen der Gewerkschaften und der Arbeitgeber in der Wirtschaftskrise zu werten. Die BDA reagierte beispielsweise auf das Bundesverfassungsgerichts-Urteil (2008) im Hinblick auf die institutionalisierte Kooperation von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften positiv, indem der Verband klare Verantwortlichkeiten bei der Betreuung von Arbeitslosengeld II-Empfängern befürwortete. Als Argumente wurden eine höhere Transparenz und eine sparsamere Mittelverwendung angeführt. Die Kommunen sollten stärker in die Verantwortung genommen werden, da sie jahrzehntelange Erfahrung in der Sozialhilfe haben und auch einen besseren Zugang für spezielle Fördermöglichkeiten haben (soziale Dienste). Gegen Kostenerstattung wäre auch die Inanspruchnahme des Know-how der BA bei der Arbeitsvermittlung denkbar. Dies würde allerdings u.E. zu einer Überführung der ALG II aus dem System der BA führen und eine gänzliche Kommunalisierung bedeuten. Der Staat hat damit weniger Einfluss auf die Betreuung der Langzeitarbeitslosen, gleichzeitig erhöht sich der Einfluss de-
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
235
zentraler Akteure und könnte auch zu einer weiteren Verbetrieblichung der Arbeitsmarktpolitik (z.B. in betrieblichen Bündnissen für Arbeit) führen. Hinsichtlich der Instrumente agitieren die Arbeitgeberverbände weiter gegen die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen. Präferiert wird dagegen ein Ausbau bzw. eine Verstärkung der Aktivierungsinstrumente im Bereich des SGB II.
4
Ausblick
Gewerkschaften und Arbeitgeber sind fester Bestandteil der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Ihre Position lässt sich angesichts der zunehmenden Organisationsprobleme (Mitgliederrückgänge, Durchsetzungsprobleme etc.) nur begrenzt mit Hilfe des MachtressourcenAnsatzes erklären. Vielmehr ist die relative Stärke der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im Kontext historischer Pfadabhängigkeiten; also gewachsener institutioneller Strukturen zu verstehen. Letzteres spiegelt sich in der nach wie vor starken Integration der Verbände in zentrale arbeitsmarktpolitische Entscheidungsarrangements wieder, in denen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nicht nur beratend tätig sein können, sondern partiell auch ihre Positionen durchsetzen und den staatlichen Einfluss begrenzen konnten. Allerdings dominieren längerfristige Veränderungen in diesem Kräftearrangement zu Gunsten des Staates. Abschließend werden thesenartig die wichtigsten Entwicklungstendenzen zusammengefasst: 1.
2.
3.
4.
5.
In der Arbeitsmarktpolitik lässt sich eine zunehmende Bedeutung des Zentralstaates und der Kommunen feststellen. Zudem werden zur Politikformulierung immer öfter auch von Verbänden unabhängige Experten hinzugezogen. Der Einfluss der Verbände ist in den letzten Jahren auf spezifisch ökonomische Aspekte verengt worden. Eine Mitwirkungsoption in den grundlegenden Strategiefragen wurde nicht gefördert. Dies verstärkt die Tendenz hin zu einem verengten und limitierten Korporatismus in der Arbeitsmarktpolitik. Durch eine Pluralisierung der Mitgliederinteressen bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden entsteht zudem eine Abschwächung des kooperativen Arrangements zwischen beiden Verbänden. Die horizontalen Konflikte belasten auch die gemeinsam vertretenen Lösungsansätze in der Arbeitsmarktpolitik. Obwohl der Einfluss der Verbände in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit und in den Arbeitsagenturen gegenwärtig noch relativ stabil ist, kann sich der staatliche Einfluss weiter verstärken, wenn sich die gemeinsame Vetokoalition von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden lockert und die Selbstverwaltung weniger politische Mitspracheoptionen wahrnehmen kann, weil sie auf ein einfaches wirtschaftliches Aufsichtsorgan reduziert wird. Zugleich gibt es begründete Hinweise dafür, dass die Sozialpartner von ihnen favorisierte gesellschaftliche Lösungen zunächst durch Tarifverträge zu regeln versuchen.
236
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Literatur Altmann, Georg 2004: Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Bender, Gerd 1991: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik, in: Benöhr, Hans Peter (Hrsg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 137-169. Bonß, Wolfgang & Rolf G. Heinze (Hrsg.) 1984: Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ebbinghaus, Bernhard 2003: Die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaften im historischen und internationalen Vergleich, in: Schroeder, Wolfgang & Bernhard Wessels (Hrsg.), Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 174-204. Eichhorst, Werner & Ole Wintermann 2006: Generating Legitimacy for Labor Market and State Reform - The Role of Policy Advice in Germany, the Netherlands, and Sweden, in: German Policy Studies. Vol. 3, No.2, S. 268-309. Jann/Werner & Günther Schmid 2004: "Die Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt: Eine Zwischenbilanz", in: dies. (Hrsg.): Eins zu eins? Ein Zwischenbericht der Hartz-Reformen am Arbeitsmarkt, Berlin: Edition Sigma. Janoski, Thomas 1990: The Political Economy of Unemployment. Active Labour Market Policy in West Germany and the United States, Berkley; Los Angeles; Oxford: University of California Press. Keller, Berndt 2008: Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in sozialwissenschaftlicher Perspektive, 7. Aufl., München: Oldenbourg. Klenk, Tanja 2008: Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung: Universitäten, Krankenkassen und andere öffentliche Körperschaften, Frankfurt am Main: Campus-Verlag. Müller, Hans-Peter & Manfred Wilke, 1999: Rückkehr in die politische Arena: Die deutschen Gewerkschaften und das Bündnis für Arbeit. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung. Nikolaus, Kurt 2000: Erwerbslosenarbeit der Gewerkschaften in den neuen Bundesländern, in: Reister, Hugo/ Nikolaus, Kurt & Norbert Klippstein (Hrsg.), Gesellschaftliche Organisationen und Erwerbslose: Unterstützungen von Arbeitslosen durch Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Arbeitslosenorganisationen, Kirchen und Kommunen in den neuen Bundesländern und Berlin, Berlin: Dietz. Olson, Mancur 1985: Aufstieg und Niedergang von Nationen: ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen: Mohr Siebeck. (engl. Originaltitel: The Rise and Decline of Nations, 1982). Olson, Mancur 2004: Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen. 5. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck. (engl. Originaltitel: The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, 1965). Ramge, Stefan 2003: „Management of Change durch Einbindung: Von der 'Konzertierten Aktion' zum 'Bündnis für Arbeit'”, in: ders./ Günther Schmid, Hg.: Management of Change in der Politik? Reformstrategien am Beispiel der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, Münster: Waxmann Verlag, S. 55-67. Sabel, Anton 1967: Selbstverwaltung und BAVAV, in: Der Arbeitgeber 29, S. 440-441. Salamon, Lester M. 1987: Of Market Failure, Voluntary Failure and Third Party Government: Toward a Theory of Government - Nonprofit Relations, in: Journal of Voluntary Action Research 16, No. 1, pp. 29-49. Schmid, Günther (Hrsg.) 2002: Wege in eine neue Vollbeschäftigung, Frankfurt/New York: Campus Verlag. Schmid, Josef 1998: Verbände: Interessenvermittlung und Interessenorganisationen. Lehr- und Arbeitsbuch, München: Oldenbourg.
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner
237
Schmidt, Manfred G. u.a. (Hrsg.) 2007: Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Schmuhl, Hans-Walter 2003: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871-2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 270, Nürnberg: Bundesanstalt für Arbeit. Schroeder, Wolfgang & Bernhard Wessels (Hrsg.) 2003: Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland - Ein Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Schroeder, Wolfgang & Burkard Ruppert 1996: Austritte aus Arbeitgeberverbänden: Eine Gefahr für das deutsche Modell? Marburg: Schueren. Schroeder, Wolfgang 1997: Loyality and Exit - Austritte aus regionalen Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie im Vergleich. In: Verbände in vergleichender Perspektive: Beiträge zu einem vernachlässigten Feld / [hrsg. vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.] Ulrich von Alemann und Bernhard Weßels (Hg.) - Berlin: Edition Sigma. Schroeder, Wolfgang 2000: Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Zur Entwicklung der industriellen Beziehungen in Ostdeutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag. Schroeder, Wolfgang 2004: Gewerkschaften als Akteur tripartistischer Austauschpolitik: „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“, in: Stykow, Petra & Jürgen Beyer (Hrsg.), Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung? Festschrift für Helmut Wiesenthal, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 287-311. Schroeder, Wolfgang 2006: Selbstverwaltungskorporatismus und neuer Sozialstaat, in: ZSR, 2/2006, S. 253-271. Schroeder, Wolfgang 2008: SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft, in: WSI-Mitteilungen, 5/ 2008, S. 231-237. Schroeder, Wolfgang/ Kalass, Viktoria & Samuel Greef 2008: Kleine Gewerkschaften und Berufsverbände im Wandel, Düsseldorf. Schubert, Klaus 1989: Interessenvermittlung und staatliche Regulation, Opladen: Westdeutscher Verlag. Schudlich, Edwin 1982: Kooperation statt Korporatismus, in: Billerbeck, Ulrich (Hrsg.), Korporatismus und gewerkschaftliche Interessenvertretung, Frankfurt am Main: Campus. Schulz, Andreas 2007: Organisationen zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft: eine Studie zur Arbeitsmarktförderung von Langzeitarbeitslosen im Deutschen Caritasverband, Universitätsbibliothek Gießen. Seibel, Wolfgang 1994: Funktionaler Dilettantismus. Erfolgreich scheiternde Organisationen im „Dritten Sektor“ zwischen Markt und Staat, 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos. Siefken, Sven 2007: Expertenkommissionen im politischen Prozess. Eine Bilanz zur rot-grünen Bundesregierung 1998-2005, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Streeck, Wolfgang 1999: Die Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit, MPIfG Working Paper 99/11, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Streeck, Wolfgang 2003: No Longer the Centrury of Corporatism. Das Ende des „Bündnisses für Arbeit“, MPIfG Working Paper 03/4, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Streeck, Wolfgang u.a. 1987: Steuerung und Regulierung der beruflichen Bildung. Die Rolle der Sozialpartner in der Ausbildung und beruflichen Weiterbildung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: edition sigma. Trampusch, Christine 2000: Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Ein Vergleich der Entstehung und Transformation der öffentlichen Arbeitsverwaltungen in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden zwischen 1909 und 1999, Göttingen: Hochschulschrift. Trampusch, Christine 2002: Die Bundesanstalt für Arbeit und das Zusammenwirken von Staat und Verbänden in der Arbeitsmarktpolitik von 1952 bis 2001, MPIfG Working Paper 02/5, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Trampusch, Christine 2004: Das Scheitern der Politikwissenschaft am Bündnis für Arbeit. Eine Kritik an der Problemlösungsliteratur über das Bündnis für Arbeit, in: Politische Vierteljahresschrift, 45. Jg., Heft 4, S. 541-562.
238
Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz
Trampusch, Christine 2005: Sozialpolitik in Post-Hartz Germany, in: WeltTrends 47, S. 77-90. Weber, Hajo 1987: Unternehmerverbände zwischen Markt, Staat und Gewerkschaften. Zur intermediären Organisation von Wirtschaftsinteressen, Frankfurt/New York: Campus-Verlag. Winter, Thomas von 1997: Sozialpolitische Interessen. Konstituierung, politische Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen, Baden-Baden: Nomos. Wübbels, Michael 1984: Zum Verhältnis von Interessengruppen und Selbstverwaltung. Eine Analyse am Beispiel der Bundesanstalt für Arbeit, Hans-Böckler-Stiftung, Graue Reihe Nr. 14, Düsseldorf. Wullfen, Matthias von 2005: 50 Jahre soziale Selbstverwaltung. Vortrag anlässlich der Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger am 21. Oktober 2003 in Bad Homburg v.d.H. Zimmer, Annette & Eckhard Priller (Hrsg.) 2000: Der deutsche Nonprofit-Sektor im gesellschaftlichen Wandel. Zu ausgewählten Ergebnissen der deutschen Teilstudie des international vergleichenden Johns Hopkins Projektes, Münsteraner Diskussionspapiere zum Nonprofit-Sektor Nr. 3, Münster.
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
239
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
1
Einleitung
Die institutionelle Regulierung des deutschen Beschäftigungssystems und der hohe Standard in den Beschäftigungsbedingungen, der sozialen Sicherung und der wirtschaftlichen Mitbestimmung bildeten das Rückgrat der erfolgreichen deutschen Exportwirtschaft (Hall/Soskice 2001; Thelen 2003) und damit den Kontext der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Vor allem hier haben sich die alten politischen Konflikt- und Kompromisslinien jedoch nachhaltig verändert: Infolge neuer technologischer Entwicklungen und der De-Industrialisierung entstanden neue betriebliche Bedarfe – bei gleichzeitiger fortschreitender sozialer Individualisierung, die ihrerseits zu neuen Erwartungen an den Sozialstaat führte. Seit Mitte der 1980er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit stark an, breitete sich der Niedriglohnsektor zunehmend aus und schwand die Bedeutung von Flächentarifverträgen. Situationsanalysen, die auf diese Probleme reagierten, beschrieben nicht nur die Institutionen sozialer Sicherheit, sondern auch den traditionell hohen Standard bei der Regulierung der Beschäftigungsbedingungen als eine Belastung für das Beschäftigungswachstum insbesondere in den unteren Einkommensbereichen. In Deutschland folgten die jüngsten Arbeitsmarktreformen dieser Denkart, indem sie die Ausweitung von atypischer Beschäftigung durch eine direkte oder indirekte arbeitsrechtliche Deregulierung betrieben. Dass die am Aktivierungsparadigma orientierten arbeitsmarktpolitischen Reformen meist mit der Deregulierung des Normalarbeitsverhältnisses und der Ausweitung der atypischen Beschäftigungsstrukturen einhergehen, zeigt auch der europäische Vergleich (Betzelt/Bothfeld 2009). Ist diese Deregulierung mit einem endgültigen Abschied von den einmal erreichten sozialen Standards gleichzusetzen, weil sie zwangsläufig zu einer Verminderung des sozialen Schutzes führt? Oder sind neue Formen eines Kompromisses zwischen einem betrieblichen Bedarf an Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes und einem effektiven ArbeitnehmerInnenschutz denkbar? Die in der Rechts- und der Politikwissenschaft geführten steuerungstheoretischen Debatten rekurrieren auf Formen der ‚reflexiven Regulierung’ (Rogowski/Schmid 1997), des ‚reflexiven’ (Teubner/Willke 1989) bzw. des ‚prozeduralen Rechts’ (Calliess 1998). Mit diesen Rechtsformen soll eine höhere Effektivität von Regelungen erreicht werden, indem die Selbstregulierung der beteiligten Akteure an die Stelle der Problemlösung durch den Gesetzgeber tritt. Im Kern zeichnet sich die Strategie der reflexiven Regulierung durch die Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber von den Beteiligten selbst zu verhandelnden Lösungen aus und überantwortet somit die Wahrung öffentlicher Interessen an dezentrale Akteure, zwischen denen auch politische Differenzen bestehen können. Die reflexive Regulierung ist eine Regulierungsform, deren Wirkungen hier anhand des Arbeitsrechts untersucht werden sollen. Doch auch in anderen Bereichen öffentlicher Politik, z.B. bei der ar-
240
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
beitsmarktpolitischen Programmgestaltung in den Arbeitsagenturen, wo eine Effektivierung durchaus wünschenswert wäre (siehe auch Oschmiansky/Ebach in diesem Band), könnte die Anwendung von Formen reflexiver Regulierung geprüft werden. Wir vertreten die These, dass das Konzept des reflexiven Rechts zwar ein Potential für eine gerechte und effektive Regulierung von Arbeitsverhältnissen bietet, es substantielle Verteilungskonflikte jedoch tendenziell unterschätzt. Wir folgen dabei der Grundannahme, dass ein sachgerechter und den sozialstaatlichen Grundwerten verpflichteter Interessenausgleich im Arbeitsleben einen Eigenwert darstellt, so dass sich das Ziel arbeitsrechtlicher Regulierung nicht auf die Senkung der Arbeitskosten und damit auf die Nachfrage nach Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt reduzieren lässt. Gerade das Arbeitsrecht dient dem Schutz von ArbeitnehmerInnen, was allerdings mit dem Verweis auf einen allgemeinen Flexibilitätsbedarf häufig in Abrede gestellt wird (vgl. dazu Kremer 2008). Wir untersuchen daher die Möglichkeiten eines ‚reflexiven’ Arbeitsrechts unter dem Vorzeichen seiner Reaktionsfähigkeit auf die Komplexität und die Eigendynamiken des Arbeitslebens. Die spannende Frage ist dabei, auf welche Weise das traditionelle Ziel arbeitsrechtlicher Regulierung, den sozialen Schutz Erwerbstätiger zu sichern (Dieterich u.a. 2009, § 611 BGB, RN 7) und Verteilungskonflikte zu kanalisieren, auch unter neuen ökonomischen Bedingungen garantiert werden kann. Die Erfahrungen mit arbeitsrechtlicher Regulierung machen unseres Erachtens die Möglichkeiten und Grenzen einer reflexiven Strategie deutlich und erlauben es, daraus Lehren für die Regulierung auch in anderen, weniger polarisierten Bereichen zu ziehen. Im folgenden Abschnitt stellen wir den Ansatz der reflexiven Regulierung vor, um im dritten Abschnitt anhand unserer zwei Fallbeispiele aus dem kollektiven (Flächentarifvertrag) und dem individuellen Arbeitsrecht (Leiharbeit), die Merkmale reflexiven Rechts aufweisen, die Wirkungen dieser Strategie zu illustrieren. Abschließend wollen wir die Lehren aus den konzeptionellen und empirischen Überlegungen zusammenfassen.
2
Reflexive Regulierung: Ein konzeptioneller Königsweg?
Aus einer kritischen Perspektive wollen wir im Folgenden den Ansatz der reflexiven Regulierung nicht nur im Hinblick auf die Balance zwischen den zwei Zielen wirtschaftlicher Effektivität und sozialer Sicherheit diskutieren, sondern auch als Problem des politischen Machtgleichgewichts zwischen den Beteiligten.
2.1 Höhere Effektivität? Sowohl die rechts- als auch die politikwissenschaftliche Steuerungsdebatte beschreiben das Problem der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und der gestiegenen Komplexität sozialer Wirkungsmechanismen mittlerweile unter dem ‚Governance’-Begriff (vgl. dazu Schuppert 2005) als die größte Herausforderung für die politische Steuerung insgesamt. Die Luhmann’sche Perspektive der Rechtssoziologie betont, dass die sozialen, ökonomischen und politischen Teilsysteme nach unterschiedlichen Rationalitäten funktionieren, spezifische Codes und Kategorien verwenden und Koordinationsprobleme im Sinne des Erreichens allgemeingültiger Lösungen damit vorprogrammiert sind. Eine hierarchische politi-
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
241
sche Steuerung auf Basis der traditionellen Rechtsinstrumente verliert demnach ihre Funktion (Teubner/Willke 1984: 5). In der markt-liberalen Wendung dieser Erkenntnis wird betont, dezentrale Akteure hätten bessere lokale Sachkenntnis, und eine optimale Steuerungsform bestünde in Selbstregulierung bei minimalem staatlichen Eingriff. Die reflexive Regulierung eignet sich unseres Erachtens, dieses Spannungsverhältnis neu zu betrachten. Reflexives Recht regelt das Verhalten von sozialen oder ökonomischen Akteuren nicht selbst, sondern stellt Verfahrens-, Organisations- und Zuständigkeitsnormen als Handlungsrahmen für die eigenständige Regelung durch die Beteiligten auf. Dies soll im Ergebnis jedoch nicht zu Abstrichen bei der sozialen Qualität der Arrangements führen (Teubner/Willke 1984: 29; Calliess 1999: 88, siehe dazu auch den übernächsten Abschnitt). Reflexives Recht zielt somit auf ‚regulierte Autonomie’, mit der gesellschaftlichen Teilbereichen eine Selbststeuerung ermöglicht und deren Eigendynamik respektiert werden soll. Den dezentralen Akteuren werden aber jene gesellschaftlichen Restriktionen auferlegt, die aus den Bedingungen des Zusammenspiels aller Teile als Kontextregeln für jedes einzelne Teil folgen (Teubner/Willke 1984: 7). Kurz gesagt, sollen prozessorientierte Verfahrensnormen die Beteiligten in die Lage versetzen, ihre Angelegenheiten in eigener Regie zu regeln.
2.2 Die Wahrung der Neutralität durch den Gesetzgeber Das Konzept des reflexiven Rechts wurde als Reaktion auf die Einschätzung entwickelt, es würde eine zunehmende Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Bereiche stattfinden, insbesondere im sozialen und arbeitsrechtlichen Bereich, aber auch im Kartell- und Wirtschaftsrecht. Diese schon auf Max Weber zurückgehende Kritik, wonach Forderungen nach materialer Gerechtigkeit die „formale Rationalität“ des Rechts zerstörten (zit. nach Habermas 1992: 543), wurde Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder aufgegriffen und führten zur Frage, wie der Gesetzgeber seiner prinzipiellen Neutralitätspflicht gerecht werden, wie also die Formalität des Rechts gewahrt werden kann. Der Gesetzgeber ist gehalten, allgemeine Regelungen zu erlassen und eine Bevorzugung einzelner sozialer Gruppen zu vermeiden. Durch die Verteilung von Kompetenzen der Machtausübung auf drei verschiedene „Gewalten“ wird einer willkürlichen Machtausübung vorgebeugt. Konkrete, mit Blick auf Einzelfälle bezogene Entscheidungen sind dabei der Rechtsprechung vorbehalten, die durch ihre Bindung an das Gesetz von Willkür-Entscheidungen abgehalten wird. Die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips durch zunehmend spezielle Gesetze mit der Folge einer tendenziell willkürlichen Machtausübung durch den Staat wird vielfach kritisiert (Calliess 1998: 41). Diese Tendenz ergibt sich jedoch auch aus dem Umstand, dass zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips Regelungen erlassen werden, die bestimmte Gruppen (Schutzbedürftige) bevorzugen und andere (z.B. ArbeitgeberInnen) belasten. Sie sollen dazu dienen, Bedingungen herzustellen, die eine gerechte Wirkung neutraler und allgemeiner Regelungen im Sinne dieses Gewaltenteilungsprinzips erst möglich machen. Sie können aber als Verletzung des demokratietheoretischen Erfordernisses gedeutet werden, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip bei der Rechtsetzung über Verfahren oder Inhalte in „Unkenntnis“ materieller Betroffenheiten und der konkreten Auswirkungen für Einzelne handeln soll (Maus 1992, zit. nach Calliess 1998: 119). Um diesem Dilemma zu begegnen, schlägt die Theorie des reflexiven Rechts die
242
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
strukturelle Gewährleistung „gestufter Unkenntnis“ der materiellen Interessen der jeweils bevollmächtigten Entscheidungsträger vor. Entscheidend für die Wahrung der Unvoreingenommenheit ist also die Formulierung allgemeiner Normen anstelle personen- oder gruppenbezogener Anspruchsrechte. So überzeugend und plausibel das Konzept der reflexiven Regulierung erscheint, ist der notwendige Formenwandel des Rechts doch mit der Herausforderung konfrontiert, die soziale Qualität von autonom getroffenen Vereinbarungen im Sinne des Sozialstaatsprinzips zu gewährleisten.
2.3 Die Wahrung sozialer Sicherheit im reflexiven Recht Das Sozialstaatsprinzip ist an mehreren Stellen im Grundgesetz, und damit in für den Gesetzgeber bindender Weise, verankert: Art. 20 Abs. 1 GG erteilt dem Gesetzgeber einen Gestaltungsauftrag und bürdet ihm die Verantwortung für den Schutz Hilfebedürftiger, insbesondere durch die Gewährleistung eines Existenzminimums, und allgemein die Herstellung sozialer Gerechtigkeit auf. Die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit fordert einen Mindestschutz von ArbeitnehmerInnen; daher darf der Gesetzgeber signifikante Schutzbedürfnisse im Berufsleben nicht ignorieren. Da ArbeitnehmerInnen auf den Abschluss eines Arbeitsvertrags ebenso wie auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses in größerem Maße angewiesen sind als der Vertragspartner (Bleses/Vetterlein 2002: 27ff.), kann die Berufsfreiheit beeinträchtigt sein, wenn die Verhandlungsmacht der ArbeitgeberInnen unkontrolliert zur Durchsetzung einseitiger Interessenwahrnehmung genutzt wird. Auch der Schutz des Bestands des Arbeitsplatzes ist Gegenstand der Berufsfreiheit (Dieterich u.a. 2009: GG Art. 12, RN 9). Daneben fordert die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) die Unterstützung und Gewährleistung des Tarifvertragssystems vom Gesetzgeber ein. Insofern ist der Souverän des demokratischen Sozialstaats nur in begrenztem Maße souverän; ihm ist – anders als dem klassischen liberalen Rechtsstaat – versagt, sich auf die Schaffung von Verfahrensvorschriften und die ‚negative’ Regulierung (Abbau von Markthemmnissen) zurückzuziehen (vgl. dazu Calliess 1998: 39). Das sozialstaatliche Gebot, die Tarifautonomie zu gewährleisten, weist daneben die Besonderheit auf, dass hierin zugleich eine Aufforderung zur Gewährleistung eines Freiraums liegt, die häufig als Beispiel für reflexives Recht beschrieben wird (Habermas 1992: 553; Calliess 1998: 131), weshalb sie sich besonders für empirische Beobachtungen zur Wirkungsweise reflexiven Rechts eignet. Vorweg werden aber schon erste Anforderungen an ein das Sozialstaatsgebot berücksichtigendes reflexives Recht deutlich: Zunächst müssen die Funktionsvoraussetzungen für eine eigenständige Regelung durch die Betroffenen (z.B. Verhandlungsmacht, Repräsentativität) definiert und gewährleistet werden. Es sind Rahmenbedingungen festzulegen, wobei die Ausgewogenheit der beauftragten Beteiligten gesichert sein muss. So gelten etwa als Kriterium für die „Tariffähigkeit“ von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen unter anderem deren Mitgliederzahl und die Zahl der schon abgeschlossenen Tarifverträge als Anzeichen für ihre Verhandlungsmacht. In Konstellationen, wo ein ausreichendes Gleichgewicht vorausgesetzt werden kann, bietet sich das Kriterium der paritätischen Besetzung von Entscheidungsgremien an. Allein das Kriterium der „Sachnähe“ wäre demgegenüber in vielen Fällen unzureichend, weil es die Asymmetrie von Verhandlungspositionen nicht berücksichtigt. Zudem müssen Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, dass Mindeststandards bei sozialen Kriterien unterschritten werden. Dies wäre etwa durch ein Eintritts-
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
243
recht des Staates möglich, wenn Verhandlungen zu scheitern drohen. Eine solche Interventionsdrohung einer übergeordneten Instanz wäre eine Motivation für die Verhandlungspartner, sich zu einigen, da sie durch eine Entscheidung durch die übergeordnete Instanz an Einfluss verlören (Benz 2007: 116).
3
Reflexive Regulierung im Praxistest
Stellvertretend für das individuelle und das kollektive Arbeitsrecht wollen wir im folgenden Abschnitt den Flächentarifvertrag und die Leiharbeit als Fallstudien vorstellen. Dabei wollen wir untersuchen, welche Elemente reflexiven Rechts die aktuellen Regelungen dieser beiden Beispiele aufweisen und welche Wirkungen hierdurch erzielt werden.
3.1 Die reflexive Grundstruktur der Tarifautonomie Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die sich als Reaktion auf die Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts bildeten, entwickelten nach zahlreichen Arbeitskämpfen Verfahren und Formen, mit deren Hilfe sich die antagonistischen Interessen ausgleichen und rechtlich kanalisieren ließen. Die Übertragung der Kompetenz zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf die Tarifpartner wird durch die Tarifautonomie in der Verfassung zwingend vorgeschrieben. Begründet wird dies dadurch, dass die Tarifparteien als „sachnah“ und die Prozesse der Lohnfindung und des Aushandelns von Arbeitsbedingungen als komplexe Vorgänge mit speziellen Eigendynamiken gelten, die der Gesetzgeber nicht leisten kann (BVerfG 2.3.1993, E 88, 103, 114). Damit ist die Erfüllung sozialer Aufgaben im Hinblick auf inhaltliche Fragen (wie bspw. Lohnhöhe, Arbeitszeitlänge) weitgehend ohne „Fangnetz“ in die Hände gesellschaftlicher Akteure gelegt. Nur in einzelnen besonders grundlegenden Fragen (z. B. Kündigungsschutz) trifft der Gesetzgeber konkrete Regelungen und legt fest, ob Tarifverträge hiervon abweichen dürfen oder nicht. Zudem bleibt die Letztverantwortung des Gesetzgebers im Sinne des Sozialstaatsprinzips bestehen, wonach die Verwirklichung der genannten Grundwerte garantiert sein muss.1 Die verfassungsrechtliche Pflicht, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu gewährleisten, wird insbesondere durch eine Regelung im Tarifvertragsgesetz (TVG) erfüllt, die Tarifnormen eine unmittelbare Wirkung für die Arbeitsverhältnisse der Verbandsmitglieder verleiht. Die Einigungen gesellschaftlicher Akteure ohne weiteres staatliches Eingreifen mit einer Verbindlichkeit auszustatten, so dass von ihnen nur ausnahmsweise durch individuelle Vereinbarungen abgewichen werden darf, ist eine Grundvoraussetzung für die Neutralität reflexiver Regulierung in Situationen mit deutlichem Machtgefälle unter den Betroffenen. Daher erlaubt das TVG nur punktuell abweichende Vereinbarungen, sofern zugunsten des/der ArbeitnehmerIn abgewichen wird (Günstigkeitsprinzip) oder wenn Abweichungen durch die betrieblichen Vertretungen im Tarifvertrag zugelassen sind (Öffnungsklauseln). Lange Zeit bildeten Flächentarifverträge das Rückgrat des Tarifsystems; doch allein seit 1996 ist der Anteil der tariflich geregelten Beschäftigungsverhältnisse um rund 15% 1 Dies betrifft z.B. die Sicherstellung des Gleichgewichts der Verhandlungsmacht, die Gewährung eines Existenz sichernden Einkommens oder den Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses.
244
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
gesunken (Dieterich 2008). 2006 wurden nur noch 54 % der Beschäftigten von einem Flächentarifvertrag erfasst (Bispinck/Dribbusch 2008).2 Eine aktuelle Gefährdung des lange Zeit funktionierenden reflexiven Systems der Tarifautonomie ergibt sich somit unter anderem aus der nachlassenden Reichweite von Tarifverträgen. Gleichzeitig führt der Mitgliederschwund bei den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften zu einem Verlust an Legitimation. Die im größten Dachverband DGB organisierten Gewerkschaften verloren zwischen 1998 und 2008 mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder (von rund 9,35 Mio. auf 6,37 Mio.; s. www.dgb.de/dgb/mitgliederzahlen/mitglieder. htm). Eine Erklärung liegt in veränderten Erwartungen und Wertvorstellungen der Mitglieder, wonach das Ideal einer übergreifenden Arbeitnehmersolidarität hinter ein gruppenegoistisches Konkurrenzverhalten zurücktritt (Dieterich 2008). Zugleich erforderten neue Unternehmensstrategien der Ausgliederung und Verlagerung von Unternehmensteilen eine weniger statische Betrachtungsweise von Schutzbedürfnissen der ArbeitnehmerInnen. Hieraus folgte wiederum eine Dezentralisierung des Tarifsystems zugunsten spezifischer Interessen der Belegschaften einzelner Betriebe, die teilweise von den Gewerkschaften ausging und die vermehrte Nutzung von Firmentarifverträgen und Öffnungsklauseln nach sich zog. Gewerkschaftlicher Widerstand gegen diese Entwicklung führte hingegen meist zu Konflikten zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten. Das zunehmende gruppenegoistische Verhalten spiegelt sich auch in der gewerkschaftlichen Organisation besonders durchsetzungsstarker Arbeitnehmergruppen und der Gründung bzw. Erstarkung von Gewerkschaften wie etwa des Marburger Bunds, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer oder der Vereinigung Cockpit. Auch die Arbeitgeberverbände verzeichnen einen Mitgliederschwund. Sie haben ihn allerdings teilweise aufgefangen, indem sie nun die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) anbieten, die von den Arbeitsgerichten zugelassen wurde. Die „OT-Mitglieder“ haben somit nur entfernt am System der Interessenvertretung im Arbeitsleben teil, da der vom Gesetzgeber aufgespannte Handlungsrahmen für die autonome Regelung des Arbeitslebens für diese Verbandsmitglieder nicht anwendbar ist. Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Befürchtung, die Kostenbelastungen eines Flächentarifvertrags würden sich für Unternehmen als Nachteil im globalen Wettbewerb auswirken (Dieterich 2008). Gleichzeitig mit der sinkenden Reichweite des alten Systems traten neue „Arbeitnehmervertretungen“ mit sehr geringen Mitgliederzahlen auf. Den Mitgliedsgewerkschaften des Dachverbandes Christlicher Gewerkschaftsbund (CGB) begegneten von Anfang an starke Zweifel hinsichtlich ihrer Legitimität. Zuletzt Anfang April 2009, wurde vom Arbeitsgericht Berlin die Tariffähigkeit der in dem Unterverband Christliche Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalservice-Agenturen, CGZP, organisierten Vereinigungen verneint – unter anderem wegen ihrer geringen Mitgliederzahl im Bereich Leiharbeit (Az. 35 BV 17008/08). Folgen die oberen Instanzen diesem Urteil, sind die abgeschlossenen Tarifverträge unwirksam. Es bestanden laut dem Arbeitsgericht auch deutliche Anzeichen für ein gegenüber der Arbeitgeberseite willfähriges Verhalten der CGZP-Gewerkschaften. Grundsätzlich kann das Modell der Tarifautonomie als ein typisches und gut funktionierendes Beispiel reflexiver Regulierung gesehen werden. Die Tarifautonomie gewährleistet den Tarifparteien den von staatlicher Regulierung unbeeinträchtigten Freiraum, das Tarifverfassungsgesetz formuliert einen konkreten Rahmen. Dabei wurde – in Unkenntnis zukünftiger Entwicklungen – zunächst zu Recht ein Machtgleichgewicht zwischen den 2
Für weitere 9 % der Beschäftigungsverhältnisse galten Firmentarifverträge.
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
245
Sozialpartnern unterstellt. Unter anderem zeigt die derzeit genutzte Möglichkeit, illegitime Interessenvertretungen ggf. aus dem System auszuschließen, dass sich das System mit eigenen Mitteln robust auch gegenüber geänderten Umweltbedingungen verhält. Mit den bestehenden Möglichkeiten lassen sich jedoch nicht alle der immer augenscheinlicher werdenden Unterschreitungen des Sozialstaatsgebots durch die autonom getroffenen Vereinbarungen lösen. Der Gesetzgeber sieht sich infolgedessen vermehrt mit Forderungen konfrontiert, direkt einzugreifen und z.B. gesetzliche Mindestlöhne zu regeln, um somit eine Einkommenssicherheit auf Minimalniveau zu gewährleisten. Diese Lösung wäre aber im Hinblick auf die mit dem reflexiven Recht verbundenen Vorstellungen ein Rückschritt. Da im Fall der Regelung von Arbeitsbedingungen die ‚regulierte Autonomie’ auch von der Verfassung vorgesehen ist, rankt sich die Diskussion demnach auch um die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs in die Tarifautonomie. Sie ist zu bejahen, wenn im Sozialstaatsgebot eine die Tarifautonomie begrenzende Letztverantwortung gesehen wird (so Dieterich 2008). Diese Frage kann aber mit Hilfe der Verfassung nicht eindeutig beantwortet werden. Vielmehr wird deutlich, dass die Autonomie der Tarifpartner ohne die Formulierung von klaren Bedingungen für den Eintritt der Letztverantwortung des Gesetzgebers garantiert wurde. Somit ist die Auslegung des Grundgesetzes - und damit der Stellenwert des Sozialstaatsgebots - im Rahmen des politischen Bedingungen unterliegenden Gesetzgebungsprozesses letztlich Verhandlungssache. Als alternativer Weg wurden daher vom Gesetzgeber „tarifgestützte Mindestlöhne“ favorisiert, bei denen der Staat die Geltung von Tarifverträgen auf tariffreie Zonen überträgt. Auch eine Allgemeinverbindlicherklärung ist ein staatlicher Eingriff in die Tarifautonomie, sie trägt aber weniger hierarchische Züge als eine direkte staatliche MindestlohnFestsetzung. Um einen Tarifvertrag allgemein verbindlich zu erklären, stehen zwei Möglichkeiten offen: Bei dem in § 5 TVG vorgesehenen Verfahren kann das Bundesarbeitsministerium einen Tarifvertrag, der mindestens 50% der betreffenden Beschäftigten erfasst, für allgemein verbindlich erklären, sofern die Spitzenverbände der Tarifparteien zustimmen. Im Hinblick auf die zunehmenden Austritte von Mitgliedern aus den Arbeitgeberverbänden – die das abnehmende Interesse an einer Tarifbindung demonstrieren – überrascht es jedoch nicht, dass diese Zustimmung kaum jemals erteilt wird: nur 1,5 % der Tarifverträge sind allgemeinverbindlich erklärt.3 Der zweite Weg erfordert dagegen ein Tätigwerden des Gesetzgebers: Das 1996 geschaffene Arbeitnehmerentsendegesetz erlaubt für einzelne Branchen eine Allgemeinverbindlicherklärung der untersten Lohngruppen auch ohne Zustimmung der Tarifparteien; eine Einbeziehung weiterer Branchen erfordert jedoch jeweils Aufnahmeanträge der Branchen und eine Gesetzesänderung. Nach der Aufnahme von sechs weiteren Branchen im Frühjahr 2009 erstreckt sich diese Möglichkeit auf nunmehr neun Branchen. Dass überhaupt nur acht (teilweise sehr kleine) Branchen im Jahr 2008 einen Antrag stellten, deutet auf ein geringes Interesse an dieser erleichterten Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung – obwohl sich (anders als beim Allgemeinverbindlichverfahren nach dem TVG) die allgemeine Verbindlichkeit nicht auf die höheren Lohngruppen und die anderen Arbeitsbedingungen erstreckt. Inwiefern wird dieses Verfahren der Logik des ‚reflexiven Rechts’ gerecht? Das Arbeitnehmerentsendegesetz respektiert die autonom von den Tarifparteien getroffenen Ver3 In den Niederlanden sind dagegen 70%, in Frankreich 90% aller Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt. Eine aufgrund der beschriebenen Entwicklungen abnehmende Durchsetzungskraft von Gewerkschaften wird so in diesen Ländern durch staatliche Eingriffe aufgefangen.
246
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
einbarungen, vermeidet die hierarchische Regulierung der Arbeitsbedingungen durch den Staat und erzielt dennoch für eine Reihe von Beschäftigten die Anhebung ihrer Einkommen. Die Auswahl der Branchen unter den Antragstellern erfolgt jedoch einerseits im Hinblick auf die Erforderlichkeit staatlichen Eingreifens angesichts von Armutslöhnen in der jeweiligen Branche, andererseits sollen andere bedeutsame Tarifverträge der Branche, die niedrigere Vergütungen vorsehen, möglichst nicht verdrängt werden. Aus letzterem Grund wurde etwa der Antrag der Leiharbeitsbranche abgelehnt. Dieses Kriterium, die Respektierung niedrigerer Tarifverträge, wirkt jedoch sachfremd, wenn man dieses Verfahren als ‚reflexive’ Alternative zu einer Wahrnehmung einer sozialstaatlichen Letztverantwortung versteht. Das gleiche gilt für die Entscheidung, die Aufnahme von einer Antragstellung abhängig zu machen. Beim Arbeitnehmerentsendegesetz haben demnach die Kriterien, die den reflexiven Charakter schützen sollten, sichtbar zu einer starken Beschränkung der sozialen Wirkung der Regelung geführt. Sowohl ein gesetzlicher Mindestlohn als auch ein Verzicht auf die Antragstellung als Vorbedingung für die Aufnahme (bzw. die Aufnahme aller Branchen) in das Arbeitnehmerentsendegesetz – ein Vorschlag, der im Gesetzgebungsverfahren ebenfalls diskutiert wurde – wären unter sozialstaatlichen Aspekten weit effektiver. Letzteres wäre auch mit dem Gedanken des ‚reflexiven Rechts’ gut vereinbar. Zudem müssten, um den offensichtlichen Funktionsstörungen der Tarifautonomie zu begegnen, neue Anreize für die Beteiligten entwickelt werden, (wieder) in das Tarifvertragssystem einzusteigen. Bereits das Aufstellen klarer Kriterien für den Eintritt einer Letztverantwortung des Staates, könnte das System stärken und gleichzeitig aufgrund der motivierenden Wirkung einer drohenden Regelung durch den Staat die Ausübung dieser Letztveranwortung in der aktuellen Situation entbehrlich machen.
3.2 Leiharbeit: Gelungene Neuregulierung atypischer Beschäftigung? Die Leiharbeit zählt zu den atypischen Beschäftigungsformen, bei deren Regulierung der Gesetzgeber eine Doppelrolle einnimmt: Einerseits regelt er ausdrücklich Ausnahmen von sonst zwingend geltenden arbeits- bzw. sozialrechtlichen Schutzregelungen (z.B. Ausnahme vom Kündigungsschutz bei befristeter Beschäftigung, Ausnahme von Sozialversicherungspflicht bei geringfügiger Beschäftigung), andererseits stellt er Regelungen auf, um diese Schutzlosigkeit teilweise wieder aufzufangen. Für die Leiharbeit gelten formal alle Arbeitnehmerschutzrechte, faktisch greifen diese aufgrund der besonderen Arbeitsumstände jedoch nicht. Die Leiharbeit birgt die Komplikation, dass Leiharbeitnehmer bei einem (Verleih-)Unternehmen angestellt sind, aber die Arbeitsleistung in einem anderen (Entleih)Unternehmen erbringen. Insofern ist die Spannung hinsichtlich der Zuständigkeit für die Konkretisierung der Arbeitsbedingungen schon in dieser Grundstruktur angelegt. Der Gesetzgeber erlaubt die Leiharbeit seit 1976, versucht dem hier bestehenden Schutzbedarf aber mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) gerecht zu werden. Seit der Arbeitsmarktkrise in den 1980er Jahren hat sich die Zielstellung der Regulierung atypischer Beschäftigung grundlegend verändert: An die Stelle des Erhalts des Normalarbeitsverhältnisses als dominierender Beschäftigungsform trat das Ziel, mittels atypischer Beschäftigung die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In der Folge senkten zahlreiche Gesetzesänderungen schrittweise das Schutzniveau für atypisch Beschäftigte. Und während
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
247
ursprünglich mit den atypischen Beschäftigungsformen auf besondere betriebliche Bedarfe reagiert wurde, besteht inzwischen eine weitgehend freie Wahl zwischen normalen und atypischen Beschäftigungsformen. Atypische Beschäftigung muss nicht prekär sein; speziell bei Leiharbeitnehmerinnen ist das Arbeitslosigkeitsrisiko aber 3,6 mal, bei Leiharbeitnehmern 3,1 mal so groß wie das einer/eines normal Beschäftigten (Brehmer/Seifert 2009). Die dramatische Situation der Leiharbeit wird daran deutlich, dass hier die Wahrscheinlichkeit, zu einem Niedriglohn arbeiten zu müssen, für Frauen 4,2 mal und für Männer 6,2 mal so groß ist wie im Normalarbeitsverhältnis. Wegen ihrer dezentralen und wechselnden Arbeitsorte sind LeiharbeitnehmerInnen zudem praktisch kaum durch Gewerkschaften oder Betriebsräte vertreten. Prinzipiell ist damit die Teilnahme der Leiharbeitsbranche am System der autonomen Aushandlung von Arbeitsbedingungen in Frage gestellt; möglicherweise ist dies eine vom Gesetzgeber unbedachte Folge. Mit einem Anteil von 2,4% (Bundesagentur für Arbeit 2008: 5) ist die Bedeutung von Leiharbeit absolut zwar nach wie vor gering, die Anzahl der Leiharbeitsverhältnisse ist jedoch in den vergangenen Jahren überproportional stark angestiegen, im Zeitraum 1997 bis 2007 um 260 % (BA 2008: 8). Durch die Arbeitsmarktreformen zwischen 2001 und 2005 wurde die Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere der Leiharbeit verstärkt gefördert. Um die Unternehmen anzuregen, anstelle von Überstunden vorübergehenden zusätzlichen Arbeitsbedarf durch Leiharbeit zu bewältigen (Bt-Ds.15/25: 24), wurde zum 1.1.2004 u.a. die Befristungshöchstdauer abgeschafft, die den Arbeitseinsatz auf zwei Jahre begrenzte. Die Unternehmen wurden damit zu einer Änderung ihrer Personalpolitik aufgefordert, die den Beschäftigungschancen von Arbeitsuchenden und gleichzeitig den Stammbeschäftigten zugute kommen sollte. In der Perspektive des reflexiven Rechts wird die Aufforderung zur Anpassung der Praktiken gesellschaftlicher Akteure als Aufforderung zur „Selbständerung“ (eines bestimmten Verhaltens) bezeichnet (Calliess 1999: 123 f.). Das Prinzip hierarchischer Steuerung hätte vermutlich auf striktere Arbeitszeitregulierungen zur Begrenzung des Einsatzes von Überstunden oder die Institutionalisierung von Einstellungsansprüchen4 bei nachweisbarem Arbeitsbedarf eines Unternehmens gesetzt. Faktisch hat die Abschaffung der Befristungshöchstdauer den Schutz des Normalarbeitsverhältnisses geschwächt, da sie nun eine (dauerhafte) Ersetzung von regulär Beschäftigten durch Leiharbeitnehmer ermöglicht. Zugleich hat die Reform jedoch nichts an den ‚alten’ Strategien der Unternehmen geändert, zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften in der kostengünstigsten Variante zu beziehen; die Leiharbeit ist aufgrund der Neuregelung nun schlicht als weitere Variante neben die Möglichkeit von Arbeitszeitverlängerungen getreten. Das Gleichstellungsgebot vom ersten Tag der Beschäftigung an,5 von dem durch Tarifvertrag abgewichen werden kann, stellt nun die einzige verbliebene Schutzregelung dar. Es ist jedoch ambivalent. Einerseits kann nun die Vergütung für LeiharbeitnehmerInnen nicht mehr frei im Arbeitsvertrag festgelegt werden, andererseits löst die neue Regelung für Unternehmen faktisch einen Zwang zum Abschluss eines Tarifvertrags aus, da sie so das Wirksamwerden des Gleichstellungsgebots vermeiden können. Die Tarifabschlüsse sind 4
Das Instrument der Einstellungsansprüche wird z.B. bei der befristeten Beschäftigung diskutiert. Danach soll befristet Beschäftigten in einem Unternehmen bei der Besetzung von offenen Stellen gesetzlich ein Vorrang eingeräumt werden. 5 Nach dem Equal Pay/Equal Treatment Prinzip stehen einer/m LeiharbeitnehmerIn während der Einsatzzeiten jener Lohn und jene Arbeitsbedingungen zu, die einer/m vergleichbaren ArbeitnehmerIn im Einsatzunternehmen gewährt werden.
248
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
zunächst überwiegend von den der CGZP angehörenden Vereinigungen getätigt worden, die allerdings – wie inzwischen auch vom Arbeitsgericht Berlin angenommen wird – nicht dazu legitimiert sind, was jedoch über Jahre nicht erfolgreich geltend gemacht werden konnte. Anscheinend haben diese einseitig das bei ArbeitgeberInnen aufgrund der gesetzlichen Regelungen starke Interesse an Tarifabschlüssen bedient. Die Tarifverträge der CGZP-Gewerkschaften zwangen wiederum die DGB-Gewerkschaften, die auch nur wenige Mitglieder im Bereich Leiharbeit haben, Tarifverträge abzuschließen, die sich inhaltlich an den CGZP-Tarifverträgen orientierten, um Arbeitgebern eine nicht zu unattraktive Alternative zu bieten. Da somit zuletzt nun rund 95 % der Leiharbeitsverhältnisse tariflichen Vereinbarungen unterlagen, war das als Auffanggrundsatz gedachte Gleichstellungsgebot dadurch ausgeschaltet. Sollte das Urteil, mit dem die Tarifunfähigkeit der CGZP-Gewerkschaften festgestellt wurde, in den oberen Instanzen bestätigt werden, wäre allerdings ein großer Anteil von Leiharbeitsverhältnissen (rund 40%) wieder tariffrei, was (auch nachträglich) zur Anwendung des Gleichstellungsprinzips führen würde. Wie beschrieben, erschwert die Situation in der Leiharbeit die Arbeitnehmervertretung. Laut der Gesetzesbegründung ging der Gesetzgeber aber davon aus, dass die Tarifparteien auch bei der Leiharbeit ihrer Schutzfunktion ebenso wie in allen anderen Bereichen gerecht werden könnten. „Die Regelungen, die bisher als Schutzmaßnahmen notwendig waren, weil Leiharbeit [...] vielfach als prekär angesehen werden musste, erübrigen sich“; es sei nun Aufgabe der Tarifparteien, „durch Qualität, Flexibilität und soziale Sicherheit Standards zu setzen“ (Bt-Ds.15/25, S. 24). Die Neuregelung zielte jedoch auf die Ausbreitung von Leiharbeit, was es notwendig machte, die Anstellung von LeiharbeitnehmerInnen für die Unternehmen so kostengünstig wie möglich zu machen. Die mit der Reform verfolgte Absicht implizierte somit die Inkaufnahme schwacher sozialer Schutzrechte. Die Regelung, die faktisch ein starkes Interesse der Arbeitgeberseite an Tarifverträgen auslöste, so dass die ungünstige Situation bei der Arbeitnehmervertretung im Bereich Leiharbeit zu einem vorhersehbar nicht interessengerechten Ergebnis führte, hatte eine Funktionsverkehrung der Tarifautonomie zur Folge. Die Idee des ‚reflexiven Rechts’ wird hierdurch konterkariert. Eigentlich hätte im Sinne eines reflexiven Rechts den Interessenvertretungen der Beschäftigten aller Branchen (und möglicherweise von Arbeitsuchenden) die Möglichkeit eingeräumt werden sollen, mit den Interessenvertretungen der Unternehmen die Bedingungen für den Einsatz von LeiharbeitnehmerInnen auszuhandeln und zu definieren, unter welchen Bedingungen Leiharbeit eine Alternative zur Langzeitarbeitslosigkeit darstellt. Tatsächlich behandeln einzelne Betriebsvereinbarungen größerer Unternehmen der Metallbranche auch jetzt schon teilweise diese Fragen, etwa durch die Definition von Höchsteinsatzdauern sowie von maximalen Anteilen von LeiharbeitnehmerInnen im Unternehmen (vgl. Kramme/Kremer 2009). Um eine flächendeckende Entwicklung solcher Vereinbarungen zu ermöglichen, wären jedoch entsprechende gesetzliche Weichenstellungen erforderlich. Anhand des Beispiels Leiharbeit bestätigt sich daher zum einen, dass der Gesetzgeber die Bedingungen, unter denen die gesellschaftlichen Akteure eigene Vereinbarungen treffen, einschließlich besonderer Anreiz- und Machtsituationen, unter dem Gesichtspunkt des Sozialstaatsprinzips berücksichtigen muss. Des weiteren macht das Beispiel der Leiharbeit deutlich, dass der Gesetzgeber zur Wahrung des Neutralitätsprinzips allen Beteiligten entsprechende Kompetenzen einräumen muss, die von den Wirkungen der Regelungen betrof-
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
249
fen sind - was bei Leiharbeit auch für die Normalbeschäftigten und die Arbeitsuchenden gilt.
4
Reflexive Regulierung: Königsweg oder Sackgasse? Ein vorläufiges Fazit
Grundsätzlich erscheint die Strategie, Kompetenzen an gesellschaftliche Akteure zu verlagern, die eine höhere Problemkenntnis aufweisen und kurzfristig spezifische Regelungsmechanismen entwickeln können, plausibel. Doch bestätigt sich empirisch die aus konzeptionellen Erwägungen abgeleitete Annahme, dass es auch für die Entwicklung eines reflexiven Rechts eine Herausforderung darstellt, die Sicherung der Letztverantwortung im Rahmen des Sozialstaatsprinzips mit der notwendigen Unvoreingenommenheit des Gesetzgebers zu vereinbaren. Das Beispiel der Tarifautonomie, ein komplexes und hoch entwickeltes System reflexiver Regulierung, hat gezeigt, dass die Delegation lange Zeit gut funktioniert hat, das Problem der veränderlichen Machtverteilung gesellschaftlicher Akteure nun aber in dem Moment an Bedeutung gewinnt, da das System der Flächentarifverträge erodiert und aufgrund dieser und anderer paralleler Entwicklungen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährdet ist. Prinzipiell muss der Gesetzgeber dies berücksichtigen und neue Ausgleichmechanismen entwickeln. Das (neuere) Beispiel der Reform der Arbeitnehmerüberlassung illustriert dagegen den (gescheiterten) Versuch, eine „Selbständerung“ der Unternehmen bei der Bewältigung von kurzfristigem Arbeitskräftebedarf zu erwirken, ohne dabei jegliche soziale Qualität der Regulierung preiszugeben. Die Letztverantwortlichkeit des Gesetzgebers sollte hier durch den Auffanggrundsatz (Geltung des Gleichstellungsgebots, wenn kein Tarifvertrag besteht) verwirklicht werden, bei dessen Ausgestaltung die Besonderheiten der Leiharbeit jedoch nicht berücksichtigt wurden. Diese – hier sehr exemplarischen und oberflächlichen – Analysen lassen einige Grenzen der reflexiven Regulierung deutlich werden. Zu prüfen wäre jedoch anhand weiterer empirischer Analysen, inwiefern sich z.B. die Probleme, die im Sozialrecht auftreten, insbesondere in den SGB II und III, durch eine reflexive Regulierungsstrategie möglicherweise vermindern lassen. Für eine Strategie der reflexiven Regulierung auch bei der Regulierung des Arbeitsmarkts lassen sich dennoch bereits anhand der arbeitsrechtlichen Beispiele drei zentrale Mechanismen identifizieren. Fangnetz einbauen: Es fehlt an effektiven Mechanismen, mittels derer die durch die Verfassung garantierten sozialen Mindeststandards gesichert, d.h. die Letztverantwortlichkeit des Gesetzgebers realisiert werden kann. Es wurde deutlich, dass das Sozialstaatsprinzip sehr vage ist und dessen Konkretisierung auf politischem Wege geltend gemacht werden muss. Daher ist es entscheidend, gleichzeitig mit dem Abbau herkömmlicher Schutzrechte sichere Verfahren für die Letztverantwortlichkeit zu regeln, um die verfassungsrechtliche Garantie nicht leerlaufen zu lassen. Der „Auffanggrundsatz“ in der Arbeitnehmerüberlassung ist hier prinzipiell eine interessante Regelung, da er gleichsam als „Rute im Fenster“ wirkt und damit die Letztverantwortung institutionalisiert. Andererseits wird damit gerade bei der Arbeitnehmerüberlassung ein Abbau von Schutzrechten nicht aufgefangen. Die Letztverantwortung darf dabei nicht an ökonomischer Effektivität gemessen werden. Mit der Delegation von Regelungskompetenzen an die Wirtschaft und die Tarifvertragsparteien ist bereits die Absicht verbunden, auch unter ökonomischen Kriterien sinnvolle Vereinba-
250
Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld
rungen zu ermöglichen. Auffangregelungen zur Sicherung der Letztverantwortlichkeit müssten dagegen gerade die Gewährleistung der Prinzipien des Sozialstaatsgebots sicherstellen. Kompetenz und Legitimität sozialer Akteure überprüfbar machen: Zweitens müssen soziale Machtverhältnisse berücksichtigt bzw. die Delegation an bestimmte Kriterien geknüpft werden, die die Regulierungsfähigkeit der Akteure ausweisen. Für das Tarifsystem hat der Gesetzgeber mit der „Tariffähigkeit“ ein solches – allerdings vages – Kriterium vorgegeben. Nachdem dieses Kriterium lange Jahre – aufgrund der Dominanz der DGBGewerkschaften als grundsätzlich legitime Arbeitnehmervertreter – überhaupt nicht hinterfragt wurde, ist es nun aufgrund der Veränderung der Tariflandschaft hochrelevant geworden. Zudem müsste im Rahmen parlamentarischer Beratungen eine regelmäßige Aktualisierung solcher Kriterien institutionalisiert werden. Insofern kann Regulierung nicht nur einfach reflexiv bei der Implementation gedacht sein, sondern der Gesetzgeber müsste unter Einbeziehung der sozialen Akteure bzw. ihrer Repräsentanten zu einer fortlaufenden Prüfung dieser Kriterien aufgefordert sein. Des weiteren muss sichergestellt werden, dass sich die Beteiligten in durch starke Machtgefälle geprägten Situationen nicht dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Ziel des Interessenausgleichs entziehen können. Dies würde eine gesetzliche Entscheidung über die Reichweite von autonom gefundenen Regelungen erfordern: Sollen sie für alle verbindlich gelten oder nur für die, die sich dafür entscheiden? Insbesondere bei letzterer Alternative muss ein Rahmen geschaffen werden, der eine weitgehend flächendeckende Teilnahme am jeweiligen System nahelegt. Teilweise könnte dieser Punkt bereits durch eine konkretere Ausgestaltung der gesetzgeberischen Letztverantwortung auch für den Fall mangelnder Beteiligungsbereitschaft verwirklicht werden. Ziele definieren, die durch Verfahren durchgesetzt werden sollen: Drittens schließlich besteht die Möglichkeit, dass Verfahrensregeln unmittelbar mit generellen Zielvorgaben (Sicherung des Existenzminimums, Gleichbehandlung, Bestandsschutz des Arbeitsplatzes) verbunden werden. Diese Ziele müssen nicht ausdrücklich den Parteien vorgegeben werden, sondern können auch durch das Setzen von entsprechenden Anreizen erfolgen, die auch durch Regelungen in anderen Bereichen entstehen können. Auf diese Weise könnte Dynamiken gleichzeitig Raum gegeben und ihre Kontrolle gewährleistet werden. Insgesamt zeigt sich, dass auch die reflexive Regulierung kein Königsweg ist, sondern Reformen mit deutlichen Merkmalen reflexiven Rechts auch als eine ‚undercover’-Strategie genutzt werden können, die den Abbau von Schutzrechten und den Rückzug des Gesetzgebers zugunsten von nicht am Sozialstaatsgebot orientierten Zielen vorantreiben. Die Komplexität der sozialen Kontexte und Interaktionen erschwert die a-priori-Formulierung von Auffangmechanismen, Bewertungskriterien und der Entwicklung ‚funktionierender’ Instrumentenkombinationen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine größere Effektivität zwangsläufig nur mit einem Verzicht auf soziale Zielsetzungen erkauft werden kann. Entscheidend wäre, dass der Gesetzgeber sich bei der Formulierung der Auffangmechanismen und Bewertungskriterien nicht auf eine Analyse von gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen stützt, die unsicher und damit verschiedenen interessengeprägten Deutungen ausgeliefert sind. Aufgabe des Gesetzgebers wäre zunächst, wesentliche Grundan-
Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?
251
nahmen über Funktionsweisen zu erarbeiten, die generell und allgemein genug sind, um eine zweifelsfrei interessenneutrale Basis abzugeben.
Literatur Benz, A. (2007): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Betzelt, S./Bothfeld, S. (2009): Institutional and social impacts of activation strategies. In: Center for Social Policy/ IDEAP (Hrsg.) Report: Review of Research on the long-term and societal effects of activation (Deliverable D01.11). EU-Network of Excellence “Reconciling Work and Welfare in Europe (Project n° 028339, 6. FP). Bleses, P./Vetterlein, A. (2002): Gewerkschaften ohne Vollbeschäftigung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bispinck, R./Dribbusch, H. (2008): Tarifkonkurrenz der Gewerkschaften zwischen Über- und Unterbietung. Zu aktuellen Veränderungen in der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft. In: Sozialer Fortschritt 6. 153-163. Brehmer, W./Seifert, H. (2009): Atypisch Beschäftigte. In der Krise schlecht geschützt. In: böcklerimpuls 3. 1. Bundesagentur für Arbeit (2008): Arbeitsmarktberichterstattung. Branchen und Berufe in Deutschland. 1997-2007. Zeitarbeit. Nürnberg. Bundesagentur für Arbeit. Calliess, G.-P. (1998). Prozedurales Recht. Baden-Baden, Nomos. Dieterich, T. (2008): Tarifautonomie: Altes Modell - neue Realität. In: Kritische Justiz 1. 71-81. Dieterich, T. u.a. (2009): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht. München, C.H. Beck. Esping-Andersen, G./Regini, M. (Hrsg.) (2000): Why deregulate labour markets? Oxford, Oxford University Press. Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Frankfurt/M., Suhrkamp. Hall, P./Soskice, D. (Hrsg.) (2001): Varieties of capitalism. Oxford: Oxford University Press. Hans-Böckler-Stiftung (2008): WSI-Betriebsrätebefragung 2004/2005 und 2007. In: böckler-impuls 5. 1. Kramme, A./Kremer, S. (2009): Leiharbeitsrecht – Der status quo und die notwendigen Reformen. In: Arbeitsrecht im Betrieb 2: 66-69. Kremer, S. (2008): Bewusstsein- und Verhaltensänderungen durch die "Flexibilisierung" des Arbeitsrechts. Baden Baden: Nomos. Rogowski, R./Schmid, G. (1997): Reflexive (De-)Regulierung. Discussion Paper Berlin, Wissenschaftszentrum Berlin/ Social Science Center Berlin. Schuppert, G. F. (2005): Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen. In: Ders. (Hrsg.), Governance-Forschung. Baden-Baden, Nomos. 371-469. Teubner, G./Willke, H. (1984): Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6. 1. 4-35. Thelen, K. (2003): How institutions evolve. Insights from comparative historical analysis. In: Mahoney, J./Rueschemeyer, D. (Hrsg.), Comparative historical analysis in the social sciences. New York, Cambridge University Press. 208-240.
252
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland? Zur Bedeutung der Europäischen Beschäftigungsstrategie und des Europäischen Sozialfonds im arbeitsmarktpolitischen Geschehen Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
1
Einleitung
Die Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam im Jahr 1997 kann als ein Meilenstein in der europäischen beschäftigungspolitischen Debatte betrachtet werden. Damit haben die europäischen Mitgliedstaaten anerkannt, dass die Beschäftigungspolitik eine Angelegenheit von ‚gemeinsamen Interesse’ ist und dass die beschäftigungspolitischen Maßnahmen der jeweiligen Länder Konsequenzen für die anderen Mitgliedstaaten haben.1 Zur Koordinierung ihrer Aktionen stehen ihnen institutionalisierte Verfahren zur Verfügung, die gemeinsam als Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) bezeichnet werden, die auf dem Europäischen Rat von Lissabon im Jahre 2000 folgendes Ziel formuliert hat: Die Europäische Union (EU) sollte der „wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt (…) werden, fähig zu nachhaltigem wirtschaftlichem Wachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und größerem sozialen Zusammenhalt“ (Europäische Kommission 2009c). Die Durchführung von Koordinierungsverfahren wird seit diesem Zeitpunkt als Lissabon-Strategie bezeichnet. Der Europäische Sozialfonds (ESF) wurde hingegen bereits 1957 ins Leben gerufen und besteht somit deutlich länger als die Verfahren der EBS. Seit 2000 versteht sich der ESF als ein wichtiger Impulsgeber der EBS, indem er Maßnahmen finanziert, die zur Zielerreichung der EBS beitragen. Kann behauptet werden, dass die europäischen Instanzen mit Hilfe der EBS und des ESF die deutsche Beschäftigungspolitik tatsächlich beeinflusst haben bzw. weiterhin beeinflussen? Dieser Frage soll anhand einer Dokumentenanalyse nachgegangen werden. Hierzu werden zunächst die relevanten Akteure und die jeweiligen Steuerungsmechanismen der EBS und des ESF genauer dargestellt. In wie weit die EBS in Deutschland greift, wird im letzten Teil anhand einer Untersuchung der deutschen Berichterstattung auf europäischer Ebene und einer Gegenüberstellung der europäischen Forderungen mit den Entwicklungen in der deutschen Beschäftigungspolitik eingeschätzt. Schließlich wird die Rolle des ESF in Deutschland insbesondere im Hinblick auf die EBS beleuchtet.
1 Sie haben sich verpflichtet, ihre Politiken zu koordinieren, wodurch die bisherige traditionelle Zusammenarbeit, wie sie in Form von Austausch- und Dokumentationsarbeit bei der OECD oder der ILO stattfindet, überholt wurde.
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik 2
253
Die Europäische Beschäftigungsstrategie
2.1 Relevante Akteure und ihre Beziehungen zueinander Die relevanten Akteure der EBS sind auf der europäischen Ebene der Rat der Europäischen Union (Rat) und die Europäische Kommission: Die Ausgestaltung der EBS wird auf Vorschlag der Europäischen Kommission mit qualifizierter Mehrheit (Artikel 128 Abs. 2 EGV) vom Rat entschieden. Die Europäische Kommission spielt insofern als „'editor' of knowledge and ideas into standards“ (Jacobsson 2004: 362) eine wichtige Rolle.2 Auf der nationalen Ebene sind die staatlichen Instanzen der Mitgliedsländer und die Sozialpartner relevante Akteure. Nach Artikel 126 EGV wird die Richtung des beschäftigungspolitischen Handelns durch den Rat und die Europäische Kommission vorgegeben, so dass die Mitgliedstaaten rechtlich zur Anpassung ihrer beschäftigungspolitischen Maßnahmen verpflichtet sind. Dagegen wird in Artikel 128 EGV die Berichtspflicht, aber nicht die Umsetzungspflicht festgelegt, d.h. dass ein völliges Ignorieren der Vorgaben des Rates seitens der Mitgliedstaaten einen justiziablen Vertragsverstoß darstellen würde, aber die Mitgliedstaaten zur vollständigen Umsetzung nicht verpflichtet sind. Auf dem Lissabonner Gipfel wurde durch die Aufnahme des Sozialprotokolls in den EG-Vertrag, die besondere Rolle der Sozialpartner festgelegt: „Im Rahmen eines Querschnittsziels werden die Mitgliedstaaten jetzt aufgerufen, eine umfassende Partnerschaft mit den Sozialpartnern aufzubauen, und die Sozialpartner auf europäischer Ebene werden aufgefordert, festzulegen, worin ihr eigener Beitrag zu dem Prozess bestehen soll“ (Europäische Kommission 2002: 17). Auch bei der Formulierung der beschäftigungspolitischen Ziele werden die Sozialpartner einbezogen, denn nach Artikel 139 EGV befragt die Europäische Kommission die europäischen Sozialpartner, bevor sie dem Rat Vorschläge im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik macht. Somit sind die Mitgliedstaaten auf der nationalen und der Rat bzw. die Europäische Kommission auf der europäischen Ebene Hauptakteure der EBS, deren Beziehung sich durch die Prinzipal-Agent Theorie abbilden lässt. Der Rat in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission ist als Prinzipal derjenige, der aus der Handlung der Agenten, d.h. der Mitgliedstaaten einen Nutzen in Form einer guten Beschäftigungslage der Gemeinschaft zieht und für diesen Nutzen auch bereit ist, einen entsprechenden Preis zu bezahlen. Der Nutzen der Mitgliedsländer ist es, durch die Erreichung der europäischen Ziele ebenfalls die nationale Beschäftigungslage zu verbessern, jedoch unter der Bedingung, dass die Reputation der Regierung gegenüber der Wählerschaft gewahrt bleibt. Insofern erteilt hier der Prinzipal den Mitgliedsländern einen beschäftigungspolitischen Auftrag. Doch die Agenten haben eine starke Position: Erstens liegt nach Art. 127 Abs. 1 EGV die Zuständigkeit im beschäftigungspolitischen Bereich bei den Mitgliedsländern. Zweitens führt die Unverbindlichkeit des beschäftigungspolitischen Auftrags nach Artikel 128 EGV in Kombination mit fehlenden konkreten Sanktionsmöglichkeiten dazu, dass es zu einer unterschiedlichen Rechtsbefolgung der EU-Mitgliedstaaten kommt. Der Erfolg der EBS hängt demnach stark vom politischen Willen der Mitgliedstaaten ab. Drittens liegt die Überwachung im Zuständigkeitsbereich des Rates, d.h. die Vertreter der Mitgliedstaaten sind damit beauftragt, die einzelnen Mitgliedstaaten zu überwachen. So kann zwar die Zusammenarbeit besser koordiniert werden, aber es können auch Ineffek2 Konkret agiert die Europäische Kommission insbesondere über den vertraglich definierten Beschäftigungsausschuss (EMCO) (Artikel 130 EGV). Zu den Aufgaben des EMCO siehe Europäische Kommission 2009a.
254
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
tivitäten auftreten, da die Überwachung in der Hand der zu Überwachenden liegt und somit vom politischen Willen der Mitgliedstaaten abhängt (Göbel 2002). Folglich setzt die EBS auf Steuerungsmechanismen, die die Agenten einem hohen politischen Druck aussetzen sollen. Diese werden im nächsten Abschnitt genauer betrachtet.
2.2 ’Weiche’ Steuerung: Die Offene Methode der Koordinierung Im Rahmen der EBS werden beschäftigungspolitische Ziele definiert, die die Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern verwirklichen sollen. Diese quantifizierten Ziele werden im Anhang zusammenfassend dargestellt. Zur Erreichung dieser Ziele wird die Offene Methode der Koordinierung (OMK) als weiches Steuerungsmechanismus eingesetzt. Die OMK ist kein klassisches Steuerungsinstrument, das anhand von direkten rechtlichen oder monetären Restriktionen das Ziel einer einheitlichen europäischen Staatsgewalt verfolgt (Joerges 2003). Sie stellt vielmehr eine neue Form der Governance dar, die sich zum einen oberhalb des Intergouvernementalismus befindet, d.h. die zentralen Akteure der beschäftigungspolitischen Verfahren sind nicht nur auf der nationalen Ebene zu finden. Zum anderen ist es aber auch unterhalb des Supranationalismus angesiedelt, so dass das nationalstaatliche Souveränitätsrecht erhalten bleibt und nicht völlig an eine übergeordnete EU-Institution verschoben wird. Hierbei sind "Ergebnisse [die Beschäftigungsziele] dann legitim, wenn sie das Ergebnis eines freien und begründeten Einverständnisses unter Gleichen sind" (Cohen 1989: 22, eigene Übersetzung). Es handelt sich somit um eine Form der deliberative governance, bei welcher die Begründung seitens der EU-Akteure und die Einsicht seitens der Mitgliedsländer im Vordergrund stehen. Die OMK konkretisiert sich an erster Stelle durch institutionalisierte Austausch- und Bewertungsprozesse. Folgende Schritte liegen ihnen nach Artikel 128 EGV zugrunde: 1. 2.
3.
Der Europäische Rat überprüft die Beschäftigungslage in der Gemeinschaft und nimmt dazu Stellung. Anhand dieser Stellungnahme legt der Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission mit einer qualifizierten Mehrheit Leitlinien fest, welche die Mitgliedstaaten in ihrer Beschäftigungspolitik berücksichtigen sollen. Im Jahr 2005 wurde die LissabonStrategie neu geregelt, wobei die beschäftigungspolitischen Leitlinien mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik zu 24 ‚integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung’ zusammengeschlossen wurden, die eine Gültigkeitsdauer von 3 Jahren haben.3 Die Mitgliedstaaten berichten dem Rat und der Europäischen Kommission alle drei Jahre in Form eines Nationalen Reformprogramms (NRP) über die wichtigsten Maßnahmen, die sie zur Umsetzung der Leitlinien durchgeführt haben.4 Vor 2005 haben die Mitgliedsländer jährlich beschäftigungspolitische Nationale Aktionspläne (NAP) vorgelegt.
3 Vor 2005 koexistierten auf EU-Ebene getrennte beschäftigungs- und wirtschaftspolitische Prozesse, die jeweils von der Europäischen Kommission gesteuert wurden. Im beschäftigungspolitischen Bereich schwankte die Anzahl der Leitlinien zwischen 22 im Jahr 1999 und 10 im Jahr 2003. 4 Jährlich werden ergänzend Umsetzungs- und Fortschrittsberichte vorgelegt.
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik 4.
5.
255
Der Europäische Rat überprüft die Umsetzung der Leitlinien. Bei unzureichender Beachtung soll durch beschäftigungspolitische Empfehlungen ein Druck zur Umsetzung der Ziele ausgeübt werden.5 Auf der Grundlage der Evaluierungsergebnisse erstellen schließlich Rat und Europäische Kommission den Gemeinsamen Beschäftigungsbericht für das betrachtete Jahr. Dort wird über die Beschäftigungslage auf der Mitglieder- und der Gemeinschaftsebene sowie über die Umsetzung der Leitlinien berichtet.
Diese institutionalisierten Verfahren werden durch Benchmarking- und Monitoringprozesse flankiert. Durch Benchmarking werden systematisch die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Mitgliedsländer verglichen, um die erfolgreichen Länder als Maßstab für Entwicklungslinien zu nehmen. Nach Böhnert (1999) zeichnet sich Benchmarking durch vier Elemente aus: Erstens durch einen dynamischen Prozess, welcher sich im Rahmen der EBS in den regelmäßig durchgeführten Prozessen der OMK widerspiegelt. Zweitens werden durch das ‚management by objectives’ die Programmziele gemeinsam festgesetzt; es ist den Mitgliedstaaten aber freigestellt, wie sie das Ziel erreichen. Drittens zeichnet sich Benchmarking durch Lernprozesse aus: In Form von policy learning sollen Handlungsweisen der ‚erfolgreichen Länder’ institutionell von allen Mitgliedsländern übernommen werden. Als viertes Element ist das Wettbewerbsprinzip zu nennen. „Damit verbunden sind insbesondere die Herausstellung vorbildlicher Verfahren (als positives naming), die gemeinsamen Beschäftigungsberichte (naming and shaming) sowie die beschäftigungspolitischen Empfehlungen (shaming) zu nennen“ (Stephan 2007: 66.). Durch ‚naming and shaming’ sollen die Umsetzungserfolge oder - misserfolge öffentlich dargelegt werden. Das Monitoring besteht in der regelmäßigen Überwachung, Bewertung und gegenseitigen Prüfung des Handelns der Mitgliedstaaten. Monitoring erfolgt vor allem durch eine hohe Transparenz, d.h. u.a. durch die Veröffentlichung der Ergebnisse des Benchmarkings (Schmid/Kull 2004). Ein effizientes Überwachungs- und Bewertungssystem soll die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten kompensieren (Stephan 2005).6 Die OMK zeigt aber aufgrund der ihr zugrunde liegenden weichen Form der Steuerung auch Grenzen auf: Anlässlich der Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie durch die sogenannte ‚Wim Kok’-Taskforce wurden die Ergebnisse der OMK evaluiert. Insbesondere wurden die Bereiche kritisiert, bei welchen die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten bleiben, etwa der Arbeitsmarktpolitik. Als Grund hierfür wird das mangelnde politische Engagement einzelner Staaten (Hochrangige Sachverständigengruppe 2005) genannt, da die nationalen Parlamente und die BürgerInnen nicht ausreichend bei der Umsetzung der OMK beteiligt wurden, wodurch der notwendige politische Druck schwächer ausfällt als geplant (Begg 2008). Zudem zeichnen sich die Mitgliedstaaten durch differente Wohlfahrtsstaatstypen aus (vgl. Beitrag von Sesselmeier/Somaggio in diesem Band), wodurch sie sich in den gesellschaftlichen normativen Vorstellungen und Erwartungen unterscheiden können. Wird im Rahmen der EBS gerade damit gebrochen, kann es auf der Ebene der Mitgliedstaa-
5
Anders als bei der Wirtschafts- und Währungsunion sind hier keine rechtsverbindlichen Sanktionen vorhanden. Die Benchmarking- und Monitoringprozesse werden durch unterschiedliche Gremien gestützt. Die Arbeitsgruppe ‚Indikatoren’ erarbeitet die beschäftigungspolitisch relevanten Indikatoren (Europäische Kommission 2009b). Das ‚Programm zum gegenseitigen Lernen’, das seit 2005 das bisherige ‚Peer-Review-Programm’ ersetzt, unterstützt die Verbreitung guter Praktiken. 6
256
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
ten zu Akzeptanzproblemen (Eichhorst et al. 2008) und einer Schwächung der OMK kommen.
3
Der Europäische Sozialfonds
3.1 Akteure der ESF-Förderung Mit dem ESF wird das allgemeine Ziel verfolgt, die „Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt zu verbessern (…) [um so] innerhalb der Gemeinschaft die berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der Arbeitskräfte zu fördern sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtern“ (Artikel 146 EGV). Wie bei der EBS beruht die ESF-Förderung auf eine Zusammenarbeit zwischen nationalen und europäischen Akteuren. Die Verwaltung des ESF obliegt gemäß Art. 147 EGV der Europäischen Kommission, die das Vorhaben der ESFAktionen bestimmt. Die nationalen Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten sind mit der Durchführung beauftragt, d.h. sie stellen ihre eigenen operationellen Rahmenprogramme auf, die den Einsatz der ESF-Mittel im jeweiligen Land definieren. Darüber hinaus sind die nationalen Behörden für die Auswahl und Überwachung der Projekte verantwortlich. Die Umsetzung der Programme erfolgt wiederum durch öffentliche und privatwirtschaftliche Träger. Zielpersonen dieser Projekte können zum einen einzelne Hilfebedürftige sein, die beispielsweise an Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Zum anderen können auch Unternehmen Zielgruppen der aus dem ESF finanzierten Projekte sein. Im Sinne der Prinzipal-Agent-Theorie sind die Mitgliedsländer die Agenten, die sich durch die Fördermittel aus dem ESF einen Nutzen in Form einer besseren nationalen Beschäftigungslage erhoffen. Der Prinzipal (Europäische Kommission) erteilt den Mitgliedsländern (den Agenten) erst dann einen beschäftigungspolitischen Auftrag, wenn diese ein konkretes Rahmenprogramm nach engen Vorgaben ausgearbeitet haben, so dass im Falle des ESF der Prinzipal eine starke Position hat. Der Prinzipal zieht – analog zur EBS – aus der Handlung der Mitgliedstaaten (den Agenten) einen Nutzen in Form einer guten Beschäftigungslage der Gemeinschaft. Für diesen Nutzen ist er auch bereit Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, deren Modalitäten im nächsten Abschnitt betrachtet werden.
3.2 Die ‚Harte’ Finanzsteuerung Der ESF wird – als das wichtigste Finanzierungsinstrument der EU – über siebenjährige Programmzyklen verwaltet. In der gegenwärtigen Periode (2007-2013) stellt die EU knapp 10% ihres Haushalts dem ESF zur Verfügung (Europäische Kommission 2009d). Dies entspricht rund 75 Mrd. Euro, die nach dem relativen Wohlstand der EU-Regionen verteilt werden. Diese werden – wie Abbildung 1 zeigt - entweder dem Konvergenzziel oder dem Ziel der Regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zugeordnet (ABI 2006).
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik Einteilung der EU-Regionen in der ESF-Förderung.
Konvergenzregionen
Phasing-Out-Region
KONVERGENZZIEL
Phasing-In-Region
größer als
BIP/Kopf: 75% der EU-15 (2000-2006) kleiner als
BIP/Kopf: 75% der EU-15 (2007-2013) größer als
größer als
kleiner als
BIP/Kopf: 75% der EU-25 (2007-2013)
kleiner als
Abbildung 1:
257
Regionen mit dem Ziel ‚Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung‘
ZIEL DER ‚Regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung‘
Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Europäischer Kommission (2009f).
Grundsätzlich ist aber der Einsatz von ESF-Mitteln mit einzelstaatlichen öffentlichen oder privaten Finanzmitteln zu koppeln, so dass die jeweiligen Mitgliedstaaten als ergänzende Financiers auftreten müssen (Europäische Kommission 2005). Der Umfang der finanziellen Unterstützung durch den ESF liegt in den Konvergenzregionen bei bis zu 85% und in Regionen der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in der Regel bei 50% der Gesamtkosten. Der ESF kofinanziert aber nur die Maßnahmen, die den jeweils gültigen Förderschwerpunkten entsprechen und auf nationaler Ebene nicht gefördert werden können. Tabelle 1 liefert einen Überblick über die Schwerpunkte und die entsprechende Mittelverteilung auf EU-Ebene:
258
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
Tabelle 1: Überblick über die Mittelverteilung nach Schwerpunkten. Schwerpunkte VerbesserungderLeistungsfähigkeitdesHumankapitals VerbesserterZugangzuBeschäftigungundNachhaltigkeit VerbesserungderAnpassungsfähigkeitvonBeschäftigtenundUnͲ ternehmen VerbesserungdersozialenEingliederungbenachteiligterMenschen StärkungderLeistungsfähigkeitderVerwaltungsbehördenaufnaͲ tionaler,regionalerundlokalerEbene AktivitätenzurDurchführungvonReformenindenBereichen‚BeͲ schäftigung‘und‚Eingliederung‘ Quelle: Tabelle nach Europäischer Kommission 2009d.
Anteilanden Gesamtausgaben 34% 30% 18% 14% 3% 1%
Wie verhält sich aber die ESF-Förderung gegenüber der EBS? Mit der Neuordnung der Strukturfonds ab 2000 wurden der Geltungsbereich und die Ziele des ESF neu festgelegt, damit dieser stärker auf die EBS ausgerichtet ist: „Ein Grundprinzip der Europäischen Beschäftigungsstrategie ist es, von passiven zu aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen überzugehen. Der ESF ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Impulsgeber“ (Europäische Kommission 2001: 5). Für den Zeitraum 2007-2013 hat die Europäische Kommission bestimmt, dass 60% der Finanzmittel der Strukturfonds im Zielgebiet ‚Konvergenz‘ und 75% der Finanzmittel der Strukturfonds für das Zielgebiet ‚Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung‘ für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und die Erhöhung der Beschäftigung, insbesondere auch für die Erreichung der EBS-Ziele der integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung vorgesehen werden sollen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007: 132). Dadurch hat der ESF einige der Ziele der EBS in sein Förderprogramm übernommen.
4
Case Study Deutschland
4.1 Bilanz der Europäischen Beschäftigungspolitik in Deutschland 4.1.1 Die Nationalen Aktionspläne bzw. Reformprogramme Die Bundesrepublik Deutschland hat zum ersten Mal 1998 - zusammen mit 14 anderen Mitgliedstaaten - einen Nationalen Aktionsplan (NAP) abgegeben. In Deutschland wurden u.a. die zuständigen Bundesministerien, die Bundesregierung, die Länder, die Bundesagentur für Arbeit, die kommunalen Spitzenverbände und die Sozialpartner in die Erstellung der meisten NAP bzw. NRP eingebunden, wobei dies von Jahr zu Jahr variierte. In den deutschen NAPs wurde systematisch auf die einzelnen damals reinen beschäftigungspolitischen Leitlinien eingegangen. Die NAPs waren so gegliedert, dass jeder Leitlinie ein spezifischer Abschnitt entsprach, womit es der Europäischen Kommission möglich war, die Fortschritte bei jeder ihrer Prioritäten einzuschätzen. Es war dadurch nicht möglich, über eine ‚problematische’ Leitlinie nicht zu berichten. Somit hat sich Deutschland auf die oben beschriebe-
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
259
nen Austausch- und Bewertungsprozesse der OMK eingelassen, was aber nicht bedeutet, dass sie die Forderungen des Rates vollständig umgesetzt hat, sondern dass der Druckaufbau durch die Mechanismen der OMK möglich war. Seit 2005 berichten die NRPs entsprechend den integrierten Leitlinien über Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik, was ein sehr breites Spektrum an Fragestellungen deckt. Dies hatte zufolge, dass auf europäischer Ebene die Zuständigkeit für die Auswertung der deutschen Berichte von der Generaldirektion ‚Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit’ an die Generaldirektion ‚Unternehmen und Industrie’ transferiert wurde. Gleichzeitig wurde bei der Teilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit die Federführung für die Berichterstattung dem Bundeswirtschaftsministerium zugewiesen. Diese Veränderungen der Inhalte und der Verfahren der Berichterstattung haben für die Umsetzung der OMK im beschäftigungspolitischen Bereich drei Konsequenzen. Zum einen hat sich Deutschland erhebliche Spielräume in der Berichterstattung geschaffen, in dem sie eigene vorrangige Politikfelder definiert hat und wonach sich die NRP 2005-2008 und 2008-2010 gliedern: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wissensgesellschaft und Innovation voranbringen, Märkte offen gestalten und den Wettbewerb stärken, Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit verbessern, öffentliche Finanzen tragfähig gestalten, nachhaltiges Wachstum sichern und soziale Sicherheit wahren, Ökologische Innovation als Wettbewerbsvorteil nutzen, die Energieversorgung sichern und den Klimawandel bekämpfen, Arbeitsmarkt auf neue Herausforderungen ausrichten und demografischen Veränderungen begegnen.
Diese Politikfelder stellen Querschnittsthemen dar, die den Leitlinien nicht eins zu eins entsprechen. Dadurch ist es möglich, über einzelne Leitlinien nicht oder kurz zu berichten. Darüber hinaus kann die Europäische Kommission keinen direkten Abgleich der Leitlinien und der zu ihrer Umsetzung ergriffenen Maßnahmen durchführen. Dadurch entsteht eine Lücke im Dialog zwischen den europäischen und den deutschen Instanzen, wodurch das Monitoring ungenauer wird. Hinzu kommt, dass das Vergleichsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten und damit das Benchmarking deutlich erschwert wird. Der Einsatz der Instrumente der OMK ist, was den Aufbau eines politischen Drucks zur Umsetzung der EBS anbelangt, weniger effektiv geworden. Zum zweiten treten beschäftigungspolitische Ziele und Maßnahmen sowohl in den Leitlinien, als auch konkret in den deutschen Prioritäten in den Hintergrund. Die beschäftigungspolitischen Leitlinien entsprechen 8 von 24 Leitlinien, wobei sie früher für die Berichterstatter den einzigen Bezug darstellten. In den deutschen Prioritäten kommen beschäftigungspolitische Aspekte nur im ersten und im sechsten Punkt zum Zuge. Auch hier ist zu erwarten, dass der Aufbau des politischen Drucks im beschäftigungspolitischen Bereich an Intensität verlieren wird. Drittens kann erwartet werden, dass die Zusammenarbeit der deutschen und europäischen Instanzen an Intensität verlieren wird, da sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene die federführenden Instanzen keine Akteure der Beschäftigungs- sondern der Wirtschaftspolitik sind. Insgesamt vermittelt die Analyse der formellen Berichterstattung
260
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
den Eindruck, dass die Mechanismen der OMK im beschäftigungspolitischen Bereich geschwächt worden sind. 4.1.2 An Deutschland gerichtete Empfehlungen Die Empfehlungen stellen das brisanteste Instrument zur Beeinflussung der deutschen Beschäftigungspolitik dar, da dort die Erwartungen der EU an Deutschland explizit und auf höchster Ebene genannt werden. Einen Überblick zu den Empfehlungen liefert die Tabelle im Anhang. Die am häufigsten an Deutschland gerichteten Empfehlungen lassen sich in 5 Problemfelder einordnen: ‚Prävention und Aktivierung’, ‚Steuer- und Abgabensystem’, ‚Geschlechtergleichstellung’, ‚Risikogruppen’ und ‚Qualifizierung’. Seitdem die integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung Gültigkeit haben, muss auch hier festgestellt werden, dass die Empfehlungen, die explizit auf beschäftigungspolitische Ziele bzw. Maßnahmen Bezug nehmen, an Gewicht verloren haben, da sie jetzt neben wirtschaftspolitischen Empfehlungen wie ‚Stärkung des Wettbewerbs auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten’ auftreten müssen. Ein besonderes Augenmerk wird auf den Bereich ‚Prävention und Aktivierung’ gelegt. Die Empfehlungen fordern hier bis zum Jahr 2003 allgemein eine Verhinderung der Langzeitarbeitslosigkeit durch frühzeitige und maßgeschneiderte Maßnahmen für Arbeitslose. Ab 2003 nennen die Empfehlungen insbesondere die Arbeitsvermittlung als Stellschraube für eine effektive ‚Prävention und Aktivierung’. Diese Empfehlungen werden den Reformen im Bereich der Vermittlung gegenüber gestellt, die in Deutschland ergriffen wurden. Es stellt sich die Frage, ob diese im Einklang mit den europäischen Forderungen sind bzw. ob sie auf die EBS zurückgeführt werden können. 4.1.3 Entwicklungen der deutschen Arbeitsmarktpolitik und Europäische Beschäftigungsstrategie Im Bereich der Vermittlungsmaßnahmen wurden im vorgegebenen Zeitraum zahlreiche Reformen eingeleitet (vgl. Tabelle 2):
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
261
Tabelle 2: Überblick über die im Bereich der Arbeitsvermittlung ergriffenen Maßnahmen. VerfahrenundJahr
Maßnahme
Rechtliche Quelle §6SGBIII
BezugzurEBS
JobͲAQTIVͲGesetz (2001)
EinführungdesProfilings EinführungderverpflichͲ tendenEingliederungsverͲ einbarung
GesetzzurVereinfaͲ chungderWahlder Arbeitnehmervertreter indenAufsichtsrat (2002)
EinführungdesVermittͲ lungsgutscheins
§421gSGBIII
Nein
VerpflichtungzurfrühzeitiͲ genArbeitslosmeldung
§37bSGBIII
EinführungderPersonalͲ ServiceͲAgenturen
§37cSGBIII
Ja,imallgemeinen TeilderBegründung zumGesetzentwurf
ErstesGesetzfürmoͲ derneDienstleistungen amArbeitsmarkt– HartzI(2003) ZweitesGesetzfür moderneDienstleisͲ tungenamArbeitsͲ markt–HartzII(2003)
§35SGBIII
Ja,imallgemeinen TeilderBegründung zumGesetzentwurf
§402SGBIII
Ja,imallgemeinen TeilderBegründung zumGesetzentwurf
§9SGBIII
Ja,imallgemeinen TeilderBegründung zumGesetzentwurf
EinführungderJobͲCenter ViertesGesetzfür moderneDienstleisͲ tungenamArbeitsͲ markt–HartzIV(2005) BeschlussdesVerwalͲ tungsratesderBundesͲ agenturfürArbeit (2005) GesetzzurNeuausrichͲ tungderarbeitsmarktͲ politischenInstrumenͲ te(2008)
EinführungderHandlungsͲ programme
Leitlinienfürden Nein Ressourceneinsatz
EinführungdesVermittͲ lungsbudgets
§45SGBIII
Nein
Quelle: Eigene Darstellung. Zur frühzeitigen Vermittlung hat das Job-AQTIV-Gesetz insbesondere das Profiling und eine verpflichtende Eingliederungsvereinbarung eingeführt. Durch das Profiling wird spätestens nach der Arbeitslosmeldung eine individuelle Chancenprognose erstellt. Auf dieser Basis wird eine Vermittlungsstrategie definiert, die in der Eingliederungsvereinbarung verpflichtend festgelegt wird. Im Jahr 2002 wurde durch das ‚Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter’ in den Aufsichtsrat der Vermittlungsgutschein eingeführt, wodurch Leistungsbezieher private Träger mit ihrer Vermittlung beauftragen können. Mit dem Ziel einer sofortigen Vermittlung hat Hartz I eine Verpflichtung zur frühzeitigen Arbeitslosmeldung eingeführt, deren Nichteinhaltung mit Kürzungen im Leistungsbezug
262
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
sanktioniert wird. 7 Hartz I sollte auch im Sinne einer Aktivierung und einer schnellen Vermittlung die Nutzung der Zeitarbeit durch die Einführung von Personal-ServiceAgenturen (PSA) stärken. Hartz II hat den ersten Baustein zur Gründung der sogenannten Job-Center gelegt, die durch Hartz IV abgeschlossen wurde: Eine einheitliche und gezielte Vermittlung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen soll gemeinsam von den Arbeitsagenturen und den Trägern der Sozialhilfe betrieben werden und für Arbeitslose als einheitliche Anlaufstelle fungieren. Im Laufe des mit den Hartz-Gesetzen eingeleiteten Reformprozesses hat die Bundesagentur für Arbeit mit Beschluss des Verwaltungsrates vom 3. Februar 2005 zwei Leitlinien für den Ressourceneinsatz verabschiedet, nach welchen unter anderem die Vermittlungsprozesse anhand sogenannter Handlungsprogramme neu definiert werden (Kaltenborn et al. 2006). Arbeitslose werden durch ein systematisches Profiling nach ihren Bedürfnissen in vier Gruppen eingeteilt, welchen sechs unterschiedliche Handlungsprogramme mit Eingliederungsziel und identifizierten Maßnahmen gegenüber stehen. Schließlich wurde 2008 mit dem Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente das Vermittlungsbudget eingeführt. Damit können die Vermittlungskräfte Hilfen zur Arbeitsaufnahme, wie zum Beispiel Bewerbungs-, Reise-, und Umzugskosten, unbürokratisch und je nach individuellem Bedarf bewilligen und dadurch eine schnellere Vermittlung erzwingen. Auffällig ist, dass nicht bei allen eingeleiteten Maßnahmen ein Bezug auf die EBS genommen wurde. Lediglich im Gesetzgebungsverfahren zum Job-AQTIV-Gesetz und zu den Hartz-Gesetzen wird die EBS erwähnt:8 „Alle neuen Regelungen sind in die beschäftigungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union eingepasst.“ (Deutscher Bundestag 2002a: 23)
Die EBS kommt allerdings im besonderen Teil der Begründung, d.h. zur Begründung einzelner Maßnahmen, nicht mehr vor. Damit wird signalisiert, dass im allgemeinen die Reformen den Forderungen der EBS entsprechen, womit die jüngsten Entwicklungen der deutschen Arbeitsmarktpolitik und die Empfehlungen des Rates im Bereich ‚Prävention und Aktivierung’ im Einklang sind. Beide Seiten haben einen Handlungsbedarf im Bereich der Vermittlung erkannt und entsprechende Schritte eingeleitet, doch von einem direkten Einfluss der EBS kann hier nicht gesprochen werden. Es muss betont werden, dass auf der Basis der untersuchten Dokumente die Einleitung einzelner Präventions- und Aktivierungsmaßnahmen nicht auf bestimmte Leitlinien oder Empfehlungen zurückgeführt werden können. Insbesondere setzen die Hartz-Gesetze einzelne Vorschläge der Hartz-Kommission um, deren Gründung als Reaktion auf den sogenannten Vermittlungsskandal zurückgeführt werden kann (siehe Fußnote 7). Die Reformwelle, die mit den Hartz-Gesetzen ausgelöst wurde, stammt daher aus einer nationalen Initiative. Die Beantwortung der Frage, ob die EBS und die damit verbundenen konkreten Empfehlungen die parlamentarischen Verfahren 7 Der ‚Vermittlungsskandal’ im Jahre 2002, in dem die Bundesanstalt für Arbeit zu hohe Vermittlungsquoten auswies, führt zu einer Grundsanierung der institutionellen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Hierzu wurde von der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein Bericht vorgelegt, auf dessen Grundlage der Bundestag zwischen den Jahren 2002 und 2004 vier ‚Gesetze für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt’ (Hartz I-IV) verabschiedete. 8 Vgl. auch Deutscher Bundestag (2001) für das Job-AQTIV-Gesetz, S. 24, Deutscher Bundestag 2002a, S. 23 für das erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Deutscher Bundestag (2002b), S. 18 für das zweite Gesetz und Deutscher Bundestag (2003), S. 44 für das Vierte Gesetz.
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
263
zur Verabschiedung der Hartz-Gesetze unterstützt haben, bedürfte weiterer Untersuchungen.
4.2 Die Rolle des ESF in Deutschland In Deutschland wurden für die aktuelle ESF-Förderperiode (2007-2013) vier thematische Prioritätsachsen definiert (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Mittelverteilung nach Prioritätsachsen in Deutschland. Prioritätsachse 1.AnpassungsfähigkeitvonArbeitͲ nehmernundUnternehmen 2.StärkungdesHumankapitals 3.ZugangzuBeschäftigung 4.Transnationalität TechnischeHilfe Gesamt
Gesamtmittel
ESFͲMittel
Darunter NationalerBeitrag
4,109Mrd.
2,473Mrd.
1,636Mrd.
5,438Mrd. 5,086Mrd. 0,456Mrd. 0,617Mrd. 15,706Mrd.
3,265Mrd. 2,946Mrd. 0,329Mrd. 0,367Mrd. 9,380Mrd.
2,173Mrd. 2,140Mrd. 0,127Mrd. 0,250Mrd. 6,326Mrd.
Quelle: Europäische Kommission 2009e mit geringfügigen Anpassungen. Neben dem operationellen Programm (OP) des Bundes, das insbesondere die Anpassungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmen sowie den Zugang zum Arbeitsmarkt fokussiert, sind 18 Landes-OPs vorhanden, deren Schwerpunkt die Stärkung des Humankapitals, insbesondere durch die Förderung der allgemeinen und der beruflichen Ausbildung junger Menschen ist. Die Höhe der ESF-Finanzmittel ist für jede Prioritätsachse festgelegt, doch der Kofinanzierungsanteil unterscheidet sich regional, was sich in einem Ost-WestGefälle widerspiegelt: Zu den Konvergenzzielgruppen gehören Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg-Nordost, Magdeburg, Dessau, Dresden, Chemnitz und Thüringen. Phasingout-Regionen sind Brandenburg-Südwest, Halle, Leipzig sowie Lüneburg. Die restlichen Regionen werden unter die Zielgruppe der ‚Regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung’ gefasst (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2007). Welche Rolle spielt aber der ESF innerhalb der deutschen Arbeitmarktpolitik? Wenn die Förderperiode 2000-2006 hinzugezogen wird, können dank der durchgeführten Evaluierung Aussagen in Bezug auf die ergänzende Rolle der ESF-Förderung gemacht werden. Die Schwerpunkte der ESF-Förderung im arbeitsmarktpolitischen Bereich waren die Vollzeitqualifizierung von Arbeitslosen, die berufsorientierenden und berufsvorbereitenden Maßnahmen für Jugendliche, die Qualifizierung in geförderter Beschäftigung, die Weiterbildungsmaßnahmen für Beschäftigte und die Existenzgründungsförderung. Positive Nettowirkungen konnten im Bereich der Vollzeitqualifizierung von Arbeitslosen und bei den berufsbegleitenden Qualifizierungsmaßnahmen nachgewiesen werden (RWI et al. 2005a: 17-22, RWI et al. 2005b: 16-18). Die ESF-Förderung in Deutschland hat sich deutlich der EBS verpflichtet: „Das ESFBundesprogramm ist inhaltlich kohärent mit dem Nationalen Reformprogramm ... Mit dem ESF werden die relevanten Leitlinien und Empfehlungen im Rahmen der europäischen Beschäftigungsstrategie, die Zielsetzungen der Gemeinschaft im Bereich der sozialen Ein-
264
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
gliederung, der Nichtdiskriminierung, der Förderung der Gleichstellung und der beruflichen Bildung unterstützt.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007: 9). Dies zeigt sich auch in der Mittelverwendung, da auf Bundesebene die ESF-Mittel zu 96% auf die Ziele der EBS ausgerichtet werden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007: 158) und so ganz im Dienste der EBS stehen.
5
Schlusswort
Zu Beginn dieses Beitrags wurden einerseits die Beziehung der Akteure der EBS und der ESF-Förderung und andererseits die jeweiligen Steuerungsmechanismen genauer dargestellt. Innerhalb der EBS zeigt sich, dass zwischen dem Rat und den Mitgliedstaaten eine Prinzipal-Agenten-Beziehung herrscht. Diese Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass der Rat als Prinzipal seine beschäftigungspolitischen Forderungen nicht rechtlich durchsetzen kann. Insofern soll die OMK als eine neue Form der Governance einen politischen Druck erzeugen, der die Mitgliedsländer dazu führen soll, den beschäftigungspolitischen Auftrag des Rates bzw. der Europäischen Kommission zu erfüllen. Der Erfolg dieses Steuerungsinstruments hängt somit stark vom politischen Willen und Engagement der einzelnen Mitgliedsländer ab. Im Rahmen der ESF-Förderung ist die Europäische Kommission der Prinzipal, der eine stärkere Position gegenüber den Mitgliedsländern (den Agenten) hat, da er die ESF-Finanzmittel erst nach Vorlage und Genehmigung eines konkreten Rahmenprogramms bereitstellt. Anschließend wurde konkret anhand der Fallstudie Deutschland untersucht, inwieweit sich die EBS in der deutschen Arbeitsmarktpolitik widerspiegelt und welche Rolle hierbei der ESF spielt. Innerhalb der EBS zeigt die Untersuchung der NAPs bzw. NRPs folgende Ergebnisse: Deutschland hat sich durch die Festlegung von sechs nationalen Prioritäten einen erheblichen Spielraum in der Berichterstattung geschaffen, wodurch die Wirkung der OMK geschwächt wird. Darüber hinaus rücken beschäftigungspolitische Themen zugunsten wirtschaftspolitischer Maßnahmen in den Hintergrund. Als weiteres Instrument des politischen Druckaufbaus wurden die Empfehlungen, die der Rat an Deutschland gerichtet hat, untersucht. Auch dies zeigt, dass die Integration der beschäftigungspolitischen Leitlinien mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik, die Stellung beschäftigungspolitischer Themen schwächt. Auffällig ist, dass jedes Jahr eine Empfehlung zum Thema ‚Prävention und Aktivierung’ ausgesprochen wurde, so dass die in diesem Bereich ergriffenen Maßnahmen vor dem Hintergrund der EBS untersucht wurden. In den Gesetzentwürfen zum Job-AQTIV-Gesetz und zu den Hartz-Reformen wird Bezug auf die EBS im Allgemeinen genommen. Dies zeigt, dass die eingeleiteten Reformen und die EBS im Einklang sind aber einzelne Gesetzesänderungen nicht auf bestimmte europäische Empfehlungen oder Leitlinien zurückgeführt werden können. Wie auch die Darstellung der Beziehungen der relevanten Akteure gezeigt hat, kann dies durchaus auf die starke Position der Agenten zurückgeführt werden. Durch den seit 2007 neu geregelten Einsatz des ESF erhält allerdings die EBS neue Impulse.
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
265
Literaturverzeichnis ABI (2006): Amtsblatt der Europäischen Union. Verordnung (EG) Nr. 1081/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Sozialfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1784/1999. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:L:2006:210:0012:0018:DE:PDF (Stand: 07.01.2009). Ausschuss für Beschäftigung (2002): Ad-Hoc-Arbeitsgruppe des Beschäftigungsausschusses, Arbeitsprogramm für das Jahr 2002. http://ec.europa.eu/employment_social/employment_ strategy/emco/opinion2002/adhoc_work_program_de.pdf.(Stand: 26.01.2009). Begg, I. (2008): The Lisbon Strategy Post-2010. In: BMWA (Hrsg.) Die Zukunft der Wirtschaftspolitik der EU, Beiträge zum Diskussionsprozess „Lissabon Post 2010“, 7-57. Wien. http://www.bmwfj.gv.at/NR/rdonlyres/59D02ECB-34B3-4D6B-855D3026B74B322E/33914/LissabonPost2010.pdf (Stand: 07.01.2009). Böhnert, A.-A. (1999): Benchmarking. Charakteristik eines aktuellen Managementinstruments. Hamburg: Verlag Dr. Kovaƙ. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2007): Operationelles Programm des Bundes für den Europäischen Sozialfonds, http://www.esf.de/portal/generator/1406/property=data/op__bund. pdf (Stand: 19.03.2009) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2007): Nationaler Strategischer Rahmenplan (NSRP) für den Einsatz der EU-Strukturfonds in der Bundesrepublik Deutschland 2007-2013. Berlin. http://www.bmwi.de/Dateien/BMWi/PDF/foerderdatenbank/nationaler-strategischer-rahmen plan-broschuere,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf (Stand: 12.01. 2009). Cohen, J. (1989): Deliberation and democratic legitimacy. In: Hamlin, Alan/Pettit, Philip (Hrsg.): The good polity. Oxford: Wiley-Blackwell, S. 17-34. Deutscher Bundestag (2001): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Job – AQTIV – Gesetz). Drucksache 14/6944. Deutscher Bundestag (2002a): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Entwurf eines ersten Gesetzes für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Drucksache 15/25. Deutscher Bundestag (2002b): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Entwurf eines zweiten Gesetzes für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Drucksache 15/26. Deutscher Bundestag (2003): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Entwurf eines vierten Gesetzes für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Drucksache 15/1516. Europäische Kommission (2001): Unterstützung der Europäischen Beschäftigungsstrategie durch den Europäischen Sozialfonds. KOM (2001) 16 endgültig/2 vom 23.1.2001. Europäische Kommission (2002): Fünf Jahre Europäische Beschäftigungsstrategie. Eine Bestandsaufnahme. KOM (2002) 416 endgültig vom 17.7.2002. Europäische Kommission (2005): Der Europäische Sozialfonds 2000-2006. Europa in Menschen investieren. http://ec.europa.eu/employment_social/publications/2005/ke6505860_de.pdf (Stand: 11.01.2009). Europäische Kommission (2009a): Die Europäische Beschäftigungsstrategie: Der Beschäftigungsausschuss. http://ec.europa.eu/employment_social/employment_strategy/emco_de.htm (Stand: 02.001.2009). Europäische Kommission (2009b): Die Europäische Beschäftigungsstrategie: Begleitsystem und Indikatoren. http://ec.europa.eu/employment_social/employment_strategy/indic_de.htm (Stand: 02.01.2009). Europäische Kommission (2009c): Die Europäische Beschäftigungsstrategie: 10 Jahre EBS, http://ec.europa.eu/employment_social/employment_strategy/develop_de.htm (Stand: 29.01.2009).
266
Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok
Europäische Kommission (2009d): Der Europäische Sozialfonds, In Menschen investieren 20072013, http://ec.europa.eu/employment_social/esf/discover/esf_library/publications_de.htm (Stand: 10.03.2009). Europäische Kommission (2009e): Der Europäische Sozialfonds in Deutschland 2007-2013, http://ec.europa.eu/employment_social/esf/discover/esf_library/publications_de.htm (Stand: 10.03.2009). Europäische Kommission (2009f): Der Europäische Sozialfonds in Deutschland 2007-2013, http://ec.europa.eu/employment_social/esf/discover/participate_de.htm (Stand: 16.03.2009). Eichhorst, W./Sesselmeier, W./Yollu-Tok, A. (2008): Die Akzeptanz von Arbeitsmarktreformen am Beispiel von Hartz IV. In: Sesselmeier, Werner/Schulz-Nieswandt, Frank (Hrsg.): Konstruktion von Sozialpolitik im Wandel. Implizite Normative Elemente. Berlin: Duncker & Humblot. S. 15-45. Göbel, M. (2002): Von der Konvergenzstrategie zur offenen Methode der Koordinierung. EGVerfahren zur Annäherung der Ziele und Politiken im Bereich des sozialen Schutzes. BadenBaden: Nomos. Hochrangige Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok (2004): Die Herausforderung annehmen, Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung. http://ec.europa.eu/ growthandjobs/pdf/2004-1866-DE-complet.pdf (Stand 04.02.2009). Jacobsson, K. (2004): Soft regulations and the subtle transformation of states. The case of EU employment policy. In: Journal of European Social Policy. 14, 4: 355-370. Joerges, Ch. (2003): Recht, Wirtschaft und Politik im Prozess der Konstitutionalisierung Europas. In: Jachtenfuch, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Europäische Integration. Opladen: Leske + Budrich. S. 183-218. Kaltenborn, B./Knerr, P./Schiwarov, J. (2006): Agenturen für Arbeit. Systematisierung des Ressourceneinsatzes. In: Blickpunkt Arbeit und Wirtschaft 4/2006. RWI, SÖSTRA, Ronning Gerd (2005a): Evaluierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des ESF in Deutschland, Förderperiode 2000-2006, EPPD Ziel 3, Aktualisierung der Halbzeitbewetung Endbericht – Kurzfassung, RWI: Projektberichte, Essen. RWI, SÖSTRA, Ronning Gerd. (2005b): Evaluierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des ESF in Deutschland, Förderperiode 2000-2006, OP des Bundes Ziel 1, Aktualisierung der Halbzeitbewetung Endbericht – Kurzfassung, RWI: Projektberichte, Essen. Schmid, G./Kull, S. (2004): Die Europäische Beschäftigungsstrategie. Anmerkungen zur ‚Methode der offenen Koordinierung. In: WZB Discussion Paper, SP I 2004-103. Stephan, A. (2005): Europäische Beschäftigungsstrategie und die offene Methode der Koordinierung. Entstehung und Bedeutung für Politiksteuerung auf EU-Ebene. In: Baum-Ceising, Alexandra/Faber, Anne (Hrsg.): Soziales Europa? Perspektiven des Wohlfahrtsstaates im Kontext von Europäisierung und Globalisierung. Wiesbaden. VS Verlag. S. 265-292. Stephan, A. (2007): Die Beschäftigungspolitik der EU. Genese, Etablierung und Grenzen der EBS. Nomos: Baden-Baden.
Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik
Ausblick: Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
267
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
269
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
1
Einleitung
Vierzig Jahre nach Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zeigt sich ein völlig anderes Gesicht der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland als noch 1969. Seit der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes wurden in einer kaum erfassbaren Zahl von Novellen und Gesetzesänderungen die Regulierungen und Instrumente der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ergänzt, eingestellt oder modifiziert (vgl. Chronik im Anhang sowie die Beiträge von Oschmiansky/Ebach und Rosenthal)1. Bis zu Beginn der 1990er Jahre war die Entwicklung in der Arbeitsmarktpolitik von einem hohen Maß an Kontinuität und Pfadabhängigkeit2 geprägt, während das Reformtempo in den 1990er Jahren anwuchs und zu deutlichen Pfadbrüchen führte (Knuth). Die sozialwissenschaftliche Forschung hat vor allem die jüngsten Reformen an vielen Stellen als Ausdruck eines paradigmatischen Wandels in der Arbeitsmarktpolitik interpretiert (s. stellvertretend Oschmiansky/Mauer/Schulze-Buschoff 2007). Hinter dieser allgemeinen Diagnose verbirgt sich jedoch eine Reihe von interessanten, auch widersprüchlichen Entwicklungen, die erst durch die genaue Analyse der einzelnen Teilbereiche sichtbar werden, für ein angemessenes Verständnis der arbeitsmarktpolitischen Dynamik jedoch unentbehrlich sind. Die Analyse der Arbeitsmarktpolitik in den Beiträgen dieses Bandes hat die Uneinheitlichkeit der Situation aus drei Perspektiven deutlich gemacht. Der Blick auf die Grundzüge (Teil 1) verweist auf tatsächlich einschneidende Veränderungen – sowohl des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements als auch der zugrunde liegenden Wertvorstellungen und der allgemeinen Steuerungsstrukturen, und bestätigt damit die Diagnose des paradigmatischen Wandels früherer Analysen. Die (Fein-)Analyse des Instrumentariums (Teil 2) zeigt, dass erst der inkrementelle Wandel einzelner Instrumente zu einem weitreichenden Wandel kumuliert, da die Veränderungen sowohl die Ausgaben- und Teilnehmerzahlen als auch die Kombination und die Zugangsrechte zu den Instrumenten berühren und sich insgesamt an neuen Zielsetzungen orientieren. Bei der arbeitsmarktpolitischen Steuerung (Teil 3) zeigt die genaue Analyse hingegen auch starke Kontinuitäten – in der Organisation der Arbeitsverwaltung oder der arbeitsrechtlichen Regulierung. So erweisen sich die betriebswirtschaftliche Überformung der Organisation der Arbeitsagenturen oder der Arbeitsvermittlungsprozesse eher als zusätzliche Barrieren denn als gute Lösungen, weil sie dem sozialpolitischen Charakter der Leistungsprozesse nicht angemessen Rechnung tragen und das Arbeitsrecht zu wenig den veränderten Realitäten angepasst wird. Schließlich hat sich auch 1
Kursiv gedruckte Namen verweisen auf Beiträge in diesem Band. Pfadabhängigkeit meint die Stabilität von bzw. Resistenz gegen Wandel von institutionalisierten Strukturen als Vorbedingung politischen Handelns, die durch die Begrenzung von Handlungskorridoren und der Verfestigung sozialer Erwartungen bzw. Interessen entsteht (Pierson 2000). 2
270
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
das Zusammenspiel zwischen den Akteuren verschiedener Ebenen – von der kommunalen bis hin zur Europäischen Ebene, aber auch zwischen den Sozialpartnern – verändert, ohne dass sich jedoch neue stabile und kontrollierbare Governance-Formen herausgebildet hätten. Mit anderen Worten: Die Gesamtschau der Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik verdeutlicht eher gewachsene Uneinheitlichkeit und Inkonsistenz als einen gelungenen Übergang zu einem neuen Modell der Arbeitsmarktpolitik, die den Anforderungen eines im strukturellen Wandel begriffenen Beschäftigungssystems bei gleichzeitiger Rücksicht auf historisch gewachsene und kulturell verankerte Sicherheitserwartungen gerecht werden würde. Dabei wäre die grundsätzliche Anerkennung des strukturellen Dilemmas, in dem sich die deutsche Arbeitsmarktpolitik befindet, die Voraussetzung für die Entwicklung eines neuen Leitbildes und der Ableitung konsistenter Reformoptionen (Abschnitt 2). Angesichts sich ausdifferenzierender ökonomischer und sozialer Problemlagen bedarf es einer Redefinition der normativen Ziele. Wir plädieren daher als Ausweg aus dem Dilemma für eine Neuorientierung an emanzipatorischen Zielen (Abschnitt 3) und schließen mit einer kurzen Bewertung des derzeit erreichten Standes (Abschnitt 4).
2
Das strukturelle Dilemma der deutschen Arbeitsmarktpolitik
2.1 Allgemeine Handlungsspielräume und Zwänge Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik ist weder als reaktive Anpassung an sich wandelnde sozioökonomische Rahmenbedingungen zu verstehen, noch ist sie durch den bestehenden institutionellen Rahmen (vor-)festgelegt und unveränderlich. Sie bewegt sich vielmehr in einem Spannungsfeld des politischen Umgangs mit wissenschaftlichem Faktenund Kausalwissen, verfestigten institutionellen Strukturen sowie strategisch und inhaltlich gebotener Problemlösungskompetenz der relevanten Akteure. Die Produktion von Politikwissen ist zu einer wichtigen Orientierung in der Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik geworden, da sich in der Bundesrepublik seit der Gründung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 1967 ein hochgradig ausdifferenziertes Forschungsfeld entwickelt hat, das durch die Evaluierung der ‚Hartz-Gesetze’ noch eine besondere Dynamik entfaltet hat (vgl. hierzu den Band von Brinkmann et al. 2006). Die verstärkte Ressortforschung, aber auch die intensivierte Evaluierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen haben die Ausgangssituation für die politische Problembeschreibung und die Identifikation von Anpassungsbedarfen grundlegend verändert. Doch auch hier gilt, wie für alle Bereiche der wissenschaftlichen Politikberatung, dass sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Fakten- und Kausalwissen immer nur die Folie für die Interpretation von Politikergebnissen und Problemen darstellt und in der Regel selektiv genutzt wird (Weiss 1991). Gerade die arbeitsmarktpolitische Begleit- und Evaluationsforschung bewegt sich insbesondere hinsichtlich der Definition der Zielindikatoren in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis zwischen bürokratisch gesteuerter Generierung notwendigen PolicyWissens und Objektivitätsansprüchen der Wissenschaft (Lutz 2006). Insofern leitet sich aus der Verwissenschaftlichung der Sozialpolitik bzw. der Arbeitsmarktpolitik nicht zwangsläufig eine höhere Rationalität in der praktischen Politik ab. Auch die Tatsache, dass die Arbeitsmarktpolitik Teil eines spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements ist (vgl. Sesselmeier/Somaggio sowie die Einleitung zu diesem
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
271
Band), liefert keine endgültige Begründung für eine tendenziell pfadabhängige oder pfadabweichende Veränderung, beide erscheinen je nach Interpretation des Anpassungsbedarfs als erklärungsbedürftig. So wird deutlich, dass ausgehandelte Politiklösungen gegebene institutionalisierten Normen (z.B. das Sozialstaatsgebot) auf unterschiedliche Art und Weise auslegen können (Kremer/Bothfeld) oder Begründungszusammenhänge mit gänzlich neuen normativen Begriffen verknüpft werden können (z.B. mit dem Begriff der Teilhabe), die mehr oder weniger stark an vorhandene Normen anschließen (Gronbach). Schließlich erweisen sich auch die konkreten Zielfunktionen des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums als veränderlich (Oschmiansky/Ebach, Bosch, Rosenthal). Während politische Zielsetzungen jedoch auch kurzfristig veränderbar sind (Mohr, Gronbach), erweisen sich soziale Erwartungen und Einstellungen hingegen als relativ stabil (Roller 2002). Am Beispiel der Erwartungen an die Arbeitslosenversicherung wird deutlich, dass diese Erwartungen weitgehend unabhängig von der individuellen Situation sind und damit eher einem kulturell geprägten Verständnis denn einem individuellen Nutzenkalkül entsprechen (Schmid/ Nüchter). In diesem Spannungsfeld begegnen die arbeitsmarktpolitischen Akteure dem aktuellen strukturellen Dilemma der Arbeitsmarktpolitik. Für eine strategische Abwägung von gegenläufigen politisch-normativen Zielen und entsprechenden Veränderungen bleibt – im Rahmen der Vorgaben der Europäischen Beschäftigungsstrategie (Irmer/Yollu-Tok) – somit durchaus Spielraum. Die Hartz-Reformen sind insofern interessant, weil sie sich in sehr vielen Bereichen konträr zu den institutionellen Strukturen und sozialen Erwartungen, Einstellungen und Gerechtigkeitsauffassungen verhalten und damit alte Pfade verlassen, ohne jedoch an einem einheitlichen Leitbild und an gegebene Strukturen anzuschließen; in der Folge entsteht ein hochgradig inkohärentes System der Arbeitsmarktpolitik. Hierin lokalisieren wir den eigentlichen und fundamentalen Bruch der Arbeitsmarktpolitik, der sich eben nicht auf ein Vermittlungsproblem reduzieren lässt.3 Die gleichzeitige Persistenz bestimmter Strukturmerkmale verweist nämlich darauf, dass alternative Entwicklungspfade möglicherweise nicht nur problemadäquatere, sondern vor allem Lösungen mit einer höheren Legitimität erzielt hätten. Die Neuausrichtung der Instrumente, die Veränderung von Verhaltensanreizen und die Absenkung von Standards bewirken eine tief greifende qualitative Veränderung im Gesellschaftsvertrag, der den sozialen Sicherungssystemen zugrunde liegt. Ohne Zweifel besteht ein Anpassungsbedarf in den sozialen Sicherungssystemen und damit auch in der Arbeitsmarktpolitik. Doch wären für das strukturelle Dilemma (das im nachfolgenden Abschnitt dargestellt wird), anstatt das Kind mit dem Bade auszuschütten und typische Strukturmerkmale der deutschen Arbeitsmarktpolitik einfach zu übergehen, alternative Problemlösungen denkbar gewesen, die die in Deutschland bis dahin typischen Funktionen der Arbeitsmarktpolitik in stärkerem Maße berücksichtigt hätten.
2.2 Das Sicherheitsversprechen der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland
3 Im Sommer 2004 hatte der damalige Bundesarbeitsminister und Vizekanzler der SPD, Franz Müntefering, den politischen Streit mit den Gewerkschaften zu mildern versucht, indem er die Ursache der politischen Proteste gegen die Arbeitsmarktreformen als Zeichen für ein Vermittlungsproblem wertete.
272
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
Die Analysen zeigen, dass die sozialen Sicherungssysteme der vom Bismarck’schem Versicherungsgedanken geprägten Sozialstaaten durch den sozialen und ökonomischen Wandel (siehe Einleitung) in besonderem Maße unter Anpassungsdruck geraten (vgl. dazu Martin 2008). Dies gilt in besonderem Maße für die Arbeitsmarktpolitik, wo die Lohnersatzleistungen, Förderprogramme und die individuelle und kollektive arbeitsrechtliche Regulierung auf die Entwicklung und den Erhalt hoher Standards bei den Beschäftigungsbedingungen, der Qualifikation der Arbeitskräfte und ihrer sozialen Absicherung zielten (Thelen 2004; Bosch/Haipeter et al. 2007). Dies führte auf Seiten der ArbeitnehmerInnen zur Institutionalisierung bestimmter sozialer Sicherheitserwartungen (Kaufmann 2003), nämlich der QuasiGarantie des einmal erreichten Lebensstandards. Als Nebeneffekt wirkte diese als starker Anreiz für Bildungsinvestitionen und Bemühungen um einen beruflichen Aufstieg. Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit auf einem im internationalen Vergleich relativ hohem Niveau sowie die umfassenden Instrumente zur Qualifizierung und Wiedereingliederung eröffneten den ArbeitnehmerInnen und ihren Familien Lebensperspektiven mit einer stetigen Aufwärtsmobilität und einer Garantie des einmal erreichten Lebensstandards (zum geschlechterpolitischen Bias s. Jaehrling). Diese institutionelle Strategie war verknüpft mit der normativen Vorstellung der Leistungsgerechtigkeit, die sich durch die Erwerbszentriertheit bei der Arbeitslosenversicherung und den beitragsgebundenen Zugang zu Arbeitsförderungsmaßnahmen manifestierte (Nullmeier/Vobruba 1994) und eine anhaltend hohe Akzeptanz genoss (Schmid/Nüchter). Diese Sicherheiten sind durch die Umsteuerung im Rahmen des aktivierenden Paradigmas erschüttert worden. Auf Seiten der Arbeitgeber löste das hohe Niveau der Regulierung des Beschäftigungssystems (Beschäftigungsverhältnisse, Bildungssystem, Finanzmarkt) – im Unterschied zu den angelsächsischen Beschäftigungssystemen – die Erwartung an den Staat aus, dass der Bedarf an gut qualifizierten und beschäftigungsfähigen Arbeitskräften als öffentliches Gut definiert und entsprechend gesichert würde (Hall/Soskice 2001). Gleichzeitig waren das Lohnfindungssystem der Tarifautonomie und die Festschreibung von Arbeitsbedingungen im Zusammenspiel zwischen Gesetzgeber und Tarifverträgen als Mechanismen zur Verhinderung eines ruinösen Lohnwettbewerbs bis in die jüngste Zeit akzeptiert und weitgehend funktionsfähig (Kremer/Bothfeld).
2.3 Politische Herausforderungen Allerdings waren Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung sowie die Arbeitsmarktregulierung auf die (männliche) qualifizierte Facharbeiterschaft ausgerichtet und damit als eine höchst exklusive oder zumindest selektive Strategie der Sozialen Sicherung angelegt. Die Kehrseite des hohen Sicherungsstandards besteht in der wachsenden sozialen Ungleichheit und Segmentation des Beschäftigungssystems, in dem nicht regulär und kontinuierlich beschäftigte Personen tendenziell marginalisiert werden (Davidsson/Naczyk 2009). Die sozialen und ökonomischen Strukturen, die die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik und die Politikprinzipien geprägt haben, unterlagen jedoch selbst einem tiefgreifenden Wandel. Unter dem Stichwort der ‚neuen sozialen Risiken’ wird das Problem der unzureichenden Absicherung atypisch Beschäftigter sowie durch Kindererziehungszeiten und Arbeitslosigkeit diskontinuierliche Erwerbsverläufe thematisiert (für den Wohlfahrtsstaat allgemein siehe Taylor-Gooby 2004; in der Arbeitsmarktpolitik vgl. v.a. Schmid 2006).
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
273
Weiterer Reformbedarf entstand aus dem fortgesetzten und stufenförmigen Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie der Verfestigung einer ‚Sockelarbeitslosigkeit’ auf mittlerweile beträchtlichem Niveau (vgl. Tabelle 4 im Anhang sowie die Einleitung). Durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und den damit verknüpften wachsenden Ausgaben für Lohnersatzleistungen und Arbeitsförderprogramme geriet schließlich auch der Finanzierungsmodus der Arbeitsmarktpolitik unter Druck. Durch die Beitragsfinanzierung ergab sich ein prozyklisches Muster bei den Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik, nachdem bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit die Ausgaben ansteigen, gleichzeitig aber die Einnahmen aufgrund der Beitragsfinanzierung absanken. Zwar wurde das Defizit der beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung bis vor ein paar Jahren durch einen im Umfang stark schwankenden gesetzlich festgeschriebenen Bundeszuschuss ausgeglichen, doch standen die Mehrausgaben bei einer angespannten Haushaltssituation unter zusätzlichem Rechtfertigungsdruck und schränkten den notwendigen Handlungsspielraum für den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Förderprogramme empfindlich ein.4 Damit erweist sich ein Grundprinzip des Sozialversicherungsmodells – die Verkopplung der Arbeitsmarktentwicklung mit der Finanzierung der Systeme – als eines seiner größten Probleme. Eine Neuordnung der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik wird daher schon seit vielen Jahren – und derzeit erneut unter dem Stichwort der Erwerbstätigenversicherung – diskutiert (Schmid 1987; Schmid 2002). Durch die Hartz-Reformen hat die Bundesregierung die Leistungen für Langzeitarbeitslose zwar in den steuerfinanzierten Rechtskreis SGB II überführt, substantielle Mechanismen, die zu einem höheren Aktivitätsgrad führen würden, blieben jedoch aus. Teile der Wirtschaftswissenschaften (und der Politik) betrachten das hohe Sicherungsniveau schließlich sogar als eine der zentralen Ursachen für die Entstehung sozialer Ungleichheit und sozialer Exklusion und befürworten daher einen weiteren Rückbau öffentlicher Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitslosenversicherung (Hagen/Steiner 2000). Diesen Vorschlägen liegt die Annahme zugrunde, dass Transferleistungen oder Fördermaßnahmen die Arbeitsanreize vermindern und Arbeitslosen damit den (Rück-)Weg in die bezahlte Beschäftigung erschwert würde (siehe für einen aktuellen Überblick über die Diskussion Boeri/van Ours 2008; sowie kritisch zum Lock-In-Effekt Bosch). Gleichsam betrachtet die Insider-Outsider-Theorie (Sesselmeier 2004) die hohe arbeitsrechtliche Regulierung als Ursache für den Ausschluss von weniger konkurrenzfähigen Arbeitskräften. Anstieg und Verfestigung eines dauerhaften Ausschlusses von Personen mit geringer beruflicher Qualifikation sind durchaus empirisch nachzuweisen, während sich für das Problem einer fehlenden Arbeitswilligkeit keine eindeutigen empirischen Belege finden lassen – eher im Gegenteil (Brenke 2008). Zudem wird in oftmals reduktionistischen Analysen der oben geschilderte institutionelle Charakter des Beschäftigungssystems unterschätzt, in dem die Arbeitsmarktinstitutionen erst in der Interaktion miteinander die spezifische Ausprägung des deutschen Beschäftigungssystems – eines Hochlohn- und Hochqualifikationsarbeitsmarktes – bedingen (Schmid 1987; Thelen, 2004). Nichtsdestotrotz stellen ökonomischer Strukturwandel und der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft eine Herausforderung für die Systeme dar: Neben das „alte“ Risiko der friktionellen oder konjunkturellen Arbeitslosigkeit treten die Probleme des Erhalts bzw. der Entwicklung von berufsförmigen Qualifi4 Die Tabelle 6 im Anhang zeigt, dass der Anteil der Ausgaben für aktive Maßnahmen an den Gesamtausgaben der BA sich im Vergleich mit den Anfangsjahren mittlerweile auf unter 20% halbiert hat. Der Durchschnitt lag in den 1970er Jahren bei 45%, in den 1980er Jahren bei 39% und in den 1990er Jahren auf 41% und ist im Rechtskreis des SGB III mittlerweile auf 28% (Durchschnitt der Jahre 2000-2007) gesunken.
274
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
kationen, der Langzeitarbeitslosigkeit, des anwachsenden Anteils zu gering qualifizierter Erwerbsloser sowie der Zunahme unterbrochener Erwerbsverläufe und ‚atypischer’ Beschäftigungsverhältnisse. Die mit dem Übergang zum SGB III bzw. dem JobAqtiv-Gesetz begonnene und mit den Hartz-Reformen fortgesetzte Aktivierungsstrategie ist der Versuch, den geschilderten Problemen zu entsprechen. Wir meinen jedoch, dass dieser nicht alternativlos ist.
2.4 Auswege oder Irrwege Die Ideen des aktivierenden Sozialstaats und aktivierender Sozialpolitik wurden zunächst in Abstraktion von real existierenden Sicherungssystemen entwickelt (Giddens 1999). Beispielhaft dafür ist der deutsche Diskurs über die Eigenverantwortung, der zusätzliche Paradoxien produzierte anstatt sie zu vermindern (Nullmeier 2006); für die Arbeitsmarktpolitik gilt dies in besonderem Maße (Bothfeld 2005 et al.; Gronbach). Wenngleich die zugrunde liegende Politikidee einer Verbesserung der Arbeitsmarktintegration einen gesellschaftsweiten Konsens erlangte, so ist doch ihre Übersetzung in das deutsche Institutionengefüge mit Problemen behaftet. Das arbeitsmarktpolitische Paradigma der Aktivierung, das weitgehend (mikro-)ökonomische Grundannahmen zum Ausgangspunkt hat und allein angebotsseitig ausgerichtet ist (Van Berkel/ Hornemann Moeller 2002; Dingeldey 2007), erweist sich als widerläufig zu den Grundprinzipien der sozialen Sicherung im konservativen Wohlfahrtsstaat, da dessen Sicherheitsgarantie prinzipiell auf dem (solidarischen) Beitragsprinzip mit erworbenen eigentumsähnlichen Rechten, auf einem auf Leistung (Beitragszahlung) und Leistungsbereitschaft beruhenden Reziprozitätsbegriff sowie einem lebensstandard- und statussichernden Leistungsspektrum beruht (Rosenthal). Die aus dem Begriff der Eigenverantwortung abgeleiteten Veränderungen verengen die über die Jahre gewachsene und zugrunde liegende Logik bzw. den impliziten Kontrakt zwischen dem deutschen Sozialstaat und seinen ErwerbsbürgerInnen. Drei Mechanismen sind dabei zentral: die Veränderung des Reziprozitätsbegriffs durch die Neudefinition der Zumutbarkeit, die generelle Stärkung der Kontrolle des Verhaltens von LeistungsbezieherInnen als Voraussetzung für den Erhalt von Leistungsansprüchen sowie die Verengung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums auf kurzzeitige Trainingsmaßnahmen oder Eingliederungszuschüsse. In dieser Hinsicht erweist sich der Abbau der öffentlich geförderten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als besonderes Problem (Oschmiansky/Ebach). Genau genommen basiert diese Umstrukturierung auf Grundannahmen, die die spezifischen Merkmale des deutschen Arbeitsmarkts sowie die Heterogenität der Arbeitslosigkeit ignorieren. So findet sich die Orientierung der Arbeitsmarktreformen an einem „flexiblen“ und den eigenen ökonomischen Nutzen maximierenden Arbeitnehmertypus nicht in den institutionalisierten Prinzipien und sozio-ökonomischen Realitäten des deutschen Beschäftigungssystems wieder. Zudem lässt – wie Aktivierungsstrategien jedoch voraussetzen – das stark berufsfachlich segmentierte Beschäftigungssystem kaum Dynamiken zu, bei denen ein schneller, auch unterwertiger Arbeitsmarkteinstieg durch eine schnelle Aufwärtsmobilität ausgeglichen würde. Vielmehr zeigt sich beim Verbleib in Niedriglohnbeschäftigung oder unterwertiger Beschäftigung eine hohe Stabilität, gar eine Verschärfung des Problems (Schank et al. 2008; für weitere Literaturhinweise s. Hans-Böckler-Stiftung,
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
275
2006). Insofern ist der Arbeitsmarktzugang eine notwendige, jedoch nicht ausreichende Bedingung für die soziale Integration in Deutschland und muss daher durch qualitativ hochwertige Fördermaßnahmen ergänzt werden, die die Erwerbspersonen auf die gewachsenen und künftigen Berufsstrukturen sowie ein hohes Niveau an Qualifikationen und Standards der Arbeitsverhältnisse vorbereitet. Dreh- und Angelpunkt einer dem deutschen System angemessenen Strategie ist und bleibt damit die berufliche Aus- und Weiterbildung (Bosch) wie auch ein arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium und eine arbeitsrechtliche Regulierung, die auf den Erhalt und Ausbau von Qualifikation und Erwerbsfähigkeit gerichtet ist. Rechtliche Unsicherheiten – vor allem im Bereich der Grundsicherung – und politische Kritik an der Koordination zwischen Arbeitsförderung und Grundsicherung machen die Hybridität des arbeitsmarktpolitischen Regimes deutlich: Konsensual geteilte Grundannahmen werden in Frage gestellt und Instrumentenprofile verändert, während sich die neuen Steuerungsmechanismen noch nicht als hinreichend tragfähig und die leitenden Politikkonzepte und Leitbilder als konsistent erweisen. Ein Ausweg aus diesem strukturellen Dilemma verlangt unter anderem die Redefinition der arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen und ihre Neuausrichtung an einem normativen Leitbild, das die neuen Herausforderungen ebenso bedient wie die schwer veränderbaren institutionellen Bedingungen der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland.
3
Arbeitsmarktpolitik als emanzipatorisches Projekt
Eine zukunftsfeste Perspektive böte eine sozialpolitische Strategie, die nicht allein sozialinvestiv ausgedeutet wird, sondern gleichzeitig dem alten emanzipatorischen Anspruch der Dekommodifizierung der Erwerbsarbeit Rechnung trägt – und damit einem Teil der alten und auch neuen Sicherheitserwartungen der ArbeitnehmerInnen entspricht (zur „neuen“ Sicherheitsproblematik vgl. Lessenich/Van Dyk 2008). Eine emanzipatorische arbeitsmarktpolitische Strategie würde darauf zielen, neue soziale Risiken (besser) abzusichern, individuelle Gestaltungsoptionen in einer Lebenslaufperspektive für die Erwerbstätigen zu garantieren und gleichzeitig eine neue Balance zwischen zentraler und dezentraler Steuerung herzustellen. Dafür muss die deutsche Arbeitsmarktpolitik nicht neu erfunden werden, vielmehr bedarf es lediglich der Rückbesinnung auf das in der Struktur prinzipiell angelegte emanzipatorische Potential der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die nämlich gerade von Anbeginn an die sich wandelnden ökonomischen Erfordernisse in einer sozialen Marktwirtschaft mit den Erwartungen, (Sicherheits-)Bedürfnissen und Kompetenzen der Individuen verknüpfte. Eine solche Arbeitsmarktpolitik als ‚emanzipatorisches Projekt’ würde auf die Vergrößerung individueller Autonomie5 der BürgerInnen zielen, Gelegenheitsstrukturen schaffen sowie ökonomisch und sozial nachhaltig sein.
3.1 Autonomie durch Dekommodifizierung Arbeitsmarktpolitik als emanzipatorisches Projekt sieht die „passiven“ Leistungen der Arbeitslosenversicherung nicht als Gegensatz zu den aktiven Leistungen, sondern versteht 5 Die individuelle Autonomie wird hier als auf den Kontext und die Identität des Individuums bezogen betrachtet, nicht wie gemeinhin üblich, als die (ökonomische) Unabhängigkeit des Individuums (Bothfeld 2008).
276
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
diese als Ermöglichungsstrukturen, die der strukturell schwächeren Partei am Arbeitsmarkt Handlungsmacht eröffnet. Ohne die dekommodifizierende Wirkung (Esping-Andersen 1990) der Arbeitslosenversicherungsleistungen könnten Erwerbstätige und insbesondere Arbeitslose sich (noch) weniger selbstbestimmt verhalten. Wie eingangs argumentiert, bietet eine entsprechende Ausgestaltung von Lohnersatzleistungen auch Spielräume für eine ökonomisch effizientere Anpassung zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeit. Die derzeitige Arbeitsmarktpolitik bricht jedoch an drei Stellen mit diesem Prinzip: Erstens versperrt die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit die Rückkehr zur Sicherung des Lebensstandards über eine stabile und Existenz sichernde Beschäftigung für wachsende Teile der Bevölkerung, da es an ausdifferenzierten Förderungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose fehlt. Auch für Kurzzeitarbeitslose sind die Hilfsangebote, selbst bei der Arbeitsberatung, nicht angemessen ausdifferenziert (Hielscher/Ochs). Zweitens haben die Leistungskürzungen, bis weit in die Mittelschichten hinein, Unsicherheit erzeugt (Böhnke 2006). Drittens hat die Verschärfung von Zumutbarkeit die Verhandlungsposition der Arbeitslosen geschwächt (Rosenthal). Die in der Reformrhetorik geforderte ‚Eigenverantwortung’ baut eben nicht auf der Stärkung der individuellen Autonomie auf, sondern führt in der momentanen Konstruktion zur Überforderung der Adressaten (Trube/Wohlfahrt 2001). Die Leistungsäquivalenz in der Arbeitsmarktpolitik und die sich daraus ableitende Lebensstandardsicherung sind als normative Prinzipien weithin gesellschaftlich akzeptiert, wenngleich sie – weder in der Förderung noch bei den Lohnersatzleistungen – jemals in Reinform existierten (Nullmeier/Vobruba 1994). Wenn als Antwort auf die derzeitigen neuen Herausforderungen das Prinzip der Leistungsäquivalenz weiter eng geführt wird und ausgleichende Mechanismen weiter beschnitten werden, wird das Prinzip jedoch weiter unterminiert: Tatsächlich wird durch Arbeitslosigkeit, niedrig entlohnte oder atypische Arbeitsverhältnisse eine wachsende Mehrheit der Beschäftigten aus dem zuvor dominierenden Inklusionsmechanismus ausgeschlossen. Anstelle der zu beobachtenden Stärkung der Leistungsgerechtigkeit wäre daher seine Lockerung zu empfehlen – die entweder durch die Neudefinition von anspruchsberechtigten Tatbeständen (z.B. Kindererziehungszeiten) oder die Erleichterung des Zugangs zu Leistungen erreicht werden könnte. Eine stärkere Dekommodifizierung wäre, wenn sie sich denn als politisch wünschenswert erweist, durch die Ergänzung von Mindestsicherungssystemen und die Verbreiterung des Zugangs zum Kernsystem zu erzielen – nicht aber durch eine Nivellierung dieses Systems.
3.2 Absicherung von dynamischen Arbeitsmarktprozessen durch ein ausdifferenziertes Instrumentarium Sicherheit und Flexibilität werden im ‚emanzipatorischen Projekt’ nicht als Gegensätze, sondern soziale Sicherung als Voraussetzung für berufliche und regionale Flexibilität verstanden. In sich wandelnden und ausdifferenzierenden sozialen und ökonomischen Verhältnissen muss Arbeitsmarktpolitik stärker einer dynamischen Perspektive folgen (vgl. dazu Schmid 2002). Dem steht der Erhalt eines hohen Qualifikationsniveaus und hohen Standards bei Arbeitsbedingungen und Entlohnung nicht unvereinbar gegenüber. Im Gegenteil: Dieser kann zum ökonomischen Erfolg einer durch hohe Exportorientierung gekennzeichneten Volkswirtschaft beitragen. Insgesamt betrachtet bilden die sozialpolitischen Sicherheitsvorkehrungen der westlichen Wohlfahrtsstaaten erst die Voraussetzung für die ökono-
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
277
mische Globalisierung, indem sie Spielräume für die Anpassungsprozesse der Produktion geschaffen haben (Rieger/Leibfried 2001). Gerade in der aktuellen Finanzkrise erweist es sich auch aus ökonomischer Sicht als sinnvoll, den Kernbereich der deutschen Exportindustrie im Zweifelsfall durch steuerfinanzierte Konjunkturpakete weiter zu stützen und flankierende arbeitsmarktpolitische Instrumente bereitzustellen.6 Gleichzeitig haben wir durch die Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft ein gegenläufiges Phänomen zu bewältigen, nämlich den Umgang mit einem wachsenden Anteil an Dienstleistungsbeschäftigung (Tabelle 1 im Anhang) mit mittleren Qualifikationsanforderungen und weniger regulären Beschäftigungsbedingungen (dazu ausführlich Bosch et al. 2002). Insofern muss das alte, auf eine gut qualifizierte, kontinuierlich beschäftigte Facharbeiterschaft zielende arbeitsmarktpolitische Instrumentarium ergänzt (nicht ersetzt!) werden, und zwar durch effektive und nachhaltige Maßnahmen, die auf diese wachsenden, unsicheren Segmente des Beschäftigungssystems ausgerichtet sind. Anstelle einer Universalisierung einfacher Förderungsinstrumente oder der Begrenzung auf die Förderung von spezifischen Zielgruppen, kommen wir nicht umhin, mit einem weiterhin ausdifferenzierten Instrumentarium vorzugehen, das maßgeschneiderte Lösungen für unterschiedliche Beschäftigtengruppen bereit hält (Oschmiansky/Ebach). Die Einführung von ControllingVerfahren zur Erfassung der Wirkungen des Instrumenteneinsatzes (Schütz) ist dafür eine wichtige Voraussetzung, ebenso eine Arbeitsvermittlung, die auf die Erfassung ausdifferenzierter Bedarfe vorbereitet ist (Hielscher/Ochs), sowie eine tragfähige und effektive Arbeitsteilung zwischen den zentralen und den lokalen Akteuren, von denen allein letztere die regionalen Bedingungen der Arbeitsförderung angemessen berücksichtigen können (Kaps).
3.3 Neue Steuerungsformen, die lokale Steuerungspotentiale erschließen Insofern ist ein emanzipatorischer Ansatz in der Arbeitsmarktpolitik nicht allein durch die Höhe und Ausgestaltung der Lohnersatzleistungen oder das Profil der einzelnen Instrumente bestimmt, sondern auch durch die Art seiner Steuerung und Implementation. Hier vermuten wir das größte noch ungenutzte Potential und beobachten gleichzeitig die größte Unsicherheit, wie nicht nur die unklare, in Folge des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Trägerschaft entstandene Situation andeutet (Knuth; Kaps). Doch nicht nur die Art der öffentlichen Trägerschaft und das Verhältnis zwischen zentralen und lokalen Akteuren bieten neue Entwicklungsmöglichkeiten, sondern auch die Steuerungsformen innerhalb der Bundesagentur und ihrer lokalen Gliederungen (Schütz) wie auch die Leistungsprozesse selbst (Hielscher/Ochs). Wenn sich zudem die Beteiligungsformen der Selbstverwaltung verändern (Klenk) und insgesamt ein Wandel der Aufgabenstellung und Aktivitäten auf beiden Seiten zu beobachten ist (Schroeder/Schulz), stellt sich die Frage, in welche Formen das bei der Verabschiedung des AFG konstitutive Mitwirkungs- und -verwaltungsrecht der Sozialpartner überführt werden kann. Das Potential reflexiver Steuerungsformen, für das wir eine erhebliche Entwicklungsmöglichkeit vermuten, wird bereits an einigen Stellen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts deutlich (Kremer/Bothfeld). Prinzipiell hat die Tarifautonomie das Potential und die Funktionsfähigkeit delegierter Steuerungsprozesse aufgezeigt. Gerade hier werden 6 Financial Times Deutschland: Interview mit Olivier Blanchard: IWF-Chefvolkswirt verteidigt deutsches Exportmodell, 27.4.2009.
278
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
jedoch auch die Grenzen dieses Ansatzes offensichtlich, wenn die Machtverhältnisse der Sozialpartner einem Wandel unterliegen. Das Beispiel der Regulierung der Leiharbeit durch das Equal Pay Prinzip zeigt einen interessanten Weg auf, aber hier wird besonders deutlich, welche begleitenden rechtspolitischen Vorkehrungen für eine erfolgreiche und ausgewogene Implementation getroffen werden müssen. Auch im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik lassen sich Beispiele für Ansätze einer reflexiven Regulierung finden, gerade seit dem von der rein bürokratischen Konditionalsteuerung abgerückt und Elemente einer Zielsteuerung in das Steuerungsmodell eingefügt werden. Hier hat sich etwa am Beispiel der freien Förderung nach § 10 SGB III gezeigt, dass reflexive Steuerungsformen und -techniken ein besonderes Potential im Hinblick auf effektive Steuerungslösungen bieten (Reissert 2001). Allerdings muss hier auf eine gute Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen den lokalen Gliederungen der Arbeitsagenturen und die immer wieder kritisierte Intervention durch das Bundesarbeitsministerium oder die Zentrale der Bundesagentur geachtet werden. Ein Prüfstein könnte die stetige Ausweitung der Ausschreibungsverfahren arbeitsfördernder Maßnahmen sein, die zu einer stärkeren Standardisierung von Maßnahmenangeboten führt und die Spielräume der lokalen Akteure einschränkt.
4
Fazit
Die Gesamtschau der Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik eröffnet den Blick auf drei zentrale Schlussfolgerungen. Erstens zeigt sich eine gewachsene Uneinheitlichkeit im Sinne einer Inkohärenz durch sich gegenseitig überlagernde und widersprechende Zielsetzungen. Es ist durch die jüngsten Reformen nicht gelungen, ein neues kohärentes Modell aktiver und aktivierender Arbeitsmarktpolitik zu entwerfen, das in angemessener Weise an bestehende institutionelle und normative Strukturen anschließt. Die Spannungsverhältnisse zwischen Kommodifizierung und Dekommodifizierung von Arbeit, d.h. zwischen dem Ziel der schnellen Wiedereingliederung und dem Vorrang des Erhalts von Humankapital bei der Ausrichtung der Instrumente, haben sich eher verschärft denn vermindert. Schließlich weist die Landschaft der Steuerungsformen in der Arbeitsmarktpolitik mehrere kleine und große Baustellen auf. Dieser zeitweise Zuwachs an Inkohärenz und Inkonsistenz ist eine typische, wenngleich nicht notwendige Begleiterscheinung institutionellen Wandels (Bogedan et al. 2009). Insofern ist es nicht unangemessen, die deutsche Arbeitsmarktpolitik als in einem Übergang begriffen zu verstehen. Zweitens zeigt sich eine Leerstelle bei der Suche nach guten Problemlösungsansätzen im Hinblick auf eine stärkere Integration und die Verminderung von Segmentierungstendenzen bei den Arbeitslosen sowie auf dem Arbeitsmarkt generell. Mit der Einführung der Grundsicherung wurde der Versuch unternommen, arbeitsmarktferne Personen stärker an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Die Leistungshöhe, das Angebot von Eingliederungsmaßnahmen, aber auch die Verknüpfung mit anderen Bereichen der Sozialpolitik (z.B. die Altersvorsorge) werfen berechtigte kritische Fragen auf. Vor allem hat die Art der Verkopplung beider Systeme, des SGB III mit dem SGB II, weniger die gewünschte Durchlässigkeit und Chancen der Aufwärtsmobilität gebracht, sondern wiederum eine Segmentierung zwischen den verschiedenen Gruppen von Arbeitslosen bewirkt. Inwiefern eine Eingliederung von Arbeitslosen mit ‚schlechten’ Risiken im Rechtskreis des SGB II gelingen kann, wird letztlich von der Entwicklung einer ausdifferenzierten arbeitsmarktlichen und sozialen
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
279
Eingliederungsförderung abhängen. Im SGB III hat die betriebswirtschaftliche Überformung der Leistungsprozesse bürokratische Abläufe nur ergänzt, aber nicht effektiviert, so dass sich der Managementansatz für die Arbeitsmarktpolitik nicht als Königsweg, sondern eher als Stolperpfad erweist. Für eine nachhaltige Förderung Langzeitarbeitsloser wurde bislang jedenfalls keine gute Lösung gefunden, wenngleich auf Ebene der lokalen Akteure wichtige Potentiale aktiviert werden konnten. Drittens schließlich fehlt eine stärkere Einbettung der Arbeitsmarktpolitik in den Gesamtkontext des deutschen Sozialstaats. Wenn wir davon ausgehen, dass langfristig mit hoher Arbeitslosigkeit und diskontinuierlichen Erwerbskarrieren zu rechnen ist, sollten die sozialen Sicherungssysteme entsprechend angepasst werden, um Sicherungslücken, die durch die ‚neuen’ Risiken entstehen bzw. als solche neuerdings wahrgenommen werden, sichtbar gemacht werden. Dafür muss grundsätzlich geklärt werden, welchen Stellenwert dem Prinzip der Lebensstandardsicherung in den sozialen Sicherungssystemen in Zukunft beigemessen werden soll. Der Begriff der Teilhabe impliziert die Überzeugung, dass die BürgerInnen an dem Wohlstand auf Basis des erwirtschafteten Gesamteinkommens einer Volkswirtschaft beteiligt werden sollen, er trifft jedoch weder eine Vorstellung über Art und Umfang von gesamtgesellschaftlicher Umverteilung noch über das Niveau des Lebensstandards, das als Referenz für das Sicherungsniveau öffentlicher Sozialpolitik dienen soll. Mit der Pflicht zur Abschmelzung von Rücklagen bei Arbeitslosigkeit (die zudem den Anreiz zur Vermögensbildung und Eigenvorsorge unterminiert), den sehr niedrigen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und der Neufassung der Zumutbarkeitskriterien erfolgt die Nivellierung von Lebenslagen auf einem Mindestsicherungsniveau, das vom Durchschnittseinkommen und dem wachsenden Wohlstand in dieser Gesellschaft abgekoppelt wird. Die Umstellung auf einen größeren Anteil privater Vorsorge – in der Rente wie auch in der Kranken- und Pflegeversicherung – wirkt zusätzlich ungleichheitsverschärfend, wenn diese aufgrund absinkender Einkommen von einem wachsenden Bevölkerungsanteil nicht realisiert werden kann. Auf der anderen Seite sollte das nicht in diesem Umfang intendierte Phänomen der Aufstockung von geringen Erwerbseinkommen durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende grundsätzlich überdacht werden – es sei denn, die Politik entscheidet sich bewusst für die flächendeckende, staatliche Subvention niedriger Löhne und den Verzicht auf einen substantiellen Schutz gegen deren weiteres Absinken. Natürlich kann es nicht allein Aufgabe der Arbeitsförderung und der Grundsicherung sein, die Grundsatzprobleme des im Wandel begriffenen Sozialstaats zu lösen. Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik, ihre Möglichkeiten und Grenzen sollten aber wieder grundsätzlicher und ausführlicher diskutiert werden, wenn die Arbeitsmarktpolitik nicht zum Ausfallbürgen für die Defizite in den angrenzenden Systemen, etwa dem Bildungssystem oder der Lohnpolitik und damit einem immer stärkerem Legitimationsdruck ausgesetzt werden soll. Wenn die Einführung des AFG 1969 mit einer makroökonomischen Nachfragesteuerung verknüpft wurde und vor allem auf Erhalt und Ausbau des Humankapitals und der Sicherung von Erwerbsverläufen und Aufwärtsmobilität diente, dann ist die Problemlage heute möglicherweise recht ähnlich. Allerdings bedarf es, im Unterschied zu damals, der gründlichen Überarbeitung unseres Sicherungssystems bei Arbeitslosigkeit: nicht im Sinne der Aufgabe seiner solidarischen und lebensstandardsichernden Funktion, sondern im Sinne der Stärkung seines emanzipatorischen Potentials.
280
Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan
Literatur Boeri, T./J. van Ours (2008): The Economics of Imperfect Labor Markets, Princeton und Oxford: Princeton University Press. Böhnke, P. (2006): Am Rande der Gesellschaft. Risiken sozialer Ausgrenzung. Opladen: Barbara Budrich. Bogedan, C., S. Bothfeld/S. Leiber (2009): Fragmentierung des Bismarck'schen Sozialstaatsmodells? Ein Vorschlag zur Erfassung von Wohlfahrtsstaatswandel in Sozialversicherungsländern. In: Sozialer Fortschritt. 58. 5. 102-109. Bosch, G./ T. Haipeter, E. Latniak/S. Lehndorff (2007): Demontage oder Revitalisierung? Das deutsche Beschäftigungsmodell im Umbruch. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 59. 2. 318-339. Bosch, G./Hennicke, P./Hilbert, J./Kristof, K./Scherhorn, G. (Hrsg.) (2002): Die Zukunft von Dienstleistungen: ihre Auswirkung auf Arbeit, Umwelt und Lebensqualität. Frankfurt: Campus-Verlag. Bothfeld, S. (2008): Un train peut en cacher un autre - gains and losses of individual autonomy in activating social policy strategies. International Conference: Activation policies on the fringes of society: a challenge for European welfare states, 15./16. Mai 2008 in Nürnberg. Bothfeld, S./S. Gronbach/K. Seibel (2005): Eigenverantwortung in der Arbeitsmarktpolitik: Zwischen Handlungsautonomie und Zwangsmaßnahmen. WSI-Diskussionspapier 134, Düsseldorf, WSI, download under: http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_diskp_134.pdf. Brenke, K. (2008): Arbeitslose Hartz IV-Empfänger: Oftmals gering qualifiziert, aber nicht weniger arbeitswillig. In: DIW Wochenbericht. 43. 678-684. Brinkmann, C., S. Koch/H. G. Mendius, (Hrsg.) (2006): Wirkungsforschung und Politikberatung eine Gratwanderung? Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Nürnberg: IAB. Davidsson, J./M. Naczyk (2009): The ins and outs of dualisation: A literature review. RECWOWEWorking-Paper 02/09, Edinburgh, Recwowe Publication Center, Zugriff unter: http://www.socialpolicy.ed.ac.uk/recwowepudisc/working_papers/working_paper_02__09. Dingeldey, I. (2007): Wohlfahrtsstaatlicher Wandel zwischen "Arbeitszwang" und "Befähigung". Eine vergleichende Analyse der aktivierender Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, Dänemark und Großbritannien. In: Berliner Journal für Soziologie. 17. 2. 189-209. Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press. Giddens, A. (1999): Der dritte Weg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Hagen, T./V. Steiner (2000): Von der Finanzierung der Arbeitslosigkeit zur Förderung von Arbeit Analysen und Handlungsempfehlungen zur Arbeitsmarktpolitik. Baden-Baden: Nomos. Hall, P./D. Soskice (Hrsg.) (2001): Varieties of capitalism. Oxford: Oxford University Press. Hans-Böckler-Stiftung (2006): Niedriglohn: Wissenschaftliche Vorstöße in eine Grauzone. In: böckler-impuls. 2006. 2. 4-5. Kaufmann, F.-X. (2003): Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität. In: S. Lessenich (Hrsg.) (2003): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M.; New York: Campus. 73-104. Lessenich, S. (2003): Der Arme in der Aktivgesellschaft. Zum sozialen Sinn des "Förderns und Forderns". In: WSI-Mitteilungen. 56. 4. 214-220. Lessenich, S./S. Van Dyk (2008): Die paradoxale „Wiederkehr“ der Unsicherheit. In: Mittelweg 36. 17. 5. 13-45. Lutz, B. (2006): Wirkungsforschung und Politikberatung, in: Brinkmann, C./Koch, S./Mendius, H.G. (Hrsg.): Wirkungsforschung und Politikberatung - eine Gratwanderung?, BeitrAB 300, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 375-384. Martin, C./B. Palier (Hrsg.) (2008): Reforming the Bismarckian Welfare Systems. Weinheim: Wiley VHC.
Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft
281
Nullmeier, F./G. Vobruba (1994): Gerechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs. In: F. Nullmeier, R. Pioch and G. Vobruba (Hrsg.) (1994): Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Marburg: Schüren. 966. Nullmeier, F. (2006): Paradoxien der Eigenverantwortung, in: Heidbrink, Ludger/ Hirsch, Alfred (Hrsg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Systems, Frankfurt am Main u.a.: Campus. 151-164. Pierson, P. (2000): Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics.In: American Political Science Review. 94. 2. 251-267. Reissert, B. (2001): Auf dem Weg zu einem neuen Steuerungsmodell in der Arbeitsmarktpolitik. In: Schröter (Hrsg.) (2001): Empirische Policy- und Verwaltungsforschung. Für Hellmut Wollmann zum 65. Geburtstag, Opladen: Leske + Budrich. 117-131. Rieger, E./S. Leibfried (2001): Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Roller, E. (2002): Erosion des sozialstaatlichen Konsenses und die Entstehung einer neuen Konfliktlinie in Deutschland? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 29-30. 13-19. Schank, T./C. Schnabel/J. Stephani/St. Bender (2008): Niedriglohnbeschäftigung: Sackgasse oder Chance zum Aufstieg? IAB-Kurzbericht, 08/2008, Nürnberg: IAB. Schmid, G. (2002): Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt/M./ New York: Campus. Schmid, G. (2006): Social risk management through transitional labour markets. In: Socio-Economic Review. 4. 1. 1-33. Schmid, G., B. Reissert/G. Bruche (1987): Arbeitslosenversicherung und aktive Arbeitsmarktpolitik. Finanzierungssysteme im internationalen Vergleich. Berlin. Sesselmeier, W. (2004): Deregulierung und Reregulierung der Arbeitsmärkte im Lichte der InsiderOutsider-Theorie. In: WSI-Mitteilungen. 54. 3. 125-131. Taylor-Gooby, P. (Hrsg.) (2004): New Risk, New Welfare. The transformation of the European Welfare State. Oxford: Oxford University Press. Thelen, K. (2004): How Institutions Evolve. The Political Economy of Skills in Germany, Britain, the United States, and Japan. Cambridge: Cambridge University Press. Trube, A./N. Wohlfahrt (2001): Der aktivierende Sozialstaat. Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen politischen Ökonomie der inneren Sicherheit. In: WSI-Mitteilungen. 54. 1. 27-35. Van Berkel, R. /I. Hornemann Moeller (2002): The concept of activation. In: R. Van Berkel/I. Hornemann Moeller (Hrsg.) (2002). Active social policies in the EU. Inclusion through participation? Bristol, Policy Press. 45-71. Weiss, C. H. (1991): Policy research: data, ideas or arguments? In: P. Wagner, C. H. Weiss, B. Wittrock and H. Wollman (Hrsg.) (1991). Social Sciences and Modern States: National Experiences and Theoretical Crossroads, Cambridge, Cambridge University Press. 306-332.
Anhang
283
Anhang Anhang
Kurze Chronik der Arbeitsmarktpolitik seit 1969 (zur Entwicklung der Beitragssätze und der Bemessungsgrenzen siehe Tabelle 8) 1969: Arbeitsförderungsgesetz Grundlegende Neuorganisation der Arbeitsmarktpolitik; Einbindung der Bundesanstalt für Arbeit als Träger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung; Bildungs- und Mobilitätsförderung als zentrale Aufgaben. Ausbau der beruflichen Bildung durch Erhöhung des Unterhaltsgeldes (UHG) bei beruflichen Bildungsmaßnahmen von 75% des maßgeblichen Nettoentgelts auf 81,25% (in den ersten 6 Monaten) bzw. 87,5% (Restdauer der Maßnahme); entscheidender Unterschied zum Vorgängergesetz (AVAVG) war, dass auf berufliche Bildungsmaßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen nunmehr ein Rechtsanspruch bestand. Verankerung von Arbeitsmarktund Berufsforschung als Aufgabe der Bundesanstalt. 1972: 2. AFG-Novelle Neuordnung der Winterbauförderung: Einführung eines Wintergeldes für Bauarbeiter in Höhe von 2 DM je geleisteter Arbeitsstunde in der Winterzeit. Zur Finanzierung wird eine von den Bauunternehmen aufzubringende Winterbau-Umlage eingeführt. 1974: 3. AFG-Novelle Dynamisierung der Geldleistungen des AFG in Anlehnung an die Rentenversicherung; Verbesserung der Leistungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM); Einführung eines Konkursausfallgeldes; Zur Finanzierung des Konkursausfallgeldes wird eine Arbeitgeberumlage eingeführt. Dezember 1974 Verabschiedung eines Konjunkturprogramms: u.a. Beschäftigungshilfen zur Wiedereingliederung von längerfristig Arbeitslosen (drei Monate und mehr) in Arbeitsamtsbezirken mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit und Ausweitung von Lohnkostensubventionen. 1975 Leistungsverbesserungen: Kopplung der Lohnersatzleistungen alleine an das Nettoarbeitsentgelt und gleichzeitige Erhöhung auf 68% des Nettoarbeitsentgelts (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und Schlechtwettergeld). Erhöhung des Unterhaltsgeldes an Fortbildungsund Umschulungsmaßnahmen auf einheitlich 90% des Nettoarbeitsentgelts. 1976: Haushaltsstrukturgesetz Leistungskürzungen: Stärkere Fokussierung der Förderung der beruflichen Bildung auf den Beitragszahlerkreis. Kürzung des Unterhaltsgeldes. Differenzierung der beruflichen Bildungsmaßnahmen in arbeitsmarktpolitisch notwendige und arbeitsmarktpolitisch zweckmäßige Maßnahmen. Kürzung des Unterhaltsgeldes auf 80% (Notwendige Maßnahmen;
284
Anhang
sog. „großes UHG“) bzw. 58% (zweckmäßige Maßnahmen). Streichung des Unterhaltsgeldes im Anschluss an eine Maßnahme. Ausschluss von Arbeitslosenhilfe für Schul- und Hochschulabsolventen, die nicht innerhalb des letzten Jahres vor Beginn der Ausbildung mindestens 26 Wochen in einer entlohnten Beschäftigung gestanden haben. Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung. März 1977 Verabschiedung eines umfangreichen Investitionsprogramms (16 Mrd. DM später auf 20 Mrd. erhöht); zur Flankierung Ausbau der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 1978: 4. Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes Kürzung des Arbeitslosengeldes (ALG) und der Arbeitslosenhilfe (ALHI) für nach ihrer Berufsausbildung arbeitslose Jugendliche; Einführung von Rentenversicherungsbeiträgen für EmpfängerInnen von ALG, ALHI und UHG. Übertragung eines Teils der beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen von der Rentenversicherung auf die BA. Anrechnung von Sperrzeiten auf die Bezugsdauer des ALG. Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung durch Runderlass 230/78 der BA. Mai 1979 Verabschiedung eines arbeitsmarktpolitischen Sonderprogramms für Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen. August 1979: 5. Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes Leistungsverbesserungen: UHG in Höhe von 80% wird auch für jene Personen gezahlt, die einen „Mangelberuf“ ergreifen wollen. Förderung auch kurzfristiger Fortbildungsmaßnahmen, die das Ziel haben, berufliche Fertigkeiten und Kenntnisse festzustellen. Verbesserungen beim Konkursausfallgeld und Erhöhung der Lohnkostenzuschüsse bei ABM für ältere Personen. Linderung der Zumutbarkeitsregelung. 1982: Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) Umfangreiche Einschränkungen bzw. Verschlechterungen u.a.: Verlängerung der Anwartschaftszeit für den Bezug von ALG von sechs auf zwölf Monate beitragspflichtige Beschäftigung. Nichtberücksichtigung von „Sonderzahlungen“ (z.B. Urlaubs- und Weihnachtsgeld) bei der Berechnung von ALG und ALHI. Verlängerung der Sperrzeit von vier auf acht Wochen und Berücksichtigung von ALG-Sperrzeiten beim ALHI-Bezug. Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung. Kürzung des „großen UHG“ auf 75% (mit Kindern) bzw. 68%. Umstellung des UHG bei zweckmäßigen Maßnahmen auf Darlehen. Einschränkungen bei ABM. 1983: Haushaltsbegleitgesetz 1983 Weitere Leistungseinschränkungen: Die Beitragsentrichtung der BA an die Rentenversicherung für Leistungsempfänger wurde an die Höhe der Lohnersatzleistungen und nicht mehr an das Bruttoentgelt gekoppelt. Das Verhältnis der Dauer der beitragspflichtigen Beschäftigung zur Dauer des Anspruchs auf ALG wurde von 2:1 auf 3:1 geändert.
Anhang
285
1984: Haushaltsbegleitgesetz 1984 Erneute Leistungsverschlechterungen u.a.: Senkung von ALG, Kurzarbeitergeld (KUG) und Schlechtwettergeld auf 68% (mit Kinder) bzw. 63% (ohne Kinder). Senkung der ALHI auf 58 bzw. 56%. Senkung des „großen UHG“ auf 70 bzw. 63%. Kein Rechtsanspruch mehr auf sog. zweckmäßige Bildungsmaßnahmen. 1984 Streik um die 35 Stunden Woche; Entscheidung des Verwaltungsrates der BA an die „kalt Ausgesperrten“ kein Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosengeld zu zahlen (sog. „Franke-Erlaß“) 1985: Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes und der gesetzlichen Rentenversicherung Verlängerung des ALG für ältere ab 50 Jahren auf 18 Monate. Verlängerung der Sperrzeiten von 8 auf bis zu 12 Wochen. April 1985: Beschäftigungsförderungsgesetz Zunächst bis 1990 befristete (dann verlängerte) Deregulierung des Arbeitsrechts u.a.: Erleichterte Zulassung befristeter Arbeitsverträge. Verlängerung der zulässigen Überlassungsdauer einer LeiharbeitnehmerIn. Erhöhung des Schwellenwertes beim Abschluss von Sozialplanregelungen. 1986: 7. Gesetz zur Änderung des AFG Leistungsausbau u.a.: Stafflung der Höchstdauer für den Bezug von ALG nach Lebensalter: ab 44 Jahren auf bis zu 16 Monate, ab 49 Jahren auf bis zu 20 Monate und ab 54 Jahren auf bis zu 24 Monate. Erhöhung der Freibeträge bei der Anrechnung von Ehegatteneinkommen auf die ALHI. Arbeitslose nach Vollendung des 58. Lebensjahres müssen der Arbeitsvermittlung nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen, sofern sie dem Arbeitsamt gegenüber erklären, zum nächstmöglichen Termin Altersruhegeld zu beziehen. Sie werden auch nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik geführt. Wieder Rechtsanspruch auf sog. zweckmäßige Bildungsmaßnahmen. Erhöhung des UHG auf 73 (mit Kindern) bzw. 65 % des vormaligen Nettoentgelts. Arbeitslose, die eine selbständige Beschäftigung anstreben, erhalten in den ersten drei Monaten der Existenzgründung ein Überbrückungsgeld in Höhe der zuvor bezogenen ALG/ALHI. Mai 1986: Gesetz zur Sicherung der Neutralität der BA bei Arbeitskämpfen Mittelbar von Arbeitskämpfen betroffene ArbeitnehmerInnen (kalt Ausgesperrte) haben keinen Anspruch mehr auf Lohnersatzleistungen. 1987: Gesetz zur Verlängerung des Versicherungsschutzes bei Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit Leistungsausbau u.a.: Verlängerung der Bezugsdauer des ALG auf bis zu 18 Monate (ab 42 Jahre), 22 Monate (ab 44 Jahren), 26 Monate (ab 49 Jahre), 32 Monate (ab 54 Jahre). Verhältnis der Dauer der beitragspflichtigen Beschäftigung zur Dauer des Anspruchs auf ALG von 3:1 auf 2:1 herabgesetzt. Befristete Verlängerung der KUG-Bezugsdauer für Betriebe der Stahlindustrie.
286
Anhang
1987 Einführung der computerunterstützten Arbeitsvermittlung (coArb) und eines StellenInformations-Service (SIS) in der BA. 1988: 8. AFG Novelle Verlagerung von Auf- und Ausgaben vom Bund auf die BA: z.B. Sprachförderung von Aussiedlern, Asylberechtigten und Kontingenzflüchtlingen; Förderung der Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher (nachträglicher Erwerb des Hauptschulabschlusses). Verlängerung der Bezugsdauer des Überbrückungsgeldes auf sechs Monate. 1989: Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand Rechtsanspruch auf Kostenerstattung bei Teilnahme an beruflichen Bildungsmaßnahmen wird in eine „Kann-Leistung“ umgewandelt. Diverse Kürzungen der Fördersätze in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Februar 1990 Einführung einer Arbeitslosenunterstützung, Gewährung von Vorruhestandsgeld und Regelungen zur Umschulung in der DDR. Bildung einer Arbeitsgruppe „Aufbau einer Arbeitsverwaltung in der DDR“ in der BA. Mai 1990 Volkskammer der DDR verabschiedet ein Arbeitsförderungsgesetz (AFG-DDR), das am 1.7.1990 in Kraft tritt: Weitgehende Anlehnung an das AFG der Bundesrepublik, aber großzügigere Regelungen in den Bereichen KUG, ABM, Fortbildung und Umschulung und Vorruhestand. Oktober 1990 Zusammenführung der Rechtsbereiche: Überwiegende Übertragung des AFG auf die neuen Bundesländer bei Beibehaltung einiger großzügigerer Bestimmungen des „AFG-DDR“. Februar 1992: Maastricht-Vertrag „Konvergenzkriterien“: finanzpolitisches -, Preisniveau-, Zins- und Wechselkurskriterium. Wobei das finanzpolitische Kriterium (Defizitquote < 3% und Schuldenstandsquote < 60% des BIP) als dauerhaftes Kriterium ausgelegt wurde. Keine beschäftigungs- oder arbeitsmarktpolitischen Kriterien. 1993: 10. AFG-Novelle Weitreichende Leistungseinschränkungen u.a.: Verschlechterungen der Eingliederungsleistungen für Aussiedler und der Konditionen bei ABM; Kürzung der Mittel für Fortbildung und Umschulung; Förderung zum Nachholen eines Hauptschulabschlusses wird gestrichen. Einführung der sog. „produktiven Arbeitsförderung“ (§ 249 h AFG). BMA kann den Haushaltsplan der BA künftig gegen den Willen der Selbstverwaltung in Kraft setzen.
Anhang
287
Juli 1993: Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) Weitere Leistungseinschränkungen u.a.: Verschlechterungen beim KUG und Begrenzung der ABM-Löhne. 1994: Erstes Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungsund Wachstumsprogramms (1. SKWPG) Drastische Leistungseinschränkungen u.a.: Absenkung des ALG, der ALHI, des Schlechtwettergeldes, der Eingliederungshilfe, des Eingliederungsgeldes und des KUG um drei Prozentpunkte, für Berechtigte mit Kindern um einen Prozentpunkt; Umwandlung des UHG von einer Pflicht- in eine Kann-Leistung und Senkung auf die Leistungssätze des ALG. Verlängerung der Sperrzeit bei Ablehnung eines Jobangebotes auf 12 Wochen. Erteilung der Erlaubnis zur privaten Arbeitsvermittlung. Stärkere Einbeziehung von SozialhilfebezieherInnen in Maßnahmen der Arbeitsämter. Dezentralisierung der Mittelbewirtschaftung von Ermessensleistungen der BA. Übernahme des Bundesprogramms zur Eingliederung von besonders schwer vermittelbaren Arbeitslosen in das AFG. August 1994: Beschäftigungsförderungsgesetz Generelle Zulassung der privaten, auf Gewinn orientierten Arbeitsvermittlung. Verlängerung der befristeten Maßnahmen der Beschäftigungsförderungsgesetze 1985 und 1990, insbesondere der erleichterten Zulassung befristeter Arbeitsverträge. Erneute Absenkung der ABM-Entlohnung. Ausweitung der „produktiven Arbeitsförderung“ auf Westdeutschland. 1994: Runderlass 24/94 der BA Einführung der Organisationsreform „Arbeitsamt 2000“. 1995 Wegfall des Schlechtwettergeldes zum Jahresende 1995. Ersetzt durch ein Winterausfallgeld in Höhe des KUG. April 1996: Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz Weitgehende Eingrenzung bei ABM auf langzeitarbeitslose Leistungsempfänger. Einführung von Trainingsmaßnahmen u.a. zur Verbesserung der Eingliederungsaussichten und zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft für ALHI-Bezieher. 1997: Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) Umwandlung des Rechtsanspruchs auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation in eine Kann-Leistung (Ausnahme: Schwerbehinderte). April 1997: Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG Artikel 11) Neugruppierung der Trainingsmaßnahmen und Ausweitung auch auf ALG-Bezieher. Lockerung der Beschränkung der Rechtsansprüche auf berufsfördernde Maßnahmen zur Rehabilitation. Lockerung der Teilnahmebeschränkung bei ABM. Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung, ein besonderer Berufsschutz besteht nicht mehr. Kürzung der ALGBezugsdauer in Abhängigkeit vom Alter. Neue Instrumente: Eingliederungsvertrag für Langzeitarbeitslose, Einstellungszuschuss bei Neugründungen.
288
Anhang
1997: Vertrag von Amsterdam; „Luxemburg-Prozess“ Koordinationsmechanismus der Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten zur Umsetzung einer Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS), der dann später auf dem EU-Gipfel in Lissabon 2000 als „Methode der offenen Koordinierung“ (MOK) bezeichnet wurde. Verabschiedung des 6. Europäischen Sozialfonds 2000-2006. 1998: Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG Artikel 1) Die Arbeitsförderung wird völlig neu kodifiziert und als SGB III in das Sozialgesetzbuch integriert. Dezentralisierung: Einführung eines Eingliederungstitels, in dem die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik der Arbeitsämter zusammengefasst sind; Einführung einer „Freien Förderung“: jedes Arbeitsamt darf 10 Prozent des Eingliederungstitels für freie (gesetzlich nicht geregelte) Leistungen einsetzen. Verpflichtung der Arbeitsämter zur jährlichen Vorlage einer Eingliederungsbilanz. Zulassung privater Berufsberatung und privater Ausbildungsstellenvermittlung. Ausweitung der Leistungen „Unterstützung Beratung und Vermittlung“ (UBV) und Mobilitätshilfen (MOBI). Abschaffung neuer Anwartschaften durch Weiterbildungsmaßnahmen auf ALG, stattdessen Einführung eines Anschluss-Unterhaltsgeldes für drei Monate nach Abschluss der Maßnahme. Einführung eines Teilzeit Arbeitslosengeldes. Ermöglichung der Beauftragung Dritter mit vermittlungsunterstützenden Maßnahmen. Verankerung eines Profiling nach spätestens sechsmonatiger Arbeitslosigkeit. 1999 „Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit – Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung Jugendlicher“ (JUMP). April 1999: Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse Versuch der Eindämmung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse durch u.a.: Einführung eines pauschalen Sozialversicherungsbeitrages des Arbeitgebers in Höhe von 22%; volle Sozialversicherungspflicht bei Nebentätigkeiten; Festschreibung der Geringverdienergrenze bei 630 DM. 2000: 3.SGB III-Änderungsgesetz Wegfall der originären ALHI. Anspruch auf AHLI haben nur noch Arbeitslose, die vorher ALG bezogen haben. Dezember 2000: Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe Befristete regionale Modellvorhaben zur besseren Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Sozialämtern (MoZArT). 2002: Job-Aqtiv-Gesetz Aufgriff insbesondere der 1997 eingeführten europäischen Beschäftigungspolitik u.a. durch: Frühzeitigeres Profiling, Eingliederungsvereinbarungen, Jobrotation und Förderung besonderer Personengruppen. Weitere neue Instrumente: Beauftragung Dritter mit der gesamten Vermittlung von Arbeitsuchenden und Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung.
Anhang
289
Januar 2002: „Vermittlungsskandal“ Der Bundesrechnungshof findet bei der Bundesanstalt für Arbeit gravierende Fehler in der Vermittlungsstatistik vor. Februar 2002: „Hartz-Kommission“ Eine „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz-Kommission“) wird eingesetzt mit dem Auftrag, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland effizienter gestaltet und die staatliche Arbeitsvermittlung reformiert werden könne. Im August 2002 legt die Kommission ihren Abschlussbericht vor. April 2002: Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat Aufhebung der Erlaubnispflicht für private Ausbildungsstellen- und Arbeitsvermittler; Einführung von Vermittlungsgutscheinen. Umstrukturierung der BA: Einsetzung eines dreiköpfigen Vorstands, der auf vertraglicher Basis und auf Zeit (5 Jahre) agiert. Der drittelparitätisch zusammengesetzte Verwaltungsrat, der den Vorstand kontrolliert, wird auf 21 Mitglieder reduziert und die Kompetenzen der Selbstverwaltung werden beschnitten. 2003: Erstes und Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt Grundlegende Neugestaltung der geringfügigen Beschäftigung: Erhöhung der Schwelle auf 400 Euro; Abschaffung der Begrenzung auf weniger als 15 Wochenstunden, Neuregelung der Abgaben; Subventionierung geringfügiger Nebenbeschäftigung und Einführung von Midi-Jobs mit reduzierten Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitnehmer. Einführung einer frühzeitigen Meldepflicht (bei Kündigung) mit Sanktionen bei Nichteinhaltung. Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung. Neustaffelung und Reduzierung der Sperrzeiten. Entdynamisierung der Entgeltersatzleistungen. Verschärfung der anrechenbaren Einkommen und Vermögen in der ALHI. Erleichterte Befristung bei Beschäftigung älterer Arbeitnehmer. Einführung eines Bildungsgutscheines bei Weiterbildungsmaßnahmen. Neue Instrumente: PersonalServiceAgenturen (PSA) als Pflichteinrichtung für jedes Arbeitsamt als integrationsorientierten Zeitarbeitsgesellschaft; Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer, Beitragsbonus für Arbeitgeber bei Beschäftigung Älterer, Existenzgründungszuschuss („Ich-AG“) als Pflichtleistung der Arbeitsagenturen, Personal-Service-Agenturen (PSA) als integrationsorientierten Zeitarbeitsgesellschaft, die zunächst in jeder Agentur einzurichten waren, Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen und ein „Job-Floater“, der kleinen und mittleren Unternehmen, die einen Arbeitslosen einstellen, günstige Darlehen ermöglichen sollte. 2004: Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt Kürzung der Bezugsdauer des ALG auf 12 Monate bzw. 18 Monate für über 55jährige. Erhöhung des Schwellenwertes im Kündigungsschutzgesetz. 2004: Drittes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt Umbenennung der Bundesanstalt für Arbeit in Bundesagentur für Arbeit (gegliedert in Zentrale, Regionaldirektionen und Agenturen für Arbeit). ALG und UHG bei beruflicher Weiterbildung werden ab 2005 zu einer Leistung zusammengefasst. Die für den ALGAnspruch erforderliche Anwartschaftszeit von 12 Monaten muss nunmehr innerhalb einer
290
Anhang
Rahmenfrist von zwei Jahren (vorher: drei Jahre) erfüllt werden. Verschärfung der Kriterien für Eigenbemühungen. Erweiterung der Sperrzeittatbestände. Überbrückungsgeld für Existenzgründer wird zur Pflichtleistung. Anspruch auf Beauftragung von Dritten mit der Arbeitsvermittlung nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit. Zusammenfassung von ABM und SAM zu einem Instrument; neue Zielsetzungen bei ABM u.a. wird die Zielsetzung Verbesserung der Eingliederungsaussichten aufgehoben. Transfermaßnahmen ersetzen Zuschüsse zu Sozialplanmaßnahmen. 2004 Beginn der Flächeneinführung des neuen Organisationsmodells Kundenzentrum der Zukunft (KuZ) der Arbeitsagenturen. 2005: Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt: Einführung des SGB II Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Abschaffung der ALHI. Arbeitslosengeld II (ALG II) als neue Leistung ist steuerfinanziert und bedürftigkeitsabhängig. Leistungshöhe lehnt sich am Sozialhilfeniveau an (zunächst 345 Euro in Westdeutschland; geringere Regelsätze für Kinder, sowie den Kosten der Unterkunft). Bezieher von ALG II sind in die Sozialversicherung einbezogen. Zweijährige Zuschläge bei Übergang aus Arbeitslosengeldbezug. Aufhebung aller Zumutbarkeitskriterien. Pflicht zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung. Scharfe Sanktionsregel bis hin zum Wegfall aller Leistungen. Umsetzung in der Regel durch zu bildende Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) aus Arbeitsagenturen und Sozialämtern; befristete Ausnahmeregelung für 69 Kommunen die im Wettbewerb bis 2010 die alleinige Umsetzungsverantwortung haben; bei nicht zu Stande kommen von bzw. gekündigten ARGEn ist es zu einer getrennten Aufgabenwahrnehmung gekommen. Zugang zu fast allen SGB III Instrumenten für ALG II-Bezieher. Darüber hinaus können weitere Leistungen erbracht werden beispielsweise Schuldnerberatung, Suchtberatung und psychosoziale Betreuung. Für all diejenigen, die keine Arbeit finden können, sollen Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. 2005 Einführung des neuen EDV-System VerBIS („Vermittlungs-, Beratungs- und Informationssystem“) in der BA. Einführung sog. „Handlungsprogramme“ als Leitlinien des Ressourceneinsatzes zur Systematisierung des Betreuungs- und Vermittlungsprozesses in der BA. 2006: 5. Gesetz zur Änderung des SGB III und anderer Gesetze Verpflichtung der Arbeitsagenturen zur Einrichtung von PSA wird aufgehoben. Erweiterung der Sperrzeittatbestände. März 2006: Gesetz zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze Angleichung der Regelsätze in Ost- und Westdeutschland im SGB II. Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages für ALG II-Bezieher. Rückführung von Jugendlichen in die elterlichen Bedarfsgemeinschaften. April 2006: Gesetz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung Saison Kurzarbeitergeld löst das Winterausfallgeld ab.
Anhang
291
Juli 2006: Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (FEG) Verschärfung der Sanktionsregeln im SGB II. Abschaffung des Nachrangprinzips bei Arbeitsgelegenheiten. Einführung eines Sofortangebots für Personen, die in den letzten 2 Jahren keine Leistungen nach SGB II oder SGB III erhalten haben. Pflicht zur Einrichtung eines „Außendienst zur Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs“ seitens der SGB II-Träger. Zusammenführung des Überbrückungsgeldes und der Ich-AG zum neuen Gründungszuschuss. Juli 2006: Haushaltsbegleitgesetz 2006 Aufhebung der Defizithaftung des Bundes gegenüber der BA ab 2007; an deren Stelle treten Liquiditätshilfen des Bundes (zinslose Darlehen). Oktober 2007 Das als Sonderprogramm des Bundes gestartete Programm Einstiegsqualifizierung für Jugendliche wird als Ermessensleistung in das SGB III übernommen. Einführung eines Beschäftigungszuschusses. Dezember 2007 Das Bundesverfassungsgericht erklärt die ARGEn für nicht verfassungskonform. 2008: 6. Gesetz zur Änderung des SGB III und anderer Gesetze Wegfall des Aussteuerungsbetrages der BA und Einführung eines Eingliederungsbeitrags der BA (Beteiligung der BA an den Eingliederungs- und entsprechenden Verwaltungskosten nach dem SGB II in Höhe von 50%). 2009: Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Abschaffung folgender Instrumente: Einstellungszuschuss bei Neugründung, Förderung der beruflichen Weiterbildung durch Vertretung (sog. Job-Rotation), institutionelle Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung, Befreiung der Arbeitgeber von der Beitragstragung zur Arbeitsförderung bei Einstellung älterer Arbeitnehmer, Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung, die Beschäftigung begleitenden Eingliederungshilfen und die Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung bei Teilnahme an ausbildungsbegleitenden Hilfen während der Arbeitszeit und die institutionelle Förderung des Jugendwohnheimbaus. ABM werden auf das SGB III beschränkt. Bündelung weiterer Maßnahmen in einem Vermittlungsbudget sowie in der Einführung von Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung. Experimentierbudget („Freie Förderung“) im SGB III wird von 10 auf 1 % reduziert und von den Arbeitsagenturen auf die Nürnberger Zentrale verlagert. Im SGB II ersetzt eine Freie Förderung (10 % des EGT) die „Weiteren Leistungen“. Einführung eines Rechtsanspruchs auf die Vorbereitung für den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses. Eigenständige Regelungen zur Förderung von Existenzgründungen im SGB II.
292
Anhang
Anhang
293
294
Anhang
Anhang
295
296
Anhang
Anhang
297
298
Anhang
Anhang
299
300
Anhang
Anhang
301
302
Anhang
Anhang
303
304
Anhang
Anhang
305
306
Anhang
Anhang
307
308
Anhang
Anhang
309
310
Anhang
Anhang
311
312
Anhang
Liste der bisherigen „Bundesminister für Arbeit“ Bundesminister für Arbeit: • 1949–1957: Anton Storch (CDU) Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: • 1957–1965: Theodor Blank (CDU) • 1965–1969: Hans Katzer (CDU) • 1969–1976: Walter Arendt (SPD) • 1976–1982: Dr. Herbert Ehrenberg (SPD) • 1982–1982: Heinz Westphal (SPD) • 1982–1998: Dr. Norbert Blüm (CDU) • 1998–2002: Walter Riester (SPD) Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit: • 2002–2005: Wolfgang Clement (SPD) Bundesminister für Arbeit und Soziales: • 2005–2007: Franz Müntefering (SPD) • Seit 2007 : Olaf Scholz (SPD)
Präsidenten bzw. Vorstand der Bundesanstalt / Bundesagentur für Arbeit Präsidenten der BA: • 1952-1957: Julius Scheuble • 1957-1968: Anton Sabel • 1968-1984: Josef Stingl • 1984-1993: Heinrich Franke • 1993-2002: Bernhard Jagoda Vorstand der BA: 2002-2004: • Vorstandsvorsitzender: Florian Gerster • Finanzen: Frank-Jürgen Weise • Operative Aufgaben: Heinrich Alt 2004-2006: • Vorstandsvorsitzender: Frank-Jürgen Weise • Finanzen: Raimund Becker • Operative Aufgaben: Heinrich Alt Seit Ende 2006: • Vorstandsvorsitzender: Frank-Jürgen Weise • Vorstand SGB III: Raimund Becker • Vorstand SGB II: Heinrich Alt
Anhang
313
314
Anhang
Anhang
315
316
Anhang
Anhang
317
318
Anhang
Anhang
319