Vestigia Vergiliana
Gättinger Forum für Altertumswissenschaft Beihefte
Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Thorsten B...
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Vestigia Vergiliana
Gättinger Forum für Altertumswissenschaft Beihefte
Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Thorsten Burkard, Gerrit Kloss, Jan Radicke
Neue Folge Band 3
Vestigia Vergiliana Vergil-Rezeption in der Neuzeit
Herausgegeben von
Thorsten Burkard, Markus Schauer, Claudia Wiener
unter Mitarbeit von Eltje Böttcher
ISBN 978-3-11-024720-6 e-ISBN 978-3-11-024721-3 ISSN 1866-7651 BibliogrofodJl! Information der IJ.lltICbtm N"tionoibibliothd: Die Deutsche Natiunalbibliuthek vcaeiehnet diese Publikatiun in der Deutschen Natiunalbibliugrafie; detaillierte bibliugrafische Daten sind im Internet über http://dnh.d-nh.de abtufhar.
© 2010 Walter de Gruytrr
GmbH & C" KG, Berlin/Ncw Ynrk
Druck: Hubert & Cu. GmbH & O. KG, Güttingen 00 Gedruekt
auf säurefreiem
Print<:d in Germany www.degruytrr.cum
Papier
Vorwort Die Erforschung der Rezeptionsgeschichte der Antike war und ist ein zentrales Anliegen des Münchner Latinisten Werner Suerbaum. Davon zeugen nicht nur die beiden vielen in Erinnerung gebliebenen Ausstellun gen zu Horaz und Vergil in den neunziger Jahren,1 sondern gerade auch seine jüngsten Arbeiten zur Vergilrezeption, etwa das im Jahr 2008 er schienene, knapp siebenhundert Seiten zählende Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben.2 Daher scheint es so naheliegend wie angemessen, Werner Suerbaum diesmal mit einer Festschrift zu ehren, die sich auf die Suche nach antiken und insbesondere vergilianischen Spuren in der literatur der Neuzeit begibt. Neunzehn Autorinnen und Autoren, Schüler, Kollegen, Freunde, Verehrer und Weggef:ihrten von Werner Suerbaum, haben sich für ihn auf Spurensuche begeben und dabei mehr als ein halbes Jahrtausend durch wandert. Diese Spurensuche hat eine eindrucksvolle Fülle und oft überra schende Vielfalt von vestigia Vergiliana nicht nur in der neulateinischen, sondern in der neuzeitlichen literatur überhaupt zutage gefördert, die das breite Spektrum der Vergilrezeption bis in die Gegenwart hinein illustrie ren. Das Wort vestigium hat mehrere Bedeutungen, so bezeichnet es vor al lem die Fußspur, die jemand hinterlassen hat und der man folgen kann, in übertragener Bedeutung auch die Spur im Sinne eines Kennzeichens oder eines Merkmals. Beide Nuancen spielen in der Rezeptionsgeschichte Vergils eine Rolle: Vergil hat unübersehbare Spuren hinterlassen, auf die kaum einer der späteren Dichter stoßen konnte, ohne die Verlockung zu verspüren, diesen Spuren zu folgen. Dabei versuchten die einen, in seine Fußstapfen zu treten, womöglich sogar, ihn einzuholen und seine Rich-
2
Vgl. die insgesamt neun Beihefte zu den beiden Jl.lünchener Ausstellungen: Ho raz. Disiecti membra poetae, München 1993; Vergil visuell, München 1998. Handbuch der illustrierten Vergil-Au..gaben 1502-1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Mit besonderer Berücksichtigung der Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek München und ihrer Digitalisate von Bildern zu Werken des P. Vergilius Maro sowie mit Beilage von 2 DVDs, Hildesheim u.a. 2008, 684 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie 3).
VI
Vorwort
tung zu korrigieren, andere wiederum nahmen zwar Maß an seiner Spur, gingen aber eigene und neue Wege, im Schritt weit ausholend wie einst ihr großes (und unerreichbares?)Vorbild. Ob die Dichter nunVergils Spuren folgten oder eigene Spuren hinterließen, an ihren Werken ging die Be schäftigung mit Vergil nicht spurlos vorüber, sie sind von ihr gezeichnet und tragen daher vestigia Vet;giliana an ihrem 'Leib'. Wenn nun die Beiträger der vorliegenden Festschrift den vestigia Vergiliana in der neU2eitlichen Literatur nachspüren wollten, so wandelten sie in gewisser Weise ebenfalls aufVergils Spuren. Wie jedoch die Dichter nicht an Vergil vorbeigehen können, so die Vergilforscher nicht an Wer ner Suerbaum, der mit seinen Arbeiten zu Vergil und seiner Rezeption Wege bereitet und Maßstäbe gesetzt hat. Wegen dieser vielfältigen Bedeu tungsnuancen haben wir uns fiir den Titel Vestigia Vergiliana entschieden. Die Beiträge der Festschrift sind grundsätzlich chronologisch nach den Geburtsdaten der behandelten Autoren geordnet. Der erste Aufsatz von Mario Geymonat widmet sich zwar nicht der neU2eitlichen Vergilrezeption, stellt aber einen wunderbar bukolisch-georgischen Ein stieg dar und eröffnet vielleicht nicht nur dem Vergil-Kenner, sondern auch dem Weinliebhaber neue Aspekte. Mehrere Beiträge behandeln den vergilischen Einfluss in der neulateinischen Literatur, und zwar im Epos (Nikolaus Thum, Thorsten Burkard, Gerhard Binder, Reinhold Glei, Markus Schauer), in der Bukolik (Alexander Cyron, Llthar Mundt, Eckard Lefrne), in der Lyrik (Claudia Wiener, Eckard Lefrne), in anderen Dich tungsarten (Eckard Lef'evre) sowie in poetologischen Texten (Thorsten Burkard, Eckard Lefrne). In anderen Aufsätzen steht Vergils Nachleben in der volks sprachlichen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die heutige Zeit im Mittelpunkt, so die Rezeption in Frankreich (Gerhard Binder, Maria Mateo Decabo, Rudolf Rieks), in Deutschland (Hans Jürgen Tschiede� Andreas Patzer), in der DDR (Gerhard Binder), im englischen Sprachraum (Silke Anzinger, Siegrnar Döpp, Frank Wittchow), in Polen (Gerhard Binder) und in Portugal (Stefan Feddem). Renate Piecha unter suchte anband von Zeitungen, welche vergilischen Spurenelemente sich in der Allgemeinbildung unserer nicht klassisch-philologisch gebildeten Zeit genossen noch nachweisen lassen. Somit spannt sich ein weiter, durchgehender Bogen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Bei diesem iter Vet;giiianlim wird der Leser nicht nur auf eher unbekannte Autoren treffen, sondern auch vielen großen Namen begegnen: Iacopo Sannazaro, Konrad Celtis, Marco GirolamoVida, Pierre de Ronsard, Luis de Camoes,Jacob Balde, Simon Dach,Voltaire, Charlot te von Stein, Thomas Mann, John RR Tolkien, Heiner Müller und Cormac McCarthy.
Vorwort
vn
Den Band beschließt ein aktuelles Publikationsverzeichnis des Jubilars, das an die entsprechende Bibliographie in seinen Kleinen Schriften von 1993 nahtlos anschließt.3 Auch in der Zeit des Internets sollten die c/aT'Ontm viT'Ontm scripla auch in der würdigeren Papierform zugänglich sein - und seien es auch nur die Titd. Unser Dank gilt vor allem den Beiträgern, die dankenswerterweise bereit waren, sich unserer Themenstellung zu fügen, und die mit ihren instrukti ven Arbeiten ein faszinierendes Panoptikum der Vergil-Rezeption ermög licht haben. Wir Herausgeber stehen auch deswegen bei allen Autoren in tiefer Schuld, weil wir aus verschiedenen Griinden den ursprünglich ge planten Erscheinungstermin nicht einhalten konnten. Für diese bienniale Verzögerung bitten wir natürlich nicht nur sie, sondern vor allem den Jubilar um Entschuldigung. Aber vielleicht reift ja eine Festschrift wie ein guter Wein immer besser heran. Zu Dank verpflichtet sind wir des Weiteren dem De Gruyter Verlag, hier vor allem unserer Lektorin, Frau Dr. Sabine Vogt (Lektorat Alter tumswissenschaft), und Herrn Florian Ruppenstein (Herstellung) für ihre geduldige und kompetente Begleitung. Wie immer so galt auch hier, dass Professoren ohne ihre treuen und zuverlässigen Mitarbeiter verloren sind, unser fidus etfortis Achates war die Kider Hilfskraft Frau El* Böttcher, die uns mit Scharfsinn, Sorgfalt und großem Engagement bei der Gesamtredaktion dieser Festschrift zur Seite stand. Dank schulden wir auch der Bamberger Hilfskraft Frau Isabelle Feuerhelm für Korrektur und das Erstellen des Stellenregisters. Nec Phoebo graJior ulla esl quam sibi quae vestri praescripsit pagina nomen (mit einem inhaltlich und metrisch notwendigen PluraJis maiestatis): Wir über reichen Ihnen, lieber Herr Suerbaum, diese Festschrift in der Hoffnung, dass diese Beiträge vielleicht sogar Ihrer Gdehrsamkeit die eine oder an dere neue Facette an Vergil und seiner Rezeption aufweisen können - also eben Vestigia Vetgiliana.
Thorsten Burkard (Kid) Markus Schauer (Bamberg) Claudia Wiener (München)
3
In K1ios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Wemer Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegrnar Döpp, Bamberg 1993, S. 458-464.
Inhalt MARIO GEYMONAT Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus
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NIKOLACS THCRN Heros Aeneas und luno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Neuzeit .. . ....
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1
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9
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THORSTEN BURKARD
Kannte der Humanismus "den anderen Vergil"? Zur two voicesTheorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit . . . ..
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31
GERHARD BINDER
Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren .. Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils . .... .
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. 51
......
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CLAUDIA WIENER Die Aeneas-Rolle des
elegischen Helden. Epische Inszenierung und dichterisches Selbstverständnis in Celtis' Amores . .............
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73
REINHOLD F. GLEI
Das leere Grab und die Macht der Bilder. Vergilrezeption in der Christias des Marco Girolamo Vida . .. .. . 107 ................
.....
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STEFAN FEDDERN
Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung (Aen. 1,34-156) in Camoes' Epos Os Lusiadas (6,6-91) ................... 121 ALEXANDER CYRON
Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria. Text - Übersetzung - antike Vorbilder............................................. 147 MARIA MATEO DECABO Hardys Didon se sacrifiant. Ein 'Kommentar' der Aeneis?
zum
vierten Buch
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169
x
Inhalt
ECKARD LEFEVRE
Jakob Balde und der Rex Poetarum Vergil-:. von der Pudicitia vindicata zur Expeditio Po/emico-Poetica. Ein Uberblick.
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187
LOTHAR M UN DT
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker. Seine Eklogen zum Weihnachts- und Osterfest (1651/1652).................................. 211 MARKUSSCHAUER
Vulcanus und Constantia als Waffenschmiede - die Schild beschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras
Co/umbus.................................................................................................. 251
RUDOLF RIEKS
Zu Voltaires Vergilrezeption in der Henriade .................................... 269
HANS J ÜRGEN TsCHIEDEL
Die Dido der Charlotte von Stein ....................................................... 299
ANDREAS PATZER
Ab Virgil, Virgil! - der Speichellecker des julischen Hauses.
Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg................................................................................... 315 RENATE PIECHA
Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstummen hindert .................................................................................................... 349 SILKE ANZINGER
Von Troja nach Gondor. Tolkiens "The Lord of the Rings" als Epos in vergilischer Tradition ....................................................... 363 SIEGMAR Döpp Te, Palinure, petens. Vergilrezeption in Palinurus' Grave
The Unquiet
........................................................................................................
FRANK WITTCHOW
Aeneas ohne Sendung? Cormac McCarthys
403
The Road. .................... 443
Wemer Suerbaum: Publikationen 1993-2009 ................................... 455 Namenregister ....................................................................................... 465 Stellenregister ........................................................................................ 472
Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus MARIO GEYMONAT
Reben und Wein sind bekann tlich bei griechischen und lateinischen Klas sikern ein weit verbreitetes Thema: vom betrunkenen Polyphem im neun ten Buch der Otfyssee (9,345-374) über die Trinklieder in der lyrischen Dichtung von Alkaios, Hipponax oder Anakreon, über die gravilas membromm, wie sie die vehemens violentia vini bei Lukrez (3,476-483) hervor ruft, bis zum nunc esl bibendum des Horaz (carm. 1 ,37) und zum hundertjäh rigen Falerner (Falernum Opimianum annomm cenmm), den Trimalchio servie ren lässt (SatJricon 34). Vergil räumt den Reben sogar mehr Raum in seiner Dichtung ein als dem Ölbaum, der doch schon damals und noch heute das Landschaftsbild der italischen Halbinsel prägt. Dem Weinbau, der allerdings in der Aeneis zu fehlen scheint, widmet Vergil in den Bucolica bedeutungsvolle Hinweise: pone omine vitis ("setze die Reben in Reihen", ecl. 1 ,73), semipulata tibi frondosa vitis in ulmo esf ("du hast die Rebe nur zur Hälfte an der laubreichen Ulme beschnitten", 2,70), mit einer negativen Charaktetisierung: atque mala vitis incidere face noveUas (,,[und man hat mich gesehen, wie ich] mit der schädlichen Sichel die jungen Ranken verschnitt", 3, 1 0f.), in einem Bild voll heiterer Schönheit: Vitis ul arboribus decori esf, ul vitibus uvae ("wie die Rebe die Bäume schmückt und die Traube die Rebe", 5,32) ; 3,38, 7,6 1 , 9,42; 1 0,40 (hier spendet die reichbelaubte Rebe Vergils Dichterfreund Cornelius Gallus einen schattigen Zufluchtsort lenta sub vite iaeere!). Die Dichtung, in der die Reben die größte Aufmerksamkeit erfahren, sind zweifellos die Georgica, die schon gleich mit dem Bild ulmis adiungere vitis ("an Ulmen die Reben zu binden", georg. 1 ,2) einsetzen und die präzise die Zeit im Bauernkalender angeben, zu der die Reben gepflanzt werden (1 ,284: septima [seil. dies] post decumam fe/ix el ponere vitem, "der siebte Tag nach dem zehnten ist günstig auch für das Setzen der Reben''). Der Ar beit, die in den Weinbergen zu verrichten ist, widmet sich Vergil beson ders im zweiten Buch, das Bacchus gewidmet ist, durch den "die Lese schäumt in vollen Kufen" (spumatplenis vindemia lahm, 2,6). Die Arbeit des Weinbauern ist nach einem komplexen Rhythmus ge gliedert. Zunächst muss er den geeigneten Boden aussuchen, der fruchtbar
2
l\'1ario Geymonat
sein und nach Süden gelegen sein soll (ramm pecor7que cl vitibus almis I aptius uber erit, "da wird ein lockerer Fruchtgrund ffu Vieh und liebliche Reben geeigneter sein", 2,233f.). Die Anpflanzung ist in der Ebene anders als in Hanglage (coJlibus an plano melius si! ponere vitem, I quaere prius, "ob du den Weinstock lieber an Hängen oder in der Ebene pflanzt, das prüfe vorher", 2,273f.) ; die junge Pflanze wird in eine Grube von geringer Tiefe gesetzt (ausim vel tenui vitem committere suJco, "ich würde getrost selbst einer flachen Furche den Weinstock anvertrauen", 2,289), und zwar zum geeigneten Zeitpunkt (2,3 1 9-322: Optima vinetis satio, cum vere mbenti I candida venit avis longis invisa colubris, I prima vel autumni sub frigora, cum rapidus Sol I nondum hiemem contingit equis, iam praetent aestas, "am besten ist die Saat ffu die Weingärten, wenn im rosigen Frühling der weiße Storch kommt, der ein Feind der langen Schlangen ist, oder beim ersten Frost des Herbstes, wenn der schnelle Sonnenwagen noch nicht mit den Pferden den Winter kreis berührt, aber der Sommer schon vorüber ist''). Aber wichtig ist auch das anschließende Eingreifen des Weinbauern (2,368-370: tum stringe comas, lum bracchia tonde I (ante riformidantferrum), tum denique dura I exerce imperia et ramos compesce j/uentis, "dann stutze sein Laub, dann schneide die Äste vorher haben sie vor dem Eisen Angst - dann endlich gewöhne sie an hartes Regiment und verhindere den rankenden Wuchs der Zweige'') . Die Arbeit des vinitor, des Weinbauern, wird präzise bis Vers 41 9 beschrieben, und ein heiteres Bild des Weinbergs findet sich in den Versen 521 f.: alte I mitis in apricis coquitur vindemia saxis ("und in der Höhe reift auf sonnigen Felsen die süße Ernte aus''). Es besteht also kein Zweifel, dass Vergil sich intensiv mit der Pflege von Reben befasst hat. Ich möchte mich besonders den Versen widmen, die den Laudes ltaliae (2,1 36-1 76) unmittelbar vorangehen, nämlich der Auf zählung von nicht weniger als 1 4 Sorten von Reben in den Versen 89 bis 1 08. Die Namen sind zum großen Teil griechischen Ursprungs, mit exoti schem Wohlklang im Lateinischen, metrisch elegant verbunden, wobei homerische Reminiszenzen weiterentwickelt sind zu einem raffinierten kallimacheischen Stil. Andere Kataloge in Vergils Oeuvre, unverkennbar hellenistischen Typs, sind der Nymphen- und Flussgötterkatalog in Georgica 4,336-344 und 366-373 und der Katalog der Städte und Flüsse der Südküste Siziliens am Ende von Aeneas' Erzählung im dritten Buch der Aeneis 3,692-708. Der Abschnitt beginnt mit der allgemeinen Beobachtung, dass botanische Gattungen sich in vielfaltige Arten ausdifferenzieren (2,83: genus haud unum), was am Anbau von drei Arten von Oliven demonstriert wird (2,86):
Tirolcr W'cin an der Tafel von Veq,';1 und Augustus
3
orchades et radii et amara pausia baca oval, länglich und fleischig mit bitteren Friichten Der Vers ist natürlich auch ein literarisches Echo: Ebenfalls drei Sorten von Oliven werden bei der frugalen Cena der kallim acheischen Hekale aufgetragen, und genau diese drei sind auch in Nikanders Alexipharmaka bezeugt (87f.); die gleiche Anzahl werden wir später noch bei Ovid in lateinischer und bei Nonnos in griechischer Dichtung finden. In Vergils Katalog sind die Rebsorten grundsätzlich zunächst mit ih rem jeweiligen Namen angegeben, in vielen Fällen gewinnt dann die Be schreibung besondere Lebendigkeit durch die spezifischen Merkmale.! Lesen wir dazu weiter im Text über die Weinernte (2,89-96) : non eadem arboribus pendet vindemia nostris, quam Methymnaeo carpit de pa1mite Lesbos; sunt Thasiae vites, sunt et Mareotides albae, pinguibus hae terri s habiles, levioribus illae, et passo psithia utilior tenuisque lageos temptatura pedes olim vincturaque Iinguam, purpureae preciaeque et, quo te carmine dicam Raetica? nec cellis ideo contende Falemis. "Es unterscheidet sich die Traube, die an unseren Bäumen reift, von der, die Lesbos von Methymnas Stöcken pflückt" (89f.). Methymna, so erklärt uns Servius, war eine Stadt auf Lesbos, die wertvollsten Wein trug (habens pretiosissimum vinum) . Es folgen die Weine von Thasos, einer Insel vor der thrakischen Küste, dann der Weißwein, der am Ufer des mareotischen Sees in Ägypten gekeltert wird, wo der Weinbau besonders von den Pto lemäern gefördert wurde, "letztgenannter Wein auf fetterem Boden, erst genannter auf leichterem Grund" (9 1 f.). Danach wird die Wirkung des Weins aus "Psithia" beschrieben, "besonders geeignet für Trockenbeeren auslese, und der leichte lageos, der am Ende in die Beine fahrt und die Zunge schwer macht" (93f.). Psithia, nach Columella (3,2,24) eine Varian te für Graecula, ist vor Vergil aus den Alexipharmaka des Nikander bekannt (1 81), weshalb ich annehme, dass sich auch in den Georgika des Dichters aus Kolophon ein entsprechender Passus befunden haben dürfte, von dem sich Vergil inspirieren ließ.2 Einen Beleg dafür, dass der Abschnitt über die Vielfalt der Rebstöcke schon für die Ohren der antiken Leser voll literarischer Anspielungen geklungen haben muss, liefert das Testimonium der Scholia Bernensia, dass
2
Zu den Namen der Rebsorten im Lateinischen sei an die schöne Studie von Jacques Andre: "Contribution au vocabu1aire de la viticulture: les noms de cepages", REL 30, 1 952, 126-1 56, erinnert. Dazu habe ich mich geäußert in: "Spigolature nicandree", Acme 2" 1 970, 1 38f.
4
Mario Geymonat
Vergil "diese Verse von dem Dichter Calvus übernommen hat; der sagt nämlich: lingua vino, temptanmr etpedes (fr. 21 MoreI)"; das Calvus-Fragment ,)ooks like pro se", 3 auch wenn es gelesen werden könnte als "the end of one line and beginnings of the next, in the mette of Catullus 25", was allerdings in lateinischer Dichtung sehr selten vorkommt.4 Die beiden Verse, die uns besonders interessieren (95f.), sind bedeutsam im Zentrum des Katalogs platziert:
purpureae praeciaeque er, quo te carmine dicam, Rhaetica? nec cellis ideo contende Falemis. die purpumen Trauben und die frühreifen und - wie soll ich dich angemessen besingen, Rhaetica? Du streite dich aber nicht darum mit den Kellern des Falernerl Von den griechischen Rebsorten geht Vergil über zu den Reben und Wei nen des Westens: zu den praecia und besonders den Rhaetiea, deren Name verbunden ist mit dem alpinen Volk der Raeter, die in Tirol, in der nördli chen Lombardei und einem Teil der Schweiz und Bayerns lebten. Über diese Traube stellt ein ausführliches Servius-Scholion folgende Überlegung an:
hanc UVlun Cato praecipue laudat in Iibris, quae scripsit ad filium; contra Catullus eam vituperat et dicit nulli rei esse aptam, mirarurque cur eam Iaudaverit Cam. Seiens ergo utrumque Vergilius medium tenuir, dicens "qua te carmine dicam Ra etica?" Diese Traube lobt Cam ganz besonders in seinen Büchern, die er seinem Sohn gewidmet hat. Dagegen radelt sie Catull und sagt, sie tauge zu nichts, und wun dert sich, warum Cato sie gelobt hat. In der Kenntnis heider Positionen hielt Vergil also die Mitte, indem er sagte: "wie soll ich dich angemessen besingen, Raetica?" Also noch bevor Raetien von Drusus und Tiberius im Jahre 1 5 v.Chr., nur wenige Jahre nach Vergils Tod, unterworfen und unter Kaiser Claudius römische Provinz wurde, hatte die dort angebaute Rebsorte schon das Interesse von einer Reihe der bedeutenderen Intellektuellen Roms ge weckt Cato lobte die Rebsorte in den Büchern an seinen Sohn Marcus (hane uVanJ... praecipue /audat, fr. 8), während sie Catull zu nichts geeignet schien (nuUi rei esse aptam, fr. 7). Im griechischen Bereich bezeugt der Geo graph Sttabo, nur um wenige Jahre jünger als Vergil, dass der rätische
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Edward Courtney: The Fragmentary Latin Poet.�, Oxford 1 993, 21 1 . Adrian S. Hollis: Fragments of Roman Poetty c. 60 b. C. - a. D. 20, Oxford 2007, 81.
5
Timler Wein an der Tafd von Vergil und Augu..tus
Wein einen Ruf genieße, der nur wenig hinter dem der renommiertesten Weine Italiens zurückstehe (4,6,8): Ö ye 'PaITIKOS oll/OS.
1II Tols ')Tail.lKols
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clrrroil.ebrea6al SOK&II/.
Mit dieser Rebsorte befasst sich auch Plinius (1 4,3,1 6), der genau angibt, dass ihr Wein sich besonders dazu eigne, am Anfang der Mahlzeit serviert zu werden, und der für ihre Herkunft die Umgebung von Verona nennt, also gar nicht weit von Vergils geliebter Vaterstadt Mantua entfernt: Raeticis prior mensa trat /lVis ex Veronensi/lm agro. Erst wieder Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts finden die Raetica vina wieder literarisch Erwähnung, in einem liebenswürdigen Epi gramm des Martial, in dem der spanische Dichter direkt auf Catull Bezug nimmt (1 4,1 00):
si non ignota est docti tibi tetra Catulli potasti testa Raetica vina mea. Falls dir das Heimatland des gelehrten Catu1l ein Begriff ist: Du hast in meinem Krug hier rätischen Wein getrunken. Die hervorragende Qualität dieses Weins, der aus dem Valpolicella oder, was m. E. wahrscheinlicher ist, aus dem heutigen Tirol stammt, wird da durch hervorgehoben, dass Vergil einen Vergleich zwischen dem RaetiCllm und dem Falerner zieht, immerhin dem renommiertesten Wein Italiens, der bei Horaz (carm. 1 ,27,1 0) und Properz (4,6,73) literarisch gepriesen wird. Aber was mir an dieser Stelle besonders interessant scheint: Es han ddt sich dabei um den Wein, der von Augustus bevorzugt wurde, der wenig aß und mit Sicherheit kein Trinker war. Bei Sueton (Divus Augus tus 76f.) heißt es:
Cibi [. . . ] minimi erat atque vulgaris fere [...] Vini quoque natura parcissimlL' erat. Non amplius ter bibere eum solitum super cenam in castris apud Mutinam Cor nelius Nepos tradit. Postea quotiens largissime se invitaret, senos sextantes non excessit, aut si excessisset, reiciebat. Et maxime delectatus est Raetico neque temere interdiu bibit. Er aß [ . .. ] nur wenig und fast nur ganz gewöhnliche Speisen [...] Auch im Wein genuss war er von Natur aus sehr zurückhaltend. Nepos zufolge pflegte er abends bei der Cena im Lager bei Mutina nicht mehr als drei Gläser zu trinken. Später, wenn er sich wirklich etwas gönnte, trank er nie mehr als sechs Becher, oder wenn er darüber hinalL' trank so spie er es wieder aus. Und besonders mochte er den rätischen Wein und trank ihn maßvoU auch tagsüber. ,
Die zentrale Stellung, die der rätische Wein im Rebenkatalog der Georgica einnimmt, könnte also zusätzlich das normale Verhalten an der Tafd des Dichters und des Kaisers widerspiegeln (auch Vergil war ja nach der Do nat-Vita genügsam: cibi viniq/le minimi, § 8) und könnte einen deutlichen
6
Mario Geymonat
Hinweis darauf bilden, dass Vergil regelmäßiger Gast an der Tafel des Augustus war! Aber es gibt noch zwei stilistische Elemente, die Vergils enge Beziehung zu diesem Tiroler Wein (der auch nach 2000 Jahren noch zu den Spitzen weinen zählt) noch zusätzlich unterstreichen: Die rhetorische Frage als Präteritio, mit der der Dichter seine Unfähigkeit zu einer angemessenen Würdigung erklärt (95: quo carmine?), und die Apostrophe, mit der sich Vergil unerwartet direkt an die Traube selbst wendet und sie so personifi ziert, während sie sonst ein lebloses Objekt bleibt (95f.: te... Rhaetica). Die Apostrophe ist bei Vergil ein nicht häufig eingesetztes Stilmittel und des wegen besonders auffallend; er hat es aus der alexandrinischen Literatur übernommen. Man denke dabei an die Apostrophen an die "hohe Burg des Priamos" (Priamique arx alta maneres, Aen. 2,56) , an die Arethusa Quelle und an die palmosa Selinus (Aen. 3,696 und 705) sowie an die Apo strophen improbe Amor (Aen. 4,4 1 2) und dives Anagnia (Aen. 7,684). Sofort nach diesen zentralen Versen richtet Vergil den Blick auf ande re Anbaugebiete und ihre Qualitäten (97-100):
Sunt et Aminneae vites, firmissima vina, Tmolius adsurgit quibus et rex ipse Phanaeu.�, Argitisque minor; cui non certaverit ulla aut tantum fluere aut totidem durare per annos. Es gibt auch die Reben von Aminnaea, widerstand�fähigste Weine, vor denen sich selbst der Tmolu.� neigt und der König der Weine, der Phanäer. Und die Argitis, die kleine, mit der keine andere konkurrieren kann, sei es in Ergiebigkeit oder in der jahrelangen Haltbarkeit.
Aus Aminnaea, etymologisch von Servius als "ohne Minium" erklärt, kam Schaumwein, eine Art von salernitanischem Rosatello. Der TmolillS war ein Wein, der von den Hängen des Tmolus in Lydien kam, dessen strenge Gottheit als Richter zusammen mit König Midas im mythischen Sänger wettstreit von Apoll und Pan fungierte. Phanaeus, "der König der Weine", war das begehrteste Produkt der Insel ehios, die als oivTlpa �,reich an Wein'') schon von Kallimachos bezeichnet wurde (fr. 399 Pfeiffer) ; ihr Wein wurde mit dem griechischen Epitheton SuvaCTTTjS, "Herr", von dem lateinischen Dichter Lucilius (fr. 1 147 Krenkel) ausgezeichnet. Die A,gitis schließlich war eine Weißweintraube: dicta a candore, wie Pseudo-Probus mit Bezug auf das griechische Adjektiv apy";s, "weiß", erläutert, oder zutreffender, wie in den Scholia Veronensia erklärt, mit Bezug auf die Argolis benannt: Argitis Graeca quasi Argeotis. Nicht ohne Grund widmen die beiden wertvollen antiken Scholiensammlungen unserem Rebenkata log so breiten Raum.
Tirolcr W'cin an der Tafel von Veq,';1 und Augustus
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Eine Apostrophe ist gerade an die letzten beiden Sorten von Trauben gerichtet (1 0 1 f.): Non ego te, dis et mensis accepta secundis, transierim, Rhodia, et tumidis, Bumaste, racemis. Ich werde dich nicht übergehen können, Rhodia, die du bei den Göttern und beim Nachtisch hochwillkommen bist, und auch dich nicht, Bumasta, mit schwel lenden Trauben.
Die Rhodia ist ebenfalls eine griechische Traube und war, wie Servius erklärt, beliebt bei Opferfeiern und beim Nachtisch; die Bumasta hatte besonders dicke und pralle Beeren, in mammae bovis simili/udinem (so wieder Servius). Vergil schließt jedoch so noch nicht; er geht beinahe unmerklich von der Qualität der Trauben zur Quantität der Rebsorten über, indem er die große Zahl mit der nicht zu erfassenden Zahl der Sandkörner der afrikani schen Wüste vergleicht (1 03-1 08): Sed neque quam multae species nec nomina quae sint est numeru.., neque enim numero comprendere refert; quem qui seire velit, Libyei velit aequoris idem discere quam multae Zephyro turbentur harenae aut, ubi navigiis violentior ineidit Eurus, nosse quot lonii veniant ad litora fluctus. Aber wieviele Sorten und welche Bezeichnungen es gibt, kann man nicht zählen, und sie mit einer Zahl anzugeben, hat auch keine Bedeutung; wer die Zahl wissen will, kann ebenso gut herausfinden wollen, wie viele Sandkörner der libyschen Ebene vom Westwind aufgewirbelt werden oder wie viele Wellen des Ionischen Meers an die Kü.te rollen, wenn der Ostwind mit Wucht auf die Schiffe trifft.
Einige dieser Verse werden noch ein Jahrhundert später im gelehrten Verzeichnis der Rebsorten des Columella zitiert werden (3,2,29), und an dieser Stelle verbirgt sich meiner Vermutung nach eine Ehrung des Ar chimedes, des großen syrakusanischen Mathematikers, der in seinem Arenarium so große Zahlen konstruiert hatte, dass sie die Sandkörner an geben konnten, die nötig wären, um das ganze Universum zu füllen. Dass Archimedes seinen tragischen Tod ausgerechnet von der Hand eines rö mischen Soldaten gefunden hatten, beschämte Vergil und die bedeutende ren römischen Intellektuellen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts noch immer."' Dass Vergil für eine derartige abgelegen scheinende Materie durchaus Neugier und Faszination empfand, dütfen wir aus der zu einem großen Teil auf Sueton basierenden Donat-Vita schließen (§ 1 5), wo wir
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Ich gehe darauf in meinem Bändchen TI grande Archimede, Rom 2006, 105-1 1 1 , ein.
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Mario Geymonat
erfahren, dass sich der Dichter "neben anderen Studien auch für Medizin und ganz besonders für Mathematik interessierte" (inter ee/era studia medicinae quoque ae maxime mathematicae operam dedit;.
Heros Aeneas und Iuno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike
zur
Neuzeit
NIKOLAUS THURN (Berlin) Was ist ein Held? Diese Frage hat die europäische Kultur zu allen Zeiten immer wieder aufs neue beschäftigt, und immer wieder wurden auf sie immer neue, vielfach gegensätzliche Antworten formuliert. Der Held der Kreuzzüge ist für die eine Zeit ein miles Christi, für die andere ein barbari scher Schlächter gewesen; der Märtyrer war für das 5. Jh. ein Held im Dulden für seinen Glauben, für das 2. Jh. ein verstockter Abergläubischer. Und natürlich sind auch Repräsentanten ein und derselben Epoche unter einander nicht einig darüber, was denn einen Helden ausmache: Der Mär tyrer heutiger Prägung gilt - um ein Beispiel zu geben - manchen als Held des Islam, anderen hingegen als Verräter am Islam. Die Frage, was ein Held sei, liegt letztendlich auch dem eher akademi schen Streit der Altphilologen zugrunde, die sich mit der /wo TJoices theory auseinandersetzen: Wird Aeneas' Heldentum in Vergils Epos entlarvt oder bestätigt? Handelt er heldengemäß oder nicht - oder nur in mancher Hin sicht, und wenn, in welcher? Was ist denn für Vergil ein Held?! Gerade in jüngster Zeit ist diese Frage wieder im Wandel begriffen: Jl.larkus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis, München 2007, 33, problematisiert mit guten Griinden die Definition des Aeneas als 'Held mit sozialer Verantwortung' (so hatten ihn etwa Robert D. \Vtlliams: "The purpose of the Aeneid", Antichthon 1 , 1 967, 29-41 , hier: S. 36 und Philip R. Hardie: Virgil, Oxford 1 998, 80 bezeichnet): Der Begriff des heros vereine die private und öffentliche Seite ei ner Figur; der Begriff dux sei dagegen besser geeignet, die politisch-soziale Rolle des Aeneas zu betrachten. Mir soll es natürlich nur um eine punktuelle, histori sche Bedeutungsgebung des 'heros' gehen, aber diese Au..einandersetzung illus triert den immer noch anhaltenden Wandel im Verständnis des Begriffes: Man wird den Verdacht nicht los, Williams, Hardie und andere wendeten sich (sicher lich ohne daß ihnen dies bewußt ist) auch gegen ein rein kriegerisches Verständ nis des britischen 'hero' (der deutsche 'Kriegsheld'), und stellen diesem einen modernisierten Heldenbegriff entgegen. In diesem modemen Sinne aber hat der Held keine 'private Seite'. Zum 'Helden' Aeneas ferner: Gilbert Lawall: "Apollo nios' Argonautica. Jason as Anti-Hero", YOS 19, 1 966, 121-169; B.;\fortis: "Vir giI and the heroie ideal", PVS 9, 1 969/1970, 20-34; Gotthard K. Galinsky: "Vir-
llJ
Nikolaus Thum
All diese Fragen und Antworten sollen hier nicht behandelt werden. Ich möchte dagegen die Frage aufwerfen, inwiefern in den Augen einer anderen Epoche Aeneas heldengemäß oder gar im Gegenteil feige handel te, und wie in einem bestimmten historischen Augenblick ein Held darge stellt ist, der sich vor dem Muster eines Nichthelden Aeneas sozusagen als wahrer Held abheben sollte. Die zeitliche Perspektive ist zweifach gebro chen: Es wird zum einen gefragt, was die Aeneir dem fünften nachchristli chen Jahrhundert bedeutete, und zum anderen, was das 5. Jh. nicht uns heute, sondern was es dem 1 5 . Jh. zu sagen hatte. Diese Frage könnte durchaus auch für die moderne Aeneis-Interpretation fruchtbar sein: Inte ressant ist es nämlich zu sehen, wie frühere Deutungen eines Textes des sen Lektüre in späteren, aber doch immer noch weit von uns entfernten Zeiten beeinflußten; interessant deshalb, weil eine solche Sicht erklären kann, warum humanistische epische Dichtung in den Fußstapfen der Aeneir dennoch uns heute fremdartig anmutet. Und dies wiederum kann uns eine gewisse ironische Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen lehren, die sicherlich in wiederum fünfhundert Jahren zum Schmunzeln anregen werden. Ein außergewöhnliches und gleichzeitig doch für seine Zeit typisches Epos ist die Carlias, geschrieben von dem Florentiner Humanisten Ugolino Verino in der zweiten Hälfte des 1 5. Jh.s.2 Sein Titel, analog zu ,,Aeneil' gebildet, meint den damals - nicht weniger als seinerzeit Aeneas - von Sagen umrankten Frankenkönig und römischen Kaiser Karl den Großen. Es erzählt Karls Kämpfe im Orient, seinen Besuch bei den Toten und die Befreiung Italiens, aruUog zu Aeneas' Flucht aus Troja, seiner Unterweltreise und seinen Kämpfen in Latium. Florenz wurde im 1 5. Jh. unter reger Förderung des Lorenzo de' Me dici, il Magnifico, zum Zentrum der europäischen Literatur, nicht nur der italienischen, sondern vor allem der lateinischen. Die Car/im steht aber nicht nur in der lateinischen Tradition: Ihr Gegenstand, die Sagen über Karl den Großen, ist so sehr von der französisch- und italienischsprachigen Literatur vorgeformt worden, daß ein Einfluß volks sprachlicher Werke auf diese humanistische lmitatio Vergiliana unvermeid-
gil's Romanitas and his adaptation of Greek heroes", in: ANRW 11 31 ,2, 1981, 985-101 0; Hans-Peter Stahl: ,,Aeneas. An Tnheroic' Hero?", Arethusa 14, 1981, 1 57-1 86; Anronie Wlosok: "Der Held als Ärgernis. Vergils Aeneas", WJA 8, 1982, 9-21 ; Gordesiani Rismag: "Prinzipien der Individualisierung der Helden im
2
antiken Epos", in: John No Kazazis u. a. (Hgg.): Euphrosyne. Festschrift für D. N. Maronitis, Stuttgatt 1 999, 1 24-1 3 1 . Vgl. dazu: Nikolaus Thum (Hg.): Ugolino Verino. Carlios, München 1 995; Niko laus Thum: Kommentar zur Carlias des Ugolino Verino, München 2002.
Der Wandel des Heldenbcgriffcs von der Antike zur Neuzeit
11
lieh und mehr als eine bloße Äußerlichkeit war.3 Epische Dichtung auf Karl den G1:oßen war eigentlich die Domäne der Volkssprache; gerade in Florenz entstand damals sogar mit dem Motganle von Luigi Pulci das erste modernere Werk dieses Genres, der RDman:(j Cava/leresch;. Aber auch die humanistischen Dichter nahmen sich nun der dichterischen Formen der Volkssprache an und versuchten sie auf die lateinische Sprache zu über tragen: Zid war es offensichtlich, die Literatur - und Literatur, jedenfalls solche, die einen Anspruch auf Dauer erheben konnte, bedeutete damals: in Latein verfaßt und an den Klassikern der Antike orientiert - mit jenen Elementen der regionalen Modeme zu bereichern, die als kompatibd mit der klassischen Kultur erkannt wurden. Bekanntlich ist dieses Zid nicht erreicht worden: Im 16. Jh. sollte das Toskanische die tragende Sprache der poetischen Kultur Italiens werden; doch das war in der zweiten Hälfte des 15. Jh. noch nicht abzusehen. Damals wurden die meisten Werke, und die weitaus besten jener Epoche, in einem an Cicero und Vergil orientier ten, sehr lebendigen Latein verfaßt. Ein lateinisches Hddenepos der Renaissance mußte sich, um mit den zeitgleich in Florenz entstehenden Dichtungen konkurrieren zu können, am Vorbild der Vergilischen Aeneis entwickeln, im Gesamtaufbau wie in einzelnen Passagen, und so verhält es sich auch mit der Carlias. Um in dem sich entfaltenden neuplatonischen Diskurs, der in der Prägung durch Cristoforo Landino und später Marsilio Ficino damals vide Bereiche der Kultur ergriff, zeitgemäß zu sein, mußte es auch, neben einer handlungs reichen Geschichte, eine "tiefere" Botschaft vermittdn. Insofern war ein Dichter, über die einfache Nachahmung der Aeneis hinaus, auf Interpreta tionen der Aeneis verwiesen, die deren "tieferen Sinn" entschlüssdten; wollte er sie nachahmen, mußte er auch zu ihrer (in seinen Augen) eigent lichen Botschaft Stellung nehmen. Er konnte hier auf die allegorische Vergildeutung zurückgreifen, die aus der Spätantike, wohl dem 5. Jh. stammt: Daß an Aeneas allegorisch die verschiedenen Lebensstadien des Menschen dargestellt werden, behauptet Fulgentius;4 der Seesturm stelle die Geburt des Menschen dar, seine Liebe 3
4
Hinzu kommen die seinerzeit bekannte und mit Donato Acciaiuolis Vita C(/f'()Ji MflJl!li (vgl. Daniela Gatti: La vita di Caroli di Donato Acciaiuoli, Bologna 1 981) schon recht zuverlässig ausgearbeitete tatsächliche Geschichte Karls des Großen sowie die an vielerlei Stellen hineingeflochtene, anachronistisch verwendete Ge schichte des ersten Kreuzzuges. Zu Verinos historischen Quellen vgl. Thum, 2002 (wie Fußn. 2), 493-495. Fulgentius, Fabii Planciadis Fulgentii V.C opera, accedunt Fabü C1audü Gordiani Fulgentii V.C de aetatibus mundi et hominis, et S. Fulgentii episcopi super Thebaiden, tec . R. Helm, addenda adiecit J. Preaux, editio stereot}-pa editionis anni 1 898, Stuttgart 1 970; hier insbesondere 1 48M: .\'tJti.froI!jum posuimus in modstm
12
Nikolaus Thum
zu Dido die Jugend etc. Aber eine zweite Interpretation ist gerade für dieses Epos noch wichtiger geworden: Aufbauend auf Fulgentius und seinem Nachfolger Bemardus Silvestris hatte Cristoforo Landino, der Lehrer Verinos, eine neuplatonische Interpretation der Aeneis geschaffen, die zur Zeit der Entstehung der Carlias bereits in den Grundzügen vollen det war und im SiJldio Fiorentino gelehrt wurde, wenn sie auch erst in den achtziger Jahren veröffentlicht werden sollte."' Anders als Fulgentius, der dem Verlauf der Bücher folgt, geht Landino nach der wirklichen Chrono logie der Aeneis vor, beginnt seine Interpretation also mit dem Fall Trojas. Er bedient sich des porphyrisch-neuplatonischen Tugendkatalogs, der auch schon bei Petrarca seine Wirkung gezeigt hatte: Für ihn wird mit Troja die vita vol"piJlosa überwunden; Aeneas erwirbt in Karthago die virtutes civiles und steht damit in der vita activa; er überwindet aber auch diese und erwirbt durch die Unterweltschau die virtutes purgatoriae, durch den Sieg in Italien schließlich die sogenann ten virtutes animi iam purgati. Verino folgte dieser Deutung insbesondere hinsichtlich der Grundstruktur seines Epos.6 Aeneas wurde also - gerade durch die allegorischen Interpretationen eines FuJgentius, eines Bemardus Silvestris und Cristoforo Landinos - als vorbildlicher Mensch verstanden (und in der Carlias auch grundsätzlich so nachgeahmt), dessen Erwachsenwerden den langsamen Erwerb aller Tu genden bis zur Perfektion versinnbildlicht. Epen des Humanismus wurden selbstverständlich zum Lobe des Helden verfaßt, nicht zu seiner Kritik, und so verstand man gemeinhin auch die Ameis.' Dies schließt allerdings nicht aus, daß man jetzt, aus der Perspektive des 1 5. Jh.s, bestimm ten Teilen oder Aspekten der Aeneis durchaus kritisch gegenüberstand; und dann fand sich der Verfasser neuer Epen, der notwendigerweise Imitator war, in der angenehmen Lage, es vielleicht nicht sprachlich, aber inhaltlich besser machen zu können Gedenfalls seiner eigenen Meinung nach) als der
periCtllae natiuilatis, in qua ef mtlkrnllm est pariendi dispendillm lIel irifanfllm nascendi periCtllum. In qlla necessitate IIniliersa/iter humanum lIo/lii/ur /l.fflIlJ. l\'am 111 cuidmtill1 hoc inte//��fJS, a [linane, qllae dca parfIIJ ef, hoc nallfraj!jllm <�eneratur. Man sieht, daß die
Gottheit Juno wiederum wichtig ist für die Deutung; hier ist sie nicht das - nega tive - Element Lu ft sondern die - positive - Geburtsgöttin. Landino las bereits 1 462 und den folgenden Jahren am Studio J-o'iorentino die AeneiI; die DirplifationeJ sind woh1 1 472 fertiggesteIlt worden. Vgl. dazu: Thum, 2002 (wie Fußn. 2), 1 8 . Vgl. hier Thum, 2002 (wie Fußn. 2), 30-41; Nikolau.. Thum: "Die DisputationtJ Cama/dtlifflIes von Cristoforo Landin", in: Acta Conyentus Neo-Latini XI. Pro ceedings of the 11 th. International Congress of Neo-Latin-Studies, Cambridge 2000, Binghampton-New York 2003, 545-553 mit früherer Literatur. Vgl. grundsätzlich: Craig KalIendorf: In praise of Aeneas, Hamburg u.a. 1989. "
"
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6
7
,
Der 'Wandel des Heldenbc!,.nffes von der Antike zur Neuzeit
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Heide Vergil,8 Grundsätzlich wurde also die Vorbildfunktion des Aeneas durchaus anerkannt; ein christlicher Held aber hatte etwas Besseres zu sein als ein heidnischer. Ein humanistischer Dichter mußte die Gelegen heit nutzen, hierauf hinzuweisen, wenn sie sich ihm bot. Einen solchen Fall der Kritik finden wir an exponierter Stelle in der Carlias. Über weite Passagen verfahrt Verino in seinem Epos mit seinem klassischen Vorbild, der Aeneis, recht selbständig - er übernimmt aus der Aeneis vor allem Situationen, die sich zugleich auch in der volksspachlichen Kultur finden.9 Aber besonders im ersten Buch erweist er sich als überaus enger Imitator Vergils, so sehr, daß man ihn fast einen Plagiator nennen könnte: Es ist ein Sees tunn , der die Franken an die Küs te von Buthrotum vor Korfu treibt, wo sie vom dortigen König aufge nommen werden wie Aeneas von Dido. Während der Seesturm der Aeneis von Juno entfesselt wird, ist es bei Verino der Teufel selbst, der ganz im Sinne der Vergilischen Juno sich rächen will am künftigen Vernichter seiner Religion. Stirbt bei Vergil der Trojaner Orontes im See sturm, so kommt bei Verino ein gewisser Rutenus unter ganz ähnlichen Bedingungen zu Tode. Man kann in der Sees tunnepisode jeden Textab schnitt der Carlias einem der Aeneis zuordnen - und deswegen lassen sich gerade am Beispiel des ersten Buches selbst aus kleineren Abweichungen große Unterschiede im Konzept herausarbeiten. Die Seesturmschilderung der Car/ias wird nun zuerst in Abschnitte ge gliedert, dann werden die entsprechenden Abschnitte der Aeneis zusam mengefasst, und beide Passagen werden schließlich in einer Tabelle einan der gegenübergestellt. Bedeutsam ist die Reihenfolge der Handlungen; die Verschiebung einzelner Handlungselemente zwischen Aeneis und Carlias wird sich als entscheidend für die Interpretation erweisen. Das Proömium der Car/ias hat elf Verse; dann wendet sich der Blick des Dichters dem Teufel zu, der von einem Felsen aus die vom Orient heimkehrende Flotte der Franken entdeckt (12-31a) und in einer Rede seine Absicht erklärt, sie zu vernichten (31 b--5 0). Er bringt die Winde in Aufruhr (5 1 -57) ; es folgt die Seesturmschilderung (58--79). Der Franke 8
9
Ein ähnlicher Fall liegt vor in der Fortschreibung der Aenm drnch Pier Paolo Decembrio und Maffeo Vegio: Nicht der Tod des Trunus hat hierzu den Aus schlag gegeben, sondern das Au..bleiben der doch in Aen. 1 ,205 prophezeiten Ruhe, in der die Trojaner mit Lavinium ein zweites Troja bauen und sichere \Xrohnsitze einnehmen. Vgl. hier auch Ben). Hijmans: ,..Ameia virtus. Vegio's sup plementum to the Aeneid", CJ 67, 1 971 / 1 972, 144-1 55. So durchreist in der Car/ias der Held auch nicht nrn die 'HöUe' Vergils, sondern gelangt bis in den Himmel; und so gründet er im letzten Buch des Epos die Stadt Florenz (ein Ge genstück zu Lavinium) neu und führt einen Triumphzug durch Aachen. Vgl. hierfür Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 22-26.
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Nikolaus Thum
Rutenus kommt im Sturm um (80-96), worauf sich Karl der Große in einem flehentlichen Gebet an Gott wendet, die Flotte doch zu erretten (97-1 1 3) . Sein Gebet wird erhört: Man vernimmt die Stimme Gottes aus den Wolken, der den Sees turm schlichtet (1 14-- 1 24) ; die Flotte ist gerettet und erreicht den Strand von Buthrotum. In der Aeneis sieht es folgendermaßen aus: Das Proömium umfaßt die Verse 1-1 1 ; dann erzählt Vergil vom einstigen Schicksal Karthagos und dem der Trojaner (1 2-33). Nun wendet sich sein Blick Juno zu, die die Trojaner entdeckt (34-- 36) und erst für sich eine Rede hält (37-49) und dann Aeolus überredet, einen S turm zu entfachen (50-80). Es folgt der erste Teil der Sturmschilderung (81-91); darauf rückt Aeneas ins Blickfeld, der vor Verzweiflung sich den Tod wünscht (92-1 01); erneut wird der Sturm beschrieben (102- 1 1 2) , der den Tod des Orontes und die Auflö sung der Flotte verursacht (1 1 3-1 23) . Neptun bemerkt nun den nicht von ihm autorisierten Seesturm und beruhigt ihn (1 24-- 1 56) . Die trojanische Flotte erreicht den Strand von Karthago. Eine tabellarische Gegenüberstellung ergibt folgendes: Aeneis:
Carlias:
1-1 1 12-33 34-- 3 6 37-49 50-80
Proömium Schicksal Karthagos Juno entdeckt Aeneas Junos Rede Juno und Aeolus
81-9 1 92-1 01 1 02-1 1 2 1 1 3-123 1 24-- 1 56
Sees turm (1 . Teil) Aeneas' Rede Sees turm (2. Teil) Orontes' Tod Neptun beendet den Sturm
1-1 1 1 2-31a 31b-50 51-57 58-79 80-96
Proömium [status Italiae?] Sathan entdeckt Karl Rede des Sathan Sathan erregt den Seesturm Seesturm Rutenus' Tod
97-1 1 3 Karls Rede 1 14-- 1 24 Gott beendet den Sturm
Die Beschreibung in der Car/ia.r ist um 32 Verse kürzer als die der Aeneis. Das war nicht immer so: Die Car/ias, von der mehrere frühere Versionen erhalten sind, hatte ursprünglich eine um mindestens 12 Verse umfangrei chere Einleitung, die aber später gestrichen wurde.1O Damit war die Passa-
10
Die Carlias ist in ingesamt 6 Fassungen erhalten. Die Urfassung (begonnen wohl 1 465) ist nur in einem Fragment greifbar, das nicht das erste Buch enthält; es fol gen zwei eng verwandte Fassungen von 1 480 (M) und 1 481 (P); dann die wiede rum eng verwandten Fassungen 1 486 (B) und 1 489 (R; dies ist der stets zitierte Text) und schließlich eine undatierte Neubearbeitung (L). In der Fassung Jl.I hat das Proömium der Carlias 1 5 Verse (R; 1 1); darauf folgen noch einmal 10 Verse
Der 'Wandel des Heldenbc!,.nffes von der Antike zur Neuzeit
ge ursprünglich nur um
20
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Verse kürzer als ihre Vorlage. Soweit wir je
doch wissen (die Urfassung ist bis auf ein Fragment verloren), hatte auch die längere Fassung kein Gegenstück zu dem Gespräch der Juno mit Aeo lus noch
zu
dem des Neptun mit den Winden. Die
Car/ia.r präsentiert folg
lich, auch wenn einzelne Abschnitte exakt die gleiche Länge aufweisen wie ihre Entsprechungen in der Aeneis, eine Vereinfachung ihres Vorbildes: Sie konzentriert sich auf die Antagonisten Sathan und die Franken, während Vergil noch eine Reihe von göttlichen Nebenpersonen auftreten läßt Aeolus, die ihm untergeordneten 'Windgötter und neben Neptun noch seine Diener Cymothoe und Triton. Eine Erklärung wäre natürlich der Monotheismus des Florentiners, aber keine hinreichende: Auch Verino hätte, wie andere Passagen seines Werkes zeigen, mindere Gewalten wie etwa Engel handeln lassen können.l1 Seltsam scheint zudem, daß hier Gott selbst zu den Franken spricht: ungebührlich, weil damit die Majestät Gottes verletzt zu werden scheint, der sich der Mittlerrolle von Engeln bedienen könnte; ungewöhnlich, weil in den volkssprachlichen Ritterepen niemals Gott direkt
zu
Wort kam; und poetisch atypisch, weil das Vorbild
Vergil hierfür nicht als Entschuldigung dienen
kann :
Bei Vergil wendet
sich Neptun an die Elemente, die Götter machen die Sache unter sich aus. Es bleibt also dabei: Das christliche Epos präsentiert eine starke Vereinfa chung seines Vorbildes ohne sofort erkennbare Notwendigkeit. In der Abfolge der Handlungen hält sich die Punkt chronologisch an die Handlungsfolge der
Carlia.r bis auf einen Aeneis: Zuerst entdeckt
der Antagonist die feindliche Flotte, hält eine Rede, wühlt dann den Sturm auf. Es folgt eine Sturmschilderung, darauf hält der Protagonist eine fle hentliche Rede, schließlich wird der Sturm von einer freundlichen Gott heit gestillt.
einer ausführlicheren Beschreibung der Flotte, bis die Handlung mit Vers 14 der Fassung R wieder übereinstimmt. Aus 25 Versen der Fassung l\'I sind somit 1 3 Verse der Fassung R geworden; die letzte Fassung L ist i n der Verszahl identisch mit R. Zudem finden sich in;\f auf das Proömium noch eineinhalb Verse (1 5b-c: QNispost tocrsa INi! dominanns moenia Rnmae I ANsoniae status), die in der H andschrift gestrichen wlUden. Das ist wohl ein Restbestand der Urfassung, welche dann an stelle der 'Gründe' für J unos Zorn in der Aeneis einen staINs Italiae aufwies. 1 1 Grundsätzlich ist Verino äußerst sparsam mit übernatürlichen Gestalten und kennt auch keinen Götterapparat. Dennoch tauchen Engel (9,62-93) und göttli che Zeichen (2,1 35f.) in der Handlung auf Erden auf; allegorische Götter (Justitia im 5.-7. Buch), Teufel und Erzengel findet man zuhauf in den Unterweltsbü chern. Einen besonderen Hinweis verdient die Tatsache, daß bei der Befriedung des SeestIHms Gottes Wirken nicht dramatisiert wird, sondern zurückhaltend ge sagt wird (1 ,1 1 8-1 20): ANditamqNejemnt vocem de nNbe Tonanns: I "/�cce adsNm; depone
meINm; conjidfl Velamm I lJlterius rapidis Safhan sevirr proceUis. "
16
Nikolaus Thum Der eine Punkt, in dem sich die Abläufe unterscheiden, scheint allen
falls von erzähltechnischer Bedeutung zu sein: Bei Vergil stirbt Orantes nach der Rede des Aeneas, bei Verino stirbt Rutenus vor der Rede Karls. Doch ist diese Umstellung nur scheinbar nebensächlich, und ein Versuch, sie zu deuten, mag sich als überraschend lohnend erweisen. Verino hat sein Vorbild offenbar vereinfacht: Aeneas' Rede ist einge bettet in eine mehrschichtige Sturmschilderung; sie bildet nur einen Teil im Chaos des Unwetters, wie auch der Tod des Orontes nur einen Teil davon bildet. Verino dagegen scheint es sich einfach zu machen: erst der Sturm,
dann
der Tod, am Ende eine Rede des gottgefalligen Helden, dem
Gott sofort Gehör schenkt. Vielfach besteht noch immer das Vorurteil, eine Nachahmung könne nie so gut sein wie ihr Vorbild; die vorliegende Szene ist scheinbar ein einleuchtendes Beispiel fiir diese Auffassung.1 2 Allerdings macht ein Vergleich der Reden beider Protagonisten stut zig. In der
Aeneis
läßt der Sturm, der über die Trojaner hereinbricht, alles
in seinem Dunkel verschwinden, bis auf das
Antlitz
des Todes selbst, das
er zeigt; Aeneas reagiert darauf mit Panik (Aen. 1,92-102):13
Extemplo Aeneae soluuntur frigore membra; ingemit et duplicis tendens ad sidera palmas talia uoce refert: '0 terque quaterque beati, quis ante ora pattum Troiae sub moenibus a1tis contigit oppeterel 0 Danaum fortissime gentis Tydidel mene Iliacis occumbere campis non potuisse tuaque animam hanc effundere dextta, saeuus ubi Aeacidae telo iacet Heetor, ubi ingens Sarpedon, ubi tot Simois correpta sub undis scuta uirum galeasque et fortia corpora uoluitl'
12
So beispielsweise Christine Ratkowitsch: Karoli Vestigia Magna Secums. Die Rezeption des "Aachener Karlsepos" in der Carlias des Ugolino Verino, Wien 1 999, 1 9 : in Carlias 7,768f. wird Plato als breitschultrig (Iotis NINeris) beschrieben; Ratkowirsch führt dies auf eine Wendung des ,,Aachener Karlsepos" zurück (v. 1 72: hNlNeris altis) und erklärt es als ein Attribut, "das allerdings, wie bei Zitaten häufig der Fall, ( ... ) weniger gut paßt als altis der Karlsepiker." Natürlich ist das falsch, denn Verino greift auf den Serviuskommentar zu Aen. 6,668 zurück ("aIN9.Ne JlItllo ab IIINeroruIN dichls est Iotillldi"e), aber es ist ein Zeichen für ein weit verbreitetes, unreflektiertes Vorurteil zur humanistischen [mi/aRo: Der Eindruck minderwertiger Nachahmung beruht häufig, vielleicht regelmäßig, auf einer ge ringeren Kenntnis der kulturellen Umstände, als man sie für die seit eineinhalb Jahrtausenden gut kommentierte Aeneis voraussetzen darf - und dies dürfte für alle neu entdeekten oder wenig bekannten Werke (wie die Carlias, aber auch die gesamte neulateinische literatur) gelten. 13 Text nach: Roger A. Mynors (ree.): P. VeTJ!i1i MtIITJ"is Opl!T'tl, Oxford 1 969.
Der Wandd dc.. Hddenbcgriffc:.. von der Antike zur Neuzeit
17
Da löste plötzlich Kälte dem Aeneas die Glieder; auf seufzte er, streckte beide Hände gen Himmel und sprach folgendes mit seiner Stimme: "Oh, drei und vier fach Glückliche, denen es zuteil wurde zu sterben vor den Augen der Väter unter den hohen Mauern von Troja. Oh, Tydide, stärkster im Volk der Danaer! Oh, da/I ich nicht auf Thons Feldern niederfallen durfte und durch deine Hand diese meine Seele au..hauchenl Dort, wo der wilde Hekrnr vom Speer des Aiakiden ge troffen liegt, wo der gewaltige Sarpedon, wo der Simoisfluß unter seinen Fluten so viele Schilde der Männer und Helme und gewaltige Körper verborgen wälzt!" Die Rede in der
Carlia.r folgt
auf das Bild des untergehenden Schiffes des
Rutenus, das stellvertretend für die VetWÜstung der fränkischen Flotte steht. Schon in der Redeein1eitung unterscheidet sich
Karl
von Aeneas -
während der Sturm den Rittern die Kraft raubt und die Steuermänner hilflos sind, verrichtet der Frankenkönig
ein
Gebet (Carl. 1,97-113):14
Heroum postquam vires rectoris et omnem Imperiosa mans tempestas vicerat artem, Francotum princep s geminas ad sydera paImas Substu1it ac nudo supplex ita vertice fatus: ,,Aspice nos, Christe, et tantam depelle procellaml Affer opern miseris, instantique eripe lern Immeritas naves, monstris neu praeda marinis Ille tuus populus tumidis mergarur in undis, Tartareeque ferae sce1eraturn comprime viru..1 Ecce ferox livore turnet mortemque minarur, Et faciet, nisi nos caelo miseratus ab a/ to Ereptos undis tuta in statione reducas. Da, pater, optatos Latii pertingere portu.., Si letus tua iussa sequor vitamque peric1is Obiecto et sanctos Romana a sede fugatos Ad tua sacra patres Tarpeae reddere rupi Festino et sevos duce te expugnare tyrannosi" Nachdem der gewaltige Meeressturm die Heldenkräfte und alle Steuermanns kunst besiegt hatte, da hob der Fürst der Franken beide Hände gen Himmel und, mit bloßem Haupte, kniefällig sprach er so: " Schau auf uns, Christus , und wende ab von uns solch einen Sturml Bring Hilfe den Armen, entreiße dem drohenden Tod die unschuldigen Schiffe, au f daß dies dein Volk nicht als Beute der Meeresmonster ertrinke in den schwellenden Wo gen; vernichte das Gift, das frevelnde des Höllenuntiers. Sieh, wie er wild vor Ei fersucht anschwillt und den Tod uns androht. Und vollbringen wird er es, wenn nicht du, vom hohen Himmel dich erbarmend, uns den Wellen entrissen in siche re Hut zurückführst. Gewähre uns, Vater, Latium.. erhoffte Häfen zu erreichen, wenn ich froh deinen Befehlen gehorche und mein Leben den Gefahren au..setze und die heiligen Väter, vertrieben vom römischen Stuhle, zu deinem Heiligtum,
14 Text nach: Thum, 1 995 (wie Fußn. 2) .
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Nikolaus Thum dem tarpeischen Felsen zurückzuführen mich beeile und ner Führung die grausamen Tyranne n."
zu
vertreiben
unter
dei
Wollte man es sich nun einfach machen, dann erklärten sich die Unter schiede beider Reden durch eine traditionelle Eigenart der lmitatio: Will ein Dichter eine bestimmte Stelle eines Werkes, dem er folgt, imitieren, ohne sie zu plagiieren, so zieht er eine andere Stelle desselben Werkes heran und überträgt sie an diese Position. Ein solcher Vorgang hat denn auch hier stattgefunden: Karls Rede wurde aus Aen. 2,687--6911 5 (Rede des Anchises während der Flucht aus Troja) und Aen. 5,685--6921 6 (Rede des Aeneas angesichts des Schiffsbrandes in Italien) geschöpft, die bereits den gleichen Unterschied zum ersten Buch der Ameis aufweisen, der auch für die Carlias zu konstatieren ist: Auf beide Reden folgt, genauso wie in der Carnos, sofort ein Zeichen der Götter. Verino hatte also eine funktionell nachgeahmte Szene - die Rede des Aeneas im ersten Buch - durch andere Szenen aus dem zweiten und fiinften Buch der Aeneis inhaltlich gefiillt. Der Unterschied zwischen der Rede Karls und der des Aeneas im ers ten Buch ist jedoch nicht nur durch eine solche rein formaltechnische Verschiebung zu erklären; er muß auch inhaltliche Gründe haben: denn in derselben Situation, einem Seesturm, ist Aeneas' Rede eine ganz persönli che und verzweifelte, Karl dagegen ergibt sich selbst zwar dem Schicksal, denkt aber an seine Männer und seine Aufgabe vor Gott. Ganz offen sichtlich soll diese veränderte Haltung dem humanistischen Leser signali sieren, ein christlicher Held habe in höchster Gefahr anders zu reagieren als ein heidnischer. Karl denkt an seine Ritter, Aeneas an sich selbst; Aeneas verzweifelt, Kar! bleibt gottergeben. So ist denn die Rede Karls offenbar in besonderem Maße von christli chem Sendungsbewußtsein durchdrungen. Sie gliedert sich in drei Teile: Eine Bitte an Gott Sohn, die Unschuldigen vor der Gewalt Sathans zu retten; eine Beschreibung der Absichten des Teufels, die Franken von ihrer gottgefälligen Aufgabe abzuhalten; und eine weitere Bitte an Gott Vater, doch bei deren Durchführung zu helfen. Die Aufgabe ist die Rück führung der Päpste nach Rom, von wo die Langobarden sie vertrieben
Aen. 2,687-691 : 01 pom- Anehires oculos ad sidero loeflls I extulit el eaelopalmos cum uoce letendit: I 'IlIfJpiter omnipotens, precibus sijlecteris ullis, I ospice nos, hoc tonfilm, el si pietote meremur, I do deintk ouxilium, poter, otque hoee ominofirma. ' 16 Aen. 5,685-692: film pius Ameos umms abscindere ueslem I auxilioque uoeore deos el lendere pa/mos: I 'IIIfJpiter omnipotens, si nondum exosus od unum / Troianos, si quidpielos ontiqua labores I respicil humonos, da jlommom euotkre elassi / nune, poter, et tenuis Teucrum res eripe kto. I uel fII, quod s1ifJerest, inJtsfo folmine 1II0rti, / si mereor, tklllitfe fIIaque hic obrue dextra. ' 15
19
Der Wandel des Heldenbcgriffcs von der Antike zur Neuzeit
hatten;1 7 dies korrespondiert mit dem dritten Teil der
Carlias,
der Befrei
ung Italiens von der Langobardenherrschaft. Die Bilder, derer sich Karl in seiner Rede bedient, vermischen seine reale Situation - den Seesturm mit christlicher Symbolik: der Sturm als Lebenssituation des Menschen, der sichere Hafen als Zuflucht ins Gottesvertrauen; Sathan als Schlange, deren Gift die Menschen zerstören will ; die den Schiftbriichigen drohen den Meeresungeheuer, die auf die Geschichte von Jonas und dem Wal (als Präfiguration von Tod und Auferstehung) anspielen. Während Aeneas lediglich an seine persönliche Situation fern von der Heimat
zu
denken
scheint und sich sehnlichst wünscht, im aktiven Kampf gestorben zu sein, versteht Karl den Seesturm selbst als Kampf des Teufels gegen den Men schen und wünscht sich nur deshalb ein Überleben, um seiner Aufgabe gerecht
zu
werden. Kar) ist eben ein christlicher Held, Aeneas ein heidni
scher; in ganz ähnlichen Situationen verhalten sie sich, ihrer Kultur ge mäß, völlig verschieden. So könnte man die Rede Karls also als ein selb ständiges Zeugnis einer anderen Kultur auffassen, das nichts anderes mit der Rede des Aeneas verbindet als artistische, formale
lfllitatio
bei verän
dertem Inhalt; letztlich hätten die Worte des Frankenkönigs dann nichts mit den Worten des Trojaners zu
tun .
Das Gegenteil ist natürlich der Fall : Stück für Stück ist Karls Gebet eine Kritik an dem Verhalten des Aeneas und damit auch eine Kritik an der moralischen Botschaft der
Aeneis selbst.
Dies erschließt sich mit sol
cher Selbstverständlichkeit aber nur einem Leser des 15. Jh.s: Der gebilde te Florentiner
war
mit der
Civitas Dei des Augustin natürlich viel inniger Ot/yssee, und es ist Augustins Kritik an der
vertraut als etwa mit Homers
Aeneis,
die den Schlüssel zum Verständnis der Rede Karls bietet.
In Kapitel 21 des zehnten Buches geht Augustin darauf ein, daß für einen gewissen Zeitraum den Dämonen von Gott die Freiheit eingeräumt werde, mit Hilfe der von ihnen besessenen Menschen auch sich von Un schuldigen Ehren erweisen zu lassen; so erklärt Augustin, warum Gott Unheil zuließ. Er verweist auf die Nützlichkeit der Verfolgung, da durch sie die Zahl der Märtyrer steige und in ihnen die Kirche verherrlicht wer de. Die Märtyrer nennt er die wahren Heroen der Christen, denn nicht von den Gefolgsleuten der Hera leite sich das Wort Heros ab, sondern von den Bezwingern der Dämonen und damit der Hera bzw. Juno selbst,
17
Man möge hier nicht dem Fehler verfallen, historische Korrektheit vom Epos zu verlangen: Verino mischt frei die Sage von der Blendung Papst Leos durch die Römer mit dem ihm hekann ten politischen Zwist zwischen den Langobarden und Rom - obwohl die Lmgobarden mittlerweile größtenteils katholisiert wuen, werden sie bei Verino allesamt al.� Arianer dargestellL Auch wird Karl im Epos durch Papst Hadrian zum Kaiser gektönt, wiewohl Verino es besser wußte.
20
Nikolaus Thum
da Juno
die "Luft" verkörpere und die Dämonen "Luftgeister" seien (civ.
1 0,21):18 Hoc enim nomen (i.e. heros) a Iunone dicitur tractum, quod Graece Iuno "Hpa appellatur [...] Sed a contrario martyres nostri 'heroes' nuncuparentur, [...] quod eosdem daemones, id est aerias vincerent potestates et in eis ipsam, quidquid putatur significare (i.e. aerem), Iunonem. Man sagt nämlich, daß diese Bezeichnung (d.h. heros) von Juno abgeleitet wurde, da Juno auf Griechisch Hera genannt wird [ ... ] Aber unsere Märtyrer würden in einer Benennung a contrario "Heroen" genannt, [... ] weil sie eben diese Dämonen, nämlich die Luftgewa1ten, besiegten und in ihrer Gestalt auch Juno selbst, nach ihrer vermuteten Bedeutung (d.h. Luft).
Diese Stelle, die christliches Allgemeingut werden sollte, mischt stoische Allegorese, platonische Dämonenlehre und alttestamentarisches Gedan kengut. Im Anschluss daran geht Augustin überraschend zur Kritik an Vergil und seinem Hdden Aeneas über (civ. 1 0,21): Sed rursus e i (i.e. Iunoni) succumbit infeliciter ceditque Vergilius, ut, c um apud eum illa dicat (Aen. 7,3 1 0): 'Vincor ab Aenea', ipsum Aeneam admoneat Helenus quasi consilio religioso et dicat (Aen. 3,438f.): 'Iunoni cane vota libens, dorninarnque potentem / Supplicibus supera donis.' Vergil aber unterliegt ihr - der Juno nämlich - endlich unglücklich und weicht ihr, wenn bei ihm Juno zwar spricht: "Von Aenea� werde ich besiegt", den Aeneas aber Helenu.� wie mit göttlichem Ratschlag ermahnt und sagt: "Willig bete du zu Juno und überwinde die mächtige Herrin mit demütigen Geschenken."
Der christliche Heros hingegen, nach Augustin, handle besser als der Vergilische und überwinde Juno nicht mit unterwürfigen Gaben, sondern mit göttlicher Tugend. In Kapitd 22 schließt Augustin, die wahrhaft rdi giösen Menschen trieben die Dämonen aus, indem sie die Verfolgung durch sie erlitten und nicht zu ihnen, sondern zu Gott sdber beteten (civ. 1 0,22): In eius ergo nomine vincitur, qui hominem adsumpsit egitque sine peccato, ut in ipso sacerdote ac sacrificio fieret remissio peccatorum, id est per mediatorem Dei et hominum, hominem Christum Iesum, per quem facta peccatorum purgatione reconciliamur Deo. Also wird er in dessen Namen besiegt, der Mensch geworden ist und Mensch war ohne Sünde, auf daß in ihm als Priester und Opfer zugleich die Sünden erlassen würden, nämlich durch den Mitder zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus, durch welchen nach Reinigung von den Sünden wir mit Gott versöhnt werden sollen.
18
Text nach: B ernard Dombart u.a. (Hgg.): Aurelius Augustinu.�: Turnhout 41 955 (= Stuttgart 1 927-1 929).
De t:ivitalt Dei,
Der Wandel des Heldenbcgriffcs von der Antike zur Neuzeit
21
Ganz offensichtlich läßt sich die Kritik an Aeneas, wie sie Augustin vor bringt, in ein enges Verhältnis zu Verinos Carlias bringen. Wenngleich sich Augustin auf die Aeneis im Ganzen, nicht auf den Seesturm bezieht und seine Zitate dem dritten und dem siebenten Buch der Aeneis, nicht dem ersten entnimmt, konnte der Humanist Verlno offenbar doch eine Ver bindung zum Seesturm im ersten Buch der Aeneis herstellen. Karl verhält sich ja genauso wie von Augustin gefordert: Er erduldet den Seesturm und unterwirft sich ihm nicht. Er 'exorziert' den Teufel, indem er zu Gott Vater und Gott Sohn spricht. Augustin versteht an der zitierten Stelle unter Juno das Element der Luft; von einem Seesturm spricht er allerdings nicht ausdrücklich. Was also brachte Verino dazu, die Augustinische Deutung auf den Seesturm, den der Aeneis wie auf seine eigene Schilderung, anzuwenden? Und was brachte ihn dazu, in der Seesturmepisode die Augustinisch-vergilische Juno durch Sathan zu ersetzen? Es ist ein selbstverständlicher Vorgang, daß ein Humanist, der die Aeneis zu verstehen versucht, um sie dann mit einem besseren Verständnis auf seine eigene Produktion anzuwenden, sich des besten Kommentars bedient, der damals zur Verfiigung stand, und das war immer noch jener unter dem Namen des berühmten spätantiken Grammatikers Servius. Der Servius-Kommentar war nicht die einzige Grundlage des Vergil Verständnisses zu Verinos Zeiten, hinzu kam noch neben dem allegori schen Kommentar des Fulgentius der grammatische des Ps.-Donat. Aber anders als die rein grammatisch-lexikographischen Verständnishilfen Donats und die durchlaufende Allegorisierung des Fulgentius bot Servius sozusagen beides: eine Erklärung einzelner Wörter, aber auch eine Deu tung einzelner Situationen. So beklagt sich Juno in der Rede vor dem See sturm (Aen. 1 ,46-47), daß sie schon so viele Jahre vergeblich Krieg gegen die Trojaner fUhre, obwohl sie doch eine Göttin sei, Schwester und Frau des Jupiter, und die Trojaner nur Menschen. Zu "Schwester und Frau" findet sich nun im Kommentar des Servius folgende Erklärung (Serv. Aen. 1 ,47): 19 Physici lovem aetherem, id esr ignem volunt inrellegi, lunonem vero aerem, et quoniam renuitare haec elementa paria sunt, dixerunr esse germana. sed quoniam luno, hoc est aer subiectus est igni, id est lovi, iure superposito elemento mariti tradi tum nomen est
1 9 Text nach: Georg C. Thilo / Hermann Hagen (Hgg.) : Servii grammatici qui feruntur in Vergi1ii carmina commenrarii , 3 Bde., Hildesheim u.a. 1 986 (2. Nachdruck = Leipzig, 1 881-1 887).
22
Nikolaus Thum
Die Naturphilosophen sind der Meinung, man solle unter Jupiter den Aether, das heißt das Feuer, verstehen, unter Juno dagegen die Luft; und da diese Elemente sich gleichen in Bezug auf ihre Feinheit, werden sie "geschwisterliche" genann t. Aber da Juno, das heißt die Luft, unter dem Feuer liegt, das heißt dem Jupiter, so ist der Name des "Ehemannes" zu Recht dem darüber befindlichen Element gegeben.
An rum
der von Augustin zitierten Stelle (Aen. 7,3 1 0) beklagt sich wiede
Juno, von Aeneas trotz allem besiegt
zu
werden:
vincor ab Aenea;
sie
will sich deshalb anderswo Hilfe suchen (Aen. 7,311 ). Die Stelle greift Junos Auftritt vor dem Seesturm wieder auf, wo sie ebenfalls die Absicht äußert, von anderswo Hilfe
zu
holen. Zu Vers 7,311 merkt Servius, mit
deutlichem Bezug zur Seesturmepisode, folgendes an (Serv. Aen. 7,311 ):
Quod autem Iuno ubique alieno uti inttoducitur auxilio, physicwn est: natura e nim aeris per se nihil facit, nisi aliena coniunctione, ventorum scilicet, qui creant nubes et pluvias. Daß nämlich Juno immer wieder geschildert wird, wie sie fremde Hilfe in An spruch nimmt, muß man auf naturphilosophische Weise verstehen: Die Natur der Luft nämlich macht nichts aus sich selbst, es sei denn durch die Verbindung mit anderem, nämlich den Winden, die Wolken und Regengüsse erzeugen. Dies erklärt natürlich auch, warum Juno
im
ersten Buch sich des Aeolus
zur Erregung des Seesturms bedienen mußte. Zog Verino also, als wahrscheinlich ist, den Kommentar des Servius Buch der Aeneir zu imitieren,
dann muß er über die
zu
was
mehr
Rate, um das erste
Definition der Juno als
Luft an die Augustinische Kritik an der Vergilischen "Beschwichtigungs Politik" des Aeneas erinnert worden sein, und die korrespondierenden Stellen des ersten und siebenten Aeneis-Buches bildeten dazu das verknüp fende Element. Diese naturtheologische Auslegung der Olympischen Götter (pluto als Erde, Neptun als Wasser, Juno als Luft und Jupiter als Feuer oder Äther) hatte
zwar
gewiß
eine lange Tradition - Augustin führt sie etwa auf Varro
zurück (doch es ist schon bei Empedokles angelegt) -, aber wir brauchen auf diese Tradition bei einer Erklärung des Sathans in der
CarJias
keine
Rücksicht zu nehmen: Servius und Augustin waren Zeitgenossen im 5. Jh.; beide hatten
im
15. Jh. den Status einer Autorität für ihr jeweiliges Feld;
und endlich
war
diese "Theologia naturalis", auf die Servius wie Augustin
sich stützen, zu Verinos Zeiten so allgemein als wirklicher Hintergrund antiken Götterglaubens anerkannt, daß es sogar Dichter gab, die Hymnen
23
Der Wandel des Heldenbcgriffcs von der Antike zur Neuzeit
auf die heidnischen Götter als Verbildlichungen der Naturphänomene
verfaßten. 20
Was hier zusätzlich bedeutsam sein dürfte, ist die scheinbare Aner kennung dieses Weltbildes auch von Seiten der Bibel,
ein
Umstand, der
uns wiederum in die Zeit des Augustin fUhrt und auf Hieronymus, den Bibelübersetzer und Freund Augustins, verweist. Die Verbindung des Luftherrschers mit den Dämonen und damit auch die Verknüpfung der Juno mit Sathan legt nämlich die Bibel in Hieronymus' Übersetzung selbst schon nahe: der Teufel als Herr der Elemente, besonders der Luft, taucht in dem Paulus-Brief an die Epheser auf (Eph. 2, 1 -2): Kai UlläS öllTas IIEKPOUS ToiS 1Tapa"TlTt:lllacnll Kai Tais eXllapTialS VIlc;)1I Eil ais 1TOTE
1TEpIE1TaTr,aaTE
Karo
TOll
aic;)lIa
TOO
Koallou
TOVTOU·
KaTa
TOll
äpxolITa Tii s E�ouaias TOO äepor
Hieronymus übersetzt folgendermaßen (Vulg. Eph. 2,1-2) :
Et vos, curn essetis mortui delictis et peccatis vesttis, in quibus aliquando ambulastis secundum saeculum mundi huius, secundum principem potestatis aeris huius In der Lutherübersetzung heißt die Stelle unverbindlicher:21
Vnd auch euch / da jr tod waret/ durch Vberttettung vnd Sünde, in welchen jr weiland gewandelt habt / nach dem lauff dieser Welt / vnd nach dem Fürsten / der in der lufft herrs chet . . . Hieronymus aber spricht von dem
princeps potestam aeris huius,
wörtlich:
dem "Fürsten der Macht dieser Luft", also nicht nur vom ,,in der Luft Herrschenden", sondern vom "über die Luft Herrschenden". Die Verbin dung zu Juno hatte natürlich schon Hieronymus' Freund Augustin herge stellt, und so musste er sich fragen, welche Tragweite die Versöhnung der Juno durch Aeneas eigentlich hatte. Wenn Aeneas in Juno den ,,Aer" be sänftigt, gesteht er diesem damit letztlich die Oberherrschaft zu. Ein sol cher "Heros" ist Diener der Hera - und das ist des Sathans -, nicht sein Überwinder.
Ein
christliches Vorbild des Überwinders des Sathans, also eines rech
ten Heroen, bot sich dagegen in der alttestamentarischen Gestalt des Hiob
20 VgL hierzu etwa das vierte Buch der Hymnen des Michael Marullu s: Drei Neapo litanische Humanisten über die Uebe. Antonius Panorrnita, "Hermaphroditus"; Ioannes Pontanus, "De Amore Coniugali"; Michael Marullus, "Hymni Natura les". Lateinisch und Deutsch und mit Anmerkungen versehen von Nikolaus Thum, SI. Katherinen 2003 (Itinera C1assica 3), wo die fünf Elemente als Götter angerufen werden;Juno ist hier die Luft, Jupiter der Aether. 21 Text nach: Martin Luther: Die gantze heilige Schrifft Deud�ch, Originaltext von 1 545 in modernem Schriftbild, hg. von Hans Volz, 2 Bde., Bonn 2004 (= Hans Luft: Wittenberg 1 545); hier Bd 2, 2356-2357.
24
Nikolaus Thum
an: Dem Teufel wurde von Gott die zeitlich-begrenzte Macht über Hiobs Schicksal gewährt, um zu prüfen, ob er
im
Unglück von seinem Gottver
trauen abfallen würde. Sathan ist hierbei durchaus über die Luft, und das zeigt sich nicht zuletzt
princeps aeris, Herrscher darin, wie er einen Sturm
aufkommen läßt, der Hiobs Familie unter den Trümmern des zusammen fallenden Hauses begräbt.22 Der Vergil-Nachahmer Verino, mit dem Alten Testament nicht nur als guter Christ, sondern auch als Dichter, der später Altes und Neues Testament in Hexametern nachdichten sollte,23 innig vertraut, mußte bei Hiobs Klagen gerade an die
Aeneis erinnert werden: 3,1 1) : Quare non in vulva momus .rum? / Wamm bin ich nicht gestorben von Mutterleib an?, dann konnte ein Humanist nicht anders als an Aeneas' Aufseufzer im Seesturm denken: Oh, daß ich nicht alif llions Feldern niederfaUen dutfte! Hiobs Klagen folgen auf seine
Wenn Hiob ausruft (Vulg. lob.
Schicksalsschläge; er sagt sich aber nicht von Gott selbst los, sondern verteidigt nur seine Unschuld am Leiden.
Am
Ende ertönt die Stimme
Gottes aus den Wolken; er wendet das Schicksal des Schwergeprüften zum Guten. Verino brauchte nur die Verbindung zwischen dem Vorbild aus dem Alten Testament und den Märtyrern des Augustin zu ziehen, und schon hatte er aus Augusrins Kritik an Aeneas auch das positive Gegen modell gewonnen. Wenn
man
sich anfangs wundem durfte, warum Gott
aus den Wolken spricht, als er den Seesturm nach Karls Gebet beruhigt, so
sieht man
j etzt hierin das
alttestamentarische
Vorbild,
das
zur
Vergilimitation hinzukommt. Juno-Sathan hat in Karl keinen zweiten Aeneas, sondern einen neuen Hiob gefunden. Hier ist Gottes eigenes Eingreifen gefordert. Beide Kapitel im zehnten Buch des
Gottesstaates Augusrins, die sich in Aeneis, den See
direkt auch auf die von Verino nachgebildete Szene der
sturm, beziehen lassen, gaben Verino also den Hinweis, gegen welche Gewalten und auf welche Weise ein christlicher Held, der dem heidni schen Helden Aeneas entgegengesetzt werden sollte, vorzugehen habe. Sie erläutern, weshalb Verino Juno mitsamt Aeolus durch Sathan ersetzen konnte: weil Sathan mehr war als nur
aer und
so die Rollen der Juno und
des Aeolus in sich vereinigte; sie erklären sogar, warum Karl sich gerade in diesem Augenblick, nämlich erst nach dem Tod des Rutenus und nicht
Adhllc loquebatur ill" el ec� alius intravit, el dixit: i'iliis lIIis el jiliabllS vescentihlls et bihtntihlls vinllIN in dOINo .frafris SNiprimo/{eniti, "pente venllls veheINens im/il a reJ!ione dtserti, et conalSsil quatuor an/{Ulos tIoINIIS, quae com/ens oppressit liberos lIIos, el INorl1li sunl,. el iffoJ!i BJl.O SOIIlS, ul nllntiarelN tibi. 23 Das Vellls el NOVIIIN Testamtnlllm ist nur als Fragment erhalten, nichtsdestoweniger
22 Vulg. lob. 1 ,1 8-19:
stellte es ein Hauptwerk Verinos dar, vgl. A1fonso Lazzari: Ugolino e MicheIe Verino, Torino 1 897, 200f.
25
Der Wandel des Heldenbcgriffcs von der Antike zur Neuzeit
vorher, an Gott selbst wendet: Im Unterschied zur
Aeneis
mußte der
Franke Rutenus zuerst sterben, dann Kar! sein Gebet zum Himmel sen den, weil ja auch Hiob zuerst geprüft wurde und dann seine Klage erhob. Das Dulden der Verfolgung durch den Teufel bedeutet seine Überwin dung; das Gebet ist Ausdruck des Exorzismus; die Reaktion Gottes kommt als Belohnung für das unbeirrbare Ausharren im Unglück. Man muß den Seesturm der Franken werden von den
Carlias also so verstehen: aeriae pOlestales, den Luftgeistern,
Karl und die bei Vergil in
Gestalt von Juno und Aeolus, bei Verino durch Sathan, in Versuchung gebracht. Sie sollen, durch das Unglück gebrochen, die Majestät des Bösen anerkennen. Gott läßt dies zu, da er und verherrlicht. Rutenus
wird,
im
Leid die Menschen prüft, erzieht
da er den Versuchungen bis aufs Letzte
widersteht, zum Märtyter.24 Spätestens mit dem Tod des Rutenus ist die Kraft des gemeinen Volkes gebrochen, ihr Führer Karl indessen wendet sich in dieser Not demütig an Christus. Er weist auf die gottgefaIlige Auf gabe
hin,
den einzigen Grund, der verhindert, daß alle Franken freudig
j etzt schon den Märtyrertod sterben wollen. Daraufhin entzieht Gott Sathan wieder die ihm verliehene Gewalt. Die Flotte kann in einen Hafen einlaufen; sie wird nicht, wie in der Aeneis, zerstreut. Wie hatte sich dagegen Aeneas, in den Augen eines nach Augustin In terpretierenden, verhalten? Auch Aeneas wird von Juno-Sathan verfolgt, beim ersten Anzeichen von Ungemach verfäll t er jedoch ins Klagen; nicht zu Unrecht geht ihm darum mit Orontes einer seiner Männer und eins seiner Schiffe verloren. Er hat der Macht des Sathans nicht trotzen kön nen, und nur seinem Schicksal als Begründer des römischen Reiches ist es zu verdanken, daß ein anderes Element, das Wasser, sich seiner annimmt und die Macht nicht Junos (denn die ist bereits fortgegangen) , sondern untergeordneter Gewalten wie der WInde eindämmt. Der Tod des Orontes ist für einen nach Augustin Interpretierenden die Strafe für die Klage des Aeneas. Der Seesturm in der ständnis der
Aeneis,
Carlias
ist damit das Ergebnis aus einem Ver
wie es ein ganzes Jahrtausend lang gültig war, und
dieses Verständnis der Aeneis war ein durchaus kritisches. Was auch immer Vergils tatsächliche Motive gewesen sein mochten, einen Helden wie Aeneas zu formen, der im Angesicht eines Seesturmes so sehr ins Weh klagen verfäll t;25 später jedenfalls bemerkte man durchaus die Verzweif-
24
KMl wird ihn später, im
8.
Buch, unter den Seligen des Paradieses sehen: earl.
8,692-694. 25
Oberflächlich betrachtet war es die 04ysstl!; vgl. Horn. Od. 5,306-307: öAOVTO
Imitotio Horners und des fiinften Gesangs der
TplallaKapES .ll. avaoi Kai TETpaKlS oi TOT' I Tpoin ev EUpeln XaPlv 'ATpE'iSncn tpepoVTES' Natürlich geht auch die
26
Nikolaus Thum
lung des Trojaners und sah sie in einem eher negativen licht.
Ein wahrer
Held, sagte man sich, j ammert nicht, sondem duldet. Diese Kritik mag bereits von heidnischer Seite formuliert worden sein; das Märtyrerideal der Christen aber konfrontierte sie erst deutlich mit einem positiven Gegen modelI. Augustin bringt es auf den Punkt: Der wahre Held unterwirft sich nicht seinem Gegner, versucht ihn nicht zu versöhnen - denn unversöhn lich ist Sathan. Der wahre Held duldet bis zuletzt.
Ein
Heros dient sich
nicht der Hera an, er überwindet sie; und er überwindet sie durch Dulden, nicht durch gottloses Klagen. Dies war
das
Heldenbild, das ins Mittelalter überliefert werden sollte.
Doch hat es im 15. Jh. nicht länger einfache Akzeptanz, sondem wiede
rum
eine Neubewertung erfahren. Karl ist kein Märtyrer in dem Sinne,
daß er
für
seinen Gott stirbt. Im Gegenteil erfüll t er seine Mission, befreit
siegreich die Italiener von der Fremdherrschaft der germanischen Barba ren - die langen Bärte der Langobarden werden abrasiert - und kehrt (im Epos jedenfalls) im Triumphzug in seine Hauptstadt Aachen ein. Er dul det zwar, wie hier im Seesturm, Leid, aber sein Sieg erfolgt nicht erst im Himmel, wie der eines Märtyrers, sondem hienieden auf Erden. Auch wird ihm nicht wie dem alttestamentarischen Hiob wiedergegeben, was ihm genommen wurde - im Gegenteil, es bleibt ihm das Wichtigste erst noch
zu
tun:
die Vernichtung der Langobarden. Er ist ein Kreuzritter,
nicht im Sinne des 1 2 . Jh.s, sondem im Sinne eines einerseits romantisch rückwärtsgewandten, andererseits pragmatisch-modemen Kreuzzugside als, wie es für das 15. Jh. charakteristisch war.26 Das sagen schon seine Worte während des Seesturmes aus: Seine Aufgabe ist es, auf die Gott doch Rücksicht nehmen solle, indem er ihn verschone. Zum Ruhme Got tes gibt er nicht sein Leben, sondem nimmt das Leben anderer.
Beschwichtigung der Juno auf Odysseus' Versöhnung des Poseidon zurück. Aber Verino hat die Odyssee wohl nie lesen können; vgl. Thum, 2002 (wie Fußn. 2), 1 9. 26 Von Karl VIII . , dem eine Fassung der Carlias gewidmet ist, war ein neuer Kreuz zug erwartet worden. Die Literatur der zum Kreuzzug auffordernden Humanis ten ist immens. Man darf aber diesen häufig auch nur rhetorischen Kreuzzugsge danken nicht mit jenen verschiedenen Strömungen durcheinanderbringen, die sich im 12. und 1 3 . Jh. in den tatsächlichen Kreuzzügen äußenen. Karls Feldzug im Orient (die Bücher 2-4 der Carlias) fehlt beispielsweise völlig die Idee des mili tanten Pilgenwns, die so typisch ist für die Kreuzzüge. Man darf auch nicht (so gegen Ratkowitsch) Verinos Kriegerideal mit den zu Zeiten der Kreuzzüge ent standenen und von ihnen geprägten französischen Chansons Je Chevallene vermen gen: Schon im Rolandslied sieht man, daß der Tod des christlichen Ritters (hier: Roland) als Manyrium und Sieg aufzufassen ist; bei Verino hingegen stirbt nicht einer der Helden.
27
Der 'Wandel des Heldenbc!,.nffes von der Antike zur Neuzeit
Die Interpretation der Aeneis durch Verino ist also, wohlgemerkt, zwar durch die Interpretation eines Augustin beeinflußt, sie ist aber nicht eine ausschließlich Augustinische. Vielmehr sind drei historische Stadien des Heldenbildes in Verinos Darstellung eingeflossen: der leidende Held Vergils, der duldende Märtyrer Augustins, endlich der gottergebene, 'hu manistische' Kreuzritter Verinos. Auch wenn die bisher vermerkten Ver schiebungen der humanistischen Rezeption sich aus der christlichen Anti ke erklären, scheint doch gerade sie wieder zurück auf einen im Grunde heidnischen Pfad zu finden: Noch im Leben erreicht der Held die Erfül lung (hier die Vernichtung der Langobarden) , nicht erst im Himmel. Er ist eine Uchtgestalt auf Erden durch seine Erfolge, nicht ein Vorbild durch sein Dulden. Der Heros ist Überwinder der Hera, ja, aber nicht durch das Erdulden ihrer Verfolgung, wie der Märtyrer, sondern indem er sie selbst verfolgt und besiegt: indem er die Päpste nach Rom wieder zurückführt, die arianische Langobardenherrschaft beendet. Die Umwertung des Begriffes des Heros - vom Besänftiger der Hera zu ihrem Überwinder - hätte also zunächst vom Handelnden zum Dulder und in der Zeit der Renaissance dann letztendlich wieder zurück
zum
Handelnden geführt. Aber man sollte dies nicht so verstehen, als feiere die Zeit Verinos endlich wieder das aktive Leben des tätigen Menschen im Gegensatz zum kontemplativen des fast schon mittelalterlichen Augustin. Man muß hier wiederum auf die Grundkonstruktion der
Car/ias
schauen: Ihr liegen einerseits die allegorische Erklärung des Fulgentius, andererseits jene des Landino zugrunde.27 Das Konzept des Seesturms, der j a nach Fulgentius Allegorie der Geburt ist, wird von Verino (so j e denfalls lese ich die Stelle)28 hier um das Sakrament der Taufe bereichert,
27
28
Für den heutigen Leser vielleicht befremdlich ist die Tat.ache, daß Verino auf verschiedene Allegorien gleichzeitig zurückgreift, selbst wo diese sich gegenseitig au-,schließen. Ein Text konnte damals aber polyyalent konzipiert werden und wurde auch so gelesen; die mittelalterliche Vier-Sinn-Interpretation war Grundla ge von Produktion und Rezeption. Fulgentiu-, interpretiert die Aeneis organisch chronologisch (Lebensalter), Landino moralisch-transzendierend (fugendstufen): Dies sind zwei verschiedene Deutungsebenen, die sich nicht ausschließen. Vgl. Thurn, 2002 (wie Fußn . 2), 1 1 0. Jüngst (und erst nach Abschluß des Vorlie genden) ist eine Untersuchung über den Seesturm in der Carlias erschienen, in der Ratkowitsch möglichen Vorbildern - vor allem Alcimu-, Avitu-" Bibelepos Ve spiritalis biJloriae .�eJtis und Corippus' Jobannes - nachgeht: Christine Ratkowit.ch: "Hostiles irrumpunt undique fluctus. Der Seesturm in der 'Carlias' des Cgolino Verino und die spätantike Epik , I\ILatJb 43, 2008, 57-80. Sie lehnt ausdrücklich (S. 60 und S. 76) einen Bezug auf die Taufe ab: Es wäre widersinnig, wenn der Teufel Ga Gegner des Christentums) mit dem Seesturm ausgerechnet die Taufe initiieren würde; Ratkowit.ch verweist dagegen auf die seit Viktor Pöschl gängige Vergil-Deutung, da-, Unwetter prä figuriere den Krieg gegen Turnus (Ratkowit.ch "
28
Nikolaus Thurn
indem auf die seinerzeit traditionelle Exorzierung des Teufels angespielt wird: Diese markierte den Eintritt des Kindes in ein Leben, in dem es jedoch erst durch Taten sich das Himmelreich erringe n musste. Im Epos will Sathan von Karl Unterwerfung; Karl verweigert sie ihm und treibt den Teufel in Gottes Namen aus. Nach Fulgentius läßt sich der Seesturm mit der Geburt (und dem Fruchtwasser), nach Verino mit der Geburt (und dem Taufwasser) vergleichen. Daher wird das Ideal des Märtyrers hier nicht angetastet, wenn man nach Fulgentius den Menschen von seinem Anbeginn, der Kindheit, her betrachtet; es wird lediglich
ein
anderer As
pekt des römischen Christentums betont: Das Himmelsreich erwirbt man sich durch 'gute Taten', nicht durch Nichtstun. Diese Neubewertung des Begriffes vom Helden - über den Dulder zum Kämpfer - ist damit kein Zeugnis für eine neue, mit der Renaissance autkommende Bewertung der
vita activa,
des tätigen Lebens; sie ist aber sehr wohl ein Zeugnis für die
Verschiebung der Gewichte im christlichen Tun vom Ideal des Märtyrers
hin
zum Ideal der 'guten Taten'. Bedeutender noch ist die Allegorese des Landino: Wichtig für das ver
änderte Ideal des Helden ist, daß nach Landino das letztliche Ziel des Helden nicht die
vita activa
sei, sondern gerade deren Überwindung durch
die kathartischen Tugenden des Büßers und die noetischen Tugenden des Heiligen; und bedeutsam ist deswegen, tion der
Cariias
daß
in der allegorichen Konstruk
sich der Held während des Sees turms auf einer Stufe be
findet, die jener der
vitutes civiles und
damit der
vita activa entspricht.
Wenn
also hier die Eigenschaft des Christen angesprochen wird, sich durch Ta ten auszuzeichnen, und wenn diese Taten hier durchaus solche der
activa
vita
sind, so darf man umso weniger diese Stelle für eine angebliche
Hinwendung der florentinischen Renaissance zum "tätigen Leben" heran-
S. 57 und Anm. 2), und möchte den Seesturm der C"rli"s analog verstanden se hen. Warnen möchte ich hier vor der Unsitte, den Vergilimitatoren des 1 5 . Jh.s ein Vergilverständnis späterer Zeiten (hier des 20. Jh.s) unterschieben zu woUen; man kann zwar nicht ausschlieBen, daß ein solches von FaD zu FaD auch seiner zeit gängig war, hat es dann aber au.� zeitnahen Zeugnissen nachzuweisen. DaB der Teufel die Taufe einleiten soUte, ist nicht absurder, als daß die Geburtsgöttin Juno im Seesturm als Element 'Luft' Aeneas bedrohen und ihm nicht vielmehr als Geburtshelferin helfen woUte; und trotzdem ist dies die wirkmächtige Position des Fulgentius. Auch ich habe ein gewisses Unbehagen bei der Annahme, Verino woUe im Seesturm die Taufe symbolisieren; dies resultiert jedoch au.� dem Wider spruch zwischen der Deutung Landinos und jener des Fulgentius. Da in der Carlias an drei exponierten SteUen das 'Element' Wasser eine zentrale RoUe spielt (neben dem ersten Buch die 'himmlische' Taufe Karls im 8. Buch und seine Sal bung im 15. Buch), sehe ich aber keinen Spielraum, die Einwirkung der Fulgentiu.�-AUegorese au.�blenden zu können.
Der Wandel dc.. Heldenbc:griffes von der Antike zur Neuzeit
29
ziehen, als die gegenwärtige Stufe des Hdden ja gerade eine ist, die im Laufe des Epos überwunden werden soll. Gut ist das "tätige Leben" in den Augen der Florentiner Humanisten durchaus, aber immer noch besser ist das kontemplative Leben eines Heiligen. 29 Karls Verhalten im Seesturm ist somit nicht aus der Entwicklung des Epos isoliert ddn
dar,
zu
interpretieren: Es stellt ein vorbildliches christliches Han
aber es ist einer bestimmten Situation im Leben des Christen
zugeordnet: dem Augenblick, wo sein Leben tatsächlich von der Macht des Sathan in Gefahr gebracht wird. Sicherlich ist eine solche Situation in jedem Augenblick des Christenlebens zu befürchten, ja sdbst Heilige sind vor der Versuchung des Teufds nicht gefeit. Aber für ein Epos, das die Entwicklung des Menschen exemplarisch darstellen möchte, ist der Au genblick, diese Versuchung zur Sprache zu bringen, ein früherer in der menschlichen Entwicklung: der Beginn des Lebens sdbst. Daß ausgerechnet an der
Aeneis
ein solcher vidschichtiger Bewer
tungswandd stattgefunden hatte, ist kein Wunder: Sie wurde von jedem Gebildeten schon in der Schule gdesen; sie bot nicht nur die Möglichkeit, an ihr das Typische des Menschlichen zu veranschaulichen, sondern auch die
Gewähr, daß
diese Veranschaulichung an einem allgemein bekannten
Gegenstand vonstatten ging. Hierbei ging es um jedes Wort, und jede noch so kleine Tätigkeit bekam dadurch ein bedeutendes Gewicht. Wie heute der brutale Todesstoß
am
Ende der
Aeneis für Irritation sorgt, so tat Kritik an der Aeneis,
dies früher die Besänftigung der Juno. Deswegen ist
ja an der Gestalt des Aeneas sdbst, natürlich kein Phänomen erst des 20. Jh.s, sie ist ein schon in der christlichen Spätantike notwendig auftretendes Element der Rezeption. Ganz offensichtlich wurde Aeneas schon früh als
29
Landino sieht in Aeneas' Kämpfen in Latium keinesfalls eine Bewährung in der vita tJCIiva, sondern eine auf geistiger Ebene; ,.-gl. Cristofom Landino: Displltationes CamaidN/enses, hg. von Peter Lohe, Florenz 1 980, 4,209: QHae omnia Jl!avia ac
periclilis p/ena C/l1II pttpususfoerit, qllonam 1IIodo in ltalia dliriof'fJ paSJI/rl1S ost? ,""on taillen proC/lI a vero abt",,1 SiJry/Ia. CN1II eni1ll a trJ1II1INI ni vita ac hominll1ll meIN ft in soliltldine1ll vindicrJlJeris, INnc amores qNasda1ll veINtifacrs eam1ll remIlI, qNa. TP/iqNisti, 1IIe1lloria admovet et i/lam1ll dtsiderio _"';1110 insNl]!.llnl 1II0rsNS {. . .J Venit in Ita/ja1ll Aeneas, vet'11111 eo virt/l1N1II Jl.entre, qNae pll'll.atoriae appellanlNr, a qNihNs anlta qlllJl1l ptniltls expiata sit 1IIens neasse est, IIt acem1ll111ll heliN1II, qNe1ll admoda1ll nostri a;Nnt, spirilNs adoersNs cam'1II gtrat . . . In ltalia vero, {1111I nondN1II C1IjJiditale1ll remIlI hN1IIanamm dtponere lh1kat animus, btlla extitanlNr, asptf'fJ i/la qNidem, led non in qNibNS veINti aplld Tro;a1ll IN«N1IIbat, I.d IIndt vic tor triN1llphansqNe parto reg,no TPdeal. Bei Verino kommt hier auch noch dazu, daß sich in seinen sieben Büchern der Kämpfe in Italien die vier Kardinalrugenden auf ihrer höchsten Stufe, aber auch die drei christlichen Tugenden repräsentiert finden: vgl. Thum, 2002 (wie Fußn. 2), 41 f. Der 'Kar! des Seesrurms' aber ist des sen ungeachtet Mensch der vita activa, seine Wünsche, Worte und Gedanken sind als solche der virt/lles cM/es zu lesen.
30
Nikolaus Thum
der "perfekte nicht perfekte" Mensch empfunden, ein Mißbehagen, das so glaube ich - Vergil sdbst schon erzeugen wollte, das Augustin zur Sprache brachte und das schließlich in einer extrem produktiven Epoche wie der Renaissance nicht in der Kritik steckenblieb, sondern den Versuch anregte, es besser zu machen.
Kannte der Humanismus "den anderen Vergil"? Zur /wo voices-Theorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit
THORSTEN BURKARD (Kiel) Die sogenannte two
voices- Theorie
bildet seit etwa 50 J amen einen der an
regendsten und interessantesten Ansätze in der neueren Vergilforschung, dem sich auch der Jubilar in mehreren Veröffentlichungen mit deutlich erkennbarer Sympathie gewidmet hat. ! Hier soll nun die Frage gestellt werden, ob sich diese Deutungsrichtung bereits lange vor ihrer gleichsam offiziell anerkannten Entstehung nachweisen lässt. Zu diesem Zweck gibt der erste Teil dieses Beitrags einen kurzen Überblick über diese Theorie, der dem Altphilologen, zumal dem Vergil-Spezialisten, nichts Neues bie ten wird, aber für den Fachfremden eine knapp gehaltene Hinfiihrung zum
eigentlichen Thema bieten soll. Im zweiten Teil werden diejenigen
Interpretationen
untersucht,
die
Vorläufer
lateinischen Texten der frühen Neuzeit
zu
der
/wo
voices-Theorie
in
entdecken glauben.
1 . Die Geschichte der /wo voices-Theorie - ein kurzer Überblick Revolutionäre Paradigmenwechsd gibt es sdten.
Dies
galt
bis
vor
einem
in
der Klassischen Philologie
halben Jahrhundert auch für
die
Vergilforschung, die sich seit ihren Anfangen in der Antike eher gemäch lich-solide weiterentwickdt hat - die meisten modemen Ansätze, Metho den und Interpretationsweisen lassen sich bereits (zumindest in
nuce)
bei
\'('emer Suerbaum: "Gedanken zur modemen Aeneis-Forschung", AU 24.5, 1 98 1 , 67- 1 03 (= 1 981a); ders.: Vergi1s Aeneis. Beitrige zu ihrer Rezeption in Ge schichte und Gegenwart, Bamberg 1 981 (= 1 98 1 b); ders.: Vergil� A."tis, Stuttgart 1 999, 372-375.
32
Thorsten Burkard
Servius finden. 2 Dies änderte sich
in
den sechziger Jahren mit dem Auf
kommen einer pessimistischen Deutungsrichtung, die in ihrer extremen Ausformung in diametralem Gegensatz zu den bisherigen Auslegungen behauptete, die Aussage der
Aeneis
sei pessimistisch oder gar anti
augusteisch aufzufassen. Seither existieren - vereinfacht dargestellt - ne beneinander zwei Lager, das 'optimistische' und das 'pessimistische', ideo logieskeptische oder gar -kritische,3 die Europäische Schule auf der einen, die Harvard-Schule auf der anderen Seite,4 so dass kein vollständiger Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der die ganze
scientific cOfllfllll niry
erfasst hätte, sondern sich vielmehr eine Art Koexistenz entwickelt hat, die zuweilen auch in ein und demselben Forscher zutage tritt.'; In einer häufig zu lesenden Vereinfachung lässt sich sagen, dass im deutschen Sprachraum die Optimisten,6 im englischen eher die Pessimisten die Mehrheit stellen.7 Den Beginn der pessimistischen Deutung sieht man gemeinhin in dem Aufsatz von Adam Party aus dem Jahr 1963 mit dem wirkungsmächtigen
2
3
4
5 6
7
Einen guten Ü berblick über die Methoden der antiken Vergil-Philologie gibt die Dissertation von Alexander Cyron: Die Poetologie der spätantiken Vergi1kommentare, Diss. Kiel 2009 (dort auch weitere literatur). Natürlich kann man Servius' und Claudius Donatus' Kommentare nicht mit Werken wie Heinzes fi.pucher Teclmik (Richard Heinze: Virgils epische Technik, Leipzig 3 1 9 1 5, (1 976) oder Pöschls Dichthlflst (Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Vergi1s. Bild und Symbol in der .AntU, Berlin u.a. ' 1 950, 31 977) vergleichen, aber die Methoden sind in der Antike bereit:! angelegt. Antonie Wlosok: "Vergi1 in der neueren Forschung", Gymnasium 80, 1 973, 1 29-1 5 1 , hier 1 43, fasst die pessimistischen Deutungen (parry, Putnam, Williams, Quinn) unter dem Begriff des "ideologiekritischen Aeneisverständnisses" zu sammen. Vgl. zu diesen Ausdrücken und einer Beschreibung der beiden Schulen Walter Ralph J ohnson: Darkness visible. A study of Vergil's Aeneid, Berkeley 1 976, 8-22 und 1 56f. Anm. 10 sowie Suerbaum, 1 9 8 1 a, 76. Zu einem Ü berblick über die Vertreter vgl. Markus Schauer: Aentar dNX in Vergi1s Atneis, München 2007, 27f. So scheinen mir beispiel'lWeise die Arbeiten des Jubilars auf eine wohlabgewoge ne Versöhnung der beiden 'Schulen' ausgerichtet zu sein. Im englischen Sprachraum spricht man auch von 'New Augustans' (vgl. Craig Kallendorf: "Historicizing the Harvard School. Pessimistic readings of the Aeneid in Italian Renaissance scholarship", Harvard Studies in Classical Philology 99, 1 999, 391 -403, hier 392). Vgl. zu dieser Dichotomie beispielsweise Craig Kallendorf: "Aeneas in the 'New World'. Stella's Columbeis and VIrgilian Pessimism", in: ders.: The VIrgilian tradi tion. Book history and the history of reading in early modem Europe, Aldershot u.a. 2007 (= 2007a), Aufsatz XIV, hier 2f. (zuerst auf Italienisch in: Studi Uma nistici Piceni 23, 2003, 1 - 1 0) .
Zur hw voietI-Thenrie in der lateinischen Literatur der frühen �CU2c:it Titel
The TRIO Voices oj Virgifs Aeneid.8
33
Die Wahl gerade dieser Veröffentli
chung ist insofern berechtigt, als die pessimistische Deutungsrichtung erst seit den sechziger Jahren von einer breiten Front von Forschern vertreten wird, so dass Parrys Beitrag kein Solitär blieb. 1965 erschien beispielsweise Putnams
The poetry oj the Aeneid.9
Man hat auch nicht zu Unrecht darauf
hingewiesen, dass die pessimistische Schule bezeichnenderweise erst nach bzw. durch die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs und der Nachkriegs konflikte entstanden ist. Allerdings gab es bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg einen recht extremen Versuch,to die
Aeneis als Kritik
an Augus
tus und seiner Herrschaft aufzufassen, nämlich von Francesco Sforza,l l dessen Aufsatz
zu
seiner Zeit allerdings nicht weiter beachtet wurde und
offensichtlich auch die Harvardianer nicht beeinflusst hat.12 Sforza stellt
8
9
Adam M. Parry: "The Two Voices of VrrgiI's Ameitl', in: Steelc Commager (Hg.): VirgiI. A collection of critical essays, Ncw Jersey 1 966, 1 07-1 23 (auch in: Adam M. Parry: The languagc of Achilles and other papers, Oxford 1 989, 78-96 ([zuerst in: Arion 2, 1 963, 66-80]).
Michael CJ. Pumam: The poetry of the Aeneid. Four studies in imaginative unity and design, Cambridge (Mass.) 1 965; Putnams Ansätze finden sich auch in seiner Aufsatzsamm1ung: Virgil's Aeneid Interpretation and influence, Chapel HilI 1 995. Ernst A. Schmidt: "Vergi1s Ameis als augusteische Dichtung", in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen, Sturrgart 2001, 65-92, hier 8 1 , be zeichnet Putnam als den Hauprvertreter der Harvardianer. 10 Soweit ich sehe, stellt Sforzas Deutung wohl den radika1sten Versuch dar, die Aeneis als anti-augusteisch zu deuten. 1 1 Francesco Sforza: "The problem of Virgil", ClR 49, 1 935, 97-1 08. Zwischen Sforza und Party wäre noch Brooks zu nennen, der die Aenei.r als einen Angriff auf die fehlbare menschliche Natur, auf die Notwendigkeiten von Geschichte und jafllm bezeichnet hat (Robert A. Brooks: "Discolor aJlf'(;l, Reflections on the golden bough", AJPh 74, 1 953, 260-280, hier 280). Kallendorf, 1 999 (wie Fußn. 6), 393 verweis t auch auf essayistische Versuche des 19. Jahrhunderts und der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; vgl. auch den Beitrag von Siegmar Döpp in diesem Band, S. 41 6-418. Des Weiteren kann man Pöschl (vgL Fußn. 2) durchaus als ,,Anreger der Harvard-Schule" be zeichnen (ohne dass man ihn selbst dazuzählen könnte), wie dies Werner Suerbaum vor knapp 30 Jahren getan hat (Suerbaum, 1 981 a [wie Fußn. 1], 76; 1 981 b [wie Fußn. 1], 35 Fußn. 64). 12 Sforza fehlt häufig in den Darstellungen der Geschichte der pessimistischen Richtung, vgI. aber Suerbaurn, 1981b (wie Fußn. 1), 1 05 Fußn. 2 und Rudolf Rieks, der Sforzas Aufsatz "geradezu als Grundlegung der in der angelsächsi schen Literatur sehr aktuellen 'Two-Voices-Theory''' bezeichnet (Rudolf Rieks: Vergi1s Dichtung als Zeugnis und Deutung der römischen Geschichte, in: Ar-..'RW 2.31 .2, Berlin u.a. 1 981, 728-868, hier 832). Sforza selbst betrachtete den Aufsatz, der keine Fußnoten hat und die Aeneir-Stellen nur ungefähr ausweist, als Vorstudie zu einer Monographie, die offenbar nie erschienen ist (Sforza, 1 935
34
Thorsten Burkard
die Frage, ob es neben der "face meaning" des Textes noch "eine zweite feindselige Bedeutung" gebe, ob VergiI also unaufrichtig gewesen sei und ein "disguised pamphlet", ja sogar eine "Schmähschrift" verfasst habe. 13 Um diese Frage bejahen zu können, argumentiert Sforza zum einen biographistisch: Der Nicht-Römer VergiI sei nur zwanzig Jahre nach dem Bundesgenossenkrieg geboren und habe mehrfach von Octa vian/Augustus ausgehende Repressionen selbst miterleben müssen, so die Landenteignungen und den Freitod des Gallus. Zudem hätte der Epikure er VergiI die Götterwelt des Epos kaum schätzen können und habe als Verteidiger einer brüderlich-freien Gemeinschaft und "demokratischer Prinzipien" (S. 1 03) 1 4 das autokratische Ideal des Augustus ohne Wenn und Aber abgelehnt. Obwohl VergiI aufgrund dieser grundsätzlichen Dis krepanzen dazu gezwungen werden musste, die Aeneis zu verfassen, be wahrte er sich dennoch sein gutes Gewissen, indem er in diesem Werk seine wahren Ansichten verhüllt zum Ausdruck brachte.1S Bei der Deu tung des Textes selbst geht Sforza dann in der Art vor, dass er Passagen, in denen man Aeneas ein unmoralisches oder ein heldenunWÜtdiges Ver halten vorwerfen könnte, als anti-augusteisch deutet, so zum Beispiel die berühmte Seesturmszene im ersten Buch (1 ,8 1 - 1 56). VergiI habe sich hier aber dadurch abgesichert, dass er bei eventuellen Nachfragen auf die ent sprechende 0t&ssee-Szene hätte verweisen können, die er lediglich imitiert habe (5,297-3 1 2).16 Als Demokrat habe VergiI seine Anklagen der Monar chie hinter der negativen Darstellung der unfahigen, senilen Könige Priamus, Latinus und Euander verborgen (S. 1 02f.) . Die Religion desavouiere VergiI auf verschiedene Weisen, so etwa indem er den contemptor deomm Mezentius überhöhe, der wie Vergil "das Joch des Aber glaubens" ("the yoke of superstition'') abgeworfen habe, oder indem er sich über die olympischen Götter lustig mache; so genieße etwa Jupiter überhaupt kein Ansehen und Juno setze sich fiir ihre Schützlinge Turnus [wie Fußn. 1 11, 1 08) . Pumam (vgl. Fußn. 9) und Quinn (vgL Fußn. 26) z.B. haben sich anlimgs weder auf Sforza noch auf Parry berufen (vgl. aber Fußn. 27). 1 3 Sforza, 1 935 (wie Fußn. 1 1), 97: ,,Is there, beyond the face meaning of the Amti� a second and hostile meaning?" Auf S. 1 02 bezeichnet Sforza die Amtis als "the most virulent libel ever written against Rome and its rule". 14 Offenbar kommt Sforza durch seine Amtis-Lektüre auf diesen Gedanken. 1 5 Ohne dies zu erwähnen, wendet Sforza hier die antike Theorie vom LoJ{os tschtmatismtnos (lateinisch Oratio jiJ{lIrata) an (vgl. dazu einführend Michael Hillgru ber: "Die Kunst der verstellten Rede", Philologus 144, 2000, 3-21). Die einfachs te Definition des dieses schtme bzw. dieser jiJl!lra gibt Quintilian: per qllandam
stnpit:ionem, quod non dit:imus, act:ipi voilimus, nOIl utiqUt colltranum, IIt ill Eipc.JVEffI, sed alilld laltns et auditon quasi ill/JInimdum (inst. 9,2,65).
16
Sforza, 1 935 (wie Fußn. 1 1), 1 0 1 .
Zur hw ...u.,-Th�()ri� in d�r latdnisch�n Litcrarur d�r frühen �cU2dt
35
und Dido fast überhaupt nicht ein.17 Wie später in der Harvard-Schule ist auch bei Sforza die Deutung des Protagonisten zentral (S. 1 05f.); Aeneas ist bei ihm der Inbegriff von Bösartigkeit und Immoralität; fast jede seiner Aktionen wird als feige, verbrecherisch oder dumm qualifiziert - kurzum: in ihm hat Vergil den prototypischen unfahigen Despoten dargestellt. In gewisser Weise nimmt Sforza auch Pöschls Methodik vorweg (freilich mit anderen Ergebnissen), indem er die Vergleiche in der Aeneis analysiert: Seiner Meinung nach werden die Trojaner hierbei eindeutig negativer dargestellt als ihre Gegner. Sforza ist sich seiner Rolle als primllS inventor übrigens bewus st, er verweist nicht ohne Stolz darauf, dass seit 2000 Jah ren diese revolutionäre Deutung ihres Entdeckers harre (S. 1 08). Für un sere Zwecke ist auch interessant, dass schon Sforza seine Deutung mit ihrer gesellschaftspolitischen Notwendigkeit begründete: Da der mensch liche Geist nur in einer Atmosphäre der Freiheit Fortschritte machen könne, benötige die gegenwärtige Generation eine solche Interpretation (S. 1 08) - immerhin schreiben wir die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Zur Kritik von Sforzas Aufsatz hat bereits Rieks alles Notwendige ge Sagt:18 "Die völlige Einseitigkeit der Argumentation, die selbst richtige Beobachtungen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, macht eine Widerlegung überflüssig. "19 Das Schlagwort, das heute für die pessimistische Sichtweise meistens ver wendet wird und auch titelgebend für diesen Aufsatz gewesen ist, s tammt von Adam Party.20 Er sah in der Aeneis zwei Stimmen: eine offizielle, panegyrische, triumphierende und eine private, k1agende,21 mitfiihIende und pazifistische �,a public voice of triumph, and a private voice of regtet", S. 1 21), wobei die private Stimme die eigentlich dominierende sei und zugleich die triumphierende Stimme relativiere.22 Insgesamt überwie17 18 19 20
Sforza a.o. 103-1 05. Rieks, 1 98 1 (wie Fußn. 1 2), 832f., das wörtliche Zitat auf S. 833. Johnson, 1 976 (wie Fußn. 4), 1 56f. Anm. 1 0 spricht von "as if in caricature". Party, 1 966 (wie Fußn. 8), 1 07 zeigt übrigens ein ähnliches Sendungsbcwu.�st sein wie Sforza, wenn er seine Deutung der Aenei.r als "a kind of cpiphany"
aufgrund einer zuvor unbeachteten Stclle bezeichnet. 21
Parry a.O. 1 1 1 spricht von "the frequent e1egiac note". Als einen melancholisch resignativen Helden bezeichnet WendelI (:lausen: ,,An interpretation of the Amt itf', Harvard Studies in Classical Philology 68, 1964, 1 39-147, hier 1 40, Aeneas. 22 Vgl. Parry, 1 966 (wie Fußn. 8), 1 2 1 f. : "The private voice, the personal emotions of a man, is never allowed to motivate action. But it is nonetheless everywhere presenL For Aenea.� , after all, is something more than an Odysseus manque, or a prototype of Augustus and myriads of Roman leaders. He is man hirnself; not man as the brillian t free agent of Homer's world, but man of a later stage in civi-
36
Thorsten Burkard
ge ein Gefühl des Verlustes �,sense of loss", S. 1 1 1) . Für Party ist Aeneas weniger ein Prototyp für Augustus als vielmehr "man himseIr',23 nicht so sehr Handelnder als vielmehr Opfer der fata, jemand, auf dem der Fluch einer Mission lastet.24 Diese beiden Aufsätze sind gewissermaßen prototypisch für die /wo voices-Theorie: Die Almei! soll ein mdancholischer, ja pessimistischer Zug durchziehen, der im Extremfall als vehement imperialismus- und augustuskritisch gedeutet wird. Dabei wird die Rolle des Aeneas in den beiden Deutungen unterschiedlich bewertet: Ist er für Party ebenso wie die anderen Kriegsteilnehmer ein leidender Hdd, so wird er bei Sforza zur Karikatur eines Hdden und zum Zerrbild eines Anführers. Gewisserma ßen werden beide Ansätze von Michad Putnam25 und Kenneth Quinn26 miteinander verbunden (auch wenn beide Sforza und Party nicht ken nen).27 Auch Putnam sieht in Aeneas ein Opfer, geht aber noch einen Schritt weiter als Party, indem er in der Aeneis den Triumph von Gewalt und Juror sieht, denen auch Aeneas unterliege, wodurch gerade die Ideale zerstört würden, für die der Titelhdd eigentlich einstehen sollte. Daher ist Aeneas am Ende die Verkörperung des impiu! Juror - aber keineswegs ein Modell für Augustus. Der Schluss werfe Schatten auf Aeneas, Augustus' Herrschaft und die Pax Ro1llana.28 Die Tötung des Turnus wird bei Put nam zur Tragödie der Aeneis (S. 1 96).29 Die Zerstörung von Turnus' Wdt negiere zu einem großen Teil die Deutung der Amei! als einer idealen Vision der Größe des augusteischen Rom. Im Gegensatz zu Putnam deutet Quinn Aeneas durchaus als Parallde zu Augustus und kommt somit zu einem noch negativeren Augustus-Bild:
23 24
25 26 27 28 29
lization, man in a mettopolimn and imperial world, man in a world where the State is supreme." Die Metapher lIfJice kommt übrigens in Pany!! Aufsatz nur an zwei Stellen vor und wird literaturtheoretisch nie erläuterr. Ich weiß nicht, ob man die Provenienz dieses Au.�drucks schon einmal untersucht hat. Da Michail Bachtin erst später im Westen bekannt wurde, kann sein Konzept der Polyphonie Party kaum beeinflusst haben. VgI. das Zitat in der vorherigen Fußnote. Mit diesem Ansatz steht Parry bekanntlich durchaus im Einklang mit anderen 'humanistischen' Ansätzen der damaligen Zeit, vgl. etwa Karl Büchner, Art. Ver giI, RE VIII A 1 021 - 1 486, hier 1 460: die Aeneis sei ein Symbol für das menschli che Dasein. Vgl. Fußn. 9. Kenneth Quinn: VirgiI's Aeneid. A critical description, London 1 968. Putnam hat aber 1 984 Partys Aufsatz als brillan t bezeichnet �,The hesitation of Aeneas" [zuerst 1984), in: ders., 1 995 (wie Fußn. 9), 1 52-1 71 , hier 1 64. Putnam, 1 965 (wie Fußn. 9), 1 5 1 -201 . Zu einer Widerlegung Puenams vgl. etwa W1osok, 1 973 (wie Fußn. 3), 1 43f.
Zur _ t'oUu-Theone in der lateinischen utcratur der frühen Xeuzeit
37
Durch die Kritik an Aeneas kritisiere Vergil auch AUgustus;10 so stelle etwa Aeneas' Raserei in Buch 12 eine Anspielung auf Augustus dar (S. 253: "and the portrait is hardly a flattering one"). Zugleich werden aber auch bei Quinn Augustus und Aeneas als Opfer des Krieges entschuldigt. Durch die Darstellung der Grausamkeiten des Krieges werde die Aeneis zu einem antimilitaristischen und humanitären Lehrstück (S. 58). Die ganze Diskussion um die /wo lJoices-Theorie zeigt, dass es durchaus möglich ist, einen Text, dessen grundsätzliche Auslegung offenkundig zu sein scheint, in entgegengesetzte Richtungen zu deuten. Die Frage, inwie weit die jeweilige Interpretation zulässig ist, hängt zu einem großen Teil von der Interpretationsgemeinschaft ab, um einen Terminus von Stanley Fish hier zu verwenden. In Zeiten, in denen staatliche Autorität, monar chische oder gar autokratische Herrschaftssysteme, Großrnachtträume und Imperialismus selbstverständlich oder zumindest nicht verpönt wa ren, nahm man keinerlei Anstoß an einem Klassiker, der diese Weltsicht zu propagieren schien. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts fand ein Umdenken statt, das dazu führte, derartige Texte zu brandmarken oder zumindest skeptisch zu betrachten. Diese politisch motivierte intel lektualistische Kritik an den 'großen Erzählungen' (im doppelten Wort sinn)11 erinnert an die Ressentiments der griechischen Philosophen gegen über den homerischen Epen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich die Reaktionen auf derartige Angriffe stark ähneln: War die erste Ebene eines Textes unerträglich, so musste sich eine zweite Ebene finden lassen, auf der das jeweilige Werk lesbar werden konnte - zumindest aus Sicht der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft. Während man auf diese Art und Weise im griechischen Raum die Methodik der Homerallegorese schuf, versuchte man im 20. Jahrhundert Vergil als Klassiker zu retten, indem man ihn zu einem politisch korrekten Klassiker machte,12 der sich
30
Hier liegt eine genaue Umkehrung der traditionellen Auffassung vor, der zufolge VergiI durch Aeneas Augustus lobe (vgl. etwa Claud. Donat. praef. p. 2,20) . 31 Der Terminus stammt bekanntlich von Jean-Francois Lyotard (Das postmoderne W"lssen, Wien 1 999, 1 1 2). 32 Bezeichnend ist in diesem Zu..ammenhang der Titel einer Podiumsdiskussion in Pittsburgh im Jahre 1 972 mit dem Titel: "Vergil als Vertreter der litterature engagee" (Suerbaum, 1 981b [wie Fußn. 1 ] , 7; C\l;r 66, 1 972/1 973, 65-75) - eine Anspielung auf Jean-Paul Sartres Traktat QII 'esf-ce qlle Ia litterafllrr? (1 1 947), vgl. et wa: "La litterature vous jette dans Ja bataille; ecrire, c'est une certaine fru,:on de vouloir Ja liberte; si vous avez commence, de gre ou de force vous etes engage" (S. 72, zitiert nach der Au..gabe Paris 2008).
38
Thorsten Burkard
auch oder vor allem der Sache der Unterdriickten11 und Verlierer an nahm.14 Interessant ist die Parallele zwischen diesen beiden Ehrenrettun gen nicht nur deswegen, weil die interpretatorischen Methodiken ver gleichbar sind, da sie auf eine Umdeutung des Inhalts zielen,1-' sondern vor allem, weil es in beiden Fällen nicht zu einem Ausschluss aus dem Klassi kerkanon gekommen ist. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass Vergil gerade wegen der Debatte um die two voices-Theorie wieder verstärkt wahr genommen wurde. Bevor wir abschließend das einigende Band aller zur /wo voices-Theorie zählenden Ansätze zu bestimmen versuchen, sei eine provokative Frage zu einer für diese Deutungen zentralen Aeneis-Stelle vorausgeschickt: Legt der vergilische Text überhaupt eine moralische Deutung der Tötung des Turnus nahe? Anders formuliert: Thematisiert der Text die moralische Problematik einer derarrigen Handlung? Oder überlässt er dem Leser diese Frage zur eigenständigen Beantwortung? Steckt die Antwort auf diese Frage womöglich weder im Text noch in Vergils (Erzähler- oder Autor-)Intention, sondern ausschließlich im Leser selbst? Es ist eine Sa che, die Umstände der Tötung zu benennen, aber eine ganz andere, diese Handlung im Rahmen des Textuniversums - oder aber seiner eigenen Voreinstellungen - zu bewerten. Vielleicht gibt es eine (beabsichtigte?) Offenheit des Schlusses, die mit einer Offenheit (fast) des ganzen Textes der Aeneis korrespondieren könnte. Demgegenüber hatten die antiken Philologen versucht, Vergils Epos als abgeschlossenes Werk, d.h. coute qlle coute kohärent zu lesen, nämlich unter der Prämisse, dass Aeneas an keiner Stelle als eine negative Figur erscheinen kann und darf.16 Der Dichter, der
33 Soweit ich sehe, hat man sich dabei nie die Frage gestellt, ob die Opposition L'nterdrücker vs. Unterdrückter in Vergils Epos überhaupt eine Rolle spielt 34 Vgl. auch Wlosok, 1 973 (wie Fußn. 3), 1 50: "Der Hauptfehler der modernen Aeneisdeutung ist wohl der, daß sie aus VergiI weginterpretiert, was ihr nicht ge fant oder anstößig erscheint, und daß sie hineininterpretiert, was sie gerne hören möchte", vgl. dagegen - mit deudich größerer Sympathie - Suerbaum, 1 98 1 b (wie Fußn. 1), 39; vgl. auch dens. 1 9 8 1 a (wie Fußn. 1), 73-78. 35 Es wäre auch möglich gewesen, die aktuelle Problematik des Inhalts zuzugeben, aber die formalen Aspekte stärker zu würdigen. Die anstößigen Passagen hätten dann eine spezielle Behandlung erfordert Dies war bekanndich die Methode, die die Jesuiten etwa mit ihren Horatii PllfJ!,ati angewendet haben: An die Stelle der L'mdeutung tritt partielle Unterdrückung. Eine weitere l\Iöglichkeit ist natürlich die vollständige Achtung. 36 Vgl. dazu Kallendorf, 1 999 (wie Fußn. 6), 398; ders.: "Maffeo Vegio's Book XIII and the Aeneid of early Italian Humanism", in: Anne Reynolds (Hg.): Altro polo. The classical continuum in Italian thought and letters, Sydney 1 984, 47-56, v.a.
Zur _ t'oUu-Theone in der lateinischen utcratur der frühen Xeuzeit
39
eine dazu passende riicriture der Aeneis schuf, war Maffeo Vegio (s.u., S. 43), dessen Aeneis-Supplement die ethischen Grauzonen bei Vergil un missverständlich profiliett, so dass dem lJir bonus Aeneas der vir malus Tur nus gegenüber steht. Wen wundert es, dass es einem solchen Gedicht aufgrund seiner Eindimensionalität (also seiner mangelnden interpretatori schen Offenheit) an Leben fehlt?17 Gleichsam als Kompensation ergeben sich aber die Antworten auf die moralischen Fragen des Lesers wie von selbst - eine /wo lJoices-Theorie kann es daher für diesen Text nicht geben. Kommen wir zum gemeinsamen Nenner aller skizzierten Ansätze: Die Deutungen im Rahmen der /wo lJoices-Theorie bleiben nicht bei der Fest stellung bestimmter Charakterzüge des Aeneas, einer melancholisch elegischen Stimmung (die sich in der Tat kaum leugnen lässt) oder der Leiden18 der Trojaner und der anderen Personen der Handlung stehen, sondern sie greifen darüber hinaus und ordnen die Erzählung, den plot der Aeneis, in einen größeren Sinnzusammenhang ein: in einen augustuskritischen und/oder pessimistischen und/oder pazifistischen usw. Mit anderen Wotten: Die Interpreten begnügen sich nicht etwa mit der einfachen Feststellung, ein Ereignis werde empathisch dargestellt, sondern sie deuten diese Darstellungsweise als vom Autor / Erzähler / Text inten dierte Unterminierung des Optimismus, der sich aus den Durchblicken ergebe. Jedes einzelne 'tragische' Detail erhält in einem größeren Gesamt zusammenhang seinen Sinn und seine Position, ebenso sind charakterliche Fehler oder Vorzüge nicht einfach typisch menschlich oder charakteris tisch für eine Person (im Sinne des decomm), sondern bedürfen einer weite ren, tieferen Ausdeutung, die man vielleicht als ideologische Deutungs ebene bezeichnen könnte - während die reine Konstatierung eine literari sche oder textimmanente Lesart wäre. In der ideologischen Lektüre wird Aeneas einerseits zu einem typischen Vertreter der Spezies Mensch (diese Verallgemeinerung ist bekanntlich nicht nur typisch für die Vertreter der !wo lJoices-Theorie), andererseits zu einer Chiffre für Augustus (auch diese 53; Sonja Eckmann: "Das Aenm-Supplement des Pier Candido Decembrio - die pessimistische Stimme der Aeneis?", Neulateinisches Jahrbuch 4, 2002, 55-88, hier 69-7 1 . 3 7 Vgl. Hans-Ludwig Oertel: Die Aeneissupplemente des Jan van Foreest un d des C. Simonet de Vtlleneuve, Hildesheim 2001 , 1 8: "Das humane W'eltgedicht Vergils wird verengt auf ein epideiktisches Ziel." 38 Leiden sind ja nach Vergils programmatischer Aussage ein zentrales Motiv der Aeneis, vg!. Aen. 1 ,33: Tantae molis erat Rnmanam rondere .�entem (vg!. W1osok, 1 973 [wie Fußn. 3], 1 47; Werner Suerbaum: "Vergil und der Friede des Augu..tus", in: Christoph Leidl / Siegmar Döpp [Hgg.]: In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von \Xrerner Suerbaum, Bamberg 1 993, 371-39 1 , hier 387).
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Thorsten Burkard
Deutung ist nicht auf die /wo voices-Theorie beschränkt, ganz im Gegenteil). Die /wo voice.r-Theorie unterscheidet sich also von anderen Ansätzen nicht so sehr durch die Bewertung der Einzelbeobachtungen als vielmehr durch eine übergeordnete Interpretation, die in einem Spannungsverhältnis steht zu einer Deutung, die man allein aus der Lektüre der historischen Durch blicke gewinnen könnte.39
2. Die /wo voices-Theorie in der lateinischen literatur der frühen Neuzeit Mit dieser tentativen Begriffsklärung wollen wir nun versuchen, der Frage nachzugehen, ob es Vorläufer der /wo voices-Theorie bereits in der frühen Nell2eit gegeben hat. Ein Vorwurf, den sich die Pessitnisten gefallen lassen mussten, war der der Ahistorizität.40 Man behauptete, eine derartige Interpretation sei unter den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts entstanden (was in gewisser Weise auch zutra f), so dass ein derartiges pessitnistisches Epos vor 1 950 überhaupt nicht hätte geschrieben werden können.41 Man richtete zudem an die Pessitnisten die Frage, warum es fast 2000 Jahre gedauert habe, bis die zweite Stimme entdeckt wurde. Es wa ren unter anderem diese beiden Vorwürfe, die den ausgewiesenen Huma nismus-Experten Craig Kallendorf dazu brachten, die historischen Aeneis Deutungen zu sichten, und er glaubte, in der frühen Neuzeit fiindig ge worden zu sein.42 Den Wendepunkt (oder Paradigmenwechsel) markiert hier sein Aufsatz von 1 999 über italienische Humanisten,43 den er 2007 zu
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Insofern stehen beide Schulen (Optimisten und Pessimisten) auf demselben Boden, wie Schmidt, 2001 (wie Fußn. 9), 85f. zu Recht bemerkt: Die Optimisten bieten natürlich die entgegengesetzte übergeordnete ideologische Interpretation an. Schmidt will diesen parteilichen Deutungen die epische Objektivität (verstan den als die Erzählhaltung der homerischen Epen) entgegensetzen: "Vergil war Dichter und dichtete, gerade weil er nicht Parreigmger war" (a.O. 86). 40 Vgl. Wlosok, 1 973 (wie FuI�n. 3), 1 50 und Karl Galinsky: "The anger of Aeneas", AJPh 1 09, 1988, 321 -348, hier 322. 41 Vgl. dazu etwa Kallendorf, 2007a (wie Fußn. 7), 4. 42 Richard F. Thomas unternahm es dahingegen, Spuren der two voieu-Theorie auch in der Antike aufzuspüren (VirgiI and the Augu.�tan reception, Cambridge 2001). 43 Kallendorf, 1 999 (wie Fußn. 6) .
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einem Buch erweiterte.44 Kallendorf versuchte nachzuweisen, dass es be reits in der frühen New:eit "den anderen Vergil" (so der Titel seines Bu ches) gegeben habe, der weitgehend unbemerkt neben dem "dominanten Paradigma" (d.h. dem traditionellen optimistischen Vergil-Bild) existiert habe. Diejenigen Humanisten, die sich auf diese Lesart einließen, werden von Kallendorf als originelle Denker glorifiziert, die die in der Schule gelernten Wahrheiten hinterfragten und die Aeneis als Anstoß betrachte ten, sich eine alternative Gesellschaft vorzustellen.45 Kallendorf hat für seine Zwecke mehrere lateinische Texte analysiert, am ausführlichsten das Epos Sphortias des Francesco Filelfo.46 Wir beginnen zunächst mit seiner Deutung von Metatexten, in denen über die Aeneis reflektiert wird: Der vergilische Aeneas wird von Francesco Pettarca (1 304-1 374) in dessen Traktat De otio f/!/igioso mit harten Worten kritisiert:47 er sei ein Vaterlandsverräter und ein Heide, der blutige Opfer darbringe. Pettarca wiederholt hier zum einen den schon antiken Vorwurf, Aeneas habe sein Vaterland vertaten;48 zum anderen erneuert er die alte Kritik der Christen am Verhalten der heidnischen Götter und Helden, um dann Christus als wahren Vater und Gott zu preisen. Für Pettarca ist Vergil aber lediglich ein Exponent der heidnischen Grausamkeit und des paganen Götterkul tes - während die Pessimisten Vergil ja unterstellen, mit den negativen Charaktermerkmalen des Aeneas auch eine bestimmte ideologische Kritik verbinden zu wollen. Weder behauptet Petrarca, Vergil relativiere den Optimismus der Durchblicke, noch sieht er, sozusagen im Bündnis mit Vergil, irgendeine Kritik an Augustus und der Aeneis. Ganz im Gegenteil: Pettarcas Kritik richtet sich sowohl gegen Aeneas als auch gegen Vergil.49 44 Craig Kallendorf: The other VirgiI. 'Pessimistic' readings of the Aeneid in early modem culture, Oxford 2007. 45 Kallendorf a.O. 1 4. Die neulateinischen Texte behandelt Kallendorf unter dem Stichwort "marginalization". 46 Es ist übrigens auffillig, dass meines Wissens bisher noch niemand versucht hat, die /wo voias-Theorie in den poetologischen Traktaten der frühen Neuzeit zu ent decken, deren Zahl bekanntlich Legion ist. Nach meiner eigenen Lektüreerfah rung etwa mit Scaliger, Mintumo, Vossius und Jesuitenpoetiken gibt es nicht einmal kleinste Andeutungen in diese Richtung. 47 Die beiden Pettarca-Stellen bei Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 38-41 . 48 Vgl. Servo Aen. 1 ,647; 2,298. 49 Vgl. auch Antonie Wlosok: "Zwei Beispiele frühchristlicher VergiIrezeption: Polemik und Usurpation", in: dies.: Res hllmanae res divinae. Kleine Schriften, hrsg. von Eberhard Heck und Ernst August Schmidr, Heidelberg 1 990, 437-459 (zuerst 1 983), hier 443, die nachweist, dass Lactanz weniger speziell die Aeneis als -
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Als pessimistisch deutet Kallendorf auch eine Stelle in Giovanni Pontanos (1 426-1 503) Abhandlung De fortitudine:50 Pontano bezeichnet dort Turnus als virfortis, also als Muster der fortitudo. Diese Bezeichnung findet sich bereits in der antiken Vergildeutung, etwa bei ServiusY Wenn wir also Kallendorf folgen wollten, der behauptet, Pontano habe damit die Ameis als ein Gedicht gedeutet, in dem die moralischen Entscheidungen grau schattiert sind,52 so müsste dies bereits für Servius geIten - und damit für die Schulttadition, von der sich Pontano laut Kallendorf angeblich abhebt. Aber auch hier gilt, dass Pontano diese Bemerkung nicht in einen größeren Zus ammenhang einbettet; der tapfere Turnus ist für ihn kein Hinweis auf eine Abwertung der Trojaner und Römer (ebenso wenig wie für Servius).53 Kallendorfs Deutung stellt eine unzulässige Vereinfachung dar (und nicht etwa, wie er glaubt, eine Vertiefung) . In Filelfos (s.u.) in den siebziger Jahren des 1 5. Jahrhunderts verfasstem Traktat De morali disciplina weist Kallendorf auf die folgende Stelle hin: lrae fervor in magnis etiam viris [ . . . ] reprehensione non vacat ltaque non parum mirari Virgilium soleo, qui Aeneam, quem religiosum, quem pium, vel propter Caesarem Augustum laudare debebat plurimum, ostendit quandoque im inferio rem.54
Kallendorf sieht in diesem Zitat eine Deviation von den damals üblichen Vergil-Interpretationen.55 In Wirklichkeit belegt das Zitat das genaue Ge genteil. Filelfo betont ja gerade, dass er sich über Vergils Darstellung wundem müsse, da er Aeneas ansonsten immer als vorbildlichen Helden darstelle. Filelfo wirft also Vergil implizit vor, die Konstanz der Figuren darstellung durchbrochen zu haben. Solche Verstöße gegen die Einheit-
vielmehr das dahinter stehende heidnische Weltbild angreife (vgl. Schmidt, 2001 [wie Fußn. 9], 84); vgl. zu dieser Stelle auch Suerbaum, 1 981 , 1 05-1 1 0, der zudem auf eine Orosius-Stelle hinweist (a.O. 1 1 1 Fußn. 1 2). Kallendorf, 1 999 (wie Fußn. 6), 393 zitiert Lactanz zu Unrecht als Beispiel für antiken Pessimismu.�. Vgl. zu diesem Problemkomplex auch den Beitrag von Nikolaus Thum in diesem Band, S. 1 9-21 . 50 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 43 f. 51 Vgl. Servo Aen. 7,473; 8,614; 9,3. 52 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 49. 53
Laut Kallendorf (a.O. 42f.) machen auch in Pier Candido Decembrios Amris PoftSetzung (die uns gleich noch beschäftigen wird) die positiven Epitheta Turnus zu einer Art Nationalhcld.
D. moraii disciplino 'ibri quinqm, Venedig 1 552, p. 71 f. (zitiert nach Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 37). 55 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 38.
54 Filelfo,
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lichkeit der Charakterisierung festzustellen (dann aber zwneist wegzuerklären) war ja bereits das tägliche Brot der antiken Kommentato ren.56 Daher kann von einem "großen Schritt"57 in Richtung auf eine pessimistische Deutung keine Rede sein. Wir kommen damit zu Kall endorfs Behandlung der Vergil Nachahmungen: Eine Art e-contrario-Argwnentation wendet er in seiner Vegio-Deutung an: Er stellt zwar fest, dass Maffeo Vegio (1 407-1 458) in seinem Aeneis-Supplement Aeneas noch lobenswerter darstelle als Vergil selbst, zieht daraus jedoch den Schluss, dass Vegio den Eindruck hatte, es gebe Ambiguitäten in der Aeneis und Vergil habe zu pessimistisch ge schrieben!58 Selbst wenn dieser Schluss richtig wäre, so würde Vegio doch lediglich Vergil verbessern, weil er den Eindruck gehabt hätte, er (Vergil) habe seine Aufgabe nicht erfolgreich genug ausgeführt. Vegio hätte also Vergil in dessen eigenem Sinne korrigiert - was wohl auch der Fall war. Man fragt sich bei derartigen Deutungen, was ein Autor überhaupt noch schreiben kann, ohne sofort dem Harvard-Lager zugeordnet zu werden. 59 56 Auch bei Lionardo Sah-iatis (1 540-1 587) Deutung der Aeneas-Figur, die Ka.IIendorf a.O. 45-47 bespricht, handelt es sich lediglich um eine von Aristoteies
inspirierte Kritik an der Uneinheitlichkeit der Charakterisierung. Auch hier richtet sich die Kritik gegen Vergil, dem es nicht gelingt, eine Figur durchgehend als mo ralisch einwandfrei zu zeichnen (übrigens kritisiert Salviati an dieser Stelle nicht etwa das Ende der Amtis, sondern die Verführung Didos). Wenn Salviati fest stellt, dass die Amtis kein eigentliches Ende habe, so sollen damit nicht Aeneas' Leistungen in Zweifel gezogen werden (a.o.), sondern Salviati beklagt hier - gut aristotelisch -, dass das Werk unvollendet ist. Auch die von Ka.IIendorf a.o. 48f. behandelte Stelle bei Antonio Possevino (1 533/ 1534-1 61 1) lässt sich nicht für die /wo IIOkes-Theorie vindizieren: Possevino lässt seine Dialogfigur im DiaJogo tkU'hoflon! sagen, dass Vergil das Ende geändert hätte, wenn er nicht so früh ge storben wäre. Vergil wird also auch hier gerade nicht eine zweite voice unterstellt. Das Ende der Amtis bedeutet keine "Bedrohung für die optimistische Lesart der Aeneis" (48, im Original englisch), sondern für die Kohärenz des Textes. Ka.IIendorf übernimmt hier übrigens die Interpretation von Laura Scancarelli Seem: "The limits of chivalry. Tasso and the end of the Ameitl', Comparative Li terature 42, 1 990, 1 1 6-1 25, hier 1 1 6- 1 1 8. 57 Ka.IIendorf a.O. 38 (im Original englisch). 58 Ka.IIendorf a.O. 4 1 f. Dieselbe Ansicht findet sich bei Thomas, 2001 (wie Fußn. 42), 279-284. Richtig verweist dagegen Oerte!, 2001 (wie Fußn. 37) , hier 204, da rauf, dass Vegios Interpretation "aus der Tradition und dem Zeitgeist vorgege ben" war. 59 Ebenso wenig überzeugt Kallendorfs Lesart von Giulio Cesare Stellas Coilimbtis (1 1 585, 21589) in seinem Aufsatz von 2003 (vgl. Fußn. 7). Auch hier sind die jur ther lIOices, die Kallendorf entdecken will, nichts anderes als nachvollziehbare Dar stellungen der einzelnen Figuren, die dem tkCtJTllm der Charakterisierung folgen. Auch hier - wie im Falle von Decembrio (s.u.) - sollte zudem die
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Ausführlicher hat sich Kallendorf mit der Sphortias des Francisco Filelfo (1 398- 1 471)60 beschäftigt.6l Dieses panegyrische Epos handelt von dem Condottiere und Mailänder Herzog Francesco Sforza (1 40 1 - 1 466), dem Begründer des gleichnamigen Herrschergeschlechts. Nach dem Tode des Herzogs Filippo Maria Visconti im Jahr 1 447 stützte sich die neugegrün dete Aurea Repubblica Ambrosiana zunächst auf die Hilfe des Condottie re, um sich gegen Venedig zur Wehr setzen zu können. Sforza wechselte jedoch bald die Seiten und machte sich 1 450 zum Herzog von Mailand. In diesem Jahr begann Filelfo mit seiner Sphortias,62 an der er etwa 30 Jahre seines Lebens gearbeitet hat. Das Werk war ursprünglich auf 1 6 Bücher geplant;63 die ersten vier wurden 1 455 veröffentlicht, 1 463 die Bücher 5-8.64 Die Tatsache, dass das Epos nie gedruckt wurde, führt Kallendorf darauf zurück, dass es nicht das erhoffte Publikum gefunden habe. Die Erklärung ist wohl einfacher: Zur Entstehungszeit der Sphortias steckte der Buchdruck noch in seinen Anfängen; zudem wurden damals vorzugsweise andere Textsorren gedruckt. Außerdem 'veröffentlichte' Filelfo das Werk vor allem dadurch, dass er im Laufe der etwa ein Vierrel-
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Unvollendetheit des Epos vor allzu weitgehenden Deutungen warnen. Ob die Änderungen von der ersten zur zweiten Auflage wirklich dazu dienen sollten, die weiteren Stimmen zum Schweigen zu bringen (Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 9f.), müsste man noch einmal gründlich prüfen. Natürlich kann man jede Ände rung tiefgründig a1L�deuten. Aber die von Kallendorf vorgebrachten Argumente haben zumindest mich nicht überzeugt. Die einschlägige I1teratur zu Filelfo findet sich bei Kallendorf (wie Fußn. 44); ergänzend sei die Odena1L�gabe von Diana M. Robin hinzugefügt (mit englischer Übersetzung, Cambridge 2(09). Die .l'phortifJ.f ist bis heute ungedruckt (Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 17), es existieren neun Handschriften (vgl. den überblick bei Kallendorf a.O. 228-230). Der genaue Inhalt des Epos muss uns hier nicht interessieren, eine knappe Zusammenfassung findet sich bei Kallendorf a.o. 50f. 57f. Eine Vorläuferin hatte Kallendorf in Diana M. Robin (Filelfo in Milan. Writings 1451-1477, Princeton 1991), die hier und da gewisse 'pessimistische' Tendenzen bei Filelfo entdecken wollte, aber vor allem wegen dessen Brief an Ciriaco d'Ancona davor zurückschreckte: Filelfo bewege sich sozusagen gegen die Har vard school auf den traditionellen Bahnen eines Servi1L� oder Fulgentius (Robin a.o. 75). Parallel dazu arbeitete Filelfo an einer Biographie Sforzas mit dem TItel De vita et I'I!hus gestis rroncisci .l'phortiae offenbar wurde dieses Projekt aber nie konsequent in Angriff genommen, geschweige denn beendet (Kallendorf, 2007b [wie Fulin. 44], 22f.). Kallendorf a.o. 61 Fulin. 93. Filelfo änderte aber diesen Plan häufiger (a.O.). Kallendorf a.O. 50 und 57. Die Bücher 9-1 1 sind in einer einzigen Handschrift unvollsrändig auf uns gekommen (Kallendorf a.o. 61 Fußn. 93). -
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jahrhundert andauernden Arbeit einzelne Teile des Werkes an verschiede ne Herrscherhäuser verschickte. Aus diesem Grunde ist auch die Zahl der erhaltenen Handschriften (neun) relativ groß: Filelfo hat die .'lphortias als Specimen seines Könnens angesehen und daher sozusagen als Werbema terial an andere Herrscher versandt, um sie als Patrone zu gewinnen.65 Sforza selbst hat sich offenbar nie sonderlich für das Epos interessiert, worüber sich Filelfo auch beklagt hat.66 Kallendorf gesteht - als einer der besten Kenner der Materie - zwar zu, dass es in Filelfos Epoche üblich war, die Aeneis als enkomiastisches Gedicht zu lesen.67 Die Grundlage seiner Interpretation bildet aber die Annahme, dass Filelfo Vergils Epos anders auffasste: er habe "weit mehr Ambiguitäten in Vergils moralischer Welt entdeckt als die meisten seiner Zeitgenossen".68 Zu diesem Schluss gelangt Kallendorf, indem er die .'lphorlias nach der folgenden Methode analysiert (S. 50-66) : Er sucht nach moralischen Grauzonen, nach Stellen, an denen ein Schatten auf den (nach dem Vorbild des Aeneas gestalteten)69 Helden fäll t, und schließt daraus, dass diese Charakterzeichnung von Filelfos pessimistischer Aeneis Deutung beeinflusst sei.7U Kallendorfs negative Interpretationen von Sfor zas Charakter sind kaum überzeugend, soweit ich dies allein aufgrund seiner Ausführungen nachzuvollziehen vermag.71 Aber selbst wenn sie zuträfen, würde dies noch lange nicht bedeuten, dass Filelfo in diesem Punkt die dunkle Seite der Aeneir imitiert. Es könnte sich auch lediglich um eine Kontrastimitation handeln. Kallendorf führt die ablehnenden Reaktionen der verschiedenen Herrscher gegenüber der Sphortias auf diese "Samen des Widerstands" (S. 63) zurück. 72 Sollte Filelfo, der dringend Patronage nötig hatte, wirklich so ungeschickt gewesen sein, diese "Samen" der Rebellion absichtlich in 65 66 67 68 69 70
Kallendorf a.O. 25-27. Kallendorf a.O. 27f. Kallendorf a.O. 30-34. Kallendorf a.O. 35. (Zitat im Original englisch). Einige Beispiele bei Kallendorf a.o. 51 -53. Vgl. etwa Kallendorf a.o. 63: "These seeds [seil. of resistance1 came from anoth er way of seeing the Aentie/, as a critique of power evolving frorn the acknowled gement of failure". 71 Ironischerweise ist Kallendorfs Kapitel zur Sphortias eine ausgezeichnete Darstel lung von Filelfos Sforza-Lob! Filelfo arbeitet offenbar unter anderem mit der Opposition 'Sforza vs. seine Soldaten bzw. Untertanen', wobei letztere häufig von niederen Motiven getrieben werden. Diesen Gegensatz kann er übrigens kaum aus der Aeneis übernommen haben. 72 Zu den Gründen, die wohl in Wirklichkeit dahinter steckten, vgl. die bei Kallendorf a.O. 1 8-20 zitierten Zeugnisse von Zeitgenossen.
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seinem Gedicht zu verstecken, um so ein "dangerous poem" (a.O.) an potentielle Patrone zu verschicken, also an Männer, die vielleicht selbst gefeiert werden wollten? Alle diese Texte betrachtet Kallendorf als Beleg für die Existenz einer zweiten, einer alternativen Deutungstradition im italienischen Humanis mus, die aber die dominierende Interpretationsrichtung niemals zum Kampf um die Vorherrschaft herausgefordert habe; beide existierten vielmehr in einer "uneasy tension" nebeneinander73 - gewissermaßen eine Rückprojektion der derzeitigen Forschungslandschaft. Wie lässt sich Kallendorfs Vorgehensweise bei der Interpretation der ein zelnen angeblich pessimistischen Passagen beschreiben? Kallendorf legt zunächst eine Interpretationskoine zugrunde, die er auf den Nenner bringt, dass man Aeneas als moralisch vollkommenen Helden angesehen habe (was bereits eine Verkürzung ist); in einem zweiten Schritt wird so dann festgestellt, dass der behandelte Autor (Filelfo, Petrarca usw.) von diesem Konsens abweiche. Daraus wird letztendlich der Schluss gezogen, dass wir es mit einem "anderen Vergil" zu tun haben. Setzen wir einmal (zu Unrecht!) voraus, dass Aeneas ansonsten als vollkommen makelloser Held gedeutet würde, so ist Kallendorfs Schluss insofern korrekt, als die 'anderen' Interpretationen von dieser Deutung zweifelsohne abweichen würden. Aber: Diese Abweichungen fallen nicht unter die /wo tJoices Theorie. Eine derartige weitergehende, oben als 'ideologisch' bezeichnete Interpretation müsste vom Autor deutlich vorgetragen werden oder sich in mehreren Passagen verifizieren lassen. Beides ist aber in den behandel ten Texten gerade nicht der Fall. Sonja Eckmann hat in einem verdienstvollen Aufsatz das kurze Aeneis Supplement des Pier Candido Decembrio textkritisch herausgegeben und kommentiert sowie die Frage gestellt, ob diese Ergänzung des vergilischen Epos vielleicht die pessimistische Stimme der Aeneis darstellen könne.74 Eckmann geht es im Gegensatz zu Kallendorf nicht um den Nachweis, dass Decembrio eine zweite Stimme in Vergils Epos entdeckt habe (das scheint sie als gegeben vorauszusetzen). Vielmehr stellt in ihrer Deutung das Supplement selbst die konsequente pessimis tische Ergänzung der Aeneis dar, das sein Vorbild gewissermaßen "dekonstruiere" und einen ,,Affront" gegenüber Vergil darstelle.75 Decembrios Supplement ist laut 73 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 49f. 74 Eckmann, 2002 (wie f'ußn. 36). 7:; Beide Ausdrücke auf S. 65 des Aufsatzes.
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Eckmann eine Reaktion auf Vergils ambivalente Darstellungsweise.76 In dieser Interpretation greift Decembrios Text "die mahnende, pazifistische second voice der Amei!' auf und stellt die Kehrseite des Ruhmes dar (S. 71). Im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren begann Pier Candido Decembrio (1 399-1 477) mit der Abfassung einer Fortführung der Aeneis,77 von der aber lediglich 89 Verse erhalten sind; ob der Rest verloren ist oder Decembrio selber das Projekt aufgegeben hat, lässt sich nicht mehr eruie ren.7R Da es bei dieser wie auch immer zu erklärenden fragmentarischen Überlieferungslage natürlich problematisch ist, eine Tendenz feststellen zu wollen, kann man allenfalls unter einem gewissen Vorbehalt Vermutungen äußern. So schließt Eckmann aus der Tatsache, dass Decembrio nach dem Tod des Turnus die Situation bei den Latinern, also den Verlierern - und nicht etwa die Freude der Sieger - darstellt, dass das Supplement "damit einen kritischen Ansatz" vertrete.79 Nun beginnt der erhaltene Text mit der Schilderung des Latinus in Laurentum und endet mit den Begräbnis feierlichkeiten für Turnus: Woher wollen wir wissen, dass Decembrio nicht doch noch den Fokus auf das trojanische Lager gerichtet hätte? Das ist schon allein deshalb wahrscheinlich, weil das 1 3. Buch vermutlich den Umfang eines vergilischen Buches gehabt (also mindestens 700 Verse) und Decembrio wohl kaum ausschließlich Laurentum und Ardea als Schauplätze gewählt hätte. Eckmanns Behauptung, die Friedenszeit könne kaum der Inhalt des restlichen Buches gewesen sein, entbehrt jeglicher Grundlage - es sei denn, man leugnet grundsätzlich, dass es in literari schen Werken Peripetien und Meinungsänderungen der Protagonisten geben kann. Ebenso wenig kann man aus dem Eindruck der Unsicherheit, die die Latiner angesichts der Zukunftsaussichten überkommt, schließen, dass "ein negatives Licht auf die neuen trojanischen Herrscher" fallen solle.Ro 76 VgL Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 70f. 77 Der Titel lautet: PrincipiNIII libn decimi krrij I '.neidos sttffiai per P. CondidNIII Ado/e"enlelll (zitiert nach Eckmann, 2002 [wie Fußn. 36], 56; auch die anderen Decembrio-Zitate sind Eckmanns Aufsatz entnommen). 78 Eckmann äußert den Verdacht, dass Decembrio die Ameis Fortsetzung ..viel leicht aus Furcht vor der konsequenten Weiterfiihrung dieses anti-trojanischen Ansatzes" nicht zu Ende gefiihrt habe (S. 71). Welche konkreten Konsequenzen Decembrio zu befürchten gehabt hätte (wenn ihre Interpretation zuträfe), erläu tert Eckmann nicht. 79 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 61. 80 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 63. Latinus' Au..�ruf sNb qNO dN&e pe1J!itis? (v. 54) zielt wohl nicht auf Aeneas, wie Eckmanns Deutung nahe legt, sondern auf einen Führer aus den eigenen Reihen, wie aus dem Kontext hervorgeht. -
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Auch hier hinge die Interpretation von der Schilderung der weiteren Er eignisse ab.81 Aus 89 Versen zudem eine ganze forlllna-Konzeption Decembrios ab zuleiten, die zudem die "deterministische Fatum-Ideologie der Aeneis"82 dekonstruieren soll, ist zumindest gewagt.83 Hinzu kommt, dass der Aus druck fortuna in der Rede des Latinus fall t (v. 29f. und 42-46). Eckmann sieht umgekehrt gerade in der Tatsache, dass es sich um Worte einer Figur des Epos handelt, eine Bestätigung ihrer Destruktionsthese,84 da der Kö nig das Verhalten der Trojaner als einen aggressiven Akt auffasse (S. 68) .85 Auch hier gilt wieder, dass jede Interpretation zu weit führen muss, die das Ende dieses Fragments nicht berücksichtigt - das wir nicht kennen können. Eckmann deutet überhaupt jede positive Erwähnung der Latiner in eine Kritik an den Trojanern um. 86 Wie schon ausgeführt, ist es nicht wei ter auffalJig, wenn VergiI beide Seiten zu gleichen Teilen berücksichtigt und hierin das deCOT'llm bei der Charakterzeichnung wahrt.87 Insgesamt muss man leider resümieren, dass Eckmanns anregender Inter pretationsvorschlag kaum aufrecht erhalten werden kann , vor allem des wegen, weil es auch hier, angesichts von nur 89 Versen, schwer fallen dürfte, eine übergeordnete Interpretationslinie zu finden, die sich aus der
81 Es ist zunächst auffallend, dass in Decembrios Darstellung der Krieg noch anzu dauern scheint und Latinus beispielsweise den Terminus hostes für die Trojaner verwendet. Ahnlich hat aber auch Jan van Foreest (1 586-1651) seine Aeneis Fortsetzung (die hxtquiat Tu",i, entstanden am Ende der vierziger Jahre) gebaut Nach einigen retardierenden Momenten steht am Ende des 1 4. Buches der Frie densschluss (Oettel, 2001 [wie Fußn. 37], 62-64). 82 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 65. 83 Bei Eckmann a.O. ist auf S. 68 von einer "Fortuna-Philosophie" die Rede, "die 84 85 86 87
zugleich ein Anti-Fatum-Konzept repräsentiert" und sich so "kontraproduktiy auf die teleologische Struktur der Aeneis" auswirke. Vgl. Eckmann a.O. 68: "dieser pessimistische, ja destruktiye Ansatz Decembrios" (vgl. auch S. 71). Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass VergiI die Absicht der Trojaner, sich in Italien niederzulassen damit legitimiert, dass ihr Urahn Datdanu� von dott stammen soll (Verg. Aen. 3,1 67). Vgl. etwa Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 62. So ist es etwa kein ,,Affront gegen die yergilische Ideologie" (Eckmann a.O. 65), wenn Latinus die /fila der Trojaner als injanda bezeichnet (Y. 30f.; dazu Eckmann a.o. 64-69). Hier spricht eine Figur des Epos, und eine Figutentede ist zunächst einmal anders ZU interpretieren als die Erzählerrede.
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positiven oder empathischen Darstellung der Latiner und Rutuler ergeben würde. Fassen wir die Ergebnisse aus der Behandlung der vorgestellten Interpre tationen zus ammen: Nirgends gelingt Kallendorf oder Eckmann der Nachweis, dass die negative oder ambivalente Darstellung der Trojaner oder die positiv-empathische Zeichnung ihrer Kriegsgegner in den ent sprechenden Texten wirklich auf eine bestimmte ideologische Ausdeutung der Aeneir hinweisen würde. Natürlich sind längst nicht alle frühneuzeitli chen Texte zu Vergil und seiner Nachahmung gesichtet worden und es lässt sich nicht ausschließen, dass sich irgendwo ein Vorläufer der Harvardianer finden lässt. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine solche Trouvaille wohl eher gering zu veranschlagen,88 und zwar gerade wegen des damaligen Interpretationsklimas, wie ich es einmal nennen möchte.89 Antike Dichtung wurde in der frühen Neuzeit vor allem als private Lektüre, zur Kommentierung und als Objekt der Imitation gelesen. Im Gegensatz zu heute fehlte weitgehend eine intensive Auseinanderset zung zum Zwecke einer tieferen Interpretation, die über die von den anti ken Philologen zur Verfügung gestellten Kategorien und Interpretamente hinausging.9o Die einzige etablierte 'wissenschaftliche' Gattung, in der man sich mit den antiken Dichtern beschäftigte, der Kommentar, war - wie heute auch - nicht der geeignete Ort, um neue, revolutionäre Gesamtdeu tungen vorzutragen. Daher dürfen wir (was als These formuliert sei) ver muten, dass man die antiken Dichter sozusagen (um Sforza zu zitieren) bei ihrer "face meaning" nahm (es sei denn freilich, die antiken Kommen tatoren hätten anderes 'Wissen' tradiert). Vielleicht lässt sich des Weiteren spekulieren, dass neue Interpretationen, die den Text auf den Kopf zu stellen schienen, unter Umständen mit der zunehmenden Zahl monogra phischer Abhandlungen im 1 7. Jahrhundert aufgekommen sein könnten. Wegweisend könnte dabei eine ganz bestimmte Interpretationsmethode gewesen sei, nämlich die Anwendung des Logos eschematismenos (Oratio
88 Vgl. auch in diesem Band die Beiträge zur Vergilimitation von Nikolau.. Thurn und l\Iarkus Schauer. 89 \Xremer Suerbaum hat in ähnlicher Weise von dem "emotionellen Klima" der augusteischen Zeit gesprochen, einem Klima gläubiger Augu..tu.werehrung (Suerbaum 1 993 [wie Fußn.38], hier 385). 90 Der Verfasser hat versucht, dies für die Deutung von Lucans Pharsalia in der frühen Neuzeit zu zeigen (Sf)'lus Lucani. Jesuitische Lukan-Rezeption im 1 7. Jahr hundert, in: Christine Walde [Hg.] : Lucans Bel/11m Civile. Studien zum Spektrum seiner Rezeption von der Antike bis ins 1 9. Jahrhundert, Trier 2009, 275-313).
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ftgllrata)91 auf die Dichtung92 - wie es etwa Daniel Heinsius im Falle der Horazischen Satire exerziert hat.93 Wohl nicht von ungefähr verwendete ja auch Sforzas Aeneir-Deutung (wenn auch sine /ittera) die figurierte Rede als Deutungsinstrurnent. Würde diese Hypothese zutreffen, so könnte die Anwendung des Logos eschematismenos auf literarische Texte als Intetpretati onsmethode der Auslöser für einen Paradigmenwechsel gewesen sein bereits vor Sforza und Parry.
91 VgL Fußn. 1 5. 92 Natürlich könnte auch eine Anwendung der Allegorese (etwa indem man den Aeneas der Schlussszene auf Augustus deutete) zur two lIO;ctS-Theorie führen. 93 Für Heinsius ist die sokratische Verstellung, die er mit der Ironie und dem Logos eschematismenos gleichsetzt, der Kern der horazischen Satire (Daniel Heinsius: Q. Horatii Flacci opera. Cum animaduersionibus et notis [ . . . ], Leiden 1612, p. 93f.).
Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren . . . Bcispiele neuzcitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils·
GERHARD BINDER (Bochum) Gern hätte ich dem Jubilar auf diesen wenigen Seiten noch einmal erläu tert, wie ich meinen früheren Versuch einer Deutung der 4. Ekloge ver standen wissen wollte.! Der aktuelle Anlaß und der thematische Rahmen läßt mich dieses Vorhaben - quod si vita suppeditet - auf ein noch weiter fortgeschrittenes Alter verschieben und - anders als Tacitus - die securior matma vorziehen, d.h. die Beschreibung einiger unterschiedlicher Beispiele der Rezeption dieses faszinierenden Gedichts in der Neuzeit. Dabei ver zichte ich auf Rezeption in Gestalt wissenschaftlicher oder religiös und ideologisch gefubter Deutungen der Ekloge Vergils und auf deren Aneig nung in Übersetzungen; auch Polemik gegen Vergils Vorstellung, wie sie etwa schon bei Lactantius begegnet,2 soll beiseite bleiben. Es geht viel mehr um Beispiele neuzeitlicher Eklogen oder anderer Dichtung, in denen gezielt auf das antike Modell zurückgegriffen wird, um das eigene Anlie gen bestmöglich zu transportieren: parallelisierend, kontrastierend, um deutend. Eine Ausnahme bildet das erste Beispiel, eine Sequenz aus Iacopo Sannazaros Kleinepos De partu Virginis, in der das Zitat aus Vergils Gedicht zugleich zu dessen christlicher Deutung wird. Es läge nahe, die einzelnen Rezeptionsfälle unter dem von Antonie WIosok in ähnlichem *
2
Die Angaben am rechten Rand längerer Origina1zitate und Übersetzungen bezie hen sich auf Musterverse der 4. Ekloge oder Elemente von solchen. Fehler und Ungenauigkeiten in den L"hersetzungen gehen zu Lasten des Verfassers. Gerhard Binder: "Lied der Parzen zur Geburt Octavians. Vergils vierte Ekloge", in: Gymnasium 90, 1 983, 102-122. (zusammengefaßt auch in: Bemd Effe I Ge rhard Binder: Antike Hirtendichtung, Düssddorf u.a. 2000, 69-74.); vgl. dazu Wemer Suerbaum: Vergils "Aeneis", Stuttgart 1 999, 31 8. Divinae Insnl1lnoner 7,24 und - indirekt - 5,5; vgl. dazu Stephen Benko: "Virgil's Fourth &logue in Christian Interpretation", in: ANRW 31 . 1 , 1980, 646-705 (dort S. 670f.).
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Gerhard Binder
Zusammenhang gebrauchten Begriff "Usurpation"3 zu fassen, doch wird der Ekloge Vergils als solcher in diesen poetischen Werken - anders als in gezielt christlichen Deutungen - keine Gewalt angetan. Auf zwei frühe Übersetzungen der Eklogen sei vorab wenigstens hin gewiesen, da sie zus ammen mit den ihnen beigegebenen Erläuterungen eine besonders in Frankreich beliebte zeitgenössische Ad�p tion - speziell auch der 4. Ekloge - vorbereiten. Die erste spanische Ubersetzung er schien 1 496, die Imitacion tk las EgJogas de Virgilio von Juan del Encina, einem bedeutenden Theaterautor. Er habe sich darum bemüht, erklärt der Übersetzer in den Vorreden, die vergilischen Gedichte auf Ereignisse am spanischen Hof zu beziehen: Dies geschah - mitunter in einfältigen Ver renkungen - in den ergänzenden "argumentos", während die Übersetzung selbst relativ originalnah gestaltet war. Das wiederkehrende goldene Zeit alter der 4. Ekloge meint die Herrschaft von Ferdinand und Isabella, das zu erwartende Kind ist der (damals bereits 1 8jährige) Infant Don Juan, deren einziger Sohn. Wie in der Bukolik neronischer Zeit ist alles bereits historische Realität. Ein anderes Beispiel bietet die französische Überset zung von Guillaume Michel de Tours aus dem Jahr 1 5 1 6 : Sie ist überaus fehlerhaft, und jeder Ekloge ist ein umfangreicher Kommentar mit Zitie rung älterer Interpretationen beigegeben. Michel treibt die Allegorese auf die Spitze, er vermutet hinter jedem Satz einen verborgenen Sinn. Die Beliebigkeit seiner Deutungen zeigt sich an der 4. Ekloge: Bis ins kleinste Detail wird das Gedicht erst auf den Sohn Pollios, sodann auf Octavian appliziert, um in der conclusio zu enden, alles passe eigentlich am besten aufJesus Christus.4
1. Iacopo S annazaro, Departu Virginis, lib. III , 1 504/ 1 526 Aus Sannazaros Alterswerk, den drei Büchern De paTIN Virginis, ist in sei ner langen Entstehungszeit ein meisterhaftes Epyllion geworden, das sich als epische Erzählung lesen läßt, in der dem Fortgang der äußeren Hand lung jeweils gleichberechtigte, das irdische Geschehen transzendierende
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Im Fall der 'Usurpation' der 4. Ekloge in c. 1 9-21 von Konstantins Oratio ad .\'ant1rJ1'II1II Coelulll (Eusebs Vita Constanlini beigefügt) handelt es sich um eine alle gorische christlich-messianische Deutung des vergilischen Gedichts selbst, vgl. Amonie Wlosok: "Zwei Beispiele frühchristlicher >Vergi1rezeption<. Polemik (Lact. div. inst. 5,10) und Usurpation (Or. Const. 19-21)", in: Viktor Pöschl (Hg.): 2000 Jahre Vergil, Wolfenbütteler Forschungen 24, 1 983, 63-86. In diesem Abschnitt stürze ich mich auf Mia I. Gerhardt: "Les premieres ttaductions des Bucoliques", in: Neophilologus 33, 1 949, 51 -56.
Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Ve tgils
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Berichte beigegeben sind."' Hierin spiegelt sich die malte epische Technik der Interaktion von menschlicher und göttlicher Handlungsebene. Zu gleich wird dem Leser jedoch ein episches Bild der christlichen Heilsge schichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und zur Weltherr schaft Christi geboten. In dieses Panorama fügt sich die Rezeption der 4. Ekloge im 3. Buch des Werkes. Den "Hirten auf dem Felde" wird - nach wie vor in epischem Stil dmch die personifizierte Laetitia und die "Menge der (dmchaus heidni schen) himmli schen Heerscharen" der Weg zur Gebmtshöhle gewiesen. Hier machen sich erstmalig bukolische Elemente bemerkbar (3, 1 3 1 -1 34):6 Primi illam sensere canes: sensere iacentes haedorum passim per dura cubilia matres: balatuque ovium valles sonuere propinquae, saxaque, et adtoniti caput erexere magistri. Zuerst bemerkten sie die Hunde; es bemerkten sie die allenthalben auf ihren harten Lagern ruhenden Mütter der Böckchen: Das Blöken der Schafe war von den nahegelegenen Tälern und Felsen zu hören, und die Hirten reckten ergriffen ihr Haupt. Anspielungen und Kurzzitate aus Vergils Eklogen häufen sich in den 65 Versen bis zum Beginn der großen, überwiegend aus wörtlichen Zitaten gestalteten Übernahme der 4. Ekloge:' Aus der Verteilung der Eklogen Zitate wird deutlich erkennbar, daß Sannazaro gezielt den Leser auf die Wiedergabe der 4. Ekloge einstimm t, zweifellos den dogmatischen Höhe punkt des Epyllions. In recht unvergilischer Weise zieht die Schar der Hirten gemeinsam zur Höhle; dort angekommen geben sie ihrer Freude mit Gesang und Tanz Ausdruck, sie schmücken den Eingang bezeichnen derweise mit Myrte vom Kultort der Venus und dem unheilabwehrenden
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Vgl. hierzu Jürgen Blänsdorf: ,.lVI/Da pnol7lm vestij!ja: Sannazaros Oe parlll VifJ!,inis und Vergil", in: Eckart Schäfer (Hg.): Sannazaro und die Augusteische Dichtung, NeoLatina 10, Tübingen 2006, 1 93-206. Speziellen Bezügen zur Aeneis sind in diesem Band die Beiträge von Tamara Visser �,Sannazaros Epos Oe parlll VifJ!,inis zwischen Lukas-Eyangelium und VergiI: Betrachtungen zur Episierungstechnik Sannazaros'') und Florian Schaffenrath ("Seestürme und Unterwelt.,fahrten bei Sannazaro? Verhinderte epische Motive in Sannazaros Oe parlll VifJ!,inis''), 207230, gewidmet. Die folgenden Texte nach der Ausgabe: Charles Fantazzi / Alessandro Perosa: Iacopo Sannazaro. Oe parlll VifJ!,iniJ, Firenze 1 988; vgl. Stefano Prandi: lacopo Sannazaro. TI parto della Vergine, Roma 2001 [mit Kommentar und Indices]. Insgesamt acht Anklänge und Zitate, im übrigen Buch 111 , das 513 Verse umfaßt, finden sich noch fünf; die Übernahme aus der 4. Ekloge umfaßt weitere 17 Zita te; dagegen erinnern nur 15 der 927 Verse der Bücher 1-11 an Vergils Eklogen.
Gerhard Binder
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Baccar.8 Nach einem kurzen Dialog mit Joseph (1 69f. bonus . . . senior, "der gütige Alte") ziehen die Hirten ordine longo (1 8 3, "in langer Reihe'') in die Höhle ein, begrüßen Maria und nehmen Aufstellung vor dem Pli"' Lycidas und Aegon, Hirtengestalten Vergils, bei ihm aber nicht gemeinsam auftre tend, sind gleichsam die Wortführer (194-1 96) : . . . hi non voce pares, non viribus aequis, inter adorantum choreas plaususque deorum, rustica septena modulantur carmina canna.9 . . . sie, nicht gleich im Gesang, nicht von gleicher Kraft, tragen unter dem Tanz der Anbetenden und den Beifallsbekundungen der Götter auf der siebenröhrigen Flöte melodisch ihr ländliches lied vor. In den Einleitungsversen wird das lied als Wiedergabe eines Carmen des Tityrus bezeichnet; dieser habe das kunstlose lied auf der abgenutzten Flöte verschmäht und deswegen "die eines römischen Konsuls würdigen Wälder besungen" (1 99 ceeinit dignas Romano consllie sil/Jas) . Damit und mit der Anrede alme puer ist die lange Reihe von Zitaten aus der 4. Ekloge vorbereitet, die hinsichtlich der literarischen Technik ähnlich wirkt wie die Wiedergabe jener Prophezeiung des Faunus in der 1 . Ekloge des Calpurnius Siculus, d.h. die Hirten singen kein eigenes lied (wie etwa Mopsus und Menalcas in Vergils 5. Ekloge), sondern bedienen sich einer fremden Autorität. Es folgt hier ungekürzt das "lied der Hirten Lycidas und Aegon" (Ve partu Virginis 200-232): 200
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"U1tima Cumaei venit iam carrninis aetas, magna per exactos renovantur saecula cursus; scilicet haec virgo, haec sunt Saturnia regna, haec nova progenies caelo descendit ab a1to, pmgenies per quam toto gens aurea mundo surget et in mediis palmes florebit aristis. Qua duce, siqua manent sceleris vestigia nostri irtita perpetua solvent forrnidine tetras
Bcl 4: 4 5 6 7 9 9 und 28 13 14
Vers 1 68, vgl. ecl. 4,1 9 C1/11I baccare. Mit /alt Idolia11l spa'll."nt . . . "!Yrt1Im ("weithin streuen sie idalische Myrte'� wird auf den zentralen kyprischen Kultort der Venus verwiesen: Ob der Gedanke des Lesers auch auf die in der Malerei zu Sannazaros Zeit übliche ikonographische Nähe zwischen Venus und Maria gelenkt werden sollte? Positiv formuliert ecl. 7,5 et cantare pans, Aen. 1 0,357 Versschluß viribus O4qllis (auch 431 , vgI. negativ 12,21 8 non viribus O4qllis). Wie schon in Vers 1 80f. (sive deliS C04Io /Ie1Iitns Stil forn deoru11l I nllntius, "ein Gott vom Himmel kommend oder viel leicht ein Bote der Götter'� schleicht sich auch hier (1 95 deoru11l) eine nichtchrist liche Reminiszenz ein.
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et vetitum magni pandetur limen Olympi; 1O occidet et serpens, miseros quae prima parentes e1usit, portentificis imbuta venenis. Tune deum vitam accipies divisque videbis permistos hetoas e t ipse videberis illis pacatumque reges patriis vinutibus orbem? Adspice felici diffusum lumine coelum camposque, fluviosque ipsasque in montibus herbas;" aspice, venturo laetentur ut omnia saeclo. Ipsae lacte domum refetent distenta capellae hubera nec magnos metuent armenta leones, agnaque per gladios ibit secura nocentes bisque superfusos setvabit tincta mbores. Interea tibi, parve Puer, munuscula prima contingent edetaeque intermixtique corymbi; ipsa tibi blandos fundent cunabula flores et durae quetcus sudabunt roscida mella; mella dabunt quercus, omnis fetet omnia tellus. At postquam firmata virum te fecerit aetas et tua iam totum notescent facta pet orbern., alter erit rum Tiphys et alteta quae vehat Argo delectos heroas; erunt etiam alteta bella: atque ingens Stygias ibis praedator ad undas. Incipe, parve puer, risu cognoscere mattem, cara dei soboles, magnum coeli incrementum."
24-25 24 15 16 n
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42-44 18 1 9-20 23 30 30 und 39 37 54 34 35 60 49
Übersetzung: 2fK.
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,Jetzt ist gekommen das letzte Zeitaltet des Liedes von Cumae Eel. 4: 4 ein großes Zeitalter etneuett sich in der Kreise Vollendung; 5 6 ja, dies ist die Jungfrau, dies die Herrschaft Satums, jetzt steigr ein neues Geschlecht von det Höhe des Himmel, herab, 7 ein Geschlecht, durch das auf der ganzen Welt eine goldene Menschheit 9 9 und 28 ersteht und inmitten des Ahrenfeldes der \1\reinstock erblüht. Unter seinet Führung wetden die Spuren unseres Frevels, falls solche noch sind, 1 3 14 wirkungslos und s o di e Welt aus dauemdet Angst lösen, die vetbotene Pforte des hohen Olympus wird sich auftun; stetben wird auch die Schlange, die zu Beginn die unglücklichen Eltern 24-25 24 vtneni narrte, behaftet mit unheilbringendem Gift. Wirst du nicht göttliches Leben empfangen, wirst im Kreis der Götter 1 5 16 die Hetoen schauen und selbst zu sehen sein bei ihnen
1 0 VgL ecl . 5,56 candidus insuftum miralNr limen O!pl1pi (" sttahlend bes taunt et die ihm noch ungewohnte Pforte des Olymps'') und Aen. 10,1 panditur interta domus omnipotentis O!ympi ( au ftut sich indes das Haus des allgewaltigen Olymps''). 1 1 Anspielungen auf Lukrez, De rtf71m natura 1 ,9 und nf. "
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Gerhard Binder und eine Welt lenken, befriedet durch die Tatkraft des Vaters? Sieh, wie der Himmel von glückseligem licht erhellt ist, die Fluren der Erde, die Flüsse und selbst die Wiesen auf den Bergen; sieh, wie sich alle s freut auf den bevorstehenden Anbruch dieses Zeitaltersl Von selbst werden prnll gefüll te Euter heimwärts tragen die Ziegen, und das Vieh wird nicht furchten mü.�sen gewaltige Löwen, und das Lämmchen wird furchtlos wandeln zwischen den schädigenden Messern und zweimal gefubt das Rot der Färbung bewahren. Indessen werden dir, kleiner Knabe, erste Geschenkchen zuteil, Efeugerank und dazwischen die Blütentrauben des Efeus; von selbst wird deine Wiege liebliche Blumen sprießen lassen, und aus harten Eichen wird Honig tropfen wie Tau; Honig werden geben die Eichen, jegliches Land wird jegliche Frucht tragen. Doch wenn das Alter gefestigt dich zum Mann gemacht hat und deine Taten bereits über den ganzen Erdkreis bekannt werden, wird es einen neuen Tiphys geben und eine neue Argo, dazu bestimmt, erlesene Helden zu tragen; auch neue Kriege wird es geben: und du wirst als mächtiger Beutemacher zu den Fluten des Styx hinabsteigen. Fang an, kleiner Knabe, mit einem Lachen die Mutter zu erkennen, teurer Sohn Gottes, herrliche Mehrung des Himmelreichs."
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Die Zahlen am rechten Rand zeigen, daß Sannazaro eine geschickte, in sich homogen, ja harmonisch wirkende Kompilation aus Versen der 4. Ekloge gdungen ist. Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die fol genden Verse (233-236): Talia dum referunt pastores, avia longe responsant nemora et voces ad sidera iactant intonsi montes; ipsae per confraga rupes, ipsa sonant arbusta: "Deu.�, deus ille, Menalca". Dies war das lied der Hirten: Weithin geben Antwort entlegene Waldungen und lassen ihren Ruf zu den Sternen erschallen die unberührten Bergwälder; selbst die Felsen durch ihre Gehölze hin, selbst die Gebüsche lassen ihren Ruf ertönen: "Gott, ja Gott ist er, Menalcas"J
Mit dem Zitat aus ecl. 5,62-64 bleibt die bukolische Atmosphäre erhalten: Die Natur feiert die Gottheit des Jesusknaben ebenso jubdnd wie den zu den Sternen erhobenen Daphnis.1 2 Unmittdbar danach wechsdt das Ge12 Geschickt ersetzt Sannazaro ipsae iam camnfla ntpes [ . . . ] sOfIafIt ("selbst die Felsen [lassen] ihre lieder [erklingen]" durch ipsa. per corrfraga ntper, das seltene c01lfraga verdient den Vorzug vor der Lesart Ioca coflcavtT, vielleicht handelt es sich um eine Statiusreminiszenz (Thtbais 4,494 ad confraga nlvae).
Beispide neuzeitlicher Andgnung der 4. Ekloge Vetgils
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dicht wieder in den epischen Stil: Die himmli schen Heerscharen treten in "Schlachtordnung" zwn Lobpreis des Schöpfers und der Schöpfung an (240f.) : Scilicet innocuis per sudum exemJus armis / ibat ovans: divisae ades ... �,mit harmlosen Waffen freilich zog triwnphierend das Heer durch die Hirnmdsregion: geteilte Kolonnen . . . '') . Das einschlägige Vokabular häuft sich.13 Die gdegentlich geäußerte Vermutung, es handde sich in den zitierten Versen 200-232 wn eine Art Cento,1 4 ist falsch; denn zum Wesen des Vergil-Cento gehört die Intention, mit (feil-)Versen aus Vergil ein neues Gedicht mit neuem Inhalt "zus ammenzuflicken", und gerade das will Sannazaro nicht. Im Gegenteil: Sannazaro beweist mit seinem ganz auf Jesus Christus zugeschnittenen, jeden Geheimnisses entblößten Zitat nicht nur die Richtigkeit der vergilischen Prophezeiung, sondern auch deren christlicher Deutung. Das Kind ist bereits geboren, das goldene Zeitalter der Geschichte ist in ihm der Menschheit bereits geschenkt. Diesem "Be weiszid" ordnet Sannazaro Auswahl und Adaption der Vergilverse konse quent unter: Er eliminiert weitestgehend nichtchristliche Elemente des Mythos und der Geschichte - z.B. Lucina und Apollo, den Adressaten Pollio, Troia und Achille s - und die für Vergils Gesamtwerk hochbedeut same Reflexion über die Taten des etwachsenen puer und seine eigene Dichtung am Ende der Ekloge.15 Nicht die Parzen singen von einem zu erwartenden Heilsbringer, sondern Tityrus-Vergil hat die Heilsbotschaft von Christus verkündet.
2. Clement Marot: IVe Eglogue, 1 544 Clement Marot, seit 1 5 1 9 Sekretär und Dichter am Hof der Herzogin Margarete von Navarra (M:arguerite de Navarre), gilt als der vidseitigste und bedeutendste Lyriker Frankreichs in der ersten Hälfte des 1 6. Jahr hunderts. Er stand dem Protestantismus nahe und war daher seit 1 526 vidfacher Verfolgung ausgesetzt, die ihn 1 534 nach Ferrara an den Hof der Herzogin Renata (Renee d'Este) fliehen ließ. Als er 1 536 dem Protes-
13 Allein in den Versen 237-247 finden sich: sonitus rn/dI'1l11l, 8:>anitus, dl71lfl, 0IJat'e, tJ&ies, agntintJ, ordines, beUU11I, phalangae, 11Iilos, cantpus; hingegen nur noch fünf, 2.T. vage Anklänge an die Eklogen in den Versen 248-513. 14 Vgl. 2.B. Abel Bourgery: "Les ßucoliqllos de Virgi1e clans la poesie moderne", in: REL 23, 1 945, 1 34-1 50 (dort 147). 15 Vgl. Reinhold F. Glei: "Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergi1", BAC 7, Trier 1 989, 90-92; Binder, 1 983 (wie Fußn. 1), 74-77.
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Gerhard Binder
tantismus abschwor, konnte er nach Frankreich an den Hof Ludwigs XII. zurückkehren. Seine berühmte Übersetzung der Psalmen, 1 542 wegen Häresieverdacht verboten, führte ihn erneut ins Exil, zunächst nach Genf, schließlich nach Savoyen und Turin, wo er 1 544 starb. Am Anfang seines ersten, 1 532 veröffentlichten Gedichtbandes L'A dolescence Climentine, ,Jugend(gedichte) des Clement (Marot)" - stand eine offenbar bereits ältere Übertragung der 1 . Ekloge: die erste Begeg nung mit Vergil, der Marot bis zu seinem Lebensende nicht losließ. 16 Marots 2. Ekloge entstand 1 535 noch am Hof von Ferrara und galt der bevorstehenden Geburt des dritten Kindes der Herzogin Renee. 17 Der Titelbegriff avant-naissance gilt als Übersetzung von "Genethliakon", der Bezeichnung für Vergils 4. Ekloge. Das Gedicht umfaßt 74 Verse, darun ter einen Hymnus auf die Renaissance und - in seiner ersten Fassung einen Lobpreis der Reformation. lft Anklänge an Vergils Ekloge sind sel ten, am deutlichsten in den Versen 6-8: Viens sans donner destresse cou.�tumiere A Ia Mere humble, en qui Dieu t'a fait naistre. Puys d'ung doulx ris commance a la cognoistre.
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Ecl. 4: 61 Komm, ohne deiner demütigen Mutter die übliche Not zu verursachen, in deren Leib dich Gott hat geboren werden lassen. Dann beginne, sie mit einem sülkn Lachen zu erkennen. 60 Wesentlich näher an Vergil bewegt sich Marot mit seiner 4. Ekloge vom Anfang des Jahres 1 544.19 Das Gedicht gilt der Geburt des späteren Kö nigs Fran�ois II (1 559-1 560), des Sohnes von Henri II und Katharina von Medici, der die beiden letzten Jahre seines Lebens mit Maria Stuart verhei ratet war. Das Gedicht ist nach der Geburt des Dauphin verfaßt. 20 Es als bloße Kopie der 4. Ekloge zu bezeichnen, wird ihm allerdings nicht ge-
16 Zu Marots "Virgilianism" vgl. Annabel M. Patterson: Pastoral and Ideology. Virgi1 to Valery, Oxford 1 988, 106-1 1 8 (Vergils und Marots 4. Ekloge erwähnt Patterson nur beiläufig S. 1 1 8). 17 Avont-naissance dll troiifesme enjJont t.k modome Renie, dttchesst de Ftmm, compose par Clement Marot, secretaire de ladicte dame, en juillet V·XXXVj , estant audict Ferrare: Oeuvres Iyriques LXXXVIII, Eglogue 11. 18 Vgl. Claude A. Mayer: Clement Marot, Paris 1972, 288-290. 19 Claude A. Mayer: "Eglogue sur la Naissance du filz de Monseigneur le Daulphin Composee par Clement Marot", in: Mayer (Hg): <Euvres Iyriques, London 1 964, XC, Eglogue IV (S. 354-359, mit Anmerkungen); vgl. Mayer, 1 972 (wie. Fußn. 1 8), 5 1 0-513 (mit vollständigem Text). 20 Wie auch - nach meiner These - Vergi1s 4. Ekloge weit nach der Geburt des Augustus, vgl. Fußn. 1 .
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Bei.pide neuzeitlicher Andgnung der 4. Ekloge Vetgils
recht,2 1 da die umfangreichen Anleihen bei Vergil nicht nur in anmutige Poesie übersetzt, sondern auch um viele eigene Zutaten erweitert sind.22 Die Ekloge beginnt mit einem auf den aktuellen Aufenthaltsort des Dichters (Chambery) anspielenden Musenanruf (V. 1): Cotifortez mf!Y, MlIses Savoisiennes (" Gebt mir Kraft, Musen aus Savoyen", vgl. ecl. 4,1 Sicilides Musae)! Marot bezeichnet sich als I'itiforlllne Befger (V. 5, "unglücklicher Schäfer"), sein Vorhaben als propos moins leger qlle ry tlevan/ (V. 6f., "gewich tiger als früher", vgl. ecl. 4,1 pOllIo maiora canamlls). Das von der cumäischen Sibylle prophezeite Zeitalter steht bevor (or sommes nOlls prochains du tlernier aage prophetize par Cllmane, Ia saige (V. 1 1 f., "nahe sind wir nun am letzten Zeitalter, das prophezeit ist durch die weise Cumäerin", vgl. ecl. 4,4), die Jungfrau Astraea wird in Kürze zurückkehren, die Herr schaft des Saturnus naht wieder (V. 1 5f., vgl. ecl. 4,6) . Während sich diese Verse eng an Vergil anlehnen, weicht Marot von der antiken Vorlage deut lich ab, wenn er Diana als göttliche Instanz nennt, die dem jüngst gebore nen Sohn des Endymion himmli schen Segen verlieh, jenem Kind, das der Welt ein Menschengeschlecht in Gold und Reinheit bescheren wird (V. 1 7-24). Philippa Berry vermutet - wie bereits Claude Albert Mayer23 - in ihrer feministischen Interpretation, daß sich hinter Diana die Herzogin Diane de Poitiers verbirgt, die seit 1 538 zunehmenden Einfluß auf Henri TI (Endymion) gewann.24 Marots geschickte Adaption der 4. Ekloge soll im folgenden an eini gen kurzen Beispielen verdeutlicht werden. Sehr nahe an Vergils Text, doch distanzierter klingend, sind Marots Verse über die sceleris vestigia nostri (V. 27-30) : E t s i I'on voit soubz Henry quelque reste De Ja malice aujourd'huy manifeste, Elle sera si foible & si estaincte Que plus de rien Ja terre n'aura craincte.
EcI. 4: 1 3 14
2 1 Mayer, 1972 (wie. Fußn. 18), 510: "une eglogue, entierement calquee sur la qua trieme eglogue de Virgi1e". 22 Marots Gedicht ist mit 1 00 Versen um ein Drittel länger als die 4. Ekloge, etwa die Hälfte bildet Vergi1verse nach oder lehnt sich eng an solche an. 23 Mayer, 1 964 (wie Fußn. 1 9), 356. 24 Philippa Berry: Of Chastity and Power. E1izabethan literature and the unmarried queen, London u.a 1 989, 48: "Ir is she [Diane], rather than the mother of Henri's son, Catherine de Medici, who is complemented in the poem. Marot associates the child's birth with the advent of a new golden age, and a1though the figure of Astraea is mentioned, it is Diane de Poitiers as the goddess Diana who is ac corded the role of chief ded-tx-lIIdchina." Vgl. auch ebd. S. 49f.
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Gerhard Binder
Und wenn man unter Henri einige Spuren sieht der heute noch handgreiflichen Bosheit, so wird sie doch so verblaßt und so erloschen sein, daß nichts auf Erden mehr in Angst leben muß.
Ecl. 4: 1 3 14
Die Erde bringt für das Kind wunderbare Pflanzen hervor nullo cultu entspricht sans culturtl venui:' Thymian, Kerbel, Klee und Trüffel. Ein drucksvoll ist die Übersetzung der Passage über die Tiere, den Tierfrieden und das assyrische Amomum mit einigen für die Leser der Zeit sicher willkommenen Ergänzungen 01. 39-44) : -
Le s Chev-res lors au logis reviendront Pleines de laict; les Brebis ne craindront Lyon ne 10/lp; I'herbe qui venin porte Et la Coleuv-re aux champs demourra motte; Et I'odorant Amome d'Assyrie Sera commun romme herbe deprairie.
Ecl. 4: 21 22 22/24 24 25
Die Ziegen werden zum Stall zurückkehren mit vollem Euter; die Lämmer werden nicht fürchten Löwe oder Wolf: das Giftkraut und die Viper auf dem Felde wird für immer tot sein; und das duftende Amomum aus Assvrien wird gewöhnlich wachsen wie Gras �uf der W"lese.
Ecl. 4: 21 22 22/24 24 25
Der inzwischen anerkannte, ja gefeierte Dichter Marot verzichtet nicht auf die Übertragung der poetischen Reflexion am Ende der 4. Ekloge, zumal er damit eine eigene bessere Zukunft in den Blick zu nehmen vermag, und beschließt seine Ekloge mit dem (schon in die 2. Ekloge übernommenen) "Lächeln für die Mutter" und einem kräftigen indirekten Lob des herr schenden Königs Fran<;ois 1 01. 89- 1 00): o si tant vivre en ce monde je peusse Qu'avant mourir loysir de chanter j'eusse Tes nobles faict2, ny Orpheus de Thrace, Ny Apollo, qui Orpheus efface, Ne me vaincroit, non pas Clio la belle, Ny le Dieu Pan & Syringue, y fust elle.
Or vy, Enfant, enfant bienheureuxl Donne a ta mere un doulx ris amoureux; D'un petit ris commence a la congnoistre. Et fay les jours multiplier & croistre De ton ayeul, le grand Berger de France, Qui en toy yoit renaistre son enfance.
Ecl. 4: 53 54 54/55 57 55 58/59 60
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Bei.pide neuzeitlicher Andgnung der 4. Ekloge Vetgils
o könnte ich doch so lang auf dieser Erde leben, um vor dem Tod Zeit zu haben zu besingen deine edlen Taten, nicht Orpheus aus Thrakien, nicht Apoll, der Orpheus übertrifft, würden tnich besiegen, nicht die schöne Clio noch der Gott Pan tnit der Syrinx, wäre sie zur Stelle.
Wohlan komm, Knabe, glückseliger Knabei Schenke deiner Mutter ein süßes Lachen deiner liebe; fang an, sie tnit einem Lächeln zu erkennenl
EeL 4: 53
54 54/55 57 55 58/59
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Und laß die Tage sich mehren und wachsen deines Großvaters, des großen Hirten Frankreichs, der in dir seine Kindheit wiedererstehen sieht. Keiner der Wünsche Marots ging in Erfüllung: Er selbst starb verbittert noch im Jahr 1 544, der "Großvater", König Frant,;ois I, im März 1 547, der Wiederbringer der goldenen Zeit, nach knapp eineinhalbjähriger Herr schaft im Dezember 1 560.
3. Pierre de Ronsard, Jean Le Blanc und andere Oement Marot kannte bei der leicht verfremdeten Übernahme der 4. Ekloge keine Hemmung, und nach ihm breitete sich das Verfahren wie eine Seuche aus: Marot könnte die Anregung von einem berühmten Vor gänger erhalten haben.25 Im Jahr 1 456 mußte Frant,;ois Villon nach dem berühmten Diebstahl im College de Navarre untertauchen. Er fand kurz zeitig Aufnahme am Hof seines Bewunderers, des sich ebenfalls poetisch betätipden Herzogs von Orleans, im Chateau Blois. Dort schrieb Villon die Epitre a Marie d'Orlians an die damals schon dreijährige Tochter des Herzogs und stellte die Eloge unter das vergilische Motto: lam nova proge nies caelo demittitur aJto (eel. 4,7: "nun wird ein neues Geschlecht entsandt aus den Höhen des Himmels"). Nur zwei Jahrzehnte nach Marot veröffentlichte Pierre de Ronsard seine Gedichtsammlung BUgies, mascarades et bergeries: Die 1 . Ekloge bezieht sich deutlich auf das vergilische Muster.26 Mehrere Gestalten, hinter denen sich unschwer Henri IH, Henri N, Frant,;ois d'Anjou, Marguerite de Navarre und Henri de Guise erkennen lassen, beweinen den Tod des "bon Henriot" (Henri H.), preisen Katharina von Medici und rühmen 25 Dies vermutet Bourgery, 1 945 (wie Fußn. 1 4), 146; vgI. allerdings schon die ein gangs erwähnte erste spanische C'bersetzung der Eklogen von 1496. 26 Gustave Cohen: (Euvres completes de Pierte de Ronsard, Paris 1 950, VoL 1, 917947.
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beider Sohn Carlin, den späteren Charles IX, als künftigen "grand pasteur de France". Die Parzen rufen Carlins Geburt, die schon über ein Jahr zehnt zurückliegt, in Erinnerung, überhäufen "das neugeborene Kind" mit Blwnen; sie künden von einer Übergangszeit, die noch Spuren des Eiser nen Zeitalters ttägt (offenbar sind damit die Religionskriege gemeint) : D'autres Tiphys naistront, qui, pleins de hardiesse, esliront par la France encore une jeunesse de Chevaliers errans dans Argon enfermez. Encores on voirra des Achilles armez combattte devant Troye, eoc. Neue Männer wie Tiphys werden hervortreten, die voll Kühnheit in Frankreich wieder eine Jugend erwählen werden von fahrenden Rittern, eingeschlossen in eine Argo. Erneut wird man Männer wie Achilles in Waffen vor Troia kämpfen sehen, ll.'!W.
Bel. 4: 34 34/35 36
Ecl. 4: 34 34/35 36
Nach dieser noch schrecklichen Zeit der Kriege wird Carlin (Charles) homme entier et paifaict (ecl. 4,37: "wenn das Alter gefestigt dich zwn Mann gemacht hat'') - das Goldene Zeitalter zurückbringen: et tout ce qui depend du vieil Siede ferre s'enfuira, donnant place au bel age dore.27 und alles, was noch aus dem alten eisernen Zeitalter stammt, wird sich verflüchtigen und Platz machen der schönen goldenen Zeit
Ecl. 4: 8/9 9 Ecl. 4: 8/9 9
Das antike Wdtbild schimmert durch in dem anschließenden Vers: Les hommes revoifTOnt /es Dieux venir au tem (" die Menschheit wird die Götter zur Erde zurückkehren sehen''). Die neue aurea aetas wird ganz in vergilischen Bildern ausgemalt: das Ende der Seefahrt, die Erde, die sans soin (nuilo cultu) jegliche Frucht bringt, die in der Wolle gefärbten Schafe. Ronsards Vision wurde nicht Realität: CharJes IX war unter dem Einfluß seiner Mutter ein schwacher Regent (1 560-1 574), der sdbst in das Massaker der Bartholo mäusnacht einwilligte. Die panegyrische Farnilientradition wurde in den an Heinrich N. (Henri IV) gerichteten Herrscherepen, den wn 1 600 entstehenden Henriaden, fortgeführt. Nur eines dieser Versepen, die Henriade von Jean le Blanc, deren 1 . Buch 1 604 als Fragment erschien, behanddt auch die Ge burt des späteren Königs. Agnes Becherer hat den Versuch unternom men, aus dem Fragment "die Stilisierung und Überhöhung Heinrichs N. 27 Beide Zitate 934; vgl. Verg. ed 4,34-37.
Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vetgils
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zum
providentiellen nascens pllcr ZU erarbeiten".28 Sie spricht dabei vorsich tig von interpretatorischer Annäherung der epischen Geburtsgeschichte an Vergils 4. Ekloge und sieht in Ronsards 1 . Ekloge das Bindeglied.29 Viele Szenen des Fragments sind ohne Beziehung zur 4. Ekloge: z.B. das Gebet der Königin von Navarra, Jeanne d'Albret, zu Jupiter, er möge ihren Kindetwunsch erfüllen; die Übergabe des von den Parzen gespon nenen Lebensfadens an die werdende Mutter; die linderung der Geburts schmerzen durch einen von Jupiter gesandten Tiefschlaf (der auch die rachsüchtige Juno überkommt); die in allegorischem Reigen dem Kind huldigenden festlich geschmückten Flüsse. Andere Bilder halten sich hin gegen nah an Vergil: z.B. die Widder mit buntem Fell und goldenen Hör nern und die Kühe in Begleitung von Löwen und Wölfen, mit purpurfar bener Haut und vollen Eutern. Die Musen künden vom Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters, der an die Geburt Heinrichs IV. geknüpft ist, während die davor liegende Zeit durch die Religionskriege geprägt ist. Ohne jeden Zweifel steht die Geburtsgeschichte in Jean le Blancs Premier livre de Ja Henriade gedanklich der 4. Ekloge nahe, allerdings ist ebenso deutlich, daß der Dichter das wörtliche Zitat meidet. Wir bleiben beim Haus der Bourbonen und werfen einen Blick auf den Philosophen und Politiker Tommaso Campanella, der sich zeit seines Lebens (1 568-1 639) - mehrfach der Häresie bezichtigt - Schikanen, Be drohungen und Verhaftungen ausgesetzt sah. In den wenigen ruhigeren römischen Jahren nach seiner Rehabilitierung 1 629 vertrat Campanella die Interessen des französischen Königs Louis XIII, dessen Politik ihm rich tungweisend für den Katholizismus erschien. Die erneute Flucht 1 634 nun wegen des Vorwurfs der Verschwörung gegen die Spanier - führte Campanella schließlich auf Umwegen nach Paris und dort in die Nähe des Königs. In der ihm verbleibenden Zeit schrieb Campanella mehrere um fangreiche philosophisch-naturwissenschaftliche Werke und - auf Verlan gen des Hofes - ein Horoskop zur Geburt des späteren Königs Louis XIV in Form einer Ekloge. Mit dem Gedicht aus dem Jahr 1 638 - es um faßt 250 Hexameter und knüpft direkt an die 4. Ekloge an - erweist sich Campanella als Nachzügler der lateinischen Eklogendichtung: Bcloga in Principis Galliamm Delphini Admirandam Nativitalcm Vaticiniis cf Divinis cl Hllmanis Cclcberrimam. Es beginnt - auf Ennius anspielend - mit den Ver sen:10
28 Agnes Becherer: Das Bild Heinrichs IV. (Henri Quarre) in der französischen Versepik (1 593-1613), Tübingen 1 996, 72-82 (Zitat auf Seite 72). 29 Becherer, 1996 (wie. Fußn. 28), 73f. 30 Giovanni Gentile (Hg.): T. Campanella. Poesie, Firenze 1 938, 21 1 .
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Pierides Calabrae, quae lactavere Maronem, me senio spolient, iubeantque redire iuventam magna sonaturo. Redeunt Saturnia regna, et nova progenies coelo demittitur alto, vatum ut praedixit sanctum ac venerabile cannen . . .
EeI.
4: 1 (53) 6 7 4
Möchten doch die Musen Calabriens, die einstmals ]l.Iaro säugten, mich von der Schwäche des Alters befreien, Befehl erteilen, daß die Jugend zurückkehre mir, der ich Großes zu rühmen gedenke. Es kehrt zurück die Herrschaft Satums, und ein neues Geschlecht wird zur Erde gesandt von den Höhen des Himmels, wie es verkündet hat das heilige, ehrwürdige Lied der Prophetinnen . . 31 .
Der Sonnenkörug wurde am 5. September 1 638 geboren (Campanella angeblich am gleichen Tag 1 568, V. 24, Ennius oder - wahrscheinlicher Lukrez zitierend: qua die ego nalus, venisti in luminis oras) und immerhin ist seine Hettschaft als "Grand siede" Frankreichs in die Geschichte einge gangen. Der beflissene Houdar de la Motte nahm sich schließlich Jahr zehnte später, am Beginn des 1 8. Jahrhunderts, der Geburt des Urenkels an, des späteren Louis XV.32 Abel Bourgery schließt seine Sätze über die Rezeption der Eklogen mit harten Wotten: "Les imitateurs, sot betail, suivent en vrais moutons le pasteur de Mantoue. En depit des innom brables imitations de Theocrite, Virgile a fait preuve d'une profonde origi nalite; ses imitateurs, point. [ . . . ] Ceux qui ont utilise l'eglogue IV ou l'eglogue V les ont depouillees de cet element mysterieux qui en est l'un des charmes; et leur imitation va parfois jusqu'a l'absurde."33
31 Campanella zitiert (V. 50) ecl. 4,60 und erweitert die Aufforderung (V. 53): incipr, parve puer, risu co.gnoscere pamm; selbst der kluge Ratgeber Ludwigs XIV. fehlt nicht (V. 67): at SU11lmi reJ!is Richelieusjidus Achatrs. 32 VgL Bourgery, 1945 (wie Fußn. 1 4), 146, der auch auf die - ebenfalls an der 4. Ekloge orientierte und von Voltaire im Dictionnaire philosophiqur (im Artikel Unthounasmr) zitierte - Odt sur Ia naissance du duc dt Jireta,gne von Jean-Baptiste Rousseau verweist "OU suis-je? quel nouveau rniracle / tient encore mes sens enchantes? / Quel vaste, quel pompeux spectacle / frappe mes yeux epouvantes? / Ln nouveau monde "ient d'eclore / l'univers se reforme encore / dans les abimes du chaos; et pour reparer ses ruines, / je vois des demeures divines / descendre un peuple de heros." 33 Bourgery, 1 945 (wie Fußn. 14), 1 50.
Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils
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4. Zygmunt Krasmski: Morgengrauen, 1 843 Mit dem polnischen Gedicht Przcdiwit verlassen wir die auf den künftigen Herrscher orientierte Adaption der 4. Ekloge, und es ist sogar zweifelhaft, ob dieses Gedicht noch unter dem Stichwort 'Rezeption' einzuordnen ist. Die den Hauptteil bestimmende Vision hat der Dichter unter das Motto der ultima aetas, der ,,letzten Weltzeit", gestellt. Das Motto mag einige Sät ze rechtfertigen, die sich auf sekundäre Literatur stützen;34 denn von Przcdiwit existiert keine deutsche Übersetzung.35 Das Gedicht wurde 1 843 anonym publiziert. Der Titel Przediwit bedeutet etwa 'vor dem Morgen grauen' oder 'Vor-Morgengrauen'.36
34 Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf Dirk Uffelmann: "Nationalstaat und Religion - direkt oder umgekehrt proportional? Die gespannte Historio sophie von Zygmunt Krasiitskis Pl':{fdfwif (1 843)", in: Schulze ]\Iartin Wtessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen ;\fitteleuropa 27, W"lesbaden 2oo6, 255-272 und einen Internet-Beitrag der Polonistin H. F1orynska-Lalewicz (http://www. culture.pl/de/ culturel artykulyI os_krasinski_ zygmunt). Uffelmann vertritt, wie der Titel des Aufsatzes andeutet, eine neue Deutung von Pl':{fdiwif, die NationaL.taat und Religion in parallel verlaufendem Fortschritt und zugleich in Diskontinuität sieht, d.h. staatlicher Niedergang be fördert religiösen Aufschwung. Er sieht den (auch von Florynska-Lalewicz für die Deutung gebrauchten) Begriff "Messianismus" kritisch. 35 Erschienen ist nach Auskunft von Uffelmann (wie Fußn. 34) nur die L1>erset zung von sieben Strophen, in: Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des Ersten Allgemeinen Beamten-Vereins 30, 1 881, 342f. Nach Ablieferung des ;\fanuskripts für diesen Beitrag [August 2oo8) wurde mir jetzt [Januar 201 0J eine polnische Ausgabe zugänglich: Pl':{fdfwil, hrsg. von Juljusz Kleiner, Krak6w 1 924. Dem Motto aus ecl. 4,4f. ist die Verheißung aus dem Missale Rnmanllm zur Seite gestellt: Hodie scietis, qllia veniet DominllS ef salvabit nos cl mane videbitis J!.loriam eills. Hinter grund von l'r.zediwit ist die Eroberung Polens durch russische Truppen 1 831 und die wenig später in Polen, besonders aber auch in Deut.chland, Frankreich, Schweiz, Italien durch Emigranten einsetzende Begeisterung für die Freiheit Po lens. 1'I':{fdiwit ist ein Manifest des politischen Messianismus. Im ersten, prosai schen Teil des Wterkes wird die Rolle Caesars betont: In der göttlichen Planung war Caesar die historische ,,Angel", seine politische Leistung Vorau.setzung für die Ausbreitung des Gotteswortes. Eine ähnliche historische Rolle wird Napo leon Bonaparte zugewiesen. Der zweite, poetische Teil von Pl':{fdfwit feiert be sonders die gronen ;\fänner der polnischen Geschichte und huldigt der Schwar zen Madonna aus Cz,<stochowa, mit deren Hilfe Polen ins erste Licht der "Mor gendämmerung" geführt wird. - Für diese Infortnationen danke ich den Freun den Tomasz Polanski und Jerz)' Styka, beide Krak6w. 36 Uffelmann bewertet den Neologismu. als programmatisch: Uffelmann, Dirk, 2006 (wie Fußn. 34), 256 und 271 f.
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Den Rahmen bildet die Bootsfahrt des Dichters mit seiner Harfe spielenden Geliebten (die mit Dantes Beatrice verglichen wird) durch eine Ideallandschaft. Die Deutung der zentralen Vision ist im einzelnen um stritten; vor allem das Verhältnis von (National-)Staat und Religion scheint widersprüchlich, da die positive Entwicklung beider Pole zum einen paral lel dargestellt ist, zum anderen die negative staatliche Entwicklung - kon kret: das Leid durch die Teilungen Polens - gerade als Ursprung einer religiösen Auferstehung gefeiert wird.37 Gleichwohl ist die vom Dichter intendierte generelle Aussage deutlich: Einheit bedeutet Stärke - staatliche Einheit, Einheit der Nation zeugt kulturelle, zeugt religiöse Einheit. Eine von außen erzwungene staatliche "Uneinheit", die Teilung, stärkt die inne re, die kulturelle, religiöse Einheit. "Die polnische Nation gilt Krasinski [ . . ] als privilegiertes Werkzeug der Vorsehung - und zwar gerade in und wegen der politischen Teilung."38 Zygmunt Krasmski fuhrt den Gedanken Adam Mickiewiczs von einer messianischen Mission der polnischen Nation weiter, deren Bestimmung es ist, als "Tochter Gottes" der Menschheit in eine christliche Zukunft voranzugehen. Ein neues Zeitalter, die ultima aelas, ist angebrochen. .
5. Waldttaut Lewin: Die stillen Römer, 1 979 Werke antiker Autoren wurden in der literatur der DDR intensiver rezi piert als in der literatur der Bundesrepublik. 39 Sicher war der starke Ein fluß Brechts, sicher das Erbe der Klassiker des Sozialismus dafür mitver antwortlich; vielleicht hat gerade die starke Beschränkung der antiken Überlieferung im Schul- und Universitätsbetrieb das Zurückgreifen auf eben diese befördert, vielleicht haben DDR-Autoren im Zitieren und Adaptieren antiker literatur eine Möglichkeit gesehen, gleichsam ver schlüsselt unerläßliche Bot.�chaften in die Gegenwart zu transportieren. Anders als in Heiner Müllers Germania Tod in Berlin (s. unten) ist im Ro-
37 In Uffelmanns Worten: direkt oder umgekehrt proportional (vgl. Fußn. 34). 38 Uffelmann, 2006. (wie. Fußn. 34), 264. 39 Vgl. Volker Riedel: Antikerezeption in der Uteratur der Deutschen Demokrati schen Republik, Berlin 1 984 (Veröffentlichung der Akademie der Künste der DDR); Bemd Seidensticker: "DDR", �:P 1 3, 1 999, Sp. 681 -699 (zur Uteratur dort Sp. 689ff.); Peter Habermehl/ Bemd Seidensticker: "Deutschland", NP 13, 1 999, Sp. 822-828, Teil V, Abschnitt C 13l1ndempllblik [beide Art. mit reicher Ute ratur] .
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Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vetgils
man Die stillen Römer von Waldtraut Lewin,4(1 einem Historienroman, von diesen immer wieder diskutierten Motiven wenig zu spüren. Dargestellt ist das schwere, gefahrenreiche Leben eines jungen, eltern losen Geschwisterpaares vom Land - Mamercus und Tabea - im Rom der augusteischen Zeit: Zu beiden gesellen sich nach und nach als tragende Romanfiguren ein Sklave Pamphilus und ein junger Mann namens Manius, ein verwöhnter Sohn aus dem begüterten Hause der Arruntii, sowie eine scheinbar stumme Frau, von der auch gesagt wird, sie sei ei gentlich eine Königin. Wie sich herausstellt, ist die "Königin" Mutter des Manius; sie war einst dem General Gaius Arruntius aus der Heimat, einer "Goldinsel" im Süden, nach Rom gefolgt. Manius ist nach dem frühen Tod des Vaters rechtmäßiger Erbe, die Mutter fristet - aus dem adligen Haus vertrieben - im Syrerviertel Roms ihr Leben mit dem Verkauf selbstgewebter Teppiche.41 Die genann ten Gestalten treffen sich im Laufe der Romanerzählung mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen. Manius, ein arroganter junger Römer mit lockeren Sitten, fühlt eines Tages einen politischen Auftrag, den er unter Einsatz seines Erbes in Lucanien zu realisieren gedenkt: Seine Kumpane verlachen ihn als "Volksbeglücker" der in Caesars Bürgerkrieg nahezu ausgerotteten Turden. Ehe sich Manius nach Verpfändung dreier Landgüter in den Sü den begibt, geht er ins Haus der "Königin", das in der verrufenen Hinte ren Arenagasse liegt. Der Beschreibung dieses Besuchs ist - schon gegen Ende des Romans - ein kurzes Teilkapitel mit dem Titel "Die lügenden Dichter"42 gewidmet. Manius fragt die "Königin", ob sie sich für Poesie interessiere; diese gibt sich weiter s tumm, "schüttelt den Kopf, aber ent mutigt Manius keineswegs". Dieser, als Redner unlängst zum neuen Cice ro ausgerufen, versucht, seine Begeisterung für die Botschaft der 4. Eklo ge Vergils auf die Gastgeberin zu übertragen. Er beginnt: Der Propheten Geschrei vom Ende der Zeiten verstummt nun, Ecl. 4: Denn aus ewiger Nacht quillt schon das wachsende Licht Neue Jahrhunderte blühn, und neue Götter erstehen. Keusche Mondgöttin du., sei du dem Kinde gewogen, Das geboren wird, zu erlösen aus Eiserner Zeit Und die Tage des Glanzes zu bringen den Menschengeschlechtern. Sieh, in ihm regiert dein Bruder, Gott alles Klaren.
(4) (5) 8/10 8/9 9 10
40 Waldtraut Lewin : Die stillen Römer, Berlin (Verlag Neues Leben) 1979 ('1 981);
diverse spätere Au..gaben. Der Roman ist letzter Teil einer Trilogie, zu der außer dem HelT LNdm und sein schwaT'!(!r Schwan und Die A'ztin t'on Ltkros gehören. 41 Ihre Geschichte erzählt die Königin dem Sklaven der Arruntii, Pamphilus, im zentralen Kapitel VI des Romans (S. 1 75-217 der Erstausgabe). 42 S. 279-281 .
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Nach kurzer Pause "falm er fort. Klangvolle Sprachbilder beschwören das neue Goldene Zeitalter herauf, die Einöde wird erhellt von goldenen Äh ren, der Krieg wird vergessen, die Wolle wächst farbig auf den Schafen, alles entsteht von selbst, ohne Mühen." Manius dekIamiert sich, am Ende ohne Manuskript, in einen Rausch hinein, die Frau immer fest im Blick, bis zu den Schlußversen: Komm, du liebliches Kind, erkenne die Jl.lutter arn Lächeln. Lange Monate hin trug sie geduldig viel Leid. Wem die Mutter nicht lacht, der ist nicht würdig der Ehren, Nicht des Tischs im Olymp und nicht des Bettes der Göttin.41
Ecl. 4: 60 61 62 63
Nach einer Weile des Schweigen.<; sagt die stumme Königin schließlich: "Ich interessiere mich nicht für Poesie. [ . . . ] Ich mißtraue großen Worten - und habe meine Gründe - und erst recht, was die meisten große Taten nen nen." Als Manius - "Zum Teufel mit der Poesie!" - sie auffordert, ihm in den Süden zu folgen, wehrt sie ab; doch nachdem er sich verabschiedet hat, "hebt sie die Rolle vom Boden auf. Lautlos, doch mit bewegten Lip pen, mit den Fingern die Hexameter abzählend, liest sie noch einmal die Ekloge mit großer Aufmerksamkeit, ehe sie das Blatt beiseite legt." Vermutlich zielt der Vortrag des "Volksbeglückers" Manius auf die ei gene, sich selbst auferlegte Mission, zumal ihm die einflußreichen Empor kömmlinge um Augustus suspekt sind. Auch die von der Autorin inten dierte Botschaft bleibt vage. Sie dürfte in der Überschrift "Die lügenden Dichter" und in den letzten Worten der "Königin" zum Ausdruck kom men, die der Ankündigung eines Goldenen Zeitalters mit Skepsis begeg net, sich der Wirkung der vergilischen Prophezeiung jedoch nicht zu ent ziehen vermag.
6. Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, 1971 Zwei große Szenen i n Heiner Müllers Drama Germania Tod in Berlin (1 956/ 1 97 1)44 tragen den Titel Hommage d Stalin 1 und 2. Beide einander
43 W'a1dttaut Lewin bietet eine eigen(artig)e Version des Textes: Die oben zuerst zitierte Passage wird man eher als Paraphrase oder Nachdichtung von ecl. 4,4-1 0 bezeichnen, ebenso einen (hier nicht zitierten) weiteren Abschnitt nach 4,49-52; hingegen bewegen sich die Schlußverse nahe am Original 4,60-63 (V. 62 mit der Lesart C1Ii non riJere parentes). 44 Eine Analyse des Stückes bietet Paul G. K1ussmann: "Heiner Müllers Ge171lania Tod in Berlin" , in: Wtalter Hinck(Hg.): Geschichte als Schau..piel. Deutsche Ge schicht.dramen - Interpretationen, Frankfurt a.1\-I. 1981 , 396-414; vg!. auch
Bei.pide neuzeitlicher Andgnung der 4. Ekloge Vetgils
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unmittelbar folgende Szenen sind verbunden durch das Grauen der Schlacht von Stalingrad: Hommage 1 spielt in Stalingrad - Caesar und Na poleon treten auf, nach eßbaren Leichenteilen suchend, die Nibelungen schlagen sich - unbelehrt und unbelehrbar - weiterhin gegenseitig tot; HOfllflag l e 2 läßt in einer Kneipe desillusionierte, kaputte Stalingradheimkehrer auf im Westen und Osten Berlins (an)schaffende Frauen und Männer treffen, deren Gespräche in spannungsreicher Ambi valenz unter anderem um Vor- und Nachteile des Kapitalismus und eines verheißenen Sozialismus kreisen. Den Höhepunkt dieser zweiten Szene bildet der bizarre Auftritt des sog. Schädelverkäufers.4s Der Mann bietet Menschenschädel an, gut abgekocht, und gelegentlich auch ganze Skelette: . . . Ein saubere s Exemplar. 18. J ahrhundert nach dem Grabstein. . . . Hier ist ge dacht worden, mein Herr, die Theodizee des großen Leibniz hatte Platz in diesem Hohlraum. Der Materialismus ist ein Irrtum, glauben sie mir.
Auf die Frage eines Kneipenbesuchers (des ,,Aktivisten'') - "Schlägst du die auch selber tot, Kollege?" - antwortet der Schädelverkäufer: Ich arbeite am Tiefbau. Sozusagen. Wir transportieren Friedhöfe unter Ausschluß der Ö ffentlichkeit. Umbetten, wie es in de r Sprache der Hinterbliebenen heißt. Ich bin ein Hinterbliebene r, ich bette um . UN D ER BLUOMEN UN DE GRAS. Wir arbei ten nachts. enter Alkohol, wegen der Infektionsgefahr. GRAUT UEBCHEN AeCH VOR TOTEN. Für mich eine Tätigkeit von einiger Pikante rie: Ich war Historiker. Ein Fehler in der Periodisierung, das Tausendjährige Reich, Sie verstehn. Seit mich die Geschichte an die Friedhöfe verwiesen hat, so zu.�agen auf ihren theologischen Aspekt, bin ich immun gegen das Leichengift der zeitlichen Verh eißung. Das goldene Zeitalter liegt hinter un.� . Jesus ist die Nachgeburt der Toten. Kennen Sie VetgiI?
(Der Schädelverkäufer rezitiert, Vergils Verse verfremdend) :46
Bemd Matzkowski: Erläuterungen zu Heiner Müll er Germania Tod in litrlin, Hollfeld 2000; Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 401 . 45 Die folgenden Zitate stützen sich auf das Programmbuch (Nr. 28) zur beeindru ckenden Auffiihrung im Schauspielhaus Bochum, Spielzeit 1 988/ 89, un ter der Regie von Frank-Patrick SteckeL 46 Heiner Müller hat sich offenbar an der Übertragung von Johann Heinrich Voß (Braunschweig 1 799), vielleicht zusätzlich der von WilheIm Binder (Stuttgart 1 861) orientiert und dem Schädelverkäufer eine eigen(wiIlig)e Kompilation von Versen der 4. Ekloge in den Mund gelegt: ecl. 4,7 + 8b/9a + 1 4b + 52 (+ 1 8-20) + 28-30 + 32 f. Merkwürdigerweise verraten weder Ma tzkowski noch K1ussmann (ein Kenner der pastoralen Dichtung; beide Fußn. 44) ihren Lesern, welch e Eklo ge VetgiIs Heiner Müller aufgegriffen, welche Verse er zitiert und welche Ü her uagung(en) er dafiir benutzt hat.
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SCHON ENTSTEIGT EIN NEUES GESCHLECHT DEI\I ERHABENEN HIMMEL SCHLIESST DIE EISERNE ZEIT UND BEFREIT VOM SCHRECKEN DIE LÄNDER SEHT \'\'1E ALLES ENTGEGEN AThIET DEM NEUEN JAHRHUNDERT Ü DAS GEFL GELT HERAUFKOMl\n MIT GESCHENKEN DER ERDE; A SANFT MIT HREN WIRD VON SELBER VERGOLDEN DIE FLUR SICH AUCH AM WILDERNDEN DORN V;1RD ROT AB HANGEN DIE TRAUBE AUS HARTSTAMIvII GEN EICHEN V;1E TAU V;1RD TROPFEN DER HONIG ZU VERSUCHEN DAS MEER IM GEBALK, ZC SCHIRMEN DIE STADT ;\ßT MAUERN, DEN GRL'ND i\UT DER FURCHE ZC SPALTEN IST DA KEI!\'E NOT I\mHR Der Wirt holt den Schädelverkäufer und die übrigen Kneipenbesu eher/innen in die triste Wirklichkeit zurück mit den Worten: "Herrschaf ten, heben Sie den Arsch von meinen Stühlen. Polizeistunde." Auch der Wirt kann sich nicht auf die "Gnade der späten Geburt" berufen. Ein betrunkener StaIingradheimkehrer, der grauenhafte Erlebnisse zum Besten gibt, belehrt ihn: "Ich war schon links als dein Lokal noch Sturmlokal war, braun mit Si\." Wenn Heiner Müller den Betrunkenen mit einem seiner ,Jungens", der jetzt Staatssekretär in einem DDR-Ministerium ist, zu s ammentreffen und im Suff den Kessel von Stalingrad nachzeichnen läßt, so zeigt er, "daß die deutsche Lust am Krieg(s)spielen auch in der DDR auf allen Ebenen der Gesellschaft noch lebendig ist und daß Stalins Erbe noch ebenso fortwirkt wie das der verschrotteten deutschen Helden".47
47 K1ussmann, 1 981 (wie Fußn. 44), 409. Dazu noch eine Bemerkung am Rande: Der Betrunkene schüttet, um die Suffszene zu demonstrieren, in der Kneipe Bier auf den Tisch: "Das ist die Wolga. Hier ist Stalingrad". Daß es sich in der Szene um bewußte Adaption von Tibußyersen handelt, ist wenig wahrscheinlich, aber
Beispide neuzeitlicher Andgnung der 4. Ekloge Vetgils
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Heiner Müller erweist sich auch in Germania Tod in Berlin nicht nur als Meister der ambivalenten Aussage, sondern auch als guter Kenner der antiken Poesie:48 Die Collagenfonn, die extreme Intertextualität eröffnen Deutungsspielräume.49 Paul Gerhard Klussmanns Deutung, der Schädel verkäufer fonnuliere in seinen Erzählungen, Zitaten und Reflexionen "des Autors Verzweiflung über die Lage in der DDR", das Zitat aus der 4. Ekloge sei aber zugleich "eine neue Verkündigung der Hoffnung auf zukünftige Veränderungen in der Zeit und in Deutschland" wird von Volker Riedel - vielleicht zu sicher - zurückgewiesen.5()
bei Heiner Müller nicht auszuschließen. Tibull äußert in seiner Elegie 1,10 seine Friedenssehnsucht in Bildern des Goldenen Zeitalters; er möchte nicht tauschen mit dem, der im Kampf die feindlichen Anfiihrer niederstrecken darf, "damit er mir beim Gelage seine Taten als Kriegsmann erzählen und auf dem Tisch mit Wein sein Lager einzeichnen kann" (1 ,1 0,30-32 sternat el at/omos MtJTtejavente duces, / 111 mim potanti possi! lila dktre jadtJ / miks et in mensa pingtre castra mero). VgI. dazu Verf.: "SAEVA PAX - Kriegs- und Friedenstexte", in: G. B. u.a. (Hgg.): Krieg und Frieden im Altertum, BAC 1 , Trier 1989, 21 9-245 (dort S. 233-237). 48 Vgl. dazu Volker RiedeI: ,,Antikerezeption in den Dramen Heiner Müllers", in: Gerhard Binder / Bernd Effe (Hgg.): Das antike Theater. Aspekte seiner Ge schichte, Rezeption und Aktualität, BAC 33, Trier 1 998, 345-384. 49 Im Hintergrund des "Dramas" steht natürlich die GermtJflia des Tacitu.� und deren Rezeption. Vgl. dazu Verf.: "Vom Schicksal einer Schicksalsschrift der Deut.�chen im 19. Jahrhundert" , in: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 26-47 (mit literatur). 50 K1ussmann, 1 981 (wie Fußn. 44), 409. Vgl. Riede!, 1 998 (wie Fußn. 48), 382, dort Fußn. 1 53; auf Germania Tod in Berlin geht Riedel S. 366 nur mit wenigen Worten ein.
Die Aeneas-Rolle des elegischen Helden Epische Inszenierung und dichterisches Selbstverständnis in Celtis'
Amores
CLAUDIA WIENER (München) Die vier Bücher Amores des Conrad Celtis unterscheiden sich von den antiken Vorbildern der Liebeselegie dadurch, dass sie nicht nur in Teilen zusammenhängende Liebesgeschichten erzählen, sondern kohärent nach Art einer Lebensreise angelegt sind. Ein im Titel wie im Holzschnittprogramm 1 kenntlich gemachtes Tetradenschema weist jedem Buch einen eigenen Lebensabschnitt (pueritia, adolescentia, iuventus, senectus) mit dem entsprechenden Temperament nach der Säftelehre, eine eigene Jahreszeit vom Frühling bis zum Winter und eine bestimmte Region Germaniens nach den vier Himmelsrichtungen mit einer jeweils neuen Lebensabschnittsgefährtin und ihren Lebensgewohn heiten in dieser Gegend zu. Man muss dabei betonen, dass es sich um eine Region "Germaniens", nicht Deutschlands, handelt, denn die antike Kar tographie, nämlich die ptolemäischen Pinakes, bestimmen die quattuor latera Germaniae, so dass das erste Buch im Osten des antiken Germaniens, näm lich in Krakau, spielt, während Buch II Regensburg mit Bayern und Timl in den Blick nimmt, Buch III Mainz und die Rheingegend, Buch N Lü beck und das Ostseegebiet. Die Holzschnitte zu den vier Elegienbüchern sind, unterstützt durch einen Rahmen von geographischen Längen- und Distanzangaben als Landkarten, gewissermaßen als ptolemäische Tafeln, für die jeweilige Region gestaltet, in deren Zentrum jeweiL� eine Stadt mit ihren markantesten Bauwerken erkennbar wiedergegeben ist. Die vielfälti gen Funktionen und vielschichtigen Bezüge dieser Liebeselegien in alle denkbaren Richtungen hat jüngst Jörg Robert in seiner Dissertation sicht bar gemacht, die den poetologischen Anspruch der Amores als National dichtung und ihre (nachträgliche) Adelung durch neuplatonischen Gehalt Vmfassend dazu Peter Luh: Kaiser Maximi1ian gewidmet. Die unvollendete \'Ilerkausgabe des Conrad Celris und ihre Holzschnitte, Frankfurt a.M. u.a. 2001 .
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umfassend behandelt2 Sogar das ptolemäische Tetradenschema wird un ter dem neuplatonischen Einfluss artifiziell auf den Holzschnitten und in einem Begleitgedicht des anlässlich der Kolleggründung zum poeta /aureallls gekrönten Longinus nachträglich zu einem Triadenbzw. Enneadenschema ausgeweitet; denn "zu Ehren der neun Musen" zeigt jeder der vier Holzschnitte in der oberen Rahmenleiste ein Novenarium, eine Sammlung von neun Kategorien, die allerdings inhaltliche Doppelun gen wie Temperament und Gesichtsfarbe, Jahreszeit- und Tageszeitangabe und ähnliche für den Buchinhalt nicht ernsthaft relevante Angaben ein führen muss. Die Kohärenz der Lebensreise in den vier Elegienbüchern wird durch autobiographische Bezugnahmen mit einer Teleologie versehen, die an das Ende der Irrfahrten des Wanderhumanisten knapp vor dem Tod auf ho her See (am 4,1 4) die Berufung zum Leiter des Collegium poetamm et mathematicomm an die Universität Wien durch Kaiser Maximilian stellt und den Dichter so in den Rang eines Lehrers der Jugend Deutschlands erhebt (am 4,1 5). Die demonstrative Ablehnung eines materiell gesicherten bür gerlichen Lebens zugunsten der rastlosen Forschertätigkeit eines Wander humanisten erweist sich durch den Erfolg (nachträglich?) als empfehlens wertes Ideal und adelt (rückwirkend?) auch die amourösen Abenteuer als unerlässliche Impulse und Erfahrungen auf der Suche nach einem höhe ren Lebenssinn. Eckart Schäfer, der als Herausgeber der vier Bücher Oden mit demsel ben Aufbau-Schema konfrontiert ist, hat auf der Grundlage der hand schriftlichen Überlieferung überzeugend ausgefiihrt,3 dass die für das Jahr .
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Jörg Rohert: Konmd Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstirution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003. Für die unterdessen stark angewachsene literatur zu Celtis' Leben und Werk darf ich hier verweisen auf Jörg Roherts Artikel: Jörg Rohert: "Celtis (Bi ekel, Pickel), Konrad (Conradus Celtis Protucius)", in: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1 480-1 520, 1 , 375-427. Die wichtigen Ergebnisse von Dieter Wuttkes jahrzehntelanger Entdeckertätigkeit zu Zeugnissen der Werkentstehung und Selbsrinszenierung sind gesammelt greifbar in: Dieter Wuttke: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, 2 Bde. Baden-Baden 1996. Eckart Schäfer: "Nachlese zur Odenedition des Conrad Celtis", in: Ulrike Auhagen u.a. (Hgg.): Horaz und Celtis, Tübingen 2000, 227-259. Der Beitrag ist weniger als Nachlese zu verstehen, sondern bildet die unverzichtbaren Prolego mena zur eben erschienenen Oden-Ausgabe: Eckart Schäfer (Hg. 1L Übers.): Conrad Celtis. Oden / Epoden / Jahrhundertlied. libri Odarum quatruor, cum Epodo er Saeculari Carmine (1 513), Tübingen 2008.
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1 500 geplante "Säkularausgabe" der Elegien, Oden und Epigramme , wie sie in der Handschrift der Nürnberger Stadtbibliothek Cod. Cent. V App. 3 angelegt ist, ein derartiges Happy End nicht vorsah. Die Hand schrift wurde in einer Lebensphase zusammengestellt, als Celtis sich mit dem Ausbruch seiner Syphilis-Erkrankung konftontiert sah und sein Le benswerk angesichts des nahen Todes ordnen wollte, den er aufgrund einer astrologischen Prognose kurz nach seinem 40. Geburtstag erwartete. Tatsächlich blieb für die (erst postum publizierten) Oden dieses Konzept unverändert. Einen Hinweis auf eine entsprechende frühere Werkkonzep tion konserviert auch der Titelholzschnitt der Amores, dessen Tetradenschema in Form einer stilisierten Windrose für das vierte Buch nicht senectus, sondern mors als Ziel angibt und die EIbe so hervorhebt, dass Celtis' Gönner Kurfürst Friedrich Irr. von Sachsen (reg. 1 486-1 525) als potentieller Widmungsadressat anzunehmen ist, dem Celtis auch die Hrotsvit-Edition des Jahres 1 501 zugeeignet hatte. Im Unterschied dazu stellt der Nürnberger Werkdruck von 1 502 die Amores in den Rahmen einer Werkausgabe, die einerseits die Nürnberger Förderer mit der Norimberga und dem Sebaldshymnus bedenkt, anderer seits aber vor allem die panegyrische Danksagung an König Maximilian für die Kolleggründung und die Ausstattung des Kollegleiters mit dem Privileg zur Dichterkrönung in den Vordergrund rückt: optisch durch die Dürerschen Holzschnitte des Widmungsblatts und der Philosophia, litera risch durch die Paratexte von der Widmungspraefatio der Amom über die Stiftungsurkunde und den Panegyricus des neugekrönten poeta Longinus auf Maximilian bis zum Ludus Dianae, der als Sangspiel am königlichen Hof in der Dichterkrönung seinen Abschluss und Höhepunkt findet.4 Angesichts dieses komplexen Referenzrahmens und den Intentionsüber schneidungen von panegyrischen Tendenzen mit der Demonstration einer intellektuell-antibürgerlichen Lebensweise, von Liebesdichtung mit geo-, ethno- und historiographischer Landesbeschreibung, von traditioneller Liebeselegie mit neuplatonischer Liebesphilosophie ist es wenig erstaun lich, dass auch die antiken Referenztexte nicht auf die Gattungsvorgänger der Liebeselegie beschränkt bleiben und dass die schon von Properz und Ovid praktizierte thematische Erweiterung der Gattung die Lizenz zur Ö ffnung in viele Richtungen gibt. Formen wie das Hodoiporikon und Propemptikon sind dabei zu erwarten, aber vor allem die Satire ist es, die ihren triumphalen Einzug in die Liebesdichtung hält. Die Wiederbelebung 4
Stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen zum Thema sei hier genannt: Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 1 6. Jahr hundert, Köln tLa. 2003.
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des Bilds von den moralisch unverdorbenen alten Germanen nach Caesars Gallierexkurs und Tacitus' Germania bietet für den eifersüchtigen Liebha ber den Anlass, in einer scharfen Kritik am weiblichen Luxus und der Verfiihrung (hier durch reiche 'Pfaffen') auf Juvenals Vorlagen zurückzu greifen. Eine Ehebruch-Szene aus Horaz' Satire 1 ,2,41 -46 bildet den Nucleus für die Ausgestaltung einer Flucht aus dem Fenster, mit der eine Liebesnacht bei Ursula ihr abruptes Ende findet (am. 3,5) .5 Gerade diese komödiantische Szene aber zeigt: Wenn Celtis selbst als Liebhaber in den verschiedensten Rollen nach literarischen Vorbildern auftritt, reiht er sein Werk damit in die Haltung höfisch-humanistischer Literatur ein, wie sie sich spätestens mit Enea Silvio Piccolomini und seiner Histona de duobus amantibus durchgesetzt hat, in der er dem Kanzler Friedrichs III . , Caspar Schlick, die Rolle des feurigen Euryalus in einem Verhältnis zur schönen 'Lucretia' aus dem Seneser Patriziat angedichtet hatte. Wenn in den Amom epische Szenen und Personenkonstellationen evoziert werden, ist ein Spannungsverhältnis zwischen der nell2eitlichen Situation mit eher banalen Anlässen oder Auswirkungen und der schick salhaften Tragik des epischen Vorbilds zu erwarten. Elisabeth Klecker hat am Beispiel des Riccardo Bartolini und seines Odeporicon von 1 5 1 5 den humoristischen Umgang mit Vergils Aeneis als Folie für das Erleben der eigenen Gegenwart im Sinne "eines urbanen Stils" gedeutet, mit dem die Literaten im Umkreis von Kardinal Matthäus Lang die "humanistische Atmosphäre" des diplomatischen Treffens in Preßburg und Wien de monstrieren konnten.6 Über diese allgemeine Einordnung in den humanis tischen Kontext hinausgehend, setzt Celtis die epische Inszenierung ge zielt zu programmatischen Selbstaussagen ein, wie an drei Fällen gezeigt werden soll. Im ersten Buch inszeniert Celtis einen descensus ad inferos, als er das Salzbergwerk von Wieliczka beschreibt (am. 1 ,6) . Im zweiten Buch wird der Liebhaber, der Regensburg verlassen will, von einem Albtraum gequält, in dem ihm seine Geliebte Elsula in der Rolle der Dido erscheint 5
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Wolfgang Wenk: Abenteuer im Kopf. Zu Konrad Celtis, Amom 3,5, WHB 32, 1 990, 41 -57. Bezeichnend ist freilich gerade bei diesem nachweislichen Fall ge zieltet Horaz-Rezeption, dass Celtis das von göttlicher Stimme verkündete mora lische Schl1L�sdiktum nicht als satirische disslltnio stehen Iä.�st, sondern mit der psychologischen Erkenntnis und dem entsprechenden Handlungsbekenntnis aus Ovids Amom (2,1 9r'H ff,) wieder auf das elegische Wertesystem zurückverweise Sie ifl lardvo Veneris rofltiflgil amof't I lJtjdcikm spef7/IJS diJIidkmqlle petas (arn. 3,5,6566). E1isabeth Klecker: "Mit VergiI im Seestunn . Parodie und Panegyrik bei Riccardo Bartolini", in: Reinhold F. Glei u.a. (Hgg.): 'Parodie' und parodia. Aspekte inter textuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, 321 -341 , hier 341 .
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(am. 2,1 1). Und der schon erwähnte Abschluss der Irrfahrten (am. 4,1 4) ist als epischer Seesturm von lebensbedrohlicher Gewalt inszeniert.7 Die antiken Vorbilder sind über die epische Bauform und in gedanklichen Strukturen und Argurnentationsmustem oft leichter greifbar als auf der Grundlage von Similien.8 Um die Beziehungen zum Vorbild angemessen deuten zu können, bleibt das dose llloding-Verfahren die zuverlässigste Me thode.
Der Gang in die Unterwelt Ad Ianum Terinum Je salifodinis Sarmatiae, quas perfonem immissus lustraverat. (am. 1 ,6) -
Den Abstieg in die Unterwdt vollzieht der Dichter tatsächlich und leib lich, indem er sich in den Stollen eines Salzbergwerks abseilen lässt. Das Salzbergwerk, dessen genaue Lage zwar nicht angegeben ist, das aber Widiczka sein muss,9 verdient im Rahmen der Landesbeschreibung eine ausführlichere Behandlung; man erwartet als Leser zum Thema 'Bergwerk' eine Beschreibung der Anlage und der Art der Förderung, die Cdtis nach
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Die Bedeutung des See.turms als d a s epische Element betont besonders Da vid Maskell: The historical epic in France (1 500-1 700), Oxford 1 973; differenzie rend dazu und bes. zur Allstrias des Riccardo Bartolini vgl. Klecker, 2006 (wie Fußn. 6). (:eltis' Amom sind nur in der Ausgabe von Felicitas Pindter (Leipzig 1934) in textkritischer Edition greifbar; der Erstdruck (Nümberg 1 502) ist bei CAMENA (Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinorum Auctorum) abrufbar. Ich zitiere in diesem Beitrag verhältnismäßig ausfiih rIich, um so auch die sprach lichen Similien dokumentieren zu können; sie gewähren insofern einen Einblick in die Dichterwerkstatt, als man sehen kann, dass Celtis oft nur Wortverbindun gen übernimm t, ohne dass damit eine relevante inhaltliche Beziehung hergestellt wäre. Inhaltliche und thematische Übernahmen sind oft gerade nicht über die Similien greifbar, weil Celtis hier gern Synonyma einsetzt. Bevorzugter Autor bleibt Ovid, aber Vorlieben fiir auffälli ge Adjektivbildungen (etwa nach Hrotsvits Vorbild) und fiir kolloquiale Wendungen aus den Satirikern und Martial sind er kennbar. Bei Schilderungen neuzeitlicher Verhältnisse dünnt sich der Similienapparat erwartungsgemäß extrem aus. Vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedich tung, Baden-Baden 1 984, hier 37f.; Manfted Mindt: "Das Salzbergwerk Wieliczka", Praeterita nova nmrissima nec non futura ex orbe mediolatino 23, 2000, 14f. Das Gedicht ist übersetzt, eingeleitet und kommentiert in: WilheIm Kühlmann u.a. (Hgg.): Humanistische Lyrik des 1 6. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch, Frankfurr a.M. 1 997, 76-81 u. 986-989.
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dem Modell des antiken Lehrgedichts gestalten könnte,lO oder auch eine geologische Erklärung, verbunden mit einer aitiologischen Erzählung, wie das Salzvorkommen hier zu erklären ist. Zumindest aber erwartet man als Kenner von Texten im Sinne eines Städte- und Landeslobs an dieser Stelle eine Würdigung der Anlage in ihrer Bedeutung für den Wohlstand der Region.1 1 Nichts von alledem bietet uns Celtis. Er beginnt die Elegie im Ton ei nes humanistischen Briefs,12 indem er seinem Freund Janus Vorhaltungen macht, ihm zu lange nicht mehr geschrieben zu haben. Der Vorwurf wird in seiner existentiellen Gewichtigkeit unterstrichen und geradezu pathe tisch inszeniert, denn Celtis will genau diese Frage in dieser Ausnahmesi tuation canens sub gelidis antris ausgerufen habe: ,Janus, Janus, warum hast du mir nicht geschrieben?" Celtis kann sich das Schweigen des Freundes nur damit erklären, dass Janus für ihn gestorben bzw. tatsächlich vom Erdboden verschlungen halte: für einen vates profontkJ mersus.
VgL die Hinweise von Wiegand, 1 984 (wie Fußn . 9) zur Thematik 'Bergwe1Ok' in der zeitgenössischen Lite1Oatur. 1 1 VgL etwa den Abschnitt De .\"armacia reyjone I illrope in der Schedelschen Weltchro nik nach de10 I illropa des Enea Silvio Piccolomini fol. CCLXVIIV: MetaJ/llm lIero 111mm qllam plumbllm sarmacia Im non alia qllam safllmi CrJllIa, qlli fm"am ri.f!/do injcsfaljri 10
J!.orr. .\"aJis auum maxima copia esf q/IIJ (tIm Ion.f!/nqlle J!.enM IIf11nfllr. qllod maximum prae staf toti reJ!inoni emolummfllm. qua nulli reJ!.i ipsi maior in toto 1Pj!,no .�aif1 exlat. 1Vam sub urra excidunfllr inJ!.mlia salis saxa. I'.>
Celtis-Freund Laurentius Corvinus (Gemot 1\I. Mü1Ie1O: "Corvinus (Rabe), Lau rentius", in: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Verfasserlexikon. Deutscher Huma nismus 1 480-1 520, Bd. 1 , 496-505) in seine Cosmoffaphia dans manlldumonem in fabulas Ptholomei (um 1 496 von Heinrich Bebel in Basel herausgegeben) zum Lob Polens eingefügt hat: Wie bei Celtis we10den hier die Be10gwerke als Unterweltsein gang poetisch stilisiert, wobei Corvinus die motivischen Parallelen jedoch wesent lich gründlicher nutzt als Celtis. 12 Dass dieser Brieftopos nicht nur humanistisch ist, sondern auch in der antiken Brieftheorie und lite10arischen Praxis eine besondere Bedeutung hat, zeigt die Ennodius-Studie von Bianca-Jeanette Schröde1O: Bildung und Briefe in1 6. Jahr hundert, Berlin u.a. 2006.
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lane, canens gelidis repetebam saepe sub antris, Cur nullo nobis tempore scripta dares. Forte tuum reris vatem mersum esse profundo, Pandit ubi tristes Sarmatis ora specus Multaque de umbrosis caeduntur saxa cavemis, Quae niveum tribuunt igne soluta salem. Vel saltem poteras paucis mandasse: "Valeto, " Ce1tis, et infemas i, rediture, domos'
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1 Vetg. georg. 4,509: gelidis [...] sub antris.
- 5 Verg. Aen. 8,242: umbrosae peni tus patuere cavemae; Ov. am. 1 ,7,52: caeduntur Parii s qualia saxa iugis.
Die Chance, dass ein vates in der Unterwdt die Assoziationen an Orpheus oder Amphiaraus beim Leser wachruft, wird jedoch von Cdtis gar nicht im Sinne einer Sdbststilisierung genut2t. Auch auf Aeneas und Sibylle und damit auf den wichtigsten descenms ad in/eros der antiken Epik wird weder motivisch noch mit Signalzitaten Bezug genommen. Stattdessen erinnert Cdtis an Hercules und Theseus (am. 1 ,6,9- 1 4) : Sed redü superas dextro love vi vus ad auras Lusttavi et Stygii tristia regna canis, Alcide, ut similem dicar subiisse laborem Et socia, Thesen, qui mpis arma manu, lllaque iam rigido volui tibi scribere versu, Quo no ster solidum pignus haberet amor.
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9 Pers. 5,1 1 4: liberque a c sapiens praetoribus a c love dextro
- 1 0 Hor. carm. 3,4,46: regnaque tristia; Claud. rapt. Pros. 2, praef. 34: Stygii terruit ira canis; Lu can. 9,869: tristia regna lubae. - 11 Tib. 1 ,4,47: Nec te paeniteat duros subiisse labores. - Verg. Aen. 6,392-394 (Charon): nec veto Aleiden me sum laetatus euntem I accepisse lacu, nec Thesea Piritboumque, I dis quamquam geniti atque invicti viribus essent. - 12 Ov. am. 3,1 5,10: soeias ... manu.�. - 14 Ov. met. 8,48: me comitem, me paeis pignus haberet.
Nun beklagt sich zwar Vergils Charon bei Sibylle über die randalierenden Göttersöhne aus der Oberwdt und nennt als Beispide Hercules sowie Theseus und Pirithous (Verg. Aen. 6,393),13 doch Cdtis denkt hier offen sichtlich an die Personenkonstellation in Senecas HerculesfNrens,14 wenn er Theseus gleichberechtigt mit Hercules soda . . . manN die Waffen ergreifen lässt. Worauf es ihm ankommt, ist die Situation zweier Freunde in Todes1 3 Vgl. Wiegand, 1 984 (wie Fußn. 9), 988 zur Stell e . 14 Senecas HerrN/es.forens und den T�yestes hatte Celtis zur Grundlage einer Vorlesung im Wmtersemester 1 486/ 1 487 an der Universität Leipzig gemacht und dazu den Text der Seneca-Ausgabe Ferrara 1 484 mit der Widmung an Fürst Magnus von Anhalt nachdrucken lassen; zu dem mir nicht zugänglichen Druck vgl. Hans Rupprich: Der Briefwechsel des Konrad Celtis, München 1 934, Nr. 5 und 6 mit Anmerkungen.
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gefahr. Theseus wird im Hercules forens als wahrer Freund und Helfer des Hercules in jeder Lage vorgestellt: Er begleitet ihn in die Unterwelt, als dieser den Cerberus ans licht bringen soll, er bleibt anschließend als Be schützer bei Hercules' Familie und erzählt ihnen in einem Botenbericht von epischer Breite von der überstandenen Unterweltstour, während Hercules den Usurpator Lycus tötet; vor allem aber kann Senecas Theseus seinen Freund Hercules nach dessen Wahnsinnsanfall zum Weiterleben bewegen und ihm einen Exilort und die Entsühnung in Aussicht stellen. Im Bezug auf die Protagonisten dieser Vorlage ist also ein weiterer, wenn auch unausgesprochen bleibender Vorwur f an ] anus zu entdecken, weil er Celtis nicht in diese Unterwelt begleitet hat. Doch beendet Celtis diese Briefeinleitung versöhnlich, indem er ihm die anschließende Unterwelts schilderung als Pfand ihrer Freundschaft widmet. Er beginnt mit einer Topothesie, die typische Beschreibungen eines Unterweltseingangs aufgreift: die breite Ö ffnung, die in eine unergründli che Tiefe mit diffusem licht führt. Vergil hatte diese lichtverhälmisse durch den Vergleich mit einem Waldweg veranschaulicht, den man bei einer nicht ganz klaren Mondnacht zu gehen hat: Nicht nur die Dunkel heit verunsichert, sondern vor allem die Farbwahrnehmung ist beeinträch tigt (Aen. 6,270-272). Dagegen lässt Senecas Theseus eine Zeit lang noch das Tageslicht in den breiten Unterweltseingang reichen (Sen. Herc. f. 667-672). Celtis greift auf Wortmaterial von Theseus' Höhleneingangs beschreibung zurück, passt seine Schilderung der lichtverhältnisse inhalt lich aber der realen Situation an; denn er hat - im Unterschied zu den antiken Unterweltsgängern - eine Fackel bei sich. Der Schein der Fackel lässt zwar die Tiefe erahnen, dringt aber nicht bis zum Grund, sondern verliert seine Kraft (am . 1 ,6,1 5-1 8): Est specus immensis pandens cum faucibus ora Suppositumque vident lumina nulla solum, Sed face candenti distantia longa notatur, Fax ubi inexhausta luce fatiscit humo.
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1 5 Verg. georg. 4,418: est specus ingens I exesi latere i n montis; Ov . fast. 4,495:
est specus exesi structura pumicis asper; Ov. met. 1 1 ,235: es[ specus in medio, natura factus an arte, I ambiguum, magis arte tarnen; Sen. Here. f. 664-666: hic ora solvit Ditis invisi domus I hiatque rupes alta et immenso specu I ingens vo rago faucibus vastis patet. - 17 distafltia IoflJ!.a zeigt eine s];ntaktisch ungewöhnliche Verwendung; man muss wegen des zusätzlichen Adjektivs Ioflga annehmen, Celtis wolle distantia als Substantiv im Sinne von "Distanz" verstanden wissen; nach dem ModeU des Lukrez und Ovid wäre das Partizip zu erwarten IoflJ!.e distafltia (mit Ablativ) zu erwarten: Lucr. 2,334f.: eunctarum exordia rerum I qualia sim et quam longe distantia formis, I percipe; Ov. Pont. 1 ,5,81 f. : si te distantia longe I Pleiadum laudent signa; Ov. fa.�t. 1 ,305: admovere oculis distantia sidera mentis.
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Jetzt endlich wird die Bergwerksanlage mit dem Förderseil beschrieben, die zunächst zwar wie modeme Technik, dann aber wie eine unheimliche Höllenmaschine wirkt, die den Menschen als gefesseltes und damit hilflo ses Opfer ergreift und durch den haltlosen Fall in die Tiefe wirft (am. 1 ,6,1 9-24): Ora specus circum Iatissima machina surgit,
Quam rom cum rapidis turbine versat equis, Robora rranspositum per multa volumina funem Plectuntur; curvo pondera dente trahens Lubricus hic c aecum mortales mitrit in anttum Aerium praebens irtequietus iter.
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19 Sen. Herc. f. 673: hinc ampla vacuis spatia laxantur locis. - 20 Catull . 64,31 4: libratum tereti versabat turbine fusum; Sen. Thyest. 621 f.: res deus nostras celeri citatas I turbine versat. - 21-23 Die syntaktische Struktur dieser Beschreibung ist schwierig; pleettmtur ist wohl als Simplex anstelle von compleettmtur aufzufassen; man ist anschließend zunächst versucht, den Nominativ Singular des Partizips trahens wohl, wie an anderen Stellen der Amores übrigens auch (vgL schon am. 1 , 1 ,6), als eine Art von Constructio ad sensum zu behandeln und auf rohora zu beziehen; mit iNhrict/S im folgenden Vers kann aber nw: jimis gemeint sein. Auch Wiegand 1 984 (wie Fußn. 9) geht in Ü bersetzung und Interpunktion von einem Subjektswechsel aus; ich übersetze so: "Rings um die Eingänge der Höhle erhebt sich eine ausgedehnte Mechanik [da Senecas Theseus die Breite des Unterwelt.� eingangs betont, könnte man latissima auch auf ora beziehen, naheliegend ist aller dings der optische Eindruck der riesigen Maschinerie), die ein Rad mit schnellen Pferden im Kreis dreht; ihr festes Holz hält ein Seil, das in vielen Windungen darübergelegt ist. Mit einem gekrümmten Zahn die Lasten ziehend, lässt dieses glatte Seil die Sterblichen hinab in die finstere Höhle, indem es rasdos den Weg durch die Luft bietet." - 24 Ov. fast. 2,252: aerium pervolat altus iter; Stat. Theb. 10,842: aerium sibi portat iter.
Celtis betont den Verlust des Lichts, indem er den in seiner Dichtung sonst so akribisch und astronomisch genau bestimmten Sternenhimmel mit einer endlosen Kette von Verneinungen in Erinnerung ruft (am. 1 ,6,25-36): Huic ego sum tremulus toto cum corpore vinctus, Ct fueram tristes ausus inire domos Quas neque lucifluus collustrat lumine Phoebus Nec radüs penetrat lucida fratre soror; Cum love multiproco fugit hic Cyllenius ales, His neque sub specubus, Mars violente, rubes, Nec Veneris f1ammae rutiIant hoc orbe remoto Falciferique senis lurida stella latet, Plaustra nec undivagis ibi monstrant aequora nautis, Illa nec Arctophylax regna sepulta videt, Sed volitant caeco tenebrosa ibi sidera mundo, Sidera quae nullum sunt paritw:a diem.
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26 Ov. fast. 3,620: Tartareas ausus adire (Alton / Wonnell / Courtney) domos. 27 Cic. div. 1 , 1 7 (=cann . frg. 3,2): collustrat lumine mundum; Iuvenc. 3,293: lucifluum ... ortum, Ven. Fort. Matt. 2,265: lucifluas ... habenas; Hrotsvit, Agnes 449: luciflua regis caelestis in aula Celtis, Od.. 1 ,9,1 1 : Qualis Phoebus agit lucif luam rotam; Celtis Od. 3,1 7,80: Ee mox, luciflua dum redit Phoebus in orbita. 28 Ov. Ib. 1 07: lucida Phoebe; Boeth. cons. 1 cann . 5, 5: ut nunc pleno lucida cornu I totis fratris obvia f1ammi s I condat stella.� luna minores. - 29 multiprocuI als Neubildung analog zu mHItiJariuI oder multifol71lis (ähnlich schol. Pers. 1 ,4: Polidamas id est multinuba). Val. PI. 4,385, Claud. rapt. Pros. 1 ,77 et al.: CyI1enius [ . . . 1 ales ( Mercurius). - 30 Naldus de Naldis, eleg. 1 ,1 0,72; 3,1 1 ,274; epigr. 1 82,1 : Mars violente. - 31 Lucan. 2,734; 7,664; Ps.-Ov. Epiced. Drusi 387: orbe remoto. - 32 Ov. Ib. 21 3f.: Martis I sidera presserunt falciferique senis (=Satumus); Mart. 1 1 ,6,1 : unctis falciferi senis diebus. - 33 Sil. 1 4,572: uritur un divagus Python. =
Die angesichts der kurzen Elegie überdimensionierte Schilderung des vermissten Sternenhimmels ist einerseits typisch für Celtis' plakative Be tonung der asttonomischen Kenntnisse, kann andererseits hier aber dras tisch veranschaulichen, dass der Verlust des Himmelslichts das Bitterste ist, was man in der Unterwelt empfinden kann Und vielleicht soll ja gera de die undurchdringliche Finsternis die Erklärung dafür abgeben, dass Celtis von dem, was im Schacht des Bergwerks selbst vor sich geht, sei nem Leser und seinem Freund Janus überhaupt nichts mitzuteilen hat. Weder wird irgendwo das mythische Personal der Unterwelt erwähnt noch wird dem neugierigen Leser der Vorgang des Salzabbaus auch nur in Ansätzen erklärt. Einzig die tenebrosa sidera der dortigen Unterwelt, offen bar die Laternen der Bergarbeiter, werden als Unterweltssternenhlmmel gedeutet.15 Von der Bergwerks-Unterwelt selbst erfahren wir bei Celtis also nichts mehr; seine emotional gefarbten Eindrücke konzentrieren sich auf das Gefiihl des Flugs beim Abseilen. Er mhlt sich zwischen Leben und Tod schwebend und befürchtet ein Ikarus-Schicksal, nicht ohne selbst in dieser Situation an seine memoria zu denken: Denn ein solcher Tod hätte für ihn immerhin den Vorteil, dass das Land nach ihm benannt würde. Wieder ist es der Freund Janus, der dann diese Aufgabe der memoria-Sicherung übernehmen müsste. Aber dieser Heldentod ist ihm nicht vergönnt, er fiihlt sich stattdessen wie ein Wiederauferstandener von den Toten und verspricht, in platonischer Tradition die Unterwelt.�strafen .
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Vielleicht mit Rückgriff auf Vergils Schilderung des Elysiums (Aen. 6,41 : Iokmqut SIlO Iidtro norunf); vgl. auch Claudian, dessen Pluto seiner Proserpina ver sprechen kann, es gebe auch in der Unter- bzw. Gegenwelt eigene Sterne (Claud.. rapt. Pros. 2,282-285): amissum nt mdt dUm: sunt aJkra nobis I sidtro, sunt oms alii,
stIum,
lumenqut uidtbis I PUriliS I i./ysillmque magis mirabtre sokm I cultomque pios.
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den Lebenden warnend mitzuteilen - allerdings erst bei anderer Gelegen heit (am. 1 ,6,37-48) : 0,
mibi quam magno ttepidabant corda pavore Pendula lictores dwn mea membra ligant, Et mea Tarrarea condunt ubi corpora veste Nullus erat toto vivu.� in ore color. Dwnque inter vitarn mediu.� mortemque volarem, Daedalei timui fara subire fabri, Et mea signassent fatalem nomina terram Celtica, quae fuerat, Iane, canenda tibi. Sed modo, cwn superas redüssem sospes in auras, Oblecrat tales saepe subisse specus, Quippe ea, quae vidi, sratui mortalibu.� olim Pandere, quot poenas Tarrarus ater habet.
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40 Ov.
am. 2,1 1 ,28, med. frg. 98: toto nullus in ore color. - 43 Ov. fasL 2,663: si signasses olim Thyreatida terram; Ov. trisL 3,4,22: Icaru.� immensas nomine signet aquas; Lucan. 4,655: signavit nomine terras. ru
Die ausgestandene Todesangst hat nämlich eine ganz andere Wirkung auf ihn: Sie verleiht ihm das Gefiihl, das wiedergewonnene Leben in vollen Zügen genießen zu müssen. Davon will er auch seinen Freund überzeu gen, um mit der geliebten Hasilina und der Uebe und der Uebesdichtung zu leben (am. 1 ,6,49-54): Interea rigidwn depone a fronte Catonem Et somno curas, tristia pelle merol Decipimur votis et tempore fallimur et mors Deridet C1lta-�, anxia vita nihil. Saepe mibi laudes Hasilinae corpu.� et artus, Haec praeter placeat, fac, rogo, Iane, nibil.
50
49 Matt 10,20,21 :
tune me vel rigidi legant Catones; Juv. 1 1 ,90: durwn que Cato nem - 50 Hor. carm. 1 ,7,31 : nunc vino pelli te curas.
Selbst wenn also bestimmte Signale den Leser eine ausführliche Unter weltsschilderung erwarten lassen, wird er systematisch enttäuscht. Erleb nisse eines Orpheus oder eines epischen Helden wie Aeneas, Hercules oder Theseus wird er in diesem Gedicht nicht finden. Celtis verfestigt damit seine Rolle als die des elegischen Dichters, der sein Lebensideal von Freundschaft verkündet. Wahre Freundschaft manifestiert sich in gemein samem Lebensgenuss und in Freundschafts- und Uebesdichtung. Der jugendliche Held der elegischen Dichtung zieht mit dem Carpe diem Schluss der Elegie aus der empfundenen Todesgefahr völlig andere Kon sequenzen als ein pflichtbewusster epischer Held - aber auch andere Kon sequenzen als ein pflichtbewusster Ethno-, Historio- und Geograph der aetatis nostrae Germania: Seine Amo1Tls bleiben damit zunächst einmal nur die
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Ankündigung, nicht aber die Einlösung der versprochenen Germania iUustrata!
EIsula als Dido - Narrat insomnium suum de Elsula, priusquam Norico excesserit (am. 2,1 1) Die Uebesbeziehung zu EIsula aus Regensburg wird von temperament vollen Szenen bestimmt: von Uebesbeteuerungen, von Eifersuchtsszenen und von Wiederversöhnungsfeiem - kein Wunder, da der jugendliche Held nach dem Tetraden- bzw. Enneadenschema in der Hitze des süd deutschen Sommers mit einem cholerischen Temperament ausgestattet ist und Elsula außerdem von einem Geistlichen umworben wird, der ihr im Unterschied zu dem unbemittelten Dichter einiges an Luxus bieten kann. Neben juvenalischer Kri tik am Sittenverfall und an der Luxusliebe der Frauen gibt es da auch saftige Pfaffenschelten (am. 2,6 und 2,9), etwa anlässlich einer Wall fahrt der EIsula nach Salzburg (am. 2,7), die nach Celtis' Auffassung nur als Vorwand zur Verführung durch den 'Pfaffen' dient. In der elften Elegie dieses Buchs über Süddeutschland kleidet Celtis das Thema seiner endgültigen Abreise in die Form einer Traumerschei nung. Es scheint sein schlechtes Gewissen zu sein, das hier zu ihm spricht, zumindest suggeriert er diese Deutungsmöglichkeit, wenn er nach zwei einführenden Distichen zur Nachtsituation mit der als Alternative formu lierten Erklärung der Traumvision einsetzt (am 2,1 1 ,5-8) : .
Porte pueI1aris tune est mi hi visa figura Et stetit ante oculos EIsula cara meos. Seu sopor illud erat, seu mens sibi fingere tales Consuevit tenues irrequieta notas?
5
Wenn es denn nur eine Einbildung der irrequieta mens sein soll, so ist des Dichters Phantasie jedenfalls auch im Traum deutlich von epischen Vor bildern beeinflusst. Das Traumbild der EIsula steht vor ihm in Trauerges tus: Ihre Haare sind zerrauft, ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Trotzdem findet Celtis noch einen schmeichelhaften Vergleich, der EIsula mit der Mondgöttin gleichsetzt, wenn ihr Glanz sich im Reigen der Pleiaden (des Regengestirns) abschwächt (am 2,1 1 ,9-1 2): .
Stabat purpureos humeris laniata eapillos Et largo roseas sparserat imbre genas. Talls Adanteas hebetat eum Luna sorores, Plurimus aetheriis funditur imber aquis.
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9 Ov. fast 6,493: funestos ut erat laniata capillos; Ov. epist. 1 2,1 57: laniata capil los; Ov. met 6,53 1 : passos laniata capillos. - 10 Stat. Theb. 1 ,437f.: Iacera om pu uesque I sanguineo videt imbre genas; Star. Theb. 9,48 1 f.: sese deus obtulit u1tro I turbidu... imbre genas. - 11 Avien, Arar. 1 630f.: qualem fratemos subtexens luna iugales I lucem hebetat.
Auch wenn EIsula vor Tränen nur mit Mühe sprechen kann, setzt sie doch zu einer über 50 Verse langen Rede an, deren Muster, die Vorwürfe der antiken Dido an Aeneas bei Vergil, aber auch bei Ovid, so deutlich aufscheint, dass die Parallelisierung für den Leser evident ist. Man sollte sich an dieser Stelle zuerst die Rede der Vergilischen Dido in Erinnerung rufen, mit der sie Aeneas zur Rede stellt.16 Diese berühmte Rede ist bekanntlich zweigeteilt, da sie von einer Rechtfertigung des be schuldigten Aeneas unterbrochen wird (Aen. 4,304-330 und 365-393). Die Situation erfordert es, dass Dido zunächst sehr emotional zu sprechen scheint, wenn sie Aeneas mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie nicht von ihm, sondern durch ein Gerücht von seiner bevorstehenden Abfahrt gehört hat. Dass er mit diesem Verhalten (dissimNlare) einen Vertrauens bruch begangen hat, macht sie in der Anrede (perftdNS) mehr als deutlich. Ihr zweiter Vorwurf richtet sich darauf, dass Aeneas es überhaupt über sich bringen kann zu gehen. Damit hat sie bereits eine argumentativ klug aufgebaute dissNasio begonnen, die Aeneas vom Gedanken an die Weiter fahrt abbringen soll. Drei Hinderungsgründe nennt sie ihm, die sie beide betreffen: nos/er amor, die eheähnliche Beziehung und ihr bevorstehender Tod, den diese Trennung verursachen würde. Die Hinderungsgründe, die Aeneas allein betreffen, sind argumentativ gewichtiger und noch weniger von der Hand zu weisen: Der Zeitpunkt für die Seefahrt ist zu gefahrlich; er bringt damit verantwortungslos (cmdeJis) sich und seine Leute in Gefahr. Ein derartiges Wagnis gleicht also keiner geplanten Abfahrt, sondern einer Flucht - weshalb sie weiterdenkt: Sie muss daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass sie selbst der Anlass des fluchtartigen Aufbruchs ist. Daher bleiben ihr nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ihn mit ihren persön16 Die Rede selbst ist erstaunIicherweise kaum je Gegenstand von Untersuchungen; stattdessen dominiert in der ForschWJg die Gliederung des vierten Aeneis-Buchs nach Akten im Sinne einer Dido-Tragödie. Al. wichtigster jüngster Beitrag sei genannt: Eveline Krummen: "Totamque incensa per urbem bacchatur. Liebe und bacchantischer Wahnsinn", in: IANUS. Informationen zum Altsprachlichen Un terricht 22, 2001 , 7-1 6, bes. 13. Leider ohne eingehendere BesprechWJg der Re den bleibt der etwa zeitgleich publizierte Vortrag von Ernst Augu...t Schmidt: "Die Tragödie der karthagischen Königin Dido als Anfrage an den Sinn der rö mischen Geschichte", in: Ders.: Musen in Rom. Deutung von Welt und Ge schichte in groBen Texten der römischen Literarur, Tübingen 2001, 1 1 9-1 32.
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lichsten gemeinsamen Erfahrungen emotional zu binden; sie beschwört ihn bei ihren Tränen und seiner Rechten (die sie offensichtlich ergriffen hat) , bei ihrer vollzogenen, wenn auch nicht rituell sanktionierten Ehe und zuletzt bei ihren Verdiensten um ihn und bei den Freuden, die sie ihm geben konnte. Ihre Verdienste um Aeneas sind für Dido nicht ohne politi sche Konsequenzen: Sie hat damit den um sie werbenden Herrscher Jarbas brüskiert und ihren guten Ruf eingebüßt. Sie appelliert an sein Pflichtgefühl, indem sie sich als schutzbedürftig darstellt und ihm die töd liche Gefahr ausmalt, in der er sie zurücklässt: Ihr Bruder Pygmalion be droht ihre Stadt genauso wie der Gätulerfürst Jarbas. Diese nicht abzuwei senden harten Argumente entkräftet sie - aus unserer Sicht, die wir Aeneas' Beweggründe kennen, - in der 'Wirkung wieder etwas durch ihre letzte, sehr persönliche Klage, dass ihr nicht einmal ein paroulus Aeneas von ihm geblieben sei, in dem sie ihn wiedererkennen könne. Denn damit verrät sie, dass es ihr weniger um die Lebensgefahr als um die liebe zu ihm geht, die sie nicht aufgeben kann. Auf Aeneas' Antwort, die ihr zeigt, wie entschlossen er an seiner Ab reise als einem "göttlichen Auftrag" festhält, reagiert Dido zunächst kaum argumentierend, sondern ganz emotional, obwohl sie damit doch auf sys tematische Weise das positive Bild von Aeneas destruiert. Sie erkennt ihm seine Menschlichkeit und dazu seine göttliche Abstammung ab, indem sie ihn als grausamen Unmenschen beschimpft, der nicht von Venus oder Dardanus abstamme, sondern von einem Stein geboren und einer Tigerin gesäugt worden sei, weil er den Tränen der Geliebten gegenüber kein Mideid zeige. Sie macht ihn zum Exempel der pCTjidia, indem sie an der Existenz von fides überhaupt zweifelt, wenn die Götter, besonders Juno als Göttin der Ehe und der Vater der Götter, ein solches Verhalten zulassen. Dazu zählt sie erneut ihre Verdienste um ihn auf: Sie hat ihn aufgenom men, sogar an der Herrschaft beteiligt und ihm den Verlust der Flotte fataletweise - erstattet. Solche benifieia erfordern in römischen Ohren natürlich ein gleiches Entgegenkommen. Aeneas beruft sich aber für den Entschluss zur Abfahrt gerade auf den Willen der Götter: auf Apolls Weissagung und auf Jupiters Willen. Dido sagt ihm ins Gesicht, dass sie diesen vorgeblichen Götterwillen für eine fadenscheinige Ausrede hält, und schickt ihn endlich selbst tief enttäuscht fort, indem sie signalisiert, dass ihre liebe in Hass umgeschlagen ist. Denn sie spricht ihre Hoffnung aus, er möge von eben diesen Göttern, auf die er sich beruft, die Strafe für seine peifidia erfahren: Zwischen Felsenriffen werde er dann reuevoll ihren Namen anrufen. Sie aber werde ihn wie eine Furie (4,384: ams ignibus absens) verfolgen, und zwar über den Tod hinaus (4,386: omnibus umbra Ioeis adero). Mit der Drohung, dass sich die Strafe erfüllen werde und sie davon selbst in der Unterwelt noch hören werde, lässt sie Aeneas in seiner Hilf-
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losigkeit stehen. Sie sinkt schließlich ohnmächtig in die Arme ihrer Diene rinne n. Die EIsula des Conrad Celtis hat erwartungsgemäß nicht alle Argumente einer Dido zur Verfiigung, um ihren Geliebten zu halten. Trotzdem ist ihre Rede doch in erstaunlich vielen Punkten vergleichbar. EIsula stellt den Geliebten zur Rede, weil es Gerüchte von seiner bevorstehenden Abreise gibt; und sie stellt ihm die Konsequenz dieses Handelns auch von Anfang an vor Augen, nämlich dass sein Fortgang ihren Tod verursachen würde (am. 2,1 1 ,1 3-20) : Vixque mihi tandem haee dedit udis verba labellis: "Me miseraml Celtis, quo tuus ibit amor? Nam pater Heliadum ternos ubi fecerit ortus, Audio te nostram li nquere velle plagam. o ego non possum tantos tolerare dolores, Si statues tacira, (:eltis, abire fugal Meque tibi solam per Norica culta relietam Intempestivam eogis adire necem.
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15 Ov. fast. 6,717: At pater Heliadum radios ubi tinxerit undis. - 16/18 Verg. A en. 4,281: Ardet abire fuga dulcisque relinquere r.erta-� . - 20 Verg. Aen. 4,307f.:
nec te noster amor nec te data dextera quondam I nee moritura tenet erudeli fu nere Dido? Freilich sind ihre Gründe für den bevorstehenden Tod - im Unterschied zu Didos Beweggründen - nicht sehr überzeugend, denn vor allem ist es der Verzicht auf trautes Beis ammensein in der Nacht mit ihrem Dichter, der ihr, inspiriert vom Wein, seine lieder singt (am. 2, 1 1,21 -24): Murmure quis blando longae mihi taedia noctis Auferet et dulci earmina voee eaner? Carmina quae placido eantet Germania vultu, Candida dum laetus pectora Baeehus habet. Dass der Verzicht darauf sie in den Tod treiben sollte, ist psychologisch nicht wirklich einleuchtend und mindert damit auch die Glaubwürdigkeit der beabsichtigten Drohung. Argumentativ greift EIsula hier offenkundig die Werbestrategie auf, mit der der Dichter selbst sich sonst bei seinen Angebeteten beliebt machen möchte. Wie interpretieren wir das? Entwe der versucht EIsula raffiniert das, was dem Dichter besonders wichtig ist, für die persuasio einzusetzen - oder wir Leser werden hier darauf verwie sen, dass nicht EIsula selbst spricht, sondern dass wir ein Traumkonstrukt vor uns haben, das die Wertevorstellungen des träumenden Dichters wi derspiegelt.
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Der anschließende Vorwurf der perjiJia ist nicht nur mit Bezug auf Dido, sondern übereinstimmend mit der Entwicklung der Uebesbeziehung im zweiten Amons-Buch fonnuliert. Der elegische Dichter wird an sein tifficium amom erinnert, dann aber vor allem daran, dass er sich nun selbst ein Verhalten zu Schulden kommen lässt, das er EIsula gegenüber mit dem Negativexempel seiner ersten Geliebten Hasilina abschreckend ausgemalt hat (am. 2,1 1 ,25-30): Immemor officii nosttoque ingratus amori es! Perfide, sie nostto dignus eras thaIamo? Saepe mihi exprobras Hasilinae, perfide, fraudes: Iam data sunt culpae maxima signa tuae, Perfide, dum varias erras , fugitive, per oras Decipiturque tuis quaeque puelIa dolis. 26 Verg. Aen.
2S
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4,305; Aen. 4,366: perfide.
Wenn wir in diesem Zus ammenhang erfahren, dass EIsula aus den Erzäh lungen des Dichters aus seiner eigenen Vergangenheit auf dessen ausge prägte fides geschlossen haben muss, wird erneut eine Parallele zu Dido hergestellt. Denn die positive Wirkung von Aeneas' Erzählung von der Einnahme Trojas auf die Zuhörerin Dido ist in der Ameis ausdrücklich fonnuliert, freilich dort durch das fatale Eingreifen der beiden Göttinnen noch zusätzlich motiviert. Hier ist es an der Zeit, den zweiten antiken Prätext einzubeziehen: Ovids Dido-Brief in den Heroides (her. 7). Ovids Dido nämlich ist es, die die Wirkung dieser lIitper.ris-Erzählung analysiert: Aus dieser seiner Selbst darstellung habe sie auf Aeneas' Verantwortungsgefühl geschlossen - zu Unrecht, wie sein aktuelles Verhalten mit der Gefahrdung aller ihm An vertrauten beweist; der Tod der Creusa hätte ihr stattdessen ein warnendes Beispiel sein müssen.17 Celtis' peifidia manifestiert sich im Bereich der Uebeselegie vor allem in fraudes und dolus: Es geht dem beschuldigten Dichter offensichtlich nur um das Verfuhren der Mädchen ohne ernsthafte Absichten. Und um das zu unterstreichen, wird die Autorität einer warnenden Wahrsagerin zi tiert - der freilich das wertende Adjektiv ioquax beigefügt ist, was in EIsulas Mund die argumentative Kraft des Vorwurfs schwächen würde und also erneut eine Wertung des träumenden Dichters sein muss (am. 2,1 1 ,3 1 -38) :
17 Ov. epist. 7,77-84: quidpuer Ascanius, quid di meruere Penafts? I Wtibus ereptos obmet unda deos? I sed neque ftrs fCCllm, nec, quae mihi, perfide, iadas, I presurunf umeros sacra paferque tuos. I omn;a mentiris, mque enim tuafa/ln-e Iin.�ua I incipif a nobis, primaque ple& tor tj!,o. I si quaeras, ubi si!jOmJosi mater Juli - I ocddif a dNro solo relida viro!
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Saga loquax nuper dixit mihi vera: 'Caveto, EIsula, ne Celtis decipiare dolis, Qui tibi blandiloquis seducit pectora verbis Sollicitans resonae plectta sonora Iyrae. Huic, ego iam moneo, nimium te credere noli, Ettat enim et toto est semper in orbe vagus. Dumque utero tenerum fecit tibi crescere pondus Ille solet tacita cautus abire fuga.'
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31 Mart. 1 1 ,49,8: garrula saga. - 33 Sen. Agam. 289f.: quid voce blandiloqua mala I consilia dictas? - 38 Verg. Aen. 4,281 : Ardet abire fuga.
Mit der Warnung der Wahrsagerin wird das Thema erreicht, mit dem EIsula eigentlich ein gewichtiges Argument hätte, um Celtis an sich zu binden: ihre Schwangerschaft! Aber dieser Umstand wird in ihrer Rede zunächst gar nicht eingesetzt - EIsula bleibt in der Argumentation der antiken Dido verhaftet und malt ihm aus, was ihn in der Fremde erwartet: Eine zweite EIsula werde er nicht finden, er werde wehmütig an das Noricum zurückdenken (am. 2,1 1 ,39-44): Et quod praedixit, sum nunc expefta misella, Dum servat nullam subdola lingua fidern. Perfide, qua fueris tandem regione receptus Invenies nu11am (crede milu') similernl Tunc totiens maesta versabitur EIsula mente Nec cadet ex animo Norica terra tuo.
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40 Ov. ars 1 ,598: fac titubet blaeso subdola Iingua sono. - TIb. 3,6,46: Aut fallat blanda subdola Iingua prece.
Wir müssen auch an dieser Stelle, über die Vergilische Vorlage hinaus, wieder einen Blick auf Ovids Dido-Brief werfen. Denn EIsulas Argument wird dort deutlicher präludiert. Ovids Dido gibt vor, Aeneas nicht mehr abhalten zu wollen. Trotzdem malt sie ihm zuerst aus, wie naiv seine Vor stellungen sind, einfach losfahren zu wollen, um in der Fremde ein neues Reich zu gründen. Angenommen, er käme heil in Italien an: Wer würde ihm das Land freiwillig überlassen? Schließe er aus der jetzigen Erfahrung, dort müsse es auch eine Dido geben, die er gleich wieder täuschen könne? (epist. 7,17- 1 8 u. 21 -22) : scilicet al ter amor tibi restat e t al tern Dido, quamque iterum fa11a s altera danda fides. [ . . ·1 omnia ut eveniant, nec te tua vota morentur, unde tibi, quae te sie amet, uxor erit?
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Die Traum-Elsula schließt hier die Gefahren dieser Wanderschaft an, die er als Rache der Götter für seine Untreue deuten muss. Ein Räuber wird zum Rächer der verlassenen Geliebten (am. 2,1 1 ,45f.): Spero tarnen (nec vana loquor) venturum aliquando, Vindicet ut latro meque tuosque dolos.
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45 Tib. 2,3,59: vana loquor.
Mit einer ähnlichen Warnung setzt auch die Vergilische Dido zum Schluss ihrer Rede an, indem sie Aeneas die Rache der Götter mit Hilfe der Na turgewalten ausmalt (Aen. 4,381 -384): i sequere ltaliam ventis, pete regna per undas. spero equidem mediis, si quid pia numina possunt, supplicia hausurum scopulis et nomine Dido saepe vocaturum. Im Unterschied zu Didos Warnung wird sich Elsulas Prophezeiung übri gens erfüllen. Gleich in der anschließenden Elegie erlebt und überlebt der Dichter auf der Reise nach Wien einen Raubüberfall (am. 2,1 2), was natür lich Elsulas Warnung vom literarischen Modell emanzipiert - sie bleibt nicht bloßes literarisches Zitat, sondern wird für die liebeserzählung pro duktiv genutzt und in die Gedichtbuch-Komposition integriert. Ovids Dido baut diese Vorstellung von der Rache der Götter argu mentativ aus: Genauso wie Aeneas die Gefahren der Seefahrt kennt (epist. 7,53-56), so weiß er auch, wie gefahrlich es ist, als Schuldiger auf Reisen zu gehen. Im Unterschied zur Vergilischen möchte die Ovidische Dido aber auf keinen Fall schuldig am Tod des Geliebten in den Wogen sein, den sie ihm grell ausmalt (epist. 7,67-72). Ähnlich nimmt Elsula letzt lich doch aus liebe ihren Wunsch nach Rache und ihren Fluch zurück. Vergils Dido rückt als Modell freilich wieder in den Blick, weil sie ihre Schwester Anna zu einer Zauberin schickt (Aen. 4, 492-503), wenn auch nur zum Schein, um allein ihren Suizid vorbereiten zu können. Elsula dagegen ist entschlossen, den liebeszauber zielgerichtet anzuwenden (am. 2,1 1 ,47-50): Sed prim experiar magicos intendere cantu.., et sistarn celeres in tua vota pedes. Pars animae, consiste, meae! Sit cura pericli, Per nemorum latebras ne latro te feriatl
50
47 Juv. 6,61 0: Hic magicos affert cantus; Tib. 1 ,2,64: concidit ad magicos hostia puIla deos. - 49 Ov. met. 8,406f. (pirithous): pars animae, consiste, meae, licet
eminus esse I fortibu..: Ancaeo nocuit temeraria virtus; Ov. Pont. 1 ,8,2: pars a nimae magna, Severe, meae; Stat. silv. 5,1 ,1 77: pars animae victura meae. - 49 Val. Fl. 6,474: demens alieni = pericli. - 50 Hor. sat. 2,1 ,61 f.: metuo et maio rum ne quis amicus I frigore te feriat.
Die Am.ar-Rolle des elegischen Helden
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Die Beschwörungen, mit denen Elsula den Geliebten zum Bleiben ver pflichten möchte, sind gedanklich an den Beschwörungen der Vergilischen Dido orientiert: Ihre Tränen, ihr Liebesbündnis und der Lie besgenuss, den sie ihm gewährt hat, werden als Pfänder der Treue und menta in Erinnerung gerufen (am 2,1 1 ,5 1 -56): .
Per Iacrimas preeor ipsa meas et foedera amantum Petque warn, dederas quam mihi saepe, fidem, Per mea si placido dederam tibi basia lecto Amplexusque meos, quae tibi blanda tu1i, Perque meum primum tibi quem tapuisse pudorem Suasetat aequoreo diva creata salo,
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Verg. Aen. 4,314-319: per ego has Iacrimas dextramque tuam te I [00') I per eonubia nostra, per inceptos hymenaoos, I si bene quid de te merui, fuit aut tibi quiequam I dulee meum, miserere domus labentis et istam, I oro, si quis ad hue preciblL� IOCllS, exue mentem.
51-56
EIsula kann darüber hinaus zwar keine politische Gefährdung, wohl aber ihre persönliche familiäre Situation in Erinnerung bringen: Ihre alten El tern brauchen einen tüchtigen Schwiegersohn, und das Kind in ihrem Leib hat einen guten Vater verdient (am 2,1 1 ,57-60): .
Perque moos tandem eanos utrosque patentes Et prope maturum, quod gero, ventris onus: Siste gtadum eoeprurnque regas modo, Celtis, amorem Ne eapiat foedas eandida fama notas!
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59 Die Formulierung erinnert aber an Aeneas' Begegnung mit Dido in der Un terwelt, Verg. Aen. 6,465: Siste gtadum teque aspeetu ne subtrahe nostro.
Damit wird ihre Schwangerschaft doch noch zum gewichtigen Schlussar gument, das Cdtis an sie binden soll. Es ist eine für die Liebesdegie folge richtige Verkehrung des Arguments, das die Vergilische Dido ebenfalls als Schlussargument einsetzt. Die Heroine bedauert gerade, von Aeneas kei nen paroulus Aeneas als Trost zu besitzen (Aen. 4,328-330). Doch schon Ovid hatte das Motiv anders eingesetzt. Denn die degische Dido schreibt Aeneas, dass er im Falle ihres Liebestods wahrscheinlich den Tod zweier Menschen verschulden würde (epist. 7,1 33-1 38): Forsitan et gtavidam Dido, seelerate, relinquas, parsque tui Iateat eorpore elausa moo. accedet fatis matris miserabilis infan.�, et nondum nato funeris auetor eris, eumque patente sua frater morietur Iuli, poenaque conexos auferet una duos.
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Die Vergilische Dido setzt ans Ende ihrer Rede in bitterer Enttäuschung nicht nur die Götterstrafe des Schiffbruchs, sondern die Drohung ewiger Verfolgung durch sie selbst in Gestalt einer Furie (Aen. 4,384-387): sequar .tris ignibus ab sens et, curn frigida mors anima seduxerit arms, omnibu.� umbra locis adero. dabis, improbe, poenas. audiam et haec Manis ueniet mihi fama sub imos.
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Bei EIsula wird diese Verfolgungsszenerie als Motiv übernommen, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit wngewandelt - und zwar geradezu in ein Hodoiporikon (am. 2,1 1 ,6 1 -76). Die Drohung der EIsula, ihr "wohin du auch fliehst, ich werde dir folgen", verliert so jegliche abschreckende Wir kung. Denn EIsula will ihren Celtis zwar fonosa per ;nhospita saxa verfolgen, doch dann erweist sich diese scheinbar unwirtliche Landschaft als das Allgäu (Algiones), die 'Verfolgung' führt schließlich zwn Tegernsee und nach Wiessee zum Quirinus-ÖI, dann zum Chiemsee und seinen beiden Klöstern, und soll schließlich über die Donau offenbar in Richtung Wien weitergehen. Es sei zugegeben: Die Stromschnellen der Donau waren immerhin tatsächlich für die Schifffahrt der frühen Neuzeit bedrohlich und könnten einen Schiffbruch, wie er Aeneas von Dido als Götterrache angedroht wird (Verg. Aen.4,382f.), verursachen, ohne dass Celtis freilich diese naheliegende gedankliche Assoziation seine EIsula aussprechen las sen würde.18 Ni facias, furiosa sequar per inhospita saxa, Maxima Boiorum qua solitudo patet Algionesque ttuces ubi vastas terra paludes Norica Rhaeteis proxima fundit agris, Inter quas lacus est Tegerinus nomine cmo, Stillat ubi sacrum petra arenosa oleum, Per bibulas tandem sensim hoc colarur arenas
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1 8 Man denke hier an das Hodoiporikon des Riccardu.� Bartholinus, der im Gefolge von Maxirnilians Kanzler Matthäus Lang die Vorbereitungen in Preßburg zum Wiener Kongress 1 5 1 5 literarisch verarbeitet. Ein tatsächlicher Schiffbruch auf der Donau wird hier literarisch überhöht: Riccardus Bartholinus: Odeporicon idest Itinerarium Reuerendissimi in Christo patris et Domini D. Mathei Sancti Angeli Cardinalis Gurcensis coadiutoris Saltzburgensis. Genetalisque Imperü 10curn tenentis, Quaeque in conuentu Maxirniliani Caes. Aug. Sereniss.que regum Vladislai Sigismundi ac Ludouici, memoratu digna gesta sunt per Riccardum Bar tholinum Perusinum aedita. Cum Gratia et priuilegio. Wien: Hieronymus Vietor 1 5 1 5, vgl. dazu Stephan Fü.�se1: Riccardus Bartholinus. Humanistische Panegyrik am Hofe Maxirnilians I., Baden-Baden 1 987; Franz-Josef Worstbrock: "Bartholinus (Bartoliru), Riccardus (Richardus, Riccardo)", in: Ders. (Hg.): Ver fasserlexikon. Deutscher Humanismu.� 1 480-1 520, Bd. 1 , 1 1 8-1 32, bes. 1 23-1 25.
Die /lenea.r-Rollc dcs elegischen Hcldcn
Et sabulum, venis quod fluit inde suis. Succina crediderim sic nasci aquilonibus oris Delata a lucis, quod yomit inde salum. Inde Chimerinus medias duo templa per undas Tollens, quis psallit femina virque deo. Perque lacus alios, pariunt quos imbribus Alpes, Si fugies, Celtis, te furiosa sequar. Nec me Danubü retinet cataracta sonori Inter ubi scopulos et cava saxa sona t.
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Verg. Aen. 4,384: sequar atris ignibus absens; Prop. 2,26,30: hanc sequar et fi dos una aget aura duos. - 61 Verg. Aen. 5,627f.: cum freta, cum terras omnis, tot inhospita saxa I sideraque emensae ferimur. - 6�8 Das sog. Quirinus-ÖI wurde dort gewonnen, wo um 1 900 in Bad Wiessee jod- und schwefelhaltige Heilquellen entdeckt wurden. - 67 Lucr. 2,376: bibulam pavit aequor harenam; Verg. georg. 1,I13f.: quique paludis I conlecturn umorem bibula deducit harena; Stat. Theb. 1 1 ,44: nunc retegit bibulas, nunc induit aestus harenas. - 76 Verg. Aen. 5,866: turn rauca adsiduo longe sale saxa sonabant; Verg. Aen. 1 2,592: intus saxa sonant; Verg. georg. 4,49f.: ubi concava pulsu I saxa sonant.
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Es wird uns klar, dass hier der Dichter träumt, der nichts als Reisen im Kopf hat; er holt die Landesbeschreibung völlig unerwartet mit retardie rendem Effekt in die emotionale Rede der Geliebten hinein. Diese Rede nimmt jetzt für den Leser, der über der Landschaftsbeschreibung fast schon die Problematik der Liebesbeziehung aus den Augen verloren hat, geradezu schockierend eine hochdramatische Wendung.Denn als Alterna tive zur breit geschilderten 'Verfolgung' steht abrupt in einem Vers die Selbstmordabsicht der Geliebten. Unvermittelt steht ElsuJa mit der be kannten Geste der Dido, dem Griff zum Schwert des Aeneas, vor dem Dichter (am.2,11,77-79): Vel (mihi quod melius) si te contingat abire, Iste mihi gladius finis amoris erid" Dixerat et nosttum manibus comprenderat ensem epist. 7,1 83: scribimus et gremio Troicus ensis adest. - 79 Ov. am. 2,19,52: at mihi concessi finis amoris erit; Oy. epist. 1 8,1 96: aut mors solliciti finis amoris erit; 79 Oy. epist. 7,1 95f.: Praebuit Aeneas et causam moros et ensem I ipsa sua Dido concidit usa manu.
78 Oy.
Auf dem Höhepunkt der dramatischen Entwicklung werden der Dichter und sein Leser erlöst: Celtis erwacht, es war nur ein Traum, der vergessen werden darf (am.2,11,80): - Et iam Lethaeo litore somnus erat. 80
Verg. georg. 1 ,78: Lethaeo perfusa papayera somno.
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Selbst an der Reaktion auf die Traumvision stellt sich heraus, dass der Dichter kein epischer Held ist, der Träume als Weisungen der Götter ernst nehmen muss. Er spricht kein Gebet zur Entsühnung, und er denkt natürlich nicht um. Nein, er schüttelt offensichtlich das Traumgesicht als Produkt seiner imquieta mens ab und freut sich auf seinen Aufbruch zum Rhein (am. 2,11,81-88), nicht ohne seiner EIsula Danubiana mit einem passenden Adynaton ewige liebe zu versichern: "Rhenus adest", dixi, "Rhenum cantabimus arnnem, Qui flos Germani dicitut esse soli. Iamque vale, aetemo tibi sum devinctus amore, EIsula, Danubü gloria magna tuil Sed prius Euxinis arcebitut Hister ab undis, Quam tuus a nostto pectore cedat amor. Separet et quamvis longum discrimen amantes, " Sunt tarnen aetemo pectora cara simuI.
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83 Verg. Aen. 8,394: turn pater aetemo fatut devinctus amore. 86 Ov. rem. 752: dum bene de vacuo pectore cedat amor; Prop. 1,9,28: nec vigilare alio notnine cedat Amor. -
Immerhin hat hier Vergils Aeneas als Modell fungiert, denn seine Antwort auf Didos erste Vorwürfe enthält an erster Stelle die Beteuerung, sie ewig dankbar in Erinnerung zu behalten (Aen. 4,333-336): ego te, quae plurima fando enumerare vales, numquam, regina, negabo promeritam, nec me meminisse pigebit Elissae dum memor ipse mei, dum spiritus hos regit artus.
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Abschließend darf man nach dem Grund fragen, weshalb Elsula zu einer zweiten Dido gestaltet wird. Denn passend ist diese heroische Rolle für die bayerische EIsula nicht wirklich. Wenn wir unsere Eindrücke zusam menfassen, wird die Tendenz in diesem Gedicht greifbar, die Heroisierung der Geliebten, die zu Beginn sehr stark akzentuiert wurde, schrittweise zurückzunehmen. Am Anfang bleibt die Situation durchweg ernst, auch die Alternative von Wahrtraum oder erregter Phantasie wird nicht explizit geklärt. Der Auftritt der EIsula im Trauergestus wird durch den Vergleich eher in seinem Ernst unterstrichen. Der Trauerhabitus und -gestus und ihre Todesahnung erregen durchaus Mitgefühl. Ein episch erfahrener Leser könnte jetzt sogar eine Erscheinung wie Lucans Julia erwarten, die ihrem ehemaligen Ehemann Pompeius als Furie erscheint und ihm die kontinuierliche Verfolgung während des Bürgerkriegs androht (Lu can. 3,8-40). Doch der Umbruch vom epischen Pathos zur Personenkons tellation der liebeselegie mit ihren weniger heroischen Handlungsmotiven und Idealen ist schnell mit Elsulas Schilderung der liebesnächte und des
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nächtlich-trunkenen Sängers erreicht, der an seine officia amom erinnert werden muss. In diesem Rahmen verliert die fides-Verpflichtung mitsamt dem petjidia-Vorwurf an Gewicht, wenn man hier den Vergleich mit der politischen Rolle der Stadtgriinderin Dido einführt. Auch dass Elsula von einer Wahrsagerin gewarnt wird und doch der Attraktivität eines Dichters erliegt, trivialisiert die Beziehung im Vergleich zu der tragischen, von Göt tern initiierten epischen Liebe der standhaften Dido zu dem Heros Aeneas. Die Spannung, die sich im Kontrast zwischen epischer Vorlage und elegischer LiebesbeZiehung aufbaut, wird immer stärker. Zudem wird von Anfang an signalisiert, dass diese Elsula-Dido ein Produkt von Celtis' reger Phantasie ist Dieses Phantasieprodukt kann nur deshalb entstehen, weil er selbst sich in die Rolle des heroischen Helden Aeneas hineinversetzt, dessen Schicksal einer jahrelangen Wanderexistenz und dessen Abschiedsentschluss Celtis mit seiner eigenen Situation gleich setzt. Beim linearen Lesen der Amom können wir feststellen, dass die Wei terreise des Wanderhumanisten im Rahmen der Liebesgeschichten jeweils eine gute Motivierung und eine moralische Rechtfertigung erfordert. In Buch I ist die Beziehung zu Hasilina von Anfang an als nicht gleichwertig gekennzeichnet; der jugendliche Student hat keine ernsthaften Chancen bei der stadtbekannten Schönheit. Die Liebesbeziehung zu Ursula in Mainz im dritten Buch wird durch den Tod der Geliebten beendet, die an der grassierenden Seuche stirbt. Celtis versetzt seine Geliebte - ebenfalls durch ein Traumgesicht motiviert - in einem neuplatonischen Seelenwa gen an den Sternenhimmel (am. 3,14). Hier scheint es, dass an die Stelle einer expliziten und persönlichen moralischen Rechtfertigung die Parallelisierung zur Aeneas-Rolle getreten ist: Wen eine höhere Mission ruft, der ist gerechtfertigt Mit dieser 'Traum-Rolle' gibt der Dichter viel von seinem eigenen Selbstverständnis zu erkennen: Er fühlt sich also wie der Held Aeneas mit einer wichtigen Aufgabe betraut. Selbst wenn seine geliebte Elsula mit der Zunge und den Argumenten der Dido reden könnte, würde sie ihn genauso wenig an sich binden dürfen wie Dido den Aeneas. Der ambitionierte Dichter fühlt sich in seinem Entschluss bestätigt: Er will noch nicht sesshaft werden, er darf noch keine Familie gründen, sondern fühlt sich der Aufgabe mit Begeiste rung verpflichtet, ganz Deutschland zu bereisen und diese Erfahrungen für die Mit- und Nachwelt in einem literarischen Werk zu gestalten. Mit der Dido-Aeneas-Konstellation tröstet er sich außerdem über sein unver antwortliches Verhalten damit hinweg, dass die Unsterblichkeit, die er sich mit seinem Werk sichert, nicht nur auf den Dichter beschränkt bleibt, sondern dass seine Dichtung der Geliebten wie einer Dido ebenfalls litera rische Unsterblichkeit verschafft.
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Seesturm auf der Lebensreise Navigationem ab ostiis Albis ad Tylen insulam aborta tempestate describit (am. 4,14) -
Die Erkundung literarisch unbeschriebener und damit unbekannter Gefil de wird am Ende der Amores auf die Spitze getrieben: Celtis bricht mit seiner Geliebten zu einer Seereise auf, welche die Grenzen der bekannten Welt, wie sie die ptolemäischen Karten verzeichnen, zum Ziel hat. Bemer kenswert ist, dass ihn seine Barbara auf diese Expedition begleitet - schon das unterscheidet ihn von den epischen Helden, die als Vorbilder für die Seesturmszene in Frage kommen. Zunächst deutet wenig darauf hin, dass uns eine derartig dramatische Episode erwartet; die Elegie schildert viel mehr detailgetteu eine Schiffsreise, wie sie um 1500 stattgefunden haben könnte. Wir sehen Celtis und seine Geliebte vor dem Aufbruch zum Schiff, in Vorbereitung eines reichlichen Proviantpakets, bei dem freilich die See krankheit schon den Diätplan bestimmt (am.4,14,1-16). Die feierlichen Opfer zur Versöhnung der Meeresgottheiten, die im Epos zu erwarten sind, werden den modemen Verhältnissen angepasst, denn Barbara wird beauftragt, sich bei einem Geistlichen zuvor den Segen für die Fahrt ge ben zu lassen - wobei Celtis den Auftrag nicht allzu ernst meint, sondern nur die Gelegenheit nutzt, um eine satirische Pfaffenkritik über Barbaras allzu intimes Verhältnis zu diesem Herrn in einem Distichon einzuschal ten (am. 4,14,17-24). Die Abfahrt selbst gibt dem Dichter die Gelegenheit, über die Ursa chen von Ebbe und Flut zu spekulieren, indem er nach Vorbild des anti ken Lehrgedichts Alternativerklärungen anbietet, von denen die wahr scheinlichste an letzter Stelle ausfiihrlicher vorgestellt wird; dabei lehnt sich Celtis an antike Erklärungen zum Vulkanismus an (sprachlich am deutlichsten an die Pythagoras-Rede der Metamorphosen), seine fachwis senschaftliche Hauptvorlage ist aber die Chorographia des Pomponius Mela (M:ela 3,1-3), wo die Erklärungen für Ebbe und Flut in derselben Reihen folge zu finden sind (am.4,14,25-40): Ponticulum attraxit nauta, ancora fune soluta est Iamque aestus veniens toUit in alta ratem; Aestus septenis vicibus qui litora mutat, Cuius adhuc cunctos condita causa latet: Sive ingens animaI, totum quod dicimus orbem, Spiramenta suis faucibus illa vomit Seu subtus terram latebrae extenduntur inanes, Luctatur ventis in quibus unda feris, Aeolus absorptam quam mox iaculatur in auras, Hinc ubi subsideat, ventu.� in aslra levat;
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Sive ex congressu Solis Lunaeque recess Mutant tlUIl varias aequora salsa vices Caelorum aut virrus diversis motibus acta Impellit tumidum sie remeare sa!um, Nam septem Eoum se impellunt sidera ad ortum, Occiduum octavus sed petit orbis iter.
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Mela 3,2: neque adhuc satis cognitum est, anhelitune id suo mundus efficiat, retractamque cum spiritu regerat undam undique - si, ut doctioribus pla cet, unum anima! est -, an sint depressi a1iqui specus, quo reciprocata maria residant atque unde se rursus exuberantia attollant, an luna causas tantis meatibus pmebeat. at ortus lad ortus Tschllcke] certe eiu.� occasusque varianrur neque eodem assidue tempore, sed ut illa surgit ac demergirur ita recedere atque adv·entare comperimus. 29-30: Ov. met. 1 5,342f. (Pythagoras): nam sive est anima! tellus et vivit habetque I spiramenta locis fIammam exha!antia multis.
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Überhaupt orientiert sich Celtis mit seiner vorgeblichen Erkundungsfahrt an der antiken Chorographie. Celtis setzt in einen Periplus um, was die normale Geste der Lesedenkung bei kosmographischen Autoren, sozusa gen mit dem Finger auf der Landkarte, ist: "Wenn man also in diese Rich tung ausfährt und dem folgt, was zur Rechten liegt, kommt man zum Atlantischen Ozean . . . " (hue egressos sequentesque ea quae exeufitibllS dextra SUfi/, aequor Atlanticum . . . excipit .. . ), heißt es z.B. bei Mela (3,3). Die Landkarte, die wir als Leser in dem Holzschnitt zum vierten Amom-Buch vor uns haben, zeigt dementsprechend die Lage der Insel Thule bzw. Tyle hinter den Orkney-Inseln, wohin Celtis aufbricht. Dann erleben wir die spektakuläre Abfahrt mit Kanonendonner, dem Hissen der Segel und dem Gesang der Mannschaft ("In Gottes Namen fahren wir") aus dem Lübe cker Hafen (am.4,14,43-58). Zunächst verläuft die Fahrt wunschgemäß. Der Steuermann bestimmt mit seiner technischen Ausrüstung, u.a. einem Kompass mit Magnetnadel, souverän die Richtung (am. 4,14,59-74). Doch bei Sonnenuntergang verändert sich der Himmel. Der Seesturm kündigt sich an, auch am Wellengang und am Verhalten der Delphine, des See hunds und des monicus piscir19 ist die Prognose eindeutig zu erstellen. Hier greift Celtis eine antike Vorlage auf, indem er die Prognose des Fischers Amyklas aus Lucans Pharsalia, der Caesar nach Italien übersetzen soll (Lu-
19 In den naturkundlichen Fachbüchern des 1 6. und 17. Jahrhunderts, die der CAMENA-Thesaurus (wie Fußn. 8) zur Verfügung stellt, habe ich bisher leider keinen moniclls piscis finden können. Für den Hinweis der Kieler Experten bin ich dankbar, die bei Frank Lesttingant: Le livre des iles. Adas et recits insulaires de la genese a Jules Vemes, Geneve 2002, 69 mit Bezug auf diese Celtis-Stelle die Er klärung als Robbe (vgl. auch Mönchsrobbe, allerdings regulär phoca monacus) ge funden haben. Ein Nachweis des Sprichworts ist mir nicht gelungen.
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can. 5,54O-559, bes. 552ff.), an die nordischen Verhälmisse anpasst (am. 4,14,77-86): Ecce nigra a madido nubes se su,tulit austro Et tenebris totum texit aquosa polum. Tum mare per tutnidos coepit crudescere fluctus Albescitque fero candida spuma freto Delphinusque maris sua terga in margine yolvit Et canis aequoreus tollit in alta caput Et monicus piscis, qui tectu, pelle cuculli, Emicat: undosi signa futura maris, A cuius visu sumunt proyerbia nautae: Enatat ut monicus, mox freta turbat hiems. 7�80 Ov.
tibus.
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met. 1 1 ,480f.: cum mare sub noctem tutnidis albescere coepit I fluc Lucan. 5,552: nec placet incurvus qui proyolat aequore delphin.
Mit der Seesturm-Schildenmg selbst mehren sich die wörtlichen Über nahmen aus antiken Texten. Dabei ist weniger der Seesturm der Aeneis Vorbild, der ja im Vergleich mit anderen epischen Seestünnen relativ knapp gehalten ist. Als Hauptvorlage diente Celtis der Seesturm aus dem elften Buch von Ovids Metamorphosen, der das Aition des Eisvogels erklärt: Ceyx, der König der Trachinier, gerät auf dem Weg zum apollini schen Orakel in Klaros auf dem Seeweg in den tödlichen Sturm; von Juno gesandt, erscheint Somnus in Gestalt ihres Mannes bei Alcyone und un terrichtet sie von dessen Tod; am Strand findet die verzweifelte Gattin den Leichnam des geliebten Mannes und wird vom Schmerz in den Was servogel verwandelt, dessen Brutzeit die halkyonischen Tage ankündigt, an denen die Seefahrt noch zur Winterzeit möglich ist (Ov. met. 11,410-749). Die Schilderung bei Celtis verläuft in der literarisch gewohnten Weise: Alle Winde kämpfen zunächst gegeneinander und wühlen des Meer vom Grund her auf, dazu kommt das Gewitter mit Blitz und Donner und ein Wolkenbruch ungekannten Ausmaßes (am. 4,14,87-98): Mox mit Arctois Boreas demissu, ab antris, Proelia quem contra fervidus Euru, agit, Hinc yomuit furiens sabulosas pontus arenas Et Styge Tartarea nigrior unda furit. Iarnque propinquabat nostro stans yertice nubes Crebraque fuImineis ignibu, emicuit Et yasto sonitu concussus inhorruit aether, Ceu loye iarn meret fractus uterque polus. Plurimus inde mit resolutis nubibus imber Et madefacta suas carbasa per pluvias. Iarnque salo coepit spirare yalentior eurus, Occupat et totum marmoris imperium.
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90 Ov. met 1 1 ,500: S tygi a modo nigrior unda - 92 Ov. met 1 1 ,523: fulmineis ardescunt ignibus undae -93 Verg. Aen. 1 ,90: intonuere poli et crebris micat ig nibm aether; Ov. Pont. 3,3,9: inhorruit aer -94 Ov. fast. 2,489f.: nutu ttemefac tus uterque lest polus -95 Ov. met 1 1 ,5 1 6: eece cadunt largi resolutis nubibus imbres - 97 Ov. met. 1 1 ,480f.: eoepit I [ . . . J et praeeeps spirare valentius Euros.
Die Auswirkungen auf das Schiff werden anschließend im Detail geschil dert; es wird auf Wogenberge gehoben und in Wogentäler hinabgestürzt (am.4,14,99-102); ähnlich wie bei seiner Bergwerksschilderung geht Celtis auch hier mit seinen asttonomischen Angaben um: Obwohl gerade kein Stern mehr am Himmel zu sehen ist, gibt Celtis explizit Sternbilder an, die er vermisst; zwar wissen wir, dass die Bärin für ihn seit der Verstimung seiner Ursula persönlich bedeutsam ist, doch ist es auch für die Orientie rung auf See durchaus relevant, den großen Wagen zu erkennen. Cepheus scheint exemplarisch für die Reihe von Sternbildern von der Schlange bis zu Andromeda und deren Eltern genannt zu sein, die Celtis sonst gern katalogartig aufzählt (am.4,14,103-106). Der Steuermann lässt die Segel einholen, die Ruder werden eingezogen, der Mastbaum umgelegt (am.4,14,107-110); dass die Schilderung nicht chronologisch, sondern systematisch vorgeht, erkennt man an diesen Angaben. Im Seesturm der Metamorphosen werden gleich zu Beginn des Sturms diese wichtigen Maßnahmen zum Schutze des Schiffs ergriffen: Tollitur ad eaelum validis ratis acta procellis. Mergitur infemum hine ceu subirura specum. Fluetuat in tenebris pluvioso et in aere navis Mersa Acheronteis ceu foret illa vadis. Omnia nimbosa latuerunt !lidera nube, l:ttaque nee visa est Ursa mieare mihi, Nee (:epheus, mitta qui tecrus pontificali, Visus erat, toto et sidera nulla polo. Ipse ratis rector demittere comua c1amat Et vela anternnis mox religare iubet, Hinc alü rernos ducunt malumque rescindunt, Coepimus et medio sie fluitare salo.
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99 Sil. 3,228: saevior i t ttucibus ternpestas acta procellis. -102 Ov. met. 1 1 ,504: despicere in vlilles imumque Aeheronta videtur -107 Ov. met. 1 1 ,493: ratis reetor - 107-108 Ov. met 1 1 ,482f.: "ardua iamdudum demittite eornua", reetor I c1a mat, "et antemnis torum subneetite velumi" -109 Ov. met. 1 1 ,486: tarnen prope rant alü subdueere rernos. -110 Sil. 6,685f.: videres I elassis er effusos fluitare in gurgite Poenos.
Celtis kann damit freilich die Manövrierunfahigkeit des Schiffs betonen und die Furcht der Mannschaft beschreiben; dass er sich genau an dieser Stelle zur Anwendung eines Vergleichs entschließt, wird durch seine Vor lage motiviert sein; denn als das Schiff des Ceyx von den Wogen bestürmt
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wird und das Wasser zwischen die Balken eindringt, vertieft Ovid die Vorstellung vom Sturmangriff auf eine belagerte Stadt, indem er die Angst der Seeleute mit der der Bewohner einer belagerten Stadt vergleicht (Ov. met.11, 534-536): trepidant haud segnius omnes quam solet urbs aliis murum fodentibus extra atque aliis murum trepidare, tenentibus intus.
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Allerdings wählt Celtis zwei Vergleiche, die die Dramatik der Situation eher mindern als steigern, wenn er das panische Schreien der Mannschaft zu dem Geschrei der Arbeiter beim Transport von Wein aus einem öster reichischen Weinkeller oder von Fässern auf einem Transportschiff auf der Donau in Beziehung setzt (am.4,14,111-116): Exoritur vastus cunctorum ad sidera damor Incertusque suae quisque salutis erat. Qualiter Austriacam damatur forte per urbem, Bacchica de cellis turba ubi vasa trahit, Aut qualis damor nautarum, ubi navis in Histro Infert Bavaricis dolia multa plagis.
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Verg. Aen. 2,488: ferit aurea sidera damor; Verg. Aen. 3,1 28: nauticus exori tur vario certamine damor; Verg. Aen. 5,1 40f.: ferit aethera damor I nauticus; Silo 9,304: tollirur immensus deserta ad sidera damor.
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Ist das ein Signal für den Leser, die Gefährdung nicht allzu ernst zu neh men? Und doch spitzt sich die Situation mit dem Fokus auf unseren Hel den noch einmal zu: Celtis entkleidet sich und will sich über Bord in die Wogen zu stürzen, als sich Barbara an ihn klammert. Er ist kein einsamer epischer Held! Celtis hat den (Im Vergleich zu anderen epischen Sees turm Schilderungen) heute wenig bekannten Untergang des Ceyx mit gutem Grund als Vorbild für seinen elegischen Seesturm ausgewählt. Der See s turm in Ovids Metamorphosen stellt die große Liebe von Ceyx und Alcyone ins Zentrum der dramatischen Entwicklung, denn die letzten Gedanken des Ertrinkenden gelten seiner Frau, und die Gattin erleidet im übergroßen Schmerz die Metamorphose. Während aber der Ovidische Ceyx es als Trost empfinden kann , dass seine Frau ihn nicht begleitet hat, teilt Barbara mit ihrem Dichter die bedrohliche Gefahrensituation. Sie ist treu wie Alcyone, will sich mit ihm in den Tod stürzen und entwirft schon das Epigramm für ihrer beider Grabstein (am.4,14,117-130): Vestibus expedior, spes si foret ulla natando, Et tabu1am aut remum prendere puppe volens, Barbara turn nostros amplexa fideliter arms Cum gemitu et lacrimis haec mihi verba dedit: "Si tua committes, Celtis, modo corpora ponto,
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Te comitem intrepide mox peritum sequar Ipsaque desiliens; wta iactabimut unda Aequorea, donec terra petita simu!. Vel si non dabitut placidas contingere terras, Nec nostra ad litus corpora fluctus aget, Hoc mare letiferum nobis commune sepulcrum Iam detut; hunc titulum naufraga membra ferant: 'Barhara cum Celte his vitam finivit in undis, Infausta Tylen dum petiere rate.'"
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Ov. trist- 1 ,2,33: nec spes est ulla salutis. - 120 Mart. 2,76,2: hic tibi verba de dit; Mart- 9,67,4: ante preces totum primaque verba dedit -121 Verg. Aen. 1 ,70: et dissice corpora ponto; Ov. trist- 1 ,2,39: nescit in immenso iactari corpora pon to -123 Ov. met. 4,1 66 (Pyramus und Thisbe) : una requiescit in utna -126 Ov. met- 1 1 ,564f.: ut agant sua corpora f1uctus I optat -128 Ov. ars 1 ,41 2; Ov. epist1 8,1 98: naufraga membra -129 Ov. met. 7,59 1 : non exoratis animam finivit in a ris.
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Wenn wir uns daran erinnern, dass die Konzeption der vier Oden-Bücher Celtis' Tod ins Auge fasst, so können wir spekulieren, ob nicht auch für die AmoT71s der dramatische Tod in den Wogen des Seesturms geplant war und deswegen der Ceyx-Seesturm mit seinem tödlichen Ausgang als ge eignetes Modell gewählt war. Das Epitaph wäre jedenfalls ein pathetischer Abschluss für diese Elegie geworden. Doch Celtis gibt der Situation in der einzigen uns vorliegenden Fassung mit einem Stoßgebet an die Götter die entscheidende Wendung (am 4,1 4,1 3 1 - 1 40) . Schlagartig bricht die Sturm schilderung mit einem "Und die Götter hatten uns erhört" ab. Wir erfah ren zunächst einmal nichts von der erleichterten Mannschaft, nichts von einer Reparatur des Schiffes. Doch der Sturm muss nachgelassen haben, denn als Celtis erschöpft in Schlaf sinkt, erscheint ihm der Götterbote Merkur. Und so wird der Beinahe-Ceyx wieder zu einem Aeneas; denn Merkur ist es, der den Vergilischen Aeneas in Karthago - freilich mit einer vorwurfsvollen Schelttede - an sein eigentliches Ziel erinnert. Dem Dich ter auf Irrfahrt wird durch den Götterboten ebenfalls die richtige Richtung gewiesen - im wahren Wortsinn: Auf einer von drei umständlich be schriebenen Reiserouten - entweder über die Alpen nach Bozen oder in Richtung Triest oder über Brixen nach Trient - solle Celtis König Maxi milian aufsuchen (am. 4,1 4, 1 4 1 - 1 56) . Dieser werde ihn zum Leiter des Coilegillm poelamm el mathematicomm an der Universität Wien ernennen und mit dem Privileg ausstatten, als Stellvertreter des Königs die Absolventen des Collegs zum poem iaNT7Iallls zu krönen (am 4,1 4, 1 57-168) : .
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"Is tibi perpetuo donabit tempore census Et paupertatis non sinet esse metum Collegio sactas statuens donare Camenas Atque mathematicos iunget in aede duos,
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Hie ubi nune tollit SUa moenia clara Vienna Et Cetius Baeehi munera latgus alit. Teque huic domui recmrem praeesse iubebit Caesareasque viees te gerete ipse iubet, Scilieet ut lauro poteris decorare poetas " Et qui suecedent post tua fata tibi. Sie fatus eeleres ad sideta sustulit a1as Et petit aetherios impiger iIle polos. 167 Verg.
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Aen. 9,14: in eaelum paribus se sustulit alis.
So erfüllt sich das Gebet, das Celtis in der höchsten Not ausgesprochen hat, und somit wird die symbolische Bedeutung dieses Sturms überdeut lich zum Ausdruck gebracht. Maximilian verdankt Celtis, nach Jahren des Wandererdaseins endlich in den Hafen einer sicheren Anstellung einlaufen zu können. Und nicht nur das: Sein bildungspolitisches Ziel ist mit der Gründung des Kollegs bestätigt. Genauso wie Aeneas im fremden Kar thago nicht sesshaft werden durfte, bestätigt sich jetzt, dass Celtis' Univer sitätskarriere noch nicht am Ziel angelangt war: Er ist dazu ausersehen, die Ausbildung des diplomatischen Nachwuchses für die königliche Kanzlei in einem eigenen Institut durchzufiihren und genießt das Vertrauen des Herrschers durch die Verleihung des herrschaftlichen Privilegs der Dich terkrönung. Mit dieser göttlich verkündeten Botschaft verflüchtigen sich die Ge witterwolken. Celtis fuhrt die Expedition zu Ende; man ist bei den Orkney-Inseln, den Orkades, angekommen (am. 4,1 4,169-1 79), und Celtis beglückt zum Abschluss seine Leser mit der nordischen Wunderwelt, wo angeblich exilierte Götter als Trolle ihr Unwesen treiben, deren Eigen schaften sehr an Klabautermänner erinnern (am. 4,1 4,1 79- 1 92). 20 Pomponius Mela versicherte, dass auch bei glaubhaften Autoren zu lesen sei, dass just bei den Orkades seltsame Menschen mit Pferdefüßen und Elefantenohren lebten; 21 Celtis ersetzt diese Passage durch die moderne Nachricht von den Trollen, die den Seeleuten helfen, solange sie gut be handelt werden, bei respekdoser Behandlung aber zu einer Gefahr fiir Schiff und Mannschaft werden können. Durch den Sturm ist man dem Ziel, der Insel Tyle, ganz nahe ge kommen; das zeigt sich bei verändertem klaren Wetter am nächsten Mor-
20 Friedrich Ranke: "K1abautetmann" , Handwörterbuch des deutschen Aberglau bens 4, 1 437-1439. 21 Mela 3,56: in his esse Oeonas, qlli ovis avillm pailistrillm et avenir tanfllm ultmfllr, esse eqllinis pedihlls Hippopodus et Sannaios, qllibliS magnat aurtS et ad aIIIbiendNm copus omne paflllat - nIldis alioqllin - pro veste sint, praeterqllalll qllod joblliis tradifllr, aplld auctores e/iam, qllos seqlli non p;"eat, invenio.
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gen. Man geht an Land und feiert zum Dank an Neptun feuchtfröhlich den ganzen Tag (am. 4,1 4,1 93-204). Wer jetzt eine Beschreibung der sa genumwobenen Insel Thule erwartet, wird enttäuscht. Celtis weist nur auf die ungewöhnliche Länge des Tageslichts hin (so auch Mela 3,57), ja er gibt sich nicht einmal mit dem Ansatz einer Landesbeschreibung die Mü he, den Schein einer tatsächlichen Expedition in den Norden aufrecht zu erhalten. Die ganze Elegie hat ein anderes und wichtigeres Ziel: die Beru fung des Dichters nach Wien. Er reist also schnellstmöglich, wie die dak tylische Hetze in per iuga, per scopllios anzeigt, nach Timl zur Audienz bei Maximilian (am. 4,1 4,205-21 0) . Die Begegnung mit dem Herrscher ist denkwürdig, greift sie doch die grundlegenden Gedanken einer Dichter krönung wieder auf, die ein symbiotisches Verhältnis zwischen kulturför derndem Herrscher und Literaten herstellt. Ma.ximilian empfangt den Dichter mit einer lapidaren und deshalb kurios anmutenden Feststellung: "Es ist leicht, einen Dichter zu ernähren!" Juvenal sagt dasselbe sinnge mäß in seiner siebten Satire, in der er die mangelnde Literatur- und Kul turförderung durch die reiche Oberschicht anprangert, spöttisch zu einem Adressaten seiner Kritik: Es sei offensichtlich schwieriger, einen Dichter durchzufüttern als einen Löwen! 2 2 Gleichzeitig wird man aber als ein Leser aus der Zeit um 1 500 in Juvenals Satire auch eine positive Aussage finden, die der eigenen Idealvorstellung vom Verhältnis des Landesherrn zu den Literaturschaffenden entspricht; man wird nämlich Juvenals Satirenanfang als ein Motto frühneuzeitlicher Kulturpolitik verstehen: "Hoffnung auf kulturelle Förderung gibt es nur beim Herrscher" (Juv. 7,1 -3): Et spes et ratio sturuorum in Caesare tanturn; solus enim tristes hac tempestate Camenas respexit
Die generösen Angebote Maximilians auf finanzielle Hilfe bei der Fami liengtündung oder der Sicherung von Domherrenpfründen lehnt Celtis bescheiden ab; stattdessen verpflichtet er sich als poela Jallreallls zu dem Lebens- und Berufsziel, dem Herrscher durch seine literarischen Werke zur Unsterblichkeit zu verhelfen (am. 4,1 4,21 6-229): Moxque mihi summi fuerat data copia regis Exponoque, meae quae sit origo viae. Subiunxit Caesar: "Facile est nutrire poetam. Si cupis, mcorem iam tibi, Celti, dabo. Vel si devota fieri vis mente sacerdos,
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22 Juv. 7,74-78: ,\'on hobel inftlix l\"lImitor, qllod mittat amico I Quintillae qllod donet, hobel, nec difuit illi I unde emeret mll!ta pascendum came leonem I iam domitum; constat leviori belua sumptu I nimimm ef capiuntplus intestina poetoe.
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Absentes nummo s, si petis, ipse feres." "Non ego, rex Latii princeps et gloria regni, Haec cupio vitae taedia magna meae. Sed cupio aetemum lieri per carmina regem, Eius et in cunctis gesta canenda plagis. Quod lieri U[ possit, rex invictissime regum, " Annua des certo cum lare dona mihil Annuit et propriis manibus sigoaverat omne, Quod petii, oblato et munere abire iubet.
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Das Ende der Reise und der vier Bücher der Amom beginnt also zunächst als Periplus, zwar auf antiken literarischen Fachbüchern basierend, aber mit allen Details moderner Schifffahrt glaubwürdig als Expedition in Sze ne gesetzt. Umso auffälliger setzt sich davon der Mittelteil mit dem See sturm ab, dessen epische Ausgestaltung erneut als Markierung dient, um eine programmatische Aussage zum Selbstverständnis als Dichter und zum Verhältnis von Herrscher und Literaten vorzubereiten, die zum Ziel punkt der gesamten Amom-Konzeption wird. Ähnlich wie in am. 2,1 1 wird die epische Inszenierung wiederum mit dem Gedanken an die höhere Mission verbunden. Diesmal ist sogar Mer kur - wie in der Aeneis - der Bote, freilich nur als Traumvision. Celtis kann sich für den Einsatz epischer Konstellationen zum Ausdruck persönlicher Situationen auf seinen Vorbildautor Ovid berufen. Denn gerade Ovid ist es, der den epischen Seesturm zum Ausdruck seiner Ge fährdung und seines problematischen Verhältnisses zu Augustus in den Tristien eingesetzt hat. In der vierten Elegie des ersten Buchs sieht sich der Dichter den Naturgefahren auf der Abfahrt von Italien wie ein zweiter Odysseus oder gar ein Aeneas mit umgekehrtem Ziel ausgesetzt: Der Sturm droht das Schiff nämlich wieder zurück nach Italien zu treiben, was dem Relegierten beinahe genauso gefährlich scheint wie die physische Bedrohung, der er durch den Sturm ausgesetzt ist. Sein Gebet an die Mee resgottheiten spricht deshalb auch von Augustus als dem inJestus lupp;ter, der ihm unerbittlicher scheint als die Götter der Naturgewalten. Celtis dagegen sieht sich in der Lage, das Herrscher-Dichtet-Verhältnis in Form einer panegyrischen Danksagung auszudrücken; Maximilian wird panegy risch die Rolle des rettenden Gottes zugeschrieben, der dem orientie rungslos im Sturm des Lebens treibenden Dichter und seinem ehrgeizigen literarischen Projekt einen neuen Zielpunkt gibt. Die Selbstdarstellung und Erkenntnis der eigenen Aufgabe erfährt in nerhalb der Elegienbücher, wenn wir die nach der Aeneis gestalteten Epi soden als entsprechende Signale verstehen, eine Entwicklung: Wtrd in Buch I mit dem Gang in die Unterwelt noch demonstrativ die Aeneas Rolle abgelehnt und statt des pflichtbewussten literarischen Schaffens der
Die /Jenea.r-Rolle des elegischen Helden
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Lebenssinn eher in Freundschaft, Lebensgenuss und entsprechend in liebes- und Freundschaftsdichtung gefunden, so wird in Buch 11 schon die Erkundung des Landes und die Verewigung in literatur als eine Missi on gerechtfertigt, die Vorrang vor anderen Lebensentwürfen verdient. Einen 'höheren Sinn' mit panegyrischer Verpflichtung erhält diese Mission darüber hinaus erst am Ende von Buch IV durch die königliche Berufung nach Wien. Auch die Amom haben damit spürbar eine Funktionserweite rung erfahren. Sie müssen jetzt als eine Qualifikationsschrift dienen und die Berufung auf die exponierte Professur als gerechtfertigt erweisen. Wie in der Widmungsvorrede der Amom die Arbeit am Projekt der Germania ilJustrata bestätigt wird und ein Maximiliansepos zumindest als Erwartung des Herrschers angesprochen ist, so beweist Celtis mit den Amons selbst schon, dass vielversprechende Ansätze zu einer Landesbeschreibung und zu einem Epos vorhanden sind: Sowohl in seinem in zwei Jahrzehnten erworbenen Fachwissen, das er in die Amons bereits einbringt, zeigt er sich diesem Anspruch gewachsen, wie auch in seinem formalen dichteri schen Können, wenn er gerade den Periplus des letzten Buchs mit See sturm und Göttererscheinung problemlos zu einer Kostprobe für ein panegyrisches Maximiliansepos erweitert.
Das leere Grab und die Macht der Bilder Vergilrezeption in der Christias des Marco Girolamo Vida
REIN HOLD F. GLEI (Bochum) Bildbeschreibungen gehören neben Gleichnissen und Katalogen seit An beginn zu den typischen, unabdingbaren Elementen des Epos, die die fiktionale Erzählung deutend begleiten und die man mit den Schlagwör tern Kunst, Natur und Gedächtnis umschreiben könnte. Auch im Chris tusepos des Cremonenser Humanisten und Gegenreformators Marco Girolamo Vida (ca. 1 480/>-1 566)1 spielen diese drei gattungskonstituti ven Merkmale eine prominente Rolle: Im Katalog der Völker des alten Israel (Chr. 2,333-529) erfahren die Juden eine ähnliche Aufwertung wie die Völker des alten Italien bei Vergil; 2 in den zahlreichen Gleichnissen wetteifert Vida mit seinem Vorbild hinsichtlich Originalität und Natumä he der Vergleiche;3 und in der großen Ekphrasis des Jerusalemer Tempels
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Zur Biographie Vidas vgl. das einleitende Kapitel bei J\.fario A. Di Cesare: Vida's Christiad and Vergilian Epic. New York lLa. 1964, 1 -39; Peter Hibst: MarclL� Hie ron}mus Vida, D. dignilale reipllblicae. Über den Wert des Staates. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar (BAC 57), Trier 2004, 26-33. - Die gegenreformatori sche Tendenz der Christias zeigt sich vor allem in der von VergiI übernommenen, aber jetzt anders motivierten Romideologie (tra"slatio imperii .cdtnastici von Jerusa lern nach Rom) und in der Einsetzung des Papsttums. Dadurch wird der AntijudaismlL�, der in der Darstellung der Hohenpriester und Schriftgelehrten sowie der Volksmassen vor Pilarus deutlich zutage tritt, etwas abgemildert. Zum Katalog wie überhaupt zu Vidas Verhälmis zum Judenrum vgl. Reinhold F. Glei: "lWtmoria llidaica. Die Darstellung der Juden in der Christias des Marco Girolamo Vida", Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 2009 (2010), im Druck. Zu einzelnen Gleichnissen vgl. J ames P. Holoka: ,,A Neoplatonic Simile in Vida's Christiad (4.1 0- 1 5)", Romance Notes 1 8, 1 977, 243-246; William J. O'Neal: "The Simile in Vida's Christiatf', in: R. J. Schoeck (Hg.), Acta Convenrus Neo-Latini Bononiensis. Proceedings of the Fourth International Congress of Neo-Latin Studies. Bologna 26 AugtL�t to t September t 979, Binghamton, NY t 985, 558563; Wolfgang Polleichtner: "Die Bienengleichnisse der Christias und Vidas Ver-
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Reinhold F. Glei
(Chr. 1 ,551-724)4 zeigt sich Jesus als Deuter der Zukunftsbilder dem vergilischen Aeneas überlegen, der mit seinem Schild ahnungslos Ruhm und Schicksal der Enkel schultert. Es war seit jeher die Intention der Bibeldichter, einerseits den paganen epischen Stoff durch die Heilsgeschichte, andererseits den primitiven sermo piscatorius der Bibel durch die formvollendete Sprachkunst Vergils zu sub stituieren.5 Im Vergleich zur Aeneis, ja selbst zu den epigonalen Epen der Kaiserzeit nehmen sich allerdings die spätantiken Bibeldichtungen recht ärmlich aus; ein gleichwertiges, an den Maßstäben vergilischer Poetik ori entiertes Bibelepos war daher eine Aufgabe, die erst im Humanismus überhaupt ernsthaft in Angriff genommen werden konnte.6 Vida, der sich durch seine Jugendwerke, vor allem den LIIdus Jcacchiae7 und die Bom�ces8,
gil-imitatio", Neulateinisches Jahrbuch 8, 2006, 227-232; ders.: "Von Bienen und Korkeichen. Die lateinischen Fachschriftsteller und Vidas Bienengleichnisse , Neulateinisches Jahrbuch 10, 2008, 293-304. Vgl. Di Cesare (wie Fußn. 1 ) , 1 09-1 13; s. auch die Bemerkungen zur Tempe1ekphra.�is bei Glei (wie Fußn. 2) . Vgl. beispielshalber meine Untersuchung des Weinwunders zu Kana (loh. 2) bei den Bibelepikem Iuvencus, Sedulius und Vida: Glei, Reinhold F.: ,Jesus als Gottmensch in lateinischer Bibelepik , in: Gerhard Binder, Bemd Effe, Reinhold F. Glei (Hgg.): Gottmenschen. Konzepte existentieller Gren2Überschreitung im Altertum (BAC 55) , Trier 2003, 1 33-154. Analog gilt dies auch für die griechi sche Bibeldichtung, insbesondere für die Johannesparaphrase des Nonnos (vgl. Joseph Golega: Studien über die Evangeliendichtung des Nonnos von Panopolis. Ein Beitrag zur Geschichte der Bibeldichtung im Altertum, Breslau 1930; neuere Untersuchungen dazu fehlen). Zu den Homercentonen der Eudoki a (mit einer exemplarischen Interpretation der Lazarus-Episode Joh 1 1 ) siehe meinen Auf satz: Reinhold F. Glei: "Der Kaiserin neue Kleider. Die Hornercentonen der Eudokia", in: Bemd Effe, Reinhold F. Glei, Claudia Klodt (Hgg.): 'Horner zwei ten Grades'. Zum Wirkungspotential eines Klassikers (BAC 79) , Trier 2009, 227248. Vida verfasste (vor 1 52 7) eine Ars poetica, in der er Vergil als das unübertreffliche Muster epischer Dichtung feierte: vgl. Susanne Rolfes: Die lateinische Poetik des Marco Girolamo Vida und ihre Rezeption bei Julius Caesar Scaliger, München u.a. 2001 (zur Datierung 37ff.) . Dass Vidas implizite Poetik in der Christias sub stantiell noch über seine explizite Poetik in der Ars hinausgeht, ist die zentrale These des Buches '\Ton Di Cesare (wie Fußn. 1 ) . Zum Schachgedicht vgI. Reinhold F. Glei und Thomas Paulsen: ", ...und sie spielt sich dochl' Zur Rekons truierbarkeit der Schachpartie in Vidas 'Scacchia Ludus''', Neulateinisches Jahrbuch 1 , 1 999, 65-97. Ein Lehrgedicht über die Seidenraupenzucht (2 Bücher) in Anlehnung an Vergil.� 4. Geo rgicabuch Allgemein zum Hintergrund vgI. Walther Ludwig: "Neulateini sche Lehrgedichte und Vergils Geo'J!icd' ( 1 982) , in: ders.: Utterae Neolatinae. "
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Vergiltc:zc:ptinn in der Christias des Maren Girularnn Vida
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dem Medici-Papst Leo X. empfohlen hatte, war wie kein anderer geeignet, nunmehr ein Christusepos zu beginnen, das ihn vollends zu einem alter Vergiuus machen sollte. 1 5 1 8 vom Papst beauftragt, reifte die Christia.r länger als die Aeneis und konnte erst 1 532 Leos Nachfolger Clemens VII . handschriftlich überreicht werden.9 Gedruckt wurde das Epos erstmals 1 535 in Cremona, 1 550 dann daselbst in einer Ausgabe sämtlicher Ge dichte letzter Hand.lu Es umfasst sechs Bücher mit jeweils etwa 1 000 Ver sen und erzählt die Heilsgeschichte von Palmsonntag bis Pfingsten;l l die Vorgeschichte von Mariä Empfangnis bis zu Jesu Predigten und Wundem berichten Joseph und Johannes (der Ueblingsjünger, der mit dem Evange listen identifiziert ist) im Rückblick als eine Art stellvertretende Apologie vor Pilatus. Diese Apologe (Buch 3 und 4) machen ein Drittel des Ge samtwerks aus und haben somit schon quantitativ ein größeres Gewicht als die Apologe des Aeneas vor Dido; hinzu kommt, dass in ihnen nicht
Schriften zur neulateinischen Literatur, hg. von Ludwig Braun lLa., München 1 989, 100-127 (zu den /30m!?yces S. 1 1 0-1 1 3). Spezialuntersuchungen fehlen. 9 Die Handschrift ist erhalten (Florenz, Biblioteca Nazionale, Conventi Soppressi C8, 1 1 77) und wird für die kritische Edition der ChristitJJ (mit Übersetzung und ausführlichem Kommentar) ausgewertet, die von einer Bochumer Arbeitsgruppe (Reinhold F. Glei, Wolfgang Polleichtner, Michael Schulze Roberg, Eva von Contzen) vorbereitet wird. Die bisher einzige vollständige deutsche Ubersetzung (in Hexametern) dürfte als veraltet gelten: J esus Christus. Ein lateinisches Hel dengedicht des Erzbischofs Vida; Deutschen Verehrern des Göttlichen Helden gesungen von Johann David Müller, Prediger zu Stemmern, Hamburg: bei B. G. Hoffinann, 1 81 1 . Altere englische L'bersetzung von Drake, Gertrude C. und Cla rence A. Forbes: Marco Girolamo Vida's The Christiad. A Latin-English Edition, Carbondale u. a. 1 978; jetzt maßgeblich Marco Girolamo Vida, ChristiQd. Trans lated by James Gardner (The I Tatti Renaissance Library, 39), Cambridge, Mass. 2009. Ein moderner Kommentar ist ein dringendes Desiderat (s. das oben ge nannte Projekt); wir besitzen nur den zeitgenössischen, allerdings monumentalen Kommentar des Bartolomeo Botta (M Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Christia.� . Presbytero Bartholomaeo Botta, Canonico Papiensi interpre te. Ticini, Apud Hieronymum Bartolum. 1 569), vgl. dazu Guido Baldassam: "Un commento cinquecentesco alla 'Christias' de1 Vida", in: Miscellanea di studi in onore di Marco Pecoraro, vol. I: Da Dante al Manzoni, a cura di Bianca Maria DaRif, Firenze 1 991, 1 95-222. Die Dissertation von Gertrude Georgina Coyne (später hieß sie Gertrude Coyne Drake): An Edition of Vida's ChristiQd with In troduction, Translation and Notes. Diss. Ithaca (Cornell University) 1 939, ist un gedruckt und anscheinend nur in einem Exemplar in Comell greifbar; sie liegt mir in Kopie vor (Scans von Wolfgang Polleichtner). 10 Zur Druckgeschichte umfa.� send 1I-fario A. Di Cesare: Bibliotheca Vidiana. A Bibliography of Marco Girolamo Vida, Firenze 1 974. 1 1 Eine detaillierte Inhaltsübersicht findet sich bei Müller (wie Fußn. 9), III-XVI.
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nur das Leben Jesu, sondern auch die gesamte biblische Heilsgeschichte inklusive Schöpfung und Weltuntergang inkorporiert ist.12 Die Struktur des Werkes ist so angelegt, dass jedes Buch neben der fortschreitenden Erzählung ein längeres episches Element enthält: Buch 1 die Tempelekphrasis, Buch 2 den Katalog, Buch 3 und 4 als Höhepunkt die Apologe, Buch 5 schließlich, dem letzten Aeneis-Drittel entsprechend, eine große (Beinahe-)Schlacht (Chr. 5,508-702: Die Engel wollen den Tod Christi verhindern und rüsten sich gegen die Mächte der Hölle, aber Gott verhindert den Kampf), und Buch 6 die Katabasis Christi (Chr. 6,121293), eine grandiose Variante des Descensus-Kampfes.13 Doch nicht diese gewaltigen epischen Partien sollen im Zentrum dieses kleinen Beitrags stehen, sondern eine eher unscheinbare Szene, an der gleichwohl wesentli che Interpretationslinien der Christias deutlich gemacht werden können. In Buch 6 der Christias finden wir nach der Katabasis Christi und der Befreiung der frommen Seelen aus der Hölle die eher beschauliche Szene rie des frühen Ostersonntags, an dem Maria Magdalena (maestissima Magda Jene 6,3 1 5) und andere Jüngerinnen zum Grab Jesu gehen, um Totenspen den darzubringen. Unterwegs beklagen sie ihr Schicksal (nos miseras 6,322) und bedauern, nicht mit ihrem Meister (lacrimabilis heros 6,322) gestorben zu sein. Als sie zum Grab kommen, sehen sie umherblickend, dass kein Wächter da ist und der Eingang offensteht. Sie treten heran, finden das Grab leer - nur ein Wohlgeruch hängt noch in der Luft -, und Magdalena (pulcherrima virgo 6,333) glaubt, der Leichnam sei geraubt worden. Ihr hefti ges Wehklagen wird von der Ankunft eines Engels unterbrochen, der die Frauen auffordert, ihre Trauer fahren zu lassen: Christus sei auferstanden. Dies wird freilich nicht so lapidar mitgeteilt, sondern recht weitschweifig gleich mit einer Lektion in Soteriologie und Anastasiologie verbunden: Christus sei um der Sühne all er willen, auch ihrer - der Frauen - Vergehen (vestraque ... crimina 6,343), freiwillig am Kreuz gestorben, habe den König des Erebos besiegt und sei aus dem Totenreich als Sieger zur Oberwelt zurückgekehrt. Alles Sterbliche habe er von seinem Körper abgelegt.14 1 2 Die Kritik dieser Konzeption als "unhomerisch" und "unarisrotelisch" bei Tho mas Greene: The Descent from Heaven. A Study in Epic Continuity, New H a Yen u.a. 1 963, 1 7 1 , ist evidentermaßen abwegig, da diese Vorwürfe auch VergiI, ja in gewisser Weise auch Homer selbst (mit seiner Schildbeschreibung) treffen würden. 13 Vgl. Josef Kroll: Gntt und Hölle. Der Mythos vom Descensu..kampfe (Studien der Bibliothek \X-'arburg, Heft 20), Leipzig u.a. 1 932 (Nachdr. Darmsradt 1 963). Ob der Descensu.. Christi im apokryphen l'\icodemu.. -Evangelium für Vida Pate gesranden hat, bliebe noch zu untersuchen. 14 Dies erinnert an die Apntheose des Aeneas, die bei Ovid (met. 1 4,600) mit der selben Wendung qll<Jecumqlle obnoxia morti (= ehr. 6,347) beschrieben wird.
Vetgilrc:zc:ptiun in der Christia. des Mareu Girulamu Vida
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Nach diesen Worten verschwindet der Engel und lässt die Frauen, noch immer verwirrt und zweifelnd, zurück. Daraufhin erhält Maria Magdalena eine Art zweite Offenbarung, diesmal in Form eines Bildes (Chr. 6,351368):15
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Namque morae impatiens atque acri saucia amore dum uirgo sedet ac miratur inane sepulcrum artificumque manus, uidet ipso in marmore ficrum littus arenosum, porrectum in littore piscem, fluctiuomum, ingentem, nant aequore qualia in alto mole noua ignaros nautas terrentia cete: monstrum turpe, atrum, spatiosi bellua ponti, cuius ab undiuomo uates imperditus ore redditus aereas rutsum ueniebat ad auras. Tum secum: ..Superi nunc, 0 nunc uisa secundent praesentes. ueterum agnosco non uana futuri signa", inquit ..nempe, ut monstri deforrnis in atro tris uates Iatuit luces, tris gutture noctes ingluuiem passus uastaeque uoraginis antrum, sic heros multum +ad superos+ 16 defletus amicis,
1 5 Der Text entstammt der in Vorbereitung befindlichen kritischen Ausgabe; er ist orthographisch normalisiert und stützt sich auf die Editio princeps 1 535 und auf die (in diesem Fall textidentische) Au..gabe letzter Hand 1 550. Die Ü bersetzung ist ebenfall s der geplanten Neuausgabe entnommen; wie notwendig eine modeme deutsche Übersetzung nach philologischen Kriterien ist, zeigt im Vergleich die kuriose, oft recht holprige hexametrische Ü bersetzung von Müller: .. Denn indem sich Maria, des Harrens müd' und vor Sehnsucht / Krank, ans Grab setzt und jetzt in seine Leere hinabschaut, / Jetzt des Bildners Kunst bewundert, erblickt sie im Marmor / Ein besandetes Ufer, auf welchem ein Wallfisch gestreckt lag. / Welcher Ström' au...pie - ein Ungeheuer, dergleichen / Manchmal im Weltmeer die unerfahmen Schiffer erschrecket, / Häßlich, schwarz und dem Meere zur Last, wo das Cnthier hauset - / Aus dem F1uthen= au...peienden Rachen dessel ben entschlüpfte / Wieder zur Oberwelt licht der unbeschädigte Jonas. / Ah nend rief sie dabei: 0 Mächte des Himmels, verwirklicht / Dieses Bildes Bedeu tungl ich seh' in dem Vorfall der Vorzeit / Winke fiir künftge Geschichtenl Gleichwie der Seher im Bauche / Dieses Ungeheuers drei Tag' und Nächte ver steckt lag / Und in dem scheußlichen Schlund der Vernichtung entgegen bangte; / Also liegt auch der Held, den seine lieben beweinen, / In der Höhle des Fel sen, im School�e der Erde begraben! / (So, so sprach Er selber vorher; jetzt ge denk' ich des Wortesi) / Drauf verläßt Er das ledige Grab und schwingt sich gen Himmell" (Müller, wie Fußn. 9, 1 79f.) 16 ad superos (Dublette und vielleicht ursprünglich Glosse zu 369 ad (0111/111) ist syntak tisch und inhaltlich an dieser Stelle unhaltbar: Was soll ..beweint/bek1agt bei den Himmlischen von den Freunden" heißen? Die Übersetzung .. in der Oberwelt" (wo die Freunde bleiben mü... en und Christus nicht folgen können - Vorschlag C1audia Wiener) ist erwägenswert, wobei aber die supen dann gerade nicht die Himmli schen wären, die Freunde vielmehr bei irgendwelchen oberirdischen
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indususque cauo saxo rerraque sepultus deliruit, saepe ut (memini) praedixerat ipse, ad coelurn rediit saxurnque reliquit inane. Denn während die junge Frau ungeduldig und wund durch ihre heftige liebe so da saß und das leere Grab und die Hände seiner Künsder bewunderte, sah sie, di rekt im Marmor abgebildet, eine sandige Küste und ein am l:fer hingestrecktes Meerestier, f1utenau.�speiend, gewaltig - so wie die Wale,17 die in der hohen See schwimmen und die unwissenden Seeleute mit ihrer ungewohnten Masse er schrecken. Es war Genes) schreckliche schwarze Monster, das Untier aus den Weiten des Meeres, au.� de.�sen wogenausspeiendem Maul (einst) der Prophet un versehrt wieder ans licht und an die Luft gekommen war. Da sprach sie bei sich: "Mögen die Himmlischen jetzt, ja jetzt diese Vision durch ihre Gegenwart in Erfüllung gehen lassen! Ich erkenne, dass die Zeichen der Zu kunft bei den alten (propheten) nicht bedeutungslos waren. Denn offenbar (ist es so)", sagte sie: "Wie der Prophet drei Tage und drei Nächte lang in der schwar zen Kehle des unförmigen Monsters verborgen war und den Kropf und die Höh lung des riesigen Schlundes ertragen musste, so hat sich der Held zurückgezogen, vielfach +bei den Himrnlischen?+ beweint von seinen Freunden, eingeschlossen in einem hohlen Felsen, in der Erde begraben, (und ist dann,) wie er selbst es jetzt erinnere ich mich - oft vorhergesagt hatte, zur Oberwelt zurückgekehrt und hat das Grab leer zurückgelassen."
Magdalenas Deutung wird sogleich im Anschluss daran bestätigt, indem ihr der auferstandene Christus selbst erscheint. Die zitierte Passage hat kein Pendant im Bibeltext. Bei Matthäus (28,l ff.) und Markus (16,l ff.) ist der Engel schon da, als die Frauen kom men, und belehrt die Fürchtenden; danach fliehen sie vom Grab, und Jesus erscheint der Maria Magdalena. Bei Lukas (24,l ff.) finden die Frauen das leere Grab und erschrecken; dann erscheinen ihnen zwei Engel; J esus selbst zeigt sich nur den Aposteln, nicht den Frauen. Der Darstellung Vidas am nächsten kommt noch das Johannesevangelium (20,l l ff.), wo nach Magdalena beim Anblick des leeren Grabes weint, weil sie glaubt, der Leichnam sei entwendet worden; dies sagt sie auch den heiden Engeln, die in der Grabeshöhle sitzen, ohne dass diese sie weiter über den Verbleib Menschen klagten (was ja nicht der Fall war, sie klagten nur im Freundeskreis selbst). Coyne (wie Fußn. 9) übersetzt synraxwidrig "so the Savior that is gready mourned by his friends hath come to the upper air" (S. 599), in den Noten, die gegen Ende der Christias hin immer dürftiger werden, schweigt sie zu der Stelle. Die anderen Übersetzungen, zuletzt auch Gardner (wie Fußn. 9), lassen die Prä positionaIphrase ganz aus. Ich konjiziere mae.rtis (vgl. ehr. 6,3 1 5 maestissima Magda kne), wodurch sich eine Alli teration und außerdem ein passender spondeischer Rhythmus ergibt. 17 Über die Deklination von Gelt (griechischer Plural von cetllS, -i n.) und über die Tierart steUte schon Botta (wie Fußn. 9), 1 79f., Überlegungen an.
Vergilrczc:ption in der Christias des I'IIarco Girolarno Vida
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des Leichnams belehrten. Kurz darauf erscheint ihr Jesus selbst (loh. 20,1 4ff.). Zwischen Engel- und Jesuserscheinung hat Vida also die obige Szene eingefügt, in der Maria Magdalena sich das Grab genauer anschaut. Während ihr Jesus bei Johannes unvermittelt und unerwartet erscheint, wartet sie bei Vida offenbar ungeduldig (morae impatims 6,35 1) darauf, Jesus selbst zu sehen, den sie verzehrend liebt (am saucia amore 6,351). In der Zwischenzeit bewundert sie die sorgfaltig gehauene und mit Marmor ausgekleidete Grabstätte, die offenbar von Künstlerhand mit Reliefbildem ausgeschmückt worden war; sie gehörte ja dem reichen Joseph von Arimathäa, so dass diese aufwendige Gestaltung nicht unplausibel ist. Dargestellt ist eine Szene aus dem Alten Testament (vgl. die Erwähnung der ve/eres 6,36 1): Eine sandige Küste mit dem gestrandeten Wal, der den Propheten Jona verschluckt und nach drei Tagen und Nächten wieder ausgespien hatte. Die Jona-Erzählung gehört zu den beliebtesten Stoffen der christlichen Kunst überhaupt: Bildliche Darstellungen v.a. dreier Hauptmotive (Meerwurf, Ausspeiung und Kfubislaube) sind seit frühester Zeit bezeugt. 1 8 Ein konkretes Vorbild für Vida wird man daher nur schwerlich ausmachen können, dazu ist das Motiv zu allgegenwärtig. Her vorgehoben wurde von dem unbekannten Künstler offenbar vor allem die Größe des Wals, was von Vida durch die Begriffe monstrum (6,357. 362) , belua (6,357) und eele (6,356) sowie durch entsprechende Epitheta wie ingms (6,355), mole nova (6,356), lupe (6,357) und deforme (6,352) sprachlich aufgenommen wird. Außerdem verweist er immer wieder auf den gewalti gen Schlund des Untiers, das einen kompletten Menschen unversehrt verschlingen und wieder ausspeien kann: jluctivomus19 (6,355), undivomus20 (6,357), in atro ... gutture (6,362f.), ingluvies (5,364), vastae voriginis antrum (6,364). Bei der Betrachtung dieser Darstellung erinnert sich Maria Magdalena an die Prophezeiung Jesu, dass er am dritten Tage auferstehen werde, und setzt das Jona-Geschehen typologisch mit der Katabasis Christi in Bezie hung: ul vales - sie heros (6,362f. bzw. 365) . Diese Typologie ist dem christ lichen Leser bereits aus dem Matthäusevangelium bekannt, wo Jesus selbst diese Parallele zieht: sicut mim foit Ionas in ventre eeti tribus diebus el tribus noctibus, sie trit Filius hominis in corde terrae tribus diebus el tribus
1 8 Vgl. dazu etwa Lwe Steffen: Das Mysterium von Tod und Auferstehung. Formen und Wandlungen des Jona-l\Iotivs, Göttingen 1 963, 1 07-14D (Das Jona-Motiv in der Kunst). 19 ßuctivomus bei \,(,'alter von Chiitillon, Alexandreis 6,380. 20 undivomNs vor Vida nicht belegt; gebildet analog zu ßuctivomNs bzw. dem antiken NndivtJ.I(NS.
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noetihlls (Mt 1 2,40).21 Bemerkenswert ist, dass Vida hier die Kenntnis der Typologie bei Magdalena voraussetzt, die nach eigener Angabe (memini Chr. 6,367) offenbar bei Jesu diesbezüglichen Worten zugegen war: Sie erkennt als erste, dass die signa jlltllri (6,361 f.) der alten Propheten - insbe sondere das signllm lonae (Mt 1 2,39) - nicht bedeutungslos (non vana 6,361) waren, sondern sich jetzt in Christus, dem Messias, erfüllen. Die Typolo gie ist nicht ein bloßer Vergleich, sondern impliziert über bestimmte Ter tia comparationis hinaus eine deutliche Steigerung: Christus ist kein unge horsamer Prophet wie Jona, der von Gott gestraft und dann doch errettet wird, sondern hat den Tod, wie der Engel kurz zuvor noch einmal betont hatte, freiwillig (sponte slIa 6,343) und stellvertretend für alle Menschen (lInIls pro cunctis 6,344) auf sich genommen. Dem monströsen Wal ent spricht weniger das prächtige Grab als vielmehr die Unterwelt, in die Christus ja zuvor hinabgestiegen war und die Vida in seinem großen Ex kurs (6,121-293) in dantesken Farben gemalt hatte.22 Eine Unstimmigkeit gibt es bezüglich der Chronologie: Während es von Jona ausdrücklich heißt, er habe drei Tage und drei Nächte im Schlund des Untiers zuge bracht (Iris ... 111m, tris ... noetes 6,363; vgl. Ion 2,1), war Jesus definitiv nur von Karfreitagnachmittag (um die neunte Stunde, vgl. Mt 27,45) bis Os tersonntagmorgen (noch vor Sonnenaufgang, vgl. Mt 28,1) tot, also nur knapp vierzig Stunden. Selbst bei großzügiger Rechnung sind das maximal zwei Tage und zwei Nächte. Die Exegeten haben sich viel einfallen lassen, um diese Diskrepanz zu erklären.23 Ich komme nun zu den Parallelen, die der vergilfeste Leser ziehen wird. Mehrere Aeneis-Szenen bzw. Ekphraseis kommen in Frage: die Bil der am Junotempel von Karthago und am Apollotempel von Cumae so-
Dies lässt an Eindeutigkeit nichts ZU wünschen übrig, wie bereits Hieronymu� in seinem Jona-Kommentar hervorheb t Huius loci mysterium in I ivarwlio Dominus exponi! et supeifluum est vel id ipsum vel aliud die.,.. quam exposuit ipse quipassus es!. (Hier. in Ion. II,1 b: Hieronymu., Commentarius in lonam Prophetam. Kommentar zu dem Propheten Jona. Übersetzt und eingeleitet von Siegfried Risse [Fontes Christiani Bd. 60], Turnhout 2003, 142). Vgl. trotzdem z.B. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matrhäus, 2. Teilband: Mt 8-1 7 (EKK Bd. 1/2), Zürich u.a. 1 990, 277ff. 22 Ob Vida tatsächlich von Dante abhängig ist, bliebe zu untersuchen: vgl. auch Di Cesare (wie Fufln. 1), 343f. (note 50). 23 Vgl. z.B. Hieronymus (wie Fußn. 21), 1 42, wonach einige den Karfreitag wegen der Sonnen finsternis als zwei Tage und Nächte rechnen. Andere lassen Jesus schon Gründonnerstag beim Letzten AbendmaI!I sterben; vgl. Luz (wie Fußn. 21), 278. 21
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wie die Schildbeschreibung. 24 In allen drei Fällen ist Aeneas der Betrach tende, kann und muss also mit Maria Magdalena parallelisiert werden; was das im einzelnen bedeutet, wird noch zu fragen sein. Hier soll zunächst eine Vergleichung der Beschreibungen vorgenommen werden. Am Junotempel von Karthago sind Szenen aus dem trojanischen Krieg abgebildet, also aus Aeneas' Vergangenheit, die für diesen daher unmittelbar verständlich sind. Die karthagischen Künsder (arlificumque manus Aen. 1 ,455 Chr. 6,353) haben eine altbekann te Geschichte (totum vulgata per orbem Aen. 1 ,457) dargestellt; dabei war ihre Intention nicht, dass einst ein in die Geschichte Involvierter die Bilder, die für die Karthager eher dekorativer Natur sind, betrachten sollte. Die Bedeutung für Aeneas liegt darin, dass er aus der Bekanntheit seines Schicksals selbst bei den Karthagern, den künftigen Feinden der Römer, neue Hoffnung schöpft. Die Tore des Apollotempels von Cumae sind mit Szenen aus der kre tischen Mythologie (Krieg des Minos mit Athen, Pasiphae, Minotaurus und Labyrinth) geschmückt, die Dädalus selbst dort verewigt hat: Auch hier handelt es sich funktional um eine Art Vergangenheitsbewältigung, allerdings diesmal nicht für Aeneas, sondern für den Künsder selbst, der im wesendichen seine eigene Geschichte darstellte; nur den Fall des Ikarus vermochte der Vater nicht abzubilden, da ihm hier die Hände versagten (bis paJriae cecidere manus Aen. 6,33) . Aeneas wartet, zur Sibylle von Cumae vorgelassen zu werden, und betrachtet in der Zwischenzeit die Tempelbil der - ob er versteht, was dort abgebildet ist, wird nicht gesagt, kann aber aufgrund der Bekanntheit der Sage (ut fama est Aen. 6,1 4) angenommen werden. Einen Gegenwartsbezug zu seiner eigenen Situation sieht Aeneas selbst nicht, die Betrachtung ist für ihn ein reiner Zeitvertreib, aus dem er durch die Aufforderung einer Priesterin jäh herausgerissen wird (non hoc ista sibi tempus spectacula poseit Aen. 6,37). Dass modeme Interpreten hier natürlich doch Bezüge zu Aeneas (und zu Vergil als Künsder) hergestellt haben, steht auf einem anderen Blatt; 25 in der A eneis Handlung selbst =
-
24 Merkwürdigerweise tauchen bildliche Darstellung des Junotempels und des Schil des in den illu strierten VergiIau.�gaben erst im 17. Jahrhundert auf; lediglich zum Apollotempel von Cumae gibt es frühere Abbildungen: vgL Wemer Suerbaum: Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1 502-1 840, Hildesheim 2008, Index G5, zu den entsprechenden VergiIstellen. Es scheint fast, als hätten die Künsder sich gescheut, vergilische ßildbeschreibungen zu visualisieren. 25 Vgl. etwa Michael C. J. Putnarn: "Daedalus, VirgiI, and the End of Art", AJPh 1 08, 1 987, 1 73-198 (Reprint in: ders.: VirgiI's Aeneid. Interpretation and Influence, Chapel HilI and London 1 995, 73-99). Ich erspare mir hier ein weiteres Eingehen auf die einschlägige Forschungsliteratur zur Aeneis, da es mir aus schließlich auf Vidas VergiIrezeption ankomme
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spielt die Darstellung jedenfalls inhaltlich keine Rolle, sondern bleibt ledig lich ornamental. Schließlich die Schildbeschreibung: Aeneas bestaunt die von Vulcan gefertigten Waffen, die seine Mutter Venus ihm überbracht hat, und be trachtet ausführlich die Bilder auf dem Schild, die seine bzw. Roms Zu kunft darstellen. Vulcan hat sie in der Absicht geschaffen, den Lesern der Aeneis den unwandelbaren Plan des Fatums vor Augen zu führen, das im Sieg des (proleptisch so genannten) Augustus bei Actium gipfelt; Aeneas selbst versteht gar nichts und erfreut sich nur an den schönen Bildern, die für ihn bloßer Schildschmuck sind: Talia per clipeum Vulcani, dona parentis, miratur rmlmque ignarus imagine gaudet (Aen. 8,729f.). Fassen wir die entscheidenden Parameter dieser ekphrastischen Sze nen noch einmal zus ammen, ergibt sich auf der Seite der künstlerischen Bildproduktion folgendes Tableau: Die karthagischen Künstler stellen Vergangenes, zwar historisch Bedeutsames, aber ohne Bezug zur eigenen Gegenwart dar; Dädalus bildet seine eigene Geschichte ab, kann den ent scheidenden Schritt zur Bewältigung seiner Vergangenheit aber nicht tun; Vulcan schließlich schafft aus göttlichem Allwi ssen eine weit ausgreifende Zukunftsschau. Auf der Seite des Rezipienten ergibt sich ein ganz anderes Bild: In den karthagischen Tempeldarstellungen sieht Aeneas unvermutet seine Vergangenheit �m dreifachen Sinne) 'aufgehoben' und damit bewäl tigt; in Cumae macht er eher aus Langeweile einen Museumsbesuch, ohne dass ihn das Bildmaterial persönlich beträfe; den Schild schließlich be trachtet er voller B ewunderung für das Kunstwerk, aber ohne jedes Ver ständnis für dessen Inhalt. Vida hat Elemente aller drei Ekphraseis verwendet und in innovativer, der Intention seines Christusepos entsprechender Weise kombiniert. Auf der Produktionsseite knüpft Vida mit dem wörtlichen Zitat der 'Künstler hände' (s. oben) an die karthagische Szenerie an: Die Künstler sowohl in Karthago als auch in Jerusalern hatten einfach eine aus der Überlieferung bekannte Geschichte dekorativ darstellen wollen, ohne damit einen Gegenwartsbezug zu intendieren. Gleichzeitig enthält der Stoff der Ge schichte vom Propheten Jona aber einen ungeahnten Zukunftsaspekt, den der göttliche Autor des Prophetenbuches (wie Vulcan um die Zukunft wissend) mit hineingewoben hat. Vordergtündig handelt es sich bei der Ekphrasis demnach um eine Imitation der karthagischen Tempelbilder, auf einer tieferen Ebene aber auch um eine Anspielung auf die Schildbe schreibung. Die Rezeptionsseite sieht wiederum völlig anders aus: Maria Magdalena betrachtet, während sie auf die Erscheinung Jesu wartet, wie Aeneas in Cumae eher gelangweilt und zum Zeitvertreib die das Grab ausschmückende Darstellung und erkennt, wie dieser den alten Mythos von Dädalus, so hier den des Jona. Während es für Aeneas aber bei die-
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sem unverbindlichen Kunstgenuss bleibt, versteht die Jüngerin plötzlich den tieferen Sinn und das Zukunftspotential des Bildes: Indem sie die typologische Beziehung zwischen Jona und Christus herstellt und so die christliche AT-Exegese vorwegnimm t, überbietet sie selbst typologisch den Aeneas der Schildbeschreibung, der die Bilder des Schildes zwar be wundert, aber deren Zukunftsbezug nicht versteht. Der intrabiblischen Typologie Jona-Christus steht somit eine extrabiblische, vergilische Typo logie Magdalena-Aeneas gegenüber. Auf diese Weise verschränkt Vida Bibel- und Aeneis-Text kunstvoll miteinander.26 Abschließend sollen noch weitere Aeneir-Bezüge der Passage zur Spra che kommen. Das Bild der liebes kranken Maria Magdalena evoziert natür lich - kontrastiv - Dido (saJIcia Aen. 4,1 = Chr. 6,35 1). Denn im Gegen satz zur früher vorbildlichen, jetzt aber unkeuschen Witwe Dido ist die zuvor 'sündige' Magdalena jetzt geläutert27 und verstößt mit ihrer liebe nicht gegen einen Treueschwur oder gegen das Ideal der mamma univira: Magdalenas liebe ist die sublimierte, aber darum nicht weniger inbrünsti ge liebe einer Christusbraut,28 die zudem auf deutliche Gegenliebe stößt (Christus erscheint ihr noch vor allen anderen) : auch darin also Dido über legen, die von Aeneas um des Fatums willen verschmäht wird. - Die san dige Küste bei Vida (filius arr:nosum Chr. 6,354) stammt aus Aen. 4,257 und ist die Küste libyens, an der Merkur nach seinem Flug vom Olymp lan det. Da in der Bibel kein Ort genannt ist, an dem der Wal Jona wieder ausspeit, dürfte der Leser hier leicht die Aeneis-Stelle assoziieren und die Szene mit den karthagischen Tempelbildem in Verbindung bringen. Das Bild des Wals selbst, das in der Aeneir in dieser Form natürlich keine Paral lele hat, gemahnt, vermittelt vor allem durch das Stichwort eele (Chr. 6,356), an die Meeresszene, in der Neptun der Venus voraussagt, Aeneas werde nunmehr heil nach Italien kommen (vgl. dort Aen. 5,822 immania eele). In diesem Zusammenhang steht die Forderung nach dem stellvertre tenden Opfertod des Palinurus (Aen. 5,8 1 5 unum pro multis dabitur caput ein pathetischer Halbvers) und somit eine deutliche Anspielung auf den Dies verkennt Di Cesare (wie Fußn. 1), 1 1 0, der die Ekphrasis des Jesusgrabes "awkward and contrived" nennt "it is difficult not to consider grotesque ... the sugge stion that someone had worked, on the marble walls of Christ's to mb, a representation of Jonas." Näher geht Di Cesare auf die Passage nicht ein. Eine gewisses L'nbehagen ob der gewagten Erfindung Vidas vermeint man auch bei Botta (wie Fußn. 9) zu spüren: "mira certe phantasia" (1 79). 27 Vi/Ro hier natürlich nicht 'Jungfrau'. Richtig dazu schon Botta (wie Fußn. 9), 1 79: ,,30 viridiori aetate. nam si turpissima pasiphae 30 Vergilio potuit virgo appellari [cf. Verg. ecl. 6,47], cur non magis post conuersionem honestissima Magda1ena?" 28 Vgl. wiederum Botta ebd.: "Exquirebat quem non inuenerat : f1ebat inquirendo : et amoris igne succensa, eiu.. quem sublatum credidit ardebat desiderio." 26
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Erlösungstod Christi (Chr. 6,344 unus pro cunctis) . - Die Worte Magdalenas Superi nune 0 nune visa secundent prauentes (Chr. 6,360f.), mit denen sie um Erfüllung der Jona-Prophezeiung bittet, entstammen einem entsprechen den Aeneis-Kontext, in dem Latinus auf Erfüllung der Prophezeiung des Faunus (Aen. 7,254 veteris Fauni ... sortem) bezüglich eines auswärtigen Schwiegersohns hofft (Aen. 7,259f. di nostra ineepta secundent auguriumque suum). In beiden Fällen ist die Prophezeiung zum Zeitpunkt des Wunsches bereits eingetreten: Aeneas ist schon da, und Christus ist schon auferstan den. - Als Magdalena in diesem Zusammenhang die Zeichen der Zukunft bei den alten Propheten erkennt (Chr. 6,361 veterum agnosco non vana futuri signa), erinnern ihre Worte in der Formulierung an das Bekenntnis Didos, sie erkenne die Spuren alter Leidenschaft (Aen. 4,23 agnosco veteris vestigia jlammae). Damit liegt wiederum eine Kontrastimitation vor: Während Dido dabei ist, sich vom Furor verblendet in eine irrationale Affare zu stittzen, vermag Maria aufgrund ihrer geistigen Uebe zu Christus zu höheren Ein sichten aufzusteigen und wahre Erkenntnis über den Sinn der Schrift zu erlangen. - Der "von den Freunden vielbeweinte Held" (heros multum ... dejletus amids Chr. 6,365) ist bei Vergil Misenus (vgl. Aen. 6,212ff.), der verschwunden war, dann unbestattet am Strand liegend entdeckt wurde und jetzt ein ehrenvolles Begräbnis erhält, damit Aeneas in die Unterwelt hinabsteigen kann. Bei Vida kehrt sich diese Reihenfolge um: Christus wird zunächst bestattet, geht dann in die Unterwelt und verschwindet zuletzt aus dem Grab; der Wundercharakter ist damit gegenüber Vergil noch gesteigert. Wir haben gesehen, dass in der Dreiecksbeziehung zwischen Christias, Bibel und Aeneis durchaus keine einfachen Gleichungen (un Sinne von Inhalt=Bibel, Form=Aeneis) aufgehen.29 Natittlich bildet die Bibel die unhintergehbare inhaltliche Voraussetzung, auf der Vida seine Christias dichtet, und Vergil (neben anderen antiken Autoren übrigens1(� liefert
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Dies betont zu Recht auch Craig Kallendorf: "From Virgil to Vida: The Poefa TheoloJl.lIs in ltalian Renaissance Commentary", Journal of the History of Ideas 56,
1 995, 41 -62, der die "Christian content-Virgilian form dichotomy so often ob served in modern discussions of the Christiat' (61) ablehnt und am Beispiel der Rezeption der 4. Ekloge bei Vida zeigt, "that content and form are in fact inte grated in thls poem" (59). 30 Dieser Aspekt wurde von Di Cesare (wie Fußn. 1) ganz vernachlässigt; vgl. auch die Kritik bei Michael von Albrecht: Rez. Di Cesare, ]l.Iodem Philology 64, 1 966/67, 332-335. Vgl. durchgängig den Kommentar von Coyne (wie Fußn. 9); eine Ovidimitation (nicht bei Coyne) wurde oben Fußn. 14 angeführt; als Beispiel einer Valeriusimitation vgl. Wolfgang Polleichtner: "Vergil, Valerlus, Vida: Vom
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Sprachmaterial und anderes episches Inventar. Doch darüber hinaus bleibt auch der Inhalt der Aeneis immer präsent und interpretationsrelevant: zum einen durch die Evozierung von Aeneis-Szenen mittels signifikanter Wör ter oder Wortverbindungen, zum anderen durch Besetzung biblischer Leerstellen - wie in unserem Fall durch die naheliegende Frage: Was machte eigentlich Maria Magdalena nach der Erscheinung des Engels, als sie auf die Begegnung mit Jesus wartete? Man könnte sagen: Sie dachte an die Bilder der Aeneis.
rechten Zeitpunkt und der rechten Art und Weise des Redens", Neulateinisches
J ahrbuch 9, 2007, 255-263.
Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung (Aen. 1 ,34- 1 56) in Camöes' Epos Os Lusiadas (6,6-9 1) STEFAN FEDDERN (Kiel) Camöes' Epos Der Portugiese Luis Vaz de Camoes (ca. 1 524- 1 580) veröffentlichte 1 572 das Epos Os Utsiadas.1 In diesem Epos wird die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Garna in den Jahren 1 497-1499 erzählt. Der Dichter geht gleich medias in res und lässt die Lusiaden bereits im Indi schen Ozean vor der Küste Mosambiks segeln, während die Umrundung Afrikas in einer Rückblende im fünften Buch erzählt wird. 2 Von der Ost küste Afrikas gelangen die Lusiaden unter einigen Strapazen zu Lande und zur See nach Calicut in Indien, von wo aus sie die Rückreise nach Portugal antreten. Der Inhalt der 1 0 Bücher lässt sich folgendennaßen zusammen fassen: Buch 1: Auf das Proömium (1 - 1 8) folgt der Beginn der Erzählung und eine Göt terversammlung (1 9-41). Jupiter stellt sich im Streit, ob die Lusiaden Indien erre i chen sollen, auf Venus' Standpunkt und gegen Bacchus, der dies zu verhindern sucht. Die Lusiaden gehen in Mosambik an Land. Dort kommt es zum Gefecht mit den von Bacchus aufgehetzten Einheimischen. Ein Lot.�e gibt vor, die Lusiaden nach Indien zu geleiten, führt sie aber in einen Hinterhalt nach Momba sa (42-106). Buch 2: Venus vereitelt Bacchus' Versuch, die Lu.�iaden in Mombasa von den Mauren vernichten zu lassen (1 -32). Voller Sorge um die Lu.�iaden wendet sie sich an Jupiter, der sie mit dem Blick auf den Erfolg des portugiesischen Unter-
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Der Name Os Uisfadas �,Die Lusiaden'j bezeichnet die Nachfahren des Lusus, des Stammvaters der Portugiesen, und damit im weiteren Sinne die Portugiesen (vgl. Lu.�. 3,21 ,5-8; 8,2,7-8,3,2). Die Bezeichnung ist analog zu derjenigen der Römer als Amtadm (man denke an Lukrez 1 ,1 : Aeneadum !l!netrix; Verg. Aen. 1 ,1 57 und 565). Wie bei Vergil unterscheiden sich omo ntJhmJis und orrlo artiftdalis. In der Aeneis beginnt die Rückblende am Ende von Buch 1 und reicht bis zum Ende von Buch 3.
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nehmens tröstet und Merkur entsendet, um Vasco da Gama zum Aufbruch zu bewegen (33-64). Die Lusiaden gelangen nach Malindi, wo sie vom König freundlich aufgenommen und aufgefordert werden, vom Ursprung, der Ge schichte und den Entdeckungen der Portugiesen zu berichten (65- 1 1 3). Buch 3: Nach einem Anruf an die Muse Kalli ope referiert Vasco da Gama die geographische Lage Portugals (1 -20). Es folgen (21 -1 43) wichtige Personen und Ereignisse bzw. Legenden aus der portugiesischen Geschichte wie die tragische Episode der Ines de Castro (120-1 35). Buch 4: Da Gama fährt in seinem Bericht fort und erzählt die portugiesische Geschichte von der Revolution von 1 383 über die ersten Expansionsbestrebun gen bis zum Aufbruch seiner Flotte aus dem Hafen Lissabons (1-1 04).
Die Schilderung des Seewegs nach Malindi schließt da Gamas Erzählung (1-91). Am Kap der Guten Hoffnung prophezeit der Gigant Adamastor zukünf tigen portugiesischen Entdeckern Schiffbruch (37-59). Da Gamas Flotte wird von Skorbut heimgesucht. Der Dichter preist das Volk der Portugiesen (92-100). Buch 5:
Die Lu..�iaden brechen mit einem Lot.�en von Malindi nach Indien auf (1 5). Bacchu..� beruft eine Versammlung der Meeresgötter ein und entfesselt einen Seesturm (6-37). Die wachhabenden Matrosen erzählen sich die Geschichte der Do,! de In/l,lauTrfl (38-69). Der Seesturtn überrascht da Gamas Flotte, die jedoch durch Venus' Hilfe gerettet wird (70-91). Die Lu..�iaden erreichen Calicut in Indi en (92-99). Buch 6:
Nach einem erneuten Lob der Portugiesen durch den Dichter wird be richtet, wie sich die Flotte in die Geschichte und Kultur der Inder einweisen lässt (1-41). Vasco da Gama schlägt dem indischen König ein Handelsabkommen vor (42-65). Der Gouverneur des Königs bewundert die portugiesischen Flagge n, auf denen Helden abgebildet sind. Paulo da Gamas ansetzende Beschreibung wird durch persönliche Worte des Dichters unterbrochen (66-87).
Buch 7:
Durch die Beschreibung der Flaggen wird abermals aus Portugals Ge schichte referiert (1 -42). Seher und maurische Ratgeber des Königs, die Bacchus aufwiegelt, warnen vor den Portugiesen (43-59) . Trotzdem erhält Vasco da Gama vom König die Autorität zum Handelsabkommen (60-78). Die maurischen Rat geber halten da Gama gefangen und lassen ihn im Tau..�ch gegen Waren frei. Buch 8:
Da das Eintreffen einer feindlichen Maurenflotte erwartet wird, verlas sen die Lusiaden Indien in Richtung Heimat (1 - 1 7). Venus gewährt den Lusiaden Erholung auf der ilha dos tmlores, wo sich diese mit den Nymphen vereinen (1895). Buch 9:
Buch 10: Die Nymphen bringen die Lusiaden in den Palast der Therys, wo die Taten der Portugiesen im Orient prophezeit werden (1 -73) . In einer anschließen den kosmologischen Schau werden die Lusiaden in die Geheimnisse des Univer sums und in weitere zukünftige Ereignisse eingeweiht (74-1 43). Nachdem die Heimkehr der Lusiaden nach Lissabon kurz erwähnt ist (144), schlient das Epos mit dem Epilog (145-1 56).
Die Rezeptiun der vergili.ehen Seestunn..ehilderung
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Während in Vergils Aeneis ein Mann und dessen Waffentaten im Vorder grund stehen (vgl. Aen. 1 , 1 : arma vintmquc cano), besingt Camoes mehrere Helden (vgl. Lus. 1 , 1 : as armas e os borDes assinalados [sc. canto]: "Die Waffen taten und die berühmten Helden [sc. besinge ich] '') .3 Das Epos Os Lusiadas ist im Gegensatz zur Aeneis in Strophen von jeweils acht Zehnsilblern4 verfasst. Mit insgesamt 881 6 Versen ist das portugiesische Epos etwas kürzer als das römische (9896 Verse) .5 Es wurde insgesamt vier Mal ins Lateinische übersetzt.6
Die Tradition der Seesturmschilderung Die Seesturmschilderungen von Vetgil und Camoes stehen in einer langen Tradition.7 Auf Vetgils Seesturmschilderung haben im Wesentlichen zwei
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Für einen Vetgleich der beiden Proömien vgl Michael von Albrecht: "Epos: Vergil - Camöes - Tasso - Milton", in: Ders.: Rom. Spiegel Europas. Das Fort wirken antiker Texte und Themen in Europa, Tübingen 21 998, 361 -403, dort 375-385. Camöes verwendet haupt.ächlich den Typu.. des sog. heroischen Zehnsilblers, bei dem die sechste und zehnte Silbe betont werden. Im Portugiesischen werden die Silben bis zur Betonung des letzten Wortes eines Verses gezählt; daher kann ein Vers mehr als zehn Silben haben und trotzdem als Zehnsilbler gelten. Zum Vetgleich: Homers Ilias umfa..st 1 5 688 Verse, die Odyssee 12 070 Verse; vgI. Le Veme Crum: "Homer, VergiI, and Camöes", in: George E. Mylonas u.a. (Hgg.): Studies presented to David Moore Robinson on his seventieth birthday, Bd 2, Saint Louis 1 953, 647-659, hier 649. Tome de Faria (1 622 gedruckt); Andre Baiäo: Luis tk CamiJes: Os Lusfadas, ins Lateinische übersetzt von Andre Baiäo (1 625), Faksimileausgabe von Justino Mendes de Almeida, Lissabon 1 972; Francisco de Santo Agostinho Macedo (1880) und Clemente de Oliveira: Ludovici Camonii Lusif1lit:u, ins Lateinische über setzt von Clemente de Oliveira, Lissabon 1 983. Besonders interessant ist in die sem Zusammenhang die Übersetzung von Andre Baiäo, die nahezu unbekannt blieb, bis sie 1 972 in einer Faksimileausgabe von Justino Mendes de Almeida ver öffentlicht wurde. Sie ist im Hexameter verfa..st und sprachlich stark an Vergils Aeneis orientiert. Die erste vollständige Ü bersetzung ins Deut.che datiert aus dem Jahr 1 806; vgl Luis de Camöes: Os Lusfadas. Die Lu..iaden, au.. dem Portugiesi schen von Hans Joachim Schaeffer, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Rafae1 Amold, Heidelberg 22000, 651 . Zur Tradition der Seesturtnschilderung vgl. Wolf-Hartmut Friedrich: "Episches Unwettet" , in: Festschrift Bruno Snell, München 1 956, 77-87; Christine Ratkowitsch: "Vergils Seesturtn bei luvencu.. und Sedulius", J ahrbuch für Antike und Christentum 29, 1 986, 40-58, hier 41 und V.a. Hans Otto Kröner: "Elegi sches Unwetter", Poetica 3, 1 970, 388-408, hier 388. Zur antiken Tradition und
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Vorbilder gewirkt, nämlich diejenige aus dem fünften Buch der 04>'ssee (282-39 1) und diejenige aus dem ersten Buch von Naevius' nicht erhalte nem Epos Bel/11m PoeniCllfll> . Bei Homer ist Odysseus das Opfer von Posei don, als er sich auf dem Weg von Ogygia, der Insel der Kalypso, zu den Phäaken befindet und durch einen Seesturm von seinem Floß geworfen wird. Da es zu weit führen würde, auf Unterschiede und Gemeinsamkei ten zwischen der homerischen und der vergilischen Seesturmschilderung einzugehen,9 sei nur ein Aspekt betont, der für die Würdigung der Vergilrezeption durch Camöes von Bedeutung sein wird, nämlich dass Vergil Homers Seesturm teilweise wörtlich,lO v.a. aber motivisch nach ahmt.1 1 Diese freie motivische Nachahmung führt dazu, dass Vergil Aeo lus, den König der Winde, der bei Homer am Anfang des zehnten Buches
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zur Rezeption in der spanischsprachigen Literatur vgl. Vicente Crist6bal: "Tem pestades epicas", Cuademos de investigaci6n filol6gica 1 4, 1 988, 1 25-148. Die Aussagen, die sich zu Naevius als mögliches Vorbild für den vergilischen Seesturm treffen lassen, stützen sich auf eine Angabe, die sich bei Macrobius fin det (6,2,31): in prima Aenridol lempntas tkscribitur, ef Venus apud lovem queritur tk periculis filii, el luppiter eam dejuturof71m properilale sokltur. hic locus totus sumptus I'I,'atvio esf ex prima libro bel/i Punici. illic enim aeque Venul TroirJnis ftmpesfafe laboranti bus cum love queritur, ef sequuntur verba louisftliam consolantis spe juturof71m. "Im ersten [sc. Buch] der Aeneis wird ein Seesturm beschrieben, und Venus beklagt sich bei
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Jupiter über die Gefahren, die ihren Sohn bedrohen, und Jupiter tröstet sie damit, dass die Zukunft glücklich sein werde. Dieses ganze Motiv ist von Naeviu.. au.. dem ersten Buch des nel/um Poenicum übernommen. Dort hadert nämlich gleich falls Venus mit jupiter, weil die Trojaner mit einem Seesturm zu kämpfen haben, und es folgen die \l;torte Jupiters, der seine Tochter dutch die Hoffnung auf die Zukunft tröstet." Au.. dieser Angabe geht hervor, dass VergiI Naeviu.. nicht nut hinsichtlich des Seesturmrnotivs, sondern hinsichtlich der gesamten Motivfolge am Anfang der Ameis (Seesturm, Venusklage, Jupiter-Prophezeiung) gefolgt ist, da sich diese auch bei jenem im ersten Buch des nel/um PoeniCllm findet. Inwiefern VergiI auch sprachlich von Naevius abhängt und in welchem Umfang er diesen bei der Ausgestaltung des Seesturms imitiert hat, kann auf Grund der Ü berliefe rungslage leider nicht eingeschätzt werden. 9 Vgl. dazu Richard Heinze: Virgils epische Technik, Darmstadt 41957, 1 82 und 428f.; Vinzenz Buchheit: VergiI über die Sendung Roms. Untersuchungen zum nel/um Poenicum und zur Aeneis, Heidelberg 1 963, 61 -67; Georg Nicolaus Knauer: Die Aeneis und Homer. Studien Zut poetischen Technik VergiIs mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 1 964, 1 48-1 52. 10 Als wörtliche Ent..prechungen, die im übrigen schon im antiken Serviu..kornmentar (zu Aen. 1 ,92 und 94) verzeichnet sind, wären hier der I\Iakarismos (s. unter (3) Klagerede) zu nennen und die Angabe, dass sich Odys seu.. die Knie und das Herz (Od. 5,297) bzw. Aeneas die Gliedmaßen (Aen. 1 ,92) lösen. 1 1 Vgl. Knauer, 1 964 (wie Fußn. 9), 1 50-1 52.
Die: Re:zeptiun dc:r ve:rgili.e:hen Sc:c:stunn..e:hildc:rung
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der Ot/yssee in einem ganz anderen Zusammenhang auftritt, zum unmittel baren Auslöser des Seesturmes macht.12 In ebenso freier motivischer Nachahmung verspricht Juno Aeolus die Nymphe Deiopea, damit er das Unwetter auslöst, wohingegen bei Homer in einer anderen Szene der Gott des Schlafes, Hypnos, durch Hera dadurch gewonnen wird, dass sie ihm die Grazie Pasithea verspricht.13 Spätestens mit Vergil ist der Seesturm zu einem kanonischen Element des römischen Epos geworden und hat sogar auf andere literarische Gat tungen ausgestrahlt. Denn die Epiker des ersten Jahrhunderts n. Chr.14 verzichten ebenso wenig auf die Schilderung eines Sees turmes wie Seneca in seiner Tragödie Agamemnon,15 Ovid in den Metamorphosen und in den elegischen Dichtungen16 oder die spätantiken Verfasser der Bibelepen17 bzw. anderer Werke christlichen InhaltS.1 8 Außerdem kann es nicht ver wundern, dass der Seesturm ebenfalls in den großen Renaissanceepen seinen festen Platz hat und sich bei Petrarca,19 Ariost, 20 Ercilla21 und Camoes findet.
12 VgL Buchheit, 1 963 (wie Fußn. 9), 62f. Aeol\L< nimmt daher als unmittelbarer Auslöser des Seesturmes diejenige Rolle ein, die Poseidon bei Homer hat; vgL Macr. 5,4,4: te1llpestIJS Aeneae Aeolo co"dta"te t1I1II adlot1lti�e duds res SUIJS tO"tlant�tis tk Ulixis te1llJ>tstate et adlot1lti�e destripta est, i" qua Aeoli Iotum NephmllS obtimlit. ,,Aeneas' Seesturm, den Aeolus heraufbeschwört, mit der Rede des Anführers, der seine Lage beklagt, ist eine Nachahmung von Odysseus' Rede und Seesturm, in welchem Neptun die Rolle des Aeolus innehatte." 13 n. 1 4,2'B-269; vgl. Buchheit, 1 963 (wie FuUn. 9), 67; Crist6bal, 1 988 (wie Fußn. 7), 126. 14 Lucan (5,504-702); Silius Italieus (1 7,236-291); Valeri\L< Aaccus (1 ,574-692); Statius (Theb. 5,361 -430). Zum Seesturm bei Lucan vgI. Monica Matthews: Cae sar and the storm. A commenmry on Lucan Ve 131110 Civili, Book 5 lines 476-721, Oxford \La. 2008; für Silius ItaliCIL< vgI. Joaquin Villalba Alvarez: "Ecos virgili anos en una tempestad epiea de Silio Icilico (Punica XVII 236-290)", Humanitas (Coimbra) 56, 2004, 365-382. 15 Sen. Ag. 421 -578. 16 Ov. met. 1 1 ,474-572; fast. 3,585-600; trist. 1 ,2; 1 ,4; 1 ,1 1 . Zu trist. 1 ,2 vgl. Jose Gonz:ilez-Vazquez: "En tomo a la retractatio de un pasaje virgiliano en Tristia 1 , 2", Latomus 52, 1 993, 75-83. 17 Iuvencus (2,25-32); Sedulius (carm. pasch. 3,46-69); Coripp (loh. 241-322). Zu IuvenCIL<' und Sedulius' Seesturmschilderungen in vergilischer Nachfolge vgl. Ratkowitsch, 1 986 (wie Fußn. 7). 18 Dracontius (Romul. 8,385-434); Antor (act. 2,1067- 1 1 55). 1 9 Afrka 8,500-546. 20 Orla"tlofurioso 41 ,8-24. 21 Lt Arautana 1 5,56- 1 6,1 7.
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Stellung und Fiktionalisierungsgrad der Seesturmschilderung Die Trojaner werden zu Beginn der Erzählung kurz vor ihrem Ziel (Lati um) von einem Seesturm überrascht. Abgesehen davon, dass dieser See sturm als literarisches Ornament dient, hat er den dramaturgischen Effekt, die Aeneaden an Karthagos Küste stranden zu lassen, so dass die Begeg nung zwischen Aeneas und Dido stattfinden kann. Auch die Lusiaden werden kurz vor ihrem Ziel von einem Seesturm überrascht, als sie auf der Reise von Malindi (tm heutigen Kenia) nach Indien sind (Buch 6). Im Gegensatz zu den Aeneaden überstehen die Lusiaden den Seesturm je doch erfolgreich und kommen unmittelbar darauf in Calicut (Indien) an. Dramaturgisch ist der Seesturm bei Camoes daher nicht motiviert, da er nicht die Funktion hat, ein nicht beabsichtigtes Abweichen von der Route zu begründen. Ob er einen anderen Zweck hat, als nur als literarisches Ornament zu dienen, ist umstritten und berührt die Frage nach dem Ver hältnis zwischen Realität und dichterischer Fiktion. Brasil, der einen Kommentar zu Os Lmiadas verfasst hat, vertritt den Standpunkt, dass ein Seesturm geschildert wird, der die Lusiaden tat.�ächlich vor Indiens Küste überrascht hat.22 Mit dieser Meinung wendet er sich gegen diejenigen, die behaupten, dass der Seesturm eine Erfindung des Dichters ist und ledig lich als literarisches Ornament verwendet wird.23 Brasil stützt seine These zum einen auf Camoes' Anspruch, Wahres zu dichten (vgl. Lus. 1 , 1 1). Diesen Anspruch erfüllt der Dichter auch, d.h. Camoes' Epos folgt im Allgemeinen historischen Tatsachen.24 Zum anderen zitiert Brasil histori sche Quellen. Diese Zeugnisse sprechen allerdings eher von Regen als von Unwetter, weshalb Brasil davon ausgeht, dass Camoes Quellen vorgelegen haben, die nicht mehr erhalten sind. Mag man auch Brasils These mit Vorsicht begegnen, da ihn die Leug nung der Gegenposition so weit führt, nahezu kategorisch vergilischen Einfluss auf Camoes' Seesturmschilderung auszuschließen und dessen Originalität zu betonen:25 Trotzdem ist es möglich, dass die Lusiaden tat sächlich von einem Seesturm überrascht wurden. Daher muss die Frage nach dem genauen Verhältnis von Realität und Fiktion offen bleiben. Die Verwendung des Götterapparates und die vielfältigen Anleihen, die 22 Reis Brasil: Os Lusiadas. Comencirios e estudo critico, Bd. 6, Lissabon 1 967, 303f. 23 Vgl. ebenfalls Brasil, 1 967 (wie Fußn. 22), 303f. und die dort referierte Gegen meinung. 24 Vgl. Schaeffer / Amold, 2000 (wie Fußn. 6), 598, die in diesem ZlL,ammenhang vom Chronikcharakter des Epos sprechen. 25 Vgl. Brasi� 1 967 (wie Fußn. 22), 46f. und 351 .
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Camoes bei Vergils Seesturmschilderung macht, zeigen, dass zumindest eine Vermischung von Realität und Fiktion stattfindet. Betrachtet man den Seesturm als reine Fiktion, müsste man die Positionierung im sechs ten Buch wohl damit begründen, dass die Überfahrt von der Ostküste Afrikas nach Indien die entscheidende Etappe
für
die Lusiaden darstellt,
die wie die Trojaner kurz vor ihrem Ziel in einen Seesturm geraten.
Die fünf Szenen der Seestunn schilderung Kröner unterscheidet - ausgehend von den Seesturmschilderungen bei den antiken Epikern und bei Seneca - fiin f Szenen des Seesturms, die gewissermaßen einen 'Maximalkatalog' bilden.26
(1)
Am Anfang steht die
göttliche Motivation des Seesturms. Diese Szene ist zumeist mit der Zomrede27 der betro ffenen Gottheit verbunden. derung des Sees turmes
im engeren Sinne. (3)
(2)
Dann folgt die Schil
In der dritten Szene reagiert
der Held mit einer pathetischen Klagerede auf den Seesturm, die - wie es zunächst scheint - folgenlos bleibt. vielmehr zu seinem Höhepunkt.
(5)
(4)
Denn der Seesturm gelangt nun
Am Ende leistet jedoch eine Gottheit
Hilfe und beendet den Seesturm. Diese fiin f Seesturmszenen - und darin unterscheidet sich das portugiesische Epos von den anderen genannten Renaissanceepen - lassen sich auch bei Camoes wieder finden.28 Daher wird der fünfgliedrige Aufbau als Richtschnur bei dem folgenden Ver gleich zwischen dem von Vergil geschilderten Seesturm und demjenigen, den Camoes schildert, dienen. Die Grenzen zwischen den von Kröner unterschiedenen Szenen sehen wir dabei an folgenden Stellen:29
26 Kröner, 1 970 (wie Fußn. 7), 391 f. Es handelt sich hierbei um einen Maximalkata log, da nicht in allen Schilderungen alle fünf Szenen vorkommen. Bei Homer und Vergi1 sind beispielsweise alle fünf Szenen vorhanden. 27 Kröners Begriff "Scheltrede" halten wir - zumindest mit Bezug auf die Atneis für problematisch, da er suggeriert, dass die Gottheit jemanden zurechtweist (da her passt er auf Neptuns Rede Aen. 1 , 1 32-141). Wir benutzen den Begriff "Zornrede". 28 VgL Kröner, 1 970 (wie Fußn. 7), 391 Fußn. 26. 29 Krönet, 1 970 (wie Fußn. 7) gibt keine Verse bzw. Strophen an. -
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Szene
Vergil (in Versen)
Camöes (in Strophen)
(1) Motivation und Zomrede (2) Schilderung des Seestunns (3) Klagerede
34-80 81 -92 93- 1 0 1 1 02-1 23 1 24- 1 56
6-36 37; 70-79 80-83 84 85-91
(4) Höhepunkt des Seesturms (5) Rettung
(1)
Motivation und Zomrede
In Camöes' Epos wird der Seesturm viert, aber es ist nicht Juno wie
in
zwar
auch durch eine Gottheit moti
Vergils
Aeneis
(oder Poseidon wie bei
Homer), sondern Bacchus, der den Seesturm verursacht. Dieser Unter schied erklärt
sich durch
die
Rolle,
die dieser
Gott
im
gesamten
Lusiadenepos spielt: Bacchus erscheint als der göttliche 'Widersacher der Lusiaden. Obwohl durch das fatum beschlossen ist, dass die Lusiaden Indi en erreichen werden (Lus.
1 ,20-29),
lehnt er sich gegen das Schicksal auf.
Daher entspricht er motivisch der Göttin Juno
in
der
Aeneis,
die Aeneas'
vom fatum beschlossene Mission zu verhindern versucht, da sie durch das Parisurteil gekränkt ist und Karthagos Ruhm durch denjenigen des zu künftigen Rom in Gefahr sieht. Dass Camöes Bacchus zum Widersacher der portugiesischen Mission macht, erklärt sich durch das Ziel der Reise, nämlich Indien. Denn
im Mythos gilt Bacchus
traditionell als der Eroberer
des Orients10 und - seit den Feldzügen Alexanders des Großen - als der Eroberer Indiens.11 Daher ist es nur allzu verständlich, dass Camöes das egoistische Ruhmesinteresse der Juno durch dasjenige des Bacchus ersetzt: 'Wie Juno um den Ruhm fürchtet, der mit Karthago verbunden ist, fürch tet Bacchus um den Ruhm, den er sich durch Indiens Eroberung erwor ben hat, und bekämpft daher das portugiesische Untetnehmen. 12 Bacchus handelt jedoch nicht alleine bzw.
kann
nicht alleine handeln,
sondern versichert sich der Hilfe von Neptun und Aeolus, indem er Nep-
30 Vgl. Euripides, Bakchen 1 3-22. 31 Bacchus' Eroberung Indiens begegnet zum ersten ]\Ial bei den Alexanderhistori kern; vgL Megasthenes, FHG 11 416 Erg. 21 Müller (= Arrian, Indische Geschich te 5,8). 32 Dass Bacchus von Intrigen gegen die Lusiaden Gebrauch macht und Venus helfend eingreift, ist ebenso ein Leittnotiv des Lusiadenepos, wie es ein Leittnotiv der Aeneis ist, dass Juno Intrigen gebraucht und Venus die Aeneaden vor ihnen bewahn. Vgl. Bacchu..' Plan, die Lu..iaden in ;\fombasa zu vernichten, den Venus vereitelt (Ende Buch 1 und Anfang Buch 2).
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tun bittet, eine Versammlung der Meeresgötter anzuberaumen, die zu dem Ergebnis führt, dass Aeolus beauftragt wird, die Winde zu entfesseln (Lus. 6,6-36). Camöes autorisiert dadurch den Seesturm, dass diejenigen Gott heiten involviert werden, in deren Zuständigkeitsbereich der Seesturm fillt : der Meeresgott und der Gott der Winde. Damit kehrt er ein Motiv um, das bei Vergil ein zentrales Thema ist, 33 denn dort überschreitet Aeo lus auf Junos Initiative hin seine Grenzen, weswegen Neptun die von jenem entsandten Winde zurechtweist (Aen. 1 , 1 30-1 41). In den Lusiaden sichert sich Bacchus von vornherein ab, indem er sich an Neptun wendet und einen möglichen Vorwurf der Zuständigkeitsüberschreitung tnit den ersten Worten antizipiert (Lus. 6,1 5,1 f.) : 6 Neptuno, Ihe disse, näo te espames De Baco nos teus reinos receberes. Neptun, sagte er zu ihm, wunder dich nicht darüber, dass du Bacchus in deinem Reich empfängst.
Aufgrund dieser Autorisierungsstrategie ist es nur konsequent, dass Camöes ein Element, das bei Vergil tnit der Zuständigkeitsüberschreitung der Winde verknüpft ist, an eine ganz andere Stelle versetzt. Bei Vergil kritisiert Neptun das eigenmächtige Handeln der Winde in einer Scheltre de (gegen Ende der Seesturmschilderung), indem er darauf hinweist, dass er die Herrschaft über das Meer durch die sors erlangt hat, nicht Aeolus (Aen. 1 , 1 38f.): non illi imperium pelagi saellumque tridentem, sed mihi sorte datum.
Auf die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche Himmel, Meer und Unter welt zwischen Jupiter, Neptun und Pluto, die durch die sors erfolgte, kann bei Camöes nicht an derselben Stelle wie bei Vergil, d.h. in einer Scheltre de in der letzten Seesturmszene, angespielt werden, da der von Bacchus verursachte Seesturm autorisiert ist. Bei Camöes dient dieses Detail ganz im Gegenteil der Begründung, warum sich Bacchus an Neptun wendet, und datnit der Autorisierung des Sees turms (Lus. 6,7,7f.): Entta no hUmido reino, e w-se a corte Daquele a quem 0 Mar caiu em sorte. Er betritt das feuchte Reich und geht durch Losentscheid zufiel.
zum
Königshof desjenigen, dem das Meer
In der Darstellung der Meeresgötter-Versammlung liegt ein weiterer Un terschied zwischen dem vergilischen Seesturm und demjenigen bei 33
VgL Buchheir, 1 963 (wie Fußn. 9), 66.
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Camoes. Doch lohnt es sich, die Götterversammlung bei Camoes abseits der Feststellung, dass sie bei Vergil an entsprechender Stelle nicht vor kommt, näher zu betrachten, um die Gemeinsamkeiten mit und Unter schiede zu Vergil zu analysieren. Eine Götterversammlung ist ein klassi sches Element des Epos und erscheint, wenn eine für die weitere Hand lung wichtige Entscheidung getroffen wird.14 Bei Vergil findet sie sich am Anfang des zehnten Buches der Amtis. Dort ist sie jedoch anders moti viert als bei Camoes.15 Denn in der Aeneis beraumt Jupiter die Götterver sammlung an, weil er feststellt, dass es gegen seinen Willen zu einem Krieg zwischen den Latinern und den Trojanern gekommen ist, d.h. die Götterversammlung ist eine Reaktion auf das von der göttlichen Antago nistin Ouno) verursachte kriegerische Geschehen. In Os LusiaJa.r ist die Motivation der Götterversammlung umgekehrt: Der göttliche Antagonist (Bacchus) selbst beruft eine Versammlung der Meeresgötter ein, bevor er den Anschlag auf die Lusiaden ins Werk setzen lässt. Daher lässt sich bei der Götterversammlung dasselbe Bemühen des Dichters feststellen wie bei der Involvierung Neptuns, nämlich das Bemühen, den Seestunn auto risiert erscheinen zu lassen. Unter dem Gesichtspunkt der Autorisierung ist auch Bacchus' Zornrede (Lus. 6,26-34) zu sehen und mit der Zornrede Junos bzw. mit derjenigen Rede, die sie vor Aeolus hält (Aen. 1 ,34-49; 65-75) , zu verglei chen. Juno braucht vor Aeolus lediglich auf ihren Hass auf die Aeneaden zu verweisen (und ihm die Nymphe Deiopea zu versprechen), um das Entsenden der Winde zu veranlassen (Aen. 1 ,67f.): gens inimica mihi Tyrrhenum navigat aequor Ilium in ltaliam portans victosque penatis.
Bacchus handelt zwar genauso egoistisch wie Juno, wie aus folgender Strophe deutlich wird (Lus. 6,32): E nao consinto, Deuses, que cuideis Que por amor de vos do Ceu deci, Nem da rruigoa da injUria que sofreis, Mas da que se me faz tarnbem a mi; Que aquelas grandes honras, que sabeis Que no mundo ganhei, quando venci As terras Indianas do Oriente, Todas vejo abatidas desta gente.
34 Deshalb kann es nicht verwundern, dass Camöes sie an dieser Stelle unterbringt, d.h. kurz bevor die Lusiaden ihr Ziel erreichen. 35 Vgl. l\Iaria Helena da Rocha Pereira: ,,1\ tempestade marftima de Os Lusfadas. Estudo comparativo", Memorias da Academia das Ciencias de Lisboa. Classe de Letras 29, 1 990- 1 99 1 , 91 - 1 03, hier 1 02f.
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Und ich lasse nicht zu , Götter, dass ihr denkt, dass ich aus liebe z u euch aus dem Himmel herabgestiegen bin oder weil ich verletzt bin über die Schande, die ihr er leidet, sondern wegen der Schande, die man auch mir antut; denn jene großen Ehren, die ich in der Welt errungen habe, wie ihr wisst, als ich die Länder Indiens im Orient bezwungen habe, sehe ich alle durch diese Leute geraubt.
Aber er versteht es, sein egoistisches Anliegen rhetorisch so einzukleiden, dass es scheint, als vertrete er die Interessen aller, d.h. auch der Meeres götter (vgl. ibo 1 5,8: Ollfam todos 0 mal qlle toca a todor. ,,Alle [sc. Meeresgöt ter] sollen von dem Übel hören, das alle betrifft''). Das allgemeine Anlie gen wird in der zuvor zitierten Strophe andeutungsweise daran deutlich, dass Bacchus das Wort tambem ("auch'') benutzt. Bacchus gelingt es, die Meeresgötter zum Eingreifen zu bewegen, indem er sie darauf hinweist, dass die Lusiaden die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten, wie es einst die Argonauten taten.36 Wenn daher den Argonauten Widerstand geleistet wurde,37 dann müssen die Meeresgötter konseCjuenterweise auch jetzt eingreifen (ib. 30f.). In gewisser Weise entspricht dieses Argument Junos Verweis auf Athene, die Aiax eigenmächtig töten konnte (Aen. 1 ,39-45), da Juno daraus für sich das Recht ableitet, die Aeneaden zu verfolgen. Jedoch ist die Funktion eine andere: Während Juno gewissermaßen Selbst justiz einfordert und die Überschreitung ihres Zuständigkeitsbereiches vorbereitet, kann Bacchus dasjenige Gremium überzeugen, das für die Entsendung des Sees rurms zuständig ist. Dadurch, dass die Meeresgötter ihm zustimmen und ein Gesuch an Aeolus gerichtet wird, wird der See sturm autorisiert. Insgesamt lässt sich in der ersten Seesrurmszene eine dilatatio materiae18 feststellen, die Camöes dadurch erreicht, dass er teil.� Elemente aus Vergils
Das Motiv, dass das Befahren des Meeres - gerade durch die Argonauten - eine 'Überschreitung der den Menschen gesetzten Grenzen ist, ist klassisch; vgl. Hor. carm. 1 ,3 und das zweite Chorlied in Senecas Medea (301 -379). 37 Camöes denkt wohl an die heiden kleinen Seestürme, die Apollonios Rhodios in seinem Argonautenepos (4,578-580; 1 232-1238) erwähnt. 38 Die dihtatio maftria. und ihr Gegenteil, die abbrtviatio, sind Begriffe aus mittelalter lichen Poetiken und bezeichnen das poetische Verfahren, dass ein Stoff als gege ben betrachtet und entweder ausgeweitet oder verkürzt wurde; vgl. Edmond Fatal: Les ans poetiques du XIIe et du XITIe siede. Recherehes et documents sur Ia technique Iitteraire du moyen age, Paris 1 923 (Ndr. Paris 1 962), 6 1 -85; Hen ning Brinktnann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a.d.S. 1 928 (Ndr. Tübingen 1 979), 47-68. Dieses Verfahren lässt sich in den mittel hochdeutschen Epen, die romanische oder lateinische Vorlagen bearbeiten, er kennen. Es lässt sich aber auch im kleineren Maßstab finden, wie es beispielswei se Joachim Hamm anband von Carnillas Grabmalbeschreibung im deutschen Eneasroman analysiert hat, dessen Ansatz wir hier folgen: Joachim Hamm: "Ca36
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gesamter Seestutmschilderung übernimmt und ausführlicher gestaltet, teils typisch epische Elemente einfügt, die an anderen Stellen der Aeneis vor kommen. Neben der Götterversammlung handelt es sich auch bei der Beschreibung Tritons19 und dem Katalog der Meeresgottheiten (Lus. 6,1 625), die beide mit der Götterversammlung verknüpft sind, um Ergänzun gen durch Camoes. Eine motivische Entsprechung hat hingegen die Be schreibung von Neptuns Höhle (ib. 8f.), da sie mit derjenigen des Aeolus (Aen. 1 ,52-63) korrespondiert. Die eingelegte Beschreibung des Bildwer kes wiederum, das in Neptuns Höhle zu sehen ist (Lus. 6,1 0-1 4), hat in diesem Zus ammenhang keine vergilische Vorlage und ist allenfalls mit der Beschreibung des karthagischen Tempelfrieses (Aen. 1 ,446-493) oder mit der berühmten Schildbeschreibung 0b. 8,61 7-728) vergleichbar.40
(2) Schilderung des Seestutms
Auch bei der Schilderung des Seesturmes ist die dilatatio materiae zu erken nen. Camoes setzt sie vornehmlich auf zweierlei Weise um: Zum einen bündelt er zwei vergilische Szenen (Schilderung und Höhepunkt des See sturmes), so dass mit der dilatatio matcriat hier eine abbreviatio in der vierten Seesturmszene einhergeht. Zum anderen erweitert er die Seesturmschilde rung durch eine eingelegte Geschichte, die sich die wachhabenden Matro sen zum Zeitvertreib erzählen (Lus. 6,38-69), so dass die Seesturmschilde rung im engeren Sinne die Strophen 37 und 70-79 umfasst. Die Matrosen erzählen sich die Ritter- bzw. Liebesgeschichte der Doze de InglateTTa, d.h. der zwölf portugiesischen Ritter, die an Englands Königshof die Ehre von zwölf englischen Frauen verteidigt haben.41
millas G-rabmal. Zur Poetik der dilatatio malenae im deutschen Eneasroman", Lite raturwissenschaftliches Jahrbuch 45, 2004, 29-56. 39 Die Beschreibung Tritons ist sicherlich durch diejenige bei Ovid (met. 1 ,330-342) angeregt. Bei VergiI wird er nur kurz erwähnt (Aen. 1 , 1 44). 40 Auch bei der Beschreibung des Bildwerkes mit dem Ch aos, den vier Elementen und dem Kampf der Götter mit den Giganten ist Camoes sicherlich vom Anfang der Metamorphosen inspiriert worden; vgL Pereira, 1 990- 1 991 (wie Fußn. 35), 1 02. 41 Die Geschichte der Doze de Inj!,laterra markiert auch unter stofflicher und poetolo gischer Perspektive eine wesentliche Diskrepanz zwischen VergiI und Camoes und ist vor dem Hintergrund der Renaissanceliteratur zu sehen. Als eingeschobe ne und nur lose mit der Haupthandlung verknüpfte Erzählung ist sie mit den drei Ehebruchsgeschichten aus Ariosts OrJando fonolo und den beiden Geschichten UI CIInolo impertinmtr und 1,'/ capitan CfJlltivo aus dem ersten Teil von Cervantes' QII!Jole zu vergleichen. Für die eingeschobenen Erzählungen bei l\tiost und Cervantes
Die Rezeption der "c'!,�lischcn Scestunnschilderung
Der Anfang der Seesturmschilderung 0b. 37) rekurriert Punkten auf Vergil:
1 33
in
einigen
Ja Ja 0 soberbo Hip6tades soltava Do carcere fechado os furiosos Ventos, que com palavras animava Contra os baröes audaces e animosos. Subitn 0 ceu sereno se obumbrava, Que os ventos, mais que nunca impetuosos Come�am novas for�as a ir tomando, Tortes, montes e casas derribando. Schon ließ dort der hochmütige Nachfahre des Hippotes aus dem verschlossenen Gefangrus die rasenden Winde los, die er mit Worten gegen die waghalsigen und draufgängerischen Männer anfeuerte. Plötzlich wurde der heitere Himmel ganz dunkel, da die Winde, so stürmisch wie noch nie, anfangen neue Kräfte zu sam meln und Türme, Berge und Häuser niederzureißen.
Zunächst ist die Vorstellung, dass Aeolus die Winde in einem Gefangnis (lat. care", port. cdreerc) eingesperrt hält, vergilisch. Bei Vergil kommt diese Angabe jedoch innerhalb der ersten Seesturmszene, der Motivation, vor; vgl. Aen. 1 ,52-54: Hic vastn rex Aeolus antro luctantes ventos tempestatesque sonoras imperio premit ac vinclis et carcere frenat.
Die Finsternis (Lus. 6,37,5) wird von Vergil in zwei Versen dargestellt (Aen. 1 ,88f.): eripiunt subito nubes caelumque diemque Teucrorum ex oculis; pontn nox incubat atra.
Die Angaben, dass Aeolus die Winde mit Worten aufhetzt und diese Türme, Häuser und Berge niederreißen, sind Erweiterungen von Camöes im Vergleich zu Vergil. Dieses Ausmaß der Verwüstung ist bei Vergil höchstens angedeutet 0b. 82f.): ac venti, velut agmine facto, qua data porta, munt et terra s turbine perflant.
Ein großer Unterschied liegt an der Stelle vor, an der der Seesturm über die Lusiaden hereinbricht. Denn auf einmal werden die verschiedensten Aktivitäten der Lusiaden genannt: Die Segel werden eingeholt, Kommanvgl. Javier G6mez-Montero: "Cervantes, Ariost und die Form des Romans: die eingeschobenen Erzählungen und die Strategien der Fiktionskonstituierung im Quijote", in: Dietrich Briesemeister u.a. (Hgg.): I ix nobili pbiloloJ!.orum '!!fino. Fest schrift für Heinrich Bihler zu seinem 80. Geburtstag, Berlin 1 998, 353-387.
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dos gegeben, Ballast über Bord geworfen, das Wasser abgepumpt und man versucht, das Steuer zu fixieren (Lus. 6,70-73). Dies ist insofern ein großer Unterschied zu Vergils Seesturmschilderung, als die Aeneaden in keiner Weise Gegenmaßnahmen gegen den Seesturm einleiten, sondern in Passivität erstarren.42 In diesem Punkt könnte Camöes von Ariost beein flusst sein, in dessen Seesturmschilderung ebenfalls verschiedene Aktivitä ten der Helden genannt werden.43 Sowohl bei Vergil als auch bei Camöes wird der Angstschrei der Mannschaft erwähnt. Camöes setzt dieses Element jedoch wiederholt ein. Man vergleiche Aen. 1 ,87: insequirur clamorque virum stridorque rudentum
mit Lus. 6,72, H.: ° du fere com gritos nisto a gente, Com subito temor e desacordo.
Hierauf trifft die Mannschaft mit ihrem Geschrei den Himmel, mit plötzlicher Angst und Durcheinander.
und ibo 75,3-6: a gente chama Aquele que a salvar 0 mundo veio. Näo menos gritos wos ao ar derrarna Toda a nau de Coelho, com receio. Die Mannschaft ruft zu jenem, der kam, um die Welt zu retten. Nicht weniger vergebliches Geschrei richtet Coelhos ganzes Schiff aus Furcht zum HimmeL
Um dem Leser die Todesgefahr, die von dem Seesturm ausgeht, noch eindringlicher vor Augen zu führen, greifen VergiI und Camöes auf das Mittel der Exemplifizierung zurück, indem nicht mehr das Schicksal der ganzen Mannschaft, sondern das einzelner Helden bzw. Schiffe vor Au gen geführt wird. Bei Vergil findet sich dieses Element in der vierten See sturmszene (Aen. 1 , 1 08- 1 1 7): tris Notus abreptas i n saxa latentia torquet (saxa vocant ltali mediis quae in fluctibus Aras, dorsum immane mari summo ), tris Eurus ab alto in brevia et Syrtis urget, miserabile visu, inliditque vadis atque aggere cingit harenae. unam, quae Lycios fidumque vehebat Oronten, 42 Vgl. Hennio Morgan Birchal: Esquemas de lit;:öes sobre "Os Lusiadas", lissabon 1 972, 26; Pereira, 1 990-1 991 (wie Fußn. 35), 95f. 43 Orla"doforiolo 41 ,10-12. Bei Ovid (met. 1 1 ,482f.) finden sich An.�ätze zur Schilde rung von Gegenmaßnahmen.
Die Rezeptiun der vergili.ehen Seestunn..ehilderung
1 35
ipsiu.. ante oculos ingens a vertice pontus in puppim ferit: excutitut pronusque magister volvitut in caput; ast illam ter fluctus ibidem torquet agens circum, et rapidus vorat aequore \'errex.
Camoes gestaltet die Exemplifizierung der Todesgefahr mit anderen Ele menten als Vergil. Zu diesen Elementen gehört der zuvor zitierte Angst schrei der Hdden, wodurch teilweise verständlich wird, dass dieser wie derholt genannt wird (Lus. 6,75): A nau grande, e m que vai Paulo da Gama, Quebrado leva 0 rnasto pelo meio, Quase toda alagada; a gente chama Aquele que a salvar 0 mundo veio. Näo menos gritos väos ao ar derrama Toda a nau de Coelho, com receio, Conquanto teve 0 mestte tanto tento, Que primeiro amainou, que desse 0 vento. Der Mast des großen Schiffes, auf dem Paulo da Gama fahrt, ist in der Mitte ge brochen, und fast das ganze Schiff steht unter Wasser; die Mannschaft ruft zu j e nem, der kam, um die Welt zu retten. Nicht weniger vergebliches Geschrei richtet Coelhos ganzes Schiff aus Furcht zum Himmel, obwohl der Bootsmann so sehr versuchte, die Segel zu reffen, bevor der Wind hineinfuhr.
Das Brechen des Mastes wird nicht bei Vergil, sondern bei Ovid und Homer genannt. 44 Bei Vergil hingegen brechen in der vierten Sees turm szene die Ruder (Aen. 1 , 1 04):.frangllntur nomi. In Abänderung der vergilischen Reihenfolge schildert Camoes nun das Auf und Ab der Schiffe auf den Wellen. Bei Vergil steht diese Schilderung vor der Exemplifizierung bzw. ist schon ein Teil davon (Aen. 1 , 1 06f.) : hi summo in fluctu pendent; his unda dehiscens terram inter fluctus aperit, furit aestus harenis.
Lus. 6,76,1 -4: Agora sobre as nuvens os subiam As oncla. de Neptuno furibundo; Agora a ver parece que deciam As fnrlrnas enttanhas do Pmfundo. Bald trugen die Wogen des wutentbrannten Neptun sie über die Wolken; bald scheint es, dass sie hinabsanken, um die innersten Eingeweide des Meeres zu se hen.
44
Ov.
met. 1 1 ,551 ; Hom. üd 5,31 6f.
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In leichter Abwandlung wird der Gedanke, dass die Schiffe der Lusiaden bald zum Himmel emporgehoben, bald auf den Meeresgrund gesenkt werden, einige Strophen später wiederholt (ib. 80,3f.): Über Vasco da Gama heißt es: Vendo om 0 mar are 0 Inferno abeno, Om com nova fUria ao ceu subia, [...] Als er sieht, dass das Meer bald his zur Hölle offen stand, bald mit neuer Wut zum Himmel stieg [. ..]
Neben Vergil hat jedoch auch Ovid auf diese Stelle gewirkt, da sich auf diesen die Hyperbel zurückführen lässt, dass das Meer bis zur Hölle offen steht. 45 Die Winde, die die riesigen Wellen verursachen, werden sowohl von Vergil als auch von Camoes namentlich genannt. An dieser Stelle lohnt es sich, mit Pereira einen Vergleich auch mit Homer durchzufiihren.46 In der 04Yssee wühlen die vier großen Winde, die aus den vier Windrichtungen kommen, die Wogen auf. Sie werden zweimal genannt: Od. 5,295f.: auv S ' eöpes T E veTOS T' hreaov <e'Pupes T E Suaails Kai ßopeTJS ai6PTJYEVeTTJS, Ileya KÜlla KV�ivSc..lV.
Euros, Notos, der schlimm wehende Zephyros und der aus hellem Himmel geborene Boreas, der große Wellen aufwälzte, fielen zusammen.
und in paralleler Anordnung Od. 5,33 1 f.: äMOTE Ilev TE veTOS ßopen lI"POßcicAEaKE 'Pepea6al, äMOTE S ' aÖT' eöpos <E'PUP 'll ei�aaKE SIc:,KEIV.
Mal warf Notos es [sc. Odysseus' Floß] Boreas zu, damit er es trägt, mal überließ es wiederum Emos Zephyros, es zu verfolgen.
Auch in der Aeneis werden die Wmde an mehreren Stellen genann t. Aber es werden nicht wie bei Homer die vier großen Winde als Stellvertreter für die vier Windrichtungen im Verbund etwähnt. Bei Vergil haben die Winde keine erkennbare Funktion als spezielle Wmdrichtungen, sondern reprä sentieren ganz allgemein die Winde. Zunächst heißt es (Aen. 1 ,84-86): totum [.. .] [sc. mare] a sedibus imis una Eurusque Notusque munt creherque proce1lis Africus et vastos volvunt ad Ii tora f1uctus.
45
Ov. met. 1 1 ,503-506: et nune suhlimis veluti de vertict montis I tkspim-e in wlles imumque
Aeheronta videlHr, I nune, ubi tkmissom CIII7JII11I tirtllmstetit aequor, I suspiCl!rrI inferno SUnt munt tk gurgitt caelum; vgL Pereira, 1 990-1 991 (wie Fllßn . 35), 92.
46 VgL Pereim, 1 990-1 991 (wie Fllßn. 35), 97-99.
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Dann wird in Vers 1 02 AquiJo (Nordwind) genannt, in den Versen 1 08 und 1 1 0 werden Notus und Eums wiederholt, und in Vers 1 3 1 erscheint Eums ein drittes Mal, während Zep�ms das erste Mal erwähnt wird. Camöes nennt die Winde in der zweiten Seesturmszene im Verbund (Lus. 6,76,Sf.) : Noto, Austro, Boreas, Aquilo queriam Arruinar a rruiquina do Mundo. Notus, Auster, Boreas und Aquilo wollten das Weltengefiige zerstören.
Bei Camöes scheint es, dass im Grunde genommen nur zwei Winde so wohl mit ihrer griechischen als auch mit ihrer lateinischen Bezeichnung genannt werden, nämlich der Südwind (gr. Notos, lat. Austery und der Nordwind (gr. Boreas, lat. AquiJo) . Jedoch wird aus einer anderen Stelle deutlich, dass Camöes davon ausgeht, vier Winde vor sich zu haben, da er dort AquiJo als Gefahrten von Boreas bezeichnet �b. 3 1 ,3f.: Boreas [ . . . ] e 0 companheiro / AquiJo). Diese Differenzierung ist keine Neuerung von Camöes, sondern steht in einer langen Tradition, da die antiken Winde unterschiedlich eingeteilt wurden. So ist uns sogar eine Inschrift erhalten, in der Boreas und Aquilo unterschiedliche Winde darstellen (AquiJo reprä sentiert dort den Nordnordwestwind). 47 Daher folgt Camöes bei der Nen nung der Winde eher Homer, da die WInde bei ihm erkennbar für be stimmte Windrichtungen stehen (Süd und Nord bzw. Nordost). Ein klassisches Element des Sees turms ist auch das Erscheinen von Blitzen. Meist wird geschildert, wie Blitze im Verbund mit Donner auftre ten, z.B. bei VergiI (Aen. 1 ,90): intonuere poli et crebris micar ignibus aether
Camöes nennt hier nur die Blitze (Lus. 6,76,7f.): A noite negra e feia se alumia Cos raios em que 0 Polo todo ardia. Die schwarze, dunkle Nacht wurde von den Blitzen durchzuckt, in denen der ganze Himmel brannte.
An einer späteren Stelle wird die Erwähnung des Donners jedoch nachge holt �b. 84,6).411 Das Aufflackern der Blitze erwähnt Camöes - wie zuvor das Auf und Ab der Schiffe auf den Wellen - öfter. Die zweite Nennung
47
Vgl. Georg Kaibel: "Antike Windrosen", Hermes 20, 1 885, 579-624 allgem ein und speziell 624. Es handelt sich um eine Inschrift in Aquileia. 48 Dort werden auch die Blitze erneut, d.h. insgesamt zum dritten Mal, genannt. Baiäo bringt in seiner lateinischen Übersetzung die Vergilrezeption in diesem Punkt deutlich zum Ausdruck (6,356): de md!!ls homndNm tondi el nnctJt ;"nibm atther.
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der Blitze ist aus poetologischer Sicht äußerst aufschlussreich, da Camoes hier seine literarischen Quellen offenbart und indirekt mit diesen zu wett eifern scheint Ob. 78) : Nunca tä o vivos raios fabricou Conua a fera soberba dos Gigantes o gräo ferreiro sordido que obrou Do enteado as armas radiantes; Nem tanto 0 gräo Tonante arremessou Relampados ao mundo, fulminantes, No gräo dilUvio donde sos viveram Os dous que em gente as pedras converteram.
Während Camoes zwn einen mit dem Kampf der Giganten, zum anderen mit Deucalion und Pytth a auf das erste Buch der Metamorphosen an spielt,49 verweist die Nennung des Schmiedes Vulkan auf das achte Buch der Aeneis, wo der Gott des Feuers aufVenus' Wunsch Waffen für Aeneas schmiedet (Aen. 8,407-453). Die Schilderung des Seesturmes schließt mit einer Strophe (19), in der abermals (wie in Strophe 37) Verwüstungen von Bergen und Bäwnen genannt werden, die kein Vorbild bei Vergil haben. 50
(3) Klagerede So wie Aeneas im römischen Epos die Klagerede formuliert, ist es Vasco da Gama im Lusiadenepos, der diese Rolle übernimmt. Doch während sich Aeneas an den Himmel wendet, ohne eine bestimmte Gottheit anzu rufen,51 spricht Vasco da Gama den christlichen Gott an (Lus. 6,81): Divina Guarda, angelica, celeste, Que os Ceus, 0 Mar e Terra senhoreias: Tu, que a todo Israel refUgio deste Por metade das aguas Eritreia.� ; Tu, que Iivreste Paulo e 0 defendeste Das Sirtes arenosas e ondas feia.�, E guardaste, cos filhos, 0 segundo Povoador do alagado e vacuo mundo.
49 Vgl. für den Kampf der Giganten: met 1 ,1 5 1 -1 55, v.a. 1 54f.: /um pour omnipotms misso perfrtgit Ofympllm / foIminl et ext:IISsit sllbilctflt P,Jion Ossal. Für Deucalion und Pyrrh a vgI. ibo 348-41 5. 50 Vgl. für diese Verwüstungen Ov. met. 1 ,285-290; 309f.; Lucan. 5,61 5-61 7. 51 Aen. 1 ,93: dupJici.r tmtkns ad sitkra poImos.
Die Rezeption der vc'!,�lischcn Scestunnschilderung
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Göttlicher Schutz der Engel im Himmel, der den Himmel, das Meer und die Er de beherrscht: Du, der ganz Israel Zuflucht gewährt hat mitten durch das Eriträische Meer; Du, der Pauhls befreit und gerettet hat aus den sandigen Syrten und dunklen Wogen und den zweiten Besiedler der überfluteten und leeren W'elt mit seinen Söhnen beschützt hat.
In der Präseru: des christlichen Gottes in dieser Seesturmszene und allge mein in Os Utsiadas liegt einer der fundamentalen Unterschiede zwischen der Aeneis und dem portugiesischen Epos. Denn die Entdeckungsfahrt der Lusiaden ist untrennbar mit der Verbreitung des Christentums verbunden; die christliche Mission ist ein zentrales Thema des Epos (vgl. Lus. 1 ,6f.). Camoes versteht es, sein Epos auf zwei Ebenen spielen zu lassen, und zwar auf der Ebene des Christengottes und auf derjenigen der antiken Götter. Da das Wirken der Götter - anders als in der Aeneis - den Prota gonisten jedoch verborgen bleibt, muss Vasco da Gama den christlichen Gott anrufen. Überdies wäre es kaum vorstellbar, dass Camoes in diesem christlichen Epos seinen Helden die mythischen Götter anrufen lässt.52 Um Gott zum Eingreifen zu bewegen, erinnert Vasco da Gama an drei biblische Ereignisse: an die Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft (vgl. Gen. 1 4), den Schiffbruch des Apostels Paulus (vgl. Apg. 27,9-44) und die Rettung Noahs vor der Sintflut (vgl. Gen. 6,9-9,1 7). Zum anderen - und hierin entspricht Vasco da Gamas Klagerede derjeni gen des Aeneas - verweist er auf die Gefahren, die er zuvor überstanden hat, um den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass es sinnlos wäre, gerade in der gegenwärtigen Situation zu sterben. In Aeneas' Fall handelt es sich um den Trojanischen Krieg (Aen. 1 ,96-101) : o Danaum fortissime gentis Tydidel mene lliacis occumbere campis non potuisse tuaque animam hanc effundere dextra, saevus ubi Aeacidae telo iacet Hector, ubi ingens Satpedon, ubi tot Simois conepta sub undis scuta virum galeasque et fortia corpora volvitl
Vasco da Gama kann zwar auf keinen Krieg verweisen, findet jedoch andere Gefahren, die er und seine Mannschaft überstanden haben und die eine Entsprechung in der Aeneis haben, indem er die Gefahren zur See thematisiert. Dabei stellt er sich eindeutig in Aeneas' Nachfolge, wenn er diese kritischen Momente mit dem Adjektiv olim versieht, d.h. davon spricht, eine andere bzw. zweite Skylla und Charybdis usw. erlebt zu ha-
52 Man darf nicht vergessen, dass Camöes im 1 7. Jahrhundert fiir die Verflechtung von antiker Mythologie und Christentum kritisiert wurde; vgL Schaeffer / Ar nold, 2000 (wie Fußn. 6), 599.
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ben. Diese Gefahren werden teils in Aeneas' Klagerede, teils an anderen Stellen der Aeneir genannt. Man vergleiche Lus. 6,82,1 -4: Se tenho novos medos perigosos Doutrll Cila e Carfbdis ja passados, Outrlls Sirtes e baxos atenosos, Outtos Acroceraunios infamados, [...] Wenn ich die neue Angst aufgrund der Gefahren, die eine zweite Skylla und Cha rybdis darstellten, schon überstanden habe und ebenso andere Syrten und sandige Untiefen, andere berüchtigte Akrokeraunische Felsen, [...]
mit Aen. 1 ,200f.: Vos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantis accestis scopulos
Aen. 7,302f.:';3 quid Syrtes aut Scylla rnihi, quid vasta Charybdis profuit?
und Aen. 3,506f.:';4 provehimur pelago vicina Ceraunia iuxta, unde iter ltaliam cursusque brevissimus undis.
Camoes kehrt die vergilische Reihenfolge um, so dass bei ihm der Makarismos auf die Nennung der zuvor überstandenen Gefahren folgt. Vergil, der Homer in der Verwendung des Makarismos folgt,';5 Iässt seinen Helden die Trojaner glücklich preisen, die im Krieg gegen die Griechen gestorben sind (Aen. 1 ,94-96): o terque quaterque beati, quis ante ora pattum Troiae sub moenibus altis contigit oppetetel
53 Vgl Pereira, 1 990-1991 (wie Fußn. 35), 93. Für Skylla und Charybdis lässt sich außerdem noch folgende Stelle in der Aeneir nennen: Aen. 3,420-428. 54 Pereira, 1 990-1 991 (wie Fußn. 35), 93 hält die Akrokeraunischen Berge - wohl in Unkenntnis der Stelle au.� dem dritten Buch der Aeneis - für eine horazische Re miniszenz (vgl. HOl". carm. 1 ,3,20). Sie werden auch in Vergils Gto'lliCd erwähnt (georg. 1 ,332). 55 Od. 5,306f. Vgl Birchal, 1 972 (wie Fußn. 42), 26.
Die: Re:zeptiun dc:r ve:rgili.e:hen Sc:c:stunn..e:hildc:rung
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Vasco da Gamas Makarismos56 richtet sich an Personen der Zeitgeschich te (Lus. 6,83,1 -4): Oh! Ditosos aqueles que puderam Entre as agudas IanfTas Africanas Motter, enquanto fortes sustiveram A santa Fe nas terras Mauritanasl Wie glücklich können sich jene schätzen, die inmitten der spitzen afrikanischen Lanzen sterben konnten, als sie tapfer den heiligen Glauben in mauritanischen Ländern behauptet habenl
Er preist seine Vorgänger glücklich, die in Afrika, speziell in Marokko gestorben sind, als sie die Expansion Portugals und des christlichen Glau bens vorantrieben. Marokko ist deshalb für die portugiesische Expansion von besonderer Bedeutung, weil sie von hier am Anfang des 1 5. Jahrhun derts ihren Ausgang nahm, als sich Portugal nach der Rückeroberung der von den Arabern besetzten Gebiete immer weiter an der afrikanischen Küste ausbreitete. Der Makarismos ist daher wie die gesamte Klagerede stark christlich geprägt.
(4) Höhepunkt des Seesturms In der Schilderung des Höhepunktes des Seesturmes liegt im Vergleich zu Vergil eine abbreviatio vor, d.h. Camöes fasst sich hier viel kürzer, da er deskriptive Elemente aus Vergils vierter Seesturmszene bereits in seiner zweiten Seesturmszene verwendet hat. In nur einer Strophe wird nun die Zuspitzung des Seesturmes geschildert. Ein wesentliches Mittel zur Dar stellung seiner Zuspitzung ist ein Vergleich zwischen den Winden und ungezähmten Stieren (Lus. 6,84,1 -4): Assi dizendo, os ventos, que lutavam Corno touros ind6mitos, bramando, Mais e mais a tormenta acrecentavam Pela milida eruclrcia assoviando. So sprach er, und die Winde, die wie ungebändigte Stiere kämpften, heulten auf und machten das Unwetter immer stärker, während sie durch da.. schwache Ta kelwerk pfiffen.
Das Stiergleichnis hat kein Vorbild in Vergils Seesturmschilderung.57 Wenn Camöes eine Anregung zu diesem Gleichnis aus der Aeneis erhalten 56 Baiäo macht auch hier die Vergiliezeption explizit (6,349-351): 0 terqlle qllaImJlle beati I qllis inter Ul?Ycas MallrrJf'IIlII in ftniblls hastas I contWt oppettre ob verae pietatis amorelll.
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hat, dann aus dem zwölften Buch, da Aeneas und Turnus dort mit zwei Stieren verglichen werden, die gegeneinander kämpfen (Aen. 1 2,71 5-724). Mit einer erneuten Erwähnung von Blitz und Donner und einer An gabe, die sich nicht bei VergiI findet, nämlich dem Eindruck, dass der Himmel auf die Erde fillt und die Elemente Krieg fiihren,58 endet die vierte Seesturmszene. Ihre Kürze ist sicherlich dadurch zu erklären, dass die Lusiaden im Gegensatz zu den Aeneaden keinen Schiffbruch erleiden. Daher kann sich der Seesturm nicht so drastisch zuspitzen und die ver heerenden Konsequenzen haben, die bei Vergil genannt werden (Aen. 1 , 1 1 8- 1 23).
(5) Rettung Die Rettung der Lusiaden aus dem Seesturm geht von einer anderen Gottheit aus als bei VergiI. Während in der Aeneis Neptun (unter Zuhilfe nahme von Cymothoe und Triton) die Wogen glättet, übernimmt in Os Lusiadas Venus in ihrer Funktion als Morgenstern59 diese Rolle. Damit schafft Camöes eine Entsprechung zur Motivation des Sees turmes, da Venus im gesamten Lusiadenepos die portugiesische Mission unterstützt und somit der Seesturm von dem göttlichen Antagonisten (Bacchus) ver ursacht und von der göttlichen Protektorin (Venus) aufgelöst wird. Venus' Rolle als Beschützerin der Lusiaden erklärt sich dadurch, dass sie in den Lusiaden die Nachfahren der Römer sieht. In der Götterversammlung am Anfang des Epos stellt sie sich daher gegen Bacchus (Lus. 1 ,33): Sustentava contra ele Venus bela, Afeiljoada a gente Lu.�itana, Por quantas qualidades via nela Da antiga, täo amada sua, Romana;
[. ..]
E na Ifngua, na qual quando imagina, Com pouca corru�ao cre que e a Latina.
57 Dort findet sich - in der fünften Seesturmszene - das Gleichnis, in dem Neptun, der die Wogen glättet, mit einer Autoritätsperson verglichen wird, die ein aufrüh rerisches Volk beruhigt (Aen. 1 ,148-1 56). 58 Die Elemente nennt auch Lukan (5,634f.) in seiner Seesturmschilderung. 59 Venus' Funktion als Morgenstern ist rein poetischer Natur. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Augusta Faria Gersao Ventura: 0 vespero dos Lusiadas, m, 1 1 5 e a amorosa strella de VI, 85, Lissabon 1 938 in einer Au.'!Wertung der astronomi schen Daten, da Venus an den entsprechenden Tagen nicht sichtbar war.
Die Rezeption der "c'!,�lischcn Scestunnschilderung
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Die schöne Venus wide10setzte sich ihm aus Zuneigung zu dem lusitanisehen Volk, weil sie in ihm so viele Eigenschaften des antiken römischen Volkes sah, das sie so sehr liebte; [00'] und in ihre10 Sprache [sc. sah sie die Eigenschaften de10 Röme1O], von der sie glaubt, wenn sie sie sich vergegenwärtigt, dass sie mit leich ten Veränd�n die lateinische ist.
So wie Neptun sein Haupt aus dem Meer herausstreckt und die vom See sturm getroffene Flotre der Aeneaden sieht, nimmt Venus das Unglück der Lusiaden aus dem Himmel wahr. Man vergleiche Aen. 1 , 1 24-1 29: Inte10ea magno misceri murmure ponturn emissamque hiemem sensit Neptunus et imis stagna refusa vadis, graviter commotus; et alto prospiciens summa placidum caput extulit unda. disiectam Aeneae toto videt aequore classem, fluctibus oppressos Troas caelique ruina.
mit Lus 6,85,5-8: .
A Deusa, que nos Ceus a gnvernava, [00'] Tanto que 0 mar e a cara armada vira, Tocada junto foi de medo e de ira. Die Göttin, die im Himmel herrschte, [00'] wurde von Angst und Zorn zugleich ergriffen, als sie auf das Meer und die liebe Streitmacht blickte.
Der Blick aus dem Himmel hat seine Entsprechung in der Jupiter Prophezeiung in der Aeneis, an deren Anfang Jupiter aus dem Himmel auf die Aeneaden blickt (Aen. 1 ,223-226). Sowohl in Os Lusiadas als auch in der Aeneis wird explizit gesagt, dass die eine Gottheit das Verursachen des Seesturms durch die andere Gott heit erkennt. Man vergleiche Aen. 1 , 1 30: nec latuere doli ftatrem Iunonis et irae.
mit Lus 6,86, l f.: .
Estas obras de Baco sao, por certo, (Disse). Das hat gewiss Bacchus ins W'erk gesetzt, sprach sie.
Auch im Hinblick auf die Hilfsgottheiten gibt es motivische Entsprechun gen zwischen dem portugiesischen und dem römischen Epos. Denn eben so wie in der Aeneis gibt es auch in Os Lusiadas Gottheiten, die dabei hel fen, dem Seesturm Einhalt zu gebieten. Bei Vergil werden zwei Hilfsgott heiten Neptuns genannt, nämlich die Nereide Cymothoe und der Meeres gott Triton (Aen. 1 , 1 44) . Camöes nennt ebenfalls zwei Hilfsgottheiten beim Namen, und zwar Orithyia und Galatea (Lus. 6,88,8; 90,1), die bei-
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spielshalber für die Schar der Nymphen stehen, die die Winde durch ihre liebe besänftigen. Die Nymphen nehmen daher die umgekehrte Rolle im Vergleich zur Aeneis ein, da die Nymphe Deiopea dort Aeolus verspro chen wird, damit er die Wmde entfesselt (Aen. 1,7 1 -75) .60 Und ihre Hel ferrolle geht noch weiter als diejenige der Meeresgottheiten bei Vergil, da jene den ebenfalls tätigen Neptun zusätzlich unterstützen, während die Nymphen in Os LNsiadas die eigentlichen Besänftiger des Seesturmes sind.61 Dass Camöes gerade die beiden genannten Nymphen auftreten lässt, wurde ihm gewiss dadurch erleichtert, dass sie auch in Vergils Aeneis und an anderen Stellen aus dessen Werk vorkommen. 62 In dem Rollentausch der den Seesturm besänftigenden Götter, d.h. in der Art und Weise, wie die liebesgöttin und die Nymphen die Lusiaden aus dem Sees turm retten, kommt die Bedeutung des liebesmotives im gesamten Epos zum Ausdruck. Seinen stärk.� ten Ausdruck erfahrt dieses Motiv am Ende des Lusiadenepos, da dort geschildert wird, wie die Hel den auf der Heimfahrt zu der Insel der liebe (a ilha dos amores) gelangen, wo es zur Vereinigung zwischen den Portugiesen und den Nymphen kommt (Buch 9 und 1 0). Das Eingreifen der liebesgötter ist auch inso fern stimmig, als die Geschichte der Doze de InglateTTa, die sich die wachha benden Matrosen erzählen, bevor der Seesturm über sie hereinbricht, eine Abenteuergeschichte mit erotischem Hintergrund ist und in gewisser Wei se die Hilfe der liebesgötter motiviert.
Fazit63 Camöes rezipiert Vergils Seesturmschilderung relativ frei und souverän. Diese souveräne Rezeption zeigt sich vornehmlich in der Benutzung des Götterapparates, d.h. in der Kombination der antiken Götter und des 60 Vgl. Pereira, 1 990-1 991 (wie Fußn. 35), 96f. 61 Venus leistet nur indirekte Hilfe, indem sie die Nymphen zum Eingreifen bewegt; vgl. Pereira, 1 990-1991 (wie Fußn. 35), 1 02. 62 Orith)�a: Aen. 1 2,83; georg. 4,463; Galatea; Aen. 9,1 03; ed. 1 ,30; 31 ; 3,64; 72; 7,37; 9,39. 63 Scaliger, der in seiner Poetik von 1 561 den Seesrurmschilderungen Vergils und seiner Nachfolger ein eigenes Kapitel widmet (5,12), hätte wohl an Camoes' Schilderung kritisiert, dass das Angstgeschrei der Mann schaft, die Blitze, die Ver heerungen an Land und das Auf und Ab auf den Wellen wiederholt genannt wer den, da er Ovid vorwirft, dass er die Finsternis in der Seesturmschilderung wie derholt zum Ausdruck bringt; vgl. Scaliger, Poetik 5,1 2,267a-b: film Vtro nocftm "petit oc lentbrOJ, nec Jemel. "Dann aber wiederholt er Nacht und Dunkel, und zwar nicht nur einmal. "; vgl. Ov. met 1 1 ,520f.; 550.
Di� R�zc:pti()n d�r v�rgili.�hc:n S�stunns�hildc:rung
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christlichen Gottes. Geradezu als vergilisch ist die Technik zu bezeichnen, den Sees turm von dem göttlichen Antagonisten ausgehen und von der göttlichen Protektorin der Helden beenden zu lassen, und zwar vergilisch in dem Sinne, dass Camöes hier in analoger Weise die Gottheiten im Ver gleich zu Vergil austauscht, wie es der Römer im Vergleich zu seinem griechischen Vorbild Homer tat. Die Souveränität der Seesturmrezeption offenbart sich auch in der unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Seesturmszenen und darin, dass Camöes das Motiv der Kompetenzüber schreitung bei der Entfachung des Sees turmes durch das Motiv der Auto risierung ersetzt. Schließlich wird sie auch daran deutlich, dass Vergil nicht die einzige Vorlage für die Sees turm schilderung bildet, sondern auch an dere Vorlagen eingeflossen sind. Trotzdem sollte deutlich geworden sein, dass von Vergil motivisch und in vielen einzelnen Punkten die maßgebli che Anregung für Camöes' Sees turm schilderung ausging, so dass sie als souveräne dilatatio der Vorlage anzusehen ist.
Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria Text - Übersetzung - antike Vorbilder
ALEXANDER CYRON (Kiel) Melchior Barlaeus ist im Gegensatz zu seinem Neffen Caspar Barlaeus weitgehend unbekannt und sein (Euvre so gut wie unerforscht. Ein bio graphischer Abriss! sei deshalb vorangestellt. Melchior Barlaeus wurde ca. 1 540 in Antwerpen als Sohn des Stadtan gestellten Lambertus Barlaeus und als jüngerer Bruder des Caspar Barlaeus, des Vaters des gleichnamigen Amsterdamer Humanisten, Theo logen und Dichters, geboren. In den Jahren 1 562/ 1 563 publizierte er erste Dichtungen. Neben den Bucolica sind zu nennen: De velustissima Brabanticae gentis origine sive Brabantiados tibri V. Eiusdem urbis Antverpiae encomium, De diis gentillm tibri ITl, De raptu Gatrymdis tiber sowie eine Anzahl kleinerer Ge dichte unter dem Titel Ad studiosam iuventlltem Hexastichon. Das Lobgedicht auf Antwerpen und das Werk De diis gentillm waren wohl der Anlass dafür, dass er von der Stadt Antwerpen für die Jahre 1 563-1 568 ein Stipendium erhielt. Barlaeus nahm 1 563 ein Jurastudium in Padua auf. Das Studium brach er 1 565 ab und reiste nach Süditalien, dann nach Paris, 1 568 nach London. Die zahlreichen Briefe aus dieser Zeit an den Vater zeigen, dass Barlaeus sich immer höher verschuldete und in London deswegen ins Gefangnis musste. Als einziges weiteres Werk des Barlaeus erschien 1 566 in Antwerpen der De miseriis clfragititate humanae vitae IibelJus im Druck. Aus den Jahren nach seiner Rückkehr nach Antwerpen 1 569 ist kaum etwas bekannt. Barlaeus war vermutlich auf der Suche nach einer beruflichen Stellung. Auf das Jahr 1 570 datiert ist ein Empfehlungsbrief des jüngeren Aldo Manuzio, in dessen Verlag er einige Monate gearbeitet hatte. In den
Vgl. ausführlich Julianna Katona: M. Barlaei de raplu Ga,!)'medis fiber (Text, Komm.), (= Diss. Univ. Jl.lainz 2(01) Frankfurt a.M. 2002, 1 1 -1 9, knapp auch Georg Elli nger: Geschichte der neulateinischen literatur Deutschlands im sech zehnten Jahrhundert ID,l . Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Nieder landen vom Ausgang des 1 5. bis zum Beginn des 1 7. Jhd., Berlin 1 933, 1 02-104. -
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Alexander Cl'Ton
Jahren 1 576- 1 578 saß er in Brüssel im Gef:ingnis. Als letztes Datum ist bekannt, dass Barlaeus 1 580 in den Diensten seines früheren Gönners Caspar Schetz, trisoriergeneral desftnanees bei Philipp 11, stand. Zu Barlaeus' fünf Eklogen, die unter dem Titel BI/eobea zum ersten und bisher einzigen Mal 1 563 bei Gillis Coppens van Diest in Antwerpen im Druck erschienen,2 existieren abgesehen von Joachim Hamm (2001)3 zu Ekloge 3 und Julianna Katona (2002)4 zu Ekloge 1 keine Einzelstudi en."' Im Folgenden wird zunächst der Text der Edition von 1 563 zusam men mit einer deutschen Übersetzung wiedergegeben.6 Anschließend sollen die Bezüge zu antiken Vorbildern, besonders zu Vergils achter Ek loge, erörtert werden.
2 3
4 5
6
Ekloge 2 ist außerdem aufgenommen in: J. Gruterus (Hg.) : Delitiae centum poetarum Belgicorum, Frankfurt a.M. 1 61 4, Bd. 1 , 229-240. Joachim Hamm: Seroilia be/la. Bilder vom deutschen Bauernkrieg in neulateini schen Dichtungen des 1 6. Jh., (= Diss. Univ. Würz burg 1 999) Wiesbaden 2001 , 277ff. Julianna Katona: "Laus vitae urbanae: Ecloga prima Melchioris Barlaei", in: Bruno Luiselli u.a. (Hgg.): Acta selecta conventus Academiae Latinitati Fovendae, Rom 2002, 307-314. Für einen Überblick über den Inhalt aller fünf Eklogen vgl. zur S annazaro Rezeption in der Renaissance-Bukolik die Studie von Eckart Schäfer: "Zur Sannazarius-Rezeption in der Renaissance-Bukolik", in: Ders. (Hg.): Sannazaro und die augusteische Dichtung, Tübingen 2006, 249-273, hier 264-273, außerdem den Überblick bei Ellinger, 1 933 (wie Fußn. 1), 1 03f. Speziell auf Ekloge 3 geht im Zusammenhang mit den deutschen Bauernkriegen ein Eckart Schäfer: "Der deutsche Bauernkrieg in der neulateinischen Dichtung", Daphnis 9, 1 980, 1 -3 1 , hier 29-31 . Der Text wurde im Wesentlichen diplomatisch wiedergegeben; Kürzungen, ügaturen und Nexus wurden still schweigend aufgelöst. Der Druck hat insgesamt eine hohe Qualität, so dass nur an drei Stellen eingegriffen werden musste, vgl. die folgenden Fußnoten.
1I.fclchior Barlacus, 5. Eklo,l,'C Pha""aceHlria.
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Pharmaceutria. Ecloga V
Morphon, Battus Vesper ab umbrosa proeedens stellifer Oetha Temperat et eaelos, exsuecique Sole diurno Frigidus humeetat foeeundo germina rore. Quo monitore greges saturas ad oyilia eogunt Banus, et Aoniae Morphon non infimus artis. Impatiens merito duri quorum alter amoris, Conuulsus euris, singu1tibus, aeger, anhelus, Ista suo Morphon referebat yerba sodali: MORP. Philtra haec in eassos nunquam seruauimus usus. Cum modo farm metens haerebam solus in agro, Eminus, heu, vi di tetriea eomitante parente, Semita qua ducit, propero eontendere gressu Nisam: infelicem quae sie me torquet amantem. A quo visa fuit mihi primiun temporis haesit Sola meis anitnis, in agros seu eogo bidentes,
Seu meto, seu tcrram verto, seu prandia sumo, Otior,7 aut quid agam, euius mihi forma venusta Hune animum, hos miseros nunquam rellinquit oeeUos.
Saepe quidem solam, eonuentam sacpe cupiui, Ast ad opus scmper graue me vcl cura vocabat, IUa vcl astutae fuit unquam dedita matri,
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Non ab ca posset latum ut discedere culmum. Hoc sed forte meus deum vespere praeterit ignis, Nisa vagabundis virgo pulcerrima plantis,
Obstupui, manibus falx decidit. ilicet ambae Praetereunt properae, et spcctantem neutra salutat.
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Nam nuUus mihi sensus erat nihil ut sibi constat Quisquis amat, mens atque alii> de corpore migrat.
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Hoc dolui, pecoris iam cura recesserat otunis, Balaret licet, atque animo non pauca volutans Vix armenta domum memini cogcnda fuisse.
Inter utrunque tarnen dubium res una tenebat, Pulcra videbatur tacite qui>d Nisa locuta, Sed, puto, terruerat durae praesentia matris,
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Im Druck steht das sinnlose Ocior.
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Alexander Cl'Ton
Omni saltem apud hane ut suspicione eareret. Interca me pallor habet, me duke venenum
35
Devocisque artes stygii s excibo tenebris. Pro gcmitu fremitus, pro blanditii s furor esto,
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Harum ego decisis tentem tua peetora linguis. Sunt mihi Dauliadis nido supposta lutato
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Et quaeeunque animo teneas seereta loquaris. Hae tibi ver<') via eUm imponere posse negctur,
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Concoquit, ut Nisae manet ignorata voluntas. Nisa, per Aemonium adiuraberis, improba, rhombum, In te iuratique movebo sidera eoeli,
Horrida pro laerymis fundant mea lumina flamas. Usquam si detur eaptam dcprehendere somnol Haee habet ampla laeus viridanti corpore ranas:
Munera, quae doeuit multum pollere Menaleas. Est et Apollineae mihi cor ferale volueris, Ut prodare tuis nobis, lieet inscia, verbis,
�'1'ediar magieas artes, et eannina dicam.
Prodite, formosam mea earrnina prodite Nisam. Ingcnii s quanvis est hine data gloria prima Faemineis, non ista viros latuisse patebit. Coniurata atris verbis mihi fietilis olla est,
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Quae suecos habet, et non patuis viribus herbas. Verrnieulos rniros, animalis et exta dolosa
Multiplicis, variasque dapes, quibus aura polorum Vertitur, et densae veniunt ad earrnina nubes.
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Prodite, formosam mea earrnina prodite Nisam. Fer, puer, hue eedros, atque horridulos cupressos, Hine oleo perfunde foeos, et ligna perungc.
Imrnisee naphtam, feret hie sibi sureulus ignes. Est mihi viuenti, quando male eautus ovile
Insiluit, longa audacter deeussa bipenni Cauda lupo, remori mihi nee vis defit echini.
Nune operans m�'1'lum eoquit olla Mclampidis herbas. Sis, puer, attentus, nee praeterrnittito euram, Sternit humi fortes adamantis eruda leones. Viribus herbarum nihil impenettabile viuit.
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His nubes, tellus, maria alta, Erebique eitantur. Firrnius an terris? vcl an est n,mbosius altis Nubibus? an moti trueulentiu� aequoris undis?
Peetus inaeeessum Nisae superabit an Oreum? Eripe euncta, puer, funestis ignibus ista, Sat decoeta putem, vittum mihi porrigc, Nisae Hoc dabo potandum nostri irritamen amoris.
Prodite, formosam mea earrnina prodite Nisam.
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1I.fclchior Barlacus, 5. Eklo,l,'C Pha""aceulria. Haec Morphc)fl, Musae contraria c armina Batti Dicite, plus alijs alios sapuisse patcbit.
151 KU
BAT. Vah, Doris spreuit. taurus fugiente iuuenca Non sequitur, subit<'> domicique cupidine sistit. Nos, ah, nos animi dicemur an esse minoris, Qui sequimur fatui renuentis vota pueUae? Non male quid mentem subijt mihi, noUe proteruis
K5
Virginibus seruite ultra, quin integritati, Fractc anime, et dudum prope perdite, restituare? Ipsius ebibita nunc sumam obliuia Lethe, Otia nec posthac admittam, semper �'Cndo Officiosus ero, soli vincuntur inertes.
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Paene morae indocilis sine libertate fe rebar, Non ita sed nostras penetrauit flama medullas, Non ita succendor, cupiam quin veUe mederi. Iam Doris misero pergas illudere Batto, Et captum dic mente sua, non te, improba Doris, Imbibimus, cette tantiun fuit impetus amens. Verbis quOd te ego compeUasse videbar amicis, Prirnitias, concepti et amoris signa putabas. Sed modus est, sapui, nec enim dispcndia nostra
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HK'
Prosequor, aerumnas, insomniaque horrida noctis Fette Catascopium didici, iam canus, Amorern. Haec fortuna malas inter foret ultima nobis, Horrida si tandem cogatur amare senectus. Carmina, canninib us cedunt freta, sydera, montes,
l OS
Pellite, ctudcles mea carrnina pellite flamas. Mens mihi salua redit, Doris nec riserit ultra Instabiles animos, large regale comedi PuUegium. vinctum est ederis caput, otius herbas Fer, puer, et nigris cyathis medicarnina misce Apta veneficijs, pateat non cuncta puellis
l lH
Cognita Thessalicis, magicos de vimine succos Elice, quo duri de mente fugentur amores. Pellite, ctudcles mca carrnina pellite flamas. Munera multa dabam quo responderet amantis Huic animo, assensu concepcique vota iuuaret,
l t.>
Sprevit. quam didici, nisi qui proprias agat hostem In gazas, nuUum" duras deamare pueUasl Plutima paupcriem siquidem profusio gignit, Et quid inops? nisi fucus iners, nisi wor alga. Munera concedant animis frugalibus. eheu,
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Alexander Cl'Ton
VIX tempestiuum est, propcra, quin pocula supples, Quin, puer, ex cedris, ex cespite construis aras. Pellite, crudcles mea cannina pellite flarnas. Misce cupresso paleas, nec et arida desit Aproxis, rabidis sit maior ut ignibus ardor,
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Fer, puer, huc l}mphas, et caetera quaeque ministra, Absynthi nigros frutices, ego carrnina dicarn. Nox haec conueniens sublustri est sydere nostris
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(""oncipiatque focus procul a veniente calorem. Spumet salsa mihi de fonte Cupidinis unda, Diffudit nigris Colchis quam Cyzicus antris.
Artibus, aut fallor aut coclo Luna videtur Dcpelli, sublime fuga vaga sidera tendunt, Vires herbarum Empyrius neque sustinet axis.
1 3'>
Pellite, crudcles mea carrnina pellite flarnas. Nuper ego procul hinc armenta in pascua cogem Consedi ad densas modulans in grarnine vepres, Comutirnque videns tacitc rcptare rubetam Extimui, neque enim me dira venena latebant,
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Quae gerit hoc animal, non purius aspide torto. Conccptis etiarn scibarn conducere flarnis. Protinus exilui, non fidens cornibus illis,
Adque manum quod fortc pedum mihi stabat in herba Arripio, horrescens adigoque in viscera ranae. Tune illarn exanimcmque, domum intactimque ferebarn:
14'>
Ossa mihi soltun restant haec cuius ab illo Tempore, forrnicae absumpserunt caetera nostrae, Aut sibi condiderunt venienti pabula brumae. Huius ego dextrum mihi sumarn, quo igne fugato Concipiarn rigidum frigus: hoc, dura, sinistrum Oßiculum, vt calcas, tibi, Doris, seruo vorandum.
1 50
Pellite, crudcles mea carrnina pellite flarnas. Hunc
vt
disijcio laxato vimine longe':
Fasciculum, duri vinclis ita soluar arnoris. Hic' mihi clusus inest effoeto'O pyxide puluis, In quo olim sterilis versans sua tergora mulus
Reddidit haud paruum medicarnen, tempore et illo , Non male consulti, penitus collegimus ornne m: Iste animos, atque iste sibi mea corda rcducet.
Pellite, crudcles mea carrnina pellite flarnas.
9 Im Druck s teh t Hoc. 10 Vgl. Lucan 9,284 iffttas . . .
ceras
i.S.v. "entleerte Waben",
1 5'>
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Mdchiur Barlacus, 5. Ekluge Pbomtoalltrio.
1 53
Hoc heeatoneephalon mihi fer, puer, oeyus, olim Quod easu reperi nostro dum ereseeret hono, Cognouique herbae wes, auidusque sciendi
An maris, an sexum fettet radiee proterua
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Torqueremque mea lasciuas sorte puellas. Doridos hane sinui inijciam, erucietur vt illa, Appetat, vt spretos etiam desideret ignes:
1 70
Faemineum, euulsi, formam vidique virilem: Tum vidi mea vota, per hane vt amabilis essem,
Utque ego, frustra illa me sollicitante, repugnem, Et eogam ad erudum pelagus, ad saxa dolentem, Leueadias
vt
se Sappho deiecit in vndas.
Pellite, erudeles mea carmina pellite flamas,
TIla vt monstrosae, rogo, pelle tegatur hyenae, Admoueatque suis eius saeva oribus ora. TIla Ophiusaei bibat horrida poeula succi, Vll us ei medieus nee palmea vina ministret. Vt putet aduersum se tristia monstra venire, Si sedet ad ripas aliquas, de f1umine eredat
Se exerere, et septem minitari cornibus hydram. Si ruat in syluas, tygridum magna oca, leonum
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Extimeat rictus, metuat telluris hiatus.
Pellite, erudeles mea carmina pellite f1amas. Fallor? an antiqui redeunt in peetora sensus? Incipi6que meis animis per earmina reddi?
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Seruitio eripior, rellinquunt pectora eurae. Felix, heu felix qui se possederit ipsum. I nune, et verbis me, Doris, lude proteruis.
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Quid, maior me flama agit? an mihi somnia fingo? Verba haee exolitum eerte testantur amorem, Faemineique odium generis. num fallor? at ipse
Parcite, depulsis mea earmina parcite f1amis.
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Alexander Cyron
Pharmaceutria. 1 t Fünfte Ekloge
Morphon, Battus Der Abend, der die Sterne herauffuhrt kommt hervor hinter dem schattigen Oetha, er mäßigt die Hi!2e; kühl bene!2t er die von der Sonne des Tages ausgesogenen Knospen mit Leben spendendem Tau. Von diesem ermahnt treiben zu den Ställen die satten Herden 5 Battus und Morphon, kein Geringer in der Musenkunst. Einer von diesen, Morphon, der zu Recht nicht ertrug die harten Liebesqualen, richtete, das Gesicht zerfurcht von Sorgen, verzogen unter Seufzern, kummervoll und schwer atmend die folgenden Worte an seinen Freund: MORPHO�: Diesen Liebestrank haben wir zu immer wirksamem Gebrauch aufbewahrt. Als ich mich eben einsam auf dem Acker aufhielt und Spelt emtete, d a - ach - sah ich von fem in Begleitung der strengen Mutter eilenden Schrittes den Weg endang eilen Nisa, die mich unglücklich Verliebten so sehr quält! Seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich sie allein im Sinn, sei es dass ich die Schafe auf die Weide treibe, sei es bei der Ernte, sei es beim Pflügen oder beim Frühstück, sei dass ich ruhe, sei es dass ich arbeite. Ihre anmutige Gestalt geht mir niemals aus dem Sinn, steht immer vor meinen unglücklichen Augen . Oft freilich begehrte ich sie, wenn ich sie allein sah, oft auch, wenn ich sie in Begleitung sah, doch stets riefen mich meine Pflichten zu wichtiger Arbeit, oder sie war ihrer schlauen Mutter immer so ergebe n,12 dass sie ihr keinen Zentimeter von der Seite hätte weichen können. Als aber diesen Abend sie, die ich so heiß begehrte, zufaJIig vorüberging, Nisa, das wunderschöne Mädchen, mit umherschweifenden Schritten,
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Für Anregung und Kritik ist der Verfasser Thorsten Burkard und Stefan Feddem verpflichtet 12 1I111qllam ist hier wohl i.S.v. semptrverwendet.
Mdchiur Barlacus, 5. Ekluge Pbomtoalltrio.
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da stand ich wie versteinert und die Sichel entfiel meiner Hand: Beide gehen sie einfach 25 eilends an mir vorbe� ich sehe sie an, doch keine von beiden grüßt mich. Das hat mich geschmerztl Schon hatte ich mein Vieh ganz vergessen, mochte es auch laut blöken, und so viel ging mir durch den Kopf, dass ich fast vergessen hätte, mein Vieh in den Stall zu treiben. Ich war nämlich wie von Sinnen, da ein Verliebter 30 nicht mehr er selbst ist, und sein Geist seinen Körper anderswohin verlässt. Eine einzige Sache ließ mich zwischen zwei Möglichkeiten schwanken, dass nämlich die schöne Nisa schweigend etwas zu sagen schien, aber die Gegenwart der strengen Mutter hatte sie, glaube ich, eingeschüchtert und sie wollte sich daher wenigstens in ihrer Anwesenheit möglichst unverdächtig verhalten. 35 Jetzt aber bin ich ganz bleich, sülles Gift verzehrt mich, da mir Nisas Absicht verborgen bleibt. Böse Nisa, mit dem haemonischen Rad will ich dich beschwören und gegen dich werde ich die Gestirne des mit mir verschworenen Himmels in Bewegung setzen und verfluchte Künste hervorlocken aus stygischer Finsternis gegen dich. 40 Ich will nicht mehr jammern, sondern schnauben vor Wut, nicht mehr schmeicheln, sondern rasen, meine furchterregenden Augen sollen keine Tränen mehr vergießen, sondern Flammen versprühen. Wenn ich sie doch irgendwo im Schlaf zu fassen bekäme! Hier in diesem großen See leben grüne Frösche: Ihre Zungen will ich herausschneiden und sie dir dann 45 auf die Brust legen. Auch habe ich Eier aus dem lehmbeschmierten Nest der Schwalbe, Menalcas offenbarte mir ihre Zauberkräfte. Auch habe ich das todbringende Herz des apol1inischen Vogels, damit du dich uns, wenngleich unwissentlich, mit deinen eigenen Worten verrätst und sagst, was auch immer du im Herzen verborgen hältst 50 Kann ich dir aber auf diese Weise nicht beikommen, will ich magische Künste versuchen und Zauberlieder singen. Endockt ihr das Geheimnis, meine Lieder, entlockt das Geheimnis der schönen Nisa! Und mögen auch anfangs nur Frauen für diese Künste berühmt gewesen sein, so wird sich zeigen, dass sie auch Männern nicht verschlossen sind. Einen Tontopf habe ich, besprochen mit finsteren Worten, in ihm magische Säfte, Kräuter von nicht geringer Wirkung, absonderliche kleine Würmer und trügerische Eingeweide des
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Alexander Cyron
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vielfach gewundenen Tieres, vielfältige Speisen: Damit lassen sich die Winde des Himmels umkehren und dichte Wolken kommen auf mein IJed hin.
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Endockt ihr das Geheimnis, meine IJeder, endockt das Geheimnis der schönen Nisa! Zweige der Zeder und schaurigen Zypresse bringe herbei, Knabe, schütte dann reichlich Öl auf die Feuerstelle und bestreiche das Holz damit. Mische Naphtha dazu, dieser Zweig hier wird sich selbst entzünden Ich habe hier auch einen langen Schwanz, dem Wolf bei 65 lebendigem Leibe abgetrennt mit wagemutigem Streich meiner Axt, als er unvorsichtigerweise in meinen Schafstall sprang, auch fehlt es mir keineswegs an den magischen Krä ften des kleinen Schiffshalters.13 Jetzt kochen im Topf die Kräuter des Melampus und Gewaltiges wird ins Werk gesetzt. Sei aufmerksam, Knabe, und Ia.�s nicht nach in deiner Sorgfalt, 70 rohes Adamantiskraut streckt starke Löwen zu Boden Es gibt nichts, was Zauberkräutem widerstehen kann, mit ihnen kann man die Wolken, die Erde, das tiefe Meer und selbst die Unterwelt nach seinem Willen lenken. Gibt es etwas Festeres als die Erde, etwas Stürmischeres als hoch hängende Wolken, etwas Ungestümeres als die Wellen der aufgewüh1ten See? Wird das unzugängliche Herz der Nisa selbst den Orkus übertreffen? 75 Entreiße dies alles, Knabe, den tödlichen Flammen, genug hat es gekocht, denke ich. Reiche mir ein Glas, das will ich der Nisa zu trinken geben, damit sie vor IJebe zu uns entbrenntl Endockt ihr das Geheimnis, meine IJeder, endockt das Geheimnis der schönen Nisa! Dies sang Morphon. Musen, kündet die ganz anderen IJeder 8(1 des Battus, und es wird offenkundig sein, dass die einen mehr Verstand besitzen als die anderen. BATTI:S: AbI Doris hat mich verschmäht. Wenn die Kuh vor ihm flieht, wird der Stier ihr nicht nachlaufen, und er wird sogleich stehen bleiben und sein Begehren zügeln. Ach! Wird man von uns etwa behaupten, wir seien kleinmütiger, weil wir
13 VgL Fußn. 30.
Mdchiur Barlacus, 5. Ekluge Pbomtoalltrio.
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töricht die Wünsche des Mädchens befolgen, das mich immer wieder zurückweist? 85 Kein schlechter Gedanke kam mir in den Sinn: nicht länger launenhaften jungen Mädchen dienen zu wollen, sodass du, mein gebrochenes Herz, schon längst fast völlig zerrüttet, wieder völlig hergestellt wirst. Nun will ich selbst sie ganz vergessen, indem ich den Lethefluss austrinke. Muße werde ich nicht mehr zulassen, immer pflichtbewu.�st bei der Arbeit, 90 be.�iegt werden können nut die Untätigen. Ohne frei zu sein wurde ich umhergetrieben, beinahe nichts hätte mich belehren können, zut Ruhe zu finden, doch nicht so tief ist das Feuer in unsere Eingeweide gedrungen, nicht so heftig glühe ich, dass ich nicht nach Heilung verlangen würde. 95 Nun treibe ruhig weiter deinen Spott mit Battus, Doris, und erzähle überall, er sei von Sinnen: Dich haben wir nicht ganz einge.�ogen, ruchlose Doris, es war sicher nut der erste Anflug von Wahnsinn . Dass ich den Eindruck erweckte, dich mit freundlichen Worten angesprochen zu haben, hast du für den Beginn, die ersten Zeichen von Verliebtheit gehalten. Doch es gibt ein Maß, ich bin wieder zu mir gekommen, ich treibe 100 nämlich keinen überflüssigen Aufwand mehr, bin nicht betrübt, liege nicht wach in schrecklicher Nacht, ich habe - schon ergraut - gelernt, Amor, den Späher, zu ertragen. Dieses Schicksal wäre unter unseren Schicksalsschlägen der letzte, wenn das schreckliche Greisenalter schließlich dazu gezwungen würde, zu lieben. l 05 Ihr Lieder, selbst Meere weichen Liedern, Sterne und Berge, vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Ich komme wieder zut Besinnung, Doris wird sich über mein schwankendes Gemüt nicht mehr lustig machen, reichlich gegessen habe ich von der Poleiminze. Mein Haupt ist efeubekränzt, bring schnell Kräuter herbei, Knabe, und braue in schwarzem Becher ein Mittel, für magische Tränke geeignet. E s soll offenkundig werden, dass di e thessalischen Jungfrauen nicht alles wissen. Endocke den Weidenruten magische Säfte, um grausame Liebe alL� meinem Herzen zu vertreiben.
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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Viele Geschenke machte ich ihr, damit sie meine Liebe erwiderte, damit sie mit ihrer Zustimmung meiner Hoffnung Nahrung gäbe: Doch sie verschmähte mich. Wie musste ich lernen, da.�s nut der spröde Mädchen
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Alexander Cyron
heftig liebt, der auch zugleich einen Feind seine Schatzkammer plündern lässt! Da ja höchste Verschwendung Armut gebiert und was ist der Arme? Doch nur eine nutzlose Drohne und wertloser als Algen. soll mehr als Geschenke ein redliches Herz zählenl Ach, es drängt die Zeit, beeile dich, Knabe, fülle mir den Becher, schichte aus Zedernholz und Rasenstücken den Altarl
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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Mische Spreu unter das Zypressenholz, auch die trockene Aproxis soll nicht fehlen, damit heißer brennen die reißenden Flammen und schon von fern der Herd auflodert, wenn ich komme. Aufschäumen soll mir die salzige Woge aus der Quelle Cupidos, die das kolchische Cyzicus au.� schwarzen Höhlen ergielk Bring klares Wasser hierher, Knabe, und kümmere dich um alles übrige, bring auch dunkle Absinthsträucher: I c h will Lieder dazu singen. Diese Nacht, nur schwach von Sternen erhellt, ist die richtige für unsere magischen Künste; räusche ich mich oder wird da wirklich der Mond vom Himmel vertrieben, es fliehen eilends in die Höhe die Wandergestime, die feurige Achse des Himmels hält den Zauberkräutem nicht stand.
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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Als ich neulich meine Herde fern von hier auf die Weide trieb, saß ich bei dichten Dornbü.�chen im Gras und stimmte ein Lied an, und ich erschrak, als ich eine gehörnte Kröte leise herankriechen sah, denn ich kannte das schreckliche Gift, das dieses Tier in sich trägt, nicht weniger giftig als die gewundene Natter. Ich wu.�ste, dass diese Kröte auch bei Liebeswahnsinn hilft. Sogleich sprang ich auf, ich traute ihren Hörnern nicht recht, und mit der Hand ergreife ich hastig den Stab, der zufällig im Gras steckte, mit Schaudern stoße ich ihn der Kröte in die Eingeweide. Dann trug ich sie leblos und ohne sie zu berühren nach Hause: Seitdem sind mir von ihr nur noch die Knochen geblieben, unsere Ameisen haben den Rest verschlungen oder als Vorrat für den kommenden Winter geborgen. Ich will ihren rechten Schenkel nehmen, durch den mein Feuer vertrieben wird und ich starre Kälte verspüren werde. Den linken Schenkel hier werde ich für dich, harte Doris, aufbewahren, damit du ihn verschlingst und so selbst in Hitze gerätst. Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen.
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1I.fclchior Barlacus, 5. Eklo,l,'C Pha""aceHlria.
Ebenso wie ich clieses Rutenbündel, nachdem ich das Band gelöst habe, weithin verstreue, so soll auch ich erlöst werden von den Fesseln der grausamen Uebe. Diesen Staub habe ich in eine leere Giftdose eingeschlossen, den ein unfruchtbares Maultier einst zu einem starken Mittel gemacht hat, als es sich mit seinem Rücken darin wälzte; vollständig haben wir es damals wohlweislich gesammelt. Dieses Pulver wird meinen Sinn und mein Herz zu sich selbst bringen.
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Vertreibt, ihr Ueder, vertreibt clie grausamen Rammen. Schnell bringe mir clie Alraune, Knabe, clie ich einst zufaJlig fand, als sie in unserem Garten wuchs, und ich erkann te clie Wirkung der Pflanze, und da ich unbeclingt wissen wollte, ob sie an ihrer schamlosen Wurzel von weiblichem oder männlichem Geschlecht sei, 1 6'> riss ich sie aus und erkannte an ihrer Form, dass sie männlich war. Da erblickte ich clie Erfüllung meine Wünsche, nämlich dass ich durch cliese Wurzel begehrenswert werden würde und meinerseit.. den koketten Mädchen Qualen bereiten würde. Dies will ich Doris auf die Brust legen, damit sie gepeinigt werde und begehrt und 1 7H sich sogar nach denen sehnt, clie sie verschmäht hat, und damit ich ihr widerstehen kann, wenn sie vergeblich um mich wirbt. Und ich werde sie unter Schmerzen zu den Klippen der grausamen See treiben, wie sich auch Sappho in die leukaclische Flut stürzte. Vertreibt, ihr Ueder, vertreibt clie grausamen Rammen. 1 7'> Sie soll sich bitte in ein Monstrum, eine Hväne verwandeln, dass sich ihren wilden Lefzen die Hyäne � Kusse nähert. Das schreckliche Gebräu aus Schlangengift soll sie trinken, und kein Arzt soll ihr Palmwein als Gegenmittel reichen, so dass sie glaubt, dass schreckliche Monster auf sie zukommen, und dass, wenn sie sich am Ufer eines Flusses niederlässt, 1 HH sich eine Hydra darau.. erhebt und sie mit ihren sieben Häuptern bedroht. Wenn sie in clie Wälder stürzt, soll sie vor den gewaltigen Rachen der Tiger und Löwen erschrecken und Angst haben, clie Erde könne sie verschlingen.
Vertreibt, ihr Ueder, vertreibt clie grau..amen Flammen. Täusche ich mich oder kehrt clie frühere Sinnesart zurück in mein Herz und komme ich durch meine Gesänge allmählich wieder zur Vernunft?
1 H.>
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Alexander
Cyron
Was ist das? Treibt mich nur noch heftiger um die flamm ende Liebe oder träume ich? Nein, diese Worte zeigen, dass ich von der Liebe entwöhnt bin, sie zeigen meinen Hass auf das weibliche Geschlecht. Sollte ich mich etwa täuschen? Nein, ich werde au.� dem Sklavendienst befreit, die Sorgen verlassen meine Bru.�t. Glücklich, ach glücklich ist der, der sich selbst gewann . Jetzt komm mal, Doris, und treibe dein übermütiges Spiel mit mir.
t 90
Haltet ein, meine Lieder, haltet ein, die Flammen sind vertrieben.
Das wichtigste antike Vorbild zu Barlaeus' fiinfter Ekloge ist hinsichtlich der Makrostruktur die achte Ekloge Vergils.14 Beide Gedichte weisen ein vom bukolischen Ich gesprochenes Proöm auf, das die Situation des Ge sangs und die Sänger kurz schildert. Dann folgt in beiden Gedichten ein homodiegetischer Gesang eines unglücklichen Hirten, bei Vergil der des Damon, der sich nach seiner untreuen Gattin Nysa sehnt und ankündigt, sich das Leben zu nehmen, bei Barlaeus der des Morphon, der sich nach Nisa verzehrt 01. 9-79). Daran schließt sich eine zwei Verse umfassende Überleitung des bukolischen Ichs an, die in beiden Fällen einen Musenan ruf mit der Bitte enthält, dem eigenen Gedächtnis zu Hilfe zu kommen 01. 80f. bzw. ecl. 8,62f.). Schließlich folgt in beiden Fällen ein zweiter Hirtengesang, der wie der erste durch einen Refrain in Strophen gegliedert wird. Bei Vergil ist es der homodiegetische Gesang des Alphesiboeus in der persona einer Frau, die den abwesenden Daphnis herbeisehnt, bei Barlaeus der homodiegetische Gesang des Battus 01. 82-1 93), der sich von seiner Sehnsucht nach Doris heilen will und V. 1 03f. das Motiv des Frei tods aus dem Damon-Gesang Vergils aufgreift. Beide Gesänge schildern ausführlich magische Praktiken, die zum Erfolg fuhren. In der Makro struktur weicht Barlaeus insofern von Vergil ab, als die Gesänge des Morphon und des Battus keinen Bukoliasmos darstellen, der die umge bende Natur in Erstaunen versetzt.15 Es entsteht vielmehr der Eindruck,
14 Weitere frühneuzeitliche Adaptionen von VergiIs 8. Ekloge: Sannazaro, Httpylis PhfJl71la&tllma (= Ekloge 5; zu Barlaeus' Verhältnis zu dieser Ekloge Sannazaros siehe Schäfer, 2006 (wie Fußn. 3), 272f.). Eine Adaption stellt ferner Johannes Bocers Ekloge 7 PhfJl71lactlltria dar (aus den Atglo/l,at sepum von 1 563), vgI. dazu Lothar Mundt: .Iohanms Boctr. .l"iimtli,ht liklo/l,1!fI (rext, Ü bers., Komm.), Tübingen 1 999. 15 Das Erstaunen der Natur wird Verg. ecl. 8,1 -5 geschildert. Dass es sich bei den beiden Gesängen um einen Bukoliasmos handelt, ergibt sich aus Verg. ecl. 8,3 ctrtantis und 8,62 repontkrit. Ein Bukoliasmos findet auch in VergiIs Eklogen 3, 5 und 7 statt.
I'IIdchior Barlacus, 5. Eid"!,,,, PbarmaCfHma.
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als wollte Morphon dem Battus lediglich sein liebesleid klagen und nicht etwa Bewunderung von Battus oder der Natur fiir einen möglichst vollen deten Gesang erhalten 01. 8) . Die überleitenden Verse 80f., die von der Überleitung bei Vergil (dici!c, Picrides; non omnia possllmlls omnes, ecl. 8,63) beeinflusst sind, erwecken ebenso wenig den Eindruck eines Wettgesangs. Sie leiten aber einen wertenden Vergleich zwischen den beiden Hirtenge sängen ein, der sich bei Vergil nicht findet: MlIsac contraria carmina Batti / dieile, plus alijs alios sapllissc patcbi!. Ein zweiter Punkt, in dem Barlaeus mak rostrukturell von Vergil abweicht, ist die Rolle der Magie: Sie nimmt bei Barlaeus einen viel größeren Raum ein, da auch der erste Hirtengesang (der des Morphon) ausführlich magische Praktiken schildert, während im ersten Gesang bei Vergil Damon lediglich die Untreue seiner Gattin be klagt und ankündigt, sich das Leben zu nehmen, ohne vorher den Versuch zu machen, die Gunst der Gattin zucückzugewinnen oder sich selbst vom liebeswahnsinn zu befreien. Barlaeus expandiert also das Motiv der Ma gie, sodass es einen ähnlich großen Raum einnimmt wie in Theokrits zwei tem Idyll: Dort versucht eine junge Frau den in der Stadt weilenden Del phis mit Hilfe von Magie zurückzuholen, wobei sich die Schilderung ma gischer Praktiken, mit deren Hilfe das liebesbegehren der abwesenden Person geweckt werden soll, über das gesamte Gedicht erstreckt. Nach diesen Bemerkungen zu Parallelen in der Makrostruktur sollen im Folgen den mikrosttukturelle Parallelen zu den antiken Vorbildern Theokrit und Vergil sowie zu Senecas Mcdca und Ovids Ars amaloria und Remedia amom erörtert und die Gesänge des Morphon und des Battus miteinander vergli chen werden. Zunächst zum Gesang des Morphon: 1 6 Er gliedert sich in zwei thema tische Abschnitte, in die Vorgeschichte 01. 9-37) und den eigentlichen, in drei unterschiedlich lange Strophen gegliederten Zaubergesang 01. 38-79). Das Ende der einzelnen Strophen wird jeweils durch den Kehrvers prodile formosam mea carmina prodile Nisam markiert, der von dem Refrain im Alphesiboeus-Gesang bei Vergil beeinflusst scheint (dueile ab IIrbe domIIm, mca carmina, dueile Daphnim). In der Vorgeschichte schildert Morphon, wie ihm die geliebte Nisa zum ersten Mal begegnete: In Begleitung ihrer Mut ter sah er sie vorübergehen, während er selbst mit der Feldarbeit beschäf tigt war 01. 1 0- 1 4) . Dieses Motiv wird sowohl in Theokrits elftem Idyll 01. 24-29) ausgeführt als auch im Damon-Gesang bei Vergil (ecl. 8,37-41). Es lässt den Leser so an den verzweifelten und sich mit Selbstmordabsichten tragenden Damon denken, aber ebenso an den unglücklich verliebten Polyphem bei Theokrit, der sich ob seiner rustikalen Erscheinung ver-
16
,,;\forphon" ist als Hirtenname in der Antike nicht belegt.
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Alexander C}TOn
schmäht sieht. 1 7 Es folgt V.
27-32
das Motiv, dass der Ich-Sprecher seine
Aufgaben als Hirt vernachlässigt, weil er vom Erscheinen des Mädchens abgelenkt wird. Auch dieses Motiv findet sich bei Vergil, allerdings in der siebten Ekloge: Dort ist es der Hirte Meliboeus, der
im
Zwiespalt ist, ob
er den berühmten Sängern Corydon und Thyrsis lauschen oder seiner Arbeit als Hirt nachgehen SOIl . 1 8 Anders als Meliboeus bleibt Morphon allerdings seinen Pflichten treu. Innerhalb dieser Vorgeschichte spielt das Motiv des Sprechens bzw. Nicht-Sprechens eine große Rolle: Das Mäd chen geht zwar in Begleitung ihrer Mutter öfter an Morphon vorbei, doch zu einem Wortwechsel kommt es nicht und Morphon grüßt die beiden nicht einmal von sich aus, sondern erwartet, dass das Mädchen von sich aus grüßt. Als dies ausbleibt, phantasiert der verzweifelte Morphon, dass Nisa ihn ansprechen wollte und sie lediglich die Anwesenheit der Mutter daran hinderte. Er befolgt damit eine wichtige Vorschrift aus Ovids Ars amatoria gerade nicht: nimia est iuveni propriae .ftducia formae, / expectat si quis, dum prior illa roget.19 Auch den in der Ar.r vielfach empfohlenen blanditiae2° schwört er V. 4 1 f. ab. Morphon verweigert damit das obsequium gegenüber dem Mädchen, das die Ars eindringlich empfiehl t, 21 und sucht stattdessen Zuflucht in der Magie, vor der die Ar.r ausführlich warnt.22 Mit Hilfe der Magie will er Nisa zwingen, die vermeintlich unausgesprochenen Gefühle preiszugeben und in liebe zu ihm zu entbrennen:
adiuraberis, improba, rhombum (11. 38).
Nisa, per Aemonium
Die Ankündigung erinnert an den
ersten Kehrvers des zweiten Theokrit-Idylls Yluy�. EAKE TU Ti'jllOli EIlOll non 5&I-\a TOll ä1l5pa,23 doch schon in Vers 39 wird dies kontaminiert mit einem Element aus dem Damon-Gesang in Vergils achter Ekloge, nämlich mit dem Motiv der Götter
im
Himmel als Zeugen fiir die unge
rechte Behandlung durch die Geliebte.24 Es folgt die Beschreibung der magischen Praktiken, die Morphon, während er singt, mit Hilfe eines ins Werk setzt: Zum einen
will
puer
er versuchen, dem schlafenden Mädchen
Worte zu entlocken, indem er Froschzungen,25 Schwalbenkot und das
17 18 19 20 21 22 23 24 25
Das Motiv findet sich überdies bei Mantuanus, ec1. 1 ,56-1 13. Verg. ec1 . 7,8-1 7 . Ov . ars t ,707f. Ov. ars 1 ,437-486. 61 6-630. Ov. ars 2,1 77-250. Ov. tJ1'S 2,99-1 06 und 41 5-426. Theokr. Id. 2,1 7 u.ö. Vgl. Verg. ec1. 8,19f. Die Kröte bzw. verschiedene Teile von ihr waren häufige Zutat von magischen Tränken, vgl. David Pickering: Lexikon der Magie und Hexerei (übers. v. Regina van Treeck), Augsburg 1 999, S.v. "Kröte". Zur magischen Kraft der Kröte bzw.
Mdchiur Barlacus, 5. Ekluge PbOrtllOaHtrio.
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Herz einer Krähe auf ihre Brust legt. Diese Methode ist ohne direktes antikes Vorbild, wenn man einmal davon absieht, dass auch Medea bei Seneca ein Vogelherz (cor hubonis, V. 733) zur Herstellung einer magischen Salbe verwendet. Falls diese Methode versagt, will er auf die Wirkung eines Liebestranks vertrauen. Auch wenn bei Theokrit oder Vergil andere Arten von magischen Praktiken erwähnt werden, stellt sich Morphon mit dem Brauen des Liebestranks ausdrücklich in eine Tradition, wenn er zugibt, dass Frauen - hier ist an die von Battus erwähnten thessalischen Hexen zu denken 01. 1 1 2) - sich zwar zuerst in dieser Kunst ausgezeich net hätten, er aber beweisen wolle, dass auch ein Mann zu dieser Kunst fahig sei: ingeniis quanvis est hinc data gloria prima / faemineis, non ista viros IatNisse patehit 01. 54f.) . Das Vorbild von Senecas Medea spielt hier eine größere Rolle als das Theokrits und Vergils: Medea braut dort im vierten Akt mit Hilfe magischer Praktiken und der Göttin Hekate eine Salbe, die der Nebenbuhlerin Creusa, der ]ason seine Liebe geschenkt hat, Verder ben bringen soll. Zahlreiche Elemente des Rirus, wie ihn Medeas Amme und Medea selbst schildern, finden Parallelen im Gesang Morphons. So finden sich alle vier Ingredienzien, aus denen Medea das Gift für Creusa braut, auch im Gesang Morphons wieder, nämlich das Vogelherz 01. 48),26 die magischen Säfte 01. 57),27 die Zauberkräuter 01. 57)28 und die Giftschlangen 01. 58) . Von letzteren verwendet Morphon (ebenso wie Alphesiboeus) die Eingeweide, Medea das Gift.29 Eine bukolische Note fUgen die nur von Morphon, nicht aber von Medea verwendeten Zutaten Schwalbenkot und Wolfsschwanz hinzu: Menalcas, also ein bukolischer Hirt der Antike, hat ihm, wie Morphon V. 47 sagt, von den magischen Kräften des Schwalbenkots erzählt;30 den Wolfsschwanz erbeutete er, als ein Wolf nachts seinen Schafstall überfiel 01. 65-67) . 31 Auch die Wirkung des Zaubergesangs auf die Elemente wird in ganz ähnlicher Weise beschrieben wie bei Seneca, das Motiv movebo sidera coeli 01. 39) findet seine Parallele in Medea 757-76 1 , die Wolken und die Geister
26 27 28 29 30 31
des Frosches vgl. Walter Hirschberg: Frosch und Kröte in Mythos und Brauch, Wien 1988. Apollineae r . .} (orjmJk volucris V. 48 und tor bllbonis, Sen. Med. 733. Vgl. ibid. 718. Vgl. ibid. 706-730. exta doloso V. 58 und Sen. Med. 680-704 sowie Verg. ecl. 8,7 1 . Vgl . Vetg. ecl. 8,95-100: Moeris hat der Sängerin des Alphesiboeus-Iiedes magi sche Kräuter geschenkt. Der Wolf spielt in Vergils Bukolik eine wichtige Rolle: Verg. ecl. 2,63; 3,80; 5,60; 7,52; 8,52. 97; 9,54; Körperteilen des Wolfes wurden allerdings auch in Mittelalter und früher Neuzeit allgemein magische Kraft zugeschrieben, "gI. Pickering, 1 999 (wie Fußn. 21 ) , S.v. "Wolf" .
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der Unterwelt werden von Morphons Gesang ebenso gebannt: Zu his nubes, feHus, mana aita, Erebique cifantur ry. 72) lassen sich die Parallelen Medea 740-749, wo die Geister der Unterwelt beschworen werden, und Medea 754-756, wo die Wirkung auf die Wolken und die Wogen des Oze an beschrieben wird, nennen. Schließlich ist auch das Element des furor sowohl für Morphon als auch für Medea typisch. Beide ergeben sich wil lentlich dem furor. Dies wird deutlich aus Morphons Versen 41 f., die zu Beginn des zweiten, von der Magie bestimmten liedteils stehen,32 im Fall der Medea besonders Medea 52, wo die Protagorustin ankündigt, sich ganz dem furor ergeben zu wollen, außerdem Medea 401 -414, wo Medea erneut deutlich macht, dass sie sich dem furor restlos ergibt und mit ihm Macht über die Elemente ausüben will.33 Der Morphon-Gesang endet mit der erfolgreichen Herstellung des liebestrankes. Über den Erfolg der magi schen Praktiken Morphons erfahren wir, anders als im anschließenden Gesang des Battus und im Alphesiboeus-Gesang, bei VergiI nichts. Der Gesang des Battus,34 der sich nach den überleitenden Versen 80f. anschließt, umfasst die Verse 82- 1 93 und damit 40 Verse mehr als der Gesang Morphons. Wie dieser lässt er sich in die Vorgeschichte ry. 821 04) und den eigentlichen Zaubergesang gliedern, dessen einzelne Stro phen durch einen Kehrvers markiert werden. Schon an diesem Kehrvers pellite, emdetes mea carmina pellite flamm wird bei aller formaler Ähnlichkeit die inhaltliche Differenz sowohl gegenüber den antiken Vorbildern Theokrit und VergiI als auch gegenüber dem Morphon-Gesang deutlich: Der Zweck von Battus' Zaubergesang ist es nicht, die ersehnte Person in denselben vom liebeswahnsinn bestimm ten Gemütszustand zu versetzen, in dem sich der Sänger befindet, sondern den Sänger vom liebeswahnsinn zu befreien und stattdessen das Mädchen in liebe entbrennen zu lassen. Die Ausgangssituation ist zunächst ähnlich wie im Morphon-Gesang: Der verliebte Sänger wurde von dem geliebten Mädchen mit Namen Doris verschmäht. Die Reaktion darauf ist allerdings eine völlig andere: Battus vergleicht sich, passend zur bukolischen Szenerie, zu Beginn seines Ge32 Vgl. bes. pro hlanditiisforor esto, V. 4l . 33 Vgl. weiterhin Medeo 386-396 (die Amme stellt äußere Zeichen desforor an Medea fest) und 852 (der Chor spricht vom foror der Medea, den er bei ihren Zauberge sängen an ihr beobachtet hat). Als weitere ZUtll t, die nur Morphon verwendet, stll mmt der echinlls (V. 67) ebenlälls aus der antiken literatur: Nach Arismt. hist. nato 1 4,505b und Plin. nat. 9,79 ist die echineis (modem: echineis T'l!l1Ioro kleiner Schiffshalter) ein Ingrediens von liebestränken (vgl. dazu Marion Gindhan: "Von Emtezauber und Meerestiermagie. Der Prozel� gegen Apuleiu.� von Madaura", in: Augsburger Volkskundliche Nachrichten 4, 1 996, 7-34, hier 21). 34 BaItIIs als Hirtennarne bereits Theokr. Id. 4 sowie Ov . met. 2,676-707. =
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sangs mit einem Stier, der der fliehenden Kuh nicht nachläuft, sondern stehen bleibt und sein Begehren zügelt 01. 82f.). Battus will keiner protema vi'l!,o 01. 86f.) dienen und verweigert sich wie Morphon dem obsequium gegenüber der pue/Ia; er will anders als Morphon die protema virgo sogar völlig vergessen. Aus Battus' Worten wird klar, welche innere Verfassung ihn - im Unterschied zu Morphon - zu diesem Entschluss bef:i.higt: Irra tional war nur sein impetus 01. 97) gewesen, sich der liebe zu ergeben, rational aber seine Reaktion auf den impetus: sed modus esl, sapui 01. 1 00). Der amor hat ihn deshalb nie völlig in Besitz genommen 01. 98 f.) und ihn nie ganz unbelehrbar gegenüber der Vernunft werden lassen (paene morae indoci/is, V. 92). Der V. 97 genannte Begriff des impetus erinnert an die stoi sche Theorie der Affekte, wie sie z.B. Seneca in De ira formuliert. Auch die von Battus erwähnte mora wird bei Seneca als remedium eines Affektes (nämlich der ira) genannt,15 da sie Zeit für ein iudicium lasse. Dieses iudicium in Form eines assensus mentis ist aber nach Senecas stoischer Aufassung notwendig, damit sich aus einem bloßen impetus (auch Battus bezeichnet seine Verliebtheit V. 97 so) ein Affekt entwickeln kann .16 Nicht nur die stoische Affektentheorie wird hier durch Begriffe wie impetus und mora evoziert, sondern auch Anweisungen aus Ovids Remedia amoTis, in denen V. 79- 1 06 ebenfalls empfohlen wird, schon im Anfangsstadium der Lei denschaft Einhalt zu gebieten: Nam mora dat vires, wie dort V. 83 bemerkt wird. Eine weitere Parallele zu den Remedia stellt Batrus' Vorsatz dar, den Müßiggang zu meiden, da nur Untätige übermannt werden könnten (90f.): Dies entspricht den Anweisungen der Remedia 1 35-1 98, wo V. 1 69-1 98 ausdrücklich auf Beschäftigungen in der ländlichen Idylle verwiesen wird. Schließlich erwähnt Battus die Lethe, deren Wasser das Vergessen der Geliebten ermöglichen (Ipsius ebibita nunc sumam ob/iuia Lethe, V. 89): Auch die Remedia kennen diese Möglichkeit der Heilung, die Wasser des Le/haeus AmorY Etwas überraschend ist, dass Battus dann wie Morphon das Mittel der Magie wählt, und zwar einerseits als zusätzliches Mittel, um sich von seiner Leidenschaft zu kurieren, andererseits, um bei Doris liebeswahn sinn hervorzurufen. Im Unterschied zu Morphon tritt er damit aber nicht in Gegensatz zur Ars und zu den Remedia: Zum einen stellen die Remedia nämlich die Entscheidung für oder wider die Magie als Heilmittel jedem selbst anheim18 und empfehlen am Ende sogar ein pflanzliches Heilmittel (mta, V. 80l f.), zum anderen rät die Ars nur deswegen von liebestränken, die zur Erwiderung der liebe anregen sollen, ab, weil sie keine dauerhafte 35 36 37 38
Sen. dial. 4,29,t . Sen. dial. 4,3,4 und 4,4,2. Ov. rem. 55t. Ov. rem. 249f.
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liebe, sondern Wahnsinn erzeugten: Letzteres ist aber die Absicht des Battus, der sich gegen Ende seines Gesangs ausführlich ausmalt, welche Wahnvorstellungen Doris aufgrund des liebestranks zu befürchten haben wird 01. 1 75-1 83). Zu Beginn des eigentlichen Zaubergesangs schildert er zunächst kurz, welche :Mittel er selbst zu sich nahm bzw. zu einem Heil trank verarbeiten will 01. 1 08-1 1 3; 1 56-1 60), dann, welches :Mittel er Doris verabreichen will 01. 1 62-1 73. 1 77f.) ; außerdem schildert er Rituale, die die Wirkung des Heilmittels und des liebestrankes verstärken sollen 01. 1 38-1 55).39 Als Heilmittel für sich selbst nennt Battus lediglich die Polei minze (rr:gale pIIUegium), Saft aus Weidenruten und Staub, in dem sich ein Maultier gewälzt hat 01. 1 08f. 1 1 2 sowie 1 56-1 58). Als :Mittel, um Doris mit liebeswahnsinn zu schlagen, werden neben einem 'Hekatonkephalon' die suen Ophillsaei genannt 01. 1 62. 1 77). Battus' Beschreibung seiner Zu bereitung der magischen Tränke für ihn und Doris lehnt sich an kein be stimmtes antikes Vorbild (wie z.B. Senecas Medea) an. Für einige von Battus erwähnte Zutaten ist jedoch eine entsprechende Verwendungswei se in der Antike bezeugt: So wird das V. 1 28 erwähnte Wasser des fons Cupidinir in der Nähe der kolchischen Stadt Cyzicus bei Plinius d.2\.. als Anaphrodisiakum erwähnt.4() Celsus 2,33 erwähnt das V. 1 08f. genannte plllrge(g)ium als :Mittel gegen krankhafte innere Erhitzung. Außerdem ver wendet Battus zumindest mit dem 'Hekatonkephalon' eine Zutat, für die schon in der Antike ein Gebrauch im Zus ammenhang mit liebeszauber bezeugt ist: Es handelt sich hier nämlich der Beschreibung in den Versen 1 62-1 66 zufolge um die Alraune, die seit der Antike als Aphrodisiakum verwendet wurde.41 Auch die silen Ophiusaei stellen einen eindeutigen Be zug zur Antike her: Das Adjektiv ist von 'Ophiusa' abgeleitet, einer Be zeichnung für verschiedene :Mittelmeerinseln und eine Stadt am Schwar zen Meer, die nach ihrem vermeintlichen Schlangenreichtum benannt
39 Das Ritual, das sich der Knochen einer bis auf das Skelett von Ameisen verzehr ten Kröte bedient 0/. 1 38- 1 52 und 1 54f.), ist bei Pickering, 1 999 (wie Pu/ln. 21) s.v. "Kröte", beschrieben: Nach Pickering existiette in Ostengland der Aberglau be, so genannte Krötenmänner würden durch ein bestimmtes Ritual, das unter anderem vorsah, die tore Kröte von Ameisen bis auf das Skelett abnagen zu las sen, magische Kräfte durch einen der übrig gebliebenen Knochen gewinnen. 40 Plin. nat. 31,19. 41 Vgl. schon Theophrast, hist. plant. 9,9,1 (und dazu Christopher A. Paraone: Anciem Greek love magie, Cambridge/Mass. u.a. 1 999, 1 26-1 30). In Mittelalter und früher Neuzeit wurden je nach Porm Wurzeln männlichen und Wurzeln weiblichen Geschlechtes unterschieden. Die Alraune war in dieser Zeit auch ein wichtiges Mittel von Liebeszaubem (vgl. Vera Hambel: Verwendung und Bedeu tung der Alraune in Geschichte und Gegenwart, Passau 2003, 56-86). Pür die römische Antike ygl. Celsus medic. 3,1 8 (Schlafmittel); 5,25; 6,6; 6,9.
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wurden.42 Die sllca Ophillsaei stehen somit vermutlich für Schlangengift, ein Ingrediens, das nicht nur Morphon, sondern auch Medea bei Seneca ver wendet; Teile der Schlange werden außerdem schon bei Properz (3,6,28) in einem üebeszauber verwendet. Die Verse 1 1 1 f. (pa/eat non cuncta pue/Iis / cognita Thessalicis) beziehen sich also wohl weniger auf die Mittel (die auch die antike üteratur erwähnt) als vielmehr auf die Intention, mit der Battus sie einsetzt: Er will aus ihnen kein Aphrodisiakum, sondern ein Anaphrodisiakum für sich herstellen, während das Mädchen in üebe für ihn entbrennen soll. Eine solche Absicht ist Theokrits Simaitha und Vergils Alphesiboeus, aber auch Senecas Medea fremd und geht insofern über die magischen Praktiken der antiken Vorbilder hinaus. Aus dem Vergleich der Gesänge von Morphon und Battus vor dem Hin tergrund antiker Vorbilder haben sich Kriterien ergeben, auf Grund derer das bukolische Ich in den oben zitierten überleitenden Versen 80f. einem der beiden Gesänge den Vorzug geben kann Die Formulierung pills alijs alios sapllisse 01. 8 1 ) kann sich nur darauf beziehen, dass einer der beiden Hirten, nämlich Battus (und andere, die ebenso handeln wie er) , aus der Perspektive des bukolischen Ichs betrachtet rationaler agiert als der andere Hirt, Morphon. Battus ist nämlich imstande, seine Leidenschaft zu kon trollieren und Methoden anzuwenden, wie sie Ovids Remedia amoris emp fehlen. D.a. durch Begriffe wie impetus und mora evoziert er das stoische Affektmodell. Morphon dagegen geht weder im Anbahnen der üebesbe ziehung im Sinne der Ars ama/oria besonders geschickt vor noch wendet er nach dem Scheitern dieser Bemühungen remedia amoris an. Battus liefert aber nicht nur einen Gegenentwurf zu Morphons Verhalten, sondern auch zum Verhalten beispielsweise des Aepolus in Barlaeus' zweiter Ekloge, der vergeblich mit Geschenken um Galatea wirbt, sich maßlos in üebeswahn sinn hineingesteigert hat und sogar in die persona Sapphos schlüpft, um Galatea zum Einlenken zu bewegen.43 Battus weicht ebenso vom antiken Vorbild zum typischen Verhalten verliebter Hirten bei Vergil und Theokrit ab (dies könnte im Übrigen den Plural alii V. 81 erklären). Be sonders deutlich wird dies in den Worten sed modus est, sapui 01. 1 00), die einen deutlichen Kontrast zur Klage Corydons in Vergils zweiter Ekloge (qllis enim modus adsit amori?)44 oder auch zu Gallu s' verzweifelter Resignati.
42 Insel in der Propontis (plin. nato 5,1 51); Insel bei Kreta (plin. nato 4,61); Formen tera (plin. nat. 3,78); Rhodos (plin. nat. 5,1 32); Zypern (OY. met. 10,229); Stadt Tyras (Val. FI. 6,85). 43 Vgl. 2,21 -44. 5 1 -65. 229-31 3. 44 Verg. ecl. 2,68.
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on in Vergils zehnter Ekloge (omnia vincit AmO,.: et nos cedamus Amon)4-' dar stellen. Der Verg. ecl. 2,69 erwähnten dementia Corydons steht bei Barlaeus die rationale Entscheidung des Battus gegenüber, sich nicht hemmungslos dem Liebeswahnsinn zu ergeben. Auch hat Battus erkannt, dass es sinnlos ist, mit materiellen Geschenken um die Gunst der Geliebten zu buhlen, wie dies wortreich Corydon bei Vergil tut.46 Dem COl:ydon Vergils ist diese Erkenntnis verwehrt und sein Werben um Alexis zum Scheitern verurteilt. Offen bleibt bei Barlaeus auch, ob Morphons Praktiken Erfolg haben werden. Battus jedoch kann am Ende seines Gesangs triumphie rend bemerken: pardte, depulsis mea carmina pardtejlamis (V. 1 93).
45 Verg. ecl. 1 0,69. 46 Verg. ecl. 2,56.
Hardys Didon se sacriftant. Ein 'Kommentar' vierten Buch der Aeneis?
zum
MARIA MATEO DECABO (Berlin)
Der vorklassische Dramenautor Alexandre Hardy (um 1 575-1 632) hat sich zeidebens ohne nachweisbare Gegenstimme gerühmt, niemals gegen den Vertrag verstoßen zu haben, als "poete a gages" (Truppendichter) seinem Theaterdirektor auf Wunsch so viele Bühnendichtungen auszuhändigen, wie dieser wünscht, und also in 30 Jahren mindestens 600 Theaterstücke Tragikomödien, Schäferspiele, Intermezzi, Komödien, Tragödien - ver fasst zu haben. Nur wenige davon sind erhalten geblieben, und zwar nur jene, die Hardy, seit 1 622 "poete du roi", in seiner fünf Bände und 33 Dramen umfassenden Werkausgabet selbst publiziert hat. Darunter hat er der Tragödie Didon se sacrijianfl einen programmatischen Ehrenplatz einge räumt, nämlich als Eröffnungsschauspiel des ersten Bandes.3 Nicht nur wegen seiner Hochachtung des als "ernstesten, mühsamsten und wichtigs ten"4 angesehenen Genres, sondern vor allem wegen der überdurch schnitdich sorgfaltigen Komposition mag der Vielschreiber Hardy sie als Lockmittel für sein Lesepublikum eingesetzt haben. Es ist offensichdich, dass der heute fast in Vergessenheit geratene "größte französische Dramatiker des ersten Viertels des 17. Jahrhun-
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Im 1 9. Jahrhundert neu herau.�gegeben: Edmund StengeI (Hg.): Le theatre d'Alexandre Hardy. 1 . N:eudr. der Dramen von Pierte Comeille's unmittelbarem Vorläufer nach den Exemplaren der Dresdener, Münchener und der Wolfenbüt teler Bibliothek, 5 Bde., Marburg u. a. 1 883-1884. Im Folgenden DSS, zitiert nach der neuen kommentierten Ausgabe: Alan Howe (Hg.): Didon se sacrifiant Tragedie, Genf 1 994 (fextes litteraires frans:ais 440). Vgl. Alexandre Hardy: Theatre. Didon, Scedase, Panthee, Meleagre, Procris, Alceste, Ariadne, Alphee, Paris 1 624, Bd. 1 . Vgl. Stenge� 1 883-1884 (wie Fußn. 1), Bd. 5, 4 (Übers. d. Verf.). Dies ist bereit� eine Reminiszenz an den Pleiade-Dichter Ronsard (1 524- 1 585), der sich lebens lang gegen das Ver&ssen von Tragödien gesperrt hatte, mit der Begründung, dem hohen Genre der Alten nicht gewachsen zu sein; seine Rolle als Divulgator des Alexandriners - später das tragische französische Versmaß schlechthin - ist trotzdem auch fiir die Tragödie nicht zu unterschätzen.
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derts"-' sich bei der Abfassung seiner Didon zu großen Teilen vom vierten Buch der Ameis hat inspirieren lassen: Von den 2026 Versen seiner 1 6246 von ihm selbst herausgegebenen Dido7 -Tragödie sind 353 Alexandriner direkte Übernahmen von 232 Hexametern Vergils. Ich werde daher zuerst auf die Fragestellung des Titels zu sprechen kommen, nämlich was an Hardys Tragödie in seiner Bezugnahme auf Vergil kommentarhaft ist. Nach einem kurzen Überblick über Vers Kortespondenzen, Beobachtungen zu antikisierenden Form-Elementen (Syntax, Chöre) und einer Zus ammenfassung der DitkJn will ich den Fokus auf die Unterschiede legen: Welche Auswirkungen haben diese Änderun gen für die Gesamtaussage des jeweiligen Werkes? Das bei Vergil zentral diskutierte Problem von Determiniertheit oder Freiheit der Helden soll dabei als Leitmotiv bei meinem Durchgang durch Hardys Tragödie die nen. Stimmen Plot und Personal bei Hardy und Vergil auch im Großen und Ganzen überein, so werden dahingegen die Handlungen unterschied lich oder eindeutiger motiviert und andere Intertexte aufgerufen - es hat den Anschein, als ob Hardy einige der bei Vergil angelegten, aber auf grund ihrer Offenheit kontrovers auslegbaren Interpretationsstränge auf eine Deutungsmöglichkeit reduzieren würde. Damit scheint er sie zwar
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Vgl. Monique Chantal Boissier W'hite: The Dido Fable in French Tragedy: 1 5601 693, Ann Arbor/!l.H u.a. 1 975 (Diss. Nashville/TN), 1 04 (Übers. d. Verf.). Die Beliebtheit dieses Bandes belegen die zweite Auflage von 1 626 und eine Raubkopie aus Frankfurt von 1 625. Das genaue Datum der Uraufführung ist umstritten. Den Brüdern Parfaict zufolge war die Premiere des Stückes im Hotel de Bourgogne bereits 1 603, vgl. Franc;ois Parfaict Histoire du theatte franc;ois depuis son origine jusqu'a present, 15 Bde., Paris 1 745, hier Bd. 4, 20-22, u. C1aude Parfaict Dictionnaire des theattes de Paris, 7 Bde., Paris 1 767, hier Bd. 2, 306. Eugene Rigal bestreitet in der bis heute in ihrer Ausführlichkeit einzigartig gebliebenen Monographie zu Hardy [Alexandre Hardy et le theatte franC;ais a Ja fin du XVIe et au commencement du XVIle siede, Paris 1 889, 74-78] dieses Da tum . Raymond Lebegue ["La date de Ja Didon de Hardy", Revue d'Histoire ütte raire de Ja France 34, 1 932, 380-382] schließlich kommt wegen der angeblichen Nachahmung Hardys von einigen Chorversen aus dem 2. Akt von Jean de Schelandres Tyr ef Sidon zu dem Ergebnis, dass Hardys Didon erst nach 1 608 ent standen sein kann. Ausgleichend schlägt Sophie Wilma Deierkauf-HoMlOer in ih rer Hardy-Biographie [Vie d'Alexandre Hardy, Paris 2 1 972, 3 79] als terminu.. ante quem für Didon se sacrifianf das Ja hr 1610 vor, während der Herausgeber der hier verwendeten Ausgabe, A1an Howe, dafür die Jahre 1 620-1 621 ansetzt, vgl. Howe, 1 994 (wie Fußn. 2), 22. Alle Eigennam en, die im Vergilischen Epos vorkommen, werden in ihrer übli chen deutschen Schreibweise wiedergegeben, alle anderen in der französischen Schreibweise belassen.
Bord)'" Didlm " ,Otrijiant. Ein 'Kommentar' zum ,�cncn Buch der /lenelI?
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ihrer Mehrdimensionalität z u berauben, gleichzeitig aber auf diese Weise mit seinem dichterischen Werk eine Art Vergil-Kommentar vorzulegen. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissensch4f heißt es, dass Kommentare u.a. "den verbalen und realen Aufschluß eines Textes zum Zwecke der Belehrung (doctrina), Nachahmung oder der wetteifernden Überbietung (aemulatio, imitatio) zum Ziel" hätten.8 Diese Bestimmung rückt den Kom mentar in die Nähe der Rezeption und scheint dem, was Hardy in seiner Tragödie zu realisieren versucht, recht nahe zu kommen: nicht eine Übertrumpfung Vergils im Sinne einer völligen Neuerung oder Neuinter pretation des Themas, sondern eine Konkretisierung des bereits Angeleg ten. Diese belehrt und überbietet, insofern sie eben anderes Angelegtes ausgeschlossen hat. Die Gattungsänderung vom Epos zum Drama bei spielsweise ist eine Ausgestaltung der bei Vergil mit vielen Passagen wört licher Rede angedeuteten dramatischen Form unter Ausschluss aller epi schen Momente und Vergleiche; gleichzeitig evoziert Hardys 'kommentie rende' Tragödie die Haltung, die antike Tragödien, wie der Aias des So phokles gegenüber der Homerischen [lias, gegenüber den Epen einneh men können. Bei der Gegenüberstellung von Hardys Tragödie und Vergils Epos er geben sich im Detail folgende Korrespondenzen:
8
Vgl. Ralph Häfner. "Kommentar,", in: Harald Pricke (Hg.): Reall exikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin u.a. 32000, 298-302, hier 300.
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Maria Mateo
Decabo
Tab.l : Übersicht der Korrespondenzen zwischen Hardy, DSS und Verg. Aen. 49
Hart!J, DSS
Verg. Am. 4
2. Akt
285-3 1 0
1 96-21 8
3. Akt
621 -626 646-692 695-7 1 2 805-840 841 -880 953-971 +974-975 972-973 1 067- 1 084 1 085-1 094 1 1 02-1 1 03 1 293 1 295 1 307- 1 308 1 321 - 1 326 1 335-1 338 1 342- 1 356 1 359- 1 376 141 1 - 1 446 1 749-1 756 1 809- 1 824 1 83 1 - 1 848 1 936-1 939 1 940- 1 947
402-405a+407b 305-330 333b-339 340-361 365-387 424-436 421 b-423 560-570 573b-579a 556-559 467a-468 460-461 a 454-455 591 -594 595-596 600-606 607-61 8a 478-498a 634-639 620-629 651 -662 684-685 675-683a
4. Akt
5. Akt
Damit weist sich Hardys Vergilrezeption stellenweise als relativ treue Eins-zu-Eins-Übertragunglo des vierten Aeneis-Buches aus. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorgehensweise in einem Frankreich, das erst seit Du Bellays La De.ffence, et lUustration de Ja Langue Franf'!Yse (1 549) der eigenen Muttersprache erstmalig die Kompetenz einräumt, die von den Alten wegen ihres Vorbildcharakters zu imitierenden Sujets ebenbürtig wieder-
VgL auch Konrad Meier: Über die Didottagödien des JodeUe, Hardy und Scudery, Zwickau 1 891 (Diss. Leipzig), 21 , und die nach den einzelnen drarnatis personae geordnete Korrespondenz-Übersicht in Howe, 1 994 (wie Fußn. 2), 28f. 10 Anders White, 1 975 (wie Fußn. 5), 1 59, die in Hardys Vorgehen.'!Weise nur eine L'hernahme von Bildern, rhetorischen Formulierungen und Qualifizierungen se hen wiU.
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Bord)', Didlm " JOtrifianf. Ein 'Kommentar' zum vierten Buch der /1t11/!iJ?
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zugeben, nicht der Hauch eines Plagiat-Vorwurfes oder Originalitätsman gels umwehte. Doch einige der als besonders antikisierend ins Auge fallenden forma len Merkmale seiner Tragödie haben ihren Ausgangspunkt erstaunlicher weise ganz im Zeitgenössischen und nicht nur - wie man gerade auf den ersten Blick zu glauben geneigt wäre - in der imitatio vetCT1lm. Seine von dem Pariser literaturkritiker Frans:ois de Malherbe stark ge scholtene Vorliebe für latinisierende Satzkonstruktionen beispielsweise findet ihren Ursprung nicht in einer falsch verstandenen sklavisch tteuen Nachbildung Vergils, sondern ist eine Hommage an den von Hardy sehr geschätzten und ästhetisch als Paradigma angesehenen Pleiade Dichterkreis um Ronsard und Du Bellay. Diese Bewunderung findet ihre Fortsetzung auch in der expliziten Anlehnung an Du Bellays Überset zung! ! des vierten Buches der Aeneis. Natürlich ist sie überdies auch ein Nachweis für seine klassische Bildung, mit der wohl nicht jeder ,,Autor Schauspieler"!2 seiner Zeit, dessen Karriere in der französischen Provinz mit Stücken für den Massengeschmack ihre Anfänge nahm, aufwarten konnte. Wenn Hardy in seine Dido-Tragödie Chöre einführt, so will er damit nicht den Epiker Vergil im formalen Bereich explizieren und dessen auch in der modernen Vergilforschung außer Zweifel stehende Dramenhaftig keit quasi vervollkommnen,u Hardy, der im Vorwort seiner DitPJn die Chöre an sich als zu tilgendes, überflüssiges E1ement!4 bezeichnet hatte, ohne sie jedoch aus dieser Tragödie zu entfernen, dienen sie zwar in An lehnung an ihre antike Funktion auch zur moralischen Selbstteflexion über das Stück selbst,!5 vordringlich aber zur Spannungssteigerung!6 - was
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Eine Übersicht aller zu Hardys Zeiten existierenden Übersetzungen VergiL. in französischer Sprache findet sich in: Alice Hulubei: "Virgile en France au XVI ' siede", Revue du seizieme siede 1 8, 1 931 , 1 -77; eine Disku..sion der von Du Bel lay übernommenen Wendungen in: Howe, 1 994 (wie Fußn. 2), 32-36; für Du Bellays Übersetzung vgl.: Henri Chamard (Hg.): Joachim Du Bellay, CEuvres Poetiques, 8 Bde., Paris 1 99 1 , Bd. VI, 256-306 [1 552J. Vgl. Deierkauf-Holsboer, 2 1 972 (wie Fulln. 6), 21 . Vgl. dazu beispielhaft Eduard Norden: "Bildungswerte der lateinischen Uteratur und Sprache auf dem humanistischen Gymnasium 1 920", in: Ders. : Kleine Schriften zum klassischen Altertum, Berlin 1 966, hg. von Bernhard Kytzler, 583607, hier 597: ,,[VergilsJ Dido ist eine Tragödie, die einzige römische, die den Namen yerdient"; im gleichen Sinne auch Richard Heinze: Virgils epische Tech nik, Leipzig 3 1 9 1 5, 1 1 9, und Karl Büchner: "Vergil, der Dichter der Römer", RE 8,2 A, 1 958, Sp. 1 266-1 486, hier: Sp. 1 366 u. 1 373. Vg!. StengeI, 1 883-1 884 (wie Fulln. 1), Bd. 1, 5. Vg!. White, 1 975 (wie Fulln. 5), 1 1 6.
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Maria Mateo
Decabo
gerade hinsichtlich der anderen Renaissance-Tragödien seiner Zeit eine erhebliche Neuerung und Wegbereitung für die klassische französische Tragödie darstellt. t 7 Auch die dem nun folgenden Resümee entnehmbaren augenfaIligsten Abweichungen vom vierten Buch der Aeneis lassen sich mit dem Bestte ben nach einem dramatischen Spannungsverlauf erklären: So beginnt Hardys Drama im gänzlich ohne Vergil-Reminiszenzen auskommenden ersten Akt mit der Unschlüssigkeit des Aeneas, die erst in einem an die Götter, im Besonderen Jupiter und Apollo, gerichteten Monolog, dann im Gespräch mit den Gefährten Achates und Palinurus zum Ausdruck kommt. Dido war, anders als bei Vergil, nicht durch Fama, sondern durch Sychaeus' Schatten im Traum vor dem Verlassenwerden gewarnt worden. Der Phönikerinnen-Chor stimm t ein Freudenlied an, das die bevorstehen de Hochzeit der beiden Fürsten ankündigt und eine Korrelation zwischen dem Glück des Paares und einer Abwendung der Welt von Zwietracht und Krieg wünscht (DSS 233f.) . Der zweite Akt wird durch den zwar an Vergil angelehnten Zornes-Monolog des Jarbas eröffnet, dieser richtet sich aber nicht so sehr an seinen Vater Jupiter wie an seinen Berater Therodomante, welcher sich anschickt, in Karthago Erkundigungen über die wahren Verhältnisse einzuholen. Nachdem sich Aeneas nach langem Ringen dank Achates für einen Abschied von Dido entschieden, sein Sohn Ascanius abfaIlige Bemerkungen über dieses schon zu lange wäh rende Intermezzo von sich gegeben und der Chor der übrigen Troer die Möglichkeit einer Rache Didos prophezeit hat, erfolgt im dritten Akt die auch bei Vergil als Klimax angelegte Aussprache zwischen Dido und Aeneas. Sie wird von Didos Schwächeanfall unterbrochen, zu deren Ver sorgung der Phönikerinnen-Chor herbeieilt, wobei er die Liebe seiner Königin als Krankheit der Vernunft und die Schicksalskette besingt, die ihr Volk unheilvoll mit dem Dardaner verbindet. Nachdem die wieder zu sich gekommene Dido ihre Schwester angefleht hat, zum Hafen zu Aeneas zu eilen und den Aufschub seiner Ausfahrt zu erwirken, errönt der alle zuständigen Götter um eine segensreichere Überfahrt bittende Troerchor. Zu Beginn des vierten Aktes warnt Merkur Aeneas im Traum vor Didos Rache, woraufhin Aeneas das Signal zum baldigen Ablegen gibt. Als Anna so weit geht, ihre und Didos Mitfahrt zu fordern, ver spricht Aeneas seine baldige Rückkehr nach Gewinnung des italischen
16 Vgl. White, 1 975 (wie Fußn. 5), 1 33, u. Howe, 1 994 (wie Fußn. 2), 48. 17 Vgl. z.B. die 1 574 gedruckte, vermutlich bereits 1 560 entstandene Dido-Tragödie von Hardys Vorläufer Etienne )odeUe (Jean-Claude Ternaux (Hg.): Etienne )0deUe, Didon se sacrifiant, Paris 2002 ITextes de la Renaissance 62]). Zu dessen geringem Bemühen um Spannungserzeugung vgl. Howe, 1 994 (wie Fußn. 2), 37.
Hardys Ditlo" " It1lrijiant. Ein 'Kommentar' zum vierten Buc:h der Amm?
Reiches
für
sofortiger
175
Ascanius. Der A k t endet vergilisch mit Didos Abkehr von Racheausübung,
ihrer
Heraufbeschwörung
einer
tyrisch
troischen Erbfeindschaft und der Ankündigung des fingierten Uebeszau bers einerseits und einem Ued der Tyrer andererseits, wdches in Anleh nung an den Mythos
um
Herkules und Omphale die Sdbstüberwindung
als wahre Herkulestat feiert. Der ffinfte Akt beginnt - hierin der ähnlich - mit dem Anna vorgespidten Opfer und, nach Anrede der
Aeneis extIviae
des Aeneas, mit dem Sdbstmord Didos durch dessen Schwert; er endet unvergilisch mit deren schnellem Tod, dem vom Chor der Tyrer nur knapp abgewendeten Sdbstmord Annas und der Freude eines Boten des Jarbas über die durch Didos Tod und die Aeneas' Flucht widerfahrene Genugtuung für seinen Herrn . die
Doch wie nun
im
Didon zu zeigen
ist, erzeugt Hardy die spannungssteigemden Änderun
Folgenden
gen und Auslassungen nicht
um
in
einem genaueren Durchgang durch
der reinen dramatischen Wirkung will en,
sondern berührt damit auch die Kernbotschaft des Textes: Sie gehen mit einer Umgestaltung der Motivik des stark an VergiI angelehnten und da rum relativ bekannten Plots einher.1 8 Wie schon in der Antike sieht sich der Dramatiker in der Pflicht, sein Publikum durch eine eigene Ausgestal tung k1einteiliger Nebenaspekte zu überraschen bzw. durch einige Aktuali sierungen einen Bezug zu dessen Lebensrealität herzustellen. Eine dieser Änderungen betrifft beispidsweise den Götterapparat: Es ist bezeichnend, dass er komplett in das Innere der Hdden verlagert worden ist. 1 9 Diese Vorgehensweise scheint einen breiteren Antwortrahmen auf die Frage nach
der
Determiniertheit
bzw.
dem
freien
Willen
der
Aeneis
Protagonisten zu eröffnen.20 Die in Monolog-Szenen angerufenen Götter dienen nur als äußerer Motivationsrahmen
für
die Auslassungen, auf die
18 Hulubei, 1 93 1 (wie Fußn. 1 1) kommt allein in der Lebensspanne Hardys im 1 6. und 17. Jahrhundert auf etwa 60 Übersetzungen des vierten Aeneis-Buches ins Französische. Überdies hatten sich vor Hardy schon die Dramatiker Etienne Jodelle (Uraufführung 1 552?), Jacques de Ja Taill e (UA 1 560), le Breton (UA 1 570) und Guillaume de la Grange (VA 1 576) demselben Sujet gewidmet. Hin sichtlich der unveränd erten Plot-Übernahme der Aeneis Ygl. F. K. Dawson: ,,Ale xandre Hardy and Seventeenth Century French Tragedy", Renaissance and mo dern studies 3, 1959, 78-94, hier: 8 1 . 1 9 Auch dies ist für Rigal, 1 889 (wie Fußn. 6), 269, ein Beweis für di e ihre Schatten vorauswerfende Klassizität in Hardys Tragödie. 20 Wenn schon Meinolf Vieiberg für die Aeneis zu dem Ergebnis kommt, dass Frei heit, Verantwortung und Schuldfähigkeit trotz göttlichen Eingteifens gegeben seien, in wie viel höherem Maße müsste dies dann für Hardys Tragödie Geltung beanspruchen, vgI. Meinolf Vielberg: "Zur Schuldfrage in Vergil.� Aeneis", Gym nasium 1 0 1 , 1994, 408-428, hier 41 8f.
1 76
l\'1aria Mateo Decabo
indes immer das jeweilige mitmenschliche Umfeld reagiert. Fama wird in Didos Fall durch ihr materialisiertes schlechtes Gewissen, das ihr im Traum in der Gestalt ihres Gemahls erscheint (DSS 1 6 1 - 1 71), bei Jarbas durch das vorangehende Chorhochzeitslied (DSS 333f.) würdig vertre ten.21 Das Erscheinen Merkurs wird von Aeneas als bloße Nodüge (DSS 834-838) angeführt; seine Manifestation im Traum ist nicht nur, aber auch als Angst und Scham über die eigene Frevelhaftigkeit lesbar. Der Phönike rinnen-Chor (DSS 9 1 6) knüpft zwar an Vergils Diskurs an, der die liebe als Krankheit ansieht,22 ohne aber die Götter dabei ins Spiel zu bringenP Die Vergilische Gegenüberstellung von pietas gegenüber den Menschen und pietas gegenüber den Göttern ist einer Auseinandersetzung gewichen, in der pietas, ganz dem menschlichen Bereich verhaftet, nicht eindeutig einem Diskursfeld zugeordnet werden kann, sondern zwischen zweien hin und her changiert - dem der liebe und dem der Heldenehre. Daraus ergibt sich, dass sich der Hardy'sche Aeneas in Bezug auf seine liebesfä higkeit selbst als peifidu.r (DSS 425) und impills (DSS 400) bezeichnet und sich des Meineids bezichtigt (ebd.) bzw. dass auch der Chor der Troer selbst seinen Anführer einen Didos Rache verdienenden "meineidigen Theseus" (DSS 593) schimpft. Völlig umsonst versucht Achates zu An fang Aeneas mit den Worten umzustimmen, dass Jupiter, selbst ein unste ter Schürzenjäger, liebestreuebrüche nicht ahnde (DSS 1 29-1 32) und dass pietas nur im Krieg, in Abenteuern und Eroberungen unter Beweis gestellt werden könne. Hardy legt im Gegensatz zu Vergil von Anfang an den Fokus auf den Troerfürsten und dessen Dilemma: Er zeigt uns einen Aeneas, der rados 21
Die Nähe zwischen dem Schatten des Sychäus hzw. dem Hochzeitslied und Fama ist auch am lexikalischen Feld ihrer jeweiligen Qualifikationen ablesbar: Sie alle werden mit dem W'ind verglichen, vgl.: "vent [ . . . ] sifflant" ["zischender Wind'1 (DSS 1 75) bzw. "un vent" (DSS 320) und velocillS (Aen. 4,1 74), sese attollit in auras (Aen. 4,1 76) und stridens (Aen. 4,1 85). 22 Vgl. Antonie Wlosok: "Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tra gischen in der Aeneis", in: dies.: Res humanae - res divinae. Kleine Schriften, Heidelberg 1 990, 320-343, hier hes. 331 u. 341 . 23 Auch Anna wird später nach Didos Tod diese Krankheits-Metapher (DSS 1 91 9f.) aufnehmen, in einer an Aen. 4,41 1 angelehnten Passage (DSS 1 909-1 924), die sich explizit gegen Amor - hier als Ausgehurt der Furien bezeichnet - und das ungerechte Schicksal richtet. Diese Exculpatio-Strategie, die von dem einige Ver se zuvor durch den die Führungslosigkeit fürchtenden Tyrer-Chor verhängten Freispruch Annas (DSS 1 896-1 898) eingeleitet wird, bereitet den Ent..chluss zum Nicht-Selbstmord logisch vor und steht im Ge�nsatz zu der in den Versen 1 2751 290 vorgebrachten Selbstanklage Annas. Im Ubrigen wird Amor meist aJ.. Bru der des Aeneas bezeichnet (DSS 414, 731 f., 1 005f.) und der Liebeskonflikt so auch zu einem Bruderstreit stilisiert.
Bordy, Didlm Jf Jaaifianf. Ein 'Kommentar' zum vierten Buch der /JeneiJ?
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und unentschieden die Existenz eines anderen, den Trojanern in einem höheren Maße als Karthago Ehre und Glück bescheidenden Ortes an zweifelt (DSS 37-40) . Erfüll t ihn der Gedanke an Ascanius zwar auch mit Hoffnung und Sorge (DSS 47), so kann er doch seine Unentschlossenheit angesichts der dunklen Vorhersagen für die Zukunft, der Erinnerung an vergangene unglückliche Ereignisse und der gegenwärtigen Annehmlich keiten (DSS 5 1 -54) nicht mindern: Aeneas vergleicht sich selbst mit einem Wanderer an der Gabelung zweier Wege, deren Endpunkte im Ungewis sen liegen (DSS 57-60) . Die Erwägung, sein Verhalten zu ändern und abzufahren, erscheint ihm als Abfall von sich selbst, als Selbstentfrem dung (DSS 63) ; trotzdem lässt er sich die Vorbereitung eines möglichen negativen Bescheides für Dido und dessen Folgen bereits durch den Kopf gehen (DSS 6 1 -63). Darin, dass in Karthago wirklich alles Freude bereite, stimmt auch Achates mit Aeneas überein (DSS 70); er erinnert ihn daran, dass es undankbar wäre, die Wohltaten der Götter zurückzuweisen (DSS 73-76) . Durch diese Worte scheint in Aeneas die Erinnerung an die Stra pazen der vergangenen Irrfahrten zu verblassen und das aktuelle 'süße Nichtstun' rückt ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit: Er qualifiziert es nun - darin sowohl dem stoischen Ideal einer vita activa als auch der Ritter Ideologie der französischen Epen des Mittelalters und der zeitgenössi schen Ritterromane verpflichtet - als "Pest". Die Alternative steht nun klar vor seinen Augen: Entweder die Troer beschränken ihre Ruhmeser wartungen auf Karthago, oder sie setzen ihre "erreurs" fort (DSS 80) womit Aeneas zwar die Irrfahrten anspricht, jedoch auch Irrtümer ge meint sein können.24 An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die von den Fata und Jupiter gelenkte Teleologie der in der Aeneis geschilder ten Mission ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Der innere Zwie spalt des Helden hat nicht.� mehr mit einer Gottesgesandtschaft zu tun; genealogische Gedanken werden nur am Rande erwähnt. Es scheinen eher zwei verschiedene Lebensmodelle zur Debatte zu stehen: das des durch Annehmlichkeiten verweichlichten und das des durch Abenteuer gestähl ten Helden. Ganz besonders wird dies später in dem Gespräch zwischen Ascanius, Achates und Palinutus deutlich: Darin beschimpft Ascanius die "feigen" (DSS 481), "faulen" (ebd.) und "effeminierten" (DSS 491) Män ner, die dem Schicksal als Lohn für ihre Mühen nur "Didos Busen"25
24 Dieses \Xrortspiel wird später von Anna aufgegriffen, wenn sie Dido verspricht, sie werde Aeneas dazu bewegeo, dem Plan seiner "erreurs" eine andere Wendung zu geben (DSS 978). 25 Diese Formulierung erscheint eingedenk der Vergilischen Erzählung, wo Dido pfclore foto (Aen. 1 ,71 7) an Cupido-Ascanius hängt, eine besondere Spitze gegen sie zu sein.
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(DSS 483f.) abverlangen, und erhebt den stets auf Kampf um Leben und Tod gesinnten Hektor26 zum Paradigma eines Mannes und zu seinem persönlichen Vorbild; zwar erinnert er auch in einem Vers an die Weisun gen der Götter (DSS 502), doch der Hauptton der 26 Verse umfassenden Passage liegt vordringlich darauf, das Risiko des "verliegenden Ritters" zu umgehen. Teil des angenehmen Lebens in Karthago ist für Aeneas auch die lie be Didos. Während Achates die liebe mit dem Skorpionengift vergleicht, das, obwohl von einem der Größe nach harmlos wirkenden Tierchen s tammend, schwere Symptome hervorruft, und begütigend hinzufügt, dass dieser Stachd eben jeden Menschen treffen könne (DSS 97-1 02), betont Palinurus, dass Aeneas als Göttinnensohn und unbezwingbarer Heros (DSS 1 07) eben nicht Jedermann und die Eroberung eines zweiten Troja an sein Handdn gebunden sei (DSS 1 1 1). liebe und Leidenschaft be zeichnet er hinsichtlich dieser Schicksalskette als unentschuldbare vitia, denen sich zu ergeben ein Zeugnis von Bosheit, also vom Gegenteil der pielas, sei (DSS 1 1 2-1 14) . In seiner Entgegnung offenbart sich Aeneas als Feind der Wonne (DSS 1 21), aber in ebensolchen Maße auch der "Roh heiten" (DSS 1 22), des Freundschaftsbruches27 (DSS 1 23) und der Un dankbarkeit (DSS 1 24), er klagt sich der mangelnden pielas an und ruft sich dafür sdbst in den Zeugenstand (DSS 1 27) . Nun greift auch Achates ge gen Aeneas im Sinne des Palinurus in die Debatte ein: Dabei rekurriert er auf den Vergilischen Jagddiskurs, der Dido als Figuration der Diana aus weist. Aber anders als der Vergilische Schäfer, der von dem der Hirschkuh beigebrachten Pfeil nichts weiß, stellt Achates heraus, dass Dido dem Aeneas ins bewusst ausgelegte Netz gegangen sei (DSS 1 34). In diesem Netz, das um der Rettung aus der Not willen ausgelegt worden war, stün de Dido demzufolge nur eine zum Tausch- oder Zahlungsmittd deklas sierte liebe zu (DSS 135), deren Intensität und Dauer eben auch nicht den Wert der erhaltenen Hilfe zu übersteigen habe. Aus Aeneas' darauf folgender Erwiderung wird klar, dass er um die Folgen seiner Abfahrt, nämlich Didos Tod, weiß; er führt nun seine Fürsten-pielas gegenüber dem gastfreundlichen, hemach hertscherlosen Tyrervolk ins Fdd (DSS 141 f.).
26 Wie bei VergiI ist Hektor überdies auch Ascanius' Oheim. 27 Der Hardy'sche Aeneas sieht seine Verbindung zu Dido wie der Vergilische nicht als Ehebündnis an, sondern spricht von "amitie", wobei zu beachten ist, dass im französischen Minnesang die Geliebten sich grundsätzlich als "ami" /"amie" an zuteden pflegen - was den Gegensatz zwischen der institutionell geschlossenen Ehe und der frei gewählten, nut außerhalb der Ehe möglichen üebe markiert, welcher - zumindest rhetorisch - der Vorzug gegeben wird. Dido selbst sieht sich als "epouse", als "Ehefrau" (DSS 966).
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Ist durch die Eingangszene die Zerrissenheit des Hardy'schen Aeneas zwischen zwei Lebensmodellen und zwei Formen der pieta.r zum Ausdruck gekommen - welche der Vergilische Held nicht kennt, da der durch Mer kur wieder ins Bewusstsein gerückte göttliche Auftrag zwar Abschieds schmerz, aber keinerlei auch nur theoretische Alternativreaktion in ihm auslöst -, bietet Didos und l\nna s erster Auftritt dem Zuschauer eine Folie, die vor tragischer Ironie nur so strotzt. l\nna hält der vom Sychaeus-Traum in Unruhe versetzten und dadurch nun auch Aeneas' Worte anders gewichtenden28 Dido die göttliche Abstammung des Troers als Beweis für dessen Redlichkeit vor Augen (DSS 1 85). Dieser göttliche Hintergrund des Aeneas war aber auch schon Palinurus' Hauptargument für die Helden-pietas und damit für den Aufbruch von Karthago und ge gen die Liebes-pieta.r gewesen. Anna jedoch setzt die Dido von den Troern geschuldete Dankbarkeit so hoch an, dass sie diese in einem Tempelbau manifestiert wissen will . Zudem deutet sich ein im weiteren Verlauf noch weiter ausgebauter Konflikt der Kulturdifferenz an. Dido bezeichnet Aeneas ihrer Schwester gegenüber als "Fremden" (DSS 1 80) . Später wird sie diese Idee zu dem an Aeneas direkt gerichteten Ausruf "Barbar" (DSS 787) steigern, und Anna wird in ihren Umstimmungsversuchen das Ar gument anführen, dass Aeneas sich an das karthagische Klima gewöhnen und die Sitten der Tyrer den eigenen Vorstellungen wird anpassen kön nen. Umgekehrt wird Aeneas aber in seiner unnachgiebigen Wechselrede mit Anna seine mannhafte29 Gleichgültigkeit gegenüber dem Klima be kunden und in Anlehnung an das Vergilische sunt lacrimae rerum (Aen. 1 ,462) nicht die Fremdheit, sondern den Umgang mit menschlichem Lei den zum Maßstab für Kulturdifferenz erheben (DSS 1 1 75-1 1 79) - die Tatsache vergessend, dass er, über Didos Leid keine Träne vergießend, sich ihres Ausrufes damit selbst für würdig erachtet. In der Zwischenzeit beginnt Aeneas sich zunehmend für die Einlö sung seiner Heldenehre zu interessieren.1o Dass die Entscheidung für die Weiterfahrt kein Automatismus ist, zeigt eine Reminiszenz an Aen. 2,671 28 Ohne dass seitdem eine Unterredung zwischen den beiden Liebenden stattgefun den hat, scheint Dido, von Sychaeus' \Xramungen im Traum verstört, die von Aeneas im Laufe vorheriger Gespräche gefallene Bemerkung hinsichtlich Italiens und des zu erringenden Zepters erst jetzt in einem neuen Licht zu sehen (DSS 1 95-200). 29 Auch hier wird wieder die Heldenideologie stark gemacht Aeneas spricht wört lich davon, dass nur effeminierte Männer einen Gedanken an klimatische Bedin gungen verschwenden wiirden (DSS 1 1 75f.). 30 Auch dies ist eine heldische, uneffeminierte Reaktion des Hardy'schen Aeneas auf die ihm bei Vergil durch Jarbas (Aen. 4,215: JemivilUs) und Merkur (Aen. 4,266: uxorillS) beigebrachten Beschimpfungen.
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678: Aeneas spielt in DSS 379-382 auf die Bitten Kreusas an. statt den Heldentod zu suchen doch den gemeinsamen Sohn zu retten; der bei Vergil durch Götterzeichen verursachte Rückzug aus dem Kampf wird bei Hardy einzig durch Gatten- und Vaterliebe motiviert. Auch wehrt er zu erst noch erfolgreich die Vorwürfe der Gefihrten ab, wenn er beteuert, dass ihn nicht Liebe zu Dido, sondern pktas an Karthago binde (DSS 4 1 9), dass das Bestehen von Abenteuern einfacher zu ertragen sei als Gewis sensbisse (DSS 427f.) - dies steigert sich bis zu dem Wunsch, lieber tot zu sein, als ein schlechtes Gewissen zu haben (DSS 459) - und dass sowohl Himmel als auch Erde den "Undankbaren und llloyalen" straften (DSS 449-550) . Letztendlich ringt er sich doch noch zu einem Abschiedsent schluss durch: In einer Aussprache mit Dido hofft er, nicht nur ihr Ver ständnis fiir seine Entscheidung zu gewinnen. sondern auch einen Frei spruch von dem immer noch als pietädos empfundenen Verhalten (DSS 468f.). An dieser Stelle scheint (Liebes-)pietas eine zur Disposition stehen de, relativ im Auge des Betrachters liegende Größe zu sein, über die das Individuum ftei verfügen kann. Eine Form der individuellen Freiheit fin det jedoch im nun folgenden Chorlied der Troer bereits seine Einschrän kung: Analog zu der in Vergils empathischer Dido-Darstellung sichtbar werdenden Trauer um die Opfer des gleichwohl sinnvollen wie unabän derlichen Laufs der Geschichte31 bedauern die Troer ihr Festgelegtsein auf ein bestimmtes Lebensmodell - hier wird das Landleben gegen das des seefahrenden Kriegers ausgespielt (DSS 597-606)32 -, in das sie sich je doch fraglos fügen; ja sie wirken ihrer Determiniertheit gegenüber gerade zu unempfindlich angesichts des Wissens, dass die besungenen Bauern sich ihres Glücks nicht bewusst sein können.33 Und so vermag auch weder die liebende Frau noch die Fürstin Dido eine Entschuldung des Aeneas zu leisten; in ihren Augen kann sein Treuebruch nur als grober Verstoß ge-
Vgl. Viktor Pöschl: Die Dichrkunst Virgi1s. Bild und Symbol in der Äneis, Berlin 3 1 977, 54; Niall Rudd: "Didos 'Culpa"', in: Stephen J. Harrison (Hg.): Oxford readings in Vergil's Aeneid, Oxford 1 990, 145-1 66, hier: 1 65. 32 Unter diesem Blickwinkel erscheint auch die vorangehende Äußerung über den meineidigen und darum Rache verdienenden "Seemann" Theseus (vgl. DSS 593) in einem neuen Licht. 33 In Vers 605 heißt es über diese: "Heureux, s'i1s connoisoient leur felicite grande" �,Glücklich ,,[wären sie] ", wenn sie ihre Glüc k.� eligkeit kennten ' � ; warum sie ihr Glück nicht kennen können, wird nicht expliziert. Denkbar wäre, dass dazu eben eine Außens i cht au.� einem anderen "Berufsstand" heraus vonnöten wäre, was ja wohl wegen der sozialen Undurchlässigkeit nicht in Erwägung gezogen wird. Dies würde aber wiederum bedeuten, dass die fahrenden Krieger auch in man cherlei Hinsicht von anderen Ständen beneidet würden, ohne da.� s sie sich dessen bewu.�st werden könnten.
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jegliche Form der pieta.r-l4 erscheinen, der den Götterhass (DSS 755f.) auf sich ziehen müsse; eine andere Interpretation der pie/as ist aus ihrer Sicht nicht möglich. Hardy scheint in dem Streitgespräch der beiden Liebenden einigen Problemen der Vergilforschung geradezu vorzugreifen, wenn er Aeneas explizieren lässt, was viele Forscher für die Rettung von dessen pie/as bzw. die Klärung von Didos OclAapTia ins Feld fiihren:35 gen
(lEnee:) Paravant que te voir j'ay s�eu leur volonte, Comme aussy tu Ia s�eus, I'esclandre raconte, L'esclandre d'Ilion, une nuit continue Qu'il te plut des Troyens festoyer Ia venue. [Aeneas:) Bevor ich dich sah, kannte ich [der Götter) Willen, Ebenso wie du ihn erkanntest, als der Unglücksfall berichtet wurde, der Fall Ilions, eine ganze Nacht hindurch, während der es dir die Ankunft der Troer zu feiern beliebte.36
Mit den zwar auf Aen. 1 anspielenden Versen - ohne aber, dass die Er zählungen des Aeneas selbst Gegenstand des Dramas gewesen wären versucht Aeneas vorbeugend Dido von der Unrechtmäßigkeit etwaiger Vorwürfe zu überzeugen. Doch selbst der als Notlüge erfundene Besuch Merkurs37 lässt kein Abreißen der Vorwürfe zu, im Gegenteil: Dido ver-
34 Wie auch schon Pöschl, 31 977 (wie Fußn. 31), 101 , für die Vergilische Dido feststellt, verfillt diese "keineswegs also nur durch die Gewalt der Leidenschaft [ . . ) ihrer Uebe, sondern ebensosehr durch ihr inneres Hinneigen zu heldischem Wesen, durch ihren Sinn für Größe und Ruhm, durch die Bindung an ihr königli ches Werk." Im Gegenteil fallen in Didos Fall Helden- und Uebes-pieto.r zusam men: Unabhängig von ihren Gefühlen für Aeneas könnte eine mögliche Verbin dung mit diesem auch ein Gebot der Staatsräson sein. Ähnlich auch Rudd, 1 990 (wie Fußn. 31), 1 6 1 , der einen reinen Pflicht-Neigungs-Gegensatz in der Vergilischen Dido strikt zurückweist und das Augenmerk auf die Zukunft des karthagischen Volkes und der Nachkommenschaft des t}Tischen Königshau.�es lenkt. 35 So beispielsweise für den zweiten Fall: Reinhold Glei: Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und lrulturellen Dimension des Krieges bei VergiI, Trier 1 991 (ßochumer Altertumswissenschaftliches Colloqui um 7), 1 53; anders Pöschl, 31 977 (wie Fußn. 31), 54f., der von einer Schuld des Aeneas spricht, einem objektiven Einnisten in Karthago und einem Zaudern, u. Antonie W1osok: "Der Held als Ärgernis: Vergils Aeneas", in: Dies. (wie FuI�n. 22), 403-41 8, hier 41 1 , wo gerade das Schuldigwerden des Aeneas als be sonderes Merkmal seiner pieto.r herausgearbeitet wird. 36 DSS 761 -764, Übers. d. Verf. 37 Auch dies ist eventuell als Kommentar zu Vergil aufzufassen: Bei VergiI glaubt Dido, Aeneas würde göttliche Weisungen vorschützen, um ihren Einwänden den .
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flucht jetzt erst recht ganz wie in der Aeneis den Troerfürsten und kündigt an, ihn noch im Tod heimzusuchen (DSS 870-880), bevor sie in Ohn macht versinkt. An dieser Stelle greift Aeneas zu einer weiteren Argumen tationskorrektur seines Vergilischen Alter Ego, die aber offenbar weder von Dido noch von anderen Tyrern gehörr wird: Er schwört (siel), nach "Stabilisierung seines Schicksals" zurückzukommen (DSS 887-894), eine Idee, die er auf Annas Bitte, sie und Dido mit auf die Schiffe in Richtung Ausonien zu nehmen, mit einem Rückkehr-Versprechen erneut aufgreift (DSS 1 263-1 268) . Die mögliche Wiederkehr des Aeneas stellt nicht die einzige Alternati ve zu Vergils Konzept des Fatum dar, die Hardy in seinem Drama auf zeigt. Schon vorher hatte Anna Dido damit zu beruhigen versucht, dass nicht Aeneas sdbst, sondern, wenn überhaupt, Ascanius eines Tages auf brechen werde, um das italische Reich zu unterwerfen (DSS 21 1 -2 1 5). Auch der von Anna zur Sprache gebrachte Vorschlag der gemeinsamen Flucht von karthagischem Herrscherhaus und Aeneaden (DSS 1 256) zidt in diese Richtung. Gleichzeitig lässt er sich auch auf der Folie des allseits präsenten Ariadne-Mythos lesen. Geht die Vergi1-Forschung heute dahin, die Reminiszenzen an Catull catm. 6418 zugunsten der intertextuellen Be züge zum Medea-Epos des Apollonios Rhodios in den Hintergrund zu drängen,39 scheint die Klage der Ariadne allen Figuren von Hardys Tragö die präsent zu sein. Zweimal ist metaphorisch von einem Labyrinth die Rede (DSS 5 1 , 1 83),40 Aeneas wird mehrmals anband der in den Wind
Grund zu entziehen (Aen. 4,376-380). Bei Hardy ist der Zuschauer darüber im Bilde, dass der Tmerfiirs t tatsächlich diesen Besuch erfunden hat. 38 So spricht zumindest WendeIl Veroon (:Jausen: Virgil's Aeneid and ehe Tradition of Hellenistic Poetry, Berkeley u.a. 1 987, 4Of. noch von einer doppelten Bezug nahme Vergils, sowohl auf Apollonios Rhodios wie auch auf Catull . 39 So z.B. Glei, 1 991 (wie Fußn. 35), 1 55f.; Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1 999, 226f. und 292-294, sowie Damien Nelis: Vergil's Aeneid and ehe Argonautica of Apollonius Rhodius, Leeds 2001 (Arca 39); anders AIden Smieh: The primacy of vision in Virgil's 'Aeneid', Austin/TX 2005, 1 06, 1 1 0, 1 1 4, dem es indes weniger um Intertextualität geht, als um eine textimmanente Typologie des Sehens. Natürlich kann bei der Beurteilung der größeren intertextuellen Verbindlichkeit die Frage des Genres nicht außer Acht gelassen werden, was den Vergleich zwischen Rhodier und Manteser als den logischeren erscheinen lässt. 40 Und schon im metaphorischen Gebrauch des mythosschwangeren Ausdrucks "dedale" zeigen sich die unversöhnlichen Sichtweisen von Dido und Aeneas: Während Aeneas seine gegenwärtige Unschlüssigkeit so bezeichnet, ist in Vers 1 83 rückwärtsgewandt die existentielle Not gemeint, aus der Dido die Aeneaden gerissen hatte.
Hardys m""" " 'lIlrifomt. Ein 'Kommentar' zum vierten Buc:h der Amds?
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gerufenen Schmähworte der Minos-Tochter apostrophiert,41 seine Gefahr ten schelten ihn als Theseus (DSS 593) und Dido dient sich in Analogie zu Catull 64, 1 6 1 schließlich Aeneas als Sklavin an (DSS 779). Spinnt man diese Parallelität zum Ariadne-Mythos weiter, stößt man auf die Frage, ob Hardy mit dem Vorschlag der Anna nicht sogar eine Ausgangsalternative im Hinterkopf hatte, in der Anna als Figuration der Phaedra gedeutet werden könnte - was die Bitte um Mimahme in ein schlechtes Licht riickt.42 Wenn überhaupt scheint Hardy - statt wie Vergil auf die Medea aus dem Argonautenepos - auf die Protagonistin der Dramen des Euripi des und Seneca Bezug zu nehmen. Der Euripideischen Medea43 scheint das Bemühen darum enmommen zu sein, männlichem Ehrenkomplex gemäß zu handeln, in diesem Falle: zu sterben (DSS 1 52 1 f.), - und das, obwohl bei Hardy die positive Herrscherinnenbilanz (DSS 653-656), wie sie solche Gedanken einleiten könnte, völlig fehlt -, der Senecanischen Medea44 hingegen scheint die Selbstopferung als Sühneopfer für die Ma nen des Sychaeus (DSS 1 340) nachempfunden. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass das Hardy'sche Dido-Drama zwar vielerorts aus direkten Übertragungen aus Vergils viertem Aeneis-Buch besteht und sein effektiver Plot mit jenem übereinstimmt, dass aber durch Handlungs-Ummotivierungen und die Bezugnahme auf andere Intertexte gerade hinsichtlich der "Schuld [ . . . ] als Kehrseite der pietaf'45 neue Schwerpunkte gesetzt werden. Hardy, als "Dichter der Transformation" 41
Insbesondere sind das die Worte: "perfide" DSS 425, 652, 927 Carull 64,132f., 1 74, "emel" DSS 787 = trIIdem Carull 64,136 u. 1 75, "parjure" DSS 400,593 ptrillria Carull 64,1 35 u. 148. Dieser Eindruck könnte durch die Gegenlektüre von Hardys im seihen Band publizierter Tragikomödie ,,Ariadne ravie" (CA laut Stengel, 1 883-1884 (wie Fußn. 1) um 1 6 1 0-161 5) noch verstärkt werden: Hier nimmt Theseus sowohl die mit einem Eheversprechen zur Hilfe animierte Ariadne als auch die durch eine Verlobung mit Hippolytos gelockte Phaedra mit auf sein Schiff, um sich dann auf Naxos für die Weiterfahrt allein mit seiner neuen Liebe Phaedra zu entscheiden. Vgl. z.B. Eur. Med. 1 049-1 052; zum Kontrast zwischen der mit männlichem Mut weibsgemäße Dinge ausführenden Medea und dem mannsgemäße Taten mit un männlichen Tugenden vollbringenden Jason, s. von Kurt Fritz: "Die Entwicklung der Iason-Medea-Sage und die Medea des Euripides", A&A 8, 1 959, 33-1 06, hier: 62 u. 74f. Vgl. Sen. Med. 957; zum Sühnecharakter des Kindsmord� vgl. z.B. Bemd Seiden sticker: Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas, Heidelbetg 1 969 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, KF. 32 Diss. Hamburg), 95. Vgl. Otto SeeI: "Vergil und die Schuld des Helden (Aeneis, 6,468)", in: Ders.: Verschlüsselte Gegenwart. Drei Interpretationen antiker Texte, Sruttgart 1 972, 95- 1 1 0, hier 105. =
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44
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Maria l'vlateo Decabo
sowohl Renaissance-Dramatiker als auch Präklassizist,46 verlegt die bei Vergil erst von den Jupiter-Weisungen ausgelöste Krise ins Innere der Helden - eine dramaturgische Strategie, die der Klassizist Racine zur Meisterschaft ausfeilen wird - und erweitert sie um einige zumindest rhe torisch und gedanklich ausgestaltete Handlungs-Alternativen. Doch diese entpuppen sich - ganz barock - oft nur als Schein: Aeneas hätte in Kar thago bleiben und die Eroberung Ausoniens eines Tages seinem Sohn Ascanius überlassen können; er hätte Dido und Anna mit auf sein Schiff nehmen können; die Selbstanklage der Anna hätte nach Art eines Sün denbocks eine Entschuldung und damit ein Weiterleben der Dido möglich machen können; die angedeutete karthagische Teleologie hätte mit einem anderen Ausgang des Dritten Punischen Krieges in einer ruhmreichen Rache Didos münden können (DSS 1 704) . Auch das bei Vergil im sechs ten Buch ausgestaltete Unterweltsglück von Dido und Sychaeus wird hier nur noch unter dem Vorzeichen der gedanklichen Alternative, als "douce illusion" (DSS 1 470-1486), als Tagtraum, vorgestellt. Denn in letzter Kon sequenz wird sich der Krieger Aeneas, obwohl er sich bezüglich seines Schuldigseins gegenüber der liebes-pietos keinen illusionen hingibt - und hierüber scheinen gegenüber der Vergilischen Version keine Zweifel offen zu bleiben -, für die Einlösung seiner Helden-pietos gegenüber Gefährten, Sohn und damit auch gegenüber dem Schicksal entscheiden. Denn der Troerchor wird trotz des Wissens, dass das Landleben ihm größeres Glück bescheren könnte, das eigene Festgelegtsein mit Gleichmut ertra gen, ohne gleichwohl den Bauern die zum Glück nötige Außensicht ver mitteln zu können. Denn Dido wird in ihrer an der christlichen Lehre ausgerichteten Hoffnungslosigkeit keinen Zweifel daran lassen, dass ein Wiedersehen mit Sychäus nach der "Unzucht" (DSS 1 474)47 mit Aeneas nicht möglich ist. Der zeitgenössische Zuschauer mag die nur zum rhetorisch gedanklichen Aufscheinen dieser Alternativen führenden Ursachen fur sich in die eigenen von der Ständegesellschaft und dem christlichen Glau ben auferlegten Zwänge übersetzen. Die durch die Abwesenheit konkreter Götter und Befehle angedeutete vermeintlich größere Freiheit der dramatis personae führt zwar zu einer dramaturgisch positiven Span nungssteigerung, auf der anderen Seite aber auch zu einer größeren meta physischen Distanzerfahrung. Lässt sich der Vergilische Dido-Aeneas-
46 Vgl. White, 1 975 (wie Fußn. 5), 1 68f. Hier, in der nicht durch clie Institution der Ehe legitimierten Uebesbeziehung, wäre auch clie Irl1J!ische Schuld der Helclin zu suchen; das bei Vergil als Didos cllipa identifizierte Treueversprechen als Selbstverfluchung [vgl. Rudel, 1 990 (wie Fußn. 31), 1 521 fehlt bei Hardy jedenfalls völlig.
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Hardys Ditlo" " It1lrijiant. Ein 'Kommentar' zum vierten Buc:h der Amm?
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Konflikt auch als Widerstreit zwischen epikureischer und stoischer Le bensauffassung, zwischen Anthropozentrismus und Theozentrismus48 lesen, bleiben die Hardy'schen Helden sich selbst überlassen, ohne dass fiir erlitrene Zwänge direkt die Götrer oder das Schicksal haftbar gemacht würden.49 Der Götrerwille scheint schwerer ergründbar, eine Geschichts teleologie nicht vorhanden.50 Wenn Vergils Aeneas ohne inneren Zwie spalt der Weisung des Fatum folgt und das Leiden Didos in Kauf nimmt, dann nicht nur, weil letzteres leichter wiegt,5! sondern weil er sich in An betracht des der römischen Religion zugrunde liegenden "do ut des" Gedankens darauf verlassen kann, dass dies nicht umsonst sein wird. Ein Jahrhundert nach dem Thesen-Anschlag Luthers und 20 Jahre vor der Blüte der jansenistischen Bewegung in Frankreich scheint Hardy die Fra ge, wie die Erlösung des Menschen eigentlich zustande kommt, nur noch in dieser beider Sinne beantworten zu können. Keine der Hardy'schen Figuren versucht auch nur durch eine wie auch immer geartete Eigenleis tung pietos gegenüber den Göttern zu bekunden. Der vielfach beschwore ne Wankelmut des Menschen (DSS 55, 59, 63, 569f., 984f.) und der Gleichmut der Götter (DSS 982f., 1 359f., 1 7 1 9) sind darum - mögen sie sich auch aus den bei Vergil so deutbaren Passagen speisen - nicht Aus druck einer epikureischen Lebenseinstellung, sondern spiegeln die Sicht weise wider, dass göttliche Gnade eben nicht wie im römischen Epos durch menschliches Verhalten ausgelöst werden kann. Mag der im Titel angedeutete Charakter eines Kommentars auch nicht ganz erfüllt sein, Hardy jedenfalls wollte - nicht nur durch die in der Re zeption ohnehin schon implizierte Aufforderung zum Vergleich mit der Vorversion - den Leser explizit auf das Vergleichen stoßen, wenn er in seinem Vorwort schreibt: "Meine Didon [ . . . ] wird dir [sc. lieber Leser] die Freude bereiten, dass du meine Fassung mit denen der Anderen52 verglei chen kanns t".53 Dass ihm bei dieser Außerung vor allem ein Vergleich mit Vergil vorschwebte, mag nicht nur daraus hervorgehen, dass er an gleicher Stelle anfügt, die Didon sei "fast vollständig dem lateinischen Dichter
48 Vgl. Robert Deryck Williams: "Dido's Reply to Aeneas (Aen. 4.362-387)", in: Henry ßardon tLa. (Hgg.): Vergiliana. Recherehes sur Virgile, Leiden 1 971 ( Roma Aetema 3), 422-428, hier 426f. 49 So ist Z.ß. auch nie die Rede davon, dass Dido nur durch Junos und Venus' Werk der fatalen liebe zu Aeneas verfallen ist. 50 Die Gründung Roms wird nicht einmal erwähnt. 51 Vgl. Pöschl, 31977 (wie Fußn. 31), 80. 52 Zu den Vorgängern vgI. Fußn. 1 8. 53 Hardy, 1 884 (wie Fußn. 1), ßd. 1, 4f. =
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Maria Mateo Decabo
nachempfunden",i4 sondern auch aus dem hier Vorangehenden klar ge worden sein.
54 Ebenda.
Jakob Balde und der Rex Poetarum Vergil von der Plldicitia vindicata zur Expeditio Polemico-Poiitica. Ein Überblick* BeKARD LEFEVRE (Freiburg) Während Horaz Balde stärkstens inspiriert hat - mit den Carmina und Epodi in den der mittleren Periode angehörenden Lyrica und mit den Sermones in dem satirischen Spätwerk -, tritt Vergil als anregende Quelle zurück.! Das ist verständlich. Horaz ist - auch nach dem eigenen Sdbst verständnis - ein Meister der kleinen Formen, deren intimer Charakter dem Dichter Balde recht eigentlich den Mund öffnet. Nicht daß die vor den Lyrica (1 643) liegenden Werke ohne Bedeutung wäten,2 aber der große Ruhm beginnt mit der Horaz-Nachfolge, zu der ihn, wie man wohl sagen darf, die 1631 veröffentlichten �ricortIm /ibri qllallllor, Epodon liber IInlis a1terqlle epigrammallim des polnischen Jesuiten Kasimietz Sarbiewski (1 5951 640) inspiriert haben.3 Vergils Dichtung ist im Vergleich zu der des Lyri kers Horaz 'offizieller', auch wenn der streckenweise persönliche Charak ter der Werke, nicht nur der Bllco/ica, sondern auch der Georgica und der Aeneis, nicht zu verkennen ist. Unter diesen Umständen verdient es Beach tung, daß Balde in der 1 664 gedichteten Expeditio Polemico-Poetica sive Caslrllm 19norantitz Baotorum Arradllmqlle Regina a Poem Veteriblls ac Nouis
*
2
3
Das Manuskript ist an einer Reihe von Stellen durch Thorsten Burkard dankens werterweise gefördert worden. Einzelhinweise gibt Andree Thill : "Vergil-Rezeption im Werke Jacob Baldes (1 604-1 668)", WJA 8, 1 982, 129-136 = Dies.: Jacob Balde. Dix ans de recherche, Paris 1991 (fravaux et Recherches des Universires Rhenanes 7), 43-51, die S. 44 "Vergilnachahmung als Ausdrucksmittel und Ausschmückung" und "Vergilnachahmung als Grundempfinden und Anschauungsverwandtschafr" un terscheidet. Leicht erweiterte Darstellung: Dies.: ,Jacob Balde et Virgile", HumLov 32, 1983, 325-341 = Dies. 1 991, 53-68. tiberblick bei WlIfried Stroh: "Plan und Zufall in Jacob Baldes dichterischem Lebenswerk", in: Thorsten Burkard ILa. (Hgg.): Jacob Balde im kulturellen Kon text seiner Epoche, Regensburg 2006 Oesuitica 9), 1 98-244, dort 201 -221 . Leiden 1631, Antwerpen 1 632. Vorangegangen waren �yri(ol1I'" /ibri tres, Köln 1 625.
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Obsessum, expug"alllm, wersunI Vergil den führenden Platz unter den römi schen Dichtern zuweist. Es dürfte von Interesse sein zu fragen, welche Rolle der Mantuaner in den der Expeditio vorausliegenden Werken spidt. Freilich können in diesem Rahmen nur einige Spuren verfolgt werden.
I. Stationen der Vergil-Rezep tion im frühen und mittleren
Werk In der zu Baldes Lebzeiten nicht veröffentlichten P u d i c i t; a v ; " di c a ta , SeN Tm virgi"es a S. Nicolao Episcopo dotata. Triplici StJlo Poiitamm Statii, Llca,,;, et Virgilii5 zeigt sich Balde mit Vergil vertraut.6 Es handdt sich um ein Frühwerk. 7 Drei Sprecher - es sind wohl wie im Regnum Poetamm Schüler aus Baldes Humanitas-Klasse am Münchener Gymnasiums - sollen eine Episode aus der Legende des heiligen Bischofs Nikolaus (der drei von einer verarmten vornehmen Familie in ein Bordell gesteckte Töchter mit Gold auslöst) im Stil von Statius, Lukan und Vergil in Verse bringen und vortragen. Zunächst äußern sich Statius und Lukan zu der Aufgabe. Vergil hat das nicht nötig:9 Virgilium nemo qurerere audebat, quid sentiret, quando torus mundus sciebat, omnia Virgilium esse, & posse omnia. Vergi1 wagte keiner um seine Meinung zu fragen, weil alle Welt wußte, daß VergiI alles bedeute und alles vermöge.
Vergil wird von vornherein eine Ausnahmestellung zugedacht, die über den späteren Ausgang keinen Zweifd aufkommen läßt. Es folgen Statius' 4
5 6 7
8 9
Jacobi Balde e Societate Jesu Opera Poetica Omnia, Tomus I-VIII, München 1 729, Neudruck hrsg. und eingeleitet v. Wilhelm Kühlmann u.a., Frankfurt a. M. 1990, VI, 433. Die 1!xptditio (S. 433-475) wird wie alle anderen Werke Baldes nach dieser Ausgabe zitiert. Ihr folgen auch die Kursivierungen und die Majus kelschrifr. Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 305-31 7 (Seite 317 verheftet). Veronika Lukas: "Balde als Leser. Statius, Lucan und VergiI in der Plldicitia vindicatd', in: Burkard u.a. (wie Fußn. 2), 2006, 13-26. Georg Westerrnayer: Jacobu.� Balde, sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze, München 1 868, neu hrsg. \"On H. Pömbacher u.a., Ams terdam u.a. 1 998: zwischen 1 626 und 1 628; Wrilfried Stroh: Baldeana. Untersu chungen zum Lebenswerk von Bayerns größtem Dichrer, hrsg. von Bianca Jeanette Schröder, München 2004 (Münchner Balde-Studien 4), 309: 1627(?); Lu kas, 2006 (wie Fußn. 6), 1 4: im WInterhalbjahr 1627 / 1 628. Lukas, 2006 (wie FuUn. 6), 1 3. Balde, Opera (wie Fußn. 4), III , 306.
Jakob Baldc und der
IW<
P",fortlm Vergil
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und Lukans Versuche. Vergil ergreift als dritter das Wort. Die Einleitung, die der Sprecher gibt, verheißt etwas Besonderes:1o Jam vero longe qu2m maxime omnium animi, & vota erigebantur ad Virgi1ium audiendum, qui gravissimo vultu divinum aliquid, & Maroniano Cothumo dignum meditari videbatur; ne tarnen longam moram necteret, audientia sponte oblaci, ita cecinit. Aber schon längst richteten sich aller Denken und Wünsche nachdrücklich da rauf, Vetgil zu hören, der mit sehr gewichtiger Miene auf etwas Göttliches und der maronianischen Stilhöhe Würdiges zu sinnen schien; doch damit er nicht län ger eine Verzögerung bewirke, da man ihm bereitwi1lig Aufmerksamkeit entge genbrachte, sang er folgendermaßen. Am
Ende erkennen ihm die Hörer den Sieg zu: 1 1 Enim vero 'I/ix finem composito a d gravitatem vul tu dederat, ingens subito plausus secutus est laudantium tarn castarn & sinceram ubique dictionem. Hunc unum veri: Poetarn esse, qui affectus in versu & excitare, & rursus componere norit. Quanquarn aliqua capitum przcipitia non defuerunt, qui Sratium in multis excellentiorem assererent, integrwn autem opus inspiciendo, sine dubitatione Virgi1ium summ a.� tenere. Kaum aber hatte er mit gesetztem Antlitz geschlossen, als plötzlich gewaltiger Beiläll von denen erfolgte, die die so zuchtvolle und reine Au.�druck.�weise lob ten . Er sei als einziger wahrhaft ein Dichter, der Affekte im Vers sowohl zu we cken als auch wieder zur Ruhe zu bringen wisse. Freilich fehlten nicht einige Hitzköpfe, die behaupteten, Statius sei in vielem hervorragender, Vetgil aber halte unter Würdigung des Gesarntwerk.� ohne Zweifel den ersten Platz.
Hier werden für Vergils Vorrang die casta et sincera ubiquc dictio sowie die Beherrschung der Affekte1 2 in der Darbietung13 geltend gemacht.14
1 0 Balde, Opera (wie Fußn. 4), m, 314. 1 1 Balde, Opera (wie Fußn. 4), m, 317 (falsch paginiert statt 327). 12 Zu den Affekten bei Vetgi1 vgI. Rudolf Riek.� : Affekte und Strukturen. Pathos als ein Form- und Wirkprinzip von Vergils Aentis, München 1 989 (Zetemata 86). 13 Die Kriterien werden von Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 17 so erklärt ..Wenn das Epos eine exemplarische Verwirklichung des J!!RUS grande darstellt und wenn das Ziel des hohen Stils im "'OIJere besteht, dann hat VetgiI offenbar als einziger eine wirklich epische Dichtung vorgetragen." 14 Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 25 beobachtet, daß Balde besonders viele Vetgi1Zitate bringe, so daß der Text stellenweise läst wie ein Cento wirke. Es könne durchaus sein, ..daß er sich, als er diesen, den schlechthin vollkommenen Dichter, imitieren wollte, selbst etwas unsicher gefiih1t ha t, daß er sich eine Imitation sei ner spezifischen, musterhaften Sprache weniger zugetraut hat als die eines Statius und daß er durch wörtliches Zitieren sichergehen wollte."
1 90
Ebenfalls ein Jugendwerk aus dem Winter schriftlich P
0
erhaltene,16
unveröffentlichte
1 627 / 1 62815
Declamatio
seu
ist die hand Regnum
e t a r u m . In quo Stylus, cuiusque Poetre ad exemplum veterum
conformatur, eiusque diversitas cum materia: varietate alia Harmonia explicatur. 1 7 Balde gibt mitten
im
turn
etiam alia atque
Dreißigjährigen Krieg als
Lehrer seiner Gymnasialklasse eine Darstellung des Böhmischen Kriegs, den zwölf seiner Schüler im Stil von zwölf römischen Dichtern vortragen. Nach Hor32, Lukrez, Lukan, Ovid, Martial, Plautus, Catull und Seneca sprechen als neunter und zehnter Statius und Claudian - die wie Lukan auch schon in der Pudicitia vindicata eine Rolle spielen. Nach einem auf lockernden Intermezzo des Satirikers Juvenal kommt als krönender Ab schluß Vergil zu Wort, "der Dichterkönig", der "die Schlacht am weißen Berge und Maximilians Heldenmuth gewaltig vor fiihrt. " 1 8 Die Konstellati on ist in epischer Hinsicht der der Pudicitia vindicata vergleichbar. Wieder wird Vergil über die Konkurrenten, auch Statius und Claudian, erhoben. 1 9 Während der Orator eine Einleitung i n den Wettstreit gibt und wie meis tens auch Martial zwischen den einzelnen Kontrahenten das Wort ergreift, wird Vergils Vortrag weder eingefiih rt noch kommentiert. Er steht
für
sich, womit sein einzigartiger Rang dokumentiert wird. 2u Es fehlen somit aber auch Kriterien, die die Vorzugsstellung begründen. Die rezitierten
95
15 Westermayer, 1 868 (wie Fußn. 7), 34: Epiphanias 1 628; Stroh, 2004 (wie Fußn. 7), 309: nach Epiphanias 1 628. 16 Die Hancl�chrift wird von Peter Lebrecht Schmidt: "Balde und C1audian. Funkti omgeschichtliche Rezeption und poetische Modernität", in: Jean-Marie Valentin (Hg.): Jacob Balde und seine Zeit, Bern 1 986 (Jahrb. fiir Internat. Germanistik A 1 6), 1 57-184 Ders.: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überliefe rung der lateinischen Literatur, hrsg. von Joachim Fugmann / Martin Hose / Bemhard Zimmermann, Stuttgart 2000, 356-372, hier 367-368 beschrieben. Der Einblick in eine vorzügliche Photokopie wird Eckart Schäfer verdankt. 17 Westermayer, 1 868 (wie Fußn. 7), 34; Schmidt, 2000 (1 986) (wie Fußn. 16), 356358; Stroh, 2006 (wie Fußn. 2), 206-208. 18 Westermayer, 1 868 (wie Fußn. 7), 34. 19 "Welch ein Werk! Es ist in der Tat erstaunlich, wie es hier dem gerade erst vier undzwanzigjährigen Lehrer Balde gelungen ist, die Stileigentürn1ichkeiten so vie ler verschiedenartiger Dichter und Gattungen nachzubilden, ohne die Sache je ins Lächerliche zu treiben - es handelt sich ja um keine Parodien im heutigen Sinne und vor allem ohne im Übermaß Verse oder Versstücke aus den nachgeahmten Autoren zu borgen. Kein Zweifel: Hier wollte Balde seinem Lehrer Keller und vor allem sich selber beweisen, dass er ein Dichter sei, der es auf allen Gebieten mit den Klassikern aufnehmen könne" (Stroh, 2006 (wie Fußn. 2), 207-208). 20 Dieser geht ferner wohl daraus hervor, daß zuvor die Chronologie der Ereignisse eingehalten wird, Vergil sich aber zu der Schlacht am Weilien Berg von 1620 zu rückwendet. =
Jakob Balde und der
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Pol!/ortlm Vergil
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Verse,21 die weder ein Proömium22 noch einen Epilog aufweisen, sollen für sich sprechen. Der Orator sagt zu Anfang grundsätzlich, daß es nur auf den Stil, nicht aber auf die Darstellung der Affekte ankomme: Stylos ita moderabirnur, ut potius diuersitas dignosci possit, quam ut meris affectibus, qui cum metro transeant, seruiat. Die Stile (der einzelnen Dichter) werden wir so vorführen, daß mehr ihre Ver schiedenheit (überhaupt) erkannt werden kann, als daß diese (d. h. die Verschie denheit) den bloßen Affekten (d. h. der Darstellung derselben) dient, die mit dem Vers (d. h. mit der Rezitation) voruberrauschen.
Der Stil der einzelnen Dichter ist wichtiger als deren Darstellung von Affekten. Nach der Rezitation kann man sich an den Stil23 gut erinnern, nicht aber an die vorgeführten Affekte.24 Damit werden die beiden Krite rien angesprochen, in denen Balde Vergil sich am Ende der Pudicitia vindicata vor den anderen Dichtern auszeichnen läßt: casla el sincera ubique dictio und eifJectus in tJerSU el excitare el mrsus componere. diclio entspricht dem stylus, in versu dem metrum. Baldes Blickwinkel ist in diesem Fall einge schränkter als beim ersten Unternehmen. Beidemal wird Vergils Stil der erste Rang zugewiesen. Die 1 643 erschienenen L y r i c a zeigen dem Genos gemäß keinen syste matischen Einfluß Vergils, wenn er in motivischer und sprachlicher Hin sicht auch vielfach präsent ist. Zwei Beispiele mögen seine ganz unter schiedliche Aufnahme vorführen. Daß Balde Vergil eher zitiert als nachbildet (was selten ist), zeigt Lyr. 1 ,8 Eqllus Troianus.25 In dieser Ode sind die Anspielungen auf den alten Dichter ingeniös. Balde vergleicht das Wagnis der Protestanten im Drei ßigjährigen Krieg, den Schwedenkönig Gustav TI. Adolf in das Land zu Hilfe zu holen, mit der Einholung des Hölzernen Pferds durch die verHermann Wiegand: ,Jacob Balde und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges seine poetischen Gestaltungen der Schlacht am Weißen Berg 1620 im Vergleich", in: Burkard u.a. (wie Fußn. 2), 2006, 71-89, hier 79-82. 22 "Im Geist VergiIs geht er sofort f1Iedias ifl rel' (Wiegand, 2006 (wie Fußn. 21) , 79) . 23 Balde folgt VergiIs Stil in freier Weise. Nach Wiegand, 2006, (wie Fußn. 21) , 82 ist festzustellen, "dass die Gestaltung des Stückes 'stylo Maroniano' nicht bedeu tet, dass sich Balde - bis auf wenige Versatzstücke - phraseologisch oder in der Bildsprache eng an VergiI angelehnt hätte." 24 Wenn man den Satz so versteht, muß man weder mit Stroh, 2006 (wie Fußn. 2) , 206 statt sertli"t seTlli"tNr noch mit Leonhardt (da.�e1bst Anm. 68) sentiaflt konjizie 21
ren .
25
Eckard Lefevre: ,Jakob Baldes I'.quus Troidflus (�yr. 1,8)", in: Ders. (Hg.): Balde und Horaz, Tübingen 2002 (NeoLatina 3), 49-58.
192
Eckard Lcfc"rc
blendeten Trojaner im Trojanischen Krieg: Natürlich bedeutet beides Unglück. Deshalb hat die Ode den Untertitel
penn.
Germaniam suir cupiditatibus
Die Erzählung von dem Priester Laocoon und der sich seinem Rat
verschließenden Landsleute aus dem zweiten Buch der
Aeneir ist
zu allen
Zeiten berühmt gewesen. Balde setzt daher voraus, daß die Rezipienten sie genau im Ohr haben. Denn nur so können sie den virtuosen Umgang mit ihr verstehen. Die wörtlichen Aufnahmen der bekannten Vergil Wendungen26 beweisen nicht die Einfallslosigkeit des jesuitischen Dich ters, sondern im Gegenteil seinen Einfallsreichtum im Umgang mit der gefeierten Vorlage. Als Beispiel sei die fünfte Strophe angeführt:
urgente Fato fata quis arceat? praesagiebat Laocoon dolum: sed in cavemas nempe frustra (20) impulerat moniturus hastam. Wer könnte das Geschick abwehren, wenn das Fatum drängt? Laocoon sah die üst vorher: Aber vergebens hatte er bei seiner Jl.lahnung (20) die Lanze in die Höhlung geschleudert. Hier scheinen nacheinander folgende vergilische Dicta aus dem zweiten Buch der Aeneis auf: fatoque urgenti hastam
(50 / 52),
(653);
cavernae
(53);
impulerat
(55);
zu denen der jeweilige Zusammenhang zu assozüeren
ist. Denn auf diesen kommt es an, wenn man das souveräne Spiel mit dem 'Original' erkennen will . Balde geht wie ein alexandrinisch-neoterischer Poet vor. Das Gedicht lebt bewußt von dem Bezug auf Vorgegebenes. Ein ganz anders geartetes Beispiel ist die Ode
mOTtuales.27
Lyr. 2,33 Chonae
In ihr erscheinen nachts tanzende Schatten der Toten und
fordern in eindringlichem Gesang die Lebenden auf, des Tods eingedenk zu
sein. Das ist eine volkstümliche Vorstellung. Der ebenso bekannte
"Totentanz", bei dem der Tod selbst mittanzt, ist nicht gemeint.28 Dem Thema gemäß wird auf das Unterwelt.'ibuch der
Aeneir angespielt,
ja man
26 Im einzelnen: Lef'evre, 2002 (wie Fufln. 25), 55-56. 27 Andree Thill: ,,(:imetiere et Champs Elysees. Jacob Balde, ChOf'lial morf1la/es (L)'ri ca, 11, 33) et Virgile, I !niide, VI", in: Hommage a Jean Granorolo, (Annales de la Faculte des Lettres et Sciences Humaines de l'\ice 50), Paris 1985, 339-347 = Dies. 1991 (wie Fufln. 1), 123-134. 28 Die Übersetzung von Chof'liae morf1la/,s als "Totentanz" (Johann Baptist Neubig: Bavaria's Musen in Joh. Jak. Baldes Oden, aus dem Latein in das Versmall der Crschrift übersetzt, Bd. 11, München 1829, 149; Max Wehrli: Jacob Balde, Dich tungen, Lateinisch und Deutsch, in Auswahl hrsg. und übers., Köln u.a. 1963, 71) ist daher mißverständlich. Thill gibt den Titel genau wieder: "Danses des mons".
Jakob Balde und der
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Pol!/ortlm Vergil
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hat dieses als "hypotexte" bezeichnet.29 Doch ist das irreführend. So ver schieden die Situationen der Gefilde der Abgeschiedenen bei Vergil und des Gräberfdds bei Balde sind, so dezent sind die Hinweise auf den alten Dichter.:l() Die Charakterisierung "palimpseste"31 darf nicht
zu
der An
nahme verleiten, hier werde Römisches in Christliches oder wenigstens: in Zeitgemäßes übertragen. Im Gegensatz
zum EqulIJ Troianu!
käme Balde
auch ohne die Bezugnahmen aus. Es handdt sich gewissermaßen
um
ein
poetisches Plus, das zu der inhaltlichen Präsentation hinzutritt. Der Jesuit wendet die ttaditionelle "Szene behutsam ins Lyrische und Humanisti sche".32 Neben dem Epiker Vergil ist Balde auch der Bukoliker Vergil vertraut. Am Anfang des zweiten Buchs der
�rica
JY/Va8, die in demsdben Jahr wie die E c log a e ,33 die in Form, Namengebung, und viden Wendungen an die Bucolica erinnern.34 In der einlei
erscheinen, stehen fünf
Schauplatz
tenden Widmung sagt Balde
zu
der ungewöhnlichen Aufnahme des
Genos:35
Pastorales Odas, Iatissima significatione ECLOGAS inscripsi, non nescius, hoc, sive canendi, sive sermocinandi genus, Lyricis varibus familiare non esse. At enim neque singuli Sylvas scripserunt, in quib1L� resonare possenL Deinde, cum Lyra propria pastorum sit; cut non Lyrico metto a:que ac Heroico, gaudia ruris emodu Ianda videantur? Ländliche Oden habe ich in weitester Bedeutung 1!cloJ!.oB genannt, wohl wissend, daß diese Art des Singens bzw. Disputierens lyrischen Dichtem nicht eigen iSL Aber nicht wenige Qyrische Dichter) haben Silven geschrieben, in denen sie ihr Inneres widerhallen lassen konnten. Zudem: Da die Lyra den Hirten eigen ist, warum sollten die Freuden des Landes nicht im lyrischen Maß ebenso wie im he roischen (d. h. im Hexameter, dem Versmaß der /3l1colica) gesungen werden?36
29 30 31 32 33 34
Thill, 1991 (1985) (wie Fußn. 21), 129. Im einzelnen: Thill , 1991 (1985) (wie Fußn. 21).
Thill, 1991 (1985) (wie Fußn. 21), 132.
Wehrli, 1963 (wie Fußn. 28), 130. Balde, Opera (wie Fußn. 4), 11, 36-48. Anton Henrich: Die lyrischen Dichtungenjakob Baldes, und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völ ker 122), 172. 35 Balde, Opera (wie Fußn. 4), 11, 35. 36 Zwei Wendungen mögen auf antike Stellen zurückgehen, 1f!sonare auf Verg. ecl. 1,5, emoJulanda (in derselben Form) auf Ov. am. 1,1,30. Beide wären passend auf die Gattung bezogen, im ersten Fall bei dem Vergleich Lyrik I Bukolik (bei Ver gil lehrt Tityr1L� die Wälder, den Namen seiner Geliebten widerhallen zu lassen;
194
Balde versteht sich als
Lyricus vales,
dessen Gebiet nicht die größere
Eklogendichtung ist. Doch beruft er sich auf andere Lyriker, die Silven geschrieben hättenY Vielleicht hat er die Jilvi/udia seines großen Vorbilds
für
die
Aufnahme
der
horazischen
Oden-
und
Epoden-Dichtung.
Sarbiewskis, im Blick,38 die zwar erst mehr als ein Jahrhundert nach dessen Tod gedruckt werden, von denen er aber sicher gehört oder gelesen hat.39 In einem Brief vom November
Sarbiewski im Blick auf das
Werk selbst von seinem
1 637 spricht !yricus impetus.41.1 Zwar
geht es vornehmlich
um
die
Schönheit der ländlichen Szenerie, doch vergiBt der Jesuit darüber den
Himmel nicht. So hat das fünfte der zehn Gedichte den Titel: Poem prata ac si/vas perambN/at, dum AN/ici venatui vacant, JeN Calestir Amoris amanitas.41 Baldes Eclogae sind religiösen Inhalts. Die Hirten. deren Namen mit einer Ausnahme aus Vergil bekannt sind, besingen Maria und Jesus.
1 . Mopsus und Lycon (Dapbnis nalus: sive Cbristi infontia, in Betblebemico sta bNIo; a PastoribNs cu/ta), 2. Alexis, Corydon und Titytus (Certamen pastoritiNm Partbenij Amoris, efl.a pNerum JesNm, & Virx. Matrem), 3. Corydon und Me nalcas (De forma pNeri JEJU & Maria Virx. C..ARMEN AMOEB.,-EUM), 4. Tityrus und Lycidas (Dapbnis occisus: sive bistoria Cbristi patientir), 5. Tityrus und Lycidas (LaNs Cbristi JE SN Jen/atoris, & Detestatio Proditoris. In persona Dapbnidis Christus exprimitur: In persona Idmonis JNdas Iscbariotes. Unde Dira Jcariotica nomen sumserunt, qNibNs de/IOvetur in Ps. fO/{). Wieder müssen die Gedichte für sich sprechen. Poetologische Erklärungen werden nicht gegeben. Insgesamt handelt es sich um ein zusammenhängendes Beispiel
37 38
39
40
41
bei Balde steht kein Objekt), im zweiten Fall bei dem Vergleich Heroische Dich tung I Lyrik. Henrich, 1915 (wie Fußn. 34), 173 Anm. 1 verweist auf Friedrich von Spee (In deutscher Sprache). Daß Sarbiewski eine Reihe von wörtlichen Endehnungen aus dem titelverwand ten Pastoraldrama lJIdovittis. TmJ{icu1ll .\Ylvillldilllll des italienischen Jesuiten Mario Bettini übernimmt, steht auf einem anderen Blatt. Hierru wie überhaupt zu den .l"ilviINdia eingehend Lore Benz: "Sarbiewskis Silvillldia", in: Eckart Schäfer (Hg.): Sarbiewski. Der polnische Horaz, Tübingen 2006 (NeoLatina 11), 255-269. Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissu.�, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands, Wiesbaden 1976, 126 erwägt, daß Sarbiewskis Lyrik Balde von polnischen Adligen unter seinen Studenten in Ingolstadt nahegebracht wurde. Vgl. Eckard Lefevre: "Die wandernden Musen. Jakob Baldes Huldigung an Sarbiewski (Sylv. 5,19)", in: Schäfer, 2006 (wie Ful�n. 38), 231-243, hier 240. Benz, 2006 (wie Fußn. 38), 255. Matthiz Casimiri Sarbievii e Societate Jesu, Carmina. Nova editio, prioribus longe auctior & emendatior, Paris 1791, 338.
Jakob Balde und der
IW<
Pol!/ortlm Vergil
fiir die Parodia Christiana, die Balde so oft praktiziert.42 Die
195
Eclogae zeigen
gut, daß die Neuformungen zugleich einen spielerischen und einen seriö sen Charakter haben. Wie die Renaissance- und Barock-Baumeister antike Bogen, Portiken, Säulen oder Kapitelle in neue Zusammenhänge über nehmen und dieser Vorgang nicht als Erfindungsarmut, sondern als Neu belebung einer wertvollen alten Tradition empfunden wird, ist auch Baldes Vorgehen zu verstehen. Er vennittelt mit Hilfe der alten Vorstel lungen und Formulierungen ein neues - christliches - Weltbild, an dessen Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln ist. So sagt er mit einem passenden Ver gleich im Dit hy ra1llbus Parthenill1"3 selbst:44
Multa vetustatis spolia & fragmenta profarue Roma sacros nova vertit in usus. Viele Spolien und Fragmente des profanen Altertums wendet das Neue Rom zu heiligem Gebrauch.
An diesem Neuen Rom45 baut der religiöse Dichter Balde mit. Der Dit hy rambus Parthenius a versibus /yricis steht am Ende des zweiten Buchs der Sylvae, dessen Anfang die fünf Eclogae bilden. Er bietet gewissermaßen die Theorie zu der in ihnen vorgeführten Praxis. Die
Eclogae vermitteln in der
bisherigen Betrachtung einen ganz neuen
Aspekt der Vergil-Nachfolge: Der alte Dichter wird genosbildend. Seine Vorbildhaftigkeit ist dominant. In
der
p o e ti c o
poetologischen von
1 658,46
Schrift
D i s s e rt a t i o p rtBVia, de s t ll di o Vll itu o StZ To rvitatis Enco1lliu1ll,
der Einleitung zu dem
die "in gewisser Weise das Resümee aus einem langen, an Erfahrungen reichen Dichterleben" zieht,47 erhält Vergil en passant seinen Platz. Bei
42 Ausführlich: Martin Heinrich Müller: 'Parodia Christiana'. Studien zu J acob Bal des Odendichtung, Diss. Zürich 1964, bes. 84-122. 43 Müller, 1964 (wie Fußn. 42), 91; Andreas Heider: Spolia Vl�tustatiS. Die Verwand lung der heidnisch-antiken Tradition in Jakob Baldes marianischen Wallfahrten: Parthenia, Silvae II 3 (1643), eingeleitet, hrsg. und erläutert, Münchner Balde Studien 1, München 1999, 145-180. 44 Balde, Opera (wie Fußn. 4), n, 63-65. Dazu: Heider, 1999 (wie Fußn. 43), 158160. 45 "Neu-Rom ist, ganz im Sinne des Begriffspaares sacer-projänus, das christliche Rom im Gegensatz zur antiken, heidnischen Homo vetul' (Heider, 1999 (wie Fußn. 43),158). 46 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 319-357 (teilweise verheftet). 47 Thorsten Burkard: Jacob Balde, Dissertatio de studio poetico (1658). Einleitung, Edition, Übersetzung, Kommentar, München 2004 (Münchner Balde-Studien 3), p. I.
196
der Besprechung der Epithalamien von Catull, Statius und Claudian weist Balde Claudian Paris' Apfel, d. h. den ersten Preis, zu, Statius aber sonst48 nach Vergil überall den ersten Preis, Ego II/Jimo [seil. Clalldiano] assignarem: Statio post Vergi/illm in omnibus primas.49 Es ist ein hohes wb, doch sähe man es in einer theoretischen Schrift gern begründet. Das ist nicht der Fall. So kann man zu dieser Stelle nur lakonisch feststellen: "Vergil ist a u c h in der Expeditio der unumstrittene rex poetaTllm, das allreae aetam primari11m sitbtl '.50 Eine solche 'Wahrheit' bedarf für Balde keiner Rechtfer tigung.
II. Vergil als archisttategu s in der Expeditio Polemico-Poetica 1 664 verfaßt Balde die Expeditio Polemico-Poetica sive Casttum Ignoranti3: Breotorum Arcadumque Regin3: a Poetis Veteribus ac Novis Obsessum, expugnatum, eversum ..i! In ihr geht es in der allegorischen Form eines regelrechten Feldzugs um das Bestreben der Neulateiner, die von Petrarca angeführt werden, humanistische Studien und Dichtungen gegenüber der 'Ignoranz' an den Schulen und Universitäten zu verankern. Die Burg der Unwissenheit (lgnorantia) wird zuerst von bedeutenden neulateinischen Autoren (poetae neoterici) zu erobern versucht, doch sind sie zu schwach. Es kommt zu manchen komischen Szenen. Daraufhin probieren es die klassischen Autoren (poetae veteres) unter der Führung Vergils. Tatsächlich wird die Burg erobert, doch die Dummheit kann ent fliehen. Balde wertet die Neulateiner nicht gegenüber den Klassikern ab; vielmehr beruhen die Neuen auf den Alten, und beide leiten gemeinsam die Renaissance ein. So geistreich-satirisch das kleine Werk ist, so ernst meint Balde seine Hauptthese und die Wertungen der einzelnen Dichter. Im 15. Kapitel werden in verschieden begründeter Reihung 18 römi sche Dichter bemüht: Vergil, Horaz, Ovid, Lukan, Seneca, Statiu.�, Silius, Claudian, Ennius, Lukrez, Catull, Tibull, Properz, Plautus, Terenz, Martial, Juvenal, Persius. Der senahlS be/ficus berät über das Vorgehen. Im 1 6. Kapi tel geht es darum, welcher Part Vergil strategisch zuzuweisen sei:52 48 Nach Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 1 7 eingefügt. 49 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 317 ( fal sch paginiert statt 327). 50 Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 144 (Sperrung ad hoc). Das Zitat wird in dem folgenden Kapitel nachgewiesen. 51 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 433-475. Gute Einführung: Peter Lebrecht Schmidt: "The Battle of Books auf Neulatein: Jakob Baldes 1i.xptditio polemico poeticrl', AU 27.6, 1 984, 37-48, 74-81 = Ders. 2000 (wie Fußn. 1 6), 340-355. 52 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 452f.
Jakob Baldc und der
lWc
P",fortlm Vergil
197
Rebus mature deliberatis, per majora suffragia, in hane sententiam pedibus poeticis irum est. Prima: non placuit, VIRGillUM educi in eampum, ad minus honorificum eerramen. Non decere ej1L� Majesratem, uni nido Breoti:c expugnan do vaeafe. Ad nova l'e'l!.al1la, Urbemque Lmni, vel Artkal1l Dauni, meliu.� reserva ri. Tune enimvera eum suo lEnea & Turno, Pandaro & Bitia, gloriosius processu rum. 1!q1l1l11l Troianlll1l, honestt opponi asinis non posse. rectius faeturum Maronem, si permanens in rabernaeulo, Dicratoris curam s1L�cipiat, & ad bellum ituros, ex lon ginquo dirigat. Assensum est a plerisque: non ramen ab omnib1L�, quippe retor quentibus argumenrum. Inscitiam per scientissimum utique expugnandam esse; adeoque Virgilium quam maxime adhibendum. intereesserunt ezteri, in quem u sum belli arguti:c Critieorum speeulatriees? Inter arma non rantUm silere subtiles nugas, sed & Leges. Scilieet si Pagus rumultuetur: ad eomprimendam vilium rusti corum seditionem, Aehilles statim vel Heetor cirabiturl suffieiet quisque inferioris ordinis tribun1L�, vel eenturio. Laudavere responsum omnes. STATIVS eerti:, quamvis :cmulatione satis manifesra przfervidum, :cgriits fortasse la rurum metue bant, Thebaidtm suam ejus pedibus sratim subjecit, sie librum affatus: [Theb.12,816] [Theb.12,817]
nee tu di"oinam lEneida tenra: Sed longe sequere, & vestigia semper adora. PROPERTIUS pr:ceonem agens elata voce:
[2,34,65] [2,34,66]
Cedite RDmani scriptortS, ceditt Graij, Nescio, f/llitl majm nascitllr Jüade.
Nachdem man die Lage reiflich beratschlagt hatte, einigten sich die Dich ter unter größerem Beifall auf folgenden Beschluß: Erstens solle Vergil nicht
zu
einem weniger ehrenvollen Kampf ins Feld gefiihrt werden. Es
zieme nicht seiner Majestät, sich mit der Eroberung eines Wmkels von Böotien abzugeben. Er werde besser für das neue Troja, Latinus' Stadt oder Daunus' Ardea aufgespart. Denn dann werde er mit seinen Gestalten Aeneas und Turnus, Pandarus und Bitias ruhmvoller vorrücken. Das tro janische Pferd könne den Eseln nicht in ehrenvoller Weise entgegenge stellt werden. Richtiger werde Maro handeln, wenn er
im
Feldh errnz elt
bleibe, das Amt des Diktators übernehme und die in den Krieg Ziehenden aus der Ferne dirigiere. Von den meisten kam Zustimmung, aber nicht von allen;
ja,
sie drehten das Argument
um:
Die Unwissenheit müsse
durch den Wissendsten ganz und gar unterworfen werden; deshalb sei Vergil am meisten vonnöten. Die übrigen wandten ein, welchem Kriegs nutzen spekulierende Spitzfindigkeiten der Kritiker dienten? Im Krieg schwiegen nicht nur subtile Lappalien, sondern sogar Gesetze. 'Natürlich: Wenn ein Dorf in Aufruhr gerät, werden gleich Achilleus oder Hektor zitiert,
um
einen Aufstand gemeiner Bauern zu unterdrücken! Jeder unter
geordnete Tribun oder Zenturio wird genügen.' Alle lobten diese Anrwort. Obwohl sie fürchteten, Statius werde sich in seinem offenbaren Wettstre ben erregen und es vielleicht ziemlich übelnehmen, unterwarf er seine
Thebais sofort den Füßen Vergils, indem er das Buch
so ansprach:
198
Eckard LcfCvrc
Nicht eifere der göttlichen Aentis nach, sondern folge ihr in einigem Abstand und bete stets ihre Spuren
an.
Properz übernahm die RaUe des Herolds und rief mit erhobener Stimme: Weicht, ihr römischen Schrift.�teUer, weicht, ihr griechischen, etwas Gröf3eres als die llias entsteht.
Einige Erläuterungen zum Text: nidus: = Winkel (eigentlich: Nest), vgl. Mart. 1,117,15; 7,17,5. Vergils majestas: ebenso Kap. 18. nova Pergama: das neue Troja, die Nachbildung des zerstörten Troja durch den geflohenen Priamus-Sohn Helenus in Epirus (Aen. 3,336, 350). Urbs Latini: Latinus ist König von Latium, seine Residenz Laurent(i)um; die Junktur urbemque Latini findet sich Aen. 6,891. Ardea Dauni: Daunus ist Turnus' Vater; über Turnus wird Aen. 10,688 gesagt: Dauni defertur ad urbem. Gemeint ist Ardea in Latium. Aeneas und Turnus: Hauptkontrahenten in der zweiten Hälfte der Aeneis. Pandarus und Bitias: Aen. 9,672-755 wird die Episode der trojanischen vom Ida stammenden riesigen Brüder Pandarus und Bitias geschildert (672 gibt das Stichwort: Pandarus et Bitias, Idaeo Alcanore cretl). Turnus erschlägt beide im Kampf. Die berühmte Erzählung lehnt sich an die Tat der beiden Lapithen Polypoites und Leonteus im 12. Buch der Ilias an. asini: Die Bewohner der Burg werden gleich zu Anfang mit wenig schmei chelhaften Namen belegt. Dementsprechend gibt es einen Pons asinorum und eine Turris asinaria zum Schutz der Befestigung (Kap. 3). Dictatoris cura: vgl. Kap. 22: sed interposuit auctoritatem Dictatoriam VIRGILIUS. Ein Diktator wurde in Rom nur in Notsituationen, zudem zeitlich begrenzt, ernannt. nec tu [...] adora: Statius spricht mit diesen Worten am Ende der Thebais (12,816f.) sein Buch an, das auf den Vorrang der Aeneis hinweist. Cedite Romani [...] Iliade: Properz kündigt 2,34,65f. mit diesen Worten das Entstehen der Aeneis an. Vergil wird von vornherein auf ein besonderes Podest gehoben. Der Rang ist unbestritten, nur über seine Rolle sind sich einige zunächst nicht im klaren. Man fürchtet, daß sich der (kampferfahrene) Epiker Statius zu rückgesetzt fühlen könnte. Doch der attestiert mit den Versen aus der Sphragis der Thebais selbst den Vorrang der Aeneis. Hier begegnet diesel be Plazierung Vergils vor Statius wie an den besprochenen Stellen in der Pudicitia vindicata, im Regnum poetarum und in der Dissertatio de studio poetico. In witziger Weise avanciert Properz zum Kronzeugen, den Balde
Jakob Baldc und der Rex Po,'amm Vcq,.;J
199
seinen Ausruf an die griechischen und römischen scriptores zitieren läßt, die Aeneis werde etwas Größeres sein als die Dias! Die antiken Dichter präludieren dem Urteil des modemen Kollegen. So hat Vergil das nötige Ansehen, bei der Rivalität zwischen Juvenal und (dem Satiriker) Horaz einzuschreiten (Kap. 22):53 Sed interposuit auctoritatem Dictatoriam VIRGILIUS: remitterent hos spiritu.. communi bono: (nam HORATIUM a1iquis horror perstrinxerat) Servarent hanc ferociam in veros hostes. Aber Vergil schritt mit seiner Autorität als Diktator ein: Sie sollten diese Zorn ausbrüche zugunsten des gemeinsamen W'ohls aufsparen: (Denn Horaz hatte Entsetzen gepackt) Sie sollten sich diese Wrtldheit (für den Angriff) gegen die wahren Feinde reservieren.
Der Diktator entscheidet. So ernennt er Statius zum Anführer, nachdem sich Lukan falsche Hoffuung gemacht hatte (Kap. 24):54 Veruntamen inani spe delusus, ludibrio se obnoxium prrebuit. Quippe Jl.laro paul10 post hanc Provinciam Papinio Statio demandaverat; & fatebantur omnes, post MARONEM, nullum certius grandiusque Heroieo passu incedere. Aber in eitler Hoffnung getäu..cht, bot sieh Lukan dem Gespött dar. Denn wenig später hatte Vergil diese Aufgabe Papiniu.. Statius übertragen; und alle bekannten, nach Vergil gehe niemand sicherer und großartiger im heroischen Schritt einher.
Damit wird eindeutig der Ameis der erste, der Thehais der zweite Preis gereicht. Balde jongliert in der Expeditio mit den Versen der alten Dichter. Der Poeta doctus schreibt für Lectores docti. Denn nur, wenn man die Subtexte kennt - wie in der besprochenen Ode Lyr. 1,8 Eqlllls Troianlls -, versteht man den Witz der Zitate. Das gilt besonders für Kap. 26-28, in denen es eine längere Auseinandersetzung zwischen Vergil und Claudian gibt.55 Sie entzündet sich an der Entscheidung Vergils, Statius als zweiten Mann nach sich zu bestimmen und Claudian auf den dritten Rang zu ver weisen. Ausgangspunkt ist die Frage, zu welcher Tageszeit man die Geg ner angreifen solle. Persius empfiehlt die tiefe Nacht, Claudian den hellen Tag, Statius die abendliche Dämmerung, Ovid den Morgen. Hierauf hält 53 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 455. 54 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 456. 55 Zum Thema Balde und Claudian in neuerer Zeit Schmidt, 2000 (1984) (wie Fußn 51); Schmidt, 2000 (1986) (wie Fulin. 16), 356-372; Marie-France Gineste: "Claudien et les satires de Jacob Balde", in: Gerard Freyburger u.a. (Hgg.): Balde und die römische Satire / Balde et Ia satire romaine, Tübingen 2oo5 (NeoLatina 8), 25-40; Lukas, 2006 (wie Fulin. 6), 24f.
200
Eckard Lcfc"rc
Vergil als Anführer eine Rede, auf die Claudian zunächst laut antwortet und sodann einen inneren Monolog anfügt. Schließlich spricht Vergil ein Machtwort. In der geistvollsten Weise wird der Rang der Dichter be stimmt.56 XXVI. [...] Cur enim Auroram OVIDIUS? nisi quia sopore vix deterso, statim promptus est ad factitandos versus. Vel summo mane paratum invenies, fatali felicitate. Quomodo orto sole, aves, simul atque evigilaverint, momento temporis vestiuntur, lavantur, pectuntur, comuntur, canunt. At STATII operosior Poesis, non sine mora & pompa, in caliginem aliquam declinat, sacrum horrorem spirans, prresertim, cUm A rma)luunI, /on.f!/sque cr.p<Jt sin.gu/tibus aumm
fTheb.7,682]
Creterum, ut crepuscula vespertina non omnino injucunda sunt, ita licet aliquid obscuritatis invehat Thebais, ingrata rudibus; tarnen bis senos mu/tilm vi.f!//ata57 per annos, eruditas aures mulcet. Macte Vatum doctissime. Parlhenope, qure tibi Patria est, mea Nutrix fuit. Macte, inquam, & sub vesperum, si potes, invade stolidos hostes ac debella. Miruml si asini, jem hinnitum equi IVeapo/itani qUtant. Jarn vero Persianas noctes, ad victoriarn vel claritatem nominis consequendarn, nemini sua serim. exhalant Satyrre hujus Viri graves nebulas. Omnia crassis vaporibus fu mant, non tanturnmodo inimicurn Lectorem, sed & amicurn terrentia. XXVII. His e diametro contraria opponuntur scripta, CL. CLAUDIANI. quibus nihil esse illustrius pronuncio. etiam noctem in diem vertit. etiam,5R cUm ln/mti &ploris equos, Orphnreurn & Alastora, ex imis terne cayernis profert, radiatis yer sibus fu1get. In Spadone vexato quam severe splendidus, quanta acrimonia festivus! (vultumque ad Jun. Juyenalem conyerterat, Yelut invidiam moturus) In matis Con su/ibllJ /audanms quam copiosus ac nitensl porro quoties Hymentzum cecinit, aut ca lathos deliciis Heliconii Veris exoneravit Tunc & So/i! equos, tune eXSII/ltlrse chorm Astr<J, jemnt: me/lisque /acus, &fotmina /ams 1!rupisse Solo. tunc & Ca/Ioda risit I-:/oribus, & roseis /ormosus Duna npis. in .\·tilic.
[21,84] [2 1,85] [21,86a / laus Serenae 7 1 a]
laus Serenae 72]
Obstupuerunt omnes ad hoc VIRGIUI prreconium, quod STATIUM lauclasset; meritum fuisse submissione. qualis in Claudiano non reperitur. At quantum hocl Regem Poetarum , aurere retatis primarium sidus, sie extollere quadringentis pOst annis natum, Aorentia:! an Canopi dubitabilem yemam? cUro jam a7,enfeum quo que secu/um in as, si non in jerrum degenerasset. Sed cut a f10ribus & forma, & ni-
56
Balde, Opera (wie Fulln. 4), VI, 457-459. Vergils und Claudians Reden sowie Claudians innerer Monolog sind in Anführungszeichen gesetzt. 57 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 457: v�pj/afa. 58 Balde, Opera (wie Fulln. 4), VI, 457: pronundo etiam nomm in diem vertiti etiam, cum. VgL Schmidt, ZOOO (1984) (wie Fulln. 51), 353.
Jakob Baldc und der � p..fan<mV"rgi!
201
tore, & tanrum non apertius a calamistro & Stibio commendavit? Sagaciores a1i qui, MARONIS facetiam, leporem, jocum, quidam & colltentpllllll interpretabantur. Ipse cette CLAUDIANCS in ancipiti stetit, famam suspectans. Nam nimia laus, proxima vituperio est. Ergo ut e!iceret veram mentem; ipse quoque laudatori suo alienos versus, ex iEneide reposuit. Halid equidelll tali IIIe ditJr0r hOllore. () qlltlll tt IIIelllorelll, VA71':'\� lIantqllt halid tibi vu1lus
[Aen. 1 ,335b] [Aen. 1 ,327]
Mortalis: IItC /JOX holllinelll sonat icta Deo mens
[Aen. 1 ,328a]
Totum nurnen habet. QII8I tt tatn Itzta III1e17l1l1
[Aen. 1 ,605b]
(5) SeC1lIa? qui tanti ttJ/elll genlltre pamttes?
[Aen. 1 606]
In.freta dmnfowii CIIITlIllt, dmn IIIontibllS II1IIbrtz
[Aen. 1 ,607]
Lmtrabunl cof/IJeXa: PoiRS dmn sidtm pasctt:
[Aen. 1 ,608]
Semptr honos, nOlllenqlle 11111111, IaNdtsqllt IIIalltbllllt
[Aen. 1 ,609]59
Hzc dicens posuit genu, Dictatorem veneratus. ille procumbentem mox allevavit, pmfessus vera & seriö dixisse; omninoque velle, ut PAPINIUM, quem secundurn a se agnoscat, semper exttrior comiwetur. conscenderent uterque eqllos, quos tantis plausibus celebd.ssent. ex 1I"!J11a Pegasi flIIXisse caf7llina, quz in caballorum phaleras & frena surnptuose sparsissent. Quibus signis abstergenda erat suspicio, geminata est, & crevit in mente CLAUDIANI: omninö VIRGILIUM pergere manifestius jocari, & quodammodö mimurn agere. Laudat equos meos, quorum cursurn jubasque & omamenta descripsi! Ac si tqllilia Manlllana !ib. 3. Georg. sta tuta non intrasseml ubi Continllo pecoris gtlltrosipllllNs in ams("
[georg. 3,75]
AinUs ingredifllr, & IIIoUia trIIra reponit.
[georg. 3,76]
Cirr:ulllstanlproperi Aurig8l, IIIanibllSque WWUllt
[Aen. 1 2,85]
l'ecfom plaRSa Cf1IJis, & co/Ja colllantia peclllnt.
[Aen. 1 2,86]
XXVIII. H= tacire securn. dissimulavit tarnen etiam hac vice, & pressit vocem. Turn VIRGIUUS: Quod dixi, repeto. STATlI individuus comes esto. Alttrulll ab aIttro ttmptrrJ/Idulll ctnsto. IDe tibi majestatem addet: tu vicissim ipsius caligantibus Thebis serenam lucem affundes. In hac verö expeditione contra Barbaros, volu mus, jubemus, ut 8Jl!IItn
59 An das Zitat ist die falsche Angabe Jljntid L 2 angefügt. 60 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 459: 8f7IIis (so auch in der Au.�gabe von 1 664), wa.� wohl ein Druckfehler ist. Th. Burkard erwägt eine bewußte Anderung Baldes.
202
26. [...] "W arum hat Ovid die Morgenröte genannt? Doch nur, weil er sofort, sobald er den Schlaf gerade erst abgewischt hat, zum Versemachen entschlossen ist. Sogar in aller Frühe wirst du ihn bei seiner fatalen Fruchtbarkeit bereit finden - so wie die Vögel bei Sonnenaufgang sofort nach dem Erwachen im Augenblick sich ankleiden, waschen, kämmen, schmücken und singen. Statius' ausgefeiltere Dichtung dagegen, die nicht ohne langsames Voranschreiten und Pomp ist, neigt zu einer gewissen Dunkelheit und atmet heiligen Schauder - besonders wenn die Weiffenfli�{fen lind mit langen Jeujzem das Gold trlÖnt.
Wie im übrigen die abendliche Dämmerung nicht ganz unerfreulich ist, so ergötzt die durch �rJah� viel durr:hwachte Thebais die gebildeten Ohren, mag sie auch einige Dunkelheit mit sich führen, die den Ungebildeten unangenehm ist. Glück auf, gelehrtester Dichter! Neapel, das dein Vater land ist, war meine Amme. Glück auf, sage ich, und greif am Abend, wenn du es vermagst, die törichten Feinde an und besiege sie. Es wäre ein Wun der, wenn die Esel das Wiehern des neapolitanischen Pferds aushalten konnten. Aber Persius' Nächte möchte ich niemandem empfehlen, um Sieg oder Ruhm des Namens zu erringen. Seine Satiren atmen dichten Nebel aus. Alles raucht von drückendem Dunst, der nicht nur den feindseligen, sondern auch den geneigten Leser erschreckt. 27. Persius' Werken stehen diametral entgegengesetzte Schriften gegen über, nämlich die C..laudians. Ich verkünde, daß nichts lichtvoller ist als sie. Er verwandelt tatsächlich die Nacht in Tag, ja wenn er die Pferde des Räubers aus der Unterwelt, Orphnaeus und Alastor, aus den innersten Höhlen der Erde hervorholt, leuchtet er mit strahlenden Versen. Wie streng blitzt und wie scharf leuchtet er im Verspotteten Eunuch! (Er hatte das Gesicht zu Iunius Iuvenalis gewendet, als wolle er seinen Neid anstacheln.) Wie glän zend ist die Wortfillle in der Wahl der iobreichen KonSllin! Ferner: Wie oft hat er ein Hoch�itslied gesungen oder Körbe mit Köstlichkeiten vom früh lingshaften Helikon entleert! Dann solltn die Rom der Jonne, dann die Jteme im ReiHn /l,efani! hahen und Teiche von Hon� und rliisse von Milch fJIIS ehm Boden /l,estromt stino Dann aIIch lachte Gafj?(jen mit mumen lind ehr schöne Duria mit rosenhestandenen llftm. "
Alle waren starr über diese Verkündigung Vergils. Daß er Statius gelobt hatte, habe sich dieser durch Unterordnung erdient - wie sie bei Claudian nicht gefunden wird. Aber wie unglaublich sei das denn! Der König der Dichter, das erste Gestirn des Goldenen Zeitalters, lobe dermaßen den vierhundert Jahre nach ihm Geborenen, den Sklaven, von dem man nicht wisse, ob er in Florenz oder Canopus geboren worden sei, als schon das Silberne zum Ehernen, wenn nicht Eisernen Zeitalter degeneriert sei? Warum
Jakob Balde und der
IW<
Pol!/ortlm Vergil
203
aber sprach er in seiner Empfehlung von Blumen, Schönheit und Glanz und nicht offener von Brenneisen (Schnörkelei) und Augenschminke? Einige Klügere legten Maros Aufgeräumtheit als Scherz und Witz aus, andere aber auch als Spott. Claudian wenigstens war sich im unklaren und vermutete üble Nachrede. Denn zu großes Lob liegt nahe bei einem Ta del. Damit er also Vergils wahre Meinung herauslocke, setzte er auch selbst seinem Lobredner fremde (d. h. nicht eigene) Verse aus der Aeneis vor: "JVicht haih ich mich so/ebtr 1ihreflir wiirdi/l,. () wie nmne ich dich, Dichter? Denn du htJSt kein sterbliches Ant/it� tkine Stimme ist nicht die rines Menschm. Mein Geist ist gottgettoffen und gotterfü11t. Welche /l,likkJicbt Zeit hat dieh henm1]!!bracht? Wekbt betkutendm 1'.ltem hahen dich ge�ugt? Solange Fmsse in das Meerf1ießm, solan/l,e auf IJe'l!!shän/l,en .Ii:hathn wandern, solange der Himmel die Gestirne wtitkt: Immer 1lIertkn tkine I f.hre, drin Name und tkin RlIhm bleibtn... Mit diesen Worten beugte er das Knie und erwies dem Diktator Reverenz. Der hob den Knienden sogleich auf und versicherte, daß er wahr und ernsthaft gesprochen habe. Er wolle auf jeden Fall, daß er Statius, den er als den Zweiten nach sich anerkenne, immer �r Unken begleite. Sie beide sollten Pferde besteigen, die sie unter solchem Beifall der Leser gerühmt hätten. Aus Pegasus' Huf seien die Gedichte geströmt, die sie reichlich auf dem Brustschmuck und den Zügeln der Pferde verbreitet hätten. Durch dieses Signal, durch das er hätte zerstteut werden müssen, wurde der Verdacht in Oaudians Kopf verdoppelt und vermehrt: Es sei klar, daß Vergil fortfah re, offen zu scherzen und gewissermaßen ein loses Spiel zu tteiben: "Er lobt meine Pferde, deren Lauf, Mähnen und Schmuck ich beschrieben habe - als hätte ich den Mantuaner PferdestaU, der im dritten Buch der Georgica errichtet ist, nicht betreten! Wo sO/l,leieh das Fohlen aJlS edler Herde /l,eriisttt ShJlZ einhetgeht und die Ueine geschmeidig aJlfrelif. Ringsumbtr stehen die riihri/l,en Wagenlenhr und tätscheln mit hohler Hand die Umst der Pftrtk �nd kämmen die Mähnen an tkn Hälsen. "
28. Das sprach er zu sich. Dennoch verbarg er dieses Mal seine Stimme und unterdrückte sie. Darauf Vergil: "Was ich schon sagte, wiederhole ich. Sei Statius' unzertrennlicher Begleiter! Ihr sollt euch gegenseitig untmtii�n. Er wird dir Hoheit verleihen, du wirst deinerseits sein nebliges Theben mit heiterem Licht übergießen. In dieser Expedition gegen die Barbaren wol len, ja befehlen wir, daß du den Reittr.{'!lg und die von Erz bliihenden Scharen ftihrst. Denn wir haben Kunde erhalten, daß dort zur Linken der abscheu lichen Burg Steppen öde daliegen, die von Stacheln, Dornbüschen und Sträuchern übersät sind. Es besteht Hoffnung, daß der Ort durch deine
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Lilien und Rosen wieder reinlich werde. Mit diesem großen Aufwand an Florentiner Blüte wird alles leicht bedeckt werden." In Kap. 26 wird zunächst Ovid kurz abgetan. Wenn ihm eine fatausft licitas attestiert wird - offenbar Vidschreiberei -, könnte das eine Verball hornung der cunosa ftucitas sein, mit der Eumolpus Horaz auszeichnet.61 Die Empfehlung des Morgens durch Ovid mag darin begründet sein, daß er bereits früh am Tag zu schreiben beginnt, um möglichst vid zu schaf fen.62 Statius' Dichtung wird demgegenüber eine operosior poesis genannt. OPeroSIiS dürfte dassdbe meinen wie cunoslis. Vielleicht ist direkt auf Horaz angespidt, der seine Oden im Gegensatz zu Pindars Gesängen operosa carmina ('sorgfaItig gearbeitete Gedichte') nennt.63 Balde ist die Umdeu tung der stilkritischen Termini zuzutrauen. Statius' dunkler Stil ist treffend erfaßt. Das wahrlich obskure Zitat st ammt aus der Thebais (7,682): Capaneus durchstößt mit einer Lanze den Schild des goldbewehrten Bac chu..�-Priesters Eunaeus, so daß ihm die Waffen zu Boden 'fließen' und sein langes Stöhnen an dem Gold widerhallt! Balde läßt Vergil geradezu genial fortfahren: Wie die abendliche Dämmerung nicht ganz unange nehm sei, dürfe auch die Thebais einige Dunkelheit aufweisen. Damit nimmt er Statius' Vorschlag auf, die Feinde in der abendlichen Dämme rung anzugreifen! Da dieser aber zwölf Jahre lang das Epos nächtdang ausgefeilt habe (0 mihi, bissenos multum vigilata per annos I Thebai (Theb. 12,811f.), entzücke es die Gebildeten. Einen besonderen Gruß verdiene Statius zudem, weil er au..� Neapd stamme, wo Vergil von Siro unterrichtet worden sei. So hübsch das gesagt ist: Das Qualitätskriterium ist nicht auf die Goldwaage zu legen. Statius möge also gegen die Feinde in der (begin nenden) Dunkelheit vorgehen (wozu er nach Vergils Meinung durch die Dunkelheit seines Stils qualifiziert ist). Es wäre ein Wunder, wenn die Esd (d.h. die Bewohner der Burg)64 dem Wiehern des neapolitanischen Rosses (d.h. Statiu..�)65 widerstehen könnten. Hierauf wird Persius' Vorschlag, in der Nacht anzugreifen, mit der paradoxen Begründung abgelehnt, sie
61
62 63 64 65
Petron. 1 1 8,5 (Ehlers: "umsichtige Genialität"; Schnur: "auf höchster Sorgfalt beruhende glückliche Wortwahl des Horaz"). Vielleicht ist zu verstehen: ,,glückli che Sorgfalt". Das Frequentativum joetitandos ist wohl abwertend. Hor. carm. 4,2,31 f. Vgl. zur Bezeichnung arini oben die Erklärungen zu Kap. 1 6. Der tfJllu.r Ntopo/ifanliS könnte geistreich auf den a1L� Neapel stammenden Autor des berühmten Einleiturtgsgedichts der Si/va., des f �fJ"IS Maximu.r Domitiani Imptratoris anspielen. Auch die Bewohner der Burg werden ja durch eine Tierme tapher umschrieben.
Jakob Baldc und der Rex Po,'amm Vcq,';1
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tauge nicht, Helligkeit des Ruhms und des Namens zu erringen! Wieder wird die strategische Empfehlung mit dem Charakter des Werks in Ver bindung gebracht: Die Satiren seien so dunkel (nebelhaft) , daß sie Freund und Feind erschreckten - ein gewiß modemes Urteil. Damit ist nach Ovid am Anfang nun auch Persius sowohl hinsichtlich seines Kriegsrats als auch hinsichtlich seiner Dichtung erledigt. In Kap.
27
wendet sich Vergil Claudian zu, der zum hellen Tag als
Angriffszeit geraten hatte: Nichts sei luzider als seine Schriften.66 ilJustris ist mit fuccre/ lux verwandt. Wieder steht - in geistreicher Kombination - der Stil der Werke mit der vorgeschlagenen Strategie in Zus ammenhang. Doch damit nicht genug des Witzes! Zum Beweis beruft sich Vergil auf die Schilderung der Pferde des Unterweltsgotts Pluto, der aus der Tiefe mit dem Gespann kommt, um Proserpina ist der Anfang des ersten Buchs des Epos
zu rauben (infemi raptnris cquos Dc raptu Proscrpinae). Damit ist
das im folgenden beherrschende Pferdethema angeschlagen. Zwei Rosse werden zitiert: Orphnaeus und j\lastor (rapt. Pros.
1,284/ 286). Abermals cx imis ferrac cavemis,
gebraucht Vergil ein Paradoxon: Die Pferde kommen
aber C1audian schildert sie ramatis vcrsibus. Sodann wird der Glanz - das ist der weiterleitende Begriff - der Invektive gegen den Eunuchen Eutropius, der
399
Konsul von Ostrom wurde, gerühmt.67 Das Lob des satirischen
Werks gibt Vergil Veranlassung, einen Seitenhieb gegen den schärfsten römischen Satiriker, JuvenaI, von sich
zu
geben. Auch als Autor der Preis
gedichte auf die Wahl der Konsuln Honorius, Theodorus und Stilicho erhält Claudian die Lichtrnetapher nitens. Ferner rühmt er das Epithalamium de nuptiis Honorii Augusfi68 und das Epithalamium dictum Palladio V. C. tribuno cf notario cl Celerinae.69 Vergil schließt seine Rede, indem er C1audian selbst zitiert, zunächst mit Dc consulatu Stifiehonis 1,84-86a, sodann Laus Serenac 71b-72.70 Die beiden Stellen sind kunstvoll kombiniert; die erste bezieht sich auf die Hochzeit von Stilicho und Serena, die zweite auf die Geburt Serenas.71 Bei Balde erscheinen sie als fortlaufender Text, in den er tune cf einfügt. Man soll das am Anfang angeschlagene Pferdethema durch alle
66 Vgl. zu diesem Passus Gineste, ZOO5 (wie Fußn. 55), 30. 67 Spada vexalNs ist eine lässige Umschreibung für In Uutropium (DiIs. tk sflld. poet. 8 spricht Balde von dem Irrisus Spada). Vg!. im folgenden creatir C'onsulibus laudandis. 68 I-!)'mentltus volkstümlich für I ipithaJamium. 69 Dieses findet sich unter den kleineren Gedichten (Z5). 70 Auf die letzten anderthalb Verse aus dem Loblied auf Stilichos Frau Serena trifft die Bezeichnung in Sti/ie. im Druck von Balde, Opera (wie Fußn. 4) nicht zu. 71 Die zitietten Verse dienen als Beleg dafür, daß Claudian, wie Vergil einleitend sagt, Körbe mit Frühlingsblumen vom Helikon ausschüttet. Der vierte Vers nimmt die Blumenmetapher auf (floribus / rosciI).
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Eckard Lcfi:vrc
vier Verse hindurch im Ohr behalten. Das ist insofern raffiniert gedacht, als Galizien in der Tat durch die Pferdezucht berühmt war.72 Der Witz liegt aber darin, daß in dem nächsten Vers (uus .ferenae 73), den Balde fortläßt, von Schafen die Rede ist! Der Claudian-Kenner soll das natürlich bemerken - und würdigen. Alle sind darüber ve rwundert, daß Vergil Claudian derart preist. Wie könne das erste Gestirn der Goldenen Latinität einen Sklaven zweifelhaf ter Herkunft - aus Ägypten oder Florenz73 - so rühmen, der vierhundert Jahre später geboren sei, als das Goldene Zeitalter zu einem Ehernen, wenn nicht Eisernen herabgesunken war? W arum spreche er von Blumen, Schönheit und Glanz, statt das Gekünstelte der Dichtung herauszustel len?74 Während Einsichtigere Vergils freundlichen Esprit erkennen, ist Claudian selbst über dessen Absicht im ungewissen. Um die wahre Mei nung zu erkunden, verleiht er seinerseit... mit Vergil-Zitaten der Verehrung des großen Dichters Ausdruck. Der folgende Cento ist noch witziger als der, der ihm zuteil wurde. Den ersten Vers richtet Venus an Aeneas, die dem Sohn vor Karthago in Menschengestalt gegenübertritt, aber von ihm als Göttin apostrophiert wird (Aen. 1,33Sb).75 In gleicher Art weist Claudian die nach seiner Ansicht unverdiente Würdigung durch Vergil zurück. V. 2-3a ent...pricht Aeneas' Anrede an die als Jungfrau verkleidete Mutter: 0 quam te memOT'llm, virgo? namque haud tibi voltus I mor/alis nec vox hominem sonal (Aen. 1,327-328a). Das ist geistreich. Wenn es bei Balde quem [ . . . ] vales statt quam [ . . . ] virgo heißt, erschließt sich nur dem Vergil-Kenner die Pointe, ebenso bei der folgenden Feststellung, weder Antlitz noch Stimme sei die einer Sterblichen.76 V. 4b-8 sind Aeneas' Dankrede an Dido entnommen (Aen. 1,60Sb-609)77 und werden von Claudian auf den
72 In der Laus .\"emzae heißt es kurz vorher über Spanien (wo Serena geboren wurde), es sei dives equir (v. 54). Callaecia wird herausgegriffen, und den Duria könnte man als Südgrenze dieses Landesteils bezeichnen. Grattius ()'n. 51 4 spricht von CaJ/aeci (Enk: CaJ/aia) equi. 73 Der Irrtum geht wohl auf Petrarca zurück: Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 1 34. 74 Vgl. calamistro ef .\"tibio: "gekräuselter und geschminkter Stil" (Schmidt, 2000 (1986) (wie Fußn. 16), 364). 75 In ernsthaftem Sinn (als Parodia Christiana) bezieht Balde die Apostrophe auf Maria L)'r. 4, 40, 1 0 quam ft memorem, Dea; dazu Eckard Lefevre: , ,Antike Gestalt und neuer Gehalt. Betrachtungen zur Form des Hymnus bei Jakob Balde", in: Yves Leh mann (Hg.): L'hymne antique et son public. Recherehes sur les Rhetoriques religieuses 7, Turnhout 2007, 689-713, dort 693f. 76 V. 3b-4a (ad hoc recte wiedergegeben) sind offenbar Ü berleitungen Baldes im Stil klassischer Dichter. 77 Die Au..gabe von 1729 druckt in V. 6 CIImmt, Vergil setzt wie bei den folgenden Verben das Futur (cuTTen!).
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'göttlichen' Vergil bezogen, dessen Ruhm ewig währen werde. Beidemal wird der 'jungfräuliche'78 Vergil mit Apostrophen bedacht, die er selbst an Frauen gerichtet hat. Die Anerkennung ist inhaltlich perfekt, die Form zweischneidig. Claudian schlägt Vergil mit seinen eigenen Waffen. Das ist ein kleines Meisterstück. Damit nicht genug. Balde läßt Claudian vor Vergil das Knie beugen und seine Verehrung darbringen. Doch der versichert, er habe alles ernst gemeint. Seinen Stellvertreter Statius solle Claudian zur Unken79 begleiten - beide auf Pferden, die sie so trefflich besungen hätten, kämen doch aus Pegasus' HufschlagB° die vielen Verse, die sie auf den Schmuck und die Zügel gedichtet hätten. Natürlich ist das schon wieder ein Scherz, denn Pegasus fördert alle Dichtung, nicht nur Pferdepoesie! Claudian bemerkt das deutlich, gestaltet seine Erwiderung aber nur in der Form eines inne ren Monologs. Er bereut es, den 'Mantuaner Pferdestall' der Georgica be treten zu haben. Gemeint ist die Darstellung der Pferdezucht im dritten Buch der Georgica (3,72-122) des aus Mantua stammenden Vergil, aus de ren Anfang zwei Verse (75f.) mit zwei Versen aus der Aeneis kombiniert werden, in denen geschildert wird, wie Wagenlenker bei Turnus' letzter Ausfahrt die Pferde tätscheln (Aen. 12,85f.). Auch sie gehören zum Mantuaner Pferdestall. Damit hat Claudian, wie vorher Vergil, Pferdemo tive aus dem Werk des Kontrahenten zitiert. Es steht unausgesprochen 1 : 1. In Kap. 28 läßt Balde Vergil Claudian, der Statius nachzustehen hat, mit diesem. Zunächst wird wiederholt, daß Claudian Statius' unzertrennlicher Begleiter sein soll. Sodann wird die Ebene des Kampfs wiederum mit der des Stils vermischt, indem Claudian von Statius Erhabenheit (mcgesta.r) und Statius (nebliges Theben, d.h. dunkle Thehais) von Claudian heiteres Ucht (serena lux) bekommen sollen. In dem Vergilzitat agmen agens equi/um ef jlorentis aere caferoas (Aen. 7,804) klingt das Pferdethema noch einmal an. Vielleicht hat die Erinnerung an diese Worte eine tiefere Bedeutung. Denn die kriegerische Tüchtigkeit ist die einer Frau, der Volskerfürstin Camilla, die Anmut mit Kraft verbindet - eben das, was Vergil den beiden Dich tem empfiehlt.
78 Sueton (Donat), Vita 1 1 . 79 Anspielung auf Hor. sat 2,5, 16f. ne lamen illi I 111 comes exterior, si posfllfet, irr rrCllstI. "comes exUrior scheint nur hier vorzukommen [ . J. Erklärt wird es sogleich mit fa IIIs tr.1!/1 [1 8J, dem stehenden ursprünglich militärischen Ausdruck vom unterge ordneten Begleiter, der im allgemeinen zur Unken des Höhergestellten geht" (vgl. den Kommentar von Kießling / Heinze 1 921 , 283, mit Belegen). 80 Der Hufschlag des geflügelten Rosses Pegasus ließ die Mu,enquelle Hippokrene am Helikon ent,tehen . .
208
Eckard LcfCvrc Wenn die Rede mit dem Lob der reinigenden Wirkung von Claudians
lieblicher Dichtungsart schließt, ist vielleicht das Fazit zu ziehen, daß Balde einen Stil, der, grob gesagt, in der Mitte zwischen Statius ' und Claudians Ausdrucksweise liegt, als einzigen betrachtet, der dem Vergils an
die Seite treten könnte.
Die geistreichen Reden Vergils stellen nicht nur eine Ho mmage an den großen Dichter dar, sondern spiegeln auch - darin liegt der tiefere Sinn Baldes eigene Wertung der besprochenen Dichter wider. In der Form der Satire betreibt er Literaturkritik - wie sie im alten Rom dem Genos imma nent ist. Während der Stil nahezu aller anderen Dichter (zum Teil auch aus heutiger Sicht) treffend charakterisiert wird,81 fällt auf, daß Vergils Aus nahmesteIlung nicht nachgewiesen wird. Er ist einfach, wie es in Kap.
27 Rex Poifta17lm, aJlrr:tl tltam primarium sidus. Sein Spitzenplatz wird nur in den Jugendschriften Pudicitia vindicata und, weniger explizit, Regnum Poeta17lm begründet. Freilich darf das als communis opinio in Baldes Zeit
heißt,
angesehen werden. Wenn Vergil mehrfach bei den Rivalitäten der die Burg belagernden Dichter überlegen eingreift und dabei sogar witzige Züge erkennen läßt, stützt sich diese Zeichnung nicht auf den historischen Vergil, dem die Antike eher zurückhaltende 'jungfräuliche' Züge beilegt.82 Die Souveräni tät als Feldherr -
VlRGIIJUM, quasi Arrhistrategum, primas tmere, quis nescit?
sagt Balde im NachwortS3 - wird nicht aus dem 'Leben', sondern aus dem literarischen Rang hergeleitet. Daneben ist ein spielerischer Grund wichtig. Vergil ist wegen der Schlachtschilderungen der
Ameis Sachverständiger für
Fragen des Kriegs und der Kriegsführung. Er zeichnet sich durch den
heroicus passus
aus.84 In eben der Weise, in der er bei dem Feldzug unter
den alten Dichtern als erster Stratege anzusehen ist, erweist sich Hierony mus Vida unter den neueren aufgrund seiner
Jchacchias
als Feldherr, der
den ersten Angriff gegen die Burg der Ignorantia leitet (Kap. 7) .85 Die in dem literarischen Werk niedergelegten Strategien kommen beiden Dich tern im Kampfgeschehen zugute!
81 82 83 84 85
Lukan,
Statius und Claudian stehen
Schmidt, 2000 ( 198 4) (wie Fußn. 51), 3 46. Vgl weiter oben zu Kap. 27. Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 475. Vgl. weiter oben das Zitat aus Kap. 2 4. Eckatd Lefevre: "Kritik und Spiel - Julio.. Caesat Scaliger (Pott 6, 4) und Jakob Balde (I'.xp. 4-7) über Michael MaruI1o..' rako (Iipigr. 1 , 4)", in: Den;. o.a. (Hgg.): Michael MaruI1us. Ein G-rieche als Renaissancedichter in Italien, Tübingen 2008 (NeoLatina 15), 265-276, hier 272f.
Jakob Baldc und der
IW<
P",fortlm Vergil
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hinsichtlich der Quantität ihrer Schlachtschilderungen hinter Vergil nicht zurück - wohl aber nach Baldes Urteil hinsichtlich der Qualität. Es ist zu sehen, daß Balde in seinem Gesamtwerk Vergil nicht generell nachfolgt. 86 Die Ursache dafür liegt darin, daß Balde für die Lyrica und Jywae der mittleren Periode und die satirische Dichtung der späten Zeit Horaz unbestritten am meisten verdankt. Dessen persönliche Ausdrucks weise liegt ihm mehr als Vergils fast stets ins Allgemeine strebende Poesie. Ein 'deutscher Horaz' ist er geworden,87 ein deutscher Vergil zu sein hat er nicht angestrebt.
86 Thill, 1 991 (1982), 43. 87 Schäfer, 1976 (wie Fußn. 39).
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker. Seine Eklogen zum Weihnachts- und Osterfest (1 6 5 1 / 1 652) LOTHAR MUNDT (Berlin)
1 . Gattungsgeschichtliche Voraussetzungen Der Königsberger Dichter und Professor poeseos Simon Dach (16051659)1 gehört mit Martin Opitz, Andreas Gryphius, Daniel Czepko und Paul Fleming zu den bedeutenden deutschen Barockautoren, die neben ihren deutschsprachigen Werken auch lateinische Dichtungen von beacht lichem Umfang verfaßt haben, die also die späthumanistische Tradition, auf der letztlich die deutsche Barockliteratur im Gefolge der Opitzschen Reformen - als Transposition der humanistischen Uteraturauffassung in das Medium der deutschen Sprache - beruht, auch in ihrem originären lateinischen Medium weiterbetrieben und -gepflegt haben. Opitz selbst hat ja im übrigen keinen Zweifel daran gela.�sen, daß er, abgesehen von dem besonderen poetischen Ingenium, das ein Dichter brauche, eine gtündli-
Den aktuellen Stand der Dach-Forschung dokumentiert der folgende Sammel band mit Beiträgen zu der von seinem Herausgeber 2005 in Dachs Vaterstadt Memel, dem heutigen Klaipeda, aus Anlaß des 400. Geburtstags des Dichters or ganisierten Tagung: Axel E. Walter (Hg.): Simon Dach ( 1605-1659). Werk und Nachwirken, Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 1 26). Als wichtige Ergänzung des mit diesem Sammelband erfal�ten Themenkteises ist die erschöpfende Darstel lung Walters zur gesamten Geschichte der Dach-Editionen im Rahmen der Ge schichte seiner Rezeption zu nennen: Axel E. Walter: "Bemühungen um Simon Dach. Eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung zu den Dach-Au.�gaben und zur Rezeption eines 'ostpreußischen' Dichters", in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östli chen Europa 1 4, 2006, 7- 106, des weiteren auch die folgende Arbeit desselben Verfassers: Axel E. Walter: "Simon Dach - der preußische Archeget der deut schen Dichtung des 17. Jahrhunderts", in: Jens Stüben (Hg.): Ostpreußen Westpreußen - Danzig. Eine historische Literaturlandschaft, München 2007 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östli chen Europa 30), 205-233.
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Lothar I1.fundt
che Schulung in der griechischen und lateinischen literatur der Antike (und wohl auch des Renaissancehumanismus) für unerläßlich halte, um in der Dichtung Anerkennenswertes zu leisten. Er schreibt nämlich im Buch /ion der Deutschen Poeterf!)', dem 1624 erschienenen Griindungsprogramm der deutschen Barockliteratur: Vnd muß ich nur bey hiesiger gelegenheit ohne schew dieses errinnem/ das ich es für eine verlorene arbeit halte/ im fall sich jemand an vnsere deutsche Poeterey machen wolte/ der/ nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß/ in den griechischen "nd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist/ vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat; das auch alle die lehren/ welche sonsten zue der Poesie erfodert werden/ vnd ich jetzund kürtzlich berühren wiI/ bey jhm nichts verfangen können.2
Nach neuesten Untersuchungen machen die heute bibliographisch nach weisbaren lateinischen Gedichte von Simon Dach ungefähr ein Fünftel des umfangreichen lyrischen Gesamtwerkes aus: Das wären etwa 300 Texte, die ebenso wie die deutschsprachigen teils als zeitgenössische Ein zeldrucke, teils als Beigaben zu Gelegenheitsdrucken mit Schriften mehre rer Verfasser überliefert sind.1 Im Unterschied zu den deutschen Gedich ten Dachs, die Walther Ziesemer in vier Bänden 1936-1938 herausgege ben hat,4 ist das Corpus der lateinischen Gedichte, für die ohnehin schwach entwickelte Dach-Forschung eine tetra incognita, bisher unediert geblieben, abgesehen von einigen wenigen verstreut publizierten Einzel texten."' 2 3
4 5
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey ( 162 4). Studienau..gabe. [00'], hrsg. von Herbert Jaumann, Stuttgart 2002 (Universal-Bibliothek 1 8214), 25. Vgl. dazu Axel E. Walter: "Dach digital? Vorschläge zu einer Bibliographie und Edition des Gesamtwerks von Simon Dach nebst einigen erläuternden Beispielen vernachlässigter bzw. unbekannter Gedichte", in: Walter, 2008 (wie Fußn. 1), 465-522, hier 489. Die Angabe Dünnhaupts, daß Dachs lateinische Gedichte "fast die Hälfte des Gesamtreuvres" au..machten, ist damit als gegenstandslos an zusehen: Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Ba rock, 2., verbesserte u. wesentlich vermehrte Aufl. des Bibliographischen Hand buches der Barockliteratur, 2, Stuttgart 1 990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 9, 11), 996-1230, hier 996. Nicht nur in dieser Hinsicht bietet Dünn haupts Dach-Bibliographie Anlaß zur Kritik; "g!. dazu Walter, 2006 (wie Fußn. 1), 95-99 (Abschnitt 8.1 .: "Dünnhaupts gescheiterte 'Personalbibliographie' Si mon Dachs") . Simon Dach: Gedichte, hrsg. von \l;-'alther Ziesemer, 4 Bde., Halle a.d. Saale 1 936-1 938 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 4-7). Ziesemer hat innerhalb der bibliographischen Anhänge seiner Edition ein paar Kostproben aus Dachs lateinischer Lyrik mitgeteilt Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 1, 326f., zu Nr. 54; S. 330, zu Nr. 70; S. 331 f., zu Nr. 74; Bd. 2, S. 351 f., Nr. 40; S. 355-357, Nr. 58; Bd. 4, S. 51 4f., Nr. 59; S. 516-51 8, Nr. 67; S. 520f., Nr. 83;
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker
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Der größte Teil der lateinischen - nicht anders als der deutschen - Ly Dachs ist Gelegenheitsdichtung zu diversen Anlässen des bürgerlichen und akadetnischen Alltagslebens.6 Hierzu gehört auch das früheste von Dach bekannte poetische Werk überhaupt: ein lateinisches Epicediurn von 1625 für den in diesem Jahr verstorbenen Magdeburger Pfarrer Christian Vogler, einen entfernten Verwandten Dachs, in dessen Haus er in den Jahren 1623-1626 wohnte, als er das Gymnasium in Magdeburg besuch te.' Eine gesonderte, scharf umgrenzte Abteilung innerhalb der lateini schen Lyrik Dachs bilden die Festgedichte zu den drei großen christlichen Feiertagen, die er von Amts wegen zu schreiben hatte und in den zwanzig Jahren seiner Amtstätigkeit als Professor der Poesie von 1639, dem Jahr seiner Berufung, bis zu seinem Todesjahr 1659 regelmäßig verfaßt und in Druck gegeben hat. 8 In diese Serie von etwa 60 gewissermaßen amtlich veranlaßten geistlichen Festgedichten gehören auch die beiden rik
6 7
8
S. 521 -523, Nr. 89; S. 526, Nr. 1 1 3. Des weiteren vg!. Joachim Dyck: ,,'Lob der Rhetorik und des Redners' als Thema eines Casualcarmens von Simon Dach für Valentin Thilo", Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5, 1 978, 1 33-1 40, die in Fußn. 7 aufgeführte Arbeit von Michael Schilling mit der Edition von Dachs frü hem Epicedium und Lothar l\Iundt: "Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik. Analysen ausgewählter Gedichte", in: Walter, 2008 (wie Fußn 1), 225-294, hier 257-294 (fextanhang). Vgl. hierzu ebd. Vg!. Michael Schilling: "Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten", in: Miroslawa Czamecka u.a (Hgg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1 928-1 992), Wroclaw 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), 367-377 (Text mit Ü ber setzung 373-375). Zu..ammengestellt bei Dünnhaupt, 21 990 (wie Fußn. 3), 1002-1 009, Nr. 8-65. Die Festdichtungen Dachs beginnen aber nicht erst mit dem Ostergedicht (SolemnibllJ RUllrrectionis Dominicae [... ]) des Jahres 1 640 (bei Dünnhaupt, ebd., S. 1 002, Nr. 8, mit der irrigen Kennzeichnung ,,1 640, Pfingsten [W'). Bereits aus dem J ahr 1 639 ist eine Dünnhaupt unbekann t gebliebene pfingstdichtung überliefert (einzig be kanntes Exemplar in einem Sammelband der Warschauer Nationalbibliothek, Sign.: XVII 3, Nr. 6303). In ebendieses Jahr gehört auch die von Dünnhaupt, ebd., 1 002, unter Nr. 10 verzeichnete und dort fälschlich auf 1 640 datierte Weih nachtsdichtung. Ich verdanke die vorstehenden Richtigstellungen der Angaben Dünnhaupts einer noch unveröffentlichten größeren Arbeit von Klaus Garber zur L'berlieferungssiruation der \l;-'erke von Simon Dach.
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Lothar Mundt
Eklogentexte zu Weihnachten 1 65 1 9 und Ostern 1 652,1 0 die in diesem Beitrag vorgestellt werden sollen. Ob es unter Dachs sämtlichen akademischen Festdichtungen oder auch innerhalb des Gesamtcorpus seiner lateinischen Lyrik über die von mir hier mitgeteilten Texte hinaus noch weitere gibt, bei denen sich der Autor der Eklogenform bedient hat, ist mir nicht bekannt. In den drei Dach-Sammelbänden im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kultur besitz zu Berlin (Signatur: Yi 851 R) ist die Osterekloge von 1 652 der einzige lateinische Text in Eklogenform (hier in Bd. 2 unter Nr. 74). Auf die Ekloge zum unmittelbar vorangehenden Weihnachtsfest (1 651) bin ich bei der Durchsicht der von Dünnhaupt in der Liste der akademischen Festdichtungen Dachs mitgeteilten Initien gestoßen.1 1 Bei einem Initium wie diesem: Quin, formose Mycon, moesfa mae fata AmarylJidis12, lag es nahe, daß es zu einem bukolischen Text gehörte, und diese Annahme bestätigte sich auch, als mir das Osnabrücker Interdisziplinäre Institut für Kulturge schichte der Frühen Neuzeit auf meine Bitte freundlicherweise eine Kopie nach einem Mikrofilm dieses Gedichtes aus der kompletten Verfilmung der an der Universitätsbibliothek Wrodaw (Breslau) vorhandenen Dachiana13 zur Verfügung stellte (Signatur des Originaldrucks: 354 241). In seiner deutschsprachigen Lyrik, jedenfalls soweit sie in den vier Bänden von Ziesemers Edition erfaßt ist, hat Dach auf die Form der Ek loge nicht zurückgegriffen. Sehr gering scheint auch sein Interesse an 9
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Simon Dach, JESV CHRISTI Dei ab �temo ä Patte geniti, & in temporis com plemento ex Maria Virgine Hominis nati Redemptoris nostri opt. max. honori n a ta1itio, 0.0. 1 65 1 . 4°. 2 ungez. BU. Simon Dach, JESV CHRISTO �terno Dei fi1io post ignorniniosissimam mortem Peccatorum mortis atque infemi triumphatori gloriosissimo, Redemptori nostto optimo maximo, 0.0. 1 652. 4°. 2 ungez . BU. - Diplomatischer Nachdruck bei Ziesemer: Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 4, im bibliographischen Anhang "Latei nische Gedichte", 507-526, hier 521 -523, Nr. 89. Dünnhaupt, 21 990 (wie Fußn. 3) , 1 006, Nr. 43. Rbd. Der Ursprung dieses größten bibliothekarischen Bestandes an Originaldrucken von Gedichten Simon Dachs geht zurück auf die Samrneltätigkeit des Breslauer Gymnasialdirektors Johann Ca.�par Adetius (1 707-1784) . Nach seinem Tode ging seine Sammlung von Dach-Drucken in den Besitz der von Rhedigerschen Stadt bibliothek über, die ihrerseits in der Universitätsbibliothek Wrodaw aufgegangen ist. Vgl. hierzu Klaus Garber: "Ein Sammler im Breslau des 18. Jailrhunderts und seine Verdienste um die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. Joh ann Caspar Arletius und seine Sammlung der Dichtungen Simon Dachs", in: Ulrich Kro nauer u.a. (Hgg.): Aufk1ärung. Stationen - Konflikte - Prozesse. Festgabe für Jöm Garber zum 65. Geburtstag, Rutin 2007, 63-1 04; Walter, 2006 (wie Fußn. 1 ) , 21 -24.
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pastoraler Thematik überhaupt gewesen zu sein. Nicht mehr als zwei Tex te dieses Genres lassen sich bei Ziesemer finden: die vor 1640 entstandene Klage eines verliebten Schiiftrs vber die Vnmw seiner PI!Jllis1 4 und das Dach nicht mit Sicherheit zuzuschreibende Gesp,.;ich Coridons vnd seiner Galatheen auff dem Pilkoppischen Gebirge.15 Als Dach seine beiden geistlichen Eklogen schrieb, lagen die Anfänge der neulateinischen deutschen Bukolik etwa 170 Jahre zurück.1 6 Seit den ers-
14 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 1, 70-72. 15 Ebd., 2, 329-331 . 16 VgL hierzu meinen bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts reichenden Überblick in der Einleitung zu: Simon Lemnius: Bucolica. Fünf Eklogen, hrsg., übers. u. komm. von Lothar Mundt, Tübingen 1 996 (Frühe Neuzeit 29), 9-54; als Materi alübersicht mit gesamteuropäischer Perspektive nach wie vor unentbehrlich: WII Iiam Leonard Grant: Neo-Latin literature and the pastoral, Chape1 Hili 1 965; vgl. ferner: Lothar Mundt: "Die sizilischen Musen in Wittenberg. Zur religiösen Funktionalisietung der neulateinischen Bukolik im deutschen Protestantismus des 1 6. Jahrhunderts", in: Walther Ludwig (Hg.): Die Mu.�en im Reformationszeital ter, Leipzig 2001 (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 1), 265-288; darüber hinaus auch die folgenden Editionen humanistischer deut scher Eklogendichtung: Bartholomaeus Coloniensis: Ecloga bucolici carminis. Silva carminum, eingel., hrsg., übers. u. mit Anmerkungen vers. von Christina Meckelnborg u. Bernd Schneider, Wiesbaden 1 995 (Gratia 26); Armgard Müller: Das ßR&olimß des Euricius Cordus und die Tradition der Gattung. Text, Überset zung, Interpretationen, Trier 1 997 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Col loquium 27) [nur Edition der Zweitfassung, 1 5 1 8]; Ioanna Paschou: Euricius Cordus, ßRmlimß. Kritische und kommentierte Au.�gabe, Hamburg 1 997 (Ham burger Beiträge zur Neulateinischen Philologie 1) [Edition der Erst- und Zweit fassung (1514/ 1 5 1 8) in Paral1e1druck, ohne Übersetzung; zu dieser sehr schwa chen Editionsleistung vgl. meine Rezension Mitte11ateinisches Jahrbuch 35, 2000, 1 71 -1 78]; Johannes Bocer. Sämtliche Eklogen. Mit einer Einführung in Leben und Gesamtwerk des Verfassers, hrsg., übers. u. komm. von Lomar Mundt, Tü bingen 1 999 (Frühe Neuzeit 46); Joachim Camerariu.�: Eclogae / Die Eklogen, hrsg. von Lothar Mundt unter Mitwirkung von Eckart Schäfer u. Christian Orth, Tübingen 2004 (NeoLatina 6); Lomar Munde "Herzog Albrechts von Preußen zweite Hochzeit (Königsberg 1 550) in zeitgenössischer bukolischer Darstellung. Zwei lateinische Eklogen von Georg Sabinus und Andreas Münzer (Muncerus)", Daphnis 32, 2003, 435-490; ders.; "Das Königsberger Schmeckebier und die Sage von seiner Einsetzung in bukolischer Darstellung. Eine lateinische Ekloge von Johannes Andreas Pomeranus aus dem Jahre 1 552", in: Axel E. Walter (Hg.): Re gionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift fiir Klaus (rlu'ber, Amsterdam u.a. 2005 (Chloe 36), 657-702; Helius Eobanu.� Hessus: The poetic works. hrsg., übers. und komm. von Harry Vredeveld, 1: Student years at Erfurt, 1 504 - 1 509, Tempe, AZ 2004 (Renaissance text series 18 = Medieval and Renaissance texts and studies 21 5),
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ten deutschen Eklogenverfassem, den Ftühhumanisten Bartholomaeus Coloniensis (geb. vor 1465, gest. um 1516)17 und Heinrich Bebel (um 1472-1518),18 hatte sich ein bis ins 17. Jahrhundert hinein kultiviertes literarisches Medium von großer Anwendungs- und Funktionsvielfalt entwickelt. Ein großer Teil der deutschen Bukolik des 16. Jahrhunderts ist Gelegenheitsdichtung mit ihren diversen, nach unterschiedlichen Anlässen spezifizierten Spielarten: Fürstenpanegyrik (gewöhnlich in Anlehnung an Vergils 4. und 5. Ekloge), Hochzeits- und Trauerdichtung. Daneben dien te sie vorwiegend als Medium der allegorischen Darstellung und Diskussi on zeitgeschichtlicher (autobiographischer, politischer, sozialer) Themen, aber auch als Insttument scharfer konfessioneller Polemik, sowohl im Kampf lutherisch gesinnter Autoren gegen die katholische Kirche und das Papsttum wie auch in den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Philippisten und Gnesiolutheranem.19 Eine starke Tendenz zur Moraldi daktik läßt sich in dem umfangreichen bukolischen Werk von Joachim Camerarius (1500-1574) feststellen.21l Einen sehr geringen Anteil an der deutschen Bukolik des 16. Jahrhunderts haben Texte, die außerhalb der Zeitgeschichte liegende Themen behandeln: solche z.B., in denen ohne jeden historischen Hintersinn rein fiktive Stoffe bearbeitet werden wie etwa der Uebeszauber eines Mädchens unter Rückgriff auf Vergils 8. Ek loge bei Pettus Lotichius Secundus (1528-1560)21 und Johannes Bocer (1526[?]-1565)22 oder in ganz zweckfreier spielerischer Absicht auf sonsti ge literarische Traditionen zurückgegriffen wird wie z.B. auf die des mit telalterlichen Streitgedichts in zwei Eklogen von Eobanus Hessus (14881540) und Nicolaus Cisnetus (1529-1583), in denen sich Hirten über die
265-381 (die unter dem Titel 13l1coliton 1509 in Erfurt erschienene Erstausgabe seiner Eklogen) . 17 Seine I MOJ!.a bllcolici camini! wurde ediert von C. Meckelnhorg u. B. Schneider (vgl. Fußn. 1 6). 1 8 Heinrich Bebel: Egloga contra vituperatores poetarum, in: H.B.: Opuscula nova et adolescentiae labores, Straßburg: M. Schürer 1 5 1 2, BI. 04v-Q2'; ders.: Egloga triumphalis de victoria Caesaris Maximiliani contra Bohemos, in: Rerum Germa nicarum scriptores varii . Tomus secundus. Ex bibliotheca Marquardi Freheri pri mum editus, nunc denuo recognitus, hrsg. von Burkhard Gotthelf Struve, Straß burg 1 7 1 7, 51 1 -514. 19 Vgl. hierzu Mundt, 2001 (wie Fußn. 16). 20 Vgl. Camerarius, Eclogae (wie Fußn. 1 6), Einleitung, S. XXXV -XXXVIT . 21 Petrus Lotichius Secundus: Poemata omnia, quotquot reperiri potuerunt, hrsg., komm. und eingel. von Petrus Burmannus Secundus, 1 , Amsterdam 1 754, 599609 (Ecloga V: Daphnis). 22 Bocer, Sämtliche Eklogen (wie Fußn. 1 6), 72-79 (Aeglogae septem: Aegloga VII . Pharmaceutria).
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Vorzüge von Ziegen und Schafen (Hessus)23 oder von Frühling und Herbst (Cisnems)24 auseinandersetzen. Kein besonders ausgeprägtes Inte resse bestand auch an der Bearbeitung spezifisch geistlicher Themen. Die Rezeption der Weihnachtsgeschichte, die sich doch im Hinblick auf den pastoralen Hintergrund des biblischen Geschehens und Vergils 4. Ekloge für eine Bearbeitung innerhalb der Bukolik geradezu anbot, erfolgte bei den deutschen Humanisten erst am Beginn der SOer Jahre des 1 6. Jahr hunderts, mit fast hundertjähriger Verspätung gegenüber dem italieni schen Humanismus.25 Während hiervon in den fünfzig Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts, wie das VeT'.\!ichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 1 6) ausweist, relativ viele Tex te vorliegen, sind Eklogen zu anderen christlichen Feiertagen relativ dünn gesät. Auffillig ist, daß bukolische Texte zu christlichen Feiertagen größ tenteils von Autoren stammen, die sich sonst als Dichter keinen Namen gemacht bzw. sich nur gelegentlich, z.B. als Pfarrer, in poetischen Produk tionen dieser Art versucht haben.26 Hingegen haben sich die aus der Ute23
Im ersten Teil der 7. Ekloge des BNeolieon von 1 509: Hessus: The poetic works, 1
(wie Fußn. 1 6), 324-335. 24 Nicolaus Ci.nerus: Idyllion de veris et aurumni comparatione. De eodem argurnento oratio scripta, eodem autore, Wittenberg: Joh. Crato 1 551. Ich benutzte den Nach druck in: Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium. Collectore A.F.G.G. Frankfun a.M.: Excudebat Nicolaus Hoffmannus, sumptibus Iacobi Fischeri 1 6 1 2, Pars II, 446-455 (hier betitelt Itf)'lIion dt Alaii et veris kmdibus). 25 Die erste humanistische Weihnachtsekloge verfaßte anscheinend der Italiener Francesco Patrizi (1 413-1492) mit Ve natali Christi (geschrieben 1460 für Papst Pius II.); vgl. Grant, 1 965 (wie Fußn. 1 6), 259f. 26 Seit die von der Datenbank VlJ 1 6 erfaßten Bestände über das Internet voll zugänglich und mittels der yerfiigbaren Such funktionen vielseitig erschließbar sind, ist es sehr leicht, auch poetische Werke von Gelegenheitsautoren, die in den vorhandenen literarurgeschichtlichen Werken nicht berücksichtigt werden, aus findig ZU machen. Ich gebe im folgenden eine alphabetische liste solcher Auto ren, die ich beim Abruf der Stichwotte I �clo.f!,a / I '-clo.f!,dt und 1d;,lIion als (mir bisher unbekannte) Verfasser von selbständig erschienenen lateinischen Weihnachts und Ostereklogen ermitteln konnte (hinter dem Namen des Autors das Erschei nungsjahr und danach die Titelnumm er in VD 1 6, über die der volle Titel abgeru fen werden kann) . VetjtJSser von WeihntUhtsekloJ!.en: Martin Brasch, 1 590, ZV 1 5789; Paul Cherler, 1 583, ZV 2531 5; Adam EnickI, 1 590, ZV 21 5 1 1 ; Johann Eschner, 1 569, E 396 1 ; Valentin Fesenbeck, 1 566, ZV 22045; Samuel Geryesius, 1 587, ZV 1 6524; Sebastian Goldammer, 1 590, ZV 22775; Balthasar Henricu.., 1 564, ZV 1 6226; Johannes Henricu.., 1 572, ZV 21 50; Johannes Knon, 1 588, ZV 9027; Pe ter Kruse, 1 580, K 2475; Jakob Madsen, 1 569, ZV 1 0223; Johannes l\Iarschall, 1 576, M 1 1 20; Jakob Millch dJ., 1 574, M 5214; Christoph Thanner, 1 551, T 697; Johannes Wrtlbrand, 1 568, W 2914. - Verfasser von OstmkJo.f!,en: Amold von
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raturgeschichte bekannten Dichter des 1 6. Jahrhunderts, die als Bukoliker mit größeren Eklogenzyklen hervorgetreten sind, also Eobanus Hessus, Euricius Cordus, Simon Lemnius, Pettus Lotichius Secundus, Joachim Camerarius und Johannes Bocer, in der Bearbeitung geistlicher Stoffe deutlich zurückgehalten. Bei den genannten Autoren finden sich ganze zwei Eklogen zu geistlichen Themen: bei Eobanus Hessus mit dem Lob preis der Jungfrau Maria27 und dem Wechselgesang zweier Hirten zum Ruhm der jungfräulichen Empfangnis und der Allmacht Gottes und seiner Werke28 und bei Euricius Cordus (1 486-- 1 535) mit den frommen Lobge sängen und Gebeten, mit denen der Hirte Pius am Pfingsttag auf freiem Feld seinen eigenen Gottesdienst abhält (In der 7. Ekloge der 1 5 1 8 er schienenen zweiten Ausgabe des Bucolicon.)29 Die Frage, inwieweit die Gattung der Ekloge innerhalb der lateinischsprachigen deutschen Barockliteratur weiterhin kultiviert worden ist, läßt sich nur sehr vorläufig und in skizzenhaften Andeutungen beant worten, da es hierzu an grundlegenden bibliographischen Ermittlungen30 und literarhistorischen Spezialuntersuchungen fehlt. Von Martin Opitz sind zwei lateinische Eklogen bekannt, die nacheinander in Buch 3 der 1 631 erschienenen Silvarum /ibri ITl abgedruckt sind. Die erste, betitelt Daphnis, ist eine schon 1 6 1 7 als Einzeldruck erschienene Huldigung an den kaiserlichen Rat Tobias Scultetus, eigentlich Tobias von Schwanensee und Bregoschitz (1 565-1 620),31 die zweite, betitelt Nisa Ecloga,32 ist ein Lobgesang des Hirten Aegon auf seine Liebste, das Hirtenmädchen Nisa.
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Hohenkamp, 1 58 1 , ZV 1 6234/24980; Martin Petermann, 1 579, ZV 1 2330; Kas par Ruger, 1 584, ZV 1 3429; Jakob Ursinus, 1 590, ZV 1 9869. In der letzten (1 1 .) Ekloge des BNcolicon von 1 509: Helius Eobanus Hessus: The poetic works, 1 (wie Fußn. 1 6), 362-367. In der 5. Ekloge des BNCOlicon: ebd., 3 1 0-31 7. Paschou (Hg.): Cordu.., BNcolicon (wie Fußn. 1 6), 75-81 (in Paralleldruck 74-80 die Fassung des Textes der Erstausgabe von 1 5 1 4, hier als Nr. 5) . Eine zuverlässige Grundlage fiir solche Ermittlungen wird natürlich die noch nicht abgeschlossene Internet-Datenbank VD 17 sein, mit deren Erarbeitung 1 996 begonnen wurde. Martin Opitz: Silvarum libri IH. Epigrammaturn liber unus. E Mu..eio Bemhardi Guilielmi Nüssleri, Frankfurt a. M.: David Müller 1 63 1 , 75-78; wissenschaftliche Edition des Werkes in: M. 0.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. von George Schulz-Behrend. Bd. 1 : Die Werke von 1 6 1 4 bis 1 62 1 , Stungart 1 968 (Bibliothek des literarischen Vereins 295), 77-80. - Hierzu gibt es eine informa tive ungedruckte Arbeit von Klau.. Garber, von der ich eine Fotokopie besitze: Daphnis. Ein unbekanntes Epithalamium und eine wiederaufgefundene Ekloge von Martin Opitz in einem Sammelband des schlesischen Gymnasium Schönaichianum ZU Beuthen der litauischen Universitätsbibliothek Vilniu.•.
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Die umfangreiche, 1 652, also im selben Jahr wie Dachs Osterekloge erschienene Ecioga bucolica des Münsteraner Arztes und Späthumanisten Bernhard Rottendorf (1 594-1 671),13 die im ersten Teil eine Totenklage auf den 1 650 verstorbenen Fürstbischof von Münster und im zweiten einen Panegyricus auf dessen 1 652 inthronisierten Nachfolger enthält, ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß die lateinische Ekloge auch in der Mitte des 1 7. Jahrhunderts noch als geeignetes Medium für derartige Gelegen heitsdichtung angesehen wurde. Es ist anzunehmen, daß von dieser Art personen- oder ereignisbezogener lateinischer Kasualdichtung noch eini ges mehr im Laufe des 1 7. Jahrhunderts erschienen ist. Von dem Jesuitendichter Jacob Balde (1 604-1 668) gibt es einen fünf teiligen geistlichen Eklogenzyklus, der das zweite Buch seiner .'I)'/vae (zu erst in sieben Büchern 1 643, auf neun erweitert 1 646) eröffnet.34 In der ersten Ekloge besingen zwei Hirten die Geburt Christi, im Zentrum der zweiten steht ein Wechselgesang zweier Hirten, von denen der eine seine Liebe zu Jesus, der andere seine Liebe zur Gottesmutter schildert. In der dritten preisen zwei Hirten im Wechsel die Schönheit des Jesuskindes und der Jungfrau Maria. In der vierten berichtet ein Hirte dem anderen von Passion und Kreuzigung Christi; die fünfte ist wieder ein Wechselgesang, bei dem der eine Hirte den Heiland Jesus preist und ein anderer den Ver räter Judas verflucht. Wie schon Antonio Geraldini (1 448/49-1 489) in seiner Ekloge De passione sa/va/om (1 485)35 und später Simon Dach legr auch Balde Jesus Christus den Hirtennamen Daphnis bei (in den Eklogen 1 , 4 und 5). Eine Beurteilung dieses kleinen bukolischen Werkes von Balde hätte natürlich zunächst im Rahmen der lateinischen Ordensdich tung des Späthumanismus und der Barockzeit zu erfolgen; sie hinge auch von der Beantwortung der Frage ab, inwieweit Jesuitendichter die bukoli sche Gattung überhaupt geschätzt und kultiviert haben. Untersuchungen hierzu liegen aber m.W. noch nicht vor. Für die deutschsprachige Jesui32 Opitz, Silvanun libri III (wie Fußn. 31), 78-80. 33 Als Reprint (mit gegenüberliegender deutscher Übersetzung) abgedruckt in: Hermann Hugenroth: Zum dichterischen Werk des Münsterschen Arztes und Humanisten Bemhard Rottendorf (1 594-1 671). Mit Beiträgen von Helmut Lahrkamp u. Bertram Haller, hrsg. von Franz-Josef Jakobi, Münster 1 991 (Quel len und Forschungen zur Geschichte der Stadt Jl.lünster. l\i.F. 1 5 = Nr. 1 der Se rie q, 1 95-225; Erläuterungen hierzu 226-249. 34 Jacob Balde SJ.: Opera Poetica Omnia. Neudruck der Ausgabe München 1 729, hrsg. u. eingeI. von Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand, Bd. 2, Frank furt a.M. 1 990 (fexte der frühen Neuzeit), 36-48. 35 Sigrun Leistritz (Hg.): Das C'armm J3ucolicum des Antonio Geraldini. Einleitung, Edition, Ü bersetzung, Analyse ausgewählter Eklogen, Trier 2004 (Bochumer Al terturnswissenschaftliches Colloquium 61), 1 1 6-1 27.
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tendichtung wäre hier auf Friedrich von Spees Tru�achtigal/ (Erstdruck Köln 1649) zu verweisen, in der mehrere Eklogen enthalten sind, in denen Christus als Hirte Daphnis angesprochen wird.36
2. Dachs geistliche Eklogen der Jahre 1 65 1 und 1 652 Mit den folgenden Darstellungen erhält der Leser - auf der Grundlage der im Anhang beigefügten erläuterten Edition und Übersetzung - Inhaltsana lysen zu beiden Texten nebst Hinweisen auf deren Stellung innerhalb der neulateinischen deutschen Weihnachts- und Osterbukolik und innerhalb von Dachs lyrischem Gesamtwerk.
2.1. Die Weihnachtsekloge (1651) Die beiden Hirten Mopsus und Mycon sind offenbar zusammengetroffen, sich die Zeit mit Gesang zu vertreiben. Mopsus schlägt seinem Ge fahrten Mycon, einem noch sehr jungen, aber für seine Sangeskunst schon berühmten Mann, vor, das Klagelied über seine verstorbene Freundin Amarylli s fortzusetzen, das wegen des Einbruchs des nun zu Ende gehen den Winters abgebrochen worden war (eine deutliche Reminiszenz an den Anfang von Vergils 1. Ekloge, V. 4-5: tu, Ti!Jre, lentus in umbra I Formosam resonare doces AmaryUida siluas). Mycon lehnt es aber ab, sich mit derlei ver gänglichen Dingen, wie es die Beziehung zu Amaryllis war, zu beschäfti gen. Sein Denken sei jetzt vielmehr auf Himmlisches und auf Gott gerich tet. Konsterniert von dieser Auskunft bemerkt Mopsus, da könne es wohl bei Mycon nicht mit rechten Dingen zugehen, irgendeine Medea oder Kirke müsse ihn behext haben. Dies weist Mycon energisch zurück. Er habe allem Zauberwesen abgesagt und wolle seinen Geist nur noch dem Guten widmen, nachdem er durch die Geburt des Knaben Daphnis, Soh nes einer Jungftau, zur rechten Einsicht gelangt sei. Die Frage des Mopsus, von welchem Knaben und welcher Jungftau Mycon denn spre che, beantwortet dieser mit dem Bericht der Weihnachtsgeschichte: Wie er mit anderen Hirten aufgrund der nächtlichen Botschaft eines Engels nach Bethlehem gegangen sei, um den neugeborenen, in einer Krippe liegenden Daphnis, dessen Kommen die Propheten den Vorvätern schon angekünum
36 Friedrich Spee: Trutznachtigall. Mit Einleitung u. kritischem Apparat hrsg. von Gustave Otto Arlt, Halle a.d. Saale 1936 (Neudrucke deutscher Literarurwerke des XVI. u. XVII. Jahrhunderts 292-30 1), 228-234, 235-243, 243-249, 275-281 , 28 1-292, 297-305, 305-31 4.
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digt hätten, zu besuchen und ihm zu huldigen. Von dem Kind sei ein gött liches Leuchten ausgegangen, und seine Mutter, eine Jungfrau, habe ihn auf ihrem Schoß gehalten und ihn gesäugt. Jetzt erinnert sich Mopsus daran , daß ihm sein Vater einstmals viel von der segenbringenden An kunft dieses verheißenen Knaben erzählt habe, und schlägt vor, ihm Wechselgesänge zu widmen. Zwar seien Gesänge von Hirten nur kunstlos im Vergleich zu denen der himmlischen Heerscharen, doch werde Gott auch sie nicht verachten. Schließlich sei auch der Psalmist David in seiner Jugend Hirte gewesen. Es folgt nun ein Wechselgesang, in dem zunächst das mit der Geburt des Daphnis/Jesus beginnende neue Zeitalter als eine Epoche des Wohl stands (ohne die Voraussetzung schwerer Arbeit), der Gerechtigkeit, des absoluten Friedens in Natur und Menschenwelt und der Befreiung von allen Gefahrdungen beschrieben wird - ein natürlich der 4. Ekloge Vergils mit der Schilderung des mit der Geburt eines Kindes einsetzenden Gol denen Zeitalters verpflichteter beliebter Topos in der Weihnachtsbukolik seit ihren Anfängen in der italienischen Renaissance bei Franciscus Patricius (patrizi) aus Siena (1413-1492).17 Danach geben die Sänger einen Ausblick auf die Zeit, in der der Knabe zum Mann herangewachsen sein wird: auf seine Funktion als Verkünder des Weges zum menschlichen Heil und auf sein Auftreten als Wundertäter (Auferweckung des Lazarus und der Tochter des Jairus, Heilung von Blinden und Lahmen, Bezähmung des Meeres und Speisung der Fünftausend). Mit dem Gedanken, daß die Menschheit undankbar sei und Verdienste nicht zu würdigen wisse, leitet Mycon zum dritten und letzten Teil der Gesänge über: auf die Betrach tung der Daphnis/Jesus bevorstehenden schweren Leidenszeit und seines Todes am Kreuz. Die Ekloge endet mit dem Hinweis des Mopsus auf den anbrechen den Abend (auch dies ein beliebter Topos der friihneuzeitlichen Bukolik, übernommen aus VergiI, ecl. 1,82f.; 10,75-77) und der Ankündigung, daß der Wettgesang am morgigen Tage wieder aufgenommen werden solle. Eine vergleichende Durchsicht aller mir bekannten Texte der neulateini schen Weihnachtsbukolik (über die in Grants Handbuch zur neulateini schen Bukolik aufgeführten18 hinaus noch vier weiterer von deutschen Autoren des 16. Jahrhunderts)19 erbrachte die folgenden Beobachtungen. 37 Vgl. die Inhaltsangabe von Patrizis Ekloge bei Grant, 1 965 (wie Fußn. 1 6), 259f. 38 Ebd., 258-273; vgl. auch meine Besprechung von Zeugnissen protestantischer \'Ileihnachtsbukolik des 16. Jahrhunderts: ;\fundt, 2001 (wie Fußn. 1 6), 281 -287. 39 Fridericus Weydenbram [= Widebram] : Ecloga de yeteri politia Iudaica et de regno Christi. [ ... J. Wittenberg: o.Dr. [Veit KreutzerJ 1 554; Paulus Fabricius:
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Bei der Wahl der Sprechemamen scheint sich Dach an den beiden Weih nachts texten aus dem geistlichen Eklogenzyklus von Antonio Geraldini (1448/49-1489)4() orientiert zu haben. Am Anfang der ersten Ekloge die ses Zyklus, betitelt De sa/vatons naJivitate,41 ergreift ebenso wie bei Dach ein Mopsus (auch hier der ältere der beiden Hirten) mit einer den Partner (hier ein Lycidas) zum Hirtengesang aufmunternden Frage das Wort: Quid gelidi vitrea dum sic recubamus in herba, non placidum bifori modularis harundine carmen, 0, Lycida, resonent quo curvo margine rupes, proximus et labens per culta resultet Hiberus, defluat ac placidis applaudens Gallegus undis? Quis topor te habet? Dudum mulcere solebas pastorum tetricas blandis modulatibus aures.42
Warum spielst du, während wir so frierend im eisigen Gnse liegen, nicht auf der Doppelflöte ein ruhiges Lied, von dem die Felsen mit dem sich auftürmenden Rücken widerhallen, 0 Lycidas, und der nahe Ebro, der sich durch die Felder windet, widertönen und dem mit sanften Wogen Beifall plätschernd der GaIlego dahinfließen könnte? Welche Trägheit hat dich erfasst? Eben noch pflegtest du die strengen Ohren der Hirten mit schmeichelnden Weisen zu verzaubern.43 In Geraldinis zweiter Ekloge, De regum adoraJione ad infontem Jesum,44 einem Gespräch der Heiligen Drei Könige vor ihrem Aufbruch nach Bethlehem, ist dem Melchior der Hirtenname Mycon zugewiesen (Kaspar heißt Gnnicus, Balthasar Battus).
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Tit}-TUS. Idyllion de nativitate servatoris nostri Iesu Christi. [ ... ]. Wien: RaphaeI Hofhalter 1 557; Henricus Graniveldus �.e. Cranifeldus] : EcIoga. De nativitate filli dei Christi Iesu domini et salvatoris omnium credentium unici et sufficientissimi. Anno 1 558. Accessit huc de puem Iesu oda. [... ]. Wittenberg: o.Dr. 1 558; Ioa chimus Craniveldus: Ecloga de utilitate salutaris nativitatis aeterni filli dei domini nostri Iesu Christi, veri dei et veri hominis, redemptoris nostri unici: dedicata ma gnifico et clari ssim o vim, D. Hiemnymo Kisewittero 1.:.I.D. [ ... ]. Dresden: Gim el Montanus 1 57 1 . Neben der kritischen Edition von Sigrun Leistritz (wie Fußn. 35) i s t weiterhin von Nutzen die ältere Ausgabe von Mustard: Antonio Geraldini: The eclogues , hrsg., eingel. und komm. von Wilfred P. Mustard, Bal timore 1 924 (Studies in the renaissance pastoral 4). Leistritz, Carmen IJllcolicl)1I (wie FuHn. 35), 54-67. Ebd., S. 54. Ebd. , S. 55. Ebd., S. 68-77.
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als neulateinischer Bukoliker
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Das Motiv, daß ein Hirte einen zweiten, der von dem Weihnachtsge schehen noch nichts gehört hat, hierüber ins Bild setzt, findet sich auch in der Weihnachtsekloge des als Calvin-Gegner bekannten französischen Theologen Sebastian Castellio (1 5 1 5-1 563), SiriUus. Ecloga de nativitate Christi (1 546):45 Der Hirte Damon hat das Erscheinen des Engels, seine Aufforderung an die Hirten und deren Besuch beim Jesuskind verschla fen. Sein Kollege Sirillu s macht ihm deshalb Vorwürfe und gibt ihm einen ausfiihrlichen Bericht von den Ereignissen, woraufhin Damon versichert, daß er dem Schlaf keinen Raum mehr gewähren wolle, bevor er nicht seinerseits das heilige Kind in der Krippe gesehen habe. Castellios Text ist ausschließlich überliefert in der großen Anthologie antiker und humanisti scher Bucolica, die der Basler Drucker Oporinus, bei dem Castellio seiner zeit als Redaktor beschäftigt war, herausgegeben hatte. Die Kenntnis eines solchen Standardwerks innerhalb der frühneuzeitlichen Geschichte der Bukolik ist bei dem Professor poeseos Dach vorauszusetzen. Sehr auffaIlig ist die Übereinstimmung eines Details aus Dachs Schil derung des mit der Geburt Jesu heraufkommenden Goldenen Zeitalters mit der entsprechenden Schilderung in der Weihnachtsekloge des Leipzi ger Poetikprofessors und späteren Zerbster Gymnasialrektors Gregor Bersman (1 538-1 6 1 1), die den ersten Teil eines dreiteiligen geistlichen Eklogenzyklus bildet. 46 Bersmans Ekloge (Ecloga J. Iems Chrishls. Natalitia Iem Christi, jilii aetern; patris, et matris sempervirginir Mariae, aJternis canunt pasto res Simeon et Iudas)47 besteht aus Wechselgesängen der Hirten Simeon und Judas zum Lobpreis der Geburt Jesu und ihrer heilsgeschichtlichen Be deutung. Wie Mycon bei Dach 01. 67-72), so spricht auch Simeon über die wundersamen Auswirkungen des Goldenen Zeitalters auf die Pflan zenwelt:
45 Abgedruckt als letzter Text in: Ioannes Oporinus (Hg.): Rn habes lector Bucolicorum autores XXXV1ll, quotquot videlicet a Vergilii aetate ad nostra usque tempora, eo poematis genere usos, sedulo inquirentes nancisci in praesentia licuit: Fartago quidem eclogarum CLVI mira cUm e1egantia turn varietate referta, nuncque primum in studiosorum iuvenum gratiam atque usum collecta. [...], Ba sel: Ioannes Oporinus 1 546, 796-799. - Zur Biographie Castellios vgl. Hans R Guggisberg: Sebastian Castellio 1 51 5-1 563. Humanist und Verteidiger der religiö sen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1 997; die Ekloge hier er wähnt S. 22f. (Anm. 32) , 49 u. 332. 46 Gregoriu.� Bersmanus: Poemata in lihros duodecim divisa, Leipzig: Iohannes Steinmann 1 576, 1-15. - Nachdruck in: Delitiae poetarum Germanorum (wie Fußn. 24) , Pars 1, 424-435. 47 Bersmanus, Poemata (wie Fußn. 46) , 1 -5.
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Lothar Mundt Ipsae mella ferunt quercus, paliurus olivam, Balsama corticibus sudant preciosa myricae.48
Die entsprechende Stelle bei Dach 01. 70f.) lautet: [...] salices parturient nunc opobalsamum. Et pinguis sterili vel platano myrrh a fluet [.. .]
Nun sind zwar beide Passagen letztlich eine Variation von Vergils 8. Ek loge, V. 52-54: [ ... ] aurea durae Mala ferant quercus, narcisso floreat alnus, Pinguia corticibus sudent electra myricae.
Von 'balsamum' bzw. 'opobalsamum', den bei Bersman die Tamarisken, bei Dach die Weidenbäume hervorbringen sollen, ist aber bei Vergil nicht die Rede. Daß Dach den Lobgesang der Hirten auf das Jesuskind mit dem Aus blick auf Passion und Kreuzestod enden läßt,49 ist eine Besonderheit, die sich ähnlich auch in der Weihnachtsekloge von Fabio Chigi (1 599-1 667), dem späteren Papst Alexander VII. (1655-- 1 667), findet. In diesem kleinen Text von 43 Versen, enthalten in der zuerst Köln 1 645 erschienenen Sammlung der Jugendgedichte Chigis (Philomathi Musae Juveniles),5U bringt ein Hirte dem gerade geborenen Pller aethereus Slipemm demissllS ab arce 01. 1) einen Lobgesang dar und beklagt die winterliche Kälte und das harte La ger der Krippe, unter denen der Gottessohn zu leiden habe - wenn auch wenigstens Gethsemane und der Kalvarienberg noch in weiter Ferne lä gen:
48 Ebd . , 5 . 49 Vgl. zum theologischen Hintergrund (im Sinne der lutherischen Orthodoxie) Johann Anse1m Steiger: ,,Mein NitdriF/l,ehn sol I!"tlCh erb.ben. Zur poetisch meditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichtes von Simon Dach (1 605-1 659)", in: Hans-Jörg Nieden u.a. (Hgg.): Pra xis Piel2tis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag, Sruttgart u.a. 1 999, 175-199. 50 Ich benutzte die folgende, mit einer deutschen Übersetzung in Paralleldruck versehene Reprintausgabe: Fabio Chigi: Philomathi Musae Juveniles - Des Philomathus Jugendgedichte, 11. 1 : Faksimile der Ausgabe Paris 1 656 mit der L'bersetzung von He rmann Hugenroth; 11. 2: Zum dichterischen Werk des Fabio Chigi [. . . ]. Einführung, literarhistorische und dichtungs theoretische Kommentare von Hermann Hugenroth, Köln u.a. 1 999. - Der Text der Ekloge mit G"berset zung 11. 1 , 254-259 unter der Nr. LXllI .: Christi natalis meditatio. Quem Auetor ipso Pef'1liJ!ilio Natiuitatis, l'.clogae in modum, puli simpliciftrqm mtdi/ans, ita txpressit, Erläu terungen dazu 11. 2, 1 63-171 .
Simon Dach
als neulateinischer Bukoliker
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[...] cruciatibus aetas Non isthaec matura tuis. Praesepia culmis Hispida, tarn sancto capiti, membrisque tenellis Quam male conueniuntl Distant Bethlemica tecta Horro Gethsemani: non Aula, aut compita dirae Hic adsunt Solymae, aut feralis culmina montis. 01. 27-32)51 Deine Schmerzen wollen gar nicht passen zu deinem Alter. WIe wenig taugt aus hartem Stroh die Krippe, wie wenig für dein so hehres Köpfchen und deine so zarten Glieder. In weiter Feme von Bethlehem noch liegt der Garten von Geth semane; hier gibt s keinen Königshof, weder Straßenkreuzungen wie im verhäng nisvollen Jerusalem noch die Höhe des Kalvarienberges.52 '
Mit der Wahl des Metrums - des Asclepiadeus maior, den er auch in der Osterekloge verwendet -, bewegt sich Dach gänzlich außerhalb der Tradi tionen der antiken und humanistischen Bukolik. Im 1 6. Jahrhundert do miniert, den antiken Vorbildern entsprechend, ganz entschieden der He xameter die lateinische Eklogendichtung.53 Im 1 7. Jahrhundert steht Dach in dieser Hinsicht aber nicht allein. Auch Jacob Balde hat in dem oben beschriebenen Eklogenzyklus asklepiadeische Verse (den Asclepiadeus minor) verwendet54 und könnte damit als Vorbild gedient haben. Dach verfügte über große Belesenheit, und seine literarischen Interessen und Neigungen waren in keiner Weise etwa durch seinen protestantischen Glauben oder durch seine Amtsstellung an einer protestantischen Univer sität konfessionell eingeengt,55 wenn er sich auch, wie es die Ergebnisse von Johann Anselm Steigers Analysen geistlicher lieder Dachs nahele gen,56 im allgemeinen durchaus auf dem Boden orthodoxer lutherischer Theologie bewegte.
51 Ebd., n. I , 256-25S. 52 Ebd., 257. 53 Ganz ungewöhnlich ist die Einschaltung von Wechselgesängen in elegischem Maß in der 6. Ekloge (Carpolimatm) von Joachim Camerarius: Camerarius, Ec10gae (wie Fußn. 1 6), 40-5 1 , hier 42-47. 54 Dies gilt für die Eklogen I, 11 und IV dieses Zyklus: Balde, Opera Poetica Omnia, Bd. 2 (wie Fußn. 34), 36-40 u. 42-44. 55 Vgl. hierzu die Hinweise in: Mundt, 200S (wie Fußn. 5), 231 f.; femer auch: Dieter Breuer: .. Simon Dachs Ü bersetzung des ChriJlNS Patiens von Carolu.� Malapertius Sr, in: Walter, 200S (wie Fußn. 1), 337-34S, hier 342-345. 56 Außer der oben in Fußn. 49 genannten Arbeit vgI. auch Johann Anselm Steiger: .. Der Mensch in der Druckerei Gottes und die imago Dei. Zur Theologie des Dichters Simon Dach (1 605-1 659)", Daphnis 27, 1995, 263-290; ders.: ..Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jeru.�a1em", in: Wal ter, 200S (wie Fußn. 1), 363-395.
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Lothar lI.fundt
Innerhalb von Ziesemers Edition der deutschsprachigen Lyrik Dachs finden sich nicht mehr als zwei Texte zur Weihnachtsthematik: ein Weih nachtslied von drei Strophen (Erstdruck 1 642 in der Sammlung Preußische Festlieder von Johanne s Eccard und Johannes Stobaeus; nachgedruckt im Preußischen Gesangbuch von 1 657) 57 und eine große, 1 648 als Einzeldruck erschienene Dichtung (Christliche Weinacht=Frewde [.. .]) von 41 6 Versen Umfang. 58 Diese Dichtung ist für unseren Zusammenhang nicht nur des halb von Interesse, weil auch hier, ebenso wie in der lateinischen Ekloge von 1 6 5 1 , die Geburt Christi explizit in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Heilsgeschichte gestellt wird, sondern weil hier auch ein Gesang eines der Jesus an der Krippe besuchenden Hirten eingefügt ist, der nicht nur wegen des Sängernamens (IolaS) 59 Erinnerungen an die anti ke und humanistische Bukolik-Tradition weckt und deshalb hier vollstän dig nebst den ihn einleitenden Versen mitgeteilt werden soll: Sie gehn vnd finden auch das Kind in seiner Wiegen, Die eine Krippe war, auff dürrem Ci-rase liegen, Den frommen J oseph stehn, die Mutter auch dabey. o wer beschreibt mir hie jhr' Andacht, Lieb' und Trew? Wie heilig fallen sie Jhm hin zu seinen Fü,sen, Wie behten sie Jhn an, da siehet man ein küssen. Zuletzt beschencken sie Jhn auch mit einer Gab', Ein jeder wie er weis, nach seiner armen Hab'. Jolas, I\Iilcons Sohn, der ä1test' vnter jhnen, Der schon fur Schäfer erst in Basan"o pflag zu dienen, Vnd jenseit dem Jordan so manche liebe Nacht Bey seiner Heerde nur mit Singen zugebracht, Daß offt von seinem Spiel auch Sett'" wiederklungen, Der manchen Ziegen=Bock den Hirten abgesungen, Hält sich fur Frewden nicht. 0, spricht er: süsses Kind, Bist du, von welchem wir so viel berich tet sind? Wird also "iel von Dir gemeldet vnd gelesen? Bist du den Vätern schon im Geist bekandt gewesen? Hofft Jsrael auff Dich? hab' eben ich die Zeit Jch armer Hirt', erlebt? bringst du die Seeligheit?
Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), Bd. 3, 79 (fext AI/i! Weihnachten) u. 470, Nr. 74 (bibliographischer Nachweis). 58 Ebd., 241 -250. 59 Zu diesem auf Vergil (ecl. 2,57; 3,76.79) zurü c kgehenden Hirtennamen und sei nem Nachleben in der neulateinischen deutschen Bukolik vgl. Camerarius, Eclogae (wie Fußn. 1 6), 301 f. 60 Hochebene östlich des Sees Genezareth, die heutigen Golan-Höhen. 61 Name von zwei Gebirgszügen: der eine südwestlich des Toten Meeres, der ande re in Juda.
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Simon Dach als neulateinischer Bukoliker
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Wird Davids Stuel durch Dich in Ewigheit bestehen? Wirst Du der Jüden Reich biß an die Stern' ethöhen? Wie abet liegs t du hiet so nackt, ohn Pracht, ohn Liecht? Die Armuth reimt sich ja zu grosser Herrschafft nicht. Verzeih, o Schat2, mich wird dein Engel nicht betriegen , Det sang mir schon vorhin von deiner armen WIegen, Denn WlIrlich du mu.�t seyn ein mächtig hoher Gast, Weil Du auch Engel selbs zu deiner Botschafft hast. J st von der Heerde doch auch David erst genommen Vnd zu des Scepters Macht vom Hirten=Stabe kommen. Jh r Brüder, die.�er ist's, den (I] unser N acht=Geschrey All ein etklingen sol, last eure Wal d = Schalmey Jhn, das gewünschte Pfand, bey euret Heetde preisen. Was mich betrifft, ich wiI mit meinen schlechten Weisen Jhn rühmen, als ich kan, ich wiI mit meiner Stimm' Jhn biß durch Gilead62 vnd gantzes Ephraim 63 Stets wissen kund zu thun, ich wiI von seinen Ehren Die Wäldet, so ich weis, gesampt erschall en lehren. Jch wiI mit seinem Lob' auch an die Wolcken gehn, Er sol durch meine Hand an allen Cedern stehn. Du wollest mich nur, Kind, für deinen Knecht etkennen, Laß allzeit mich nach Dir in reinet Liebe brennen, Schleuli mich, gleich wie ich Dich, auch deinem Hertzen ein Vnd laß mein Erb ' hinfort in deinem Reiche seyn.64
2.2. Die Osterekloge (1 652) Die Grundkonstellation des Gesprächs der beiden Hirten in diesem Text ist ähnlich der der Weihnachtsekloge. Klärte dort der Hirte Mycon seinen Partner Mopsus über die diesem noch unbekannte Tatsache der Geburt Jesu und deren Bedeutung auf, so versucht hier der Hirte Celadon die Zweifel des Hirten Sarnis an der Tatsache der Auferstehung Jesu, dem auch hier der Name Daphnis beigelegt wird, zu beseitigen. Die Ekloge beginnt damit, daß Celadon Sarnis voller Freude mitteilt, daß Daphnis Tod und Hölle überwunden habe und nun kein Grund zum Trauern mehr bestehe. Sarnis zweifelt an der Richtigkeit dieser Botschaft, da sie den Gesetzmäßigkeiten der Natur widerspreche. Kein Toter könne wieder ins Leben zurückkehren. Celadon weist solchen Zweifel zurück mit
62 Biblische Bezeichnung für das Ostjordanland in sge samt oder bestimmter dort liegende r Regionen. 63 Wohngebiet des Stammes Ephraim, eines der zwölf Stämme Israel� (un Südteil des gleichnamigen Gebirges in Mittelpalästina). 64 Dach, Gedichte (wi e Fußn. 4), Bd. 3, 246f.
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Lothar Mundt
dem Argument, daß der Göttlichkeit des Daphnis nichts unmöglich sei. Da diese ihm erlaubt habe, Menschen, die schon gestorben waren, wieder zum Leben zu erwecken, müsse es ihm möglich sein, auch fiir seine eigene Person den Tod zu überwinden. Er habe ja auch seinen Jüngern vorausge sagt, daß er am dritten Tage von den Toten wiederauferstehen werde. Sarnis möchte nun aber handgreifliche Beweise haben: Aussagen von Menschen, die die Auferstehung bezeugen könnten. Celadon verweist nun auf mehrere Hirten, die Daphnis nach seiner Auferstehung begegnet sei en; als erste habe ihn Herpylis (d.i. Maria Magdalena) gesehen. Man habe auch Nachricht, daß Engel vom Himmd herabgekommen seien, um die steinerne Grabplatte beiseite zu schaffen - wobei die Wächter in Schre cken geraten seien. Sarnis gibt sich aber auch damit noch nicht zufrieden und hebt die Diskussion auf eine höhere, theologische Ebene: Warum denn Daphnis überhaupt habe sterben wollen, wenn er jetzt doch wieder ins Leben zurückgekehrt sei. Cdadon beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf alte Orakd (d.h. das Alte Testament), die vorausgesagt hätten, daß Gott sich einmal als berühmter Hirte opfern werde, um der Herde Sicherheit vor den Angriffen des Wolfes zu verschaffen. Dies erinnert Sarnis an David, der als junger Mann die Herde seines Vaters gegen einen Löwen und einen Bären verteidigt habe. Cdadon bestätigt Davids gtoße Leistungsfähigkeit: Er habe auch einen Riesen besiegt und ein ganzes Heer in die Flucht geschlagen. Mit dem Hirten Daphnis könne er sich aber dennoch nicht messen. Damit ist der Disput zwischen Sarnis und Cdadon beendet, und die beiden halten nach beiderseitiger Aussetzung von Sie gespreisen einen Wettgesang ab. Dessen Thema gibt Celadon vor: Lob preis des Sängers Daphnis, der ebenso wie Orpheus sowohl die Menschen als auch die bdebte und unbdebte Natur in seinen Bann gezogen habe. Alles, was am Himmd und auf der Erde existiere, verdanke seinen Be stand nur dem göttlichen Walten des Daphnis. Mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht, das Daphnis, der die Liebe und Anfang und Ende aller Dinge sei, mit einem Gesang einleiten werde, endet der Wettgesang, und damit endet auch, etwas abrupt, die Ekloge. Jeder der beiden Hirten nimmt den Siegespreis, den er ausgesetzt hatte, wieder an sich, und Cdadon schlägt einen weiteren Wettgesang vor, mit dem Hirten Molon als Schiedsrichter. Vorbilder innerhalb der neulateinischen Bukolik, bei denen sich Dach auch fiir seine Osterekloge Anregungen geholt haben könnte, sind nicht auszumachen. Die Menge der verfiigbaren Texte, die in Frage kommen, ist allerdings auch nicht gtoß. Im Verlauf meiner mehrjährigen intensiven Beschäftigung mit diesem Zweig der neulateinischen Literatur habe ich,
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nicht anders als W. Leonard Grant,65 gerade einmal zwei humanistische Eklogen ausfindig machen können, in denen das Ostergeschehen themati siert wird.66 Sie sind enthalten in den oben schon genannten geistlichen Eklogen-Zyklen von Antonio Geraldini67 und Gregor Bersman.68 Einzig bei dem sehr ausgefallenen, nicht antiken Namen Sarnis, den Dach einem der beiden Hirten gegeben hat, läßt sich eine Verbindung zu einem Buko liker des 1 6. Jahrhunderts herstellen, zu Pettus Lotichius Secundus näm lich, in dessen erster Ekloge Samis, Venator (Der Jäger Samis) der Jäger Lycidas die Abwesenheit seines Freundes Sarnis beklagt.69 Auch mit dem Namen des zweiten Hirten, Celadon (ebenfalls der antiken Bukolik fremd), könnte Dach sich bei Lotichius bedient haben. In dessen fünfter Ekloge (Daphnis) beklagen der Vogelsteller Myrtilus und der Jäger Celadon den Tod ihres Freundes Daphnis.7o Höchst aufschlußreich ist der inhaltliche Zusammenhang von Dachs aka demischer österlicher Festdichtung in Eklogenform mit der großen deutschsprachigen Dichtung, die er zum Osterfest desselben Jahres (1 652) der brandenburgischen Kurfürstin Luise Henriette gewidmet hatte: LJhge sang JESU GfRJS1J [d.h. auf Jesus ChristusO wegen seiner Sieg= und Frewdenreichen AJifferstehung Von den Tod/en.7! Erst nach der Lektitte dieses Textes wird deutlich, was Dach dazu bewogen hat, die beiden Hirten sei ner Ekloge, den rückhaltlos gläubigen Celadon und den Zweifler Sarnis, über das Geschehen der Auferstehung Christi disputieren zu lassen. De ren Disput verläuft eigenartig ergebnislos, wenn es auch am Schluß der Ekloge 01. 89-92) so scheint, als sei Sarnis endgültig überzeugt worden. Wesentlich dezidierter äußert sich Dach selbst hingegen zu dieser Thema-
65 Grant, 1 965 (wie Fußn. 1 6), 268f. u. 273. 66 Vgl. aber oben, Fußn. 26, die vier dort verzeichneten Ostertexte, auf die ich erst durch Nachforschungen innerhalb der Intemetdatenbank VD 16 gestoßen bin und die ich bislang nicht einsehen konnte. Da es sich um Autoren handelt, die sich in der neulateinischen deutschen literatur keinen Namen gemacht haben, dürfte ihre Auswertung für vorliegenden Zusammenhang auch kaum von großer Bedeutung sein. 67 Leistritz, Carmen Bllcolietlm (wie Fußn. 35), 1 28-135: lido.�a oelava: De mllmmone sa/valoris. Colloelltores: Maria Mt1,I!,da/ena sub nomine I <�/e el leIUS sllb nomine Aeanthi. 68 Bersmanus, Poemata (wie Fußn. 46), 6-10: lido.�a 11. JUliS ChrislllS. De merito sa/lltiftrae mortis ae l(loriosae resumetionu Domini tU' .l'eroatoris nostri I esu Christi canentes introdlletlnfllr loaeh. Camerarius ef alius quidam paslor. Die heiden Hirten tragen die Namen Iosias (= J. Camerariu..) und Banaias. 69 Lotichius Secundus, Poemata omnia, 1 (wie Fußn. 21), 569-578. 70 Ebd., 599-609. 71 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), Bd. 3, 435-459.
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tik in dem jener deutschsprachigen Osterdichtung vorangestellten Wid mungsbrief an die Kurfütstin. Zu Anfang dieses Briefes führt er aus, daß Menschen in vorchristlicher Zeit hauptsächlich deshalb an der Existenz Gottes gezweifelt hätten, weil in der Welt die Bösen lind Verkehrten oft eitel Woikben, Glück lind Übeiflllß genössen, die Frommen aber meistentheils lallter Vnglück lind Wiederwertigkeit auszustehen hätten.72 Wenn es nämlich einen Gott gäbe, wäre er ein gerechter Gott und würde die Welt nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit einrichten. Solche atheistischen Überzeu gungen haben laut Dach ihre Ursache darin, daß man zu jener Zeit von einem Leben nach dem Tode nichts gewußt habe: Vnd diese Gotteslästerliche Meinung rühret daher, daß sie die Aufferstehung der Todten entweder gar nicht gewust, oder nichts davon gehalten haben, im wiedrigen hätten sie leicht abnehmen können, daß in jenem andern Leben sich das Blat würde wenden müssen, und ein jeglicher empfangen den verdienten Lohn seiner Wercke. Weil sie aber die Schrifft nicht wusten oder annehmen wolten, kam es ihrer Vernunfft gant2 ungereimet vor, dall, was einmahl zu Asch und zu nichte wäre worden, wiederumb leben und aufferstehen könte.71
Wenigstens habe aber das bohrende schlechte Gewissen schon den Übel tätern bei den Heiden die Vorstellung nahegebracht, es müsse nach diesem leben mit ihnen nicht gar aus sryn, sondern sie würden nach demselben ers/lich ihr rechtes Vrtheil iJI erwarten haben.74 Insofern werde ganz deutlich, daß die Aufferstehung der Todten gleichsam eine ZlichtJchu/ ist des vCTTlcl hten und boßhtifften Lebens, daher sind die schönen Worte: Gedenck an das Ende so wirst du nimmermehr Vhels /hun.75 Die Verbindung dieses Aspekts mit dem der Auferstehung Jesu sieht Dach auf folgende Weise als gegeben: Weil nun auch zu Pauli Zeiten sich Epicurer gefunden, die von dieser Lehre we nig hielten, als wiederlegt er sie unwiedertreiblich sonderlich tnit dieser gant2 statlichen Folge, dall, wo unsre Leiber nicht aufferstehen solten, auch Christus nicht müsse aufferstanden seyn, aus welchem alle Irrthüme p] und Schanden ih ren Vrsprung nehmen würden, also daß Christi Aufferstehung zum einigen Grunde der Vnseren von ihm geleget ist. W'ann nun an seiner Aufferstehung so viel gelegen, daß, im fall diese geleugnet werden könte, auch alle seine Wolthaten, so er uns erwiesen, zu \l;!asser und nicht gemachet werden [ ... ] als hat die alte Kir che gar wol und löblich gethan, daß sie der Aufferstehung Christi dieses hohe Fest, dieselbe recht inniglich und Christlich zu betrachten zu geeignet, damit ein
72 73 74 75
Ebd., 435. Ebd. Ebd., 436. Ebd.
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jeglicher seinen Erlöser für seinen bittern Tod vnd herliehen Sieg über denselben von Hert2en dancken möchte.'.
Dieser Gedanke wird am Schluß des Gedichtes selbst noch einmal aufge griffen: Das beste welches wir in diesem Leben wissen, Vnd alle Kunst beschämt, ist blohs daß du, HErr Christ, Ein starcker Sieges=Held vom Tod' erstanden bist. Laß aller Wissenschafft und W'eißheit Gut verschwinden, Wenn wir in dieser Kunst uns nur gelehrt befinden, Sie bleibt uns doch zu hoch, ob gleich die stolt2e Welt Sie und dein Creut2 dazu für lauter Thorheit hält. Gieb du uns nur darein Begierde zuzunehmen, Daß wir die böse Lust durch ihr Erkäntniß zähmen, Denn dein Erstehung scheint doch dahin bloß zu gehn, Daß wir von unserm Fleisch und seinem Tod erstehn. Wer sich der Sünden Tod noch stets wil halten lassen Hat deiner W"lederkunfft sich wenig anzurnassen, Vnd wer den Lüsten dient und wandelt nicht im liecht Des Geistes der begreifft noch dein' erstehung nicht. Hilff daß wir täglich uns in wahrer Busse kräncken Vnd also an das Creut2 den alten Adam hencken, Der in der Finstemiß der Hellen=werck volbringt Vnd mit dem schwachen Geist ohn ablaIl sorglich ringt. LaII uns durch deinen Sieg im Sieg und oben schweben, Vnd dir ergeben seyn in einem newen Leben, Thu allezeit von uns den W'ust der Sünden ab, Denn deine Tücher auch behält das finstre Grab."
3. Die Texte Die nachfolgende Edition der beiden Eklogen Dachs basiert auf den bei den oben (Anm. 9 u. 1 0) genann ten, jeweils zwei ungezählte Blätter in 4° umfassenden Einzeldrucken der VB Wrodaw (Breslau), Sign.: 354 241 (Weihnachtsekloge), und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851 -2,74 R (Osterekloge). Die Interpunktion wurde mo dernisiert; die Orthographie blieb unverändert, abgesehen von den heute meist üblichen typographischen Glättungen: Regulierung der i/j- und u/v-Schreibung nach modernem Usus, Auflösung von ligaturen, Großschreibung bei Eigennamen und bei Satzbeginn. 76 Ebd. 77 Ebd., 458.
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Akzente wurden übemommen. Die Sprechemamen, in den Originaldru cken stets abgekürzt am Anfang der Verszeilen, wurden ausgeschrieben und dem betreffenden Vers auf eigener Zeile in Kapitälchen vorangestellt. Die Großschreibung am Versbeginn wurde beibehalten, ebenso alle weite ren Großschreibungen der Originaldrucke (hauptsächlich bei Saktalwör tem) . Druckfehler wurden korrigiert, mit Angabe der Fehlform im Apparat. Blatr- bzw. Seitenübergänge sind durch Angabe der Recto- und Verso Seiten der einzelnen Blätter innerhalb von Spitzklammem kenntlich ge macht. Den beiden Texten schließen sich jeweils kurzgefaßte Erläuterungen und eine Übersetzung an. 78 Die Lemmata im Erklärungsteil sind bezogen auf die von mir den beiden Texten hinzugefügte Verszählung. Drei Punk te innerhalb des Lemmas zeigen an, daß das gesamte Textstück Gegen stand der Erläuterung ist; stehen die drei Punkte in Spitzklammem, so bezieht sich die Erläuterung nur auf die Wörter vor und nach diesem Zei chen.
78 Den Herau.�gebem vorliegender Festschrift habe ich für sachliche und stilistische Verbesserungsvorschläge zu den heiden Übersetzungen und für Ergänzungen zu den Erläuterungsteilen zu danken.
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker
3. 1 . Die Weihnachtsekloge (1 651) IESU CHRISTI Dei ab aetemo a Patte geniti, et in temporis complemento ex Maria Virgine Hominis nati Redemptoris nostri opt. max. honori natalitio.
Mopsus. Mycon.
<MOPSUS.>79 Quin, formose Mycon, moesta tuae fata AmaryIlidis Fletu continuas, quem subitis imbribus haud ita Pridem rupi t hyems nos dirimens et tenerum gregem? Et iam caeruleo sol rediit purior aeth ere , 5 Iam turbata leves rursum animant rura favoflÜ, Et dulci strepitu frondiferis arboribus sonant.
10
Te vero, iuvenis, bucolico carmine nobilem Silvae urbesque ferunt, te nemorum discere numina Et nymphae cupiunt. Quot patulis lutea frondibus Pendent serta tibi, sub tuguri cespite quot tui Servas pocu1a, quot fronte truces, spem generis, capros Omni rure, tuae, seit Lycabas, munera fistulae!
Myco'\;.
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Nil me dona movent, nil querulae nomen arundinis Et vanae Dryades, nec me iterum, Mops e, precor posce Amaryllida. Nil mortale canam, i am melior pectora vi s subit. Iam spirare polos, iam didiei ferre anirnis D eum.
Mopsus.
Quae Medea tibi quisve magus tlun cito pristinos Sensus eripuit? Tene valens cartnine mystico Ter Circe radio summa notans tempora contigit? !\IYCo,\;.
20 Tune impune viris obücias talia? Thessalae <1" > Qui d scrutentur anus,'o sintne Hecates numina quae putant,
79 Fehlt im Originaldruck.
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Fugi seire. Utinam dispereant, haec sacra qui colunt. Detestanda mihi nomina sunt Zopyrion senex, EuphorblL�, Pterelas, turn Pholoe carminibus polo Lunam diripiens, docta anirnam reddere mortuis, Umbris imperitans et superis et tumido rnari, Impellensque sacra, sie perhibent, pectora naenia. Constat mens animi recta mihi corpus ut integrum. At qui desipui, Mopse, diu, nunc sapio probe, Postquam propitii s sideribus Daphnis adest puer, Quern virgo peperit concubit1L� nescia masculi.
Mopsus.
Quem narras puerum, parve Mycon, quam mihi vitginem? Myc:ox.
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Quem desideriis, eaede boum thureque, condito A mundo, proavfun spes petiit vatibus eminus Iam visum. Media noete mihi nuneilL� adstitit Coelestis socii sque attonitis lumine plurimo Iam naturn referens et positurn Daphnida sordido Prae.�epi; propero sollieiti Bethlemiam gradu lremus. Pedibus continuo nos ferimur eitis, Inventurn eolimus supplieibus protinus oseulis. Lux 6 sidereis quanta oculis, qui lepor 6 genis Aut quae floridulo, Mopse, fuit gratia eorpori? Iures esse Deum. Sed genitrix lumina duleiter Demisit residens, virgo, ramen facta puerpera, Et charum tenem filiolum fovit alens manlL Quidam forte senex iuxtim asino pabula praebuit.
Mopsus.
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Nunc pattern memini stultus ego plurima dieere Hoc nobis soliturn de puero non sine lachrymis, Venturum populis praesidium, Isaeigenis decus, Tune vulgO lapides aureolos sub pede quolibet Et gemmas fore, tune lacte novo, flumina tune vaga <2'> Undarura mero, tune pecori ni1 fore noxium.
Myc:ox.
Hic est ille puer, sie iuvenes aetherii canunt. MOPsus.
Alternis igitur dignus erit carminibus, Myeon. Myc:ox.
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Iamdudum meditor. Non humilis Musa decet Deum,
80 Qllid scrutenl1lr anus durch Beschneiden des oberen Randes stark dezimiert, unter der Zeile hsl. vollständig mitgeteilt. Das Qllid ist auch verbürgt: al.� KlL�tOS auf BI. 1'.
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker Quem certant acies sidereae to llere laudibus. Mopsus.
Pastorwnne putern voce rudi nolle Deum cani? Et quondarn Isaides pastor erat montibus bis agens Chari patris oves, at Superos movit arundine. MYc:o�.
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Quis nato taceat, plausum agitant omnia, Daphnide? Et silvae sttepitu subsiIiunr, et resonant sacrae Quercus , et trepidant laetifico murmure f1umina.
MOPSus.
Daphnis cuncta novat, reddit agris et pecori decu.�. MYc:o�.
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Secum candida fert fata suo Daphnis ab aethere, Et prisco meli1L� seculum equis provebit aurei s . Tellus agricolam non subiget vomere, non bovem. Crescet sponte Ceres, musta sui non capient laC1L�. VIX gestabit ovis purpurei pondera velleris, VIX baccas oleae. Perpetuis fructibus arbo re s Nutabunr, salices parturient nunc opobalsamum. Et pinguis sterili vel platano myrrha fluer, rosas Quaevis et violas terra ferax puniceas feret.
Mopsus.
75
Pax et iuris amans saneta fides rus iterum colunt, Iam non insidias latro parat, sanguine non vias Infamat, manibus portat opes conficiens i ter, Et comple[ vacuum tutus ubique aera canti bus.
MYc:o�.
/10
Et nunc innocuis errat ovis mista leonibus, Nec saevi metuit capra salax os rabidum lupi. Non infecta bibit bos petulans vaccaque f1umina, Nec corrupta metit comminuens gtamina dentibus. Non armenta luem tabificam non homines timent. <2-.>
Mopsus.
/15
Ergo, optate puer, nulla tuum lux decus auferet. Donec parca thymo gaudet apis, pascua gramine, Vivo fonte nemus, purpureis ver breve floribus, In nostris tua laus semper erit pectoribus virens.
MYc:o�.
Dum nox atra di em persequitur, pulverulentam hyems Aestatem, f1uviorum 1L�que recens unda supervenit Undae, te vituli sanguine, te lacte vocabimus . Mopsus.
Felix cresce puer! Quantus eris, cum tua mel merwn
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Fundet Iingua, doeens nostta salus vitaque eardine Quo vertatur, iter quod Iiquidum dueat in aethera, Cum eaecis roseum restitues unica lux diem, Claudis crura, sonum nulla prius verba loquentibus, Et vitam domitis iam neee. Tune aequoream manu CompeseesR1 rabiem, traiicies undisonum mare Non udis pedibus, tune populis exiguo improbam Franges pane famem, quin ttueium spirituum gregi Formidandus eris, quem subiges imperio domans.
Mvcox.
Heu quam stat meritis nulla solo gratia par tuis!
tOO Nune horres tenebrisR2 atque gelu, panniculis miser Abiectis tegeris membra toro laesus ab hispido. Post haec pontificum ludibrii s , plebis et infimae Sannis exposirum te peragent, Daphni, emcis reum. Sed cum roborea su.�tu1erint innocuum trabe, t05 Tecum quaelibet in fata, precor, nos, sequimur, rape. Mopsus.
Pasmr, eoge pecus, praecipitat vespera eoelirus. Fumat vi11a procul, meque epulis Nisa domi manet Iamdudum, stipulam earminibus eras iterabimus. Simon Daehius.
M.DC.U.
Erläuterungen Die Namen der beiden Sprecher sind aus der antiken lateinischen Bukolik bekannt. Mopsus heißt auch einer der beiden Hirten in Geraldinis Weih nachts ekloge De sa/vatons nostri nativitate (s.o., S. 212) . Zu Mycon (= Micon) vgl. auch Dachs Osterekloge, V. 62. 1 Amaryllidis] Amaryllis als Name eines Hirtenmädchens bei Vergil (ecl. 1 ,4-5) und Calpumius (4,38). 17-19 Medea < ... > Citre] Die kolchische Zauberin Medea und ihre Tante Kirke, die Tochter des Sonnengotts, werden schon bei Theokrit 2,1 5f. als Magierinnen für einen Liebeszauber angerufen. 19 Circe] Vgl. Verg. ecl. 8,70.; die Verwandlung der Gefährten des Odysseus durch Berühren mit einem Stab ist bei Ovid met. 1 4,278 ähnlich formuliert: et tetigit summos vitga dea dira capillos. 20-21 Thessalae <... > anus} Thessalien galt im Altertum als ein Land der Zaubereien und Hexenkünste (vgl. Lukan 6,434-444). 81 CompemM Originaldruck 82 tenerbis Original druck
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21 Heeates numina] Hekate hier als Göttin der Zauberei. 23 Zopynon] Gemeint ist vermutlich Zopyros, ein Magier und Physio gnom, der zur Zeit des Sokrates in Athen wirkte. Er soll Sokrates wegen seines Aussehens verspottet (Cic. fat. 1 0) und ihm einen gewaltsamen Tod vorausgesagt haben (Tusc. 4,80). 24 Euphorbusj Ein phrygischer Hirte, der durch neuartige Opfer eine Dürre und Hungersnot abgewendet haben soll. So hieß u.a. auch ein ho merischer Hdd, dessen Inkarnation Pythagoras zu sein glaubte (Ov. met. 1 5,1 61) - PterelasJ Gemeint ist hier wohl Pterdaus, König der Tdeboer, der durch eine goldene Locke, die er von Poseidon erhalten hatte, Un sterblichkeit erlangte (Apollod. 2,60; Paus. 9,1 0,4; Hdt 5,59) . Pholoif] Name für spröde Mädchen bei Tibull (1 ,8,69) und Horaz (carm. 1 ,33; 2,5,17; 3,1 5,7). Wie die dieser Pholoe von Dach in V. 24-27 beigelegten magischen Fähigkeiten nahdegen, handdt es sich hier um eine vage, nicht ganz sachgerechte Reminiszenz an Tib. 1 ,8,1 7-1 9. 24-25 earminibus . . diripiensj Vgl. Verg. ecl. 8,69; Ov. met 1 2,263-264. 30 Daphnis] Jesus Christus hier wie auch in der Osterekloge unter dem Namen des in Vergils 5. Ekloge besungenen mythischen Hirten Daphnis, der eines grausamen Todes stirbt und, betrauert von der gesamten Natur, verklärt zum Himmd aufsteigt und von den Hirten fortan als Gott verehrt wird. Mit dem Vergilischen Daphnis ist nach Servius (ecl. 5,20) allegorisch auf Caesars Tod Bezug genommen. 35-39 Media noete ... cim] Nach Luc. 2,8-1 6. 46 Quidam < ... > senex] Der h1. Josef. 49 Isacigenis] Vgl. die Stamm tafd Jesu Matth. 1 , 1-16. 51-52 INne lade ... mero] Vgl. exod. 3,8. 52 ni/fore noxium] Vgl. Is. 1 1 ,9. 58 Isaides pastOTj David, der als jüngster Sohn des Isai in Bethlehem seines Vaters Schafe hütete (I Sam. 1 7 , 1 5) . Vgl. die Osterekloge, V. 36. 59 Superos movit arundine} Anspidung auf den Psalter, als dessen Verfas ser David galt. Vgl. Am. 6,5. 61-62 Das Lob Gottes durch den Kosmos (etwa psalm. 95,1 1-13: LaetenlNr eaeJi et exultet terra, commovealNr mare el pknilNdo eius, gaudebunt eampi et omnia, quae in eis sun/. Tune eXli/tabunt omnia Ji!JIa silvarum a facie Domini, quia venit < ... » wird u.a. wiederaufgegriffen bei Is. 49,1 3: Laudate, eaeJi, et exulta, terra, iubilate, montes, laudem. 63-81 Mit der Geburt Jesu wird also ein Reich des Glücks, des Wohl stands, der Gerechtigkeit und allgemeinen Friedens anbrechen. Wie in der frühneuzeitlichen Weihnachtsbukolik üblich, verbindet sich hier Jesajas Prophetie vom Friedensreich des Messias (Is. 1 1) mit der Vision von der Neubdebung des Goldenen Zeitalters mit der Geburt eines Kindes in Vergils 4. Ekloge. -
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68 Vix' ... velkris] Vgl. Verg. ecl. 4,42-45. 71 Et pinguis ... fluet] Vgl. Verg. georg. 2,70: et steriles platani maios gessere valentis (steriles besagt hier, daß die Platane keine für den Menschen brauchbaren Früchte hervorbringt) . 77 innoCHis ... leonihusJ Vgl. Verg. ecl. 4,22. 83 Donec ... apis] Vgl. Verg. ecl. 5,77: dumque tf!ymo pascentur apes. 86-87 puiverulentam <... > Aestatem] Vgl. Verg. georg. 1 ,66. 87-88 unda mperoenit UndaeJ Vgl. Hor. epist. 2,2,1 76: veiut unda superoenit undam. 89 Feiix cresce puer!] Vgl. Verg. ecl. 4,60/62: Incipe, panJe pu"92 caecis ... diem] Matth. 9,27-30; Mare. 8,22-25; Luc. 7,21 . 93 Claudis crura] Matth. 9,6-7; 1 5,30-3 1 ; 2 1 , 1 4. - sonum ... IoquentihusJ Matth. 9,32-33; Mare. 7,32-35. 94 vitam ... nece] loh. 1 1 ,32-44 (Lazarus); Mare. 5,35-42 (fochter des Jairus). 94-95 aequoream ... rabiem] Luc. 8,24. 95-96 traiicies ... pedibus] Matth. 1 4,25. 96-97 populis ... jamem] Matth. 1 5,32-38. 97-98 trucium spirituum ... domans] Matth. 8,30-32. 106 cogepeCNS] wörilich Verg. ecl. 3,20. 107 Fumat villa POCH/] Vgl. Verg. ecl. 1 ,82: Et iam summa ProCHt viilantm CHimina jumant. - Nisa] Nysa, Name einer Mädchengestalt in den Eklogen von Vergil (8,1 8.26) und Nemesian (3,26). Vgl. Osterekloge, V. 50.
Übersetzung Zu Ehren des Geburtstages Jesu Christi, unseres gnädigsten und größten Erlösers, der, Gott von Ewigkeit her, vom Vater gezeugt und, als die Zeit erfüll t war, von der Jungfrau Maria als Mensch geboren wurde.
Mopsus. Mycon.
<Mopsus.>
Warum, schöner Mycon, fährst du nicht fort mit der Klage über den traurigen Tod deiner Amarylli s - der Klage, die der Wintersturm durch plötzliche Regen güsse vor gar nicht langer Zeit unterbrochen hat, indem er um und die junge Herde voneinander trennte? Schon ist die Sonne heller am blauen Himmel zu-
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rückgekehrt, schon beleben sanfte Winde aufs neue die aufgewühlten Felder und rauschen lieblich in den belaubten Bäumen. Wälder und Städte, junger Mann, verkünden aber deinen Ruhm in der Hirtendichtung, die Gottheiten der Haine und die Nymphen sind begierig, dich kennenzulernen. Alle die aus ausgebreite tem Laubwerk gewundenen gnldgelben Kränze, die /Ur dich aufgehängt sind, alle die Becher, die du unter der Rasendecke deiner Hütte verwahrst, und alle die un gebärdigen Ziegenböcke, Hoffnung ihres Geschlechts, auf dem ganzen Landgut: Alles das sind - Lycabas weiß es - Geschenke /Ur dein Aötenspiel. i\fyco".
Gaben beeindrucken mich gar nicht, nicht der Ruhm der klagenden Flöte und die banalen Dryaden. Verlange bitte auch nicht wieder von mir, Mopsus, daß ich Amaryllis besinge. Ich will nicht von Sterblichem singen, eine bessere Macht hat jetzt mein Herz ergriffen, jetzt habe ich gelernt, vom Himmel beseelt zu sein und Gott im Herzen zu tragen. Mopsus.
Welche Medea oder welcher Zauberer hat dir so schnell deine alte Denkungsart geraubt? Hat Kirke, die stark ist durch geheimen Zauberspruch, dich dreimal mit ihrer Rute berührt und oben am Kopf gezeichnet? I\Iyco".
Kanns t du ungestraft Männern derartige Vorwiirfe machen? Ich will gar nicht wissen, was die alten Frauen in Thessalien erforschen und ob es das W'alten der Hecate gibt, an das sie glauben. Zugrunde gehen sollen die, die solche Riten ab halten! Verabscheuungswürdige Namen sind mir das: der Greis Zopyrion, Euphorbus, Pterelas, sodann Pholoe, die mit Zaubergesängen den Mond vom Himmel zerrt, fihig ist, Toten das Leben zurückzugeben, die über das Schatten reich, über die obere Welt und das schwellende Meer gebietet und die, wie man sagt, mit einer Zauberformel Herzen verleitet. Das Innerste meines Herzens ist unbeirrt auf das Gute gerichtet, so wie mein Körper unversehrt ist. Ich, der ich lange ein Tor war, Mopsus, besitze nun aber gehörige Einsicht, seitdem unter günstigen Gestirnen der Knabe Daphnis da ist, den eine Jungfrau geboren hat, die noch mit keinem Mann geschlafen hatte. Mopsus.
Von welchem Knaben, von welcher Jungfrau sprichst du mir da, mein kleiner Mycon? Myco".
Von dem, nach dem die Hoffnung der Vorväter seit Erschaffung der Welt sehn süchtig, mit der Opferung von Rindem und mit Weihrauch, verlangte und den die Propheten in der Feme schon gesehen hatten. Mitten in der Nacht erschien ein himmlischer Bote mir und meinen Gefahrten, die wir ganz betäubt waren von seinem hell strahlenden Leuchten, und sagte uns, dal� Daphnis jetzt geboren sei und in einer ärmlichen Krippe liege; wir sollten zusehen, eilends nach Bethlehem zu gehen. Schnellen Schrittes machten wir uns sogleich auf den Weg, und als wir Daphnis gefunden hatten, bezeugten wir ihm ungesäumt mit demütigen Küssen unsere Verehrung. 0, welch herrliches Leuchten war in seinen stemengleichen Augen, welche Anmut ruhte auf seinen Wangen, Mopsus, welch ein Liebreiz auf
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Lothar Mundt seinem blühenden Leibl Du würdest schwören, da.�s er Gott istl Seine Mutter aber saß dort und senkte anmutig die Augen, Jungfrau und doch Wöchnerin ge worden, und sie hielt ihr liebes Söhnchen sorglich mit zarter Hand, während sie es säugte. Ein alter Mann gab gerade in ihrer Nähe einem Esel Futter. Mopsus.
Jetzt erinnere ich Einfaltspinsel mich daran, daß mein Vater uns unter Tränen von diesem Knaben sehr viel zu erzählen pflegte: Er, der Stolz für die Nach fah ren !saaks, werde kommen a1.� Beschützer der Völker. Dann würden überall unter jedem Fuß Steine aus Gold und Juwelen sein, dann würden die wallenden Flüsse überfließen von frischer Milch und von reinem Wein, dann würde dem Vieh nichts mehr schaden können. MYcox.
Dies ist ebenjener Knabe: So verkünden es die himmli schen Jünglinge. Mopsus.
Also wird er würdig sein, Mycon, daß man ihm Wechselgesänge widmet. Mycox.
Längst schon denke ich darüber nach. Doch eine niedere Muse ziemt sich nicht für Gott, um dessen Lobpreis die himmlischen Heerscharen miteinander wettei fern. Mopsus.
Soll ich glauben, daß Gott von der kunstlosen Stimm e der Hirten nicht besungen werden will ? Einstmals trieb in diesem Gebirge auch der Sohn des !sai als Hirte die Schafe seines lieben Vaters, und dennoch rührte er die Himmlischen mit sei ner Flöte. Mycox.
Wer könnte schweigen, da doch Daphnis geboren wurde? Alles lässt Beifall er schallen. Auch die Wälder frohlocken mit Rauschen, die heiligen Eichen hallen wider, und die Flüsse strömen schnell mit fröhlichem Tosen. M opsus.
Daphnis macht alles neu, gibt Glanz den Feldern und dem Vieh. MYcox.
Von seinem Himmel her bringt Daphnis ein glückliches Geschick mit, und mit goldenen Pferden fUhrt er ein Zeitalter herauf, das besser ist als das frühere. Die Erde wird mit der Pflugschar nicht den Bauern und nicht den Ochsen zermür ben. Von selbst wird das Getreide wachsen, den Most werden seine Kufen nicht fassen. Kaum wird das Schaf das Gewicht des purpumen Vlieses tragen können, kaum die Ölbäume ihre Beeren. Die Bäume werden schwanken unter den allzeit vorhandenen Früchten, die Weiden jetzt BaI.�am hervorbringen. Sogar von der unfruchtbaren Platane wird ein öliger Strom von Myrrhe fließen, und jeder Bo den wird ohne Unterschied fruchtbar sein und Rosen und purpurrote Veilchen tragen .
Mopsus.
Der Friede und die das Recht liebende heilige Treue bewohnen wieder da.� Land,
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der Straßenräuber liegt nicht mehr auf der Lauer, schändet nicht mehr die Wege mit Blut, der Reisende trägt seinen Besit:2 offen in Händen und lässt überall ge fahrlos seinen Gesang in die freie Luft erschallen. Mvcox.
)et:2t schweift das Schaf inmitten harmloser Löwen umher, und die übermütige Ziege fürchtet nicht das reißende Maul des wilden Wolfes. Das ausgelassene Rind und die Kuh trinken aus unverseuchten Flüssen und rupfen und zermahlen mit ihren Zähnen keine vergifteten Kräuter. Weder das Vieh noch die Menschen ha ben eine zehrende Seuche zu befürchten. Mopsus.
Also wird, ersehnter Knabe, kein Tag deine Herrlichkeit rauben können. Solange sich die sparsame Biene am Thymian erfreut, die Wiese am Gras, der Hain am le bendigen Quell, der kurze Frühling an purpumen Blüten, so lange wird dein Ruhm stets in unseren Herzen leben. MYcox.
Solange die schwarze Nacht auf den Tag folgt und der Winter auf den staubigen Sommer, solange in den Flüssen immerfort eine neue Welle die alte überwall t, so lange werden wir dich anrufen mit dem Blut eines Kalbes und mit Milch. Mopsus.
Knabe, wachse glücklich heranl Wie groß wirst du sein, wenn deine Zunge reinen Honig wird fließen lassen, indem sie uns lehrt, um welche Angel sich unser Heil und Leben dreht, welcher Weg in den klaren Himmel führt, - wenn du, einzigar tiges Ucht, den Blinden den rosigen Schein des Tages, den Lahmen den Ge brauch der Beine, denen, die zuvor kein Wort sprechen konnten, die Stimme und denen, die schon der Tod bezwungen hat, das Leben zurückgibst. Dann wirst du mit der Hand das Toben des Sees bezähmen, das von Wellen rau.�chende Meer trockenen Fußes überqueren, dann wirst du einer großen Volksmenge mit einer geringen Menge Brotes ihren unbändigen Hunger stillen, ja du wirst der Herde wilder Dämonen ein Schrecken sein: Du wirst sie zähmen und deinem Befehl un terwerfen. Mvcox.
Ach, wie so gar keinen Dank gibt es auf Erden, der deinen Verdiensten gleich kämel )et:2t frierst du schaudernd in Finsternis und Kälte, elend bedeckst du dich mit armseligen Lumpen, deine Glieder '\""e rletzt ein rauhes Lager. Später wird man dich, ausgesetzt dem Hohn der Hohenpriester und den Grimassen des Pöbels, anklagen, Daphnis, und zum Kreuzestod verurteilen. Doch wenn sie dich un schuldig mit den eichenen Balken erhöhen werden, so nimm uns bitte mit dir fort - zu welchem Geschick auch immer, wir werden wir dir folgen! Mopsus.
Hirte, treibe das Vieh zu.�ammen ! Der Abend senkt sich schnell vom Himmel herab. In der Ferne steigt Rauch auf vom Landhaus, und Nisa erwartet mich zu Hause schon längst zum Essen. Morgen werden wir noch einmal zum Gesang auf der Rohrpfeife spielen.
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3.2. Die Osterekloge (1 652) IESU CHRISTO aetemo Dei filio post ignominiosissimam mortem Peccatorum, mortis atque inferni ttiumphatori gloriosissimo, Redemptori nostm optimo maximo.
Celadon. Sarnis.
CRLADON.
Est vem, ut teferunt, vivit io Daphnis ab inferis Cocytoque redux, et querulus, Sarni, tuum coquit Cot mentemque dolor? Sat Iachrymis hactenus e.�t datum. SARNTS. Ne te fama loquax deeipiat tarn eito credulum. 5 Quos trux imperio mors, Celadon, iam domitos premit, Victuros iterum ctedere me tarn facile autumas? Quid, Iotdanis aquae si tepetant fontis originem Et sol hesperio mane caput ptomat ab aequore, Mitum pattutiant virus apes et me! araneae? CRLADON.
10
15
Ergo, Sarni, tuam difficilis demoter ut fidem Et turbate meam te patiat Iaetitiam? Seio Et credo. Quoties vivus adhuc ipse neei c1atis Viram restituit dexterl Ego non seme! bis meis Vidi luminibus, quos tenebris atra subegetat Iam mors, tursus in hunc isse diem munere Daphnidis83• Cteclas esse Deum, cut nequeat teddere sidera < l v > Surgens ipse sibi? Nam toties se fore tertia Vivum luce suis diseipulis faUere neseius Affirmarat.
SARNTS. 20
Ut hoc edocear, die agedum mibi Id quo teste ptobes? Nam solitum mim nec omnium AdmissUta fidem saepe videns obstupui edere.
83 Daphidis Originaldtuck.
Simon Dach
als neulateinischer Bukoliker
CF.L\DON.
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Viderunt Cephalus, turn Dorylas et prior Herpylis. His adde et Diophan, his Lycaban atque Palaemona Pastores fidei non dubiae. Quin Galilaeida, Si visum est, venias, quo subitus iam tetulit gmdum.
SARNIS. Mirabar, ttemulum quidnam hodie concuteret solum, Festinaret equis sol solito splendidioribus. Excepere suum laetitia terra polusque herum. CF.L\DON.
30
Fulgentes etiam siderea luce sate1lites Descendisse ferunt, et turnuli pondera saxei Laxasse, excubüs attonitis et fugientibus.
SARNIS. In vitam quoniam nune redüt, cur plaeuit mori? CF.L\DON.
35
Respondit follis ista Deo fata parantibu.� Iamdudum, rabidi nobilior pastor ut ex lupi Rictu dente ttuci eomminuendum assereret gregem.
SARNIS. Sie olim Isaides Upilio, cum ferus hine leo, I1line ursus oves ore minax diriperent, eos Comprensos iuvenis magnanimo robore perculit Assertor patrii, sie memorant, intrepidus gregis. CF.L\DON.
40
Non se David huie, quem eanimus, Sarni, ferat parem Pastori, Tityum mole lieet terribili puer Deiecit, decies mil1e viros unu.� agens rnanu.
SARNIS. Pastorum quis enim sese avidis obüciat lupis, Et solum innumeris, ferre necem non dubius, suas 45 Ut conquirat oves per nemora et tesqua diu vagas? <2'> CF.L'\DON.
Et nobis animos, Sarni, dolor vulnere sauciet Vivo DaphnideR4? Quin Areadieus quam mihi tibiam Vietori Lycidas inferior quippe modis dedit Nuper, Sarni, cedo! Non ego nune deteriu.� eanam . SARNIS. 50 Nec me despicias, servitio Nisa lieet mihi Usque insultet agens. Sie etiam Myrmidoni institit
84 Daphide Originaldruek.
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Festinanri opetam non validis sie saris arrubus. At eanru didiei vineere vel, si veniat, Chrornin. Si vis, deposito congrediar pignore, sie enim Certatur meliu.•. Nec meruo quemlibet arbittum.
CRLADON. Haee si mens animi est, non fugiam. Pignoris en loco Hune caprum staruo: iam tenerum dueere seit gregem, lam captat soeias spes numerosi ampla peculii. Tu contra quid habes, aequiparet quod prerio meum?
SARNIS.
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Hoc depono pedum grande senis munus Amyntoris: Arman t aera caput, Sicanlis digna laboribus Et docto Sterope. Saepe caprum pollieirus Myeon Illud me petii t, sed, vitulam det licet, haud feret. Verum de grege nil tango, pecu.. bis numerant die.
CRLADON. 65 Non sum difficilis, sed merito carrnine quis levet Daphnin, Sarni? Suos ipse docet, quae populis canant, Quos sol exoriens, quos subiens oeeanum videt, Quae varis modulos Threicii, quae superent rubas, Infandis rabiem ponere vel docta leonibus, 70 Exannare rigres, duririem frangere rupium Et sedare furenrum Zephyrorum et pelagi rninas. CRLADON. Daphnis voce viros immemores disrinuit eibi Abstraxitque domo, coniugibu.. proleque canninis Divini cupidos. Tune siluit venrus, et omnibus 75 Aures arboribus mens et amor venit, in abdiris Serpentes latebris lethifero tune sine toxico Haesere attoniri, tune peeudes carpere gramina Oblitae ambrosü se sariarunt dape carminis.
<2">
SARNIS.
KO
Pisces quin eriam difficiles anti: eapi sua, Ut Daphnis eecinit, rete teres sponteque et agmine Inttarunt valido, verriculo non capiente eos.
CRLADON. Canru triste chaos nocris et os Cerbereum potens Daphnis perdomuit, funere iam compositos suo In lucem revocans. Immo, pattum si stabilis fides K5 Sanctorum plaeiris, illa poli machina lucidi, Sol et cum faeibus nocris amans Luna rninoribus, Aer, terra, frerum, quicquid et haec undique conrinent, Constant numine, nune quem colimus, voeeque Daphnidis.
Simon Dach
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SARNIS. Er si fatidicis porro fides tum sat est viris, 90 Non haec ante suum, quae celebras, interitum trahent, Quam cum terribili voce canens omnia solverit Return Daphnis amor, principium clau.�ulaque omnium. CEL\DON.
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Er cantus, iuvenis, tempu.� erir claudere rivulos. Laudis Daphnis aquis ecce suae nos simul obtuir Sorbendos misere, ci subito desinimus pares Anni s et studiis bucolica vincere tibia. Capturn tollo meum, Sarni, tuum tolle bonu.� pedum. Quamprimum socio euro pecore huc se tulerit Molon, Hoc certare tibi non renuo, si placet, arbitro. Simon Dachius.
M. De. UI.
Erläuterungen Die Namen der beiden Sprecher sind in der antiken Bukolik nicht belegt. Die Wahl des sehr ausgefallenen Namens Sarnis dürfte eine Reminiszenz an die erste Ekloge (Jamis venatory von Petrus Lotichius Secundus sein (s.o., S. 208) . Auch der Name Celadon findet sich bei Lotichius (111 der fiin ften, Daphnis betitelten Ekloge, s.o., ebd.). 1 Daphnis] S.o. zur Weihnachtsekloge, V. 30. 10 hlam ... .ftdem] Konstruktion etwas undurchsichtig. Übersetzung dem vermuteten Sinn entsprechend. 17-19 Nam toties ... AffirmaratJ Vgl. Matth. 1 6,21 ; Luc. 24,46; loh. 2,1 9. 18 fallerr: nescius} Vgl. Is. 53,9; I Pett. 2,22. 22 CephaJus] Der Namensähnlichkeit wegen ist hier an Kephas zu den ken, also den Jünger Simon, dem Jesus diesen Beinamen mit der Bedeu tung 'Fels' Oat. Petrus) verliehen hatte (vgl. I Cor. 1 5,5; Luc. 24,34). Dorylas] Vermutlich beliebig gewählter Hirtennam e für einen der Jünger Jesu. In der römischen Bukolik begegnet der Name nur ein einziges Mal (Calpurnius 2,96). Hcrpylis] Damit ist natürlich Maria Magdalena ge meint, die dem Auferstandenen als erste begegnete (Mare. 1 6,9). 23 Diophan < ... > Lycaban < ... > Palacmona] Wie Dorylas ebenfalls fikti ve Hirtennamen für verschiedene Jünger Jesu. In der antiken Bukolik ist nur der Name Palaemon belegt (Verg. ecl. 3). 24-25 Quin Galilacida ... tChllit gradum] Vgl. Matth. 26,32; 28,7.1 0; Mare. 1 4,28; 1 6,7. 29-31 Fulgentes ... fugientibus} Vgl. hierzu vor allem Matth. 28,2-4, wo aber nur von einem Engel die Rede ist, ebenso auch Mare. 1 6,5. In den -
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anderen beiden Evangelien befinden sich zwei Engel am leeren Grnb des Auferstandenen (Luc. 24,4; loh. 20,1 2). 33 foliir ista ... parantibus} folia bezeichnen hier in Anlehnung an die Blätter der Sibylle (Aen. 3,443f.: insanam vatem aspicies, quae mpe sub ima I fata canitfoliisque notas et nomina mandat) das Alte Testament hinsichtlich der in ihm enthaltenen Ankündigungen des Erscheinens Christi als Erlösers des Menschengeschlechts (vgl. I Cor. 1 5,3; Is. 53,4-12). 36 Isaides Upilio] David (s.o. zur Weihnachts ekloge, V. 58). Der fol gende Bericht über seinen Kampf mit einem die Herde bedrohenden Lö wen und einem Bären nach I Sam. 17,34-35. 41 TitJum] Der von David besiegte riesenhafte Philister Goliath (I Sam. 1 7) erscheint hier unter dem Namen des Riesen Tityos: nach dem griechischen Mythos ein Sohn Jupiters, der zur Strafe dafür, daß er sich an Apollos Mutter Latona vergehen wollte, von Jupiter mit einem Blitzstrahl getötet wurde. In der Unterwelt lag er lang ausgestreckt gefesselt am Bo den, und ein Geier fraß ihm immer aufs neue seine stets nachwachsende Leber ab. 42 fiecies ... agens manu] Der Sieg Davids über Goliath demoralisierte die Philister derart, daß ihr ganzes Heer von zehntausend Mann die Flucht ergriff und von den sie verfolgenden Israeliten unter der Führung Davids geschlagen wurde (I Sam. 1 7,5 1-58; 1 8,7). 48 Lycidas] Ein in der römischen Bukolik häufig vorkommender Name (vgl. Vergil, 9. Ekloge). 50 Nisa] S.o. zur Weihnachtsekloge, V. 1 07. 51 MyrmidoniJ Kein aus der antiken Bukolik bekannter Name. 53 Chromin] Hirtenname bei Verg. ed. 6,1 3 . 66-63 Hoc depono pedum . . . haudferet] Inspiriert von Verg. ed. 5,88-90: At tu sume pedum, quod, me cum saepe rogaret, I Non tulit Antigenes, et erat tum dignus amari, I Formosum paribus nodis atque am, Menalca. 61-62 Sicaniis ... Sterope] Steropes heißt einer der Kyklopen, die in Sizi lien, am Fuße des Aetna, als geschickte Schmiedeknechte des Gottes Vul kan arbeiteten. Vgl. Claudian, Panegyricus dictus Honorio Augusto terlium Consuli (= Carmen 7), 1 94-1 95; ders., Oe raptu Proserpinae 1 ,240-241 . 62 Mycon] = Micon, Hirtenname bei Verg. ed. 3,1 0; 7,30, Calpumius (5,1 ; 6,91) und Nemesianus (3,1); in der Weihnachtsekloge der Name eines der beiden Sprecher. 64 Verum ... die] Nach Verg. ecl. 3,32-34: De grege non ausim quicquam deponm tecum: l Est mihi namque domi pater, est ;niusta noverra; I Bisque die numerant ambo pecus, alter et haedos. 68 vatis ... ThreiciiJ Der thrakische Dichter ist der sagenhafte Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang wilde Tiere und selbst die unbelebte Natur zu bezwingen vennochte.
Simon Dach
als neulateinischer Bukoliker
247
72 Die eigentlich unnötige Wiederholung des Sprechemamens Celadon ließe sich, falls nicht etwa eine Zwischenbemerkung des Sarnis beim Druck verloren gegangen sein sollte, allenfalls so erklären, daß eine Stropheneinteilung markiert werden sollte (der davorstehende wie der folgende Text Celadons umfaßt jeweils 7 Verse, ebenso alle folgenden Beiträge dieses Hirten). 77-78 peClldes ... Ob/itae] Vgl. Verg. ed. 8,2: immemor herbof'Nm ... ;uIJenca. 93 iUIJenis ... rWulosJ Vgl. Verg. ed. 3,1 1 1 : C/audite iam riIJulos, pueri. 97 tuum tolk bonus pedNm] Vgl. Verg. ecl. 5,88: At tu SNme pedum. 98 M% n] Als Hirtenname in der antiken Bukolik nicht belegt.
Übersetzung Für Jesus Christus,
den ewigen Sohn Gottes, der nach einem äußerst schimpflichen Tode über Sünden, Tod und Hölle herrlich triumphierte, unserengnädigsten und größten Erlöser.
Celadon. SamiS.
CEL\DON.
Es ist wahrhaftig so, wie man berichtet, hurra, Daphnis lebt, er ist aus Hölle und Unterwelt zurückgekehrt - und doch quält dein Herz und deinen Geist, Samis, jammervoller Schmerz? Mit den Tränen soll es jetzt genug sein! SARNTS. Laß dich von der geschwiitzigen Fama nicht betrügen und schenke ihr nicht so schnell leichthin Glauben! Meinst du, ich glaubte so ohne weiteres, Celadon, daß Menschen, die schon der grimmige Tod seiner Herrschaft unterworfen hat, wie der zum Leben erwachen werden? Wie wiire es denn, wenn die Wasser des Jor dan wieder zu dem Ursprung ihrer Quelle zurückflössen und die Sonne am Mor gen ihr Haupt aus dem Abendmeer erhöbe, wenn, 0 Wunder, die Bienen Gift und die Spinnen Honig erzeugten? CEL-\DON.
Soll ich also, Samis, griesgrämig [meinem] Glauben Schranken setzen wie du dem deinen und zulassen, daß du meine Freude störst? Ich weiß, und ich glaube! Wie oft hat er se!bst noch zu Lebzeiten Menschen, die dem Tode verfall en waren, gnädig das Leben wiedergegeben! Nicht nur einmal habe ich mit diesen meinen Augen gesehen, daß Menschen, die schon der finstere Tod dem Dunkel unter-
248
Lothar Mundt worfen hatte, durch die Gnade des Daphnis wieder an dieses Tageslicht zurück gekehrt sind. Wenn du nur glaubst, daß er Gott ist, warum sollte er dann nicht auferstehen und sich selbst das Himmelslicht zurückgeben können? So oft hatte er, der ohne Falsch war, ja seinen Jüngern versichert, daß er am dritten Tage le bendig sein werde. SARNIS. Wohlan denn, sag, um mich davon zu überzeugen, mit welchem Zeugen du es beweisen kannst! Denn oft habe ich verblüfft gesehen, wie er Wunderdinge zu vollbringen pflegte, die nicht für jedermann glaubwürdig waren. CEL\DON. Gesehen haben ihn Cephalus, ferner Dorylas und als erste Herpylis. Diesen füge auch Diophas hinzu, auch Lycabas und Palaemon, Hirten, die Glauben verdie nen. Komm doch, wenn es dir recht ist, nach Galiläa, wohin er schon sogleich seine Schritte gelenkt hat. SARNIS. Verwundert fragte ich mich, was heute den Erdboden erbeben ließ, warum die Sonne mit glänzenderen Rossen als üblich dahineilte. Erde und Himmel haben ihren Herrn mit Freude empfangen. CELADON. Man sagt, daß auch von himmlischem licht strahlende Helfer herabgestiegen sei en und die La..� t des steinernen Grabes gelockert hätten, nachdem die Wächter in besinnungslosem Schrecken geflohen seien. SARNIS. Da er doch jetzt ins Leben zurückgekehrt ist sterben?
- warum
wollte er denn überhaupt
CEL\DON. Es entsprach den Orakelblättern, die Gott schon vor langer Zeit dieses Schicksal zubestimmten, auf daß er, ein edlerer Hirte, der Herde Sicherheit verschaffe vor dem Rachen des wilden Wolfes, der sie mit grimmigem Zahn zu zerfleischen drohte. SARNIS. So hat auch einst ein junger Schäfer, der Sohn hais, als von einer Seite ein wilder Löwe, von der anderen ein Bär die Schafe drohenden Maules reißen wollte, sie mit beherzter Kraft gepackt und niedergestreckt, als ein, wie man erzählt, uner schrockener Beschützer der väterlichen Herde. CEL·\DON. Mit dem Hirten, den wir besingen, Sarnis, kann David sich nicht messen, wenn er auch als Knabe einen Riesen von fürchterlicher Größe niedergestreckt hat, mit seiner Hand allein zehntau.�end Männer vertreibend. SARNIS. Wer von den Hirten wollte sich denn auch gierigen Wölfen entgegenwerfen, einer all ein gegen unzählige, bereit, den Tod auf sich zu nehmen, um seine Schafe ein zusammeln, die seit geraumer Zeit in Wäldern und Einöden umherstreifen?
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker
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CELADON. Und soll uns, Samis, Leid das Herz versehren, da Daphnis doch lebt? Reiche mir lieber die Röte, die neulich der Arkadier Lycidas mir, dem Sieger, da er im Flö tenspiel unterlegen war, gegeben hat! Ich werde jetzt nicht schlechter spielen. SARNIS. Verachte mich auch nicht, obwohl Nisa mich ständig verspottet, wenn sie mich zum Knechtsdienst antreibt. Ebenso hat sie auch Myrrni don zugesetzt, als er sich bei der Arbeit mit seinen kräftigen Armen nicht so recht beeilte. Im Gesang aber verstehe ich sogar Chromis zu besiegen - falls er kommen sollte. Wenn es dir recht ist, möchte ich mit dir einen Wettstreit mit einem Wetreinsatz ausfechten: So kämpft es sich nämlich besser. Ich fürchte auch keinen Schiedsrichter.
CELADON. W'enn du dazu Lust hast, werde ich mich nicht entziehen. Sieh, ich setze diesen Ziegenbock ein. Er versteht schon die junge Herde zu führen und trachtet schon nach Gefahrtinnen - eine grolle Hoffnung auf reichen Zuwachs. Doch was hast du deinerseits, was an Wert meinem Einsatz gleichkommen könnte? SARNIS. Ich setze diesen großen Hirtenstab, ein Geschenk des alten Amyntor. Sein Ende hat einen bronzenen Beschlag, würdig sizilischer Arbeit und des Geschicks eines Steropes. Oft hat ]l.Iycon ihn von mir erbeten und mir dafür einen Ziegenbock versprochen, doch auch, wenn er ein Kalb gibt, wird er ihn nicht bekommen. Doch von der Herde rühre ich nichts an - sie zählen das Vieh zweimal am Tag!
CELADON.
Ich sperre mich nicht - aber wer kann Daphnis mit würdigem Gesang preisen, Samis? Er selbst lehn seine Anhänger, was sie den Völkern singen sollen, die die Sonne erblickt, wenn sie aufgeht, und die sie erblickt, wenn sie in den Ozean ein taucht: Ueder, die die W'eisen des thrakischen Dichters und seine volltönende Rede übertreffen, bestens geeignet, die Wrtldheit abscheulicher Löwen zu mildern, Tiger zu zähmen, die Härte von Felsen ZU brechen und die Drohungen wütender \l;"inde und des Meeres zu besänftigen.
CELADON. Daphnis hat mit seinem Gesang Männer so abgelenkt, daß sie das Essen verga ßen, und hat sie, die begierig waren nach göttlichem Ued, fortgezogen von Haus, Weib und Kindern. Dann schwieg der WCmd, und alle Bäume gewannen Ohren, Geist und Uebe. Dann verharrten in unzugänglichen Verstecken betäubt die Schlangen, ohne todbringendes Gift. Dann vergaßen die Schafe, Gräser zu rup fen, und sättigten sich an der Speise des göttlichen Uedes. SARNIS. Ja sogar die Fische, die sich zuvor schwer fangen ließen, kamen, als Daphnis sang, freiwillig und in mächtigem Schwarm in sein festgeknüpftes Netz - das Schleppnetz war zu klein, sie zu fassenl
CELADON. Daphnis bezwang mit seinem Gesang machtvoll das trauervolle Dunkel der Nacht und das Maul des Zerberus und rief die, die schon beigesetzt worden wa-
250
Lothar Mundt ren, ins Ucht zurück. Ja, wenn die Lehren der heiligen Väter unverbrüchliche Wahrhaftigkeit besit:2en, dann verdanken jener Bau des lichtvollen Himmels, die Sonne und, zusammen mit den kleineren lichtern, der nachtliebende Mond, die Luft, die Erde, das Meer und alle s, was diese überall in sich bergen, ihren Bestand dem göttlichen Walten und dem Wort des Daphnis, den wir jet:2t verehren. SARNIS. Und wenn ferner das Vertrauen in die Propheten hinreichend sicher begründet ist, so wird all dies, was du rühmst, seinen Untergang nicht eher erleben, als bis mit schrecklicher Stimme seinen Gesang anheben und damit alle s auflösen witd Daphnis, die Uebe, der Anfang und das Ende aller Dinge. CEL\DON. Es wird auch an der Zeit sein, junger Mann, die Kanäle des Gesangs zu schließen. Siehe, Daphnis überschüttet uns zugleich mit den Wassern seines Lobes, und wir werden elendiglich in einen Sog geraten, wenn wit nicht sofort aufhören, die, die uns gleich sind an Jahren und Neigungen, auf der Hirtenflöte zu besiegen. Ich nehme meinen Ziegenbock, Sarnis. Nimm du, sei so lieb, deinen Hirtenstabi So bald sich Molon in Begleitung seiner Schafe hierher begeben hat, weigere ich mich nicht, mit dir unter seinem Urteil einen Wettstreit auszutragen, wenn es dir recht ist. 1 652
SIMON DACH
Vulcanus und Constantia als Waffenschmiede die Schildbeschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras Columbus MARKUS SCHAUER (Bamberg)
Helden werden durch Dichter unsterblich, die Dichter durch ihre Werke und die Werke selbst . . . ? Sie können, wie Horaz und Ovid prophezeiten, beständiger sein als alles Irdische, wenn sie in jeder Generation wieder gelesen und weitergegeben werden. Die Werke der Dichtung sind unver gänglich, weil die Fortexistenz ihrer Verse nicht an die Lebensdauer des Papyrus, Pergaments oder Papiers gebunden sind, auf denen sie geschrie ben wurden. Selbst Steininschriften verwittern und dennoch können ihre Texte überleben, solange es Menschen gibt, die sie tradieren. Immer wieder haben Dichter mit verschiedenen poetischen Bildern die Unsterblichkeit ihrer Werke zum Ausdruck gebracht: Pindar (Pyth. 6,7) und Vergil (georg. 3,1 2-39) vergleichen ihr Werk mit einem Schatz haus bzw. Tempel, wobei auf Vergils Tempel in Bildern der Inhalt seines zukünftigen Werks beschrieben wird, Horaz bezeichnet seine Odensammlung als Monument, das beständiger ist als Erz und die Pyra miden Agyptens (carm. 3,30,1 -3) ; ähnlich äußert sich Ovid (met. 1 5,87 1 f.). Die genannten Dichter haben aber alle nur die Unsterblichkeit ihres eigenen Werkes vor Augen. Es ist ein reizvoller Gedanke, sich auszuma len, in welchem poetischen Bild man die Unsterblichkeit aller großen anti ken Werke visualisieren könnte. Es ist kein Zufall, daß eine solche poetische Imagination erst in der Neuzeit ersonnen worden ist, der die Antike pauschal als vorbildlich galt: Im Epos Co/umbus (erschienen 1 7 1 5) des Jesuiten Ubertino Carrara (1 6421 7 1 6)1 finden wir ein solches Bild, den Baum der Poesis: Er ist eine große Zeder, die hundert A ste hat, riesig und alt, aber ohne Blattlaub. Statt des-
Francisca Torres Martinez (Hg.): Ubertino Carrara. Columbus. Edici6n, intro ducci6n, traducci6n y notas, Jl.ladrid 2000 (mit spanischer Übersetzung); Florian Schaffenrath (Hg.): Ubertino Carrara SJ. Columbus. Carmen epicum (1 715), her au..gegeben, übersetzt und kommentiert, Berlin 2006, dort auch ein Forschungs bericht zum ColumbuI, 5-19.
252
MarklL� Schauer
sen sind seine Rinden über und über mit lateinischen und griechischen Versen der großen antiken Epiker bedeckt 2 Die Nymphe Poesis sitzt als Wächterin vor der Zeder und erklärt, daß dies kein gewöhnlicher Baum aus dem Reich der Pflanzen sei, sondern ein Baum, der alles, was auf ihm geschrieben stünde,
für
lange Zeit dem Gedächtnis bewahren werde. Er
werde nicht von Fäulnis, Feuer und Regen zerstört, er sei beständiger als
Quod seme/ hic ftxum, carre deJebiJe nul/a, / igne nec imbre Jovis manet aere perennius omni / Pyramidumque situ subJimius (Col. 4,96f.) . Poesis zählt auch einige Dichter auf, deren Verse Erz und sein Anblick erhabener als die Pyramiden:
auf der Zeder verewigt seien: Homer, Apollonius Rhodius (vgl. unten), Valerius Flaccus, Statius, Lucan, und - auf dem höchsten Ast - Vergil: Qui [seil.
ramus] tamen e cunctis caput arduus aetbere mircet, / sustinet Aenean
(Col.
4, l OSf.). Der Aeneir-Ast ragt also gleichsam bis in den Himmel. Der Jesuit Carrara macht damit nicht nur deutlich, daß er von allen heidnischen Werken die
Aeneir Vergils
am
meisten schätzt, sondern auch, daß er -
hierin folgt er einer langen Tradition - in ihr ein Werk sieht, das bei ent sprechender Deutung mit der christlichen Lehre vereinbar ist. Und in der Tat hat er in seinem Epos
in
Co/umbus
strukturell, motivisch und sprachlich
vielfacher Weise - neben anderen antiken, aber auch frühneuzeitlichen
Autoren - Vergils
Aeneis rezipiert. 3
Daher soll in diesem Aufsatz das Au
genmerk weniger den zahlreichen Anspielungen Cattaras auf Homer, Apollonius Rhodius, Valerius Flaccus, Ariost und Tasso gelten, sondern seiner Auseinandersetzung mit Vergil.
Im
folgenden möchte ich an einem Beispiel Carrara mit Vergil verglei
chen, um zum einen verändert und
zu
zu
zeigen, wie C arrara vergilische Motive aufnimmt,
verbessern oder zu überbieten versucht,
zum
anderen
aber auch, wie die Lektüre neulateinischer Epen durchaus einen neuen Blick auf Vergil eröffnen und
für
die Vergil-Interpretation anregend sein
kann . Als besonders signifikantes Beispiel bietet sich ein Vergleich der Schildbeschreibungen an, die in beiden Epen eine wichtige Rolle spielen
2
Vgl. zur Tradition, in der Carrara hier steht, Elisabeth Klecker: Dichtung über Dichtung. Homer und Vergil in lateinischen Gedichten italienischer Hwnanisten des 1 5. und 1 6 . Jahrhundem, Wien 1 9 94. Vgl. zu Bauminschriften und Ver wendung von Rinde als Schreibmaterial Andreas Heil: "Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im armen Einsidlense 2", A&A 54, 2008, 1 61 - 1 72, hier: 1 63-1 66. Carrara steht hier auch in einer volkssprachlichen Tradition. Zur Vergil-Rezeption bei Carrara vgl. Francisca Torres Martinez und Jose A. Mann: "EI poema epico ColwnblL� de Ubertino Carrara", in: Juan Gil u.a. (Hgg.): Humanismo Latino y Descubrimiento, Sevilla 1 992, 205-2 1 8 ; Heinz Hofmann: ,,Aeneas in Amerika. Komplikationen des Weltbildwandels im Hwnanismus am Beispiel neulateinischer Columbusepen", Philologus 1 39, 1 995, 36-6 1 . -
3
Schildhcschrcihun!,'Cn in V crgils
/Ienm und
Vbcrtino Carraras ColNmhHs
253
(Aen. 8,608-731 bzw. Co!. 3,476-666) : Beide Schildbeschreibungen bieten - wie schon die homerische - eine Gesamtschau, in der das menschliche Leben, die Welt und der Lauf der Dinge in einem einzigen Bilderzyklus verdichtet und auf knappem Raum präsentiert wird. Eine epische Schild beschreibung fokussiert zentrale Aspekte des Geschichtsbildes und der Weltsicht, die jeweils vermittelt werden sollen. Schildbeschreibungen kön nen somit als eine Art weltanschaulicher Landkarten verstanden werden, als Binnen-Epyllia en miniature.4
4
Vgl. allgemein zur vergilischen Schildbeschreibung Carl Becker: "Der Schild des Aeneas", WS 77, 1 964, 1 1 1 - 1 27; Gerhard Binder: Aeneas und Augustus. Interpre tationen zum 8. Buch der Aeneis, I\Ieisenheim am Glan 1 971 ; Ulrich Eigler: "Au gusteische Repräsentationskunst als Text? Zum Problem der Erzählbarkeit von bildender Kunst in augusteischer Dichtung am Beispiel des Schildes des Aeneas", Gymnasium 1 05, 1 998, 289-305; Michael C. J. Putnam: Virgil's epic designs. Ekphrasis in the Aeneid, New Haven u.a. 1 998; weitere Lit hierzu bei Werner Suerbaum: "Hundert Jahre Vergil-Forschung: Eine systematische Arbeitsbiblio graphie mit besonderer Berücksichtigung der Aeneis", ANRW 11 3 1 . 1 , 1 980, 24925 1 ; vgl. ferner Niklas Holzberg in seiner detaillierten Internet-Bibliographie zur Aentis, München 2005. http://www.klassphil.uni-muenchen.de/extras/ downloads/index.html (Stand: 1 1 .2. 1 0). - Zur Rezeption der vergilischen Schild beschreibung in der Neuzeit vgl. Heinz Hofmann : "The Shield of Aeneas in the Hands of Columbus. The Reception of Vergils Description of Aeneas Shield in Some Neo-Larin Poems on Columbus and the Discovery of the New World", HumLov 56, 2007, 1 45-1 79, der die Schildbeschreibungen dreier Columbusepen miteinander vergleicht: der CO/llmbtidos /ibri priores dJlo des Julius Caesar Stella (Rom 1 585), der Atlontis reteeta des Vincentius Placcius (Hamburg 1 659) und Carraras CO/limbus (Rom 1 71 5) . \l;-'ährend Hofmann sich hauptsächlich auf den Vergleich dieser drei Ekphraseis konzentriert, geht es mir im folgenden vor allem darum, Vergils und Carraras Schildübergabeszenen im Hinblick auf die daraus hervorgehende unterschiedliche Heldenkonzeption zu untersuchen. Dazu habe ich zu..ätzliche Passagen der Aeneis als Prätexte herangezogen (z.B. die Helden schau, die Flucht aus Troja), die, wie wir sehen werden, für die vergleichende In terpretation der beiden Szenen nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. - Ein sehr wichtiger Prätext für Carraras CO/llmblls insgesamt ist außerdem Tassos Gef'llSa/emme Ubtrata (vor allem der 1 4. bis 1 7. Gesang). Dementsprechend finden sich dort auch viele Motive und Parallelen der Schildübergabe bzw. beschreibung (vor allem 1 7. Gesang, Stanze 64-95), die von Carrara aufgenom men worden sind, doch kann dem Vergleich zwischen Tasso und Carrara an die ser Stelle nicht nachgegangen werden; vgl. zu Tasso Sabine Grebe: "Die Schild beschreibung in Vergils Aeneis und Tassos Gerusalemme Ubtrata" , in: Martin Korenjak u.a. (Hgg.): Pontes I. Akten der ersten Innsbrucker Tagung zur Rezep tion der Klassischen Antike. Comparanda 2, Innsbruck 2001 , 1 3 1 - 1 48. Weitere Literatur zu antiken und neuzeitlichen Schildbeschreibungen bei Heinz Hof mann, 1 74- 1 79.
254
l\'1arkus Schauer
Vergil und Carrara vertreten völlig verschiedene Welten', die Antike der augusteischen Zeit bzw. das neuzeitliche Christentum der Jesuiten. Doch es gibt Berührungspunkte: In beiden Epen steht im Mittelpunkt ein 'Held',' der von einer Sendung geleitet wird: Aeneas soll die vertriebenen Trojaner in eine neue Heimat führen, Columbus soll Indien6 entdecken und dort das Christentum verbreiten; der eine folgt den fata, der andere Gott und - seinem Hunger nach Ruhm; beide Helden werden mit göttli chen Waffen ausgestattet, um ihre Aufgaben meistem zu können, und beide freuen sich über das Göttergeschenk. Zunächst seien die beiden Szenen der Waffenübergabe in ihrem jewei ligen Kontext kurz vorgestellt. Zuerst zur vergilischen Aenei.r: Nachdem Aeneas endlich Italien er reicht hat, rüsten die Italer gegen die Ankömmlinge zum Krieg. Aeneas gewinnt die Arkader und den größten Teil der Etrusker als Verbündete und marschiert gegen die feindlichen Latiner. Erst als der Krieg unmittel bar bevorsteht (8,520-540), nimmt Venus ihn beiseite und übergibt ihm abseits der anderen - die versprochenen und von Vulcanus geschmiedeten Waffen (8,606-625). Dabei fordert sie ihren Sohn auf, nicht zu zögern, die Italer zum Kampf zu fordern (8,61 3 f.). Aeneas betrachtet die Waffen und die Bilder auf dem Schild voll Freude. Was die Bilder darstellen, versteht er nicht; dennoch hebt er sich den Schild ohne weitere Erklärung auf die Schultern (miratur rerumque ignarus imagine gaudei / attollens umerofamamque et fata nepotum (8,730f.). Von der vergilischen unterscheidet sich die Waffenübergabe bei Car rara bereits durch ihre ganz andere Positionierung - sie findet schon zu Beginn der Fahrt statt: Columbus bricht mit einer Flotte von Spanien auf, um über den Atlantik nach Indien zu segeln. Seine Flotte gerät in einen Seesturm und wird bis auf sein eigenes Schiff nach Gran Granaria ver schlagen. Die dortige Herrscherin nimmt die Seefahrer auf und hält sie in einem Zaubergarten gefangen. Das Schiff des Columbus jedoch strandet auf der Vulkaninsel Teneriffa. Columbus geht an Land, durchschreitet 5
6
Vgl. zum antiken und christlichen Heldenbild Nikolaus Thum: Heros Aeneas und luno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Moder ne, in diesem Band S. 8-28. India bezeichnet bei Carrara Amerika. Es wird im Epos auch der neue ]\;ame Amerika, der sich von Amerigo Vespucci ableitet, erwähnt: Die Tochter des ku banischen Königs, Auria, soU später einmal, nach ihrer Heirat mit Amerigo Ves pucci, den ]\;amen America annehmen. Hofmann, 2007 (wie Fußn. 4), 171 (mit Anm. 77), betont die merkwürdige Diskrepanz zwischen dem historischen Co lumbus, der bis zum Schluß der Meinung war, die Ostküste Asiens erreicht zu haben, und dem literarischen Columbu.. bei Carrara, der durch Aretia darüber in formiert wird, dali er einen neuen Kontinenten entdecken werde.
Schildbcschn:ibungcn in Vcrgil. A."m und lJbcrtinu
CUtaIaS
CoINmblls
255
einen Janusbogen, der Vergangenheit und Zukunft scheidet, und wird in einem prächtigen tempelartigen Kirchenbau von Aretia empfangen, der Personifikation der Tugend, die zugleich sein Schutzengel ist. 7 Sie verkün det seinen Auftrag, in Indien das Christentum zu verbreiten, und geleitet ihn durch hundert Türen und Höfe zur Spitze des Palastes, zum Sitz der heiligen Tugenden: Religio, VIrginitas, Clementia, Themis und Constantia. Constantia schafft eine herrliche Rüstung und Waffen herbei, darunter einen Schild, den Aretia Columbus überreicht, mit dem Hinweis, daß sie unsichtbar stets an seiner Seite kämpfen werde. Columbus freut sich, legt die Rüstung sofort an und wird dadurch sogleich mit Kampfeslust erfüll t (3,497-501 . 6 1 8-626). Carrara betont, daß diese Waffen nicht unter dem Aetna, also von Vulcanus, geschmiedet wurden, sondern von der dea, die die Edelsteine in der Glut der Sterne geschmolzen und kunstvoll zu einem Bildrelief verarbeitet hat. Damit entwirft Carrara eine Gegenversion zur vergilischen Schildentstehung - und das durchaus offensiv: denn daß er die himmlische Herstellung des Schildes des Columbus ausgerechnet auf der Vulkan-Insel Teneriffa ansiedelt, ist sicherlich wohl bedacht. Wie Aeneas betrachtet Columbus die Bilder eingehend. Darüber hin aus stellt er zweimal eine Frage zu den Darstellungen, die ihm Aretia aus führlich beantwortet.8 Schließlich nimmt er den Schild in die Unke: Er neut durchfährt ihn Kriegslust, doch Aretia ermahnt ihn, maßvoll mit den Waffen umzugehen und sie nur gegen die Kannibalen einzusetzen - und um seine gefangenen Freunde zu befreien.9 Nach diesem Hinweis ist Co lumbus nicht mehr aufzuhalten: Er brennt darauf, seine geliebten Gefähr ten zu befreien. Daraufhin klärt Aretia Columbus über das Schicksal der Gefährten auf und läßt ihn ziehen. Indem Carrara die Waffenübergabe eher an den Anfang setzt - näm lich in das dritte Buch, lange vor den entscheidenden Kämpfen mit den Kannibalen -, stellt er die gesamte Fahrt unter das Zeichen der bewaffne7
8
9
Es ist nicht leicht zu entscheiden, welche Episode in Carraras Epos der vergilischen Katabasis ent.pricht: Neben dem Besuch des Columbus im Palast der Aretia auf Teneriffa käme auch der Besuch seines Sohnes Femandus im un terseeischen Palast der Aletia in Frage. Gi!, 1 992 (wie Fußn. 3), 21 6f. sehen zu Recht in den Personifikationen der Mühen, denen Columbus vor dem Conclave der Tugenden begegnet (3,420ff.), eine Parallele zur vergilischen Vorhalle des Or cus (Aen. 6;273-277). Hofmann, 2007 (wie Fußn. 4), 1 73 weist zu Recht darauf hin, daß für die antike Literatur keine Ekphraseis belegt sind, die mit einem Dialog verknüpft sind. Der Schild übernimmt hier die Funktion des Zauberkrauts Moly, das in der ho merischen Otfyssee den Titelhelden vor den Zauberkünsten Kirkes schützt (Hom. Od. 1 1 ,302ff.). Vgl. auch den magischen Schild des Ruggiero in Ariosts Orlando J-'lIrioso und den Zauberschild des Rinaldo in Tassos Gemsakmmt Uberala.
256
MarklL� Schauer
ten Christianisierung und somit unter ein das ganze Epos wnfassendes Deutungsmuster. Die göttliche Hilfe und das angestrebte Ziel sind ständig präsent - anders als in der Aeneir, in der der göttliche Auftrag über weite Strecken nur vage bekannt ist und Hilfe immer nur sporadisch kommt. Auch im einzelnen sind beim Vergleich der Übergabeszenen große Unterschiede zu erkennen: Bei VergiI hat Vulcanus, der Gemahl der Ve nus, in der Tiefe der Erde zusamm en mit den Kyklopen die Waffen ge schmiedet, bei Carrara Constantia, eine Personifikation der himmlischen Tugend, in der Glut der Sterne: Indem Carrara hier die antike Mythologie abstreift und die Herstellung und Übergabe der Waffen durch Personifika tionen christlicher Tugenden vollziehen läßt, überbietet er VergiI, der in seinem Epos noch dem 'homerischen' Schmiedegott einen Auftritt ge währt: Die Waffen des Colwnbus erscheinen als reiner, göttlicher, himmli scher als die des Aeneas. Bei Vergil muß Venus zudem ihren zögernden Gatten (Aen. 8,388) mit Bitten und Argwnenten bedrängen und mit ihrem Liebreiz bezirzen, ehe dieser sich, dann aber eifrig, zur Fertigung der Waf fen bereit erklärt und mit einer Liebesnacht belohnt wird (Aen. 8, 36945 1). Verführung und List (Iaeta dolis etformae conscia; 8,393) sind notwen dig, wn Aeneas die entscheidenden Waffen zu verschaffen, und sie ge lingt, da die Schutzpatronin des Aeneas die Göttin der Liebe ist. Aretia, die tugendhafte Schutzpatronin des Colwnbus, muß hingegen keine List anwenden, wn Constantia zur Herstellung des Schildes zu bewegen: die himmli schen Mächte ziehen - dem christlichen Monotheismus entspre chend - an einem Strang und stellen Colwnbus die Waffen ohne Diskus sion zur VerfUgung. Sein göttlicher Auftrag, das Christentum zu verbrei ten, ist sozusagen 'einstimmig'. Unterschiedlich sind auch die Reaktionen der beiden Helden auf das Geschenk. Aeneas betrachtet Waffen und Schild nur und schultert sie dann . Colwnbus aber legt die Waffen sogleich an, nimmt den Schild wie im Kampf in die Linke und wird dadurch von kawn zu bändigendem Kampfgeist erfiill t. Aretia ermahnt ihn daraufhin, die Waffen maßvoll zu gebrauchen (Co\. 3,630-635) : " "Disce , ai t, "0 fortis moderatius anna sitirel Virtutis pars est virtuti ponere frenum. Tempus erir, cum iam tandem delatus ad Indos Cannibalcs anthropophagos tc dcntc tuosquc orc voraturos dcsecndcrc montc vidcbis.
Tune pctc pracsidiwn clipco! [ ..]" 10 .
10 Gil, 1 992 (wie Fußn. 3), 21 5 verweisen zu Recht darauf, daß diese Verse denen entsprechen, in denen die Sibylle von Cumae Aeneas die bevorstehenden Kriege prophezeit (Aen. 6,83-97). Die Sibylle mal1nt Aenea�, die Leiden eines Krieges
Schildbcschn:ibungcn in Vcrgils
A."m
und lJbcrtinu
CUtaIaS
CoINmblls
257
Venus dagegen spornt Aeneas bei der Waffenübergabe zum Krieg an (ne mox aut Laurentis, nate, superbos Tumum;
8,61 3f.) .
/
aut acrem dubites in proelia poscere
Man gewinnt den Eindruck, daß C arraras Columbus viel
eher ein 'homerischer' Krieger ist als Vergils Aeneas, der zwar - wie schon in der Ilias - als der größte trojanische Kämpfer neben bzw. nach Hektor gilt (vgl. Aen.
1 1 ,289-292),
der aber zögert, den Krieg zu beginnen. Co
lumbus verhält sich eben so, wie man es von einem ungebrochenen Hel den erwartet: Der schaut Waffen nicht nur voll B ewunderung an, sondern
will
sie gleich ausprobieren und brennt auf den Kampf. Die Kampfbegier
de des Columbus ist auch nicht nur eine Reaktion auf die Nachricht von der Gefangenschaft seiner Gefährten: schon bevor er davon erfährt, glüht er vor Kampfeslust - ganz
im
Gegensatz zu Aeneas, den Venus erst er
muntern muß und der sich selbst noch am Ende, als es schließlich zum Entscheidungskampf mit Turnus kommt, erst muß (Aen.
in
Kampfstimmung bringen
1 2,107-1 09):
interea maternis saevos in armis Acncas acuit Mattem ct sc su.�citat ira, oblato gaudcns componi focdcrc helium.
In den Waffen seiner Mutter wirkt er düster, nicht strahlend
(saevos);
er
selbst freut sich nicht auf den Kampf als 'sportliche' Auseinandersetzung, sondern auf die Aussicht, den Krieg dadurch
zu
beenden. Kampf ist
ihn Pflicht, die er vortrefflich, aber ohne Begeisterung erfiill t. 1 1 gleich mit Carraras Columbus, der
früh
Im
für
Ver
schon den Krieger und Eroberer
erkennen läßt, erscheint Vergils Aeneas unkriegerisch und voll Sehnsucht nach Frieden.
Ein weiterer
Unterschied der beiden Szenen besteht darin, daß Aretia
Columbus die Darstellungen auf dem Schild erklärt, während Venus ihrem Sohn den Schild ohne Erläuterung übergibt. Da nur geschichtliche Ereig nisse dargestellt sind, die erst nach dem Tod des Aeneas stattfinden, bleibt ihm die Bedeutung der Bilder verborgen: Er kann sie nur bewundern, nicht aber, wie Vergil ausdrücklich sagt, verstehen. Ganz anders bei Carra ra: Als Aretia bemerkt, daß Columbus bei der Betrachtung der Bilder ei nen der Könige mit besonderem Interesse ansieht, erläutert sie ausfiih r lich, um wen es sich handelt: Es sei Karl V., einer der mächtigsten Könige und erfolgreichsten Eroberer, dessen Reich beide Teile der Welt (Europa
nicht zu meiden (111 ne cede malis, sed contra aJldtnnor im, / qllOm lila te fortuna sinet, Aen. 6,95f.). Genau wie Venus im achten Buch, ermuntert sie Aeneas also (aJldennor'), Aretia hingegen gebietet Columbus Einhalt (moderatills). 1 1 Vgl. Gabriele Thome: "Tanton placuit concurrer e motu, / Iuppiter, aeterna gen cis in pace futuras? (Aen. 1 2,503f.). Der Krieg in Vergi1s Aeneis", AClass 36, 1993, 65-82.
258
MarklL� Schauer
und Indien bzw. Amerika) umfassen werde. Groß sei er, weil er Königrei che erobern, noch größer, weil er nur durch sich sdbst besiegt und seiner beiden Reichsteile beraubt sein werde. Damit spidt Aretia auf den freiwil ligen Rückzug Karls V. von seiner Wdtherrschaft an (Col. 3,5 1 7-533): At quia prae reliquis sollers Aretia notarat unius a vultu regis pendere Columhum et quasi poscentern tacite rescire, quis esset, "Hie vir, hie est " digitoque virum monstravit "et huius nomen" ait "Carolus, quintus cognomine. Nosse si cupis acta viri [ . . . ] Die per mare magnum [ . . .] victrices egisse rates Peruanaque sccptra adiecisse suis, magnus, quod vincere rcgna sciverit, at maior, quod sc post omrua vicit. A Carolo Carolu.� mundo spoliatu.� utroque est!"
Columbus, der Eroberer, der nach Ruhm sucht, der Entdecker, der nach Erkenntnis strebt, stellt Fragen zur Geschichte und Geographie. Ihn fas zinieren erfolgreiche Herrschergestalten und entlegene Wdtgegenden. Als er am unteren Ende des Schildes die noch völlig unbekannte Wdt Ostasi ens erblickt, will er voll Erregung wissen, wer denn der Glückliche sei, der die Wiege der aufgehenden Sonne entdecken dürfe (Col. 3,568-570): Quis ill e beatus, " [ . . .] dic, precor, Aurorae cui claustra recludere primum fas erit et parvi solis dcprendere cunas?"
Aretia klärt ihn über die Entdeckungsreise Vasco da Gamas auf, mahnt ihn aber zugleich, daß er keinen anderen um seinen Ruhm beneiden solle (ne invidia externae tangerefamae; 3,584), denn auf ihn warte noch vid Größe res (te longe maiora manent; 3,585). Ruhm, Wetteifer, Stteben nach Größe (gloria, invidia, maiora) sind die Motive, die Columbus antreiben, auf erfolg reiche Eroberer (Karl V. von Spanien) und glückliche Entdecker 01asco da Gama) ziden seine Fragen. Vergils Aeneas stellt bei der Übergabe des Schildes keine Fragen: Er nimmt ihn in Empfang und freut sich im stillen über die bunte Bilderwdt, die nicht die seine ist. Und Venus erteilt ihm auch von sich aus keine wei teren Auskünfte über die abgebildete Zukunft. Doch Carrara zieht hier ganz offensichtlich auch einen weiteren der großen "Durchblicke" der Aeneis heran: hic vir, hic esl wiederholt wörtlich die Ankündigung des Au gustus durch Anchises in der sogenannten Hddenschau im 6. Buch (6,791). Auch der dialogische Charakter der Darstellung, daß also Colum bus einen Ansprechpartner hat, dem er Fragen stellen kann, erinnert an die Hddenschau. Ähnlich wie Aretia Columbus, führt Anchises dem Aeneas die Gestalten und Ereignisse der Nachwdt vor Augen. Insofern
Schildhcschrcihun!,'Cn in V crgils
/Ieneis und
Vbcrtino Carraras C.INmhHs
259
entspricht das Gespräch zwischen Anchises und seinem Sohn in der Un terwelt demjenigen zwischen Aretia und ihrem Schützling bei der Schild übergabe auf Teneriffa. Doch wie anders verläuft das Gespräch zwischen Anchises und Aeneas bei Vergilt Der Sohn hört die längste Zeit schwei gend den Ausführungen des Vaters zu. Dieser, so scheint es, versucht ihn wortreich für die großen Gestalten der künftigen römischen Geschichte zu begeistern: die Seelen des Romulus, Carnillu s, Cato, Cossus, Pompeius, Caesar und Augustus und anderer treten auf und werden gepriesen. Zu diesen allen schweigt Aeneas.1 2 Nur zweimal meldet er sich zu Wort und verrät damit, was ihn wirklich bewegt: gleich zu Beginn das Schicksal der Seelen, die ihrer Wiedergeburt harren: weshalb sie denn so heillo s danach strebten, zum zweiten Mal das ücht der Welt zu erblicken - quae lucis miseri.r tom dira etpido? (Aen. 6,721). Sodann - erst 1 40 Verse später - der herausragende junge Mann, der den Marcellus, den Zerstörer von Syrakus, begleitet, der aber freudlos und von Tod umschauert sei (Aen. 6,863-866) : "Quis, pater, ille, vi rum qui sic comitatIH euntem? Pilius annc aliquis magna dc stirpc ncporum? Qui strcpirus circa comirum, quantum instar in ipso, scd nox atra caput tristi circumvolat umbra."
Anchises erklärt ihm, daß es sich um Marcellus, den Neffen des Augustus handelt, den vielversprechenden Kronprinzen, der aber, bevor er Herr schaft und Ruhm werde erringen können, bereits in jungen Jahren sterben werde. - Nur zweimal fragt Aeneas also nach, und beide Male ist es das Unglück, das seine besondere Aufmerksamkeit weckt: die miseri, die nach erneuertem Leben drängen, und der miserandus puer - so spricht Anchises den todgeweihten Marcellus an (Aen. 6,882) -, der mit trauerumwölkter Stirn auf sein Leben wartet und dem großer Ruhm durch seinen allzu frühen Tod versagt sein wird. Man kann sagen, daß Aeneas menschliches Leid, Columbus menschlicher Ruhm interessiert: eine völlig verschiedene Charakterzeichnung der beiden epischen Titelfiguren. Geographisch ist auf dem Schild des Aeneas die gesamte damals be kannte Welt vertreten, wobei die erwähnten Völkerschaften entweder bei Actium kämpfen oder in Rom Augustus huldigen: Italien (Itali, Romani; vv 626. 678. 7 1 4f.), Gallien (GaJIi, vv 8,656f.), Ägypten, der Orient (Aegpti, Griens, Ni/us; vv. 687, 705, 7 1 1), Persien (Bactra), Indien (Indi; v. 705), Ara bien (Arabs, .fabaei; v. 706), Afrika (Ajri, Nomades; v. 724), Kleinasien (Le/eges, Cares; v. 725), der Balkan (Geloni; v. 725), Syrien (ElljJhrates; v. 726), Belgien (Morini, Rhenus; v. 727), Daghestan (Dahae; v. 728) , Armenien .
.
12 Vgl. Silke Anzinger: Schweigen im römischen Epos. Zur Dramaturgie der Kom munikation bei Vergil, Lucan, Valerius Flaccus und Statius, Berlin 2007, 42-55.
260
MarklL� Schauer
(Araxe.;, v. 728). Man gewinnt den Eindruck, als habe sich die gesamte Welt bei Actium bzw. in Rom versammelt. Dies bedeutet jedoch keines wegs, daß nur die in Italien bzw. im Machtbereich Roms lebenden Völker, nicht aber deren Länder dargestellt würden; denn drei große Flüsse, der Euphrat, der Rhein und der Araxes, werden in einer Weise beschrieben, die nicht nahelegt, daß sie als Personifikationen auftreten. 13 Damit ist der ganze Weltkreis nicht nur figurativ erfaßt, sondern auch geographisch abgebildet.14 Die gesamte Bilderwelt ist aber um die Darstellung der Schlacht von Actium mit Augustus in der Schildmitte angeordnet (Aen. 8,675-671 3).15 Auf dem Schild des Columbus hingegen thront im Zentrum der spa nische König Ferdinand V., der als gentis caput imperiique (CoL 3,5 1 0) be zeichnet wird, zu seiner Rechten seine Nachkommen mit dem Namen Karl - unter ihnen der bereits genannte Kar! V. -, zu seiner Linken die mit dem Namen Philipp. Unterhalb dieser Könige schließen sich Abbil dungen der jeweiligen Königreiche mit ihren Städten, Flüssen und Bergen an; auch die Pyrenäen und Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt, sind zu erkennen. Gegenüber Spanien befindet sich Italien mit Neapel, dem Apennin und Sizilien. Doch damit nicht genug: Carrara stellt auch die noch unbekannte Welt dar: Ganz am Rand ist der feme Osten abgebildet, den erst viel spä ter Vasco da Gama erkunden wird, und auch die neue Welt, für deren Entdeckung Columbus auserkoren ist, ist auf dem Schild bereits berück sichtigt. Und zwar auf überraschende Weise - die Neue Welt, die Welt der Antipoden, ist auf der Innenseite des Schildes wiedergegeben, und so hat Cattara buchstäblich im Handumdrehen die bemalte Schildoberfläche und damit die dargestellte Welt verdoppelt.
13 Vom Euphrat heißt es, daß er nun schon sanfter wogt - eine Anspielung auf die pax AIIJ(lIsta; der Rhein wird mit zweifacher Mündung und der Araxes wütend über die ungewohnte Brücke beschrieben (/'.uphratts ibot iam molJior lIndis [ . . . 1 Rhtnusqlle hicomis [ . . . 1 ponltm indiJ(natus Araxts; Aen. 8,726ff.). Der Nil hingegen tritt als Gott auf, der die Besiegten in seinen blauen Schoß zuruckwinkt (Aen. 8,71 1). 14 Es fäll t auf, daß Spanien überhaupt nicht vertreten ist, das, wie wir gleich sehen werden, in Carraras Schildbeschreibung eine wichtige Rolle spielt. 15 Die visuelle Cmset:2Ung der fiir eine Ekphrasis typischen additiven Beschreibung ist schwierig, wurde aber in der Neuzeit auf verschiedene Weise versucht. Vgl. zur Rezeption der vergilischen Schildbeschreibung in der Kunst Werner Suerbaum: "Die Schildbeschreibung Vergils in Worten und Bildern zur Aeneis (8,608-731)", in: Stefan Freund u.a. (Hgg.): Vergil und das antike Epos. Fest schrift Hans lürgen Tschiede� Stuttgart 2008, 451 -48 1 .
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/Ieneis und
Vbcrtino Carraras C./JimhHs
261
Auch Columbus wird von der Innenseite des Schildes überrascht: Noch auf der Vorderseite, ganz am Ende, ist der feme Osten erkennbar, und Columbus ist voller Neid auf den, der die Wiege der aufgehenden Sonne entdecken darf (Co!. 3,564-570, vg!. oben). Aretia erzählt von den Entdeckungsreisen Vasco da Gamas, tröstet aber Columbus damit, daß ihn Größeres erwarten werde: sie dreht den Schild um und zeigt ihrem Schützling die Welt der Antipoden, die er entdecken wird (Co!. 3,585589): "Te longe maiora manent. Vis noscere, mentem et magnis firmare malis? Huc comce visus." Dixit et, inversa clipei qua parte latebat, mundum obicit. wngo turn tempore fabula visi Antipodcs patuerc.
Columbus bestaunt die ihm völlig unbekann ten Lande - Carrara vergleicht ihn mit Adam, der als erster Mensch die junge Welt b ewundert - und sieht künftige Ereignisse seines Eroberungszugs bereits dargestellt. Und so kann er sogar sich selbst erkennen, wie er in den bevorstehenden Kriegen, solange er bei den Indem das Christentum verbreitet, immer siegreich mit eben den Waffen kämpfen wird, die er gerade probeweise in der Hand hält (Co!. 3,6 1 3-61 8) : S e quoque e uro clipeo clipeo cognovit i n illol(, gestantcmque manu gladium, qucm tcmpore codem gestabat manibus. Vidct hoc in vindice semper prospera bclla gcri, doncc victoria victis prosit et ingcnti euro fcnore fimbus Indis sie potiatur Iber, potiatur ut India caclo.
Der Höhepunkt der vielen Erkenntnisse, die Columbus durch das Be trachten der Bilder gewinnt, ist also auch eine Selbsterkenntnis: Er sieht nicht nur die Geschichte voraus, sondern auch sein eigenes Wirken darin. Und auch hier wieder dienen die Bilder nicht dem Ansporn, sondern mä ßigen und zeigen die Grenzen seines Tatendrangs auf: donec victoria victi.r prosit. Aufgrund der Bilder und der Erläuterungen der Aretia weiß Colum bus lange im voraus genau, was ihn erwartet, während Aeneas den Schild ignams rerum schultert. So hat Aeneas auch in den früheren Büchern über Prodigien, Orakel und Epiphanien erst nach und nach erfahren, was genau
16 Der Mise en abvrne, daß sich der Schild als Bild auf dem Schild wiederfindet, ' entspricht auch die raffinierte sprachliche Gestaltung: Die Geminatio CIIm eHpeo eHpeo Cf{f!,1Iovit in illo gerät zur Figur der abbildenden Darstellung: Wie hier zweimal dipeo nebeneinander steht, befindet sich der Schild im Schild abgebildet.
262
MarklL� Schauer
das Schicksal von ihm verlangt. Der Christengott und der Schutzengel Aretia hingegen lassen ihren Helden nicht im Unklaren. Dass Colwnbus selbst auf der Innenseite des Schildes abgebildet ist, impliziert noch mehr: Er wird während der Kämpfe stets sich selbst und seine Siege vor Augen haben (videt hoc in vindice semper / prospera he/la gen; Col. 3,6 1 5f.) . Dies ist nicht nur ein hübscher Einfall Carraras, sondern fUhrt auf einen der wichtigsten Unterschiede zwischen Aeneas und Co lwnbus. Denn nicht nur ist Aeneas auf seinem Schild nicht abgebildet: In allen drei Durchblicken auf die Zukunft spielen Aeneas selbst und die Kämpfe seiner Trojaner bei der italischen Landnahme so gut wie keine Rolle (vgl. Fußn. 1 7). Das ist kein Zufall, sondern entspringt der grund sätzlichen Konzeption, die Vergil für seinen Titelhelden entworfen hat: Aeneas inszeniert sich selbst nie. Er benimmt sich weder als König noch trägt er besondere Herrscherinsignien noch verfügt er über einen beson deren Titel: Er ist stets 'nur' pius Aeneas oder pater Aeneas. Dies gilt nicht nur für die Handlungsebene, sondern auch für die Erzählebene. Nirgends in der Aeneis findet sich eine glorifizierende Inszenierung des Titelhelden auch nicht in den drei sogenannten Vorausdeutungen (in der Juppiterprophezeiung, in der Heldenschau und eben in der Schildbe schreibung): hier wird etwa Augustus gepriesen, Aeneas geht aber weitge hend leer aus.17 Von seinen socii wird er zwar hoch geachtet, aber kawn je wie ein König behandelt, bejubelt, bedient, bewundert oder gar gefürchtet. Er ist einer von ihnen, wenn auch der beste, und daher hören alle auf ihn und folgen seinen Entscheidungen. Doch diese fallen ihm nicht leicht, er zögert oft und berät sich tnit seinem treuen Begleiter Achates. Dazu stimmt auch, daß der kostbare und von Götterhand gefertigte Schild bei der herrscherlichen Inszenierung des Aeneas kawn eine Rolle spielt und
17 Juppiter honoriert in seiner Prophezeiung, die allerdings nur Venus zu Ohren kommt (Aen. 1 ,254-296), am ehesten noch die Leistung des Aenea�, indem er die zu bestehenden Kriege und die dreijährige Herrschaft in Lavinium erwähnt (26 1 266) - doch erscheinen diese n ur als kleine Stufe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, der Herrschaft der Römer; auch Anchises betont in der Heldenschau (Aen. 6,71 3-892) vor allem die Ruhmestaten der Römer; die bevorstehenden Kriege, die Aeneas noch wird führen müssen, kennzeichnet er als zu bewältigende Aufgabe, ohne auf den Ruhmesaspekt einzugehen (memoral [ . . . ] dO&et, 6,890f.); in der Schildbeschreibung schließlich kommen die Kämpfe der Trojaner in Italien nicht einmal vor (sie beginnt chronologisch erst mit den Nachfahren des AscanilL�: J1,e nlls omnefolllrae / stitpis ah Ascanio; Aen. 8,628f.). Somit wird Aeneas sowohl in der Heldenschau als auch in der SchildbeschreibWJg mit einer Zukunft konfrontiert, zu der er kaum einen emotionalen Bezug herstellen kann, nicht einmal in Form der Gewißheit des Ruhms bei der Nachwelt.
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noch mehr, daß er auf diesem nicht als ruhmreicher Held abgebildet ist.18 Vergil präsentiert uns mit Aeneas keinen imponierenden Herrscher, kampflustigen Krieger oder ehrgeizigen Eroberer, den Macht oder Kriegs ruhm locken, sondern einen Mann, der den Göttern und den Menschen gegenüber seine Pflicht tut und zu diesem Zwecke - wenn es denn sein muß - auch Kriege führt: pietas ist sein entscheidendes Handlungsmotiv, gloria hingegen das des Columbus in Carraras Epos. Als Columbus bei der Waffenübergabe erfahrt, daß seine übrigen Ge fahrten auf der Nachbarinsel Gran Granaria gefangen gehalten werden, will er ihnen sofort zu Hilfe eilen. Er erklärt Aretia ausführlich, warum ihm das Schicksal seiner Gefahrten so sehr ans Herz geht: Bei der Abfahrt in Gades, als gerade das Tau gekappt werden sollte, hätten die Schiffsleute beinahe aus Liebe zu den zurückgelassenen Familien (pietas; 3,645. 648) ihr Unternehmen aufgegeben, wenn nicht in diesem Moment Gloria und India ihre Häupter aus dem Atlantik erhoben hätten: Von diesem Augen blick an sei die alte Liebe zur Familie (amom / antiqllos; 3,652f.) in diese starke Gefahrtenliebe (amores [ . . . ] comitumqllc; 3,652f.) übergegangen. Das Schiff sei für sie von da an zu ihrem Haus und zu ihrer Heimat (domlls [ . . . ] etpatria; 3,655) geworden (Col. 3,642-655): A d Gades proiecimus olim in commune animas, cum vela vocantibus auris navita rupturus funem iam stringeret ensem. Saepe tarnen pietas limen suaderet aviti respectare Laris, flentes in litore mattes oraque natorum patrum clamantia nomen. Vicisset pietas, nisi eodem tempore ponto ex Atlanteo nitidum caput ostentasset Gloria, detecto patuisset et India vultu. Praecipitata mora est. Divellimur, ipsa removit India complexus, scidit oscula, solvit amores antiquos comitumque in pectora ttanstulit omnes.
18 Vgl. dazu meine Untersuchung: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augu..teischer Zeit (Zetemata 1 28), München 2007, bes. 1 72-1 96; zur gesellschaftlichen Bedeutung des Schildes vgl. ebenda 1 92 (mit Anm. 478). Der Schild des Columbus hingegen entfaltet bei der Rettung der Gefahrten, die auf Gran Canaria von der Zauberin Theromantis gefangen gehalten werden, nicht nur magische Kriifte (Col. 4,605-612), sondern schlägt sogar ein dreiköpfiges Un geheuer (mit den Gesichtern des Juppiter, des Neptun und des Hades) in die Rucht (Col. 7,485-6(1). Auch sonst zeichnet der besondere Waffenschmuck den Anführer Columbus aus, so z.B. beim Geschenketausch auf Hispaniola, wo es von ihm heißt Sodis in elasse relietis / ;pse ums saeptus primoribus allrells af711is incessllqlle ,V!"avü (Col. 6,637-639) ygl. dagegen die oben zitierte Aeneis-Stelle, wo vom saevos Aeneas die Rede ist (Aen. 1 2,1 07-1 09). -
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MarklL� Schauer
Ortus amor tunc est factusque flagrantior, ex quo una ratis nobis domlL� esse et patria cocpit.
Eine bemerkenswerte Passage: Damit der Aufbruch überhaupt möglich ist, muß erst die pie/os, die Verursacherin von mora, besiegt werden. Die Siegerin über die pietos ist Gloria, die in India auf die Seeleute wartet. Und wie die alte pietas durch einen neuen amor zu den Gefahrten, so wird die alte Heimat durch eine neue, das Schiff ersetzt. Interessanterweise versteht Carrara pietos ganz im vergilischen Sinne, wenn er sagt: pietos timen sliaderet aviti / respedaf'e Lzns (Co!. 3,645f.) Zu rückzublicken auf die alte Heimat, auf sie Rücksicht zu nehmen, sie nicht verlassen zu wollen, die Rückkehr zu ersehnen, das ist eine Charakterisie rung der pietos des Aeneas, wie sie sich im zweiten und in einer Bemerkung im vierten Buch, wie wir sogleich sehen werden, manifestiert. Carrara bringt hier ganz klar zum Ausdruck, daß Columbus und seine Gefährten aus anderem Holz geschnitzt sind und der pietas-Begriff für sie nicht mehr angebracht ist. Ihm setzt er den amor-Begriff entgegen, der das leiden schaftliche Streben nach etwas, das vielleicht auch Gefahr bedeutet, ein schließt. Was Carrara hier eindrucksvoll und drastisch beschreibt, beruht auf einer zweifellos einleuchtenden Erkenntnis: Nur wer in der Lage ist, zugleich mit dem Haltetau auch alle Bindungen zu kappen und hinter sich zu lassen, hat die Kraft, eine neue Welt zu entdecken. Fernweh (India) und Streben nach Ruhm (Gloria) müssen stärker sein als die liebe (pietos) zu Heimat und Familie. Das Pendant zur Aufbruchsszene in Gades im ColumbNs ist in der Aeneis die Fluchtszene aus Troja.19 Ein kurzer Blick auf beide Szenen läßt sogleich zwei wesentliche Unterschiede erkennen: Erstens befindet sich Columbus in einer ganz anderen Lage als Aeneas, seine Matrosen sind Haudegen, die sich (zumindest in Carrara s Darstellung) freiwillig und voller Begeisterung für das bevorstehende Abenteuer zus ammengefunden haben (Co!. 1,71 -74). Aeneas hingegen muß ein ganzes Volk, mit Frauen, Kindern, Alten, alle traumatisiert vom Untergang Trojas, in eine neue Heimat bringen. Zweitens ist Aeneas kein Entdecker oder Eroberer, auch wenn ihm vom Schicksal der Aufbruch in ein neues Land bestimmt ist. Er verläßt wider Willen seine Heimat und muß immer wieder Anläufe neh men: zum Aufbruch aus seinem Elternhaus, zum Abschied von seiner Frau Creusa und zur Abreise aus Karthago. Und jedes Mal sind es pietas bzw. amor, die den Aufbruch verzögern, ja sogar gefährden. .
19 Große Äh nlichkeit besteht insbesondere mit dem Aufbruch der Argonauten bei Valerius F1accus, ebenfalls Helden, die Ruhmbegier und Abenteuerlust folgen (Argonautica 1 ,309ff.; zu Gloria vgI. 1 ,76-78) . Dieser Vergleich kann aber im Rahmen dieses Aufsatzes nicht weiter alL.geführt werden.
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Als Aeneas sich entschlossen hat, aus dem zerstörten Troja zu fliehen, sucht er sein Elternhaus auf, um seine Familie mitzunehmen. Doch sein Vater Anchises weigert sich, das Haus zu verlassen und verlangt, daß Aeneas ihn zuriickläßt (Aen. 2,634-649) . Für Aeneas ist dies allerdings eine völlig unakzeptable Vorstellung. Schon will er sich erneut in den Kampf stürzen, als sich Anchises aufgrund eines Götterzeichens anders besinnt und nun keinen Aufschub der Flucht mehr duldet (iam iam nulla mora est, Aen. 2,701).20 Also bricht die Familie gemeinsam auf: Aeneas, den Vater auf der Schulter und den kleinen Sohn an der Hand - ein Anblick, der zum Symbol für die pietas nicht nur des Aeneas, sondern, wie römische Münzprägungen mit diesem Motiv belegen, 21 der römischen überhaupt wurde. Die Familie wird aber dennoch auseinandergerissen. Creusa, die sich zunächst dicht hinter Aeneas hält (die Gattin spielt in der Bildtradition keine Rolle), bleibt unbemerkt im brennenden Troja zuriick. Aeneas kehrt, nachdem er Vater und Sohn außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht hat, zuriick, um sie zu suchen. Er trifft nur noch auf den Schatten der Toten, der ihn auffordert, sich nicht heillosem Schmerz hinzugeben, son dern in eine neue Heimat zu fliehen. Aeneas jedoch weint und versucht vergeblich sie dreimal zu umarmen, ehe er zu seinen Leuten zurückkehrt (Aen. 2,749-795). Und ein drittes Mal muß sich Aeneas von einem Menschen, den er liebt, losreißen, um seine Bestimmung zu erfiillen. Es ist Dido, mit der er sich - wie das Gerücht geht - schon vermählen will, als Juppiter Merkur schickt, um Aeneas energisch zum Aufbruch zu mahnen (Aen. 4). Er schrocken trifft Aeneas Vorbereitungen zur Abfahrt, doch Dido wittert Verrat und stellt ihn zu Rede. Aeneas begründet seine Aufbruchpläne mit
20 Auch in Carraras Aufbruchsszene in Gades muß die mora überwunden werden, die durch pielas und amor gegenüber der alten Heimat und der Familie entsteht (praecipitata mora ut, Col. 3,651). 21 So etwa der Denar des M. Herenruus aus dem Jahr 1 08/107 v. Chr. (Crawford, RRC 31 7f., Nr. 308/1), dessen Rückseite 42 v. Chr. auf einem Aureus von L. Livineius Regulus kopiert worden ist. Vgl. dazu Gabriele Thome: "Ostentatio pietatis. Von der Inszenierung einer virtus Romana", in: Niklas Holzberg u.a. (Hgg.): Ut poesis pictura 11. Antike Texte in Bildern. Band 2: Untersuchungen (Auxilia 33), Bamberg 1 993, 41-51; I\Iartin Spannagel: "Zur Vergegenwärtigung abstrakter Wertbegriffe in Kult und Kunst der römischen Republik", in: Maximi lian Braun u.a. (Hgg.): Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. ehr. (BzA 1 34), München 2000, 237-269, hier 263f. - v;.'arum ich gerade diese Münze als Beispiel nenne, ist dem Jubilar wohlbekannt.
266
Markus Schauer
seiner göttlichen Mission, läßt aber zwischendurch auch erkennen, was er, wenn er freie Hand hätte, wirklich täte (Aen. 4,340-347): me si fata meis paterentur ducere vitam auspicüs et sponte mea cornponere curas, urbem Troianam primum dulcisque rneorum reliquias colerern, Priami teeta alta rnanerent, et recidiva rnanu posuissem Pergarna vietis. Sed nune ltaliam rnagnam Gryneus Apollo, ltaliam Lyciae iussere eapessere sortes; hic amor, haee patria est.
Demnach wäre er viel lieber in seine Heimatstadt Troja zurückgekehrt, um sie wieder aufzubauen; die Götter hätten ihm jedoch befohlen, nach Itali en zu gehen. Daher sei Italien für ihn als Ort seiner Uebe, als neue Hei mat bestimmt. 22 Trotz dieser Erkenntnis, die eher wie ein Bekenntnis wirkt, fällt Aeneas der Abschied schwer. Wieder ist es der amor, der ihn beinahe wan kend macht (mulla gemens magnoque animum labifactus amorr:; Aen. 4,395). Doch er gehorcht den Göttern und segelt ab. Sowohl Columbus als auch Aeneas erfüllen eine göttliche Mission. Doch VergiI hat der göttlichen Mission eine individuelle Problematik bei gemischt, die gerade durch jene Haltung entsteht, die für Aeneas so be zeichnend ist, durch die pietos, aber auch durch die Bereitschaft des Sohnes der Venus zum amor. Es sind pietos bzw. amor, die Aeneas dreimal beinahe den nötigen Aufbruch versäumen lassen. Götterzeichen, Totenerschei nungen und Götterboten sind notwendig, um ihn dazu zu bewegen, die Bande persönlicher Beziehungen zu zerreißen und sich zum Aufbruch zu überwinden. Bei Carrara hingegen wird das Problem der pietos buchstäblich auf einen Schlag, nämlich mit dem Schwerthieb, der das Haltetau des Schiffs zer schlägt, gleich am Anfang und endgültig gelöst: Durch das Auftauchen der personifizierten Gloria und India aus dem Atlantik, die ein wenig an dei ex machina erinnern, 23 ist alle mora wie weggefegt und eine neue Art von amor, geboren, die zu den Gefährten, die alle das gemeinsame Ziel vor Augen 22 Hier findet - erzwungen von den Göttern - sozusagen eine Art Irans/ano amons statt, die an Carrara erinnert (vgl. oben Col. 3,656): statt Dido bzw. Troja soU er Italien lieben, statt Karthago bzw. Troja soU Italien seine Heimat sein. 23 Di e Erscheinung der Gloria als Ansporn geht wohl auf Valerius Flaccus zurück (Argonautica 1 ,76-78). Das 1\"oti" göttlichen Eingteifens durch \1(tunderzeichen fmdet sich aber vielfach auch in der christlichen Literatur. Das bekannteste Bei spiel hierfür dürfte das himmli sche Kreuz mit der griechischen Inschrift (übli cherweise in lateinischer Form zitiert: In hoc sif!!10 vinCtJ) sein, das Konstantin an der Mimsehen Brücke 312 n. Chr. erschienen sein soU.
Schildhcschrcihun!,'t:n in Vcrgils
/Ienm
und Vbcrtino Carraras C.lJimhHJ
267
haben: in eine neue Welt zu segeln und sie zu erobern. Es ist kein Zufall, daß Columbus gerade im Moment der Waffenübergabe von den Stim mungsschwankungen bei der Abreise berichtet. Der Schild mit den Dar stellungen der glorreichen Kämpfe in India bestärken in ihm in ähnlicher Weise aufs Neue Entdeckerlust und Streben nach Ruhm wie in den Mat rosen damals bei der Abfahrt die Visionen der Gloria und India. Aus all dem gewinnt man den Eindruck, daß die Columbus-Rede vor Aretia, der Personifikation der Tugend, Kritik an der pietas bzw. am
amor
des zögernden und immer wieder mit seinen Gefühlen kämpfenden Aeneas impliziert: Die Leidenschaft des
amor muß
sich auf die wahren und
großen Ziele richten, und die rückwärtsgewandte Tugend der pietas muß, wie die Abschiedsszene in Gades zeigt, übe rwunden werden, wenn sie dem Streben nach Höherem entgegensteht. Und das ist der entscheidende Unterschied: Aeneas hat nicht den Wunsch, nach Höherem zu streben, sondern er wird dazu genötigt - gloria als alleiniger Ansporn ist ihm fremd. Hätte sich Aeneas wie Columbus vor allem vom Streben nach Ruhm lei ten lassen und hätten Gloria und Italia seine pietas und seinen
dann wäre Vergils Aeneas
amor besiegt,
nicht mehr jener berühmte pius Aeneas, der eben
mehr ist als 'nur' ein Held. So scheint im Gegensatzpaar pietas und
gloria,
das Columbus Aretia so nüchtern erklärt, ein, wenn nicht der zentrale Un terschied zwischen den beiden epischen Helden auf. Es dürfte - zumindest in Ansätzen - deutlich geworden sein, wie sich Carrara mit seinem großen Vorbild Vergil auseinandersetzt: In seiner
aemulatio
mit dem antiken Epiker steckt so manche - und zwar nicht nur
christlich motivierte -
COTTf!ctio.
Aber gerade diese Korrekturen lenken den
Blick auf die Eigenart und Einmaligkeit des vergilischen Aeneas. So kann die neulateinische literatur, die sich durchaus, wie Carraras Epos zeigt, mit der antiken messen darf, auch dazu beitragen, daß die Besonderheiten der antiken literatur augenfällig werden. Im Falle des Aeneas ist es die Tatsache, daß ein epischer Held nicht nach Krieg und Ruhm strebt. Und doch wird er weiterleben, auch wenn er nicht auf seinem Schild ruhmvoll in Szene gesetzt ist. Würde lediglich ein Schild, so kunstvoll gefertigt er auch sein mag, seine Taten bezeugen, die Erinnerung
an
Aeneas wäre mit
dem Schild zugrunde gegangen. Glücklicherweise hat sich aber ein Dichter des trojanischen Helden angenommen. So wird Aeneas - verewigt in Vergils Versen - vom höchsten Ast des Baumes der Poesis bis in den Himmel gehoben.
Zu Voltaires Vergilrezeption in der Henriade RUDOLF RIEKS (Bamberg)
Nach einer allgemeinen (I.) Einführung zur Vergilrezeption,
Henriade
zu
Voltaires
und zur neueren Voltaireforschung soll im (II.) Hauptteil die
Vergilrezeption Voltaires an drei Musterbeispielen aufgewiesen werden: Muse und Wahrheit;
2.
Priamus und Coligny;
3.
1.
Dido und Gabrielle. Am
Ende steht eine (Ill.) Schlussbettachtung.
I. Einftihrung Das Gesetz von der ununterbrochenen Kette der Tradition und der Re zeption in der vorderorientalisch-europäischen Kultur und literatur hat
nihiJ est enim simul cl inventum cl peifectum; nec dubitari debel quin fucrint ante Homerum poetac.! Die
als erster Cicero in zwei lapidaren Sätzen formuliert:
modeme Rezeptionsforschung hat in der klassischen Philologie zwei Gründerväter: Georg Finsler mit dem Buch über: "Homer in der Neuzeit"
(1 9 1 2)2 und Georg Nikolaus Knauer mit dem Werk: Die Aeneis und Homcr (1 964).1 Hatte schon Finsler Vergil als den profundesten Homerkenner
stets in seine Überlegungen einbezogen, so hat dann vollends Knauer die
unvorstellbar dichten intertextuellen Bezüge zwischen Homers Epen und der Aeneis - in die aber noch viele andere Texte aus griechischen und rö mischen Autoren integriert sind - mit Hilfe von antiken und neuzeitlichen Kommentaren aufgewiesen. In diesem Zusammenhang würdigt er auch die Vergilrezeption Voltai res in der
Henriadc
als bewusste Mittlertätigkeit und erinnert an seinen
beachtenswerten Vorläufer Frederic Gustave Eichhoff, der in einer präg-
1 2 3
Cic. Brutus 71. Georg Finsler: Horner in der Neuzeit von Dante bis Gnethe. Italien. Frankreich. England. Deutschland, Leipzig u.a. 1 912. Georg Nikolaus Knauer: Die Aeneis und Horner. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Usten der Hornerzitate in der Ameis, Göttingen 1 964 (Hypornnernata 7).
270
Rudolf Rieks
nanten Studie ein ausgewogenes und nachdenkliches Urteil über Voltaires Epos gefill t hat.4 "Es bleibt uns noch, von einer Dichtung anderer Art
zu
sprechen, deren Frankreich sich mit Recht rühmt, obwohl man sie nicht in denselben Rang setzen kann, wie die Mehrzahl der Meisterwerke, die wir gerade genannt haben. Unsere Literatur, die den anderen in so vielen Hin sichten überlegen ist, hatte noch nicht ein Epos hervorgebracht, das wür dig war, der Nachwelt überliefert
zu
werden, als Voltaire seine
Henriade
schuf. Indem er einen nationalen und von seiner Zeit wenig entfernten Stoff
(s,gel)
wählte, weckte er zugunsten seines Werkes die allgemeine
Aufmerksamkeit und Neugierde; aber er beraubte sich auf der anderen Seite einer Unzahl von Stoffelementen (resourees), die die Entfernung der Orte, die Ungewissheit der Üb erlieferungen und die Leichtgläubigkeit der Völker den anderen Ependichtern im Ü berfluss lieferten. Der Stil der
Henriade
ist vornehm und elegant; er atmet oft eine glückliche Kühnheit:
die Bartholomäusnacht, die Traumvision von Henri N, die Schlacht von Ivry, die Hungersnot - das sind Stücke von einer großen Energie; aber der Komposition im ganzen fehlt es an Reichtum und an Abwechslung, man
(maurs), die Glaubwürdigkeit Aeneis nachgeahmt, aber er hat
sucht dort vergebens die Wahrheit der Sitten der Orts schilderungen. Voltaire hat die
sich zu wenig an diese Nachahmung gebunden; er hat sich nicht seiner Begabung
zu
überlassen gewusst und diesen großen und stolzen Griff zu
wagen, der die inspirierten Dichter auszeichnet." Deutlich ungnädiger hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner
thetik über
Ar
das Epos Voltaires geurteilt, in dem er die Totalität einer Welt
auffassung vermisst, die
für die
Nation des Dichters - zumindest während
einer besonders glanzvollen historischen Epoche - repräsentativ sein müsse: "Ganz nach einer anderen Seite
hin
[sc. als in Klopstocks
geht es in gewisser Rücksicht auch in Voltaires
Henriade
Messias]
nicht wesentlich
anders zu. Wenigstens bleibt auch hier die Poesie um so mehr etwas Ge machtes, als sich der Stoff, wie ich schon sagte, für das ursprüngliche Epos nicht geeignet zeigt. "5 Eine Generation später hat sogar der Historiker Theodor Mommsen in seiner
Römischen Geschichte
das von den Römern erfundene historische
Epos, das uns in den Werken von Livius Andronicus, Naevius, Ennius
4
5
Frooeric Gustave Eichhoff: Etudes grecques sur Virgile ou recueil de tous les passages des poetes grecs irnires dans les Bucoliques, les (ieorgiques et l'Eneide, avec le texte L1 tin et des rapprochemens Iitterrures, 3 Bde., Paris 1 825, hier: vol. 2,47f. Georg W'ilheIm Friedrich HegeI, Werke �n zwanzig Bänden] , hg. v. Eya Moldenhauer, Frankfurt a.l\I. 1 970, Bd. 1 3- 1 5: Vorlesungen über die A sthetik, Bd. 1-3; dort Bd. 3, 414.
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptinn
in
271
der 1-I,mißde
und schließlich auch in der Ameis Vergils entgegentrete,
für ein unerträgli
ches Zwittergebilde erklärt, da es die historische Faktizität mit der literari schen Fiktionalität vermische.6 Versetzen wir uns nun über fast zwei Jahrhunderte hinweg in die Zeit Voltaires, so mögen wir unseren Augen nicht trauen. Der unvorstellbare Erfolg von Voltaires
Hmriade
(Geneve 1 723)7 lässt sich sowohl daran
ermessen, dass sie schon zu seinen Lebzeiten sechzig Neuauflagen erfuhr, wie auch
daran , das s nach ihrem Vorbild etwa fünfzig weitere
französische
Versepen gedichtet wurden.8 Unter den viden verschiedenen Impulsen, die Voltaire zur Abfassung der
Henriade
veranlasst und die als inhärente
Energien diese überwältigende Anerkennung des Epos im 1 8. Jahrhundert bewirkt haben, seien drei besonders hervorgehoben: die tiefe Imprägnie rung mit der lateinischen Sprache und Literatur, die Voltaire als Zögling des College de Louis-Ie-Grand (1 704- 1 7 1 1) der Pariser Jesuiten9 vor all em seinem zeidebens verehrten Rhetorikprofessor Charles Poree verdankte;lO die erschütternden Erfahrungen tiefen Elends, die er 1 7 1 3 als designierter Attache der französischen Botschaft in Den Haag mit sehr viden Asyl suchenden hugenottischen Landsleuten machte, als in den letzten Lebens jahren des nun sehr bigotten Louis XIV die Bestimmungen der
de i'Mit de Nantes (1685)
Rivocation
mit unerbittlicher Härte durchgeführt wurden; und
schließlich die detailli erten historischen Schilderungen, die sein väterlicher Freund aus dem Libertinenkreis des Temple, Lefevre de Caumartin, ein ehemals hoher, untadeliger Staatsbeamter unter Louis
XIV,
ihm seit 1 7 1 5
auf seinem Landgut aus seinem untriiglichen und unerschöpflichen Ge dächtnis über die französischen Bürgerkriege und deren glorreiche Been digung durch Henri IV vortrug. Um es noch schärfer und persönlicher zu pointieren: Voltaire sdbst, der als Collegiat hunderte von lateinischen Versen auswendig gdemt hat te, der 1 7 1 0 mit dem Großen Preis
für lateinische Dichtung ausgezeichnet für Frankreich erst-mals ein großes
worden war, wollte als neuer Vergil
6 7
Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. 1, Wien 141 933, 923f. Genaue Dokumentation sämtlicher Ausgaben bei Owen R. Taylor: La Henriade, Edition cririque, Geneve 21 970, 232-253. 8 Dietrich Briesemeister: "Columbus als ,Apostel und Eroberer' im französischen Epos des 1 8. Jahrhundem", in: Titus Heydenreich (Hg.) : Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1 992 (Lateinamerika-Studien 30), 307-324, 307. Vgl. Ira O. Wade: The Intellectual Development of Voltaire, Princeton N J. 1 969, hier 93-1 1 9. 9 Gustave Dupont-Ferrier: Du college de C1ermont au Iycee Louis-Ie-Grand (1 5631 920), vol. 1 -3, Paris 1 921-1925. 10 Joseph de La Serviere: Un professeur d'ancien regime: le pere CharIes Poree, S.J. (1 676-1 741), Paris 1 899.
272
Rudolf Rieks
nationales Epos schaffen, in dem Henri N als neuer Aeneas mit der Hilfe Elisabeths 1. von England zwei tödlich verfeindete Bürgerkriegsparteien kraft der überlegenen Idee der Toleranz zu dem von Gott selbst verfügten Frieden führt. Hatte Charles Perrault in seinem berühmten Poeme sur Je siede de Louis /e Grand (1687) die gegenwärtige Epoche wegen ihres techni schen Fortschritts und wegen der Blüte der schönen Künste als neues Augusteisches Zeitalter und den Herrscher als neuen Augustu.<; apostro phiert,1 1 so wollte Voltaire dagegen als visionärer neuer VergiI mit dem Wahrheitsanspruch des Dichtersehers
(vales)
die wirkliche, 'erhabene'
Größe Henri N zusprechen, der wie Augustus einst nach langen Bürger kriegen einen glanzvollen Frieden gestiftet hatte. Dieser geniale Rückgriff auf eine über hundert Jahre zurückliegende Großtat impliziert den bitteren Vorwurf an Louis XIII und Louis XIV, dass sie beide unter dem Vorwand des Glaubenseifers aus reinen Machtinteressen ganz Europa
für
ein weite
res Jahrhundert mit furchtbaren Kriegen überzogen hatten. Im letzten Drittel des
20.
Jahrhunderts hat die Voltaire-Forschung
große Fortschritte erzielt. Theodore Besterman, dem wir auch die heute maßgebende Biographie von Voltaire verdanken,1 2 hat eine neue interna tionale Gesamtausgabe der Werke Voltaires begründet. In zwei opulenten Bänden wird dort das gesamte Material
zur Henriade
bereitgestellt. Owen
R Taylor hat seiner mustergültigen Textausgabe eine ausführliche Einlei tung (Komposition, Publikation, Konzeption, Quellen, Wirkungsgeschich te, Textgestaltung) vorangestellt; unterhalb des Textes sind
dann
die wich
tigsten früheren Versionen und die auffälligsten Zitate oder Similien aus älteren Autoren dokumentiert. 1 3 Zusammen mit Richard Waller hat so dann David Williams in einem eigenen Band die zwei von Voltaire im Hinblick auf das englische Publikum in englischer Sprache verfassten
An essqy oj/he civil lllars ofFrance (besorgt von RW.) und An essqy on epicpoetry (bes. v. D.W.) nebst deren späteren Ü bersetzungen ins Französi sche: Essais sur /es gueres civiJes en Franee (übers. v. Granet; bes. v. RW.), Essai sur Ja poesie epique (übers. v. Voltaire; bes. v. D.W.) und: Essai sur Ja poesie epique (übers. v. Desfontaines ; bes. v. D.W.) herausgegeben und ausEssays:
11
Vgl. Charles Penault "Parallele des Anciens et des Modemes en ce qui regarde les arts et les sciences (1 688)", in: Theorie und Geschichte der literatur und der schönen Kün,te, Texte und Abhandlungen, Bd. 2. Jl.lit einer einleitenden Ab handlung von Hans Robert Jauss und kunstgeschichtlichen Abhandlungen von Max Irndahl, München 1 964. 12 Theodore Bestertnan: Voltaire, Oxford 31 976. 13 Tarlor, 2 1 970 (wie Fulin. 7).
Zu Voltaires Vcrgilrezc:ption in der Hmnode fiihrlich kommentiert. 1 4
Im
273
Hinblick auf Voltaires Rezeption und Imitati
on Vergils darf man hier schon feststellen: Dass die Essays erst nach der Vollendung des Epos geschrieben sind und offensichtlich den primä!"en Zweck verfolgen, möglichst viele englische Subskribenten einzuwerben, darf nicht ihre Qualität in Frage stellen.
11. 1 Muse und Wahrheit Nach der Auffassung von Homer und Hesiod beschenken die Musen, die Töchter des Zeus und der Titanin Mnemosyne, die von ihnen erwählten Dichter mit vielen besonderen Gaben und Fähigkeiten wie Stimme, Spra che, Schöpferkraft, Kunstverstand, 'Wissen.l .' Den falschen oder anma ßenden Dichtern können sie
zwar auch, wie Hesiod es ihre Vorsängerin sagen lässt, vieles Lügnerische, dem Wahren nur Ähnliche eingeben, ihre
wesentliche und wichtigste Leistung aber ist die Offenbarung der Wahr heit, die sie allein
für
alle drei Zeitdimensionen kennen und den begnade
ten Dichtem zu künden vermögen.1 6 Die klassischen römischen Dichter, allen voran Vergil und Horaz, haben diese Vorstellungen übernommen und
für
sich jeweils noch verfeinert.1 7 Es sind gerade diese beiden, die
Voltaire sein Leben lang als seine Lieblingsdichter betrachtet hat. 1 8 Durch die Erzählungen des Freundes Lefevre de Caumartin fiihlte er sich
zu
einer Dichtung inspiriert, die sich in die europäische Tradition des heroi schen Epos als erstes französisches Beispiel dieser Gattung einfügen soll te. 1 9 Neben seinen ausgiebigen Studien der Geschichtsquellen hat er daher nach Homer, Vergil, Lucan auch die großen neuzeitlichen europäischen Epen eifrig studiert. Dennoch kann man feststellen, dass das Proömium
1 723; Amsterdam 1 724) Aeneis gestaltet ist. Das gilt sowohl für Zweiteilung in Themenangabe (propositio; V. 1 -6) und Musenanru-
seiner Dichtung in der ersten Ausgabe (Geneve in genauer Anlehnung an Vergils die klare
14 David Williams: The English essays of 1 727 (An essay on the civil wars of France. Critical edition by Richard Wall er, p. 9-1 1 6). An essay on epic poe try / Essai sur Ja poesie epique. Critical edition by David Williams, 1 1 7-613. 15 Horner, J/ias 2, 484-493. Vgl. Walter F. Otto: Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, Darmstadt 1 954. 16 Hesiod, Theo.ll.onia, 22-34. 17 Hellfried DahIrnann: "Vates", Philologus 97, 1 948, 337-353. 18 Vgl. Raymond Naves: Le gout de Voltaire, Paris 1 938, 1 68-1 70. 19 Vgl. Besterman, 31 976 (wie Fußn. 1 2), 63f.: Zur Förderung der HenritUk durch L de Caumartin, ;\farquis de Saint-Ange.
274
Rudolf Rieks
fung
(invocatÜJ; V.
7- 1 0) wie
für
die sehr deutlichen inhaltlichen und forma
len Entsprechungen. Kein anderes Epos aus der bezeichneten europäi schen Tradition, die sich stets ausdrücklich und einhellig von Vergil herge leitet hat, zeigt eine solch enge Bindung an den römischen Dichter. Am ehesten kommt noch Torquato Tasso in der Musenanrufung
zu
Beginn
seiner Geru.ralemme liherata und in verschiedenen einzelnen Episoden seines Epos dem Vorbild Vergils sehr nahe. 20 Der Text der Ausgaben von 1 723 und 1 724 beginnt: 2 1
5
tu
Je chante les combats, et ce roi gen&eux Qui for�a les Franc;ais a devenir heureux, Qui dissipa Ja Ugue et fit trembler I'Ibcre, Qui fut de ses sujets le vainqueur et le pcre; Dans Paris subjugue fit adorer ses lois, Et fut l'amour du monde et l'exemple des rois. Muse, raconte-moi quelle haine obstinee Anna contre Herui la France mutinee, Et comment nos aleux, a lcur pette courants, Au plus ju..te des rois pref&aient des tyrans. Valois regnait
Verschiedene Überlegungen mögen Voltaire bei diesem ungewöhnlichen künstlerischen Griff geleitet haben: Gegenüber seinen europäischen Vor gängern
im
Epos wollte er die Unübertrefflichkeit Vergils betonen; diese
Rangeinstufung veranlasste ihn selbst dazu, mit dem höchsten Vorbild in Konkurrenz zu treten; er wollte schon in seiner Grundkonzeption und später in der Durchführung eine möglichst dichte typologische Anglei chung seines Helden an Vergils Aeneas erreichen; er wollte betonen, dass die göttliche Muse, die einst Vergil inspirierte, auch nach siebzehn Jahr hunderten noch in seiner Seele dieselbe wunderbare Wirkung hervorzuru fen vermochte wie bei jenem. Außer dieser Musenanrufung gibt es nur noch eine weitere, in der Voltaire die Muse jener Mitglieder des Senats
im
um
die Angabe der Namen
Parlement (Gerichtshof von Paris) bittet,
die sich der Entmachtung durch die Sechzehn, den Exekutivausschuss der von der ügue in Paris ausgerufenen Volksrepublik, widersetzten und da für in die Bastille geschickt wurden (eh. 4,447-448). 22 Diese Tatsache ist zunächst nicht ungewöhnlich. Zwei Musenanru fungen - eine generelle am Beginn und eine spezielle zur genauen Erinne-
20 Vgl. Torquato Tasso: Gerusalemme liberata a cura di Lanfranco Caretti, Torino 1 971. GL 1, st. 2-3. Dazu Henr. 1 , 1 -6; 7-20, mit dem Similienapparat von Taylor, 2 1970 (wie Fußn. 7), 365f. 21 Ibid.; mit Verweis auf die Erstfassung auf S. 365 der Ausgabe von Taylor. 22 Vgl. Taylor, 2 1 970 (wie Fußn. 7), 461 f.; dazu die 'Notes de l'ec!iteur' auf S. 468.
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptinn
in
275
der 1-I,mißde
rung an die Namen von sechs heldenhaften Männern - mögen Epos, das knapp halb so lang ist wie die
Aeneis, genügen.
für
ein
Aber eine solche
Erklärung kann nicht zutreffen, wenn wir beobachten, dass Voltaire an mehr als einem Dutzend Stellen die Wahrheit ins Spiel bringt, als relative
verite auf der menschlichen Handlungsebene, aber auch als göttliche We senheit Vmte in stetiger enger Verbindung mit Gott (DieN; Eterne�· Tres HaNf, TONI-PNissanf) . Die Unausgewogenheit zwischen der einen knappen Musenanrufung des Anfangs einerseits und der häufigeren Zitierung der
verite wie
der gelegentlichen Beschwörung der
Verite
andererseits bedarf
einer Erklärung. Ohne sogleich einen ausschließenden Gegensatz zu ver muten, können wir zweierlei feststellen. Voltaire hat, durchaus in Anleh nung an das Vorbild der
Aeneis und
ihres Helden Aeneas, als sein Haupt
thema die innere Entwicklung von Henri de Bourbon gewählt und er hat mit dem kunstvollen erzählerischen Rückgriff der Gesänge 2 und
3,
dem
Bericht über die Bürgerkriege von 1 572- 1 590, unsere Spannung als Hörer oder Leser - gegen die historische Wahrheit23 - ganz auf die Jahre 1 589/ 1 590 und die für Henri so glanzvolle endgültige Konversion gelegt. Diese Sinn1ini e lässt sich mit wenigen Zitaten belegen. Der weise alte Eremit auf der Insel Jersey, der unverkennbar Züge von Voltaires Freund Lord Bolingbroke trägt, belehrt Henri und Mornay, dass die Wahrheit der Existenz und der Verehrung Gottes
(14 vmte sacree)
bei den Menschen von
Irrtümern umgeben sei, weil Gott selbst - hier deistisch aufgefasst - der Menschen nicht bedürfe (Ch. 1 ,255f.). Zahll o se Sekten führten
um
Gott
einen unversöhnlichen Krieg, während er selbst sich stets gleich bleibe und die Wahrheit
(LA Vmle)
ihm allein diene, aber nur selten einen stol
zen Menschen aufkläre (Ch. 1 ,249-252) . Entscheidend wichtig ist zuletzt, dass er Henri und Mornay die Erleuchtung ihres Geistes durch die
Veriü
als notwendige Bedingung zur Gewinnung von Paris aufgibt (Ch. 1 ,259 f.) . In scharfer Polemik gegen Papst Sixtus V., der Henri de Bourbon 1 585 und im Jahr 1 589 auch Henri III feierlich exkommuniziert hatte, preist Voltaire (Ch. 4, 1 87- 1 90) :
die
einstige
Gründung
der
Römischen
Kirche
La, Dieu meme a fonde son Eglise naissante, Tanmt persecuree, et tantot triomphante: La, son premier apotre, avec la Venre, Conduisit Ja Candeur et la Simplicire.
23 Taylor, 21 970 (wie Fußn. 7), 620, note h): "Ce blocus et cette famine de Paris ont POllt epoque I'annee 1 590, et Henri IV n'entra dans Paris qu'au mois de mars 1 594. II s'etait fait catholique en juillet 1 593; mais il a fallu rapproeher ces ttois grands evenements, parce qu'on ecrivait un poeme, et non une histoire."
276
Rudolf Rieks
Umgekehrt aber bedauert er sehr, dass es Poiitique, einer Abgesandten des Vatikans, gdungen sei, durch Bestechung die Theologische Fakultät der Sorbonne in (Ch. 4,309f.):
der lDyalität des
Papstes
und
der Ligue
zu halten
Parmi les cris confus, la dispute et le bruit, De ces lieux, en pleurant, Ja Verire s'enfuit. Kurz vor seinem tödlichen Attentat auf Henri III wird Jacques Clement, weil er sich verdächtig gemacht hat, einem strengen Verhör unterzogen. Es gelingt ihm aber, Unschuld vorzutäuschen und dies als die Wahrheit
(vbite)
erscheinen
zu
lassen (Ch. 5,286-288) .
Nach dem Tod von Henri m wird i m Parlement der Führer der Ligue, der Duc de Mayenne,
für die Wahl zum
König vorgeschlagen. Dem
widersetzt sich in einer langen, klugen und mutigen Rede (Ch. 6,83- 1 34) Potier de Blancmesnil, der Präsident des Parlement, der sich schon früher mit dem gesamten Senat gegen die Sechzehn gestellt hatte, 24 und betont den alleinigen Thronanspruch von Henri de Bourbon, den auch Henri III kurz vor seinem Tod als einzigen legitimen Nachfolger bezeichnet hatte. Die anwesenden Ligueurs reagieren mit Entsetzen auf die
für
sie bittere
Wahrheit seiner Worte (Ch. 6,1 37f.) :
Ils repoussaient en vain de leur creur irrite Cet effroi qu'aux mechants donne la verite. Das plötzliche Anrücken von Henri mit dem Heer setzt der Diskussion ein jähes Ende. Die Situation entspricht genau derjenigen im dften Buch der Aeneis (Aen. 1 1 ,445 ff.) , als nach den kontroversen Reden von Drances und Turnus
im
Larinettat ein neuer Angriff des Aeneas zum sofortigen
Kampf zwingt. Im siebten Gesang, der aber in der Erstfassung von 1 723/ 1 724 noch als sechster Gesang gezählt wurde und mithin dem sechsten Aeneis-Buch entspricht, unternimmt Henri - wie Aeneas mit Anchises - unter Führung seines Urahnen lDuis IX, des Heiligen und Stanunvaters der Bourbonen,
im Traum eine
Sedenreise durch die Hölle und den Himmd. In der Hölle
sieht er die Fürsten, Könige und Tyrannen, denen die Liebedienerei und Gewandtheit ihrer Höflinge die Wahrheit verbarg, so dass sie j etzt von der göttlichen Macht der
Vbite die schlimmsten Sedenqualen erleiden müssen
(Ch. 7,1 83-1 85):
De qui la complaisance, avec dexterire, A leurs yeux eblouis cachait Ja verire. La Vente terrible ici fait leurs supplices.
24 Vgl. S. 265 u. Fußn. 22.
Zu Voltaires Vcrgilrezc:ption in der Hmnode
277
Im achten Gesang will der Duc de Mayenne seinen Gefolgsleuten und sich selbst die Wahrheit der Niederlage von Ivry nicht eingestehen (Ch. 8,502-504: Ia venN cruelle) und vertraut darauf, mit der von ihm besetz ten Stadt Paris auch weiterhin seine Macht behaupten zu können. Im Schlussbuch - dem neunten Gesang in den ersten Ausgaben (1 723/ 1 724), dem zehnten Gesang in allen späteren - lässt Voltaire in deutlichem Anschluss an die von Venus erwirkte Iuppiterprophetie im ersten Aeneis-Buch (Aen. 1 ,223-304) Louis IX vor den Thron Gottes tre ten und vom Vater des Universums, dem Allmächtigen Gott, Gnade auf seinen großen Diener Henri herabflehen, damit er in Paris als König resi dieren, ganz Frankreich befrieden und zum Dienst des einen und wahren Gottes verpflichten könne (Ch. 1 0,445-466). Der Ewige erhört seine Bitte, und Henri spürt sogleich, dass der Höchste ihm beisteht (Ch. 1 0,467-472). Voltaire hat allerdings hier in der Schlusssequenz, wie er in seinen jVotes de I'Miteur vermerkt, mit dichterischer Freiheit Ereignisse aus den Jahren von 1 590 (Blockade von Paris) bis 1 594 (Einzug in Paris) zusammengezogen. 25 Als Botin des Höchsten und Vollstreckerin seines Willens erscheint Verite (Ch. 1 0,473-480): Soudain Ja Verite, si longtemps attendue, Toujours chere aux humains, mais souvent inconnue, 47.> Dans les tentes du roi descend du haut des cieux. D'abord un voile epais la cache a tous les yeux: De moment en moment, les ombres qui Ja couvrent Ccdent a Ja clartc des feux qui les entr'ouyrent: Bient{,t elle sc montre a ses yeux satisfaits, 4HO Brillante d'un eclat qui n'eblouit jamais.
Voltaire hat jene Iuppiter-Venus-Szene vom Anfang der Ameis vor allem deswegen als Vorbild gewählt, weil es ihm einerseits um den Gnadener weis Gottes und die endgültige Konversion von Henri ging, und weil er andererseits eine vom höchsten Gott verfügte Zukunftsverheißung für Henri und für ganz Frankreich darstellen wollte. Das äußere Zeichen für diese gnadenhafte Wendung war die Rückgewinnung der Hauptstadt Pa ris. Die Verite versteht er als eine Emanation des göttlichen Heilsplanes, die zwar nicht, wie er in den Notes de I'Miteur feststellt, die historische, aber doch die theologische und poetische Gültigkeit seiner Darstellung garan tiert.26 Nach sieben Jahren intensiver dichterischer Arbeit hat er seinen Helden Henri zu einer unangefochtenen, ruhmreichen Herrschaft geführt und sich selbst, nachdem er an verschiedenen Orten in Paris öffentliche Rezitationen veranstaltet hatte, den Ruhm eines 'neuen Vergil' erworben. 25 Vgl. Taylor, 21 970 (wie Fußn. 7), 620, note h). 26 Taylor, 21 970 (wie Fußn. 7).
278
Rudolf Rieks
Dass der junge König Louis XV, der im Oktober 1 722 zum König gekrönt wurde und im Februar 1 723 die Regentschaft übernahm, die ihm angebotene Widmung des Epos ablehnte und außerdem sogar ein Druck verbot für Frankreich verfügte, hat Voltaire schwer gekränkt und in seiner Absicht, Frankreich möglichst bald zu verlassen, bestärkt. Im Hochgefühl seines früh erworbenen Ruhmes hat er während der Drucklegung seines Werkes schon mit dessen Umarbeitung begonnen. Die umfangreichste Änderung war innerhalb von sechs Monaten im Jahr 1 724 die Hinzufü gung des jetzigen sechsten Gesanges, der die Gesamtzahl der Gesänge auf zehn erhöhte. Zur selben Zeit dürfte Voltaire den Titel seiner Dichtung geändert haben. Nur die auch sonst kaum voneinander abweichenden Erstdrucke der Jahre 1 723 und 1 724 bieten den Werktitel: Lz Ligue ou Henri Ie Grand. Dann hat Voltaire offenbar eingesehen, dass dieser Alternativtitel einen unvereinbaren Gegensatz ausdrückte, somit eine Spaltung des Interesses der Hörer oder Leser bewirkte und den Ruhm seines wahren Helden, ganz im Gegensatz etwa zur Aeneis, eher verdunkelte. Seit der Londoner Editi on (1 728) trug daher das Epos den Titel: Lz Henriade. Die bedeutsamste Änderung jedoch hat er selbst im Schaffensprozess der Dichtung vollzogen, als sich ihm immer stärker die Denkfigur der Verite - sei sie als christliche, profane oder poetische verstanden - als Schlussformel für sein Epos aufdrängte. Mit dieser Entscheidung Voltai res war aber letztlich eine beträchtliche, um nicht zu sagen: radikale Dis tanzierung von der Vergilischen Musenanrufung zu Beginn seines Epos indiziert. In seinem Esst?)' upon the pick poelTJ' (1 726), den er in England schrieb, um ihn der englischen Ausgabe der Henriade (London 1 728) vo ranzustellen, wird er im Lucan-Kapitel deutlicher. Er sieht nämlich einen besonderen Vorzug dieses von ihm sonst nicht so sehr geschätzten Dich ters darin, dass er den traditionellen Götterapparat abgeschafft hat.27 Zwei gewichtige Gründe scheinen ihm dafür ausschlaggebend: Zum einen war der Kampf zwischen Pompeius und Caesar um Republik oder Monarchie, den Lucan selbst geradezu für einen Weltkrieg erklärt hat,28
27 In seinem englischen U!Sd)' on pick poetry (William s, 1 727 [wie Fußn. 1 4), 330) hat Voltaire dies noch ausdrücklich unterstrichen: "He is to be commended for hav ing laid the Gods aside, as much as Homer and Virgil for having made use of that Machinery. " 28 Lucan, Pharsa/ia 1 , 1 -7: Bella per 1 ,'mathios plus quam ciuilia campos iusque datum m/tri canimus, populumque potentem in sua uictrici conuersum uiscera dextra co/l,nafasque acies, ef I7Ipfo foedere re.�ni
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptinn
in
der l-l,nriatk
279
ein wichtiges Kapitel der jüngsten römischen Geschichte, das Lucan in seinem faktischen Verlauf keineswegs nach Belieben poetisch umgestalten konnte und wollte. Zum anderen hat Cato selbst, für Lucan der wahre, stoische Held der Pharsalia, in seiner Ablehnung der Befragung des Ora kels des Iuppiter H ammon den Polytheismus früherer Zeit durch eine verinnerlichte monotheistische Gottesvorstellung ersetzt.29 Voltaire hat mit Empörung vermerkt, dass der AbM Desfontaines schon 1 728 eine eigene, nicht autorisierte französische Übersetzung dieses seines Essays anonym in Paris erstellte, die aus technischen und merkantilen Gründen sogar noch Eingang in die Pariser Edition der Henriade von 1 732 fand. Erst 1 733 konnte Voltaire seine eigene französische Version des Essai SHr Ja poesie epiqHe publizieren, in der er, um die große Bedeutung der Cato Rede für ihn selbst zu unterstreichen, diese in einer Übersetzung von Georges de Brebeuf zitiert.30 Da aber Catos Rede, die bei Lucan 1 9 Verse umfasst (phars. 9,566-584), bei Brebeuf auf 39 Alexandriner ausgedehnt ist, die wiederum Voltaire um 1 4 Zeilen gekürzt hat, schien es hier zweckmäßig, Lucans Cato-Rede im Original zu zitieren, allerdings nicht ohne aus der vorherigen Aufforderung des Labienus zur Orakelkonsulta tion die zwei wichtigsten Verse anzuführen. Diese Verse lauten (phars. 9,554f.) : Nam cui crediderim superos areana daruros dicrurosque magis quam sancro vera Catoni?
Labienus (phars. 9,550-563) argumentiert oberflächlich und provokant, wenn er erklärt, Cato als der all ein Würdige solle sich diese Gelegenheit zur Befragung nicht entgehen lassen; durch die zitierte rhetorische Frage relativiert er ironisch die Gewissheit einer wahren Auskunft. Der Kontrast zu Cato, den Lucan hier unserer Aufmerksamkeit anbietet, könnte schär fer nicht sein (phars. 9,564-584): ille deo plenus tacita quem mente gerebat
565 effudit dignas adytis e pectore uoces.
'quid quaeri, Labiene, iubes? an liber in armis cer/alll1ll totis conclIssi lIiriblls orbis in C01ll1llll ne nejas, inftstisqllt obllia s;"nis signa, partS fUjllilos etpila minantia pilir. 29 Lucan, Pbanaiia 9,566-584. Dieser Gottesbegriff ist bereits im ZelL.hymnos des Kleanthes alL.gebildet (Stoicorom Veterom Fragmenta, hg. v. Arnim, I 537). Vgl. Max Pohlel12: Die Sroa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 21959, Bd. 1 , 1 08-1 1 0; Bd. 2, 62f. 30 David Williams (Hg.): (Euvres completes de Volraire, 3 Bde., Oxford 1 996, 437f.; Georges de Brebeuf: La Pharsale de Lucain, Rouen u.a. 1 657 (zitiert nach der Ausgabe von D. Willi am s).
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occubuisse uelim potiu.� quam regna uidere? an sit nostra brevis, nil, longane differat aetas? an noceat uis nulla bono fortunaque perdat 5711 opposita uirtute minas, laudandaque uelle sit satis et numquam succe.�su crescat honestum? scimus, et hoc nobis non altiu.� inseret Hammon. haeremu.� cuncti superis, temploque tacente nil facimus non sponte dei; nec uocibus ulli s 575 numen eget, dixitque seme! nascentibus auctor quidquid scire Iicet. sterile.�ne e!egit harenas ut caneret paucis, mersitque hoc puluere uerum, e.�tque dei sedes nisi terta et pontu.� et aer et caelum et uirtus? supems quid quaerimus ultra? SIlO luppiter est quodcumque uides, quodcumque moueris. sortilegis egeant dubü semperque futuris casibus ancipites: me non oracula certum sed mors certa facit. pauido fortique cadendum est: hoc satis est dixisse lovem.'
Es soll hier nicht um Catos überlegene Abfertigung eines haldosen Spöt ters gehen, sondern um den Anspruch der Wahrheitserkenntnis. Entweder hatte Voltaire die besagte Wahrheitsdebatte Lucans schon bei der Abfas sung der Schluss sequenz bis zum oder im Jahr 1 722 vor Augen, oder er hat sie spätestens 1 726, also bis zur Fertigstellung seines Esstg on epick poetry, gdesen. Vides spricht fiir die erste Annahme. Denn seine Einfüh rung der Verite als einer direkten Emanation des Allmächtigen Gottes (Ch. 1 0,473-480) korrespondiert gar nicht mit der ursprünglichen Musen anrufung zu Beginn (Ch. 1 , 1 - 1 0), wohl aber mit einer sehr erhabenen, stoisch-epikureischen, deistischen Auffassung der Götter oder des einen Gottes, die dem Menschen sdbst, zumal dem wahrhaft Weisen, die allei nige Verantwortung fiir sein Handeln zuspricht Unter diesen Voraussetzungen jedenfalls hat Voltaire die Musenanru fung der ersten Ausgabe (1 723/ 1 724) fiir alle späteren Ausgaben durch eine Anrufung der Verite ersetzt (Ch. 1 , 1 -20):
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Je chante ce heros qui regna sur Ja France Et par droit de conquete et par droit de naissance; Qui par de longs malheurs apprit a gouvemer, Calma les factions, sut vaincre et pardonner, Confondit et Mayenne, et la Iigue, et l'lbere, Et fut de ses sujets le vainqueur et le pere. Descends du haut des cieux, auguste Veritel Repands sur mes ecrits ta force et ta dartel Que l'oreille des mis s'accoutume a t'entendre; Gest a toi d'annoncer ce qu'ils doivent apprendre: Gest a toi de montrer, aux yeux des nations, Les coupables effets de leurs divisions.
Zu Voltaires Vcrgilrezc:ption in der Hmnode
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Dis comment Ja Discorde a trouble nos proyinces; Dis les malheurs du peuple et les fautes des princes; Viem, parle; e t s'il est yrai qu e Ja Fable autrefois Sut a tes fiers accents meIer sa douce yoix, Si sa main deIicate orna ta tete altiere, Si son ombre embellit les traits de ta lumiere, Ayec moi sur tes pas permets-lui de marcher, Pour omer tes atrraits, et non pour les cacher. Valois regnait encore
Welche Vorzüge hoffte Voltaire durch diese radikale Neufassung des Proöms zu gewinnen? Es ging ihm keinesfall s um eine Abkehr von Vergil, aus dem er - wie der Similienapparat von Taylor ausweist - fast ebenso viele Motive, Szenen, Personen, Strukturen, Konfigurationen adaptiert hat wie aus allen anderen antiken und modernen Vorbildautoren zusammen. Vielleicht kann ein abgewandeltes Sprichwort, mit dem ursprünglich Aris toteIes sein Verhältnis zu Platon beschrieben hat, seine Intention erhellen: amicus Ver;gilillS, scd magis amica ventas. Oder als Paradox formuliert: von Vergils Muse zur christlichen Wahrheit geführt, hat er diese programm a tisch zum Ausgangspunkt der gesamten Dichtung erklärt. Er hat damit nicht nur Catos - oder besser: Lucans - Kritik an allzu anthropomorphen Gottesvorstellungen entkräftet, sondern erscheint selbst von vornherein als der inspirierte Künder einer umfassenden christlichen Heilsbotschaft. Aber damit nicht genug. Die restlose Ersetzung des traditionellen Mu senanrufes durch eine Apostrophierung der Verite ist eine ungeheuerliche Provokation des Ancien Regime, die Voltaire nur aus der Sicherheit seines englischen Asyls heraus wagen durfte. Er sieht sich selbst in der Rolle des Anklägers und Richters und erklärt die Verite zur Zeugin und Vollstrecke rin (ta force ct ta clartc) . Sie soll die Könige und die Völker über die straf würdigen Wirkungen ihrer Zwistigkeiten aufklären. Sie muss die schlim men Schäden der Zwietracht (Discordc) in den Provinzen, die Missgeschi cke des Volkes und die Fehler der Fürsten kundtun. Sie soll kommen und sprechen. Soweit 01. 7-1 5a) der auffordernde Teil, der acht Imperative enthält, wenn man den Ausdruck: e'est d tai - zu den Imperativen rechnet. Mit Vers 1 5b bis Vers 20 kehrt er zur Rolle des Dichters zurück, der die aufdeckende und strafende Gewalt der Verite mit seiner Erzählkunst ver kleidet und verschönert.11 Mit 14 Versen übersteigt die Länge dieser Anru31
Dieser Abschnitt ist Torquato Tasso nachempfunden, der in der zweiten und dritten Stanze des ersten Gesanges die soeben angerufene l\Iuse um Verzeihung bittet, wenn er, um auch mit ihr nicht vertraute Leser zu gewinnen, von ihrer \Xrahrheit abweiche, und nach der Weise des Lucrez (4,8-25) den Rand des Be chers der bitteren Medizin der W'ahrheit mit dem Honig der schönen Verse be netze.
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fung die der Musenanrufung in der Erstausgabe (eh. 1 ,7-1 0), aber auch die Länge ihres Schlussauftritts (eh. 9 bzw. 1 0,473-480) sehr deutlich. Hier hören wir schon die Fanfaren der französischen Revolution, Voltai res Verite trägt in sich die Töchter Uberte, Egalite, Fraternite. II.2 Priamus und Coligny
In der ersten Gesangstrias hat Voltaire den ordo artijicialis Vergils genau nachgebildet.12 Anstatt seinen engen Vertrauten Momay allein mit einem Hilfsgesuch zu Königin Elisabeth I. von England zu schicken, wie es der historischen Wahrheit entsprach, lässt er Henri de Bourbon selbst ge meinsam mit dem Freund die Seereise antreten. Durch Seesturm, Schiff bruch, Zwangsaufenthalt auf Jersey - mit der oben erwähnten vorausdeu tenden philosophisch-politischen Unterweisung des Eremiten, der Züge des in Frankreich exilierten und Voltaire eng befreundeten Lord Bo lingbroke trägt - und glückliche Ankunft in London schafft er im ersten Gesang den von Horaz postulierten unmittelbaren Handlungseinsatz.11 Er gewinnt so den Ansatzpunkt für den erzählerischen Rückgriff der Gesän ge 2 und 3, in denen Henri der Königin auf deren Wunsch zunächst (eh. 2) die Bartholomäusnacht als blutigen Beginn neuer Religionskriege und dann (eh. 3) den weiteren Verlauf dieser verlustreichen Kriege bis zur gegenwärtigen Belagerung von Paris durch König Henri III und ihn selbst schildert (1 589), um daran seine Hilfsbitte zu knüpfen. Elisabeth ist be wegt, erfiillt seinen Wunsch, und er - in Wirklichkeit Momay allein kehrt mit einem 1 000 Mann starken englischen Reiterkontingent zu den Belagerungstruppen vor Paris zurück. Voltaire stattet Elisabeth mit einigen Zügen von Vergils Dido aus: sie ist souveräne Herrscherin, Gastgeberin, Gesetzgeberin, Zuhörerin bei der Erzählung von Krieg und Leid der Nachbarvölker. Ohne Uebe zwischen Henri und Elisabeth zu insinuieren, betont er doch eine starke wechselsei tige Sympathie. Ihre Seelenverwandtschafr und gleichgeartete historische Größe markiert er mit dem von ihm nur den überragenden Heldenfiguren zuerkannten Epitheton: auguste. Deutlich tritt auch Voltaires persönliche Begeisterung für England, dessen Verfassung, Rechtssystem, religiöse Toleranz und bürgerliche Freiheiten hervor. Nun zu einer vergleichenden Analyse der Iliupersis (Aen. 2) und der Bartholomäusnacht (Hem., eh. 2). 32 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde, München 1 960, §§ 316f., §§ 449f.; Pranz Josef Worstbrock: Elemente einer Poetik der Aeneis, ]\'Iünstef 1 963 (Orbis Antiquus 20), 43-45. 33 HOf. ars 147-1 49.
Zu Voltaires Vcrgilrezc:ption in der Hmnode
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Beide Bücher bieten einen Musterfall der klassischen Rhetorik, der in hellenistischer Zeit auch Eingang in die so genannte 'tragische' Ge schichtsschreibung gefunden hat:14 die anschauliche Schilderung (evapyelo; cvidentia) der - oft, wie auch hier, nächtlichen - Eroberung einer feindlichen Stadt mit detaillierter Ausmalung der Gräueltaten. 15 Al lerdings sind hier doch gravierende Unterschiede der Ausgangssituation, der Konfiguration, der Kampfinszenierung und der Erzählperspektiven nicht zu übersehen. Paris wurde weder belagert noch erobert, sondern Königin Catherine de Medicis, Regentin für ihren minderjährigen Sohn Charles IX, hatte zur Hochzeit ihrer Tochter Marguerite mit dem Protestanten Henri de Bour bon, König von Navarra, auch dessen Glaubensgenossen, etwa 3000 Hu genotten aus ganz Frankreich nach Paris eingeladen.16 Nach der Hochzeit am 1 8. August 1 572 wurde mehrere Tage gefeiert. Erst als dann am frü hen Abend des 23. August ein von der Königin ihrem Sohn aufgenötigtes Attentat auf den am Hof sehr mächtigen Hugenottenführer, Admiral de Coligny, der wenige Tage später mit einem Heer zur Unterstützung der protestantischen Niederlande gegen die Spanier ausrücken sollte, fehl schlug, gab Charles IX auf erneutes Drängen seiner Mutter seinen Anhä ngern den Befehl zu dem allgemeinen nächtlichen Gemetzel gegen die in Paris weilenden HugenottenY Henri fungiert zwar in diesem Gesang formal als Ich-Erzähler, muss aber gegen Ende (Ch. 2,322-344) zugeben, dass er selbst jene Morde und Gräueltaten nicht gesehen hat, weil er in jener Nacht unbehelligt im Louvte geschlafen hat. Die Gesandtschaft.�reise nach England war eine erzähl technisch kluge und überzeugende Korrektur der Geschichte. Aber Henri auf der Seite der Protestanten kämpfen zu lassen - man hat ihn nicht vor der Hochzeit, aber später noch im Jahr 1 572 als Gefangenen des Hofes (bis 1 576) zum abermaligen Übertritt zum Katholizismus gezwungen18 - verbot sich für 34 Vgl. Norbert Zegers: W'esen und Crsprung der tragischen Geschichtsschreibung, Diss. Köln 1 959. 35 Lau..berg, 1 960 (wie Fußn. 32), §§ 8 1 0-81 9, 399-407. Für Quintilian Qnst. 8,3,6770) gilt die Stadteroberung als ein l\Iu..terfall einer solchen Schilderung. 36 Eine kompakte Darstellung der von Voltaire geschilderten historischen Ereignis se bietet der von Peter C. Hattmann herausgegebene Sammelband: Französische Könige und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII . bis l\iapoleon III . (1 498-1 870), München 1 994; dort: Rainer Babel: Kad IX. 1 560-1 574, 99-1 1 9; llja Mieck: Hein rich III. 1 574-1 589, 1 20-142; Ernst Hinrichs: Heinrich IV. 1 589-1610, 1 43-1 70. 37 Rainer Babel spricht in seinem Artikel (wie Fußn. 36) auf S. 1 1 5 von 1 500-20()() Todesopfern der Bartholomäusnacht in Paris. 38 Henri IV (*1 5. 12. 1 553) wurde katholisch getauft, aber von seiner Mutter Jeanne d'Albret als Sohn des Antoine de Bourbon protestantisch erzogen; am Hof in Pa-
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Voltaire, weil das in jedem Fall - bei einem Sieg oder bei einer Niederlage - zu unsinnigen Konsequenzen geführt hätte. Mit Recht hat er also ver sucht, in künsderischem Wettstreit mit Vergil dessen poetische Fiktion der Eroberung und Zerstörung Troias durch seine Darstellung der tatsächli chen Gräueltaten der Bartholomäusnacht zu überbieten. Wenn Vergil den Aeneas mehrfach gleichsam fonnelhaft seine Augenzeugenschaft betonen lässt,39 so bleibt selbst ihm, dem Kampfteilnehmer, der räumlich und zeit lich weitaus größte Teil des Geschehens verborgen - oder wird ihm nur gegen Ende durch eine repräsentative Offenbarung der Venus erhellt, um ihn von der Notwendigkeit der Flucht zu überzeugen. 40 Gemäß den Nachweisen des sorgfältigen Kommentars von Owen R. Taylor41 finden sich im Gesamrvergleich von Aeneis und Henriade die engs ten Strukturparallelen und die häufigsten Zitatanklänge zwischen der Er mordung des Priamus (Aen. 2,506-525; 526-546; 547-558) und der Tötung des Gaspard de Coligny (Henr. Ch. 2,1 75-1 96; 1 97-220; 221 -244) . Es scheint angemessen, hier den Begriff der 'Paraphrase' aus der klassischen Rhetorik wieder zu der Geltung zu bringen, die er in der Musik durchaus bis heute besitzt:42 Voltaire bietet eine schöpferische Neugestaltung des Themas der Überwindung eines gewaltigen Gegners, die die Meisterschaft beider Dichter in vollem Glanz erstrahlen lässt. In Vergils Iliupersis markiert der Tod des greisen Königs Priamus, den der Ich-Erzähler Aeneas als ungesehener und ohnmächtiger Augenzeuge miterlebt hat, das Ende des zehn jährigen Krieges, den Untergang Troias und einer jahrhundertelangen Herrschaft über Asien. Aeneas ist, von sei ner Mutter Venus geleitet, deswegen anwesend, weil er als Nachfahre des Iuppitersohnes und Troiagründers Dardanus in sechster Generation beru-
ris (1 564-1 566) wurde er wieder katholisch, bei seiner Rückkehr nach Pau aber mals proreslantisch. Nach den blutigen Ereignissen in Paris wurde er Ende 1 572 erneut katholisch, aber nach seiner Flucht 1 576 wiederum proteslantisch, bis er 1 593 endgültig zum Katholizismu.. übertrat. 39 Beispielshalber seien zitiert: Aen. 2,5f.: qllaeqll� ipse mis�rrima lIidi / el qllorum pars ml1f!1a foi; 2,499-501.: lIidi ipse llIrenttm / caede IVtoptokmllm l!,eminosqlle in /imine Alridas, / lIidi HeCllbam; 2,560-562: obstiplli; sllbiil can l!,enitoris imr1!.o, / 111 rt,l!,em aeqllaellllm crutk/i IIl1lnere lIidi / lIi/am exhalantem. 40 Aen. 2,589-633; 624f.: Tllm IItro omne mihi lIimm considere in (!(nis / lIillm el ex imo lIerti IVepfllnia Troia. 41 Taylor, 2 1 970 (wie Pußn. 7), 400-404. 42 Vgl. Lausberg, (1960), §§ 1 099-1 1 06, 530-533. Die SchüsselsteIle zur schöpferi schen Paraphrase findet sich bei Quintilian im Zusammenhang mit der Übung der Ü bersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische: inst. 1 0,5,2-8. Als Bei spiel aus der Musik könnte man die Orgelparaphrasen zu Dantes Divina Commedia von Pranz Uszt nennen.
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fen ist, in Italien ein neues Reich zu begründen, das einst über Europa, Asien und Africa herrschen soll.43 Wir erkennen eine klare Dreigliederung: 1 . (Aen. 2,506-525): Mittels einer rhetorischen Frage setzt Aeneas bei Dido Neugier nach den weiteren Schicksalen des Priamus voraus, die ihm und uns in den Bildszenen des karthagischen Iunotempels begegnet waren (Aen. 1 ,483-487) . Hier berichtet Aeneas von einer letzten Wappnung des hilflosen Greises, der sich todesmutig den Feinden stellen will , bis schließ lich Hecuba ihn zu den Frauen führt, die als Schutzflehende am Hausaltar Zuflucht gesucht haben44• 2. (Aen. 2,526-546): Verfolgt von dem tobenden Achille ssohn Pyrrhus (= Neoptolemus) schleppt sich mit letzter Kraft der Priamussohn Polites herein und bricht, von Pyrrhus' Lanze getroffen, mit starkem Blutverlust vor den Augen der Eltern tot zus ammen. Priamus, selbst schon dem Tode nahe, verflucht Pyrrhus wegen seiner Erbarmungslosigkeit, fleht die Rache der Götter auf ihn herab, spricht ihm die Herkunft von Achill ab, da ihm dessen Edelmut fehle, und greift ihn mit einem krafdosen Lanzenwurf an. 3. (Aen. 2,547-558): Mit drei knappen Sätzen delegiert Pyrrhus höh nisch den Greis als Boten zu Achill in die Unterwelt, schleift den Zittern den und im Blut des Sohnes Ausgleitenden zum Altar, packt ihn mit der Linken bei den Haaren und stößt ihm mit abgewandtem Gesicht mit der Rechten das Schwert bis zum Heft in die Flanke. In einem Epilog beklagt Vergil den unwürdigen Tod des einst so mächtigen Herrschers. Wenn er hinzufügt, dass später sein Rumpf und der abgetrennte Kopf unerkannt am Meeresstrand lagen, so erklärt sich das aus der Weisung an Pyrrhus, das Haupt des Priamus als Trophäe zum Grabmal seines Vaters am Kap Sigeion zu tragen. Vergil will aber gewiss auch auf das ebenso schmähliche Ende des Pompeius am Strand von Ägypten im Bürgerkrieg hinweisen.45 Der ordo artificialis ist erst dann geglückt, wenn die Rekapitulation der Vorgeschichte sich auf das Wesendiche beschränkt. Als Kenner des Ho43 Vgl. Werner Suerbaum: "Aeneas zwischen Troja und Rom. Zur Funktion der Genealogie und der Ethnographie in Vergils Aeneis" , Poetica 1, 1 967, 1 76-204. 44 Michael Lobe: Die Gebärden in Vergils Ameü. Zur Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos, Frankfurt/rvI. 1 999, 1 14-1 1 7 (Classica et Neolatina 1), charakterisiert treffend die Hilflosigkeit des Priamus. Umso schärfer wirkt dann aber im Kontrast seine Zomrede. 45 Lucan beendet das achte Buch der l'harsalia (8,692-872) mit einer Klage über den unwürdigen Tod des einst so mächtigen Pompeius, dessen Leichnam ohne sein Haupt nur notdürftig von seinem früheren Quaestor Cordus am Strand von Agypten bestattet werden kann. Aus den rätselhaften tibicims Vergils (Aen. 2,557b-558), die dieser noch vervollständigen wollte (vgl. S. 288 u. Fußn. 50 zu Neoptolemus in Epirus), ist so ein unbestimmter Klagetopos geworden, den Vol taire auf Coligny überträgt.
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raz46 lässt Voltaire daher Henri der Königin - außer ihr ist nur Momay als s tumm er Zuhörer anwesend - zunächst nur über zwei Themen Bericht erstatten: über die Glaubensspaltung und ihre katastrophalen politischen Folgen (2,1 -82) sowie über seine persönlichen Verhältnisse und die seiner Gegenspider am Königshof (2,88- 1 74) . Nach seiner - von Voltaire ihm soufflierten Überzeugung - haben Add und Klerus aus Gier nach Macht und Besitz das Schisma vertieft, ist das Volk aus Unaufgeklärtheit und Existenzangst seinen Landesherm blind gefolgt, hat der Hof gewaltsam im Namen des Katholizismus seine unantastbaren Privilegien und seinen absoluten Herrschaftsanspruch behauptet. Im Sinn eines aufgeklärten Deismus rühmt er die von Elisabeth geleitete anglikanische Kirche, die, ohne die Zwangsalternative zwischen Rom und Genf, England
zu
einem
freien, friedlichen, prosperierenden Staat mache (2,33-42). Er sdbst habe als Kind unter dem Einfluss seines Vaters (gest. 1 562) gestanden, sei dann als König von Navarra und als Kämpfer
für
die protestantische Sache
dem Vorbild seines Onkds, des Prince de Conde (gest. 1 569) , und zuletzt dem des Admirals de Coligny gefolgt. Catherine de Medicis hingegen sei unberechenbar, machtgierig, gefiihl skalt und verschlagen. Der Mittdteil des Buches schildert als Beginn und sogleich grausigen Höhepunkt der Bartholomäusnacht den Märtyrertod von Coligny als pa radoxe Umkehrung einer klassischen Aristie und als Gegenstück
zur
Er
mordung des Priamus. Auch Voltaire markiert drei Abschnitte: 1 . (2, 1 75-1 96) : In seinem Gasthof hinter Saint-Germain-l'Auxerrois gegenüber der Ostfront des Louvre - wird Coligny vom Lärm der fanati sierten Soldaten geweckt. Er sieht aus der ersten Etage das Haus von Flammen und Waffen umgeben, seine Diener blutüberströmt in den Flammen erstickt. Die Angreifer rufen die Parole: 'Für Gott, gin,
für
für die
Köni
den König'. Er hört seinen Namen widerhallen. In der Feme
streckt der blutende, tödlich verwundete Comte de Teligny, sein junger Schwiegersohn, die Hände nach ihm aus und bittet um Rache. 2. (2, 1 97-220) : Der kampferprobte Hdd
(heros)
erkennt, dass er sich
ohne Waffen weder rächen noch verteidigen kann, er will mit Ruhm und Tapferkeit sterben. Nicht als kraftloser Greis tritt er den Mördern entge
gen, sondern mit der Ruhe und Würde des Fddherrn. Er öffnet ihnen sdbst die Tür, sie erstarren in Ehrfurcht vor seinem Anblick. Soldatisch knapp bittet er sie als seine Kameraden
(compagnons),
46 Vgl. Hor. ars 147-1 49: ne(/l.emino bell11m Troianllm ordilllr ab 0110: setNjJer ad ellenl11mjistintJI et in medias l7!S non seClls a( notar allditorelll rapit
ihm den Tod
zu
ge-
Zu Voltaircs Vcrgiltezc:ption in der T-T",riode
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ben. Sie werfen sich vor ihm auf die Knie, einer lässt die Waffen fallen, einer netzt seine Füße mit Tränen. Von seinen Mördern umgeben, gleicht er einem von seinem Volk angebeteten mächtigen König - eine kontras tierende Reminiszenz an Priamus. 3. (2,221 -244) : Ein deutscher Söldner namens Besme, will f:ihriges Werkzeug der Königin, stürmt herbei und stößt dem unerschrocken da stehenden Coligny das Schwert in die Flanke, wendet aber die Augen ab, da ein Blick in jenes erhabene Antlitz seinen Arm hätte erzittern und sei nen Mut gefrieren lassen. Schließlich trennt Besme noch sein Haupt ab, um es später der Königin vorzulegen. Voltaire lässt ihn also genau dem schrecklichen Beispiel des Pyrrhus folgen, obschon dies mit den histori schen Fakten kaum vereinbar ist.47 Zum Vergleich seien die letzten Reden von Priamus - diese mit der knappen Erwiderung des Pyrrhus - und von Coligny hier einander gegen übergestellt: Aen. 2,535-543; 547-550 vs. Henr. 2,210-215: 53.1 'at tibi pro scelere', exclamat 'pro talibus ausis di, si qua est caelo pietas quae talia euret, persoluant grates dignas et praemia reddant debita, qui nati coram me ceroere letum fecisti et patrios foedasti funere uuItu.•. 54U at non ille, satum quo te mentiris, Achilles talis in hoste fuit Priamo; sed iura fidemque supplicis erubuit corpusque exsangue sepuIcro reddidit Hectoreum meque in mea regna remisit.' 544-546 . . . [Lanzenwurf des Priamus] . . . cui Pyrrhus: 'referes ergn haec et nuntius ibis Pelidae genitori. iIli mea tristia facta degeneremque Neoptolemum narrare memento. 56U nunc morere.' [...] 2W 'Compagnons, leur dit-i!, achevez votre ouvrage, Et de mon sang glace souillez ces cheveux blancs, Que le sott des combats respecta quaran te ans; Frappez, ne craignez rien; Coligny vous pardonne; Jl.la vie est peu de chose, et je vous I'abandonne . . . 2t.> )'eusse aime mieux Ia perdre en combattant pour vous . ..' 47 Warum sollte Besme genauso mit abgewandtem Blick Coligny das Haupt abge schlagen haben wie einst Pyrrhus dem Priamus? Beide Vorgänge sind literarische Erfindungen, also hat Voltaire VergiI nachgeahmt. In den 'Notes de I'editeur' (faylor, 21 970 [wie Fußn. 7], 412) insistiert Voltaire darauf, dass das Haupt von Coligny Catherine de Medicis überbracht worden sei. Dann aber kann es nicht stimmen, dass, wie er sofort danach versichert, die Leiche von Coligny wie die anderer prominenter Opfer, an den Füßen hängend, öffentlich ausgestellt worden ist
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Zunächst zum lateinischen Text. Priamus will mit seinem Fluch wegen des Eindringens in den sakrosankten innersten Bezirk des Hauses und der frevelhaften Ermordung des Polites vor seinen Augen die Strafe der Göt ter gegen Pyrrhus heraufbeschwören. Durch die Leugnung seiner unbe streitbaren Abkunft von Achilles will er Pyrrhus tödlich bdeidigen und zur Ermordung seiner sdbst provozieren, da er die von den Göttern ver hängte Katastrophe erkennt und sich ihrem Willen beugt.48 Sein Lanzen wurf bleibt vergeblich, verstärkt jedoch die Provokation. Pyrrhus seiner seits repliziert nicht auf Priamus, sondern tötet ihn auf grausame Weise und verhöhnt ihn mit einer Botschaft an seinen ihm selbst unbekannten Vater Achilles. Es handelt sich um eine asymmetrische Konfrontation, die sich in ganz kurzer Zeit abspielt und keine regelrechte rhetorische Kont roverse zulässt. Priamus ist hochbetagt, Pyrrhus blu�ung, Priamus will die Rache der Götter für den Sohn, Pytrhus Rache für den Vater. Da jeder von beiden in seiner eigenen Wahnwelt lebt, haben sie keine gemeinsame Kommunikationsebene. Beide handeln aus einer Grundhaltung des Fata lismus, die sich, da sie beide die Letzten ihres Geschlechtes sind, aus dem von den Göttern verhängten Geschlechterfluch ergibt. Aeneas selbst, hier noch tief betroffener heimlicher Zeuge, erhält schon bald auf seinen Irrfahrten Aufschluss über das weitere Schicksal der Überlebenden von Troia (Aen. 3,294-47 1). In Epirus erfahrt er, dass der Fluch des Priamus sich an Pyrrhus erfüllt hat: Er habe die Menelaostochter Hermione geheiratet und die Beutesklaven Andromache und Helenus füreinander zur Ehe freigegeben, sei dann aber von Orestes, dem er Hermione geraubt hatte, aus Eifersucht erschlagen worden.49 Wenden wir uns nun der Rede von Coligny zu (Henr. Ch. 2,2 1 0-21 5) . Sie steht genau i m Zentrum des dramatischen Geschehens und zieht unse re gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Coligny trägt zwar einige Züge von Priamus - wie jener wird auch er unverdient zum Märt}-Ter - aber er of fenbart im Angesicht des sicheren Todes die überlegene Charakterstärke des wahrhaft großen Feldherrn, wie sie die Historiker besonders an Caesar gerühmt haben, und wie Voltaire selbst sie später in seiner Tragödie La mort tk Cisar (1 726/ 1 733) dargestellt hat.50 Er öffnet der Mörderbande selbst die Tür und diktiert dann wie in seinen vielen Schlachten selbst das
48 Roland G. AIL�tin: P. Vergili Maronis Aeneidos über SecundlL�, edited with a commentary, Oxford 1 964, 207, gibt eine eindringliche Interpretation der Szene. 49 Vgl. ApoUodor, epit. 6,1 2-1 4. Jean Racine, der von Voltaire am meisten bewun derte und auch in der Hennfldt oft zitierte Vorgänger, hat diesen Stoff in seiner Tragödie AI1IJromflque (1 667) mit großer Kunst behandelt. 50 Vgl. Henry Carrington Lancaster: French Tragedy in the Time of Louis XV and Voltaire. 1 7 1 5-1774, 2 Bde., Baltimore 1 950, Bd 1 , 1 35-1 39.
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptiun
in
der (-(",riatk
Geschehen (2,20 1 -206) . Er spricht sie als seine Kameraden
289
(compa!!,ons)
an, fordert sie auf, ihre Befehle auszuführen und verzeiht ihnen im Vo raus. Dies ist nicht rhetorische Strategie, sondern
in vierzig J ahren erprob
te furchtlose Schicksalsergebenheit und Todesverachtung. Die prägnanten sechs Verse bieten ein Musterbeispiel von rum
brevitas imperatoria, für die wiede
Caesar als größtes Vorbild gilt. 51
11.3 Dido und Gabrielle Im vierten Aeneu-Buch erscheint Dido, die nun nach Aeneas' Erzählungen gemäß dem gemeinsamen Plan der Göttinnen luno und Venus eine lei denschaftliche liebe
für den Helden hegt, zum ersten Mal beim Auszug zur Jagd in ihrer ganzen Schönheit (Aen. 4, 1 33-1 39) : reginarn thalamo cunctantem ad limina primi Poenorum exspectant ostroque insignis et auro 135 stat sonipes ac frena ferox spumantia mandit. tandem progreditur magna stipante caterua Sidoniarn picto chlamydem circumdata limbo; cui pharetra ex auro crines nodantur in aurum, aurea purpuream subnectit fibula uestem.
Im Hinblick auf Didos natürliche Schönheit sind ergänzend noch zwei Ausdrücke hinzuzufügen (Aen. 4,589-5 9 1 ; 698f.) :
terque quaterque manu pectu.. percussa decorum,
590 flauentisque abscissa coma.. 'pro Iuppiter! ibit hic', ait 'et nostris inluserit aduena regnis?' [. . ] 69K nondum illi flauum Pmserpina uertice crinem abstulerat Stygioque caput damnauerat Orco. .
Im ersten Text wird den Karthagern, Troern, Aeneas und uns Dido ver mittels ihres stolzen Pferdes und ihrer prachtvollen äußeren Attribute indirekt, implizit, distanziert, geradezu monumental - ganz anders als auf dem bekannten Bild von Oaude l.orrain52 - vor Augen gestellt. Das Pferd
51
Als Beleg mag ein erteil Cicems genügen. Im Dialog Bf7lhls sagt er von Caesars Commmfarii de wllo Gd/lico (262): valde quidem, i1llJ1IfJI1I, probdfldos; fludi mim SUflt, ncti et VetlIISti, omfli OT7/tJhI oranoflis tfJfllqufJfII vestt de/rrJ&fa [ J flihil esf mim ifl historid pura et . • .
ifllustri Imvitate ""Ieius. 52 Marcel Röthlisberger: C1aude Lorrain. The Paintings, vol. I: Critical Catalogue; vol. 11: illustrations, New Haven 1 961,Bd. 1, 438-44 1 . Beschrieben ist ein Exemp lar des Bildes von 1 676 in englischem Privatbesitz. Weitere Exemplare befinden sich in London (British Museum). Detroit (Institute of Arts) und in der Harnbur-
290
Rudolf Rieks
hat eine purpurne Sattddecke, Zaumzeug und Sattd sind reichlich mit Gold verziert. Dido trägt einen purpurnen Mantd mit golddurchwirktem Saum und einen goldenen Köcher, ihre blonden Haare sind mit einem goldenen Netz zu einem Knoten zusammengefasst, so wie auch eine gol dene Spange ihr Untergewand zusammenhält. Als Zuschauer, Leser oder Hörer sind wir von der Pracht und Fülle der Gewänder, Schmuckstücke und Kleinodien überwältigt. Antike und modeme Kommentatoren ver säumen nicht den Hinweis, dass Dido, wie schon ihr anfängliches Zögern im Brautgemach (fhalamo) zeige, sich bewusst sei, dass sie in Wahrheit nicht zur Jagd, sondern zu ihrer Hochzeit ausziehe. 53 Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Königin, wie wir erst später er fahren, nach dem Willen Vergils blonde Haare hat, so dass nicht nur sie sdbst nach antiker Vorstellung ein besonderes Schönheitsideal erfüllt,54 sondern auch ihre gesamte Erscheinung mit der hier aufgebotenen Far benpracht wunderbar harmoniert. Das Gesamtbild wird aber erst mit dem Aufzug der Phrygier - ein Synonym für die Troer, das besonders auf ihre farbenfrohe Kleidung hinweist - des frohgemuten Iulus und des überaus schönen Aeneas (anfe alios pulcherrimus) vollendet, der in einem Gleichnis mit dem Ddischen Apollo verglichen wird (Aen. 4,1 40-1 50) . Da Didos Schönheit (pulcherrima Dido) bereits bei ihrem ersten Auftreten im ersten Buch mit einem vidfach korrespondierenden Diana-Gleichnis illustriert wurde (Aen. 1 ,494-504), ist die schicksalhafte wechsdseitige Zuordnung der beiden Hddengestalten unverkennbar. Wie nimmt nun Voltaire die Motive und Arrangements Vergils im neunten Buch der Henriade auf? Er beginnt mit der Schilderung eines Dämonenreiches, das in Idalie, dem antiken Idalion auf eypern, in einer alten Kultstätte der Venus, die immer noch wirkmächtigen Allegorien aller Tugenden und Laster beherbergt. Unter ihnen hat Amour, der gute und böse Wirkkräfte in sich vereint, eine führende Rolle. Er eilt auf Bitten seiner Schwester Discorde, der er vidfach verpflichtet ist, nach Frank reich, um dem milden, friedfertigen, versöhnlichen Henri eine unbe zwingbare Liebe einzugeben, die ihn nach dem Sieg von Ivry von seinem ger Kunsthalle . Im Liber Veritatis trägt das Bild die Nummer 1 86. Das 1 672 ent standene Bild: 'Aeneas auf Delos' (LV 1 79) ist das Gegenstück. Vgl. auch Marcel Röthlisbetget u.a.: L'opeta completa di Claude Lottain, Milano 1 975, Tav. LV LVIII, 1 21-122. 53 Claud. Don. Aen. (hg. v. H. Georgii, Leipzig 1 905, vol. 1, Aen. 4,1 35, 372): totum quod habuit aut aummfoit autpurpura pretiosa, et ideo tandem: sie mim processtrat ut amans et quae p/ocere cuperet et aman. R.G. Austin, P. Vetgili Maronis Aeneidos IV, Oxford 1955, ad 4,1 33 (thaJamo &1Indantem) : .. [ . . . 1 she hesitates as a bride might". 54 Vgl. Arthur Stanley Pease: Publi Vetgili Maronis Aeneidos liber quartu.�, Dar mstadt 21 967, 471 -473, mit ausführlicher Kommentierung von Didos Blondheit.
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptiun in der (-(",riatk
291
Heer femhalten und letztlich doch noch den Bürgerkrieg verlieren lassen soll. Durch ein nächtliches Unwetter
im
Wald leitet er Henri heimlich zu
Schloss Anet, das er selbst mitgestaltet hatte, als Henri II es
für seine
Ge
liebte Diane de Poitiers erbauen ließ. Ohne
sich
mit
Topographie,
Architektur,
Gartenanlagen
oder
Interieurs irgendwie aufzuhalten, entwirft Voltaire ein dreiaktiges Uebes drama, das ohne weitere Personen, ohne Dialoge, ohne fassbare Handlung als geschlossenes seelisches Geschehen von höchster Intensität vor unse rer Phantasie abläuft. Die Exposition (Ch. 9,159-180) malt das Bild einer jungen, unverheirateten Frau, die die Natur über die Maßen mit ihren liebenswürdigen Gaben überhäuft hat. Weder Helena als Frau des Mene laos habe so geglänzt, noch Kleopatra, die doch einst Antonius zuliebe in Tarsos als Venus aufgetreten ist und von den Menschen als Göttin verehrt wurde.55 Gabrielle erscheint als das vollkommene Ideal einer jungen Braut (9,173-180):
175
1110
Elle entrait dans cet äge, helasl trop redoutable, Qui rend des passions le joug inevitable. Son creur, ne pour aimer, mais fier et genereux, D'aucun amant encor n'avait ref):u les vreux: Semblable en son printemps a la rose nouvelle, Qui renferme en naissant sa beaure naturelle, Cache aux vents amoureux les tresors de son sein, Et s'ouvre aux doux rayons d'un jour pur et serein
Die Hochzeitsvorbereitung (Ch. 9,181-204) des Amour gilt einzig der Braut Gabrielle: Zugleich mit der Ankündigung von König Henri steigert er ihre Schönheit und ihre Uebessehnsucht und führt sie dann vor den Herrscher (9,193-204):
195
200
L'art simple dont lui-meme a forme sa parure Paralt aux yeux seduits I'effet de la nature: L'or de ses blonds cheveux, qui flotte au gre des vents, Tant6t couvre sa gorge et ses tresors naissants, Tant6t expose aux yeux leur charme inexprimable. Sa modestie encore la rendait plus aimable: Non pa.. cette farouche et triste austenre Qui fait fuir les Amours, et meme la beaure; Mais cette pudeur douce, innocente, enfantine, Qui colore le front d'une rougeur divine, Inspire le respect, enflamme les desirs, Et de qui Ia peut vaincre augmente les plaisirs.
55 Vgl Plutarch, Antonius, c. 26.
Rudolf Rieks
292
Voltaire begabt Amour mit seiner eigenen Kennerschaft und Raffinesse in Liebesdingen: Amour vertraut der Wirkung der Natur mehr als dem über triebenen Aufwand. Das lange blonde Haar, das die wohlgeformte Figur von Gabrielle umspidt, verdeckt bald ihre Reize, bald bringt es deren Zauber
zur
Gdtung. Sie gibt sich bescheiden, nicht aber abweisend sitten
streng, weil dies die Liebeswallungen und sogar ihre Schönheit vertreiben würde. Sanfte, unschuldige, kindliche Scham überzieht ihr Gesicht mit einer herrlichen Röte, die Achtung einflößt, aber das Verlangen entfacht und die Freuden dessen, der sie gewinnen kann, vergrößert. Wie
wir sehen,
formuliert Voltaire -
im
Sinne des Amour - so genau,
so situationsgerecht, dass sich eine wörtliche Übersetzung
kaum
vermei
den lässt. Als ein Ergebnis sei hier schon festgehalten, dass zwar Vergils Dido Voltaires wichtigstes Vorbild
für
Gabrielle darstellt, dass ihm aber
auch in viden wesentlichen Zügen die Gestalt der Lavinia vor Augen ge standen hat. Ihr, bei aller bangen Betrübnis, wunderschöner Auftritt ist es ja im Schlussbuch der
Aeneis
(12,64-80), der Turnus unweigerlich in den
Entscheidungskampf mit Aeneas treibt. Jean Regnauld de Segrais, der die
für Voltaire maßgebende französische Übersetzung der Aeneis geschaffen hat, gibt Lavinia, wie zuvor schon Dido, ebenfalls blonde Haare.56 Neben John Dryden muss Voltaire in der frühen Neuzeit mit seinem Essai
poesie epique (1 733)
sur
Ia
als der entschiedenste Verfechter einer positiven Be
wertung der Gestalt des Turnus in der zweiten Aeneis-Hälfte geltenY Die ses Urteil Voltaires impliziert aber auch, dass er dem Aeneas der zweiten Aeneis-Hälfte eine gewisse Langeweile und jedenfalls nur geringes Interes se
für Lavinia vorwirft.
56 Jean Regnauld de Segrais: Traduction de l'Eneide de Virgile, Amsterdam 1 700, 1 30f.: 'Sur les Iys de son sein on void ses tresses blondes I Au gre des doux Ze phirs f10ter en grosses ondes'; später von Lavinia, 328: 'L'or de ses blonds cheveux, & son teint, & ses ttaits:'; und 331 : 'Et sur ses blonds cheveux sa fureur exerc;ant'. (zitiert nach Taylor, 21970 [wie Fußn. 7] 584f.). 57 Das tritt in seinem liJJ�Y von 1 728 und dessen französischer 'Übersetzung von Pierte Franc;ois Guyot de Desfontaines (1 732) noch kaum hervor, ist aber in Voltaires eigener Übersetzung (1 733) deutlich alL'geprägt. Vgl. Williams (Hg.), 1 996 (wie Ful3n. 1 4), 1 95-1 97 zum Unterschied zwischen Voltaires heiden Fas sungen. Seine zwei wichtigsten Aussagen lauten (432f.): "Pour moi, s'i1 m'est permis de dire ce qui me blesse davantage dans les six demiers livres de l'liniide, c'est qu'on est tente en les lisant de prendre le parti de Turnus contre Enee . . . TI (sc. Enee) envoie une ambassade au mi Latin pour obtenir un asile; le bon vieux roi commence pat lui offrir sa fille, qu'Enee ne demandait pas; de Ia suit une guerte cruelle; . . . Turnus, en combatant pour sa maItresse est tue, impitoyablement par Enee; . . . (433) . . . . iI fallait peut-etre qu'Enee eut a delivrer Lavinie d'un ennemi, plut6t qu'a combattre un jeune et aimable aman t, qui avait tant de droits sur elle . . .
Zu Voltaires Vcrgilrczc:ption in der Hmnode Das Liebesidyll (Ch.
9,205-238)
293
ist ein nach dem nächtlichen Unwetter
von Amour spontan erschaffener bukolischer Iocu.r
amoenllS,
der bei strah
lendem Sonnenschein durch ein verschlungenes Myrtendickicht an kühlen Bächen Schatten spendet und die Liebenden in seinen Bann schlägt. Sie lassen die reale Welt hinter sich und verfallen an der Seite ihrer Liebsten in einen somnambulen Dämmerzustand, der sie alle Pflichten vergessen macht und in süße Trunkenheit versetzt. Es ist das Reich des Amour, der sie hier seine ganze Macht spüren lässt. Die Herolde dieser der Liebe hin gegebenen Welt sind die Vögel mit ihrem Geschnäbel, ihren liebkosun gen und Gesängen. Die Repräsentanten der ländlichen Szene, der Schnit ter und die Schäferin, lassen ihre Arbeit ruhen und finden zueinander. Gemäß der hierarchischen Stufenordnung der Natur erfasst der unwider stehliche Impuls des Amour in einer Kettenreaktion nach den Elementen, den Tieren und den Landleuten zuletzt die adlige Jungfrau und den König. Dezent und diskret schildert Voltaire zuerst, wie die Frau an diesem ver hängnisvollen Tag
Herzen, dem Helden
und dem Amour nachgibt
{juneste jour} ihrer Jugend, ihrem (9,229-232). Schließlich Tapferkeit (valeur immortelle) von Henri,
muss auch die unbe
zwingbare
die ihn nach Ivry zu
seinem Heer ruft, der Macht des Amour weichen, seine berauschte Seele liebt, sieht, hört, kennt nur noch Gabrielle
(9,233-238).
Will man nicht annehmen, dass Voltaire die Verbindung von Henri und Gabrielle aus moralischen Gründen missbilligt, ist für seine Gestal tung ganz vornehmlich das altepische Motiv des Sich-Verliegens des Hel den zu erkennen, das zumeist zwei Spannungsmomente entfaltet: den Rückzug des gekränkten oder erzürnten Helden zu seiner Frau, seiner Geliebten oder seinem Freund und später - oft erst auf ausdrückliches Geheiß der Götter - die Überwindung des Widerstandes der Frau, der Geliebten, des Freundes, um
im
Kampf wiederum wahre heldische Größe
zu beweisen.58 In ihrer Auffassung des vierten Aeneis-Buches als einer Didotragödie lässt Antonie Wlosok den ersten Akt mit der unheilvollen Vereinigung von Dido und Aeneas in der Nymphengrotte schließen (Aen. Im zweiten Akt
(4,1 73-295)
4,1 -1 72).59
löst dann der von Dido als Freier abgewiesene
Gaetulerkönig Iarbas durch Anrufung seines Vaters Iuppiter Hammon die Gegenbewegung aus:
Mercur
bringt Aeneas Iuppiters Weisung
terfahrt, die Aeneas sogleich vorbereitet. Im dritten Akt
zur
Wei
(4,296-449)
setzt
58 Vgl. Johannes Th. Kakridis: "The Role of the Woman in the Iliad", Eranos 54, 1 956, 21 -27. 59 Antonie Wlosok: "Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragi schen in der Ameit', in: Herwig Görgemann s u.a. (Hgg.): Studien zum antiken Epos, Meisenheim 1 976 (Beitr. z. Klass. Phil. 72), 228-250.
Rudolf Rieks
294
Aeneas den drei immer leidenschaftlicheren Reden Didos - darunter eine von Anna überbrachte letzte Botschaft (4,416-435) - nur eine endgültige Absage entgegen (4,333-361a). Als Sohn des Iuppiter H ammon hatte Iarbas keinen Grund an der Existenz seines Vaters zu zweifeln, sehr wohl aber wirft er in seinem Ge bet (4,206-218) die provokante Frage auf, ob Iuppiter überhaupt noch am Handeln und Leiden der von den Göttern geschaffenen Menschen Anteil nehme. Diese kritische Anfrage, die Lucan später durch Cato Uticensis aufgreifen und negativ beantworten lässt, 60 hat seit jeher als ein loeus classieus des antiken wie des neuzeitlichen Deismus gegolten.61 Als erklärter Anhänger dieser Denkweise behält sich Voltaire das direkte Eingreifen Gottes - vermittels seiner Botin Verite - für die Überwindung der äußers ten Krise
im
Schlussbuch vor. Im 9. Buch aber, da es gilt, den pflichtver
gessenen König aus der Gewalt des Amour zum Entscheidungskampf zurückzuführen, bedient er sich einer Impulskette nach altepischem Mus ter. Dem Dämon Amour stellt er den übermächtigen Glücksgenius
heureux)
(Genie
von Frankreich, dem Privatvergnügen das Staatswohl entgegen.
Dieser Genius beseelt Mornay, den Freund von Henri und strengen Ver nunftmenschen nach dem Vorbild von Platon und Marc Aurel (9,239260). Voltaire betont seinen unbeugsamen Charakter, seine Tugendliebe, Arbeitswut, Vergnügungsfeindlichkeit und strenge Reinheit (9,261-272). Dann schickt er ihn unter Führung der Weisheit Verweichlichung
(Mollesse) ,
(Jagesse)
gegen die sanfte
die Henri in Schloss Anet beherrscht, während
zugleich Amour sich bemüht, die Wonnen von Henri zu verstärken und zu verlängern (9,273-280). Er muss jedoch zu seinem Zorn erfahren, dass Mornay mit Hilfe der
Jagesse seine Verlockungen missachtet
(9,281-288).
Aus diesen ungewissen Antagonismen der allegorischen Figuren lässt Voltaire schließlich eine letzte Liebesbegegnung zwischen Gabrielle und Henri sich entfalten, die die zarten Reize und innigen Gefiihlswallungen der Rokokoepoche
im
Stil der Damen de La Fayette 62 und Deshoulieres63
und der Maler Antoine Watteau und Franc;ois Boucher mit geschliffener Stilkunst und lebhafter Sympathie schildert (9,289-304):
60 Lucan Pharsalia 9,549-586. 61 Vgl. Viviane Mellinghoff-Bourgerie: Les incertitudes de Virgile. Conttibutions epicuriennes a la theologie de l'Eneide, Bruxel1es 1 990 (Collection Latomu.� 210), 43-45; 1 1 2; 226. 62 Zu Ch. 9,294-295 nennt Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 589 als Parallele Mme. de La Fayette: La Printesse de C/eves (paris 1 7 1 9), 3c Part., 1 38f. 63 Zu Ch. 9,297 nennt Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 589 als wörtliche Parallele An toinette Deshoulieres de Lafon de Boisguerin: Poesies, Bruxelles 1709, 1 ,89.
Zu V"ltairc.. Vcrgi1rc:zc:ptinn in der l-l,nriatk
290
295
3CX)
295
Au fond de ces jardins, au bord d'une onde claire, Sou.. un myrte amoureux, asile du mystere, O'Estree a son amant prodiguait ses appas; TI languissait pres d'e1le, iI briilait dans ses bras. Oe leurs doux entretiens rien n'altemit les charmes; Leurs yeux etllient remplis de ces heureu..es !armes, Oe ce.. larmes qui font le.. plaisirs des amants: TIs sentaient cette ivresse et ces saisissements Ces transports, ces fureurs, qu'un tendre amour inspire, Que lui seul fait gouter, que lui seu! peut dCcrire. Les folitres Plaisirs, dans le sein du repos, Les Amours enfantins desarment ce heros: L'un tenait sa cuirasse encore de sang trempee, L'autre avait detache sa redoutable epee, Et riait, en tenant dans ses debiles mains Ce fer, I'appui du trone et I'effroi des humains.
Konzentrieren wir uns zunächst auf die Beziehungen zur
Aeneis.
Deren
Held genießt nach dem Bericht des Dichters unter unheilvollen Vorzei chen nur kurz sein liebesglück (Aen. 4,165-168). Auch das durch Fama entstellte und durch larbas gehässig kommentierte weitere Geschehen erscheint als wenig glücklich (Aen. 4,173-197: Fama; 198-218: larbas). Jedoch bietet Aeneas nach längerem Aufenthalt bei Dido dem Mercur, der ihn
im
Auftrag des luppiter
zur
sofortigen Abreise auffordern soll, ein
Bild der Verweichlichung (Aen. 4,260-278). Zwei äußere Attribute sind besonders hervorgehoben: sein am Knauf mit einem rötlichen Jaspis ver ziertes Ptunkschwert und der von Dido mit Goldfaden durchwirkte Pur
im Anfang der ihm von luppiter mit etwas anderen und ausführlicheren Worten aufgetragenen Scheltrede64 kennzeichnet Mercur
purmantel. Noch
die derzeit unwürdige innere und äußere Verfassung des Aeneas mit dem Epitheton: uxonus. Aeneas nimmt die harsche Scheltrede des Mercur ohne Widerrede Die
hin.
Analyse
zeigt,
dass
Voltaires
Rezeption
des
Dido-Aeneas
Komplexes konsequent einem chiastischen Schema folgt, insofern als die von Vergil ausgesparte direkte liebesbegegnung zwischen Dido und Aeneas vom französischen Dichter in der liebesszene von Henri und Gabrielle explizit geschildert ist, während umgekehrt Mornay, als er
im
Garten von Schloss Anet das liebespaar Henri und Gabrielle erblickt, betroffen schweigt, dann aber Henri selbst schuldb ewusst seine Pflicht vergessenheit eingesteht und in tätiger Reue mit Momay nach IVIY auf bricht.
64 VgL Aen. 4,219-237 (Iuppiters Auftmg); Aen. 4,265-278 (Mercurs Botschaft und Entschwinden).
296
Rudolf Rieks Einige Bemerkungen zu der zitierten liebesszene seien noch angefügt.
Obwohl Vergil seine Figuren bei vielen Gelegenheiten und am häufigsten seinen Titelhelden Aeneas Tränen vergießen lässt, gibt es keine Szene, in der zwei liebende gemeinsam weinen. Wir werden also die Tränen der wechselseitigen inneren Ergriffenheit von Henri und Gabrielle mit Erich Auerbach aus den Stilkonventionen der Epochen der Empfindsamkeit und des Rokoko herleiten. 65 Die neckische Schilderung der zwei Eroten, die während der liebesvergessenheit von Henri und Gabrielle mit dem Küraß und dem Schwert, den beiden wichtigsten Rüstungsteilen des Kö nigs, spielen, könnte zwar auch im hohen Epos als bedenkliches Indiz für die völlige Pflichtvergessenheit des Helden gelten, ist hier aber ebenfalls wohl eher als spielerisch-heiteres Ornament der Rokokozeit zu werten. Voltaires bukolische Szenerie mag am ehesten von Watteau inspiriert sein, den er sehr schätzte. Sowohl von der sehr freizügigen Aeneis-Szene, in der Venus ihren Gatten Vulcan um neue Waffen bittet (Aen. 8,370-4(6), als auch von Voltaires liebesszene scheinen drei Bilder von Fran�ois Bou cher angeregt: das erste (1732) zeigt Venus, mit einer Nymphe und zwei Eroten zu dem hingestreckten Vulcan herabschwebend, der mit einem Lendenschurz bekleidet ist und ein Schwert hält; das zweite (1754) zeigt Venus, die den sitzenden Vulcan umschmeichelt; auf dem dritten (1757) kommt Venus mit einer Nymphe und vielen Amoretten in die Schmiede
Vulcans, der ein Schwert und andere Waffen für Aeneas bereithält.66
III. Schluss betrachtung Voltaire versteht sich in der Henriade nicht nur als Dichter, sondern eben so als Historiker, Philosoph und Politiker. Wie die von ihm geschätzten und rezipierten Vorbilder, unter denen Vergil mit weitem Abstand voran geht, will er in seinem Epos eine universale Weltanschauung zur Geltung bringen. Ernst Zinn hat diese Intention, ein 'Weltgedicht' (Rudolf Alexan der Schröder) zu schaffen, als einen besonders für die römischen Epiker
65 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen lite ratur, Bem 21 959, Kap. XVI: Das unterbrochene Abendessen (371 -403). Er wählt zu Beginn ein Beispiel aus lUanon uscallt (1731) des Abbe Prevost, um darzule gen, dass in jener Epoche des Rokoko zu einer liebesgeschichte unweigerlich Triinenergüsse beider liebenden gehören. 66 Vgl.
Zu Voltaires Vcrgilrczc:ption in der Hmnode
297
wirksamen Impuls nachgewiesen.67 Im ersten Kapitel konnte gezeigt wer
Hennade mit einem sehr eng an Vergil angelehnten 1 , 1 -1 0) zunächst ganz konventionell begonnen, dann
den, dass Voltaire die Musenanruf (Ch.
aber aus starker Anglophilie, aus dem libertinen Gedankengut des Temple, aus persönlichen Erfahrungen und aus den staatspolitischen Lehren des Lord Bolingbroke heraus scharfe Kritik an den sozialen, rechtlichen, kon fessionellen und politischen Verhältnissen
im
einstigen und im zeitgenös
sischen Frankreich geübt hat. Aus seiner eigenen französischen Version des
Essai sur Ja poesie ipique (1 733)
konnten
wir ersehen,
dass er auch durch
ein genaueres Verständnis der Gestalt des Cato Uticensis in Lucans
Pharsalia 1 721 / 1 722
wo der Hass gegen Caesar Lucan die Feder führt
-
etwa
darin bestärkt wurde, die Schlusssequenz des Epos der Verite
als einer Emanation des Allmächtigen Gottes zu unterstellen, um damit implizit die Musenanrufung des Proöms zu revozieren. Daraus erst ergab sich für die englische
(1 728)
und für alle weiteren Ausgaben die Konse
quenz, die eher schlichte ursprüngliche Musenanrufung durch eine länge re, ausgesprochen provokante Anrufung der Verite zu ersetzen (Ch.
2) .
1,1 -
Diese Anrufung gibt der Dichtung nunmehr von vornherein einen
überzeitlichen, zukunftsweisenden, universalen Anspruch. Im zweiten Kapitel konnten
wir
als Hörer oder Leser wahrnehmen,
wie der bühnenerfahrene Epiker Voltaire durch die Tiefendimension der Intertextualität das grauenvolle Geschehen der Bartholomäusnacht auf dem Hintergrund der Eroberung Troias lebendig werden lässt. Die Reali tät der Bartholomäusnacht lag für Voltaire anderthalb Jahrhunderte zu rück und die Zeugnisse über das tatsächliche Geschehen waren lückenhaft und widersprüchlich, wie es aus seiner wenig kohärenten Darstellung und aus seinen hier besonders zahlreichen
Noles de I'Miteur
hervorgeht.68 So
greift er denn auf Vergils bewegende Schilderung der Iliupersis zurück und lässt in einer ersten großen Parallele den Erzähler Henri wie sein Vorbild Aeneas nur mit einer Anwandlung des Schauders den Bericht
2,3; 1 2; Henr. 1 ,379f.) : infandum, regina, iubes renouare dolorem . . . animus meminisse horret:::: PlUt au ciei imti, tCmoin de mes douleurs, I Qu 'un itemel oubli nous cacMt tant d'horreurs! Eine Parallele zwischen Teligny und
beginnen (Aen.
Polites wird von Henri nur kurz angedeutet, bevor er dann in Kontrastpa rallele
zum
zornig-erhabenen
Untergang
des
mächtigen
Herrschers
Priamus berichtet, wie der Politiker, Feldherr und Märtyrer seines protes tantischen Glaubens, Coligny, mit einer stolzen Rede seinen Mördern die Stirn geboten und den Tod verachtet hat.
67 Ernst Zinn: "Die Dichter des alten Rom und die Anfange des Weltgedichts", A&A 5, 1 956, 7-26. 68 Vgl. Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 409-414.
Rudolf Rieks
298
Was wirklich in Troia und was genau in Paris geschah, werden wir nie erfahren, aber die innere Wahrheit beider Erzählungen wird niemand anzweifeln.
Gewiss hat die bewegende Schilderung Voltaires gtoßen An
teil daran, dass in Paris an der Rue de Rivoli beim Temple de l'Oratoire ein 1889 errichtetes Denkmal mit einer Marmorstatue des Admirals de Coligny die Erinnerung an diesen wachhält. Die Inschrift auf dem Sockel lautet:
Ce monument a ere erige en 1 889 a la memoire de l'amiral de Coligny. Tres haute figure protestante du XVI" siede. Victime de l'intoleranee qui etait eelle de son temps lors de la nuit de la Saint Barthelemy. "TI n'avait dans le e= que Ja gloire de l'etac". Montesquieu Der 9. Gesang ist die anmutigste und empfindsamste Kreation in diesem heroischen Epos. Nicht umsonst lässt Voltaire den Amour auf seiner Anreise die von seinen Schützlingen Theokrit und Vergil besungenen bukolischen Stätten auf Sizilien besuchen und auch Petrarcas Vaucluse überfliegen, bevor er zu Schloss Anet gelangt.
Gemäß
seiner Doppelnatur
bewirkt er nach einem furchterregenden nächtlichen Unwetter einen strahlenden Sonnentag, der Henri mit der überaus schönen Gabrielle in glücklicher Liebe vereint. Die unheilvollen Vorzeichen, die die Hochzeit von Aeneas und Dido begleiten, sind ferngehalten. Nichts
im
Verhalten
von Henri bestätigt seinen bekannten Beinamen des 'Vert-Galant', des wüsten Frauenverführers; die in der
Aeneis
nur an einigen Indizien er
kennbare und erst durch Mercur angeprangerte Liebesknechtschaft des Helden fehlt ebenso wie der ttagische Untergang der Heroine, der Voltai re als einer klugen Mätresse - der Renaissance oder des Rokoko - eine tiefe Ohnmacht und schwere Betrübnis verordnet hat, von der aber Amour sie alsbald wieder befreit. Trotz manchen kritischen Vorbehalten gegenüber Vergil, die sich be sonders auf dessen vermeintlich zu gtoße Nähe zu Augustus und auf an gebliche poetische Schwächen der zweiten Aeneis-Hälfre bezogen, hat Voltaire - nach Horaz - keinen anderen Dichter höher geschätzt als Ver gil und ist mit ihm in der
Henriade bis
zur Auflage letzter Hand (271775) in
einen fast lebenslangen 'Dialog der Texte' eingetreten, der den Interpreten beider Dichter in nie versiegender Aktualität reiche und immer wieder neue Anregungen bietet. Eine Wiederentdeckung der poetischen Qualitä ten und der zukunftsweisenden politischen Einsichten Voltaires in der
Henriade anhand
des unübertrefflichen Kommentars von Owen R. Taylor
ist daher auch für die wissenschaftliche wie für die private Rezeption Vergils von hohem Wert.
Die Dido der Charlotte von Stein
HANS ]ÜRGEN TsCHIEDEL (Eichstätt) In den letzten Monaten des Jahres 1794 vollendete Frau von Stein ihre Tragödie Dido. Sie stand damals im 52. Lebensjahr, war seit kurzem ver witwet und konnte auf die mit Goethe durchlebte Zeit inniger Verbun denheit (1776-1787) aus desill usionierender Distanz zurückblicken. Der Titel des Dramas weckt Erwartungen, die so nicht erfüllt werden; denn es handelt nicht vom traurigen Schicksal der von Aeneas verlassenen Dido, wie es Vergil vornehmlich im vierten Buch seiner Ameis gestaltet hat. Statt dessen tritt eine karthagische Königin entgegen, die in edelmüti ger Hochgesinntheit ihr Leben opfert, um ihre Ehre zu wahren und der Stadt Krieg und Verheerung zu ersparen. Die stoffliche Grundlage liefert die Epitoma Historiarum Philippicarum Pompei Trog; des Justin, wo im 18. Buch (3ff.) vom Ursprung der Karthager berichtet wird. Demnach gelangt Elissa auf der Flucht vor ihrem Bruder Pygmalion, dem Mörder ihres Gatten Acherbas (18,4), zuerst nach Zypern und dann nach Afrika, wo sie ein Stück Land erwirbt, qui corio bovis leg; posset (18,5,9), und darauf consentimtibus omnibus (18,5,14) Karthago gründet. Die Stadt erblüht rasch zu Macht und Reichtum, was den König der Maxitaner Hiarbas veranlaßt, unter Androhung von Krieg die Ehe mit der Landesherrin zu fordern (18,6,1): Elissae nlljJtias sub belli denuntiatione petit. Gesandte der Punier ma chen mit dem fremden König gemeinsame Sache und bringen Elissa durch arglistige Täuschung in eine Zwangslage, in der sie der ihr zugemu teten, aber verabscheuten Verbindung mit Hiarbas nur durch den Tod entgehen zu können meint. Unter der Vorspiegelung, vor der Hochzeit noch die Manen ihres früheren Gatten Acherbas durch Opfer besänftigen zu wollen (18,6,6: veM placaillra viri manes inferiasque), läßt sie einen Schei terhaufen errichten, auf dem sie sich dann selbst mit dem Schwert das Leben nimmt (18,6,7).1 Eine ganz ähnliche Version vom Ende der karthagis ch en Königin fand sich offenbar schon bei Timaios (vgl. FrGrHist 566. F 82), ist also weit älter als die je dermann geläufige Geschichte von Dido und Aeneas, wie sie Vetgil etzählt. Zu det Frage, warum Pompeius Trogus die bekannte und berühmte Fassung der Aetttis vetschweigt und statt dessen einet Erzählung den Vorzug gibt, welche den
300
Hans Jiirgen Tschiedel Charlotte von Stein läßt die Handlung ihres Dramas2 in dem Augen
blick einsetzen, da die Gesandten Karthagos vom Jetulischen König Jarbes zurückgekehrt sind, um Dido dessen Verlangen nach ehelicher Verbindung zu überbringen. An ihrer Spitze stehen die drei Gelehrten Aratus, ein Historiker, Dodon, ein Philosoph, und Ogon, ein Dichter. Sie unterstützen das Ansinnen des Jarbes, verraten ihre Königin und wiegeIn das Volk gegen sie auf. Als Jarbes zusammen mit seinem Feldherrn ver kleidet und darum unerkannt in die Stadt kommt, schließen sie sich ihm an und versuchen gemeinsam mit ihm, den Priester A1bicerio zum Treu bruch zu bewegen. Doch der bringt seiner Königin tiefe Zuneigung ent gegen und weist die ungebetenen Besucher aus der ihm anvertrauten heili gen Stätte. Daraufhin wenden sich Aratus und Ogon
an
Elissa, die Freun
din Didos, werden aber auch von ihr schroff abgefertigt. Dido hat inzwi schen längst ihren Entschluß gefaßt: Um ihrem gemordeten Gatten die versprochene Treue halten zu können, gleichzeitig aber auch die Stadt vor der drohenden Invasion zu retten, will sie sich in die Einsamkeit zurück ziehen und die Herrschaft ihrem Bruder Pygmalion abtreten. In einer Höhle bei einem alten Einsiedler findet sie Zuflucht Doch die Hoffnung, dort auch ihren Frieden zu finden,
trügt
Denn sie muß erfahren, daß das
Heer des Jarbes bereits in die Stadt eingedrungen ist und er nun ihre Ge treuen zwingen will , ihren Aufenthaltsort preiszugeben. Als Albicerio, der sein Schweigen nicht bricht, bereits zur Hinrichtung gefiihrt wird, trifft Dido, die ihre Edlen nicht im Stich lassen möchte, wieder in der Stadt ein, um sich Jarbes zu stellen. Unter dem Vorwand,
für
die Rettung der
Freunde ein Dankopfer darbringen zu wollen, läßt sie A1bicerio einen Scheiterhaufen errichten, auf dem sie sich statt dessen am Ende selbst ersticht, um so dem toten Gatten die versprochene Treue zu halten.
2
trojanischen Ahnherm der Römer aus dem Spiel läßt, sei auf die ansprechenden Vermutungen von Seel verwiesen: Otto Seel: Eine römische Weltgeschichte. Stu dien zum Text der Epitome des Iustinus und zur Historik des Pompeius Trogus (Erlanget Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 39), Nümberg 1 972, 1 61 f. Dido, I tin TraJltrspiel I in 5. AuftjiJ{tn. I tkr .l'chrmplotz ist in Carthap,o. Einen zuver lässigen Text bietet Susanne Kord (Hg.): Charlotte von Stein. Dramen (Frühe Frauenliteratur in Deut�chland, hg. v. Anita Runge, Bd. 1 5), Hildesheim u.a. 1998; die Dido findet sich darin als Nachdruck der Seiten 489-534 aus: Goethes Briefe an Frau von Stein, hg. v. Adolf SchölI, Zweite vervollständigte Auf!. bear beitet v. Wlihelm Fielitz. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1 885. Zum ersten Mal publiziert und mit für das Verständnis wichtigen Anmerkungen zu Bezügen auf Goethe und die Weimarer Hofgesellschaft versehen wurde das Stück von Heinrich Düntzer: Dido, Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Charlotte Albertine Emes tine von Stein-Kochberg (1 794), Frankfurt a. M. u.a. 1 867.
Die Dido der Charlotte von Stein
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Schon diese knappe Skizze des Handlungsgerüstes läßt erkennen, wie sich Charlotte von Stein einerseits im wesentlichen an Trogus/Iustinus angelehnt hat, wie sie aber andererseits Personen und Begebenheiten hin zugefiigt hat, die das Werk von einem bloßen Historienspektakel absetzen und ihm ein durchaus eigenes, sehr persönliches Gepräge verleihen. Von daher standen seit jeher vor allem die Auftritte der drei verräterischen Gelehrten im Mittelpunkt des Interesses, eines Interesses, das freilich mehr von der Goetheforschung gespeist ist und nur in zweiter Unie Frau von Stein und ihrem Drama gilt. Bereits Düntzer sah in dem Dichter Ogon ein Zerrbild Goethes, entstanden aus "dem eifersüchtigen Grolle der um ihr höchstes Glück in ihm sich betrogen fühlenden Frau", zu sammengesetzt "aus allerlei Zügen [ . . .], die ihre leidenschaftlich erregte Einbildung ihr vorspiegelte oder die sie zur grellen Charakterisirung nöthig glaubte." "Ihr Ogon", so fahrt Düntzer fort, "mußte nach der Handlung des Stückes nicht allein zu einem äußerst selbst.c;üchtigen Men schen, sondern auch zu einem verrätherischen Schurken werden."3 Diese Deutung der Tragödie als Werk der Rache einer gekränkten Frau am treulosen Freunde oder liebhaber hat weitgehend Anerkennung gefunden und bestimmt im wesentlichen bis heute das Verständnis des Stückes. So heißt es etwa noch bei Koopmann: "Das Stück enthielt eine einzige Kritik an Goethe [...] . Hier kulminieren alle Vorwürfe, die sie [seil. Frau von Stein] Goethe gemacht hat: Herzlosigkeit, lieblosigkeit, das Künsdertum über das Leben gesetzt, das Mannorkalte an ihm: es war eine literarische Hinrichtung, an der Charlotte von Stein sich da versucht hatte, und das läßt erkennen, wie sehr sie verletzt war, wie sehr sie aber auch Rache wollte". 4
3
4
Heinrich Düntzer: Charlotte von Stein, Goethe's Freundin. Ein Lebensbild, mit Benut2Ung der Familienpapiere / entworfen von Heinrich Düntzer, Bd. 2 1 7941 827, Stuttgart 1 874, 21 f. - Vor diesem Hintergrund erfahren auch die übrigen Personen der Tragödie eine aktualisierende Identifizierung: Hinter dem Philoso phen Dodus verberge sich Knebel, hinter dem Historiker Aratus Bertuch, hinter König Jarbes der Herzog Carl August, hinter Dido die Herzogin Charlotte, hinter E1issa, der Freundin Didos, Frau von Stein selbst und hinter dem Priester A1bicerio niemand anderer als Herder. Helmut Koopmann : Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe, Mün chen 2002, 262. Teilweise bis zur Cbereinstimmung reichende Ähnlichkeit zeigen die Urteile von W!lhelm Bode: Charlotte von Stein, Berlin 1 9 1 0, 397-399, Alexander von Glei chen-Rußwurm (im Vorwort seiner Ausgabe: Charlotte von Stein, Dido, Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Berlin 1 920, 16 - hier allerdings verbunden mit ei ner Apologie: "Nicht ein Werk der Rache ist {rlJethes Bild als Ogon, es ist ein Werk der Selbsterlösung, indem sich eine gekränkte Frau von einem Ideal
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Hans Jiirgen Tschiedel
Susanne Kord hat demgegenüber im Vorwort ihrer Ausgabe (pp. VI Vlll) nicht nur daran erinnert, daß Ogon-Goethe in der Dido keineswegs die herausragende Rolle spielt, welche die meisten Interpretationen ihm zuschreiben möchten; sie hat vor allem auch darauf aufmerksam gemacht, daß das von der Dichterin geübte Verfahren, Personen der Hofgesell schaft - auch tnit ihren Schwächen - zu portraitieren, völlig tnit der Praxis des damaligen Weimarer liebhabertheaters im Einklang steht. Die im Rahmen eines solchen Stückes vorgenommene Karikierung des Dichter fiirsten und anderer höchst bekannter Persönlichkeiten war daher so un gewöhnlich nicht, und das angeblich Anstößige daran verliert sich erst recht, wenn man berücksichtigt, daß die Dido zunächst gar nicht zur Auf führung bestimmt war.5 Der Behauptung, Frau von Stein habe das Werk aus Verbitterung und im Haß geschrieben, ist datnit der Boden entzogen.6 Zugleich öffnet sich datnit aber der Weg zu einem vorurteilsfreien und umfassenderen Verständnis des Dramas, das dann auch das hohe wb, das Schiller ihm gezollt hat,7 als gar nicht mehr so abwegig erweisen könnte, wie man es gemeinhin ansieht.8
5
6
7
losringt"), Lena Voß: Goethes unsterbliche Freundin Charlotte von Stein. Eine psychologische Studie an der Hand der Quellen, Leipzig 1922, 173-176, Eber hard Semmu: Dido in der deutschen Dichtung (Stoff- und Morivgeschichte der deutschen Literatur 9,hg. v. Paul Merker u.a.),Berlin u. a. 1930,65f.,Walter Hof: Goethe und Charlotte von Stein, Frankfurt a. M. 1979, 171-179, Doris Maurer: Charlotte von Stein. Ein FrauenIeben der Goethezeit. Biographie, Bonn 1985, 164-168,Renate Seydel: Charlotte von Stein und Johann Wolfgang von Goethe. Die Geschichte einer großen Liebe hg. v. Renate Seydel,München 1993,326,Jo chen Klauß: Charlotte von Stein. Die Frau in Goethes Nähe, Zürich 1995,236242. - Vereinzelt (etwa bei von Gleichen-Rußwurm, 1920, 10f., Maurer, 1985, 164, Klauß, 1995, 236) gesellt sich zu solch bekenntnishafter Deutung des Stü ckes die Auffilssung, es spiegle sich darin auch Frau von Steins Abneigung vor den revolutionären Ereignissen in Frankreich. Erst 1798 bemühte sich Charlottes Sohn Fritz um eine Aufführung des Stückes in Breslau, und Schiller drängte wiederholt vergeblich zur Publikation. Dazu aus führlich Düntzer,1874 (wie Fußn. 3),II 87-95. Nicht überzeugen kann hingegen die These von Amd Bohm: "Charlotte von Stein's Dido, Ein Trauerspiel",in: Colloquia Germanica 22,1989,38-52, die Dido sei "a subde refutation of Iphigenit" (47). Von Thoas und Iphigenie fuhrt kein Weg zu Jarbes und Dido. Nachdem Schiller die Dido gelesen hatte, reichte er der Verfa.�serin das Manu skript zurück, bat sie bei dieser Gelegenheit um eine Kopie desselben und schrieb ihr dazu unter anderem (Schillers Werke. Nationalausgabe. Briefwechsel. Bd 29: Schillers Briefe 1.11.1796-31.10.1798, hg. v. Norbert Oellers u.a.,Weimar 1977, Nr. 31,33: Brief an Charlorte von Stein vom 2. Januar 1797): ,,Ich habe weniges, ja vielleicht noch nie etwas in meinem Leben gelesen, was mir die Seele,au.� der es floß, so rein und klar und so wahr und prunklos überliefert hätte, und darum
Die Dido der Charlotte von Stein
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Zunächst stellt sich die Frage - und man wundert sich, warum sie of fenbar nie wirklich ernsthaft gestellt wurde -, wie Charlotte von Stein auf die
kaum
bekannte, von Vergils Behandlung des Themas völlig in den
Schatten gestellte Version des Pompeius Trogus verfallen konnte, als sie sich entschloß, eine Dido-Tragödie zu dichten. Daß ihr das vierte Buch der Aeneis bekannt war, darf als gesichert gelten. Dafür sprechen nicht nur ihre Belesenheit und ihr steter Umgang mit den geistvollsten Köpfen des damaligen Weimar,9 sondern auch und vor allem die Tatsache, daß kaum zwei Jahre zuvor (1792) Schillers Übersetzungsbruchstücke aus der Aeneis erschienen waren. lU Wenn Charlotte von Stein dessen ungeachtet auf eine Fassung der Dido-Geschichte zurückgriff, die nichts von der Liebe zu Aeneas wußte, so traf sie damit offensichtlich eine überlegte, willentliche Entscheidung. Das gilt auch, ja erst recht, für den Fall, daß sie von der erstmals
1744
gedruckten
Dido des Johann
Elias Schlegel Kenntnis hatte.
Denn darin war die bei Justinus erwähnte Aggression des Hiarbas in der Weise mit der Aeneas-Handlung verbunden, daß der Troer noch vor sei ner Abfahrt von Karthago den nahenden Feind besiegen und durch die sen Beistand der Königin, die er verlassen mußte, seine Dankbarkeit be weisen wollte.ll Charlotte von Stein beschränkt sich indes - gall2 dem Handlungsgang ihrer Quelle folgend - auf die Bedrohung durch Iarbes und verzichtet gäIl2lich auf Aeneas, auf Didos Verliebtheit, auf die 'Flucht' des Troers, auf Wut und Verzweiflung der Königin. Dafür muß sie Gründe gehabt haben, denen nachzugehen sich lohnen sollte; denn es
rührte es mich mehr als ich sagen kann . Aber so individuell und wahr es auch ist, daß man es unter die BekenntniIk rechnen könnte, die ein edles Gemüth sich selbst und von sich selbst macht, so p 0 e t i s c h ist es bey dem allen, weil es wirklich eine productive Kraft, nehmlich eine Macht beweiBt, sein eigenes Emp finden zum Gegenstand eines heitern und ruhigen Spiels zu machen und ihm ei nen äußern Körper zu geben". 8 Vgl. Semrau, 1 930 (wie Fußn. 4), 64: "das günstige Urteil Schillers ist uns heute völlig unverständlich"; ähnlich Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 262; ferner die bemühten Erk1ärungsversuche von Hof, 1 979 (wie Fußn.4), 1 79, Klauß, 1 995 (wie Fußn. 4),24Of.,Voß, 1922 (wie Fußn. 4), 176. 9 Außer Goethe sind vor allem Herder, Knebel, Schiller und Wieland zu nennen, nicht zu vergessen deren Ehefrauen und viele andere gebildete Damen, allen vo ran die Herzoginnen Anna Amalia und Louise. Ergiebig zum geistigen Umfeld Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze, Zürich 31 994. 10 In den beiden ersten Heften der Ntuen l'holio. Die Übersetzung des vierten Bu ches der Aentis stand zudem unter dem Titel DIDO (Schillers Werke. National au.�gabe. Bel. 15/1, hg. v. Julius Petersen),Weimar 1 993, 153-183). 11 Zu den Einzelheiten, insbesondere zu einem denkbaren Einfluß der Oper Didont obbondontJla von Pietro Metastasio (1724),vgI. Semrau, 1 930 (wie Fußn. 4), 47-56.
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Hans Jürgen Tschiedel
versteht sich gewiß nicht von selbst, daß die bekannteste und als Stoff für eine Tragödie geradezu ideale Darstellung Vergilsl2 hier einfach beiseite geschoben ist. Wenn Bode schreibt "Vergils Darstellung einer Uebe zwischen Dido und Aeneas vergaß Charlotte ganz darüber oder übersah sie geflissentlich, denn dergleichen Uebeskrankheiten nachzuschildem, hatte sie durchaus keine Neigung"lJ, erklärt das gar nichts. Lena Voß ergeht sich in Vermu tungen: "Eine antike Fabel, von der verwitweten Karthagerkönigin Dido, der eine ältere Sagenversion zugrunde liegt, als die der vergilischen Aeneis, wählte sie, um ihre eigenen Erlebnisse zu verkörpern. Treue der liebenden Frau über den Tod hinaus war vermutlich der Gedanke, den Frau von Stein dichterisch darstellen wollte".14 Semrau beschränkt sich auf die lapi dare Feststellung: "Virgil war Frau von Stein natürlich bekannt, Einflüsse freilich sind nirgends vorhanden".15 Letzteres ist, wie sich zeigen wird, unrichtig. Bohm macht die Dichterin unfreiwillig zur Historikerin, wenn er erklärt: "von Stein was not demonsttating an incapacity to deal with Vergil. No, she chose the version which was most authoritative, eIoser to the origin, and free of the awkward chronological problem, noted by Hederich, namely that Carthage was founded three centuries after the desttuction of Troy. [. . . ] Furthermore one could note that the story told by the Aeneid places the emphasis on the destiny of the male, whereas the earlier version, the one selected by von Stein, keeps the woman's fate in the center of attention".16 Nur den letzten Worten wird man zustimmen können, während das übrige schon im Ansatz verfehlt ist. Ebenfalls wenig überzeugend erscheint die Ansicht von Klauß, der zum Thema der Aeneis meint: "Das paßte im Jahre 1794 gar nicht zu den Intentionen der Stein, die vermutlich die Treue der liebenden Frau über den Tod hinaus hatte thematisieren wollen".J7 Susanne Kord schließlich will "Von Steins Wahl der Justinus-Quelle und ihre Ablehnung der bekannteren von Vergil [...] aus ihrem Versuch" erklären, "männliche und weibliche politische Praxis miteinander zu vergleichen". Sie fahrt fort: "Obwohl beide Versionen mit
12 Vgl. Antonie W1osok: "Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tra gischen in der Aeneis", in: Studien zwn antiken Epos, hg. Y. Herwig Görgemanns u.a. (Beitr. zur Klass. Philologie 72), Meisenheim am Glan 1976, 228-250; erneut abgedr. in: Antonie \1('losok: Res hwnanae - res divinae. Kleine Schriften, hg. Y. Eberhard Heck u.a., Heidelberg 1990, 320-343. 13 Bode, 191 0 (wie Fußn. 4),397. 14 VoB, 1 922 (wie Fu/in. 4), 172. 15 Semrau, 1930 (wie Fußn. 4), 64. 16 Bohm, 1989 (wie Fu/ln. 6), 46. 17 Klau/I, 1 995 (wie Fu/in. 4), 236.
Die Dido der Charlotte von Stein
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Didos Selbstmord enden, schreibt Vergil ihren Tod ihrer üebe zu Aeneas zu, wogegen Didos Selbstmord bei Justinus eindeutig politisch motiviert ist".18 Daran ist sicherlich etwas Richtiges; nur ob damit der maßgebliche Grund für Charlotte von Steins Entscheidung für Trogus und gegen Ver gil getroffen ist, bleibt zu bezweifeln. Überhaupt stimmt bedenklich, daß die vorgeschlagenen Erklärungen19 so gut wie nichts Gemeinsames haben. Das läßt es nicht nur berechtigt, sondern sogar geboten erscheinen, nach einer neuen und vielleicht befriedigenderen Lösung zu suchen. Den Weg dazu könnten von Vergil hinterlassene Spuren weisen, die sich bei näherem Hinsehen durchaus in Frau von Steins Tragödie entde cken lassen. So mag es zwar zunächst bedeutungslos erscheinen, verdient in dem Zusammenhang aber wohl Beachtung, daß die karthagische Königin und TitelheIdin hier Dido heißt, während Justin - wenigstens in dem als Quelle anzusehenden 18. Buch seiner Epitoma - ausschließlich den Namen Elissa verwendet.20 Vergil kennt beide Namen, doch erscheint Dido bei ihm ungleich häufiger (34 mal) als Elissa (nur 3 mal). Der Befund gewinnt dadurch an Bedeutung, daß auch im Weimarer Drama beide Namen vor kommen, nur sind es dort zwei Personen, die sie tragen: Zur Königin Dido tritt jetzt deren Freundin Elissa, und es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß das Stück mit einem - wenn auch noch so kurzem - Auftritt eben dieser beiden Frauen beginnt. Er zeigt, wie sie einander in innigster Verbundenheit zugetan sind. Es scheint, als habe die Dichterin die Köni gin ihrer Vorlage - eine Freundin gibt es darin nicht - in zwei wesensähn liche, durch die Namensgebung als im Grunde identisch gekennzeichnete Persönlichkeiten aufspalten wollen, um so eine zweite Frauenrolle zu ge winnen, die sie der ansonsten rein männlichen Besetzung des Stückes mit gegenüberstellen kann . Damit liegt im Grunde die gleiche Konstellation wie in der Aeneis vor, wo zu Dido die Schwester Anna gehört, und beide als die einzigen Frauen - von Barce (IV 632), der alten Amme des Sychaeus, einmal abgesehen - in der Männergesellschaft des vierten Bu ches erscheinen. Im Gespräch mit der jeweils engsten Vertrauten wird es beiden Königinnen ermöglicht, ihr Innerstes zu offenbaren, sich zu erklä ren, aber auch geheimzuhaltende Vorhaben ins Werk zu setzen. Wenn
18 Kord, 1 998 (wie Fußn. 2), IX. 19 Düntzer, von Gleichen-Rußwunn, Hof, Maurer, Seydel, Koopmann schenken dem Problem überhaupt keine Beachtung. 20 Sollte Charlotte von Stein Benjamin Hederichs Griindliches ,,!)'tholo.f!.isches L.exicon (Leipzig 1770, Nachdr. Darmstadt 1 967) zu Rate gezogen haben, stieß sie dort unter dem Stichwort 'Dido' (Sp. 920-926) auf heide Namen (Sp. 921): "Eigentlich hieß diese Königinn Elissa [ ... 1. Hemach aber bekam sie den ]\jamen Dido".
Hans Jiligen Tschiedel
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Anna der Schwester die Argumente liefert, die auf der menschlichen Ebe ne die von Juno und Venus angestrebte eheliche Verbindung mit Aeneas rechtfertigen sollen (Aen. 4,31-55), zeigt sie sich lebensnah, pragmatisch und ganz von dem Wunsch nach Didos Wohlergehen beseelt. Das gilt in ähnlicher Weise für Elissa, in der man die der Herzogin herzlich verbun dene Charlotte von Stein zu erkennen meinte. Elissa liebt nicht nur das unverblümte Wort (II 2, III 1/2, IV 4), sondern bringt ihrer Herrin auch Verständnis entgegen, als sie - fälschlich - glaubt, diese werde dem Jarbes doch noch die Hand zum Ehebund reichen und damit ihr Treuegelübde brechen (V 15). Beide, Anna und Elissa, erkennen nicht die wahre Ab sicht, in der Dido einen Scheiterhaufen errichten läßt (Aen. 4,672-684; vgl. V 15: "Götter! Rettung! Wir verstanden ihre Abschiedsrede nicht!''). Wenn die aufgezeigten Korrespondenzen auch nicht zu dem zwin genden Schluß berechtigen, Charlotte von Stein habe, als sie ihrer Dido eine Freundin Elissa an die Seite stellte, Vergils viertes Aeneisbuch vor Augen gehabt, so legen sie eine solche Annahme doch immerhin nahe. In dieselbe Richtung weist die Figur des Priesters Albicerio. Dieser engste männliche Vertraute der Königin ist ein Bruder ihres ermordeten Gatten Acerbas (V 8), und obwohl
ihm
wie Elissa eine tragende Rolle
zukommt, entstammt er nicht der historischen Quelle.21 Das Opfer, das er darbringt, um zu Didos Entschluß, die Herrschaft niederzulegen, göttliche Zustimmung zu erbitten (II 6), mißlingt und erinnert damit entfernt an das Opfer, mit dem sich Vergils Dido vor einer Verbindung mit Aeneas der göttlichen Huld versichern möchte (Aen. 4,56-66), und mehr noch an das düstere Omen, das der ohnehin schon zum Tode Entschlossenen bei ihrer Spende von Weihrauch und Wein (Aen. 4,452-456) zuteil wird. Char lotte von Stein hat ihrem Albicerio aber noch einen Zug mitgegeben, der ihn unverkennbar in die Nähe des Aeneas rückt: Der Priester liebt seine Königin, und er liebt sie - anders als der eigensüchtige, machthungrige, gefühllos begehrende Jarbes - aus aufrichtigem Herzen (vgl. 11 8, III 8, V 3). Der Erfüllung dieses Sehnens steht freilich Didos Treuegelöbnis ent gegen. Ihre unauflösliche Bindung an den gemordeten Gatten gehört der Quelle (lust. 18,6,5-7) an. Doch die Bilder, in denen diese Bindung ihren Ausdruck findet, gehen auf die
Aeneis zurück.
Dort nämlich glaubt Dido
in ihrer Verzweiflung, die Stimme des nach ihr rufenden Sychaeus zu hö ren (Aen. 4,460f.), und später, bei der Begegnung in der Unterwelt, wen det sie sich diesem zu und von Aeneas ab (Aen. 6,472-476). Wenn Char-
21 Nach lust. 1 8,4,5
war Acherbas selbst ein Priester des Herakles. Auf Zypern schließt sich Elissa ein Jupiterpriester an (lu..t. 1 8,5,2: padNs sibi posterisqllt petpe11111111 honortlll sacerdolii). Die Episode bleibt allerdings völlig folgenlos.
Die Dido der Charlotte von Stein
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lotte von Steins Königin sich am Schluß der Tragödie auf dem Scheiter haufen ersticht,22 tut sie das mit den Worten: " - und nun mein Acerbas zu dir!" und entgeht so der von ihr geforderten Ehe mit Jarbes. Bereits zuvor hat sie den Toten, der sich ihr gleich nach seiner Ermordung als Traumgesicht gezeigt hatte,23 angerufen und um Beistand gebeten (IV 1 4): , , 0 mein Acerbas erscheine mir noch einmal in einer glücklichem Gestalt und gieb Freude meiner Seele - ". Dieser Dido wird der Antrag des Königs der Jetulier nicht nur durch die drei Gelehrten übermittelt (I 5), sondern Jarbes tritt ihr auch persön lich gegenüber. Um sich von ihr und ihrer Herrschaft ein eigenes Bild zu machen und die zum Erreichen seines Ziels notwendige Bestechung ihrer Anhänger selbst in die Hand zu nehmen, hat er sich zusammen mit sei nem Feldherrn und ehemaligen Lehrer - "als gemeine Jetulier verkleidet" (I 9) - in Didos Stadt begeben. Mag in dieser Szene auch "eine Beeinflus sung durch Metastasio oder Schlegel"24 naheliegen, sollte man doch nicht vergessen, daß auch dieser nicht sonderlich glückliche Einfall letztlich in der Ame;s wurzelt. Dort verbirgt Venus ihren Sohn und Achates in einer nebelartigen Hülle, so daß sie zunächst unbemerkt das Treiben in Kartha go und den Auftritt der Königin beobachten können (Aen. 1 ,41 1 -41 4) : A t Venus obscuro gmdientis aere saepsit, et multo nebulae circum dea fudit amictu, cernere ne quis eos neu quis contingere posset molirive moram aut veniendi poscere causa.� .2.'
Noch deutlicher verrät sich die Präsenz der Aeneis in einer Szene, der man ihren herausragenden poetischen Reiz nicht absprechen mag: Mit dem Ende des dritten Aufzugs verläßt Dido Karthago, um der Macht zu entsa gen und so ihre Stadt und sich selbst vor der Bedrohung durch Jarbes zu retten. Nur ihren Getreuen, Albicerio und Elissa, verrät sie ihr Ziel (Irr 8): "Mein erster Ruheplaz wird bei dem ehrwürdigen Einsiedler in dem Gebürg, zwei Stunden von hier, seyn, [...] und in dieser Einöde wird mich niemand vermuthen". Zu Beginn des nächsten Aufzugs sieht man dann Dido am neuen Schauplatz: "Einöde mit Felsen, eine Wohnung von Baumästen geflochten, im Felsen eine Grabhöle". Hier ist der Ort, wo sie 22 Übrigens scheint schon bei Trogu.� (lust. 1 8,6,7) der Tod durch das Schwert von Vergil (Aen. 4,663-665) beeinflul3t zu sein, denn Timaios (FrGrHist 566. F 82) kennt nur den Sprung in den brennenden Scheiterhaufen. 23 Der Bericht erinnert sehr an die Traumerscheinung des von Wunden ent.�tellten Hector, der Aeneas zur Flucht aus dem von Feinden besetzten Troia auffordert (Aen. 2,270-297). 24 Semrau, 1 930 (wie Fußn. 4), 65. 25 VgL dazu Aen. 1 ,439f.; 5 1 6; 580; 586f.
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dem alten Einsiedler begegnet, der in ihr seinen Todesengel sieht und allem Irdischen schon entrückt - sein Ende nahen fühlt (IV 2). Zusam men mit der Besucherin begibt er sich in die Höhle, um dort, an ihrer Seite (IV 14) "Willig und ergeben [...] mit Ehrfurcht, Freundlichkeit und Dank" zu sterben. Eine Höhle bestimmt Charlotte von Stein also zu der Stätte, wo ihre Dido sich mit der Todeserfahrung auseinandersetzen muß und von wo sie dann auch umkehrt, um zurück nach Karthago und damit ihrem selbstgewählten Ende auf dem Scheiterhaufen entgegenzugehen. Denn bei der Grotte erreicht sie alsbald die Kunde, daß ihre Lieben da heim der Willkür des Jarbes ausgesetzt sind und in höchster Gefahr schweben. Um sie zu retten, muß und will sie sich opfern. Den Schauplatz folgenschweren, die Peripetie der Handlung markie renden Geschehens gibt die Höhle schon im vierten Buch der Aeneis ab. Gefuhrt von göttlichem Willen suchen Aeneas und Dido darin Schutz vor dem Unwetter und finden in liebe zueinander (Aen. 4,165ff.). Doch der beglückende Akt des Lebens wird für die Königin zur Ursache ihres Lei dens und Sterbens (Aen. 4,169f.): iik dies primus leti primusque malomm / causafoit. Sieht es nicht nach pointierter, in gewissem Sinne kontradiktorischer Bezugnahme aus, wenn im Drama der Charlotte von Stein der Weg der Königin gerade zu einer Höhle fuhrt, wenn sie gerade dort in der Begeg nung mit dem vergeistigten Einsiedler - also in betontem Gegensatz zur Sinnlichkeit des vergilischen Bildes - zu der Einsicht gelangt, die ihr den Tod als letzten Ausweg aus dem Dilemma empfiehlt? Damit sind diese Überlegungen an einem Punkt angelangt, von dem aus erneut - und jetzt noch dringlicher - die Frage nach Sinn und Absicht der Weimarer Dido-Tragödie zu stellen ist. Allzulange hat die Fixierung auf die drei 'Schöngeister', Ogon, Dodus und Aratus, und die Persönlich keiten, die sich hinter ihnen verbergen sollen, insbesondere auf Goethe, den Blick auf andere und - wie sich herausstellen wird - bedeutsamere Zus ammenhänge verstellt. So erklärt es sich, daß die offensichtliche Ver trautheit der Dichterin mit Vergils Version der Dido-Geschichte unbe merkt blieb und der Frage, warum nicht diese allgemein bekannte Darstel lung als Hauptvorlage diente, sondern die des Trogus, kaum Beachtung geschenkt wurde. Dabei verspricht gerade die Beantwortung dieser Frage erhellende Aufschlüsse zu den Motiven, welche Frau von Stein bei der Abfassung ihrer Tragödie geleitet haben. Als sie im Jahre 1792 Schillers eben erschienene Übersetzung des vier ten Aeneisbuches las, muß das für sie weit mehr als ein Bildungserlebnis gewesen sein. Denn in dieser Geschichte - ob sie sie nun erst durch Schil ler kennengelemt hat oder nicht, ist dabei kaum von Belang - wurde ihr ein Stück ihres eigenen Lebens vor Augen gefuhrt. Der Mann aus der
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Fremde, der bei Dido gastliche Aufnahme findet, läßt an den jungen Goe the denken, dem durch Herzog Karl August der Weg von Frankfurt nach Weimar gewiesen wird, und der - dort am 7. November 1 775 angekom men - schon wenige Tage später im Hause von Stein als gern gesehener Besucher ein und aus geht. Ein Bildnis der Herrin dieses Hauses kannte er schon durch eine Silhouette, die ihm der Arzt Johann Georg Zimmer mann im Juli 1 775 gezeigt und die ihn so beeindruckt hatte, daß er dazu im August 1 775 eine stichwortartige Charakteristik entwarf.26 Bei Vergil ist es Venus, die ihrem Sohn von Dido erzählt (Aen. 1 ,340-368),27 so daß er in Karthago auf keine Unbekannte trifft. Umgekehrt besitzen auch die Frauen ein Vorwissen von dem Mann, der ihnen alsbald in persona ge genübertreten soll: Vergils Dido kennt Herkunft und Vergangenheit des Troers (vgl. Aen. 1 ,61 5-626) und hat seine Kämpfe mit in die Tempeldar stellungen aufnehmen lassen (Aen. 1 ,488f.). Frau von Stein hatte Die Lei den desjungen Werther:r gelesen und interessierte sich deshalb für den Verfas ser. Ihre Wißbegier stillt Zimmermann, der ihr am 1 9. Januar 1 775, als ob er die spätere Beziehung zu Goethe vorausgeahnt hätte, schreibt: "Sie wünschen ihn zu sehen, und Sie wissen nicht, bis zu welchem Punkt die ser liebenswürdige Mann Ihnen gefahrlich werden könnte!".28 Dido und Aeneas finden die Erfüllung ihrer liebe in einer Höhle (Aen. 4,1 17-127; 1 60-1 72). Einer Höhle kommt auch in den Begegnungen Goethes mit Frau von Stein ganz außerordentliche Bedeutung zu: Schon am 2 1 . Juli 1 776 spricht Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein von "der Höhle unter dem Herrmannstein meinem geliebten Aufenthalt wo ich möcht wohnen und bleiben [...] Wenn du nur einmal hier seyn könn test es ist über alle Beschreibung und Zeichnung".29 Wenige Tage später geht der Wunsch in Erfüllung, so daß Goethe am 8. August 1 776 der Freundin in leidenschaftlich bekenntnishaften Worten den gemeinsamen Besuch in Erinnerung rufen kann: "Heut will ich auf den Herrmannstein, und womöglich die Höhle zeichnen hab auch Meisel und H ammer die Inschrifft zu machen, die sehr mystisch werden wird. [ ... ] Ich schwör dir ich weis nicht wie mir ist. Wenn ich so dencke, dass Sie mit in meiner Höhle war, dass ich ihre Hand hielt indeß sie sich bückte und ein Zeichen
26 In einem Brief an Lavater; vg!. dazu K1auß, 1995 (wie Fußn. 4), 48-53. 27 Eine überraschend neue Sicht dieser Begegnung des Aeneas mit der göttlichen Mutter bietet jetzt Therese Fuhrer: "Wenn Götter und Menschen sich begegnen: Komische Szenen in Vergils Aeneis?", in: VergiI und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel, hg. v. Stefan Freund u.a. (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 20), Sruttgart 2008, 221-236, hier 224-230. 28 AusfiihrIich dazu Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 1 0-20. 29 Vgl. Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 74.
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Hans J iirgen Tschiedel
in den Staub schrieb!!!".30 Und am 6. September 1 780 schreibt er ihr von einem Besuch in Ilmenau: "Meine beste ich bin in die Herrmannsteiner Höhle gestiegen, an den Plaz wo Sie mit mir waren und habe das S, da..� so frisch noch wie von gestern angezeichnet steht geküsst und wieder ge küsst, dass der Porphyr seinen ganzen Erdgeruch ausathmete um mir auf seine Art wenigstens zu antworten. Ich bat den hundertköpfigen Gott, der mich so viel vorgerückt und verändert und mir doch Ihre liebe, und diese Felsen erhalten hat, noch weiter fortzufahren und mich werther zu ma chen seiner liebe und der Ihrigen"31 . Wie tief das gemeinsame Erleben auch im Gedächtnis der Frau haftet, verraten noch die Zeilen, die sie fast ein Vierteljahrhundert später (Ende April 1 800) an ihren Sohn Friedrich richtet: ,,Armer Goethe, daß ihm mit seiner Jugend so alles vorübergegan gen ist! Die schöne, bleibende liebe ist für jedes Alter geschaffen. In der Herrmannshöhle steht mein Name von ihm in den Fels gegraben; der Fels hat ihn, aber er lange nicht mehr in seinem Herzen".32 Der Bruch mit Goethe war zu dieser Zeit längst Vergangenheit, aber die Enttäuschung und Verbitterung wirken sichtlich noch nach. Seine überstürzte Abreise nach Italien glich damals eher einer Flucht und wurde von ihm selbst als eine solche gesehen.33 Goethe flieht vor einengenden Fesseln, die ihm das Leben am Weimarer Hof anzulegen droht, er flieht aus der Bindung an die dominierende Frau, er flieht nach Italien, in das Land seiner Sehnsucht, das ihm den geistigen Nährboden bieten soll, auf dem seine schöpferische Genialität sich zu neuer Blüte entfalten kann . Die Freundin verletzt er mit dem sie kränkenden Verhalten zutiefst,34 so daß sie ihn beim ersten Wiedersehen nach 22 Monaten der Trennung äußerst kühl und abweisend empfängl:.35 Jahre später schreibt sie dann nach einer zufälligen Begegnung mit Goethe an Charlotte Schiller: "Es ist mir noch immer unbegreiflich, daß er mir so fremd werden konnte".36 Das Band
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Seydel, 1 993 (wie Fußn. 4), 75. Seydel, 1 993 (wie Fußn. 4), 1 29f. Seydel, 1 993 (wie Fußn. 4), 355. Vgl. Goethes Briefe an Charlotte von Stein vom 2. und 3. September 1 786 (Sey dei, 1 993 [wie Fußn. 4), 263): "Morgen Sonntags d 3ten September geh ich von hier ab , niemand weiß es noch, niemand vermuthet meine Abreise so nah". - "d. 3. Sept. früh 3 Uhr stahl ich mich alL� dem Carlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen". 34 "Diese Flucht begreift die 44jährige Frau als eine Flucht allein vor ihr, als einen tödlichen Treue- und Vertrauensbruch des geliebten Mannes." (Klauß, 1 995 [wie Fußn. 4), 1 09). 35 Vgl. Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 230f. 36 Seydel, 1 993 (wie Fußn. 4), 341 .
Die Dido der Charlotte von Stein
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der Liebe und Freundschaft zwischen diesen beiden Menschen war zerris sen. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, wie es der enttäuschten und verlassenen Charlotte von Stein zumute gewesen sein muß, als sie bei der Lektüre von Schillers Übersetzung des vierten Aeneisbuches - wohl kaum zum ersten Mal, aber nun mit neuern, Herz und Gemüt berührendem Interesse - einen Mythos in sich aufnahm, der ihr gleichsam wie eine Präfiguration ihres eigenen Erlebens erscheinen mußte. Denn da fanden sich nicht nur der Schmerz der verletzten Lieben den (Aen. 4,296ff.), nicht nur der fluchtartige nächtliche Aufbruch des Mannes ins ersehnte Italien (Aen. 4,554-583), nicht nur der bittere Groll der Verlassenen (Aen. 4,586-629), nicht nur die abweisende Unversöhn lichkeit der Enttäuschten (Aen. 6,450-476), sondern da traten auch Züge zutage, wie sie der Beziehung zwischen Charlotte von Stein und Goethe ihr durchaus eigenes Gepräge geben: die Sorge der verheirateten bzw. verwitweten Frau, dem Gatten die Treue zu halten und den eigenen Ruf nicht aufs Spid zu setzen (Aen. 4,1 5-29), die Bedeutsamkeit des Beisam menseins in der Höhle und nicht zuletzt - davon war bis jetzt noch nicht zu sprechen - die einem Kinde zufallende Aufgabe, den Liebesbund zu knüpfen und zu festigen. Bei Vergil (Aen. 1 ,657-722) übernimmt es Gott Amor höchstsdbst, in Gestalt des Aeneassohnes Iulus die zärtlichen Ge fühle der Königin zu wecken und ihre Leidenschaft zu entfachen. In der Realität der Beziehung zwischen Goethe und Frau von Stein ist es umge kehrt der Mann, der von Fritz, dem jüngsten Sohn der Freundin, bezau bert wird. Ihn hat der Dichter so ins Herz geschlossen, daß er den E1fjäh rigen im Mai 1 783 auf Dauer zu sich nimmt: "In ihm liebte er auch die Mutter, und diese vertraute dem Freund ihren Jüngstgeborenen an wie einem Gatten".37 Die erstaunlichen Analogien zwischen Vergils Geschichte der Dido und dem eigenen Erleben müssen Charlotte von Stein die Augen geöffnet haben. Die Lektüre der Aeneis ließ sie gleichsam in einen Spiegel blicken, der ihr ein ins grelle Licht des Mythos getauchtes Bild entgegenwarf, in dem sie nun mit erschreckender Deutlichkeit sich sdbst und die Rolle erkannte, die sie im Leben Goethes gespidt hatte. Was sie da zu sehen bekam, gefid ihr nicht, konnte ihr nicht gefallen: Die Frau als die vom Manne Zurückgestoßene, Verschmähte, als leidendes Opfer. Ein solches Bild war ganz und gar nicht mit dem Ideal einer Weiblichkeit zu vereinba ren, wie Charlotte von Stein es für sich in Anspruch nahm und zu leben glaubte. Nicht nur die Zeitgenossen beschreiben sie als eine mit prakti37 K1auß, 1 995 (wie Fußn. 4), 166. Sogar an eine Adoption des Knaben war offen bar gedacht; dazu Hof, 1 979 (wie Fußn. 4), 64f.
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Hans Jiirgen Tschiedel
scher Vernunft begabte Persönlichkeit, deren Sinn für das rechte Maß ihr verantwortungsbewußtes Handeln bestimm te. Auch aus ihren Briefen spricht ein auf die Wahrung von Distanz und Würde bedachtes Naturell. Sie besteht auf der sittlichen Überlegenheit der Frau., die sie vor dem der Leidenschaft und dem Machtstreben ergebenen Manne auszeichne.38 DÜßtzer, der wohl beste Kenner der Zeugnisse, hat zu ihrer Charakterisie rung warme Worte gefunden: Ein "Hang zum Ernsten, Würdigen, ja Schwermüthigen, [. . .] zartes Gefühl für Anstand und Würde, hohe Weib lichkeit, mächtige Willenskraft, besonnene Fassung
[. . .]
bildeten die
Grundzüge ihres Wesens."39 Wenn diese Frau im Werk Vergils auf eine Episode stieß, die ihr die für sie so bedeutungsvolle Zeit mit Goethe aufs eindringlichste ins Be wußtsein rufen mußte, war sie einerseits gewiß fasziniert und angerührt von der hier zu findenden emotionalen Nähe, die ihr gar keine andere Wahl ließ, als an der tragischen Botschaft des Mythos die eigene Erfah rung zu messen. Andererseits konnte sie die daraus resultierende bittere Erkenntnis, auch selbst am Schicksal der Verlassenen, Verschmähten, Gedemütigten teilzuhaben, so nicht hinnehmen. Sie sah sich zwar - pro voziert vom Schicksal Didos - genötigt, sich intensiv mit dem auseinan derzusetzen, was ihr selbst widerfahren und nicht spurlos an ihr vorüber gegangen war. Doch sich
mit
der Rolle zu identifizieren, welche die kar
thagische Königin in der Aeneis zu spielen hatte, lehnte sie ab. Es ist dieser Widerspruch, der Charlotte von Stein zu einer Version des nämlichen Mythos greifen läßt, der die Königin eben nicht als der Leidenschaft hin gegebene, dem Manne verfallene, ihre Aufgaben vernachlässigende und ihr Ansehen aufs Spiel
setzende
schwache Frau zeigt,
sondern ihr
herrscherliches Pflichtbewußtsein, selbstlosen Verzicht, Edelsinn und Stärke bescheinigt. Ausgestattet mit diesen Eigenschaften spiegeln die beiden - in eins zu sehenden - Frauengestalten des Dramas der Charlotte
38 In der Dido (11 4) könnte Elissas gegen die Männer gerichtete Kritik durchaus von der Dichterin selbst gesprochen sein: ,,0 zerstörendes Geschlecht! Ohne euch wär uns die Kriegslust unbekannt. Warum gabst du Natur! Den Männem dieses Treiben, diese Thatensucht, wn den ruhigen Gang nach einem besseren Ziele, wozu deine Ewigkeiten dir genug Zeit lassen, widrig zu stören? - ". Vgl. dazu Charlotte von Steins Brief an Knebel vom 1 .5.181 3 (Hof, 1 979 [wie Fußn. 4), 25): "So lieb ich Sie als einen tteuen Freund habe, so wäre es doch besser, es wären keine Männer in der Welt da gäb's dann keine Eroberer!". 39 Düntzer, 1 874 (wie Fußn. 3), 11 523. Weitere, im Kern übereinstimmende Urteile über ihre Persönlichkeit finden sich bei von Gleichen-Rußwurm, 1 920 (wie Fußn. 4), 7ff., Voß, 1 922 (wie Fußn. 4), 1 73-1 76, Bode passim, Hof, 1 979 (wie Fußn. 4), 7-35, Maurer, 1 985 (wie Fußn. 4), 1 68-1 71, Seydel, 1 993 (wie Fußn. 4), 27, Klauß, 1 995 (wie Fußn. 4), 71 -73, 1 43, 224, Koopmann passim.
Die Dido der Charlotte von Stein
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von Stein, Dido und Eliss:!, jene Haltung wider, welche die Dichterin nicht umhin konnte, für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Die Dido-Tragödie der Frau von Stein ist keine vom Haß diktierte Abrechnung tnit Goethe, sondern ein Zeugnis des Beharrens der Dichte rin auf Selbstachtung, ihres Wunsches, sich als die Frau zu behaupten, die sie sein wollte, und ihres Anspruchs auf humane Überlegenheit. Die An regung dazu kommt von Vergil; seine Spuren bleiben auch und gerade in der Negation seiner Darstellung sichtbar.
Ab Virgil, Virgil! -
der Speichellecker des julischen Hauses Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberbetg
ANDREAS PATZER (München) Für Wemer Suerbawn
zum
75. Geburtstag
Thomas Mann erwähnt in seinem literarischen (Euvre, das der Antike in allen ihren Epochen und Ausprägungen so viel Aufmerksamkeit entge genbringt, den römischen Dichter Vergil nur in einem einzigen Werk: im Roman Der ZOHberberg, der 1 924 erschienenen ist (GKFA 5 . 1 2002 ed. M. Newnann). Dieser Befund ist bemerkenswert und verdient eine genauere Betrachtung - ein erwünschter Anlaß, auch über die literarische Bedeu tung nachzudenken, die dem Lateinischen insgesamt in diesem Roman zukommt, der nicht von ungefähr mit einer lateinischen Formel schließt, die durch Majuskeln besonders hervorgehoben wird: FINIS OPERIS. Der ZOHberberg gehört zur Gattung des Bildungsromans, der seinerseits eine modeme Spezies des älteren, bis in die Antike zurückreichenden Abenteurer- und Schelmenromans ist. Der Autor selbst konstatiert diese Tatsache, wenn er in der Einfiihrung (SGA W 1 966 S. XV) rhetorisch fragt: "Und was ist denn wirklich der deutsche Bildungsroman, zu dessen Typ der WilheJm Meister sowohl wie der ZOHberberg gehören, anderes, als die Sublimierung und Vergeistigung des Abenteurerromans?" Im ZOHberberg geht es darwn, daß ein junger Mann, der Hamburger Patri zier Hans Castorp, den der Autor expressis verbis als "einfach" (GKFA S. 9 & 1 1), "simpel" (S. 1 085) und "mittelmäßig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn" (S. 54) charakterisiert, während eines siebenjährigen Aufenthaltes in einem Schweizer Lungen-Sanatoriwn "Abenteuer im Flei sche und Geist" erlebt, die seine Einfachheit "steigerten", so daß ihm "aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Trawn von
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Andrea.� Patzer
Liebe erwuchs" (S. 1 085) . So gesteigert "durch hermetischen Zauber" (S. 1 074) wird "des Lebens treuherziges Sorgenkind" (S. 1 085; vgl. S. 467, 489, 499, 536, 552, 6 1 5, 736, 750, 826, 9 1 0) entlassen in das Grauen des Ersten Weltkrieges, den er wohl nicht überleben wird. "Deine Aussichten sind schlecht", ruft ihm der Autor nach, "und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst" (S. 1 085) . Die "alchymistischen Abenteuer" (S. 1 074), denen der einfache Held seine "Transsubstantiation [ . . . ] zum Höheren", also seine "Steigerung" (S. 902) verdankt, sind vielfältiger Art. Da ist zunächst der hermetische Ort der Geschichte, das Luxus-Sanatorium, in dem Müßiggang und Konku piszenz, Krankheit und Tod gleichermaßen und gemeinsam obwalten; da ist die Erfahrung persönlicher Todesnot im Hochgebirgs-Schneesturm; da ist weiter die heillose erotische Verfallenheit an Clawdia Chauchat, eine russische Apartheit, die als Frau noch einmal jener schöne slawische Kna be ist, dem die erste stürmische Liebe des Schülers gegolten hat; da ist die Begegnung mit verstörenden Autoritätspersonen, mit Hofrat Behrens und Mynheer Peeperkorn, melancholischer Schwadroneur der eine, der andere ein Mann von Format, vor dessen peremptorischer Gebärdensprache aller intellektueller Scharfsinn zuschanden wird; da ist die Bekanntschaft mit Dr. Krokowski, dessen psychoanalytisches Wühlen in den dunklen Berei chen der Seele schließlich in fragwürdigsten Okkultismus ausartet; da ist endlich, aber nicht zuletzt die Konfrontation mit zwei extremen, einander diametral entgegengesetzten Weltanschauungen, deren Träger, der Huma nist und Freimaurer Ludovico Settembrini und der Jesuit und Kommunist Leo Naphta, sich, wie es Hans Castorp vorkommt, pädagogisch um seine arme Seele raufen "wie Gotr und Teufel um den Menschen im Mittelalter" (S. 7 1 9). In jenen uferlosen Gesprächen, die die beiden "Widersacher im Geis te" (S. 764) einzeln oder gemeinsam vom Zaune brechen, um Hans Castorps Seele zu gewinnen, kommt nun auch VergiI zur Sprache: Zwei mal gedenkt Settembrini des Dichters namentlich im Gespräch mit Hans Castorp (S. 96f. & 148), einmal ist VergiI Gegenstand eines dialektischen Streitgespräches zwischen Settembrini und Naphta (S. 783f.), worüber sich der Autor im Nachhinein verwundert (S. 788) . Das ist alles - gesetzt, daß man eine versteckte Anspielung auf einen Vergilvers nicht übersieht, die Settembrini in einem späteren Streitgespräch mit Naphta fallen läßt (S. 890). Will man recht verstehen, was es mit diesen zwar kargen, aber gleich wohl oder vielmehr ebendeshalb bedeutsamen Äußerungen über VergiI auf sich hat, so muß man sich der Persönlichkeit und der Weltanschauung jener beiden Kontrahenten versichern, denen diese Äußerungen in den Mund gelegt werden.
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Ludovico Settembrini, der im Roman früher auftritt al s sein Gegen spieler Leo Naphta und also längere Zeit gegenüber Hans Castorp ideolo gisch allein das Feld behauptet, ist, wie der Name kundtut, Italiener, ein politischer Literat, krankheitshalber ins Sanatorium verschlagen, das er jedoch, aus finanziellen Gründen, verlassen muß, um in einem bescheide nen Privaclogis Unterkunft zu finden. Mit großer Liebe und Ehrerbietung erzählt Settembrini von seinen Voreltern. Der Vater war ein Humanist, ein Homo ietterario nach dem Ge schmacke Boccaccios, ein Meister der toskanischen Prosa, des idioma genti le, in dem er auch formvollendete Erzählungen zu verfassen wußte, zudem ein lateinischer Stilist von Rang. Anders der Großvater: ein Freiheitskämp fer oder carbonaro, Patriot, Redner und Agitator, nach einem Putschver such in Turin gejagt von den Häschern Metternichs, im Exil fiir die Frei heit Spaniens und Griechenlands kämpfend, schließlich als Advokat und "Oppositionsmann" in Mailand fiir die Einheit und Freiheit Italiens wir kend (S. 233f.). Aus dieser Herkunft leitet Hans Castorp den Beruf oder besser die Berufung Ludovico Settembrinis ab: "Nicht umsonst war er ein Literat, das hieß: eines Politikers Enkel und Sohn eines Humanisten" (S. 704). Diese geistvolle Deduktion verdankt Hans Castorp Settembrini selbst: In ihm, so doziert er, habe sich die politische Tendenz des Großvaters und die humanistische des Vaters vereinigt, insofern er ein Literat und freier Schriftsteller geworden sei: "Denn die Literatur sei nichts anderes als eben dies: sie sei die Vereinigung von Humanismus und Politik, welche sich um so zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Poli tik Humanismus sei" (S. 242f.). Und weiter: ,,Alle Sittigung und sittliche Vervollkommnung entstamme dem Geiste der Literatur [ . . . ], welcher zugleich auch der Geist der Humanität und der Politik sei. Ja, dies alles sei eins, sei ein und dieselbe Macht und Idee, und in einem Namen könne man es zus ammenfassen [ . . . ] er laute: Zivilisation!" (S. 243f.) . Diese Äußerungen, denen sich unschwer noch andere ähnlicher Art hinzufügen ließen, stellen außer Zweifel, daß Settembrini ein "Zivilisati onsliterat" ist, wie er im Buche steht: Thomas Mann hat in den Betrachtun gen eines Unpolitischen (1 9 1 8) diesen besonderen Typus des politischen lite raten erfunden, um seine Position als unpolitischer bürgerlicher und deut scher Denker davon abzusetzen. Folgt man den sententiösen Ausführungen der Betrachtungen, so ist die geistige und politische Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich. Er bekennt sich zum aufklärerischen Denkens Rousseaus und Voltaires und verficht die jenem Denken verpflichteten Ideale der Französischen Revo lution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und die damit eng ver knüpften Ideen von Humanität, Humanismus, Pazifismus, Fortschritts-
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glaube, Demokratie und Weltbürgertum - ein Komplex von Ideen, die im Ideal der Zivilisation kulminieren, das durch Literatur im schönen Stil weltweit werbewirksam zu propagieren und siegreich zu etablieren das Hauptanliegen des Zivilisationsliteraten ist: ein politisches Anliegen ON fond Daher kann Settembrini auch sagen: "Der Menschenfreund kann den Unterschied von Politik und Nichtpolitik überhaupt nicht anerkennen. Es gibt keine Nichtpolitik. Alle s ist Politik" (S. 776) . Zwar i s t die geistige Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich Ludovico Settembrini jedoch, in dem der Typus des Zivilisationsliteraten literarisch Form und Gestalt gewinnt, ist kein Franzose, sondern Italiener - eine nationale Metathese, über deren Gründe nachzudenken verlohnt. Ein Franzose als Repräsentant des französischen Geistes wäre ein vergleichsweise platter Einfall gewesen, der dem ästhetischen Empfinden des Autors offenbar widersttebte. Ein Russe oder ein Spanier kamen auch nicht in Frage, wenn anders sich Hans Castorp über die Geistesart jener beiden Völker so äußern sollte, wie er sich äußert: Beide Völker bildeten in Europa die "außerhumanistischen Lager" (S. 761): Hier nämlich walte Weichheit als Formlosigkeit, dort Härte als Überform und Todesstrenge statt Todesauflösung. Auch ein Engländer kam nicht in Frage: Englische Geistesart ist zwar politisch, aber politisch-pragmatisch und ökonomisch und insofern der Ideologie des Zivilisationsliteraten unwillkommen; wes halb dieser auch, wie Settembrini, gegenüber allem Englischen ein nachge rade feindseliges Schweigen an den Tag legt. Verbliebe Deutschland. Das ging nun gar nicht. Der unpolitisch-bürgerliche deutsche Geist, so die Betrachtungen, steht dem französischen Geist so fremd und abwehrend gegenüber, daß er nachgerade ein Gegenentwurf und Konkurrenzmodell ist - es sei denn, er wäre bereits der zivilisationsliterarischen Propaganda erlegen. Aber dann hätte der Autor seinen Bruder Heinrich literarisch in Szene setzen müssen, wie er es schon einmal in dem Roman Königliche Hoheit (1 909) getan hatte. Aber was vor dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen war, das war nach dem Bruderzwist, der wegen und während des Krieges entstanden war, nunmehr durchaus undenkbar. - Also war es und mußte es ein Italiener sein, der den Zivilisationsliteraten literarisch ver körperte, Ludovico Settembrini also, der, als Romane, nicht minder ein leuchtend demonstriert als ein Franzose, daß die Ideologie des Zivilisati onsliteraten ihrer Herkunft und Substanz nach ein Erzeugnis des wesdi chen, um nicht zu sagen: des lateinischen Geistes ist, dessen klassische Luzidität Sprache und Denken der romanischen Völker ja so tiefgreifend bestimm t und kommandiert. Ludovico Settembrini erweist sich denn auch sogleich im Umgang mit der Sprache als rechter Romane. Daß er das Italienische "mit äußerstem Genuß" (S. 1 48; vgl. S. 1 53) spricht, versteht sich beinahe von selbst. Aber
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auch das Deutsche handhabt er "ohne fremden Akzent" (S. 89), gramma tisch einwandfrei, ohne sich zu versprechen "mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Behagen" (S. 98). Und weiter heißt es: "Die Worte kamen prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen" (S. 98). Als Hans Castorp diese fafon de parler zu be schreiben versucht, gibt ihm Settembrini das kennzeichnende Adjektiv "plastisch" (S. 99) an die Hand, und von der prallen Plastizität und wohl geformten Klarheit, mit der sich Settembrini im Deutschen ausdrückt, ist dann im Verlaufe des Romans immer wieder die Rede (S. 146, 1 52, 1 55, 298, 369, 495, 538, 576, 596, 681, 700, 997) - ein starker leitmotivischer rappel, der gewährleisten soll und gewährleistet, daß sich der Leser stets bewußt bleibt, daß, wer da so makellos Deutsch spricht, ein Zögling west lich-romanischer Kultur und Zivilisation ist und daß, was er spricht, sich dem Geiste jener kulturellen und zivilisatorischen Sphäre verdankt, die Voltaire und Rousseau zu ihren Ahnherren zählt. Allerdings bringt es die Verschiebung der Nationalität mit sich, daß Settembrini, um pädagogisch auf Hans Castorp im Sinne seiner Weltan schauung einzuwirken, mehr auf die italienische Geistes- und Kulturtradi tion zurückgreift als auf die französische, so hoch er diese auch achtet. Es ist eine stattliche Reihe von Namen und Personen aus der gesamten italie nischen Kultursphäre, die Hans Castorp im Laufe der Erzählung von Settembrini zu hören bekommt: Carducci (1 835-1 907), der zweimal vor gestellt wird (S. 92-94 & 242), Petrarca (1 304-1 374) (S. 96), Boccaccio (1 3 1 3-1 375) (S. 1 47), Leopardi (1 798-1 837) (S. 1 53), Manzoni (1 7851 873) (S. 242), Dante (1265-1 321) (S. 242; vgl. S. 783), Brunetto Latini (ca. 1 220-1 295) (S. 243) und Arerino (1 492-1 556) (S. 564). Die kultur und literaturgeschichtlichen Belehrungen Settembrinis fallen nicht auf unfruchtbaren Boden. Hans Castorp, dem jene belehrenden Informatio nen gelten, erinnert sich ihrer im Laufe der Erzählung immer wieder: So erwähnt er je einmal Petrarca (S. 6 1 5) und Leopardi (S. 337), dreimal Brunetto Latini (S. 535, 537, 789) und nicht weniger als fiinfmal Carducci (S. 297, 337, 498, 537, 697). Der statistische Befund lehrt, daß der Autor der Person Carduccis be sonderes Interesse entgegenbringt. Dieses Interesse kommt nicht von ungefahr. Giosue Carducci, der 1 906 den Nobelpreis fiir Literatur erhalten hatte, war eine der maßgeblichen geistigen Persönlichkeiten Italiens in der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts: Gegner der Romantik und des Ka tholizismus, Begründer einer neuheidnischen klassizistischen Poesie, auch ein großer Redner und Volkserzieher, der Italien in Hinblick auf die große Vergangenheit des Imperium Romanum zu erneuern bestrebt gewesen ist. In alledem erweist sich Carducci als typischer Zivilisationsliterat, nicht anders als Settembrini auch, der sich nicht von ungefahr als Schüler
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Carduccis bekennt (S. 92) und den Ansichten seines Lehrers so ungeteilten Beifall zollt, daß außer Frage steht, daß Settembrini ein Pendant Carduccis ist und sein soll, die poetische Transfonnation einer historischen Person im Horizont zivilisationsliterarischer Ideologie - einer Ideologie, die sinn fälligen Ausdruck findet in Carduccis berühmtem Gedicht Inno a Jatana aus dem Jahre 1 865, dessen Anfang Settembrini italienisch zitiert (S. 92f.), um später noch einmal beifällig auf jenes Gedicht zurückzukommen (S. 242), dessen sich viel später auch Hans Castorp noch erinnert (S. 697) . Damit nicht genug: Das Kapitel, i n dem Settembrini Hans Castorp und dem Leser vorgestellt wird, trägt den Titel Jatana (S. 88) und annonciert so im Vorgriff die geistige Identität, die zwischen Settembrini und Carducci waltet Das Panorama des italienischen Geistes, das Settembrini vor Hans Castorps Augen entstehen läßt, um ihn pädagogisch und ideologisch zu beeinflussen, ist weit gespannt: Es reicht von der unmittelbaren Modeme (Carducci) bis in die Zeit der Frührenaissance (Larini, Dante, Petrarca), in der das Klassische Latein neu entdeckt wurde und sich zugleich das Italie nische als eigenständige Sprache aus dem Lateinischen zu entwickeln be gann eine gegenstrebige Entwicklung, die besonders sinnfällig im Falle der Göttlichen Komödie zutage tritt, die Dante in italienischer Sprache ge dichtet hat, nachdem er lange Zeit das Lateinische als Sprache für das Gedicht erwogen und favorisiert hatte. Kein Wunder hiernach, daß auch das Lateinische im Bildungshorizont Settembrinis und also auch im Bil dungshorizont Hans Castorps eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wie hoch Settembrini das Lateinische, die Mutter des Italienischen, schätzt, davon kündet eine ergötzliche Episode: Er - Settembrini - sei bei der Postausgabe Zeuge eines Streites geworden zwischen Staatsanwalt Paravant aus Düsseldorf und einem Russen; innerlich habe er, ohne Kenntnis des Sachverhalts, sofort Partei für den Staatsanwalt ergriffen. Der Grund: "Er ist zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein. " Im übrigen nennt Settembrini den streitbaren Russen einen "Iwan Iwano witsch ohne Weißzeug" (S. 3 6 6) und bekundet so, daß, wer kein Latein kann, auch in allen anderen kulturellen Belangen ein tiefstehender Mensch sei. Dieses doktrinäre Vorurteil gegen das "lateinlose Halbasien" (S. 1 077) tritt noch einmal in Kraft. Am sogenannten "Schlechten Russentisch" trifft Settembrini auf einen Medizinstudenten höheren Semesters, der des Lateinischen vollkommen unkundig ist und nicht einmal weiß, was ein Vakuum ist. Er gehört zu jenen russischen Patienten, die dem Humanisten ,)ebhafte Abstandsgefühle" (S. 347) erregen, denn: "Sie aßen mit dem Messer und besudelten [ . . . ] die Toilette". Womit der enge Konnex zwi schen Latein und Zivilisation, wie ihn Settembrini vertritt, noch einmal -
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unterstrichen wird. Hans Castorp teilt dieses Vorurteil nicht: Die Leute, die am Schlechten Russentisch speisten, bemerkt er ganz am Schluß der Erzählung, seien ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, "wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht übertrieben zierlich benahmen" (S. 1 072). Ironischerweise ist der Humanist Settembrini nicht der erste, der sich im Roman der lateinischen Sprache bedient, sondern Hofrat Behrens: Er gibt Hans Castorp beim ersten Zusammentreffen "ganz sine pecunia" (S. 74) den Rat, sich für die Zeit seines Aufenthaltes ebenso zu verhalten wie sein kranker Vetter. Dieser Ausdruck, der den Roman leitrnotivisch durchzieht (S. 95, 226, 306, 499), um auf die Kostspieligkeit des Sanatoriumsaufenthaltes zu verweisen, steht am Anfang einer größeren Anzahl von Latinismen, die der Hofrat fraglos seinem Medizinstudium verdankt: "tuberculosis pulmonum" (S. 74; vgl. S. 949), "ad penates" (S. 1 63; vgl. S. 448), "moribundu.� " (S. 1 63; vgl. S. 1 64, 448, 460, 805, 953, 1 078), "mortis causa" (S. 265), "hilus" (S. 27 1), "praeter-propter" (S. 275), "ein Prä" (S. 393), "libido" (S. 628), "laryngea" (S. 799), ,,locus minoris resistentiae" (S. 799). Mit dem Mediziner- und Studenten-Latein, dessen sich der Hofrat mit Fleiß bedient, damit die Latinität in toto in den Blick des Lesers gerückt werde, hat das Latein, das Settembrini im Sinne seiner Weltanschauung propagiert, ebenso wenig gemeinsam wie das Theologen-Latein, das Naphta favorisiert. Bedeutsam und belehrend sind in dieser Hinsicht gleich die ersten la teinischen Worte, die Settembrini gegenüber den Vettern äußert: "Mein Gott, ich bin Humanist, ein homo humanus" (S. 93). Wenn der Autor den Sprecher bei seiner Selbstvorstellung so unvermittelt und ohne Not ins Lateinische fallen läßt, so signalisiert er, daß ein Humanist wie Settembrini im Grunde ein Lateiner ist und daß der Haupt- und Kerngedanke des Zivilisationsliteraten - der Humanismus - seine Heimat in jener lateinisch geprägten Geistessphäre hat, die die Humanisten der Renaissance im Rückgriff auf die Antike und namentlich im Rückgriff auf das Klassische Latein, das in der Epoche des christlichen Mittelalters nahezu in Verges senheit geraten war, gegen das christliche Denken neu gewonnen und nachhaltig etabliert haben: "Die Errungenschaften [ . . . ] von Renaissance und Aufklärung", konstatiert Settembrini sententiös, "heißen Persönlich keit, Menschenrecht, Freiheit!" (S. 602) . Die Neigung zum Klassischen Latein, der hier verdeckt, aber deutlich genug das Wort geredet wird, ist Settembrini von langer Hand auch fami liär vorgegeben: Sein Vater nämlich, verkündet Settembrini rühmend, sei "ein lateinischer Stilist gewesen wie keiner mehr" (S. 236) . Die lateinische
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Bildung des humanistischen Vaters eignet sich der Sohn an, um sie nun mehr politischen Zwecken dienstbar zu machen. Der Autor hat Sorge getragen, daß der ideologisch aufgeladene lateini sche Begriff homo humanus dem Leser nicht aus dem Gedächtnis schwin det. Hans Castorp erinnert sich seiner nicht weniger als dreimal (S. 227, 301 , 498) - ein leitmotivischer Topos, der gewährleistet, daß man nicht vergiBt, wes Geistes Kind Settembrini sei: ein Zögling der lateinischen Kultur, ein Zivilisationsliterat also. Im übrigen muß weder Settembrini noch muß später Naphta befürch ten, daß Hans Castorp die Latinismen, die der eine ebenso gern ge sprächsweise in die Rede einfließen läßt wie der andere, nicht verstünde. Hans Castorp, ein Zögling des Wilhelminischen Realgymnasiums verfügt sehr wohl über nicht unbeträchtliche Lateinkenntnisse. "in der Schule", so erzählt er seinem Vetter, "haben wir immer bloß Tapferkeit gesagt, wenn /)irllls im Buche stand" (S. 1 56) . Schlecht kann dieser Schulunterricht nicht gewesen sein, wenn anders sich Hans Castorp imstande fühlt, die Schrift des Papstes Innozenz III. De miseria humanae conditionis, auf die ihn Naphta aufmerksam macht, im Original zu lesen: "Wenn ich mein Latein zusam mennähme, vielleicht könnte ich sie lesen" (S. 595) . Auch zeigt sich Hans Castorp durchaus in der Lage, seinen Vetter über den Unterschied zwi schen Klassischem und Mönchslatein zu belehren (S. 445) . Nicht davon zu reden, daß auch er seine Rede mit Latinismen schmückt, die er nicht von Settembrini oder Naphta gelernt hat: "requiescat in pace" (S. 282; vgl. S. 445) , "sit tibi terra levis. Requiem aetemam dona ei, Domine" (S. 445; vgl. S. 677f.), "valet" (S. 489), "mulus" (S. 499), "rite" (S. 636), "exodus", "exitus" (S. 648), ,,Aurum potabile" (S.769) und "suicidium" (S. 944). Im Vertrauen auf Hans Castorps vergleichsweise solide Lateinkennt nisse, die der Autor offenbar auch beim Leser voraussetzt, läßt sich Settembrini im Laufe des Gespräches unbesorgt immer wieder auf Latei nisch vernehmen. Die Latinismen, mit denen er seine Rede schmückt, sind vielfältiger Art. Es finden sich Reminiszenzen aus der scholastischen Philosophie wie "in abstracto" (S. 1 00) oder "actu" (S. 620), Titel aus derselben Sphäre wie "princeps scholasticorum" (S. 564) oder "Doctor angelicus" (S. 768), eine etymologische Ableitung des Wortes Humor (S. 565), Zitate sprichwörtli cher Art wie "Roma locuta" (Augustin, J.-B. Grecourt) oder "mundus vult decipi" (S. Franck) und schließlich auch ein Ausdruck offenbar eigenstän diger Prägung: "in Baccho et ceteris" (S. 23 1). Alle diese Latinismen wer den vorgetragen, ohne daß der Autor Sorge trüge oder Sorge tragen müß te, den Leser, sofern überhaupt möglich, über ihre Herkunft zu informie ren.
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Ungenannt, aber nicht unerkannt bleibt der Autor auch in einem an deren Falle. Settembrini äußert zu Hans Castorp, um ihn zu sorgfaItiger Nutzung der Zeit anzuhalten: "Carpe diem! Das sang ein Großstädter" (S. 369). Dieses lateinische Zitat verdankt sich, wie Hans Castorp und auch der Leser wissen bzw. wissen sollten, dem römischen Dichter Horaz (carm. 1 , 1 1 ,8), den Settembrini hier ebenso als Großstädter feiert, wie Car ducci es mit Dante getan hatte (S. 242) : Wie Carducci die Donna gentile e pietosa aus Dantes Vita nuova (cap. 36 & 38) nicht als die mystagogische Beatrice verstanden wissen will, sondern als Dantes lebensbejahende und lebenstüchtige Ehefrau, so will Settembrini hier Horazens Aufforderung zum unmittelbaren Lebensgenuß verstanden wissen als Aufforderung zu sozial verantworteter Bewirtschaftung der Zeit - zwei Beispiele zivilisati onsliterarischer Hermeneutik, deren Voreingenommenheit Hans Castorp im Falle des Horaz ebenso hätte durchschauen sollen und womöglich auch durchschaut hat wie im Falle Dantes, dessen Interpretation seitens Carducci er zu Recht sehr mißtraut ,,in Anbetracht der Windbeutelei des Vermittlers" (S. 242). Verhüllten Ursprungs ist auch die lateinische Sentenz p/acct experiri, die Settembrini in einem frühen Gespräch mit Hans Castorp gleich zweimal in italienischer Aussprache - zitiert (S. 1 50 & 1 55) - ein literarisches Sig nal, das auf die Bedeutung hinweist, die dieser Sentenz im Roman zu kommt: Hans Castorp zitiert diese Sentenz im Fortgang der Erzählung nicht weniger als viermal (S. 228, 483f., 539, 960) , einmal (S. 539) sogar ebenfalls in italienischer Aussprache. Der Autor unterstreicht am Ende noch einmal die Bedeutung dieser leitrnotivischen Zitate: "Das Placet experiri [ . . ] saß fest in Hans Castorps Sinn; seine Sittlichkeit fiel nachge rade mit seiner Neugier zusammen [ . . . ]: mit der unbedingten Neugier eines Bildungsreisenden" (S. 997). Über die Herkunft dieser Sentenz erhält der Leser vergleichsweise spät und auch nur verdeckt Auskunft. Um seinen Verkehr mit Naphta zu rechtfertigen, bemerkt Hans Castorp: ,,Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anfuhren mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon" (S. 6 1 5). Selbstredend weiß Settembrini, daß die Sentenz p/acet expcriri, auf die Hans Castorp hier anspielt, auf Petrarca zurückgeht. Aber woher weiß es Hans Castorp? Settembrini jedenfall s hat es ihm nicht gesagt. Er kommt zwar im ersten Gespräch mit Hans Castorp "im Nu" auf Petrarca zu sprechen, den er den "Vater der Neuzeit" (S. 96) nennt. Die lateinische Sentenz wird hier jedoch nicht erwähnt, sondern erst in einem späteren Gespräch (S. 1 50 & 1 55), ohne daß hier Petrarcas gedacht würde. Sollen wir glauben, daß Settembrini Hans Castorp unterderhand, gewissermaßen hinter dem Rücken des Lesers, über den Ursprung der Sentenz unterrich tet habe oder daß der Bildungshorizont Hans Castorps und also auch der .
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des Lesers so fundiert sei, daß beide solcher Bdehrung gar nicht bedurf ten? Beides ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, daß der Autor in diesem Falle in der Textur seines Riesenwerkes eine Masche hat fallen lassen. - Es kommt hinzu, daß die Sentenz place! experiri durchaus nicht der "Wahlspruch" Petrarcas gewesen ist, sondern ihm von zwei Gdehrten des ausgehenden 1 9. Jahrhunderts (p. de Nolhac 1 892 & F.x. Kraus 1 895) postfestum vindiziert worden ist. Der einzige lateinische Autor, den Settembrini offen und ohne U m schweife mit Namen nennt, ist Vergil, dessen Name im Roman zweimal (S. 148 & 605) in der korrekten lateinischen Form zitiert wird, fiinfm al (S. 96f., 783f., 788) dagegen in der von Spätantike und Mittdalter bevorzug ten inkorrekten Form als Virgilills bzw. Vi'!,i', ohne daß der Wechsd der Form eine literarische Ratio erkennen ließe. Wohl aber verweist die auffäl lige Bevorzugung, die Settembrini durch mehrfache Namensnennung Vergil zuteil werden läßt, darauf, daß Roms größter Dichter, wie in der abendländischen Tradition, so auch in der Ideologie des Zivilisationslitera ten eine herausragende Stellung einnimm t. Die B ewunderung Vergils findet sich bereit.� bei Settembrinis huma nistischem Vater, von dem der Sohn erzählt: "Sein Gärtchen baute er nach dem Beispide Vergils" (S. 1 48). Das Beispid, an dem sich Settembrinis Vater orientiert, findet sich im vierten Buche der Georgica (4,1 1 6-1 48) Vergil erwähnt hier in Form einer Praeteritio kurz den Gar tenbau und erzählt bei dieser Gdegenheit, wie der Greis aus Korykos in der Nähe Tarents auf wenigem und kargem Boden erfolgreich Gartenbau betrieben hat, der ihm zu heiterer Autarkie verhalf. So verfährt also auch Settembrini, der Vater, die poetische Schilderung jenes bescheidenen Gar tens ins Praktische wendend - eine Hommage an Vergil, anrührend wie kaum eine andere. Die Bewunderung, die der Sohn Vergil entgegenbringt, ist nicht prak tisch, sondern ästhetisch und grenzenlos. Ausdrücklich vermerkt der Au tor, daß Settembrini Vergil "abgöttisch liebte" (S. 783) . Es kann hiernach nicht wundernehmen, daß Settembrini im ersten Gespräch, das er mit Hans Castorp und Joachim Ziemßen führt, alsbald auf Vergil zu sprechen kommt. Nicht sofort allerdings. Zuvor nämlich greift Settembrini auf die grie chische Mythologie zurück, indem er die beiden Anstaltsärzte als "Minos und Radamanth" (S. 90) bezeichnet und den Anstaltschef im weiteren Verlauf des Gespräches noch gleich zweimal "Radamanth" (S. 94f.) nennt. Hans Castorp übernimmt diese Metapher in einem Sdbstgespräch (S. 247) wie sdbstverständlich, obwohl er sich über die Bedeutung der mythologi schen Anspidung nicht recht im Klaren ist. In einem späteren Gespräch mit Settembrini kommt er, nun sdber Patient und im Bette liegend, noch
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einmal auf die Sache zurück: Settembrini habe den Hofrat mit einem "Höllenrichter" verglichen, mit "Radames" (S. 296) nämlich. Worauf Settembrini berichtigend den vollen Namen der mythologischen Person nennt: "Radamanthys" (296). Nun versteht Hans Castorp offenbar: "Radamanthys, natürlich! Minos und Radamanthys!" (S. 297). Was Hans Castorp - man weiß nicht wie und warum - versteht, müßte oder muß auch der Leser wissen, ohne daß es ihm der Autor expressis verlJis sagt: daß nämlich die Zeus-Söhne Minos und Rhadamanthys, Könige in Kreta, ob der Gerechtigkeit ihres irdischen Lebenswandels nach ihrem Tode in der Unterwelt als Richter eingesetzt wurden, um über Schuld und Unschuld der toten Seelen ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Name des Unterweltsrichters Rhadamanthys begegnet dem Leser im Verlaufe des Romans nicht weniger als achtmal als Chiffre und Syno nym für Hofrat Behrens, viermal in der Kurzform "Radamanth" (S. 489, 633, 842f.), viermal in der vollständigen Form "Radamanthys" (S. 674, 795, 947, 1 072), wobei überall die inkorrekte Schreibweise ohne aspirier ten H-Laut (Rh) angewendet wird. Korrekte Orthographie war des Autors Sache notorisch nicht und offenbar auch nicht Sache des Lektors, der den Fehler hätte bemerken und emendieren müssen. Der Wechsel in der Namensform läßt hier ebenso wenig eine literari sche Absicht erkennen wie im Falle Vergils, wohl aber verfolgt die leitmo tivische Verwendung der mythologischen Namens-Chiffre eine literarische Absicht, insofern der Leser immer wieder daran erinnert wird, was die hochgelegene Luxus-Lungen-Heilanstalt, in die es Hans Castorp verschla gen hat, recht eigentlich ist: ein unterweltlicher Ort alt fond, in dem der leitende Arzt über die armen Seelen der Kranken ebenso inappellabel gebietet wie der Unterweltsrichter Rhadamanthys über die Schatten der Toten im Hades. Die mythologische Vorstellung von der Unterwelt, die die Nennung der mythischen Totenrichter evoziert hat, wird im Verlauf des Gespräches festgehalten. Settembrini vergleicht nämlich Hans Castorp mit Odysseus: "Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich?" (S. 90). Diese Anspielung auf die Unterweltsfahrt des Odysseus, die der elfte Gesang der 04;'ssee erzählt, krönt Settembrini mit dem Zitat zweier Verse aus der be rühmten Begrüßungsrede, die der tote Achill an Odysseus richtet (Od. 1 1 .475f.): "Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen" (S. 90). Die deutschen Hexameter verdankt Settembrini, oder besser: verdankt der Autor der 04;'sscc-Übersetzung von Johann Heinrich Voss (1781), die im deutschen Bildungsbürgertum bis ins 20. Jahrhundert hinein ein nachgerade kanonisches Ansehen hatte. Wie Settembrini den Beginn des Gespräches in den Horizont antiker Unterweltsmythen gestellt hat, so beendet er es auch, nun allerdings nicht
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aus griechischer, sondern aus römischer Poesie schöpfend. Joachim Ziemßen drängt zur liegekur, und Settembrini willf:i.hrt seinem Drängen: "Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg, - 'rechtshin, welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauem hinanstrebt'." (S. 96) . Wie die Erwähnung des römischen Totengottes Dis anzeigt, entstamm t dieses Hexameter Zitat einer Unterweltserzählung, die in der lateinischen literatur beheimatet ist Den Autor nennt Settembrini sogleich: ,,Ah, Virgil, Virgil!" (S. 96) . Aus diesen Vorgaben kann un d soll der gebildete Leser erschließen, daß das Zitat aus der Aeneis stamm t, und zwar aus dem sechsten Buche, in dem Vergil, in konkurrierender Nachahmung Homers, die Unterweltsfahrt des Trojaners Aeneas schildert. Das Zitat selbst, dessen deutsche Fassung sich der Aeneis-Übersetzung von J.H. Voss (1 822) verdankt, stammt aus der kurzen Rede der Prophetin Sibylla, die Aeneas auf seiner Fahrt beglei tet und ihm den richtigen Weg weist: Nicht links solle er sich halten, wo im Tartaros die schweren Frevler büßen, sondern nach rechts gehen, um zum Palast des Dis und ins Elysium zu gelangen (Aen. 6,541). Tiefsinniger kann man kaum zitieren. Nach rechts sich wendend, wie Aeneas, gelangen Settembrini und die Vettern zum "Schreckenspalast" (S. 96) des Unter weltsrichters Behrens, wo sie jene luxuriöse Atmosphäre erwartet, die man elysisch nennen kann, wenn man nicht vergiBt, daß auch das Elysium Teil der Unterwelt ist und ausschließlich Tote beherbergt. Nachdem Settembrini den Namen Vergils vocativisch genannt hat, konstatiert er den singulären Rang dieses Dichters: "er ist unübertroffen" (S. 96). Hierauf präzisiert er: "Ich glaube an den Fortschritt, gewiß. Aber Vlrgil verfügt über Beiwörter, wie kein Moderner sie hat" (S. 96f.). In dieser Auslassung verschränken sich zwei Gedanken, ein literarhistori scher und ein weltanschaulicher: daß nämlich die poetische Singularität Vergils auch und vor allem in der Auswahl der Adjektive gründe und daß angesichts ästhetischer Vollkommenheit das zivilisationsliterarische Dog ma vom Fortschritt suspendiert werden müsse. Weshalb der poetische Ruhm Vergils ausgerechnet auf dem Gebrauch der Adjektive beruhe, bleibt Settembrinis Geheimnis und also auch das Geheimnis des Autors ein Geheimnis, das auch der weltberühmte Vergil-Spezialist, dem diese Studie gewidmet ist, nicht lösen zu können bekannt hat. Gar nicht rätselhaft ist demgegenüber Settembrinis Eingeständnis, daß der Fort�chrittsgedanke, der dem Zivilisationslitetaten so teuer ist, außer Kraft gesetzt wird, wenn man ihn mit einer als mustergültig anerkannten Tradition konfrontiert. Der Zivilisationsliterat pflegt diesem Dilemma auszuweichen, indem er die großen Texte im Sinne seiner Ideologie inter pretiert: So hält es Settembrini mit Hora2 (S. 369), so hielt es, wenn man Settembrini glauben darf, Carducci mit Dante (S. 242) . Allein, diese ohne hin fragwürdige Ausflucht versagt, wo es nicht um die inhaltliche, sondern
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um die formale Interpretation des Mustergültigen geht. In aestheticis gilt kein vermittelndes Ausweichen: Entweder man erkennt das Formal Mustergültige an und gibt zumindest in diesem Punkte dem Fortschritts gedanken Abschied, oder man leugnet das ästhetisch Vollkommene und erliegt so, bloß um der Fortschrittsideologie willen, einem unfruchtbaren Krittler- und Nörglertum. Es ehrt Settembrini, daß er, was Vergil, was besonders die Sprache Vergils betrifft, der ersten Alternative den Vorzug gegeben hat, auch wenn und weil die partielle Preisgabe des Fortschritts gedankens eine geistige Schwäche und Inkonsequenz signalisiert, wie sie jeder in sich geschlossenen Ideologie notwendig innewohnt. Auf dem Heimweg trägt Settembrini lateinische Verse vor - zweifellos Vergilische Verse, und zwar, wie der Autor hinzufügt "in italienischer Aussprache" (S. 97). Auch im Falle des Placet experiri hatte der Autor zweimal (S. 1 50 & 1 55; vgl. 539) darauf hingewiesen, daß Settembrini das Lateinische in italienischer Aussprache zitiere. Die literarische Absicht liegt auf der Hand: Dem Leser soll bewußt gemacht werden und bewußt bleiben, daß die geistige Heimat des Zivilisationsliteraten, die Latinität, eine Einheit ist, insofern die romanischen Sprachen und das Italienische ganz besonders dem Lateinischen sprachlich und also auch gedanklich zutiefst verpflichtet sind. Leo oder Leib Naphta, der geistige Widerpart und Gegenspieler Settembrinis, entstammt der Kultursphäre des östlichen Judentums. Sein Vater, in einem Dorf an der galizisch-wolhynischen Grenze beheimatet, war ein jüdischer Metzger (Schächter oder Schochet), zugleich ein rabulis tischer Ausleger der Thora und ein medizinierender Wundermann (Zadikk). Er wird während eines Pogroms ermordet, und die Familie flieht in eine kleine Stadt in Vorarlberg (Feldkirch). Hier überwirft sich der jun ge Naphta, dessen scharfer und querulatorischer Intellekt, ein Erbteil des Vaters, früh hervortritt, mit seinem Lehrer, dem Kreisrabbiner, den die wühlerischen, bald auch revolutionär-gesellschaftskritischen Ansichten seines Zöglings zunehmend entsetzen. Den Entwurzelten gewinnt der Jesuitenpater Unterpertinger für den Katholizismus: Naphta konvertiert und findet Aufnahme im Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch. Auch hier bewährt sich Naphtas überragende Intellektualität, so daß die Oberen seinem Wunsche, Theologie zu studieren, willfahren. Das Studium an der Jesuiten-Universität im holländischen Falkenburg muß Naphta jedoch krankheitshalber abbrechen und kehrt als Lehrer der Humaniora und der Philosophie in das Gymnasium in Feldkirch zurück, ohne es in der Lauf bahn des Ordens weiter als bis zum Subdiakonat zu bringen. Eine weitere Verschlimmerung des Lungenleidens erzwingt einen Kuraufenthalt im Hochgebirge, der, vom Orden bezahlt und durch eine Tätigkeit als Latein-
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lehrer am Krankengymnasium gerechtfertigt, nunmehr ins sechste Jahr geht, ohne daß ein Ende abzusehen wäre . . . (S. 663-673) . Wie verschieden Naphta un d Settembrini nach Herkunft, Lebenslauf und Denken auch sein mögen, so haben sie doch eines gemeinsam: daß ihr Lebensplan - hier das Priesteramt, dort die praktische Tätigkeit als politischer Agitator - durch die Krankheit unterbrochen und vereitelt worden ist, so daß der Autor die beiden geistigen Kontrahenten nicht von ungefähr in ein und derselben bescheidenen Privatunterkunft angesiedelt hat, fernab vom Sanatorium, dessen finanziellen Ansprüchen sie auf Dau er nicht nachkommen können, auch wenn es Naphta bei alledem ver gleichsweise komfortabel getroffen hat, komfortabler jedenfalls als der mittellose Settembrini, der Hans Castorp eröffnet, Naphta werde durch den Jesuitenorden "von hinten" versorgt (S. 6 1 8; vgl. S. 9 1 0) . Daß der jüdische Konvertit un d Jesuit Naphta anders denken würde als der in der liberalen Sphäre des italienischen Humanismus erzogene Settembrini, hätte man sich gedacht. Der Autor aber hat gewollt, daß der eine nicht nur anders denkt als der andere, sondern daß beider Denken in diametralem Gegensatz stehe - ein Antagonismus, der dadurch zustande kommt, daß beide ihre Weltanschauung, die durch die Aufnahme fremder Denkinhalte jeweils ein durchaus originelles Gepräge annimmt, durch den dialektischen Wettstreit befeuert, jeweils in extremis formulieren und artiku lieren. Die Weltanschauung Naphtas erschließt sich am besten, wenn man ih re Kernbegriffe mit jenen Kernbegriffen kontrastiert, die der Zivilisations literat Settembrini favorisiert An die Stelle der Politik, in der sich für Settembrini Denken und Handeln erfüllt, setzt Naphta die Religion, an die Stelle der Freiheit den Terror, und der fortschrittlichen Weltzivilisation stellt Naphta die klassenlose Gesellschaft gegenüber, in der sich die Got teskindschaft des Menschen, von der das Mittelalter geträumt habe, end lich verwirklichen werde. Das Religiöse vertritt Naphta in jener extremen Form eines militanten Katholizismus, wie ihn der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola (149 1 - 1 556) , geprägt hat, der für Naphta als geistiger Führer eine ähnliche Rolle spielt wie Carducci für Settembrini. Die Militanz der jesuitischen Theologie, die im Ordensreglement, das Ignatius selbst entworfen hat, Ausdruck gefunden hat, richtet sich sowohl nach innen wie nach außen: nach innen gegen die Mitbrüder des eigenen Ordens, denen unbedingtester Gehorsam gegenüber den Oberen, dem Papst und der Kirche abverlangt wird bis hin zur Selbstaufgabe der Per sönlichkeit - der berüchtigte Kadavergehorsam (vgl. S. 688); nach außen gegen alle Gegner und Feinde des orthodoxen römischen Katholizismus,
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gegen die alle Mittel erlaubt sind, sie zu vertilgen, namentlich auch Lüge und sogar Mord. Im Sinne dieses extremen geistlichen Reglements verwirft Naphta den demokratischen Individualismus, das Palladium des Zivilisationsliteraten, und propagiert und favorisiert stattdessen den politischen Terror: "Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist - der Terror" (S. 604). Den Geist des politischen Terrors findet Naphta wieder in der modemen Bewegung des Kommunismus, dessen antikapitalistische Stoßrichtung gegen die liberale und bürgerliche Verrot tung ziele und danach trachte, die von der Kirche des Mittelalters propa gierte Gotteskindschaft des Menschen wiederaufzurichten oder doch ihrer Wiederaufrichtung vorzuarbeiten. Die Diktatur des Proletariats erweise sich so als "politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit", und eben sowenig wie die Kirche unter Gregor VII . (1 073-1 085) werde das Proleta riat seine Hand "zurückhalten dürfen vom Blute" (S. 608f.) . Denn: "Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft" (S. 609) . Die Verbindung zwischen jesuitischer Theologie und kommunisti scher Ideologie, der Naphta das Wort redet, ist entschieden eine kühne gedankliche Konstruktion - viel kühner als die Verbindung zwischen der zivilisationsliterarischen Weltanschauung mit dem Freimaurertum, wie sie Settembrini vertritt. Die Freimaurerei, die Naphta in einem Vier-Augen-Gespräch mit Hans Castorp einmal bissig als "die bourgeoise Misere in Klubgestalt" (S. 773) bezeichnet, läßt sich sehr wohl mit der Ideologie des Zivilisationslite raten vereinigen; sie ist gewissermaßen deren geheimbündlerischer Aus druck - ein merkwürdiges Phänomen, insofern sich die Aufklärung in Form eines Geheimbundes darstellt, der, wenn man Naphta glauben darf, zu Zeiten nicht davor zurückgeschreckt sei, sich mit der mittelalterlichen Alchemie einzulassen, aus deren Fachsprache Naphta Hans Castorp die lateinischen Termini "physica mystica", "lapis philosophorum", "res bina" und "prima materia" zu Gehör bringt (S. 769f.) . Jesuitische Theologie hingegen läßt sich mit der prononciert atheis tisch-materialistischen und sozioökonomisch orientierten Ideologie des Kommunismus nicht in Einklang bringen - es sei denn im gedanklichen Horizont des antiindividuellen und antikapitalistischen religiösen Terro rismus, wie ihn Naphta hier künstlich herstellt. Ganz richtig bemerkt denn auch Settembrini zu Hans Castorp über die kühnen Theorien Naphtas, jener trachte "nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen" (S. 6 1 9) .
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Es liegt auf der Hand, daß das Lateinische und die Latinität in Naphtas terroristischem Denken eine ganz andere Rolle spielen und ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden, als sich der Zivilisationslite rat, geborgen und etabliert im Horizont eines lateinischen Humanismus und lateinischer Humanität, auch nur vorzustellen in der Lage ist. Das wird besonders deutlich im Falle des Exerzierreglements des Ig natius, das der Autor nicht nur ausführlich referiert, sondern auch wört lich zitiert. Aus der lateinischen Übersetzung des Reglements (Exercitia spiritualia, erschienen 1 548) führt der Autor Kernbegriffe auch auf Lateinisch an: ,,insignes esse", "ex supererogatione" "rebellio carnis", "agere contra" und "resistere" (S. 675) . Wenig später ergänzt Naphta diese liste im Gespräch noch durch vier weitere lateinische Zitate aus derselben Quelle (S. 677 & 683). Damit nicht genug. Der Autor zitiert auch aus dem spanischen Urtext des Reglements (Exerricios espirituales, verfaßt 1 521 - 1 523, endgültig nieder geschrieben 1 54 1 , erschienen 1 671). Naphta, so heißt es, habe sich mit Vorliebe spanischer Ausdrücke bedient: Er spricht von den "dos bande ras", den beiden Fahnen, unter denen sich in endzeitlicher Schlacht die geistlichen Truppen vor Jerusalem unter Christus als "capicin general" sammeln würden, während Luzifer als "caudillo" die höllischen Regimen ter vor BabyIon kommandiere (Exemcios espirituales, 2. Woche, 4. Tag, 1 . Bett.) (S. 674f.; vgl. S . 705f.) . Es leidet keinen Zweifel, daß der Autor diese Fülle fremdsprachlicher Zitate mit Vorbedacht angeführt hat. Denn indem neben dem Lateini schen auch das Spanische in Kraft tritt im Denken Naphtas, wiederholt sich mutatis mutandis jene Konstellation, die für das Denken Settembrinis kennzeichnend war, insofern hier das Lateinische in Verbindung mit dem Italienischen auftrat. Aber während sich das Italienische mit dem Lateini schen verbindet, um im Horizont der Latinität die demokratisch humanitäre Weltanschauung des Zivilisationsliteraten zu gewährleisten, verbindet sich das Lateinische mit dem Spanischen zu einer ganz anderen Latinität, welche nicht zivilisationsliterarischer Menschenfreundlichkeit, sondern militantem, menschenverachtendem Terror das Wort redet. Der Dissens liegt darin begriindet, daß die beiden Kontrahenten jeweils auf eine andere Epoche des Lateinischen rekurrieren, um Sprache und Geist jener Epoche jeweils ihren ideologischen Zwecken dienstbar zu machen. Das Spanische beherrscht Naphta, anders als Settembrini das Italieni sche, nicht als native speaker, sondern nur bruchstückhafr und partiell, theo logische Leitbegriffe des spanischen Ordensgriinders zitierend. Im Latei nischen dagegen ist Naphta nicht weniger finn als Settembrini, auch wenn er diese tote Kultursprache ganz anders erlernt hat als jener.
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Bereits der Kreisrabbiner in Feldkirch hat Naphta nicht nur im Hebrä ischen, sondern auch in den Klassischen Sprachen unterrichtet (S. 666). Daß er auf dem Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch gründlich Latein gelernt hat, versteht sich von selbst. Im Novatiathaus in Tisis sprach man dann offenbar ausschließlich Lateinisch. ,,Ad haec quid tu?", fragt Naphta que rulatorisch seinen Exerzitienmeister im dialektischen Diskurs; worauf jener ihn zum Gebet vermahnt, nicht ohne den Zweck des Gebetes latei nisch zu formulieren: "ut in aliquem gradum quietis in anima perveniat" (S. 672) . Dieser gründlichen Ausbildung im Lateinischen, die sich während des Theologie-Studiums in Falkenburg noch vertieft haben muß, verdankt Naphta seine Anstellung als Lateinlehrer am Krankengymnasium Fridericianllm in Davos, durch die der Zwangsaufenthalt des Lungenkran ken im Hochgebirge "beschönigt" (S. 673) wird (vgl. auch S. 467, 6 1 7, 784) . Hiernach kann nicht verwundern, daß Naphta im Gespräch immer wieder das Lateinische heranzieht und verwendet, zumal er darauf ver trauen kann daß Settembrini, aber auch Hans Castorp in dieser Sprache hinlänglich bewandert sind, um zu verstehen, was er sagt. Das Lateinische tritt im ersten Streitgespräch zwischen Naphta und Settembrini sogleich in Kraft, insofern Settembrini Naphta den Vettern als "princeps scholasticorum" (S. 564) vorstellt und so zugleich jene Epoche der Latinität kennzeichnet, die Naphta favorisiert. Das Spiel mit dem Lateinischen setzt sich alsbald fort, indem Naphta Settembrini ironisch um eine lateinische Übersetzung des Wortes 'Feuch tigkeit' (humor; ersucht (S. 565) . Wenig später zitiert Naphta dann einen vollständigen lateinischen Satz: "Solet Aristoteles quaerere pugnam" (S. 566) . Daß dieser Satz aus Lessings Hambllrgischer Dramaturgie (70. Stück) stammt, muß nicht einmal der Sprecher wissen, geschweige denn der Leser, wenn er nur, wie Settembrini und Hans Castorp, hinreichend Latein versteht, um den Sinn des Satzes zu verstehen. Wiederum wenig später befürchtet Naphta ebenfalls ironisch -, Settembrini werde ihn einen "Feind der Menschheit" nennen und fügt diesem Tadelwort, das sich der Kriegspolemik der En tente gegen Deutschland verdankt, sogleich die lateinische Übersetzung bei: "inirnicus humanae naturae" (S. 568), auf daß der Horizont der Latini tät in seinen Ausführungen nicht in Vergessenheit gerate. Sehr prononciert erscheint das Lateinische sodann, als Naphta von der "Idee des Homo Dei" (S. 570) spricht. Gelehrter Spürsinn hat festge stellt, daß dieser Ausdruck auf den Bußprediger Berthold von Regensburg (um 1 2 1 0- 1 272) zurückgeht, der so die Gottesebenbildlichkeit des Men schen interpretiert, von der die Genesis (1 ,26) spricht: "Homo Dei, gotes mensche". Wichtiger indes als die Herkunft der Formel ist ihre leitmotivi,
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sehe Verwendung im weiteren Verlauf des Romans (S. 589, 621 , 7 1 9) als Chiffre für den religiös beunruhigten, suchenden Menschen. Die Reminiszenz an das Alte Testament wird beschlossen durch ein Zi tat: "assument pennas ut aquilae" (S. 577), zitiert Naphta aus den Prophe zeiungen des Jeremias (40,30f.), um ironisch auf Settembrinis Neigung zum Zivilisationskrieg gegen Ö sterreich-Ungarn anzuspielen - eine An spielung, die auch der Gebildete nicht ohne weiteres identifizieren können wird; auch hier genügt, daß er den lateinischen Text versteht. Daß Naphta hier das Alte Testament (wie später noch zweimal das l\Teue) lateinisch zitiert, ist allerdings bedeutsam, weil es den Katholiken und Jesuiten kennzeich net: Der Rückgriff auf die lateinische Ü bersetzung des hebräischen bzw. griechischen Urtextes gewährleistet die dogmatische Deutungshoheit der Römischen Kirche über den Text der Heiligen Schrift. Weniger entschieden tritt die Lateinische Sprache im zweiten Streitge spräch in den Vordergrund, das Naphta und Settembrini miteinander führen. Allerdings gebraucht Naphta gleich zu Beginn des Gespräches, noch bevor Settembrini anwesend ist, gegenüber den Vettern den lateini schen Ausdruck "Signum mortificationis" (S. 594), um die gotische Piecl in seiner Wohnung als "Mahnzeichen zur Abtötung" zu kennzeichnen. Wenig später verweist Naphta Hans Castorp auf die Schrift des Papstes Innozenz III . De mireria humanae conditionis (aus dem Jahre 1 1 95), in der der pessimistisch-asketische Geschmack der Gotik, wie ihn die Pieta bildlich zeige, literarischen Ausdruck finde (S. 594) . Hans Castorp zeigt sich inte ressiert an der Lektüre dieses lateinischen Werkes und erhält denn auch am Ende des Gespräches das Werk, "einen morschen Pappband" (S. 61 1), leihweise von Naphta ausgehändigt. Nach diesem Präludium spricht Naphta im weiteren Verlauf des Ge spräches, an dem nun auch Settembrini teilnimmt, nur noch einmal latei nisch: Er zitiert, um das voluntaristische Element nachzuweisen, das je dem Beweise innewohne, auf Lateinisch die berühmte Schluß formel, die antike und mittelalterliche Gelehrsamkeit dem griechischen Mathematiker Eukleides (um 300 v. Chr.) abgelauscht hat: "quod erat demonstrandum" (S. 599). Im dritten Streitgespräch, das gleich die lateinische Überschrift Operationes spirituales (S. 663) trägt, tritt das Lateinische in Naphtas Rede wieder stärker hervor. Er zitiert, wie zuvor schon der Autor (S. 675), Kernbegriffe aus der lateinischen Übersetzung der Exerzjtien des Ignatius von Loyola: "amor carnalis" und "commoda corporis" (S. 677) sowie "in statu degradationis" und "pudoris et confusionis sensus" (S. 683), nicht ohne am Schluß noch einmal expressis verbis darauf hinzuweisen, was den Gesprächsteilnehmern bzw. dem Leser womöglich entgangen sein könnte:
Ah Viq,';I, Viq,';11
-
der Speichellecker des julisehen Hauses
333
daß alle jene Formeln und Begriffe dem theologischen Regelwerk des Heiligen Ignatius entstammen. Wenig später zitiert Naphta aus der Bibel, diesmal aus dem Neuen Tes tament. "Quis me liberabit de corpore mortis hujus?" (S. 684) . Anders als im Falle des Jeremias-Zitates dfufte hier nicht nur der Gelehrte, sondern auch der bibelfeste Leser gewußt haben, daß dieses Zitat aus dem Römer brief (7.24) des Apostels Paulus stammt, den Naphta selbstredend in der kanonischen lateinischen Ü bersetzung des Kirchenvaters Hieronymus anführt. Im übrigen verfügt auch Hans Castorp über ein lateinisches Paulus Zitat (1 . Kor. 7,31), in dem sich ebenfalls die weltverneinende Theologie des frühen Christentums ausspricht, der Naphta das Wort redet: "Praeterit figura hujus mundi", sagt er zu sich selbst in der Schneeinsamkeit; "in einem Latein, das nicht humanistischen Geistes war", fügt der Autor hin zu. Und er fügt noch hinzu, was den Leser kaum überraschen dfufte: "er hatte die Redensart von Naphta gehört" (S. 720) . In der Tat: Das Latein, das Naphta vorbringt, ist nicht humanistischen Geistes; es stammt aus der Sphäre spätantiker und vor allem scholastisch mystischer Geistigkeit, die Naphta einmal, zur Empörung Settembrinis, als "klassisches Mittelalter" (S. 566) bezeichnet, insofern man damals dem Geiste und dem Glauben gelebt und dem Heile der Seele höheren Wert zuerkannt habe als dem Körper und allen weltlichen und diesseitigen Be langen. Über Art und Ursprung dieses Lateins, das die Philologie als Mittella tein bezeichnet, um es gegen das antike Latein einerseits und andererseits gegen das Neulatein der Humanisten abzugrenzen, belehrt Hans Castorp seinen Vetter und also auch den Leser sehr gründlich, als er am Totenbett des Herrenreiters steht: "Requiescat in pace [ . . . ]. Sit tibi terra levis. Requi em aeternam dona ei, Domine. Siehst du, wenn es sich um den Tod han delt [ . . . ], so tritt auch wieder das Latein in Kraft [ . . . ]. Aber es ist nicht aus humanistischer Courtoisie, daß man Lateinisch redet zu seinen Ehren, die Totensprache ist kein Bildungslatein [ . . . ], sondern von einem ganz ande ren Geist, einem ganz entgegengesetzten, kann man wohl sagen. Das ist Sakrallatein, Mönchsdialekt, Mittelalter". Und er fügt hinzu: "Settembrini fände keinen Gefallen daran, es ist nichts für Humanisten und Republika ner und solche Pädagogen" (S. 445). Hiernach kann nicht verwundern, daß die lateinischen Autoritäten, die Naphta im Gespräch anführt, um seine terroristisch-kommunistisch inspi rierte Theologie zu rechtfertigen und zu befestigen, nicht dem Klassischen Latein entnommen sind, sondern vielmehr teils aus der Spätantike, teils aus der frühen Neuzeit stammen, vor allem aber der Sphäre der mittelal terlichen Theologie angehören.
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Andreas Patzer
Was die Spätantike betrifft, so verweist Naphta einmal auf die Väter der Kirche im allgemeinen (S. 607), einmal auf die Lehrer der "jungen Kirche", die sogenannten Apologeten (S. 784); namentlich erwähnt er den Apologeten Laktanz (um 300) (S. 600f.) und den Kirchenvater Augustin (35+430) (S. 599) . Ins Hohe Mittdalter, die Blütezeit der Scholastik wie der Mystik, gehören Gregor VII. (1 073-1 085) (S. 606 f., 609), Bernhard von Clairvaux (1 090- 1 1 53) (S. 568), Innozenz III. (1 1 60- 1 2 1 6) (S. 594, 61 1), Bonaventura (1 22 1 - 1 274) (S. 566) und Thomas von Aquin (1 2251 274) (S. 566, 608). Der frühen Neuzeit schließlich gehört Ignatius von Loyola (1 49 1 - 1 556) an, der Begründer des Jesuitenordens, den der Jesuit Naphta - ironischerweise - nur einmal namentlich zitiert (S. 683), sowie der Mystiker Migud de Molinos (1 640- 1 697), der ebenfall s nur einmal zitiert wird (S. 569). Gegenüber dem Klassischen Latein bewahrt Naphta ein entschieden feindseliges Schweigen, das an Mißachtung grenzt. Er nennt und zitiert aus dieser Sprachsphäre nur einen einzigen Autor mit Namen: Vergil. Nicht anders hatte es Settembrini gehalten. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall, sondern literarisch gewollt: Vergil, der größte römische Dich ter, fungiert als piece de resistance, an der sich die hermeneutischen und also auch ideologischen Gegensätze der beiden Kontrahenten im Geiste be sonders eindrucksvoll und nachdrücklich manifestieren können und sol len. Anders als Settembrini kommt Naphta nicht sogleich auf Vergil zu sprechen, sondern erst im Verlaufe des zweiten Streitgespräches, das er mit Settembrini vor den Vettern fuhrt. Die Rede ist vom nationalen Staat, den Naphta verachtet, Settembrini aber für einen erwünschten Zwischen und Vorzustand der demokratischen Wdtrepublik ansieht. Naphta zeigt sich über Settembrinis Hochschätzung des Nationalstaates orientiert und zitiert: ,,'Über alle s geht die Vaterlandsliebe und die grenzenlose Ruhmes begier"'. Nachgerade wegwerfend fügt er hinzu: "Das ist Vergil" (S. 605). In der Tat zitiert Naphta hier, diesmal in Prosa, einen berühmten Vers aus dem sechsten Buch der Vergilischen Aeneis (6,823) : Anchises, der Aeneas in der Unterwdt einen Vorblick auf die römische Geschichte gibt, erzählt, daß der Freiheitskämpfer Brotus im Namen der Freiheit seine Söhne wird hinrichten lassen, da sie einen bewaffneten Umsturz planten. "Der Unglückliche!" - Infelix! - kommentiert Anchises oder vielmehr der Dichter. Wie auch immer die Nachwdt über diese Taten urteilen möge: vincet amor patriae laudurnque immensa voluptas.
Dieser Vers kontrastiert die wahren Motive des Brotus mit dem Urteil der Nachwdt und begründet so das Unglück, das ihm zuteil werden wird: Nicht Vaterliebe wird sein Handeln bestimmen, sondern Liebe zum Va-
Ah Virgil, Virgill
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der Spciehellc:cker des julisehen Hauses
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terland und unermeßliche Begierde nach Ruhm - ein durchaus kritischer Kommentar des Dichters, ganz dazu angetan, die Tat des Brutus und das lobende Urteil der Nachwelt über Brutus in fragwürdigem licht erschei nen zu lassen. Die kritische Reserve gegen das traditionelle Brutus-Lob, wie sie der Dichter hier unüberhörbar zum Ausdruck bringt, hat selbstre dend nicht verhindert, daß man jenen Vers, in dem sie sich ausspricht, aus dem Zusammenhang gerissen hat, um ihn für die Zwecke einer platten nationalistischen Ideologie zu mißbrauchen. Naphta folgt dieser miß bräuchlichen Inanspruchnahme des Verses, um seinerseits Vergil, wenn nicht als gedanklichen Erfinder, so doch als maßgeblichen Propagator des nationalen Staates in Anspruch zu nehmen. Hiernach hat Settembrini nicht mehr viel zu tun, um Vergil vollends für die zivilisationsliterarische Ideologie zu vereinnahme n: "Sie korrigieren ihn [Vergil] ", bemerkt Naphta zu Settembrini, "durch etwas liberalen Individualismus, und das ist die Demokratie" (S. 605). Die ebenso unverhohlene wie unberechtigte Kritik an Vergil als Kronzeugen für den nationalen Staat ist das Präludium einer ungleich massiveren Kritik, die Naphta zu Beginn des dritten Streitgespräches äu ßert und den heftigen Widerspruch Settembrinis hervorruft, so daß Vergil hier und jetzt unmittelbar in den Streit der beiden Geistes-Kontrahenten hineingezogen wird. Dieser beginnt damit, daß Settembrini die Rückkehr der Madame Chauchat zum Anlaß nimmt, auf Dantes Göttliche Komiidie anzuspielen: "Ihre Beatrlce kehrt wieder?", bemerkt er zu Hans Castorp, "Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden!" (S. 783). Diese Äußerung Settembrinis, die der Autor selbst als "harmlos" bezeichnet, fUhrt zu einem "unerschöpfli chen Geisteszwist" (S. 783), der das Gespräch in der nächsten Zeit be herrscht. Es beginnt damit, daß Naphta, der, wie dem Leser hier mitgeteilt wird, gegen Vergil und gegen die lateinische Poesie überhaupt "schärfste Ge ringschätzung" (S. 783) bekundet hatte, die Gelegenheit wahrnimm t, um über den römischen Dichter Vergil, den Settembrini über alles schätzte, herzuziehen. Es sei eine "äußerst gutmütige Zeitbefangenheit des großen Dante" gewesen, bemerkt Naphta, diesen "mittelmäßigen Versifex" (S. 783) in seinem Gedichte so hoch zu ehren. Naphta weiter: "Was es denn weiter auf sich gehabt habe mit diesem höfischen Laureatus und Speichel lecker des julischen Hauses, diesem Weltstadtliteraten und Prunkrhetor ohne einen Funken Produktivität, dessen Seele, wenn er eine gehabt habe, jedenfalls aus zweiter Hand gewesen, und der überhaupt kein Dichter, sondern ein Franzose in augusteischer Allongeperücke gewesen sei!" (S. 784).
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Andreas Patzer
Auf diese grobe Attacke entgegnet Settembrini, er zweifde nicht da ran, daß Naphta seine "Verachtung der römischen Hochzivilisation" (S. 784) mit seinem Amte als Lateinlehrer in Einklang zu bringen wisse. Auch möge er - Naphta - bedenken, daß das von ihm so hochgehaltene Mittdalter der Größe Vergils auf seine einfältige Art salutiert habe, indem es au.... ihm einen "weisheitsmächtigen Zauberer" (S. 784) gemacht habe. Falsch, so Naphta, vielmehr habe hier das Mittelalter einmal mehr sei ne Schöpferkraft bewährt ,,in der Dämonisierung des Überwundenen" (S. 784). Auch seien die Lehrer der "jungen Kirche" nicht müde geworden, vor den heidnischen Philosophen und Dichtem zu warnen, namentlich davor, "sich mit der üppigen Beredsamkeit des Virgil zu beflecken" (S. 784) . In der heutigen Zeitenwende könne man diesen Protest wieder nachfiihlen. Settembrini solle überzeugt sein, daß er - Naphta - sein Amt als Lateinlehrer mit jener "reservatio mentalis" (S. 784) betreibe, wie sie einem klassisch-rhetorischen Erziehungsbetrieb gegenüber geboten sei, dessen Abschaffung nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Frage sei näm lich an der Tagesordnung, ob die klassisch-humanistische Überlieferung, anders als sie glaube, nicht menschlich-ewig sei, sondern bloß Zubehör der bürgerlich-liberalen Epoche und mit ihr sterben werde. Es sei nicht ausgemacht, daß die Entscheidung in dieser Sache im Sinne jenes "lateini schen Konservatismus" (S. 785) fallen werde, wie ihn Settembrini vertrete. Mit dieser boshaften Äußerung gerät das Gespräch schließlich vollends in die Weite, nicht ohne daß der Autor rückblickend anmerkt, daß Settembrini "mit seinem kleinen Scherz vom Lateiner Virgil" (S. 788) den Anstoß gegeben habe zu solchen gedanklichen Weitläufigkeiten. Daß Naphta Vergil geringschätzt, hat der Leser bereits erfahren. Neu fiir den Leser ist, daß Naphta der lateinischen Poesie in toto "schon mehr als einmal" (S. 783) Geringschätzung bekundet habe - eine Generalver danunung, die Naphtas allerdings krassen Widerwillen gegen Vergil mit dem Tonzeichen des Exemplarischen versieht: Naphta verachtet und verwirft die römische Hochzivilisation, wie sie sich in der heidnisch vorchristlichen Epoche etabliert hat, ebenso kompromißlos und radikal, wie er Vergil verwirft, ihren hervorragendsten Repräsentanten. Über Herkunft und geistigen Ursprung dieser negativen Auffassung des Römertums gibt der Autor einen Fingerzeig. Am Ende seiner fulmi nanten Invektive leugnet Naphta, daß Vergil überhaupt ein Dichter gewe sen sei und nicht vielmehr ein Franzose in augusteischer Allongeperücke (S. 784) . Mit dieser einigermaßen überraschenden Schlußbemerkung nimmt Naphta den römischen Dichter und mit ihm im Grunde die ganze Augusteische Kultur fiir die französische Kultur der Epoche Ludwig XIV. in Haft, in der die Allongeperücke notorisch a la mode gewesen ist.
Ah Virgil, Virgill
-
337
der Spciehellc:cker des julisehen Hauses
Die Kritik an der Kultur und namentlich an der literatur jener Epo che, während der das Französische
ganz
Europa dominiert hat, ist nun ein
fundamentales Ereignis der deutschen Geistesgeschichte. Gotthold Eph
(Briefe, die Neueste Iitteratur betTrffend, 1759-1765; Ltokoon, Hamburgische Dramaturgie, 1767-1769) und Johann Gottfried Herder (Fragmente if/r deutschen Iitteratur, 1767) haben in ihren literaturtheoreti
raim Lessing 1766;
schen und literaturkritischen Schriften mit Verve gegen die damals als mustergültig angesehene französische literatur - namentlich gegen das französische Drama - polemisiert und dieser reglementierten und rheto risch orientierten klassizistischen Form der Dichtung die Griechen und Shakespeare als die wahren literarischen Musterbilder gegenübergestellt. Die Kritik Herders und Lessings war in Deutschland überaus folgen und erfolgreich: Shakespeare und die Griechen bestimmen im 19. Jahr hundert
im
wesentlichen die geistige Kultur Deutschlands und verhelfen
ihr zu triumphaler Eigenständigkeit und Größe, nachdem sie
im
18. Jahr
hundert wegen der Dominanz des Französischen kaum zu eigener Ent wicklung zu gelangen vermochte. Noch bedeutsamer als die Begegnung mit Shakespeare, der durch die Ü bersetzung August Wilhelm Schlegels (1797-1810) nachgerade auch ein deutscher Autor geworden ist, war die Begegnung mit den Griechen. Daß die Griechen - um mit Jacob Burckhardt zu reden - das "geniale Volk auf Erden" seien, die
,,in
allem Geistigen" Grenzen erreicht haben, "hinter
welchen die Menschheit [ . . . ] nicht mehr zurückbleiben darf', ist eine Entdeckung des deutschen Geistes, wie er sich zu Beginn des 19. Jahr hunderts machtvoll etabliert und vielfa1tig manifestiert hat: poetisch in Goethe, Schiller und Hölderlin (um nur diese zu nennen), philosophisch in Fichte, Schelling und Hegel, literaturästhetisch und sprachwissenschaft lich in den Brüdern Schlegel und Wilhelm von Humboldt, philologisch in Friedrich August Wolf, August Boeckh, Gottfried Hermann und Friedrich Gottlieb Welcker. Diese Entdeckung des
Griechischen Wunders, wie die
His
toriker dieses Phänomen zu recht nennen, da sie es nicht erklären können, dominiert die deutsche Geistesgeschichte dann während des ganzen Jahr hunderts und kulminiert in der existential-ästhetischen Philosophie Fried rich Nietzsches, die dem archaischen Griechentum und besonders den Vorsokratikern, die er nachgerade entdeckt hat, entscheidende Denkan stöße verdankt. Was die Griechen an Hochschätzung gewannen, das verloren, wie nicht anders zu erwarten, die Römer, die bis dahin als Maßstab und Mus terbild der europäischen Kultur galten und bei den romanischen Völkern
im
Grunde heute noch gelten. Nicht so bei den Deutschen: Die Adaptati
on der griechischen Kultur durch die Römer, die damit gegebene stark klassizistisch und formalistisch ausgerichtete Art ihrer Hervorbringungen,
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Andreas Patzer
das Vorwalten von Politik, Geschichte und Rhetorik bei gleichzeitigem von Unfähigkeit kommandiertem Widerwillen gegen philosophisches Denken verfiel dem Verdikt des deutschen Geistes und mußte ihm verfal len, nachdem dieser sich so entschieden auf die Griechen eingelassen hat te. Es ist dieser im deutschen Denken tiefverwurz elte sONPfon gegen die Latinität, in der Naphtas Verachtung der lateinischen Poesie und nament lich die Verachtung Vergils gründet Die tadelnden Äußerungen über Ver gil, die die Radikalität, wo nicht Brutalität, die Naphtas terroristisches Denken kennzeichnet, einmal mehr hervortreten lassen, vers ammeln denn auch alle jene Verdikte, die die deutsche Literaturkritik gegen die römische Literatur in toto vorgebracht hat: die allzu glatte und gekonnte Manier des Versbaus (" Versifex'') , das Vorwalten der Rhetorik ("Prunkrhetor'') , die Einbeziehung der Politik in die Poesie (" höfischer Laureatus", "Speichel lecker des julischen Hauses'') und, als Gipfel, der Vorwurf seelenloser Unproduktivität (ohne einen Funken von Produktivität, Seele aus zweiter Hand) . Setrembrini hat dieser scharfen Invektive nicht viel entgegenzusetzen, insofern sein penchant zur Klassischen Latinität nicht auf den festesten Füßen steht. Der Autor deutet das an, indem er bemerkt, daß Setrembrinis "abgöttische Liebe" zu Vergil dazu geführt habe, daß er Vergil noch "über Homer stellte" (S. 384) - entschieden ein exzessives ästhetisches Urteil, nur zu erklären aus dem Geiste der Latinität, die Settembrinis zivilisations literarisches Denken prägt bis hin zu einer manifesten Voreingenommen heit in aestheticis, wie sie auch die romanischen Völker heute wohl nicht mehr billigen würden. Entsprechend schwach fällt denn auch Settembrinis Replik aus: Er verweist auf Naphtas Amt als Lateinlehrer, das dergleichen kritische An sichten über Roms größten Dichter wohl schwerlich erlaube - ein Argumentum ad horninem, das Naphta zu widerlegen ebenso leicht fällt wie im Falle von Settembrinis Verweis auf die mittelalterliche Legende vom Zauberer Vergil. Aber auch Naphtas Argumentation ist durchaus nicht schlüssig. Wenn er darauf verweist, daß die apologetischen Väter vor der Beredsamkeit Vergils gewarnt hätten, so könnte er sich auf den Rigoristen Tertullian (um 1 60 - nach 220) berufen, muß aber verschweigen, daß dessen bil dungsfeindliche Tendenz in der frühen Kirche durchaus nicht unumstrit ten gewesen ist: Die Stellung der lateinischen Apologeten zu Vergil bzw. heidnischen Literatur und Kultur überhaupt ist durchaus ambivalent, und durchgesetzt hat sich schließlich nicht die bildungsfeindliche Ten denz, sondern eine maßvolle, teils sogar bewundernde Anerkennung jener kulturellen Leistungen, die das Heidentum vollbracht hatte, bevor Chriszur
Ah Virgil, Virgill
- der Spciehellc:cker des julisehen Hauses
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tus die Wdt erleuchtete. Wäre es anders gewesen, so wäre die vorchristli che lateinische Literatur wahrscheinlich spurlos untergegangen. Der Streit um Vergil hat noch ein Nachspiel. Es ist noch einmal, wenn auch verdeckt, von Vergil die Rede im Roman, in einem jener späteren Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta, an denen nun auch Mynheer Peeperkorn teilnimmt, dessen überwältigende Persönlichkeit der Brisanz des Diskurses, wie Hans Castorp mit Erstaunen wahrnimmt, "den "Stempd des Müßigen" (S. 887) aufdrückt. Naphta verteidigt gegen Settembrini den Demokratismus der Kirche, die, anders als Römer und Germanen, auch Sklaven, Kriegsgefangenen und Unfreien die Sukzessions- und Testierfahigkeit zugestanden habe. Das sei wohl nicht ohne Seitenblick auf den Anteil geschehen, der der Kirche bei j eder Nachlaßverfiigung zugestanden habe (portio canonica), entgegnet Settembrini. Und weiter: Solche "Pfaffendemagogie" beweise ihre ungezügelte Machtgier eben gerade dadurch, daß sie versuche, "die Unterwdt in Bewegung zu setzen, wenn die Götrer begreiflicherweise nichts von einem wissen wollten" (S. 890) . Settembrini spidt hier, dem gebildeten Leser wohl bemerkbar, frei auf einen berühmten Vers aus dem siebten Buch der Aeneir (7,31 2) an: Juno, empört über das Bündnis zwischen Latinern und Trojanern, das ihre Ra chepläne endgültig scheitern zu lassen droht, beschließt, um dennoch Unfrieden und Blutvergießen zu bewirken, die Unterwdtsfurie Allecto heraufzurufen:
flectere si nequeo superos, Acheronta movebo. So wie Juno hat sich auch die Kirche, wenn man Settembrini glaubt, schließlich nicht anders zu hdfen gewußt, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, als durch die Präokkupation des Jenseits und der Schreck nisse seiner Strafen. Densdben Vergilvers hat übrigens, wie der Autor sehr wohl wußte, kein Geringerer als Sigmund Freud als Motto seinem epochemachenden Buch Die Traumdeutung (1 900) vorangestellt. Das Motto kennzeichnet die Psychoanalyse als Heraufrufung unterwdtlicher Entitäten - ein Gedanke ganz im Geiste des Romans; denn auch Dr. Krokowski, der Sedenzergliederer und spätere Okkultist, fungiert j a, nicht anders als sein Herr und Meister, Hofrat Behrens, als Unterweltsrichter (S. 90) . Aus alledem erhellt, daß sowohl Naphta wie auch Settembrini Vergil als pieCe de rtsistance heranziehen, um den größten römischen Dichter je weils in den Dienst ihrer Wdtanschauung zu nehmen. Daß diese In dienstnahme jeweils nicht ohne hermeneutische Verbiegungen, ja Gewalt samkeiten abgeht, versteht sich von sdbst und wird besonders verständ lich, wenn man in Betracht zieht, daß die Lateinische Philologie, die solche
34D
Andreas Patzer
ideologischen Kontroversen, wie Naphta und Settembrini sie austragen, nicht austragen muß, ihrerseits dennoch durchaus nicht im Stande war und ist, auch nur ansatzweise über VergiI einen hermeneutischen Konsens herzustellen. Deutlich ist auch soviel, daß VergiI im Roman nur als Chiffre und Pa radigma fungiert
für die Klassische Latinität, die für Settembrini ewiggülti für Naphta dagegen nur ein Ver
ger Ausdruck der Menschheitskultur ist,
satzstück der bürgerlich-liberalen Epoche, die demnächst abgelöst werden wird durch die Diktatur des Proletariats, das berufen ist, die Gotteskind schaft des Menschen, von der die frühchristliche und mittelalterliche Lati nität geträumt hat, ins Werk zu setzen. Hiernach dient die Latinität in größerem Maßstabe denselben Zwe cken wie das Paradigma VergiI: Sie eröffnet den beiden ideologischen Kontrahenten jeweils einen kulturellen Horizont, in dem sie ihre Weltan schauung jeweils entwickeln und rechtfertigen können. Indes wohnt dem Rückgriff auf die Latinität noch ein anderer, literari scher Sinn inne, der offenbar wird, wenn man in Betracht zieht, daß der Autor im Rahmen der Latinität die lateinische S p r a c h e in einem Maße zu Wort kommen läßt wie wohl kein anderer zeitgenössischer Roman
schriftsteller, auch nicht Heimito von Doderer, in dessen
Dämonen (1 956)
das Lateinische ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die großzügige Zulassung oder besser die bewußte Heranziehung der lateinischen Sprache ist wiederum Teil einer größeren literarischen Kon zeption, die sich darin ausdrückt, daß fremde Sprachen - modeme Fremdsprachen - im Text immer wieder hervortreten und so den Text nicht unmaßgeblich formen und bestimmen. Das "Internationale Sanatorium Berghof' (S.
1 5, 60, 541)
macht sei
nem Epitheton alle Ehre. Gleich eingangs bemerkt Joachim Ziemßen zu Hans Castorp, es sei nicht leicht,
im
Sanatorium Bekanntschaften zu ma
chen, "schon weil so viele Ausländer unter den Gästen sind" (S.
67).
Hof
rat Behrens zeigt sich dieser internationalen Klientel durchaus gewachsen: "er beherrschte alle Sprachen, auch Türkisch und Ungarisch" (S. 660) . Auch die Oberin erweist sich entschieden als polyglott; sie redet den erkäl teten Hans Castorp beim ersten Eintreten ftanzösisch, englisch und rus sisch an, um dann ins Deutsche zu fallen (S.
253) .
I n der Tat i s t es kaum glaublich, aus wi e vielen Ländern, Völkern und Staaten sich Patienten im Sanatorium zus amm enftnden. Wenn man dem Alphabet folgt, ergibt sich folgende stattliche Liste:
Agyp ten,
Amerika,
Armenien; Belgien, Bucharien, Bulgarien; China; Dänemark, Deutschland; England; Finnland; Galizien, Georgien, Griechenland; Holland; Italien; Kurdistan; Mexiko; Österreich; Polen; Rumänien, Rußland; Spanien,
Ah Virgil, Virgill
-
der Spciehellc:cker des julisehen Hauses
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Schweden; Tschechien; Ungarn. Hiernach muß im Sanatorium ein nachge rade babylonisches Sprachengewirr geherrscht haben. Selbstredend sind nicht alle Sprachen aller dieser Völker literarisch re levant; vielmehr hebt der Autor aus dem internationalen Sprachengemisch einige Sprachen als
für
seine literarischen Zwecke mehr oder minder be
deutsam hervor. Auffällig geringes Interesse findet das Englische. Zwar gibt es in Da vos ein "Englisches Viertel" (S. 2 1 3) . Aber unter den Patienten findet sich nur eine einzige Engländerin, Miss Robinson, mit der sich Hans Castorp in englischer Konversation versucht (S. 70f., 1 1 3) . Die Sprache selbst tritr
dann einmal in Kraft in dem geistlosen Satz "Did you ever see the devil with a night-cap on?" (S. 958), der reihum geht. Zweimal sind es dann, bezeichnenderweise, keine Engländer, die englisch sprechen, sondern einmal ein Deutscher, Joachim Ziemßen nämlich, der Hans Castorp mit den Worten "Na, go on" (S. 24)
zum
Essen drängt; ein anderes Mal ist es
ein Chinese, der Mynheer Peeperkorns abgerissene Expektorationen mit dem Llbesausruf "Very well!" (S. 832) kommentiert. Das ist alles, und es ist wenig genug. Auch wenn man berücksichtigen muß, daß die Weltgel tung der englischen Sprache als lingua ftanca zur damaligen Zeit noch wenig ausgeprägt war, so ist ihre Vernachlässigung dennoch auffällig: Sie verdankt sich offenbar der Tatsache, daß das politisch praktische und ökonomisch orientierte Denken Englands nicht in das geistige Konzept paßt, das dem Roman zugrunde liegt. Die Ungua franca der Epoche war nicht das Englische, sondern das Französische, dem denn auch in der Erzählung eine sehr viel größere Bedeutung zukommt als dem Englischen. Französisch spricht der Türhü ter zu Hans Castorp, als er sich zu spät zu Dr. Krokowskis Vortrag ein stellt (S. 1 90) . Französisch radebrecht die Mexikanerin, "tous-Ies-deux" genannt, weil ihre beiden Söhne an Tuberkulose erkrankt sind (S. 65f., 1 66-1 68, 468f.) . Französisch spricht auch der theatralische Sohn der Me xikanerin, als er gegenüber den Vettern torerohaft seinen Todesmut be kundet (S. 469) . Hans Castorp drückt der ttostlosen Mutter sein Bedauern ebenfalls auf französisch aus und versucht, wenn auch vergeblich, mit Madame Chauchat französisch zu sprechen (S. 325) . Madame Chauchat, von Hause aus Russin, ist zwar auch - wenn auch mit Einschränkungen des Deutschen mächtig, spricht aber lieber Französisch und flicht immer wieder französische Sätze
in
ihre deutsche Rede ein. Triumphal tritt
dann
das Französische in Kraft in dem langen Gespräch, das Hans Castorp mit Madame Chauchat anläßlich der Faschingsfeier führt (S. 504-520) - ein Gespräch, in dem das Französische das Deutsche immer mehr dominiert und kulminiert in Hans Castorps flammender liebeserklärung, die er
ganz
auf Französisch vorträgt, weil er das im doppelten Sinn des Wortes Unge-
342
Andreas Patzer
heure, das er zu sagen hat, im angestammten Deutsch wohl niemals über die Uppen bringen würde (S.
5 1 7-520) .
Im übrigen setzt der Autor wie bei
allen fremdsprachlichen Auslassungen so auch hier stillschweigend voraus, daß der Leser Hans Castorp riskiertes und exaltiertes französisches Uebesgestammel verstehe. Es ist daher keine kleine Insipidität, wenn die neueste kritische Ausgabe des
Zauberbergs das
französische Uebesgespräch
zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat in deutscher Übersetzung als Anhang abzudrucken
für nötig befunden hat (S. 1 086-1 098).
Auch das Spanische findet vergleichsweise großes Interesse. Zwar fin det die Mexikanerin (S.
66),
tous-Ies-deux
niemanden, der mit ihr Spanisch spricht
aber ein buckliger Landsmann, der sich später einstellt und die
Umwelt durch Asthmaanfille ängstigt, kommt immerhin einmal in den Genuß einer spanischen Unterhaltung, die der polyglotte Hofrat mit ihm führt (S.
3 1 0, 660).
Mehr Gewicht erhält das Spanische dadurch, daß der
Autor aus der spanischen Urfassung der la wörtlich zitiert (S.
674f.;
vgL S.
ExeriJtien des Ignatius von Loyo 703, 705f., 761). Das Spanische tritt so
in Verbindung mit der terroristischen Ideologie des Jesuiten Naphta, und Spanien selbst erscheint als westlicher Vertreter außerhumanistischer Denk- und Lebensformen: :Mit seiner vornehmen Formhaftigkeit und Todesstrenge ist es Gegenbild und Kontrapost zum slawischen Osten, der ebenfalls, wenn auch in gegensätzlichem Sinne, von der humanistischen :Mitte Europas abliege (S.
760f.; vgL
S.
446).
Hiernach kann nicht verwundern, daß der Autor dem Russischen gro ßes Interesse entgegenbringt. Die Russen stellen dem Sanatorium offenbar auf Dauer ein besonders großes Kontingent an Patienten. Das zeigt sich an der Institution des "Guten" und des "Schlechten Russentisches", die im Verlauf der Erzählung immer wieder in Erinnerung gebracht wird (S.
1 20, 206, 2 1 9, 3 1 9, 438, 453, 455, 641 . 830 & 3 1 6, 320, 347, 494, 797, 1 072, 1 083) . Dementsprechend viel wird denn auch im Sanatorium Rus
sisch gesprochen. Gleich zu Anfang trifft Hans Castorp auf eine große Familie mit Kindern, die Russisch sprechen (S. Dr. Krokowski
(nomen est omen)
71).
Russisch spricht auch
mit dem unmanierlichen russischen Ehe
paar, an dessen geschlechtlichen Aktivitäten Castorp Anstoß genommen hatte (S.
1 25f.,
zwar ausschließlich, spricht das Mädchen
zur
Morgenstunde Hans
vgL S.
22, 63f.). Russisch, und Marusja (S. 1 06f.) die letzte -
Uebe Joachim Ziemßens, der seinerseits Russisch lernt, weil er sich davon Vorteile im militärischen Avancement verspricht (S.
1 01).
Russisch, wenn
auch nicht ausschließlich, spricht natürlich die Russin Clawdia Chauchat, der Hans Castorp in heilloser Uebesleidenschaft verfallen ist. Aus Uebes interesse läßt er sich denn auch von Anton Karlowitsch Ferge Madame Chauchats Muttersprache vorsprechen und läßt das "wildfremde, verwa schene und knochenlose Idiom" auf sich wirken (S.
472).
So oder so ähn-
Ah Vi'!,';I, Vi'!,';11
-
der Speichellecker des julisehen Hauses
343
lich charakterisiert der Autor die russische Sprache noch an zwei anderen Stellen (S. 1 77 & 347) . Der äußere Eindruck der Sprache wird betont, weil er auf den Geist verweist, dem sie dient, als welcher ein Geist nachlässiger Weichheit und Formlosigkeit sei, ein Geist der Todesauflösung und inso fern das außerhumanistische östliche Pendant und Gegenstück zur außer humanistischen Formenstrenge Spaniens (S. 760f.). Der Italiener Settembrini repräsentiert die Italianiu so vollkommen, daß andere Italiener neben ihm erst gar nicht erscheinen und ebensowenig erscheinen können wie Franzosen, weil das Französische als eigentlicher Träger der zivilisationsliterarischen Ideologie eben durch das Italienische ersetzt wird und stattdessen als Iingua franca der Sanatoriumseinwohner fungiert. Dementsprechend bedeutend ist die Rolle, die dem Italienischen als Stellvertreter des Französischen im Roman zukommt. Als typischer Romane spricht Settembrini seine Muttersprache gerne und mit lustvollem Behagen. Schlagendes Beispiel: Er zitiert Verse des Dichters Leopardi in schönster Aussprache, ganz unbekümm ert d arum ,
daß die Vettern den vorgetragenen Text (den der Autor dem Leser vor enthält) gar nicht verstehen (S. 1 53) . Auch in Augenblicken innerer Erte gung fillt Settembrini gerne ins Italienische: so anIäßlich Hans Castorps abenteuerlicher Hinwendung zu Madame Chauchat in der Faschingsnacht (S. 504; vgl. S. 7 1 9, 878) , beim Selbstmord Naphtas (S. 1 070) oder beim endgültigen Abschied von Hans Castorp (S. 1 080) . Aber auch sonst ist das Italienische in seiner Rede so allgegenwärtig, daß man sich wundert, wieso er überhaupt Deutsch redet. Aber dieses, das Deutsche, beherrscht er wiederum so hervorragend und spricht es so fehlerfrei und makellos, daß der Leser fast wieder vergißt, daß es ein Italiener ist, der zu ihm spricht, wäre da nicht die allzu große Akkuratesse in Aussprache und �'ortwahl, die schließlich doch wieder den Romanen verrät. Das Ganze ist ein nach gerade genialer Kunstgriff des Autors, der so das Deutsche als Grund sprache in Settembrinis weitläufigen zivilisationsliterarischen Expektora tionen beibehalten kann, ohne daß je in Vergessenheit geriete, daß die Ideologie des Zivilisationsliteraten, die hier so beredten Mundes vorgetra gen wird, Ursprung und Heimat hat nichtdeutscher
im
westlichen Denken, im Geiste
Latinität.
Daß den modemen Sprachen im Roman so viel Raum eingeräumt wird, ist ebenso erstaunlich wie literarisch sinnvoll. Der hermetische Ort, der Zauberberg, in dem der Siebenschläfer Hans Castorp gefangen ist, erscheint nicht und soll nicht als einsame Höhle erscheinen, sondern als internationale Begegnungsstätte sowohl medizinischer wie mondäner Art, eine Luxusklinik, in der sich gewissermaßen
foule i'Europe zusammenfindet,
um, unter günstigsten äußeren Bedingungen, Heilung zu finden von der schlimmsten inneren Krankheit der Zeit, der Tuberkulose.
344
Andreas Patzer
Daß dieser hermetische Ort ein mondäner Ort europäischen Zu schnitts ist, ja recht eigentlich sein muß, liegt darin beschlossen, daß die Geschichte, die Hans Castorp hier als Bildungsreisender erlebt, recht be trachtet, ja nichts anderes und nichts Geringeres ist als die Bildungsge schichte der europäischen Seele, die durch die Erfahrung von Tod und Erotik - wenn sie denn solche Erfahrungen zu machen gewill t ist - zu einer neuen Humanität finden könnte, die jenseits liegt von bürgerlich liberaler und kommunistisch-totalitärer Gesinnung: "Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen", heißt es in herausgehobenem Druck, "dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken" (S. 748). Diese Erkenntnis wird Hans Castorp zuteil, dem aufnahmelustigen deutschen Jüngling, in der Todesnot des Schneesturms. Aber er vermag sie nicht noch nicht? - festzuhalten: "Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht" (S. 751). Um aber zu solcher Erkenntnis gelangen und sie womöglich dermaleinst festhalten zu können, mußte die europäische Seele, die in Hans Castorp langsam und zögernd-unvollkommen neue Gestalt an nimm t, ursprünglich und grundsätzlich jene Form und Fasson erhalten haben, die sie als spezifisch europäisch kennzeichnet und womöglich auch auszeichnet. Daß sie jene Form und Fasson der Latinität, will sagen: der lateinischen Kultur und Sprache verdankt, wer wollte es leugnen? Der Autor gewiß nicht; anders hätre er, neben den modemen Fremdsprachen, dem Lateinischen nicht so großen Raum eingeräumt in seiner Erzählung. Das Lateinische repräsentiert, wenn man eine Formel will, die i n t e r n a t i o n a l e V e r g a n g e n h e i t Europas, ohne welche Europa gar nie eine kulturelle und geistige Einheit hätte werden können. Im Streit der Ideologien um die modeme Seele Europas wird das Lateinische im Ro man in Anspruch genommen von beiden Seiten, der bürgerlich-liberalen und der totalitär-terroristischen. Ob es auch die Macht hätte, jene neue Humanität zu stützen und zu fördern, die Hans Castorp im Schneesturm ahnungsweise als Idee vorschwebte? Quaeritur.
Ah Vi'l,-il, Vi'l,�11 - der Speichellecker des julisehen Hauses
345
Iiteraturhinvveise 1.
Ausgaben
Fischer, Gottfried B.: Thomas Mann. Der Zauberbery" Stockholmer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann (SGW), Stockholm (1 939) 1 966. Neumann, Michael (Hg): Thomas Mann. Der Zauberbery,. Große kommentierte Frankfuner Au..gabe (GKrA), Bd 5.1 , Frankfurt a.M. 2002.
2.
Kommentar
Neumann, Michael: Thomas Mann. Der ZauberbefJ!.. GKrA 5.2: Kommentar, Frankfun a.M. 2002.
3.
Verzeichnis der einschlägigen Literatur (10 Auswahl)
Balonier, Hendrik: Schriftsteller in konservativer Tradition. Thomas Mann 1914-1 924, Frankfun a.M. 1 983. Banuls, Andre: Thomas Mann und sein Bruder Heinrich, Stuttgart 1 968. Breuer, Stefan: "Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen "konservatiyer Revolution", ästhetischem Fundamentalismu.. und neuem Nationalismus"; in: Politisches Denken. Jahrbuch, Stuttgart u.a. 1 997, 1 1 9-140. Buck, Augu..t: Humanismu.•. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg u.a. 1 987. Bulst, Walther: Über die mittlere Latinität des Abendlandes, Heidelberg 1 946. Cerf, Steven R.: "Thomas Mann's Leo Naphta", Seminar 25, 1 989, 22,-240. Dierks, Manfred: "Dr. Krokowski und die Seinen. Psychoanalyse und Parapsychologie", in Thomas Mann.. Zauberberg", Thomas Mann Studien 1 1 , 1 995, 1 73-195. von Eicken, Heinrich: Geschichte und System der I\fittelalterlichen Weltanschauung, Stuttgan u.a. 1 887 (Nachdr. 1913 & 1 923). Finck, Jean: Thomas Mann und die Psychoanalyse, Paris 1 973. Frizen, Werner: "Thomas Mann s Zauberbery, und die ,W e1tgedichte' der Zeitenwende", Arcadia 22, 1987, 244-269. Galvan; Elisabeth: "Bellezza und Satana. Italien und Italiener bei Thomas Mann" , Thomas Mann Jahrbuch 8, 1 995, 109-138. (i-othein, Eberhard: Ignatiu.. von Loyola und die Gegenreformation, Halle 1 895. Grenville, Anthony: ",Unke Leute von rechts'. Thomas Mann's Naphta and the Ideological Co nfluence of Radical Right and Radical Left in the Early Years of the Weimar Republic", Deutsche Vierteljahresschrift 59, 1 985, 651 -675. Hartmann, Peter c.: Die Jesuiten, München 200 1 . Heftrich, Eckhard: Die Welt 'hier oben'. Davos als mythischer Ort", Thomas Mann Studien 9, 1 996, 225-247. '
"
346
Andreas Patzer
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347
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Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstummen hindert
RENATE PIECHA (München) Der Mantuaner Vergil: Vel'8tumm L In schwarzen Lettern schweigt nun sein süßes Lied.
Auf diesen wenig erfreulichen Nenner - immerhin sind die Lettern noch vorhanden! - bringt Georg Britting in seinem Gedicht Mantua die Vergilrezeption, zwnindest was dessen Heimatstadt Mantua angeht. ! Hat er Recht? Natürlich wird Vergil nach wie vor an den Universitäten und, in ab gemilderter Form, an den Gymnasien behandelt und im weitesten Sinn rezipiert. Aber sogar in Bayern - einer unbestrittenen Hochburg des La teinuntemchts - kommen die Schüler nach diversen Reformen selbst bei Latein als erster Fremdsprache im Rahmen des verpflichtenden Unter richts nicht mehr mit einer zusamm enhängenden originalen Vergillektüre in Berührung, sondern können höchstens bei entsprechender Fächerwahl in der Oberstufe Einblicke gewinnen. Das heißt aber nicht, dass vergilische Themen nicht mehr präsent sind. Das Schicksal des Aeneas vor und nach dem Untergang Trojas gehört zu den Stoffen, die in Varian ten unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in die Lehrwerke aufgenom men werden. Diese Art der Rezeption ist aber erwartbar, sie folgt in ihrer Tendenz fachwissenschaftlichen Debatten. Für die Präsenz Vergils außer halb der Fachwelt ist sie kein echter Gradmesser. Was bleibt, wenn man schulische und universitäre Reservate verlässt? Künsderisch Interessierte mögen einmal beobachten, welche Angaben etwa Einsteller bei Ebay für Druckgrafik aus dem Bereich der Vergilillustrationen ihren Angeboten beifügen - nicht selten handelt es
Fassung letzter Hand �·on 1 965 Georg Britting. Sämtliche Werke, hl'8g. von Ingeborg Schuldr-Britting, München 1 996, Bd. 4, 273, hier zitiert nach dem 1 998 von Werner Suerbaum herausgegebenen Beiheft 4 zu der von ihm initiierten Ausstellung Ve",;1 Visuell: Werner Suerhaum (Hg.): Beiheft 4 zur Münchener VergiI-Ausstellung 1 998 Ve",;l visueH, München 1998, 19. =
350
Renate Piecha
sich dem Anschein nach um mehr oder weniger glücklich kompilierte Handbuchartikel, die erkennen lassen, wie viel - oder wie wenig - der Anbieter selbst weiß bzw. beim Publikum voraussetzt. Eine genauere Betrachtung wäre durchaus aufschlussreich. Beschränken wir die Untersuchung aber auf Druckmedien. Als Hypo these mag gelten, dass die Kenntnis schon des bloßen Namens 'VergiI' ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt. Eine Schlagzeile der BILD-Zeitung, in der Cäsar genannt wird, ist nicht völlig ausgeschlossen, weil sich eine breitere Ö ffentlichkeit unter dem Namen dieses antiken Schriftstellers (und vor allem: Politikers) zumindest vage etwas vorstellen kann. Für VergiI erscheint eine solche Verwendung abwegig. Als mögliche Fundorte für eine Vergilrezeption außerhalb von Universität und Schule kommen vorrangig solche in Betracht, die ein Publikum mit breiterer Allgemeinbil dung aufsucht. Ein kleines Florilegium mehr oder weniger deutlicher Spu ren, die VergiI in den letzten Jahren bei Lesern vor allem der Süddeutschen Zeitung hinterlassen hat, soll illustrieren, inwieweit VergiI bzw. vergilische Themen in diesem Medium präsent sind. Die Wahl der Süddeutschen Zeitung als Leitmedium, ergänzt durch weite re Zufalls funde 0m Folgenden wird, soweit nicht anders gekennzeichnet, immer auf die Süddeutsche Zeitung, SZ, verwiesen), bietet sich aus mehreren Gründen an: Sie ist eine in ihrer Kategorie auflagenstarke Publikation, als Münchner Blatt eine Heimatzeitung Werner Suerbaums und durch ein im Internet zugängliches Archiv (http://archiv.sueddeutsche.de, ab 1 992) gut erschlossen. Die Suche nach 'Vergil' führt für die Jahre 1 992-2008 zu 275 Nennungen, die nach 'Aeneas' oder, unterschiedslos, 'Äneas', der - zuge gebenermaßen nicht von VergiI erfundenen - Hauptfigut seines wichtigs ten Werkes, zu 239, die durchaus nicht immer mit den Vergil-Einträgen korrelieren (kurioserweise sind allerdings für beide Suchbegriffe manche Belegstellen mit leicht unterschiedlicher Wortzahl doppelt gelistet; weitere Begriffe wurden nicht überprüft). All diese Ergebnisse hier abzuarbeiten, ist nicht möglich; es fragt sich auch, wie aufschlussreich ein solches Vor gehen wäre. Denn zum einen wertet das Archiv offenkundig nur den re daktionellen Teil der Zeitung aus (inklusive Kreuzworträtsel, die sowohl Aeneas als auch VergiI gelegentlich erfragen), nicht aber Anzeigen; auch Abbildungen können so nicht unbedingt erfasst werden. Zum anderen besteht ein nicht unerheblicher Teil der Treffer aus Hinweisen auf diverse Aufführungen von Purcells Oper Dido und Aeneas (mitunter auch einer entsprechenden Rezension), Berichten vom Kunstmarkt zu passenden Objekten oder Lekrorelisten diverser Berühmtheiten. Eine Auswertung solcher Erwähnungen mag statistisch interessant sein, auch im Vergleich mit anderen Autoren, kann im Grunde aber nur untermauern, dass Vergil
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351
für die eine oder andere gebildete Anspielung taugt. Das tut er, wie wir sehen werden, sehr wohl. Der Streifzug auf den Spuren Vergils wird auch nicht Rezensionen von einschlägigen Fachbüchern zu Vergil oder nahe stehenden Themen berücksichtigen (die gibt es auch, z. B. am 8. September 2006 in der Süd deutschen Zeitung eine Doppelrezension von Johan Schloemann zu Niklas Holzbergs 2006 erschienenem Buch VergiJ und der Aufnahme der Aeneis, gelesen von Rolf Boysen, garniert mit Luca Signorellis Vergilporträt aus dem Dom von Orvieto), sondern völlig subjektiv und in wechselnder Ausführlichkeit die bunt gestreuten Splitter unterschiedlicher Größe und Bedeutung aufsuchen, in denen die Kenntnis von Vergil und seinen Wer ken aufblitzt. Das Spektrum ist breit. Dass sogar bloße Namen, die Vergil benutzt, nachgerade gefährlich werden können, belegen die Erfahrungen einer Mutter, die um ihr Sorgerecht kämpfen muss, da sie in den Verdacht ge riet, psychisch gestört zu sein, wobei die diagnostizierte psychische Stö rung "beispielsweise am Vornamen ihres Sohnes festgemacht wurde." Das Kind heißt Aeneas, der Amtsarzt beteuerte gegenüber der Süddeutschen Zeitung, hoffentlich nicht nur mit Blick auf den Aspekt der Namensge bung, er habe es sich wirklich nicht leicht gemacht (Artikel mit der Über schrift "Die Sache Aeneas. Bamberger Schweigemärsche für ein Kind", von Martin Zips; 23. September 2005). Welche Weiterungen sich aus die ser Namenswahl ergeben haben, erfährt der staunende Leser fast vier Jahre später genauer aus dem Artikel "Chronik eines Albtraums" von Olaf Przybilla in der SZ vom 1 8. / 1 9. April 2009 (allerdings ohne dass der Na me Aeneas fäll tD : Das Kind lebt immer noch im Heim, die Schweigemär sche dauern an, der begutachtende Amtsarzt wollte bei der Mutter nach fragen lassen, inwieweit sie sich konkret in die Mythologie vertieft hat schließlich habe sich die Geliebte des gleichnamigen Helden "suizidiert". Ein kritischer Beobachter spricht von amtsärztlicher Bildungshuberei und weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll, denn die Mutter hat als ausge bildete Konzertsängerin den Namen schlicht einer Oper entnommen, die ihr gefällt (wohl Purcells Dido und Aeneas; Vergil wird in keinem der Artikel erwähnt). Auf weitere außerliterarische Aspekte dieses Falles kann hier nicht eingegangen werden. Tröstlicherweise hält die SZ im Sportteil den Verteidiger Aeneas Wil liams (1 . Dezember 1 999) von den San Francisco 4gers und bei den Ge burten einen Julius Nikolaus Aeneas H. (9. März 2007) bereit, außerdem hin und wieder den späteren Papst Pius 11. unter seinem bürgerlichen Namen Aeneas Silvius Piccolomini (mehrfach in der lateinischen statt italienischen Namensform) und den Journalisten Aeneas Rooch.
352
Renate Piecha
Apropos Namen: Am 1 . Februar 2003 addt die Süddeutsche Zeitung ei nen zeitgenössischen Barden zum "klampfenden Hasenbergl-Vergil Willy Astor" (für Nichtmünchner: das Hasenbergl gilt in der bayerischen Lan deshauptstadt als sprichwörtliches Problemviertd), wie schon das Verbum "klampfen" nahe legt, ist die Bezeichnung ironisch zu verstehen. Gelegentlich finden sich Vergilzitate oder -reminiszenzen, sogar mit ent sprechenden Erläuterungen, um eine Aussage plastischer oder eindrückli cher zu machen, ihr wohl auch eine Art kulturellen Mehrwert zu verleihen; die genauen Fundstellen werden dabei natürlich nicht angegeben. So wird in einem Artikd zum Kosovo-Krieg die Schilderung des gefessdten Krie ges (Aen. 1 ,293-296) auf Deutsch zitiert, gefolgt vom Hinweis "Vergil, aus dessen Aeneir diese grimmig-verheißungsvolle Utopie des ein für alle mal besiegten Krieges stammt . . . " (5. Juni 1 999) . In der Rubrik ,,Aktuelles Lexikon" erfahrt der Leser zum Stichwort "Etikett": ,,Auch ein Kenner wie Vergil verzweifdte an der Menge der schon damals gehanddten Reb sorten: 'Aber wer die Zahl der Arten und Namen zu wissen begehrt, der lerne erst zählen, wie vide Sandkörner wirbelnd der Westwind peitscht durch die libysche Wüste'" (1 8. Dezember 2007, zitiert wird georg. 2,1 05f.) . Mitunter ist der Kontext eher überraschend, etwa wenn von den Bekenntnissen einer Prostituierten berichtet wird, denen ein gekürztes Vergilzitat (Aen. 6,1 26-1 29) vorangestellt ist: "Das Hinabsteigen in die Unterwelt ist leicht. Aber das Wiederaufsteigen . . . " (1 8. April 2007: ,,Ar beit muss Spaß machen. Kate Holden berichtet aus dem Leben einer Prostituierten''), oder wenn der Gerichtsreporter die Gerüchte über die Kontakte eines prominenten Mordopfers zum Rotlichtmilieu kommen tiert: "Vergil hat die Fama einmal als grausiges Wesen mit zahlreichen schwatzenden Mäulern und Zungen beschrieben" (nach Aen. 4,1 74- 1 90, zum Mordprozess Böhringer, 8. September 2007). Hin und wieder wird lateinisch zitiert, dann handdt es sich um die Klassiker des Zitatenschatzes, mit deutscher Übersetzung und explizitem Verweis auf Vergil, etwa Quos ego in einem Beitrag zum hundertjährigen Gedenken an Zolas j'acCllse (13. Januar 1 998, Aen. 1 , 1 35), Fiedere, si nequeo superos, Acheronta movebo (ritel: "Wir Kinder des Acheron", 5. November 1 998, Aen. 7,3 1 2), Quidquid id esl (Aen. 2,49, abgekürzt zitiert, deutsche Übersetzung vollständig, zur Verleihung des Friedensnobdpreises an Kofi Annan , 1 3. Oktober 2001) oder Sed fogit interea, fogit inreparabile tempus (27. Oktober 1 998, georg. 3,284). Auch in rezensierten oder direkt abge druckten literarischen Werken finden sich immer wieder einmal Vergilzitate (3. Mai 2006: Sigmund Freud schickte seinem Werk Die
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Traumdeutung Vergilverse voraus;2 24. September 2005: in der polnischen Erzählung Die Fahrradpost von Pawel Huelle rezitiert der Held den Vergilvers Ibant obSCHr7 sola sub nocteper umbras, Aen. 6,268). Recht häufig wird auf Vergil als Führer Dantes angespielt, sei es durch einen echten Vergleich (z. B. "wie einst Vergil bei Dante - als leitender Vermitder", 29. Januar 1 997; "wie Dantes Reise mit Vergil", 8. Februar 2006) oder verkappt (" Savianos Vergil heißt Xian", 1 8. August 2007; "Er trifft aber keinen Vergil mehr, keine Beatrice, nur eine minderjährige Hure nimmt ihn an die Hand", 6. Mai 2000) . Ein besonders dankbares Gebiet für die Suche nach Spuren der Antike in Zeitungen ist generell die Karikatur. Unangefochtene Dauerbrenner dieses Genres dürften nach eigenen, hier nicht weiter belegten Beobachtungen Europa samt Stier (der doppeldeutige Name 'Europa' ist geradezu prädes tiniert für die politische Karikatur� sowie die römische Wölfin mit Beglei tern sein, Kombinationen also, die nicht zuletzt durch das Mitwirken eines Tieres einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen und für vielfaItige aktuelle Assoziationen offen sind (beim Stier etwa BSE) . Die antiken Quellen, denen wir die Überlieferung verdanken, spielen dabei gar keine Rolle, die Bildkombination spricht für sich. Dass ein weiteres sehr belieb tes Motiv, nämlich das Trojanische Pferd (wieder ein auch bei karikaturis tischen Abwandlungen leicht erkennbares Tier!), bei Vergil im zweiten Buch der Aeneis vorkommt, dürfte den meisten Betrachtern unbekannt sein. Da Vergil das Trojanische Pferd nicht erfunden hat, taugt es nur bedingt zur Untersuchung der Vergilrezeption, soll aber wegen seines hohen Bekanntheitsgrades, der sich heutzutage vermutlich auch aus der Verwendung als Terminus technicus der Informatik herleitet, nicht unbe rücksichtigt bleiben. Trojanisches Pferd oder Trojaner i.S.v. 'nützlich er scheinendes Programm, das unbemerkt ein Schadprogramm installiert', ist auch Nichtphilologen bekannt. Man denke außerdem an das berühmte Diktum des latinistisch gebildeten Franz Josef Strauß, der 1 9 82 die Grü nen als trojanische Sowjetkavallerie bezeichnete. Beispiele für entspre chende Karikaturen finden sich immer wieder einmal, so etwa zwei Belege aus den letzten Jahren zur Debatte um die staatliche Datenüberwachung: Minister Schäuble in einem hölzernen Pferd, dessen Kopf der Bundesad ler bildet, 1 . /2. September 2007, von Murschetz, Beischrift: Bundes Trojaner; ein Trojanisches Pferd mit der Aufschrift "Online Durchsuchung", an dessen Tür ein mit BVG (für Bundesverfassungsge richt) gekennzeichneter Mann klopft, mit den Worten "Fahrzeugkontrolle! 2
Es handelt sich dabei Aeneis (7,31 2).
um
den oben zitierten Vers au.. dem siebenten Buch der
354
Renate Piecha
Ihre Papiere!",
28.
Februar
2008,
von Horsch, Beischrift: "Kontrolle der
Kontrolleure". Auch die Werbung nutzt das einprägsame Trojanische Pferd, wie zwei Beispide zeigen. Das erste kombiniert ein Bild der Einholung des Trojani schen Pferdes mit dem Text "Die falsche Einschätzung eines Unterneh mens kann fatale Folgen haben", es folgt ein Werbetext der Untemeh mensberatung KPMG
(1 8.
Februar
2004); im zweiten finden sich hinter in antikem Ambiente gezeichnete
dem Foto eines neuen Mazda-Modells
lachende Kämpfer vor einer Mauer, ohne Pferd, zum Text "Das Prinzip des überraschend großen Innenraums hat schon die Trojaner beein druckt" (DIE ZEIT,
9.
September
1 999) .
Beide Bdege lassen sich klar
und problemlos aus dem Mythos heraus verstehen, wobei die Autorekla me wohl die pfiffigere ist Kühner, um nicht zu sagen
für
einen Großteil
der Zidgruppe undurchsichtig, wirkt dagegen die Werbebeilage der Kauf hauskette Karstadt
(Süddeutsche Zeitung, 28.
Januar
1 997),
die zu einer mit
antikisierenden Tieren - auch Pferden - bedruckten Bettwäsche texten lässt: "Mercerisierte Wendebettwäsche in trojanischem Multi-Colordruck". Eine ursprünglich ebenfalls tierische Komponente nutzt der Karikatu rist Murschetz, wenn er Altbundeskanzler Schröder im Hinblick auf seine Betätigung
für
Gazprom umschlungen von Pipelines darstellt, mit der
Beischrift "Laokoon im Gasgeschäft", in leichter Anlehnung an die Vati
im zwei (9. April 2006) . Für die Darstel
kanische Laokoongruppe und durch das Thema mit der Episode ten Buch der Aeneis
(2,40-234)
verbunden
lung des Laokoon gilt aber, dass sie meist deutlich erkennbar mehr von der bekannten Statuengruppe als von der Schilderung bei Vergil beein flusst ist. Bezeichnenderweise verweist der Journalist Heribert Prantl, der in seinen Kommentaren in der SZ sehr gern antikes Bildungsgut zitiert und erläutert,
im
Zusammenhang mit der Föderalismusrefonn (der politi
sche Organismus der Bundesrepublik Deutschland wird seiner Meinung nach vom Föderalismus erwürgt wie Laokoon von den Schlangen, April
2004,
Titd: "Der Laokoon-Föderalismus'')
in
1 5.
seinen beigegebenen
Erläuterungen auf die Plastik, nicht auf Vergil. Bei einer anderen Verwen dung (zur Strategie Hdmut Kohls in der Schreiber-Affäre: das Schauspid als Ablenkungsmanöver und Vorbote des Untergangs,
3.
Februar
2000)
verweist er in der Erläuterung dagegen nur allgemein auf den griechischen Mythos. Übrigens steht zur
für
Prantl immer der Aspekt der Würgeschlange
Debatte, während Vergil eine überirdische, so nicht existente Mi
schung aus Würge- und Giftschlange schildert.
Aeneis, sondern georg. 2,490 zitiert Der Tagesspiegel in der ZEIT vom 23.
Zur Abwechslung einmal nicht die eine Anzeige der Berliner Zeitung Mai
200 1 :
Ein Handwerker mit etlichen Gerätschaften steht vor dem
Wo Britting irrte:, oder: Wie die: Presse Vergil
am
Verstumm en hindert
355
Bundesadler, Beischrift: &f'IIm cognoscere causas, darunter: ,,'Den Dingen auf den Grund gehen' - unter diesem Leitsatz informiert der Tagesspiegel direkt aus der Hauptstadt . . . ". T-Mobile wirbt am 4. September 2002 in der Süddeutschen Zeitung für einen "Mobile Digital Assistant", eine "Synthese aus Pocket PC und GPRS-Handy", dessen vidfaltige Funktionen mit den branchenüblichen Schlagworten aufgelistet werden. Die im Wirtschaftsteil der SZ geschaltete Anzeige trägt die plakativ groß gesetzte Überschrift "Einer für video (yer giI) ", wobei der Name des römischen Dichters allerdings deutlich kleiner gedruckt ist. Bemerkenswertweise wird die hier angesprochene Zielgruppe - Leser des Wirtschaftsteils, nicht vorrangig des Feuilletons - ohne er kennbare Notwendigkeit mit dem Namen Vergil konfrontiert. Im Kontext der Anzeige ist das Zitat leicht und eindeutig verständlich: Das angeprie sene Gerät ist für vide Benutzer und Aufgaben zu gebrauchen. Die Origi nalstelle bei Vergil (unum pro multis, Aen. 5,81 5) steht in einem ganz ande ren Zusammenhang: Neptun lässt Venus wissen, dass Palinurus, der Steu ermann des Aeneas, sterben wird, während seine Gefährten ihr Zid Lati um erreichen werden. Der Tod des Palinurus, der von Somnus, dem Gott des Schlafes, gewaltsam über Bord gestürzt wird (5,835-86 1), ist ein Op fer, das den anderen die Erfüllung ihrer Mission ermöglicht. Dass Zitate sich aus ihrem ursprünglichen Kontext versdbständigen (sonst wären sie als Zitate ja nicht brauchbar), ist natürlich nicht ungewöhnlich. Im Fall der T-Mobile-Anzeige bleibt offen, ob die Namensnennung hier ein unreflek tiertes Bildungszitat ist, das der Anzeige und ihren Adressaten einen ge wissen kulturellen Mehrwert verleihen soll, oder ob sozusagen für Kenner, denen die Originalstelle bekannt ist, noch ein kleiner Gag eingebaut sein soll. Letzteres ist vermutlich eher nicht zu erwarten. Die Gestalt des in der Werbeanzeige nicht genannten Palinurus dient dem bereits erwähnten Heribert Prand in einem Kommentar zur Bedrohung der Demokratie durch Terroranschläge als Aufhänger, allerdings mit einer gänzlich anderen Tendenz. Er beginnt den Beitrag mit der zweizeiligen Überschrift "Der 3. Oktober nach dem 1 1 . September. Dem Terror zum Trotz: Deutsche Einheit ist auch die Einheit von Alt- und Neubürgem" (4. Oktober 2001) mit den Worten "Palinurus, der sagenhafte Steuermann des Aeneas, war am Ruder eingeschlafen und musste diese Fahrlässigkeit mit dem Leben bezahlen: Im Schlaf wurde er von Bord gespült und dann von den Eingeborenen erschlagen", und folgert: "Seit dem 1 1 . September ["gemeint: 2001 , dem Tag des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York] mehren sich die Stimmen derer, die die freiheitliche Demo kratie für eine palinurische, also eine fahrlässig unachtsame Demokratie halten. " Ob die schöne Wendung "palinurische Demokratie" eine Neu-
356
Renate Piecha
prägung Prantls ist (was die mitgelieferte Erläuterung nahe legt), geht aus dem Kommentar nicht hervor. Einschlägige Intemetrecherchen verwei sen, wenn überhaupt, auf diese FundsteIle oder Zitate daraus. Im Gegen satz zur Werbeagentur von T-Mobile unterlässt Prantl einen Hinweis da rauf, woher er seine Kenntnisse über Palinurus bezieht (andere Quellen als Vergil kommen wohl kaum in Frage), setzt aber offenbar voraus, dass seine Leser mit dem Namen Aeneas etwas anfangen können. Allerdings fällt auf, dass Prantl von einem fahrlässigen Versagen des Palinurus aus geht, was ja bei Vergil durch das Eingreifen des Gottes Somnus gerade nicht gegeben ist. Im weiteren Verlauf des Zeitungsartikels wird Palinurus nicht mehr erwähnt. Missverständnisse oder schiefe Vergilreminiszenzen gibt es auch sonst. So sagt A1exander Kluge in einem Gespräch mit dem Künstler Thomas Demand über dessen Fotografie Die Grotte: "Vergil beschreibt, wie Äneas Dido in einer Grotte verführt" Cl. Juni 2006), eine Aussage, die schwerlich aus der Aeneis (4,1 60-1 68) abzuleiten ist. Auch die Erinnerung an den Unterweltsgang des Aeneas im sechsten Buch scheint in der dorti gen Dunkelheit zu verschwimmen - die Fotografin Diane Arbus bekennt über ihre Recherchen: "Du gehst hinunter, wie Orpheus, A1ice oder Ver gil" (im Kunstmarkt zitiert am 1 9. Januar 2008), und ganz ähnlich wird Freud in einer Studie zur Unterweltreise in der Literatur unterstellt, er trete "sein eigenes Unbewusstes analysierend, wie Vergil um des toten Vaters willen eine epische Unterweltfahrt an" (31 . Mai 2005, zum Vergilzitat, das Freud selbst verwendet, vgl. Anm. 2; im Epos spricht die sen Vers allerdings die auf Rache sinnende J uno, nicht Aeneas im Hinblick auf seinen Unterweltsgang). Tröstliche Vergil-Reminiszenzen bewegten die Hinterbliebenen dazu, eine am 25./26. Oktober 2008 in der SZ geschaltete Traueranzeige mit den Worten "OMNIA VINCIT Jli\10R. / Vergil" einzuleiten. Ob die so ge würdigte Verstorbene (laut Anzeige eine Diplom-Volkswirtin, keine La teinlehrerin) oder die Auftraggeber der Anzeige auf diese Weise als Vergilliebhaber erkennbar sein wollten oder ob ohne weitere Reflexion auf einen bewährten Fundus an passenden Sinnsprüchen (hier ecl. 1 0,69) zurückgegriffen wurde, mag offen bleiben. Vergils eigener Tod wird relativ breit und in durchaus unerwartetem Zus ammenhang am 1 9. Dezember 2008 in der Süddeutschen Zeitung thema tisiert. Zu Beginn eines fast ein Drittel der ersten Seite des Feuilleton-Teils fiillenden Artikels zur Problematik der Patientenverfiigungen ist Angelika Kauffmanns Gemälde "Vergil schreibt in Brundisium auf seinem Toten bett sein Epitaph" in Farbe abgedruckt. Die Bildlegende beginnt mit fol genden Worten:
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Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstumm en hindert
Es war keine Patientenverfiigung, sondern seine eigene Grabinschrift, die VergiI, Schöpfer der ,,Aeneis", auf seinem Totenbett verfasste: . . [Anm.: Es folgt eine deutsche Übersetzung des bekann ten Grabepigramms] . Doch spiegelt die Szene - das friedliche Regeln des eigenen Ablebens - den Traum aller für ihre letzten Tage. .
Im zweiten Abschnitt der Bildlegende wird auf den als Quelle dienenden Ausstellungskatalog verwiesen,3 in dem der Interessierte, sollte er den Katalog zur Hand haben und auf S. 387 nachschlagen, neben Angaben zur Geschichte des Gemäldes auch eine kurze Beschreibung der Szene und ihrer historischen Einordnung fande und so erfahren könnte, dass die Personen neben Vergil seine Freunde Varius Rufus und Plotius Tucca sowie eine trauernde Muse darstellen. Die Historizität des Geschehens wird
im
Katalog ansatzweise problematisiert �,Legende, nach der der
Dichter sich gewünscht haben soll . . . ') , in der Bildlegende gar nicht. Der '
Artikd sdbst nimm t auf Vergil keinerlei Bezug, was in Verbindung tnit der nicht ganz schlüssigen Bildlegende den Eindruck verstärkt, dass hier vor allem ein dekoratives buntes Bild als Blickfang an prominenter Stelle eingesetzt werden sollte (Im Feuilleton der
Jjjddellt.rchen Zeitung
wird tnit
Bildern häufig so verfahren) . Dassdbe Bild findet sich übrigens auch im Ausstellungskatalog der Müochener Vergil-Ausstellung
Ver;gil Virile" (Bei
heft 5, S. 1 0) , gefolgt von einem zweiseitigen Beitrag zum genannten Grabepigramm aus der Hand des Jubilars,4 der den Wahrheitsgehalt der Legende stark in Zweifd zieht.
Am
Ende der Spidzeit 2005/2006 verabschiedete sich der scheidende
Stuttgarter Opemdirektor Klaus Zehdein tnit der mehrfach rezensierten Auffiihrung einer heute
kaum
bekannten Oper, nämlich
von J oseph Martin Kraus (1756-1 792) , ursprünglich
Aeneas in Karthago
zur
Eröffnung des
königlich-schwedischen Opernhauses in Stockholm im Jahr 1 782 geplant. Die Oper galt als "Ausgrabung des Jahres" (vgl. SZ vom
4.
Oktober 2006:
"Oper des Jahres. Stuttgart zum 6. Mal gewählt'') , und allein die Geschich te dieses Werkes wäre eine eigene Abhandlung wert, sie bietet unter ande rem eine vor der Urauffiihrung vor ihren Gläubigem fliehende Primadon na, einen deutschen, von Haydn bewunderten Komponisten, der
am
Vor
abend der Französischen Revolution seinem königlichen Gönner zuliebe eine Barockoper schreibt und eben diesen schwedischen König Gustav 111., dessen Tod bei einem Attentat seinerseits als Vorlage
3 4
für
eine Oper,
Bettina Baumgärtel (Hg.): Angelika Kaufmann, Düsse1dorf u.a. 1 999. Werner Suerbaum: "Das Grabepigramm Vergils. Thema mit Variationen", in: Ders. (Hg.) : Beiheft 5 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1 998 Ve1J!i1 vUlleU, Mün chen 1 998, 1 1 f.
358
Renate Piecha
nämlich Verdis
Un
hallo
in maschera,
diente. Leider scheint keine allgemein
zugängliche Einspielung der Oper auf dem Markt zu sein, so dass eine Auseinandersetzung mit diesem Werk mangels akustischen Eindrucks notgedrungen blass und unvollständig bleiben muss. Interessenten seien auf das sehr informative Programmh e ft
zur
Aufführung verwiesen.'; Da
im Gegensatz zu den thematisch verwandten Werken von Henry (Dido und Aeneas) und Hector Berlioz (&s Troyens) kaum bekannt
die Oper Purcell ist
und
daher
eine
reizvolle
Alternative
zur
Behandlung
von
Vergilrezeption in der Musik darstellt, mögen einige Informationen, die sich dem Programmheft entnehmen lassen,6 der Auswertung einschlägiger Rezensionen vorangehen. Der schwedische König Gustav In. (reg.
1771-1 792),
ein Neffe Fried
richs 11. von Preußen, orientierte sich aufgrund seiner Erziehung am Vor bild des französischen Hofes. Aus kulturpolitischen Erwägungen und persönlichem Interesse heraus skizzierte er selbst einige Libretti zu natio nalen oder antiken mythologischen Themen. Für Aeneas in Karthago, dessen Libretto von Johan Henrik Kellgren ausgeführt wurde, verarbeitete er außer Vergils von
1 734,
Aeneis Jean-Jacques Le Franc Marquis
de Pompignans
Didon
eine den Regeln des französischen Barocktheaters verhaftete
Tragädie.7 Da der Aeneas Vergils nach den damaligen höfischen Idealen den Zeitgenos sen als treuloser Liebhaber, schwacher Prinz und ängstlicher
Le Franc de Pompignan markante Änderungen honnCte homme etablieren. So kämpft er vor seiner Abrei
Frömmler erschien, nahm vor, die Aeneas als
se erfolgreich gegen den Nurniderkönig Jarbas und rettet damit seine mo ralische Integrität, da er Dido nicht schutzlos dessen Angriffen überlässt. Übrigens verzichtet Le Franc de Pompignan wie später Berlioz in &s
Troyens,
aber
im
Gegensatz zur schwedischen Oper, auf den Götterapparat
des Epos. Vergleicht man Kellgrens Fassung direkt mit Vergil, so fill t besonders auf, dass Dido Aeneas schon seit einer Begegnung vor Zeiten in Tyrus liebt und erst nach dieser Begegnung Sychaeus geheiratet hat. Dieser erscheint als Unheil verkündender Schatten ausgerechnet in der Grotte, in der Aeneas Dido gerade gestanden hat, dass er sich als mittello-
5
6 7
Staatsoper Sruttgart, Spielzeit 2005/06. Joseph Marrin Kraus. Ameas in Karlha.i(o. Premiere: 2. Juli 2006; auf Anfrage wurde mir von der Staatsoper Sruttgart freundlicherweise ein Exemplar zugänglich gemacht, es enthält auch das deutsche Libretto. Vgl. vor allem den Originalbeitrag von Ida Elling Magnus: "Blütezeit. König Gustav 111. von Schweden und die gustavianische Epoche", 60-66. Vgl. dazu und zum folgenden Vergleich der Werke von Le Franc de Pompignan, KeUgren und Vergil insgesamt besonders den Originalbeitrag von Katharina Strein: "Epos, Ehre und Empfindung", S. 51 -59 im erwähnten Programmheft; den Originaltext der Didon habe ich nicht eingesehen.
Wo Britting irrte:, oder: Wie die: Presse Vergil am Verstumm en hindert
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ser Flüchtling ihr nicht ebenbürtig fühlt. Die dennoch anberaumte Hoch zeit der beiden im Tempd wird durch ein Erdbeben verhindert, und wie bei Le Franc de Pompignan tötet Aeneas Jarbas, bevor er abfährt. Dido wird - als Beschützerin Karthagos, wie Iris verkündet - von Jupiter in den Olymp aufgenommen. Natürlich steht nicht zu erwarten, dass Rezensionen der Inszenierung sich ausfiilu:licher mit den rezeptionsgeschichtlichen Aspekten des Stückes befassen. Vergleicht man die Rezensionen von Volker Hagedorn in der ZErfK und Wolfgang Schreiber in der SZ,9 fall t aber auf, dass Hagedorn Vergil überhaupt nicht erwähnt, und in der Legende zum beigegebenen Bild aus dem Finale der Oper von "griechischen" Göttern die Rede ist, obwohl im Rezensionstext Juno, Jupiter, Venus usw. genannt werden (dassdbe Bild verwendet übrigens auch die SZ) . Es bleibt zu hoffen, dass nur Schlampigkeit und nicht grundsätzliche Unkenntnis die Ursache einer solchen Fehlleistung ist. Immerhin wird der große Dialog zwischen Dido und Aeneas, der dem Entschluss zur Abreise vorausgeht, in Anlehnung an den - wie passend! - schwedischen Filmregisseur Ingmar Bergman und nebenbei durchaus in der Tendenz Vergils als "Szene einer Beinahehe" charakterisiert. Dagegen fall t der Name 'Vergil' bei Wolfgang Schreiber an markanter Stelle, fast genau in der Mitte des dreispaltigen Textes, nach einer Zwischenüberschrift. Vergils Aeneis wird als "Gründungsmythos des römischen Reichs" bezeichnet, die Zwischenüberschrift "Gründung Roms emotional" könnte allerdings schon eher in dem Sinn verstanden werden, wie es weiter unten (und ähnlich auch bei Hagedorn) dann tatsächlich ausgeführt wird: "Venus . . . bekämpft Dido, weil sie Aeneas Rom gründen lassen will . " Das ist bekanntlich nicht die von Vergil geschilderte Variante, der bis zur Gründung Roms ein paar Generationen mehr ansetzt, ergibt sich aber aus dem deutschen libretto (dritter Akt, sechste Szene, S. 82), in dem die Personifikation der Ehre Aeneas in recht poetischer Syntax ins Gewissen redet: ,,Aeneas, weißt du nicht, was du versprachst und ehrtest, und deiner Götter Sturz und Griechenlands Verrat, die Herrschaft über Rom, die dir versprochen ist?" Ansonsten schildern beide Rezensenten, was angesichts der Umstände nahe liegt, mehr oder weniger ausführlich die Entstehungsgeschichte des Werkes und geben Informationen zum Komponisten und seiner musikge schichtlichen Einordnung; auch Personalprobleme im Vorfdd der aktud-
8 9
"Genialer Pechvogel. Mit 224 Jahren Verspärung wurde in Sruttgart die Oper 'Aeneas in Karthago' von Joseph Martin Kraus uraufgeführt", 6. Juli 2006. "Die Quadratur des Kreises. Merkwürd'ger Fall : Die riesige 'Aeneas' -Oper von Joseph Martin Kraus in Sruttgart", 4. Juli 2006.
360
Renate Piecha
len Aufführung sowie natürlich deren künstlerische und musikalische Gestaltung werden angesprochen. Wer sein schwärmerisch-romantisches Italienbild revidieren will, möge zu Karl Victor von Bonstettens Schriften über Italien 1800-1808 greifen, deren neue historisch-kritische Ausgabe am 1 4. Oktober 2008 in der Literatur beilage der SZ vorgestellt wurde. Der Autor Bonstetten schildert im Ge gensatz zu manchen Zeitgenossen seine Eindrücke vom aktuellen Italien, d. h. von seiner Reise in den Jahren 1 802/ 1 803 offenbar sehr kritisch, was Klima, Land und Leute angeht - daher auch die Überschrift der Rezensi on: "Im Süden ist die Luft so schlecht", Untertitel: "Nur mit Vergils 'Aeneis' in der Hand kann man überhaupt frei atmen . . . "), so dass Dieter Richter, der Verfasser der Rezension, sich fragt, ob man als "gebildeter, reisefroher Mensch in einem solchen Italien glücklich werden" kann . Er fahrt fort: Bonstetten kann es. Denn er ist mit Vergils ,,Aeneis" in der Hand unterwegs, und die Lektüre entführt ihn in eine Zeit, in der hier noch blühende Landschaften (siel) waren und Aeneas, aus dem zerstörten Troja kommend, an Latiums Küste ein Weltreich begründete. "Reise über den Schauplatz der sechs letzten Bücher der Aeneis": So lautet der Untertitel des ersten Teils der "Reise nach Latium", und Bonstetten ist damit zum Vorläufer einer lektüregeleiteten Archäologie im Sinne eines Heinrich Schliemann geworden. WIe dieser aus seiner Homer Lektüre zu den Spuren des historischen Troja fand, so hat es sich Bonstetten in den Kopf gesetzt, die ,,Aeneis" als historisches Buch zu lesen und die Schauplät ze der sechs letzten Bücher, beginnend mit der Landung des Aeneas an der Tibermündung, geographisch in der realen Landschaft zu verorten. "Erinne rungslandschaften" hat Ekkehard Stärk jene imaginativen Bilder von Italien Reisenden genannt, die "einen poetischen Blick auf die Landschaft und einen to pographischen Blick in die Dichtung" warfen.
Inwieweit Bonstetten eventuell der erste oder ein besonders wichtiger "Vorläufer einer lektüregeleiteten Archäologie" ist, mögen andere beurtei len. Es ist aber nicht ohne Reiz, VergiI und sein literarisches Vorbild Ho mer in dieser Weise verbunden zu sehen, zumal beide nicht nur in dersel ben Gattung dichten, sondern auch der von den beiden Epikern behan delte Stoff enge inhaltliche Verbindungen aufweist. Dass Bonstettens Ansatz in gewisser Weise zeittypisch ist, beweist die Existenz von Bilder zyklen aus dem 1 8. und 1 9. Jahrhundert, die als Vergilillustrationen ge dacht waren, aber gerade nicht in der Art von Historienbildern antike Helden oder auch nur antike Bauwerke wiedergeben, sondern zeitgenössi sche italienische Landschaften - gegebenenfalls mit Ruinen -, wogegen schon Goethe 1 820 polemisierte, als er Friedrich Gmelins Kupferstiche zu Vergil kritisierte:
Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Veq,�1 am Verstumm en hindert
361
So sehr man aber auch hier seine Nadel bewunderte, so sehr bedauerte man, daß er solchen Originalen habe seine Hand leihen müssen. Diese Blätter, zur Beglei tung einer Prachtausgabe der 'Aeneis' von Annibale Caro bestimmt, geben ein trauriges Beispiel von der modemen realistischen Tendenz, welche sich haupt sächlich bei den Engländern wirksam erweist. Denn was kann wohl trauriger sein als einem Dichter aufuelfen zu wollen durch Darstellung wüster Gegenden, wei che die lebhafteste Einbildungskraft nicht wieder aufzubauen und zu bevölkern wüßte? Muß man denn nicht schon annehmen, daß VirgiI zu seiner Zeit Mühe gehabt, sich jenen Urzustand der lateinischen Welt zu vergegenwärtigen, um die längst verlassenen, verschwundenen, durchaus veränderten Schlösser und Städte einigertnaßen vor den Römern seiner Zeit dichterisch aufzustutzen? Und bedenkt man nicht, daß verwüstete, der Erde gleichgemachte, versumpfte Lokalitäten die Einbildungskraft völlig paralysieren und sie alles Auf- und Nachschwungs, der al lenfalls noch möglich wäre, sich dem Dichter gleichzustellen, völlig berauben?'O
Sachkundigen Freunden verdanke ich nicht nm den Hinweis auf Goethe, sondern auch die Bekanntschaft mit einem solchen lliustrationszyklus . l 1 Das Bändchen bietet zwar keinerlei Vergiltext, gibt aber zu den lateinisch und italienisch verfassten Bildunterschriften die passenden Vergilstellen an, z. B.: "Palinurum . Palinmo. Aen Lib VI 337". Der Eindruck der Ab bildungen ist nicht gar so deprimierend, wie Bonstetten und Goethe er warten lassen, wozu auch die Staffagefigmen beitragen. Überhaupt steht die heutige Vergilphilologie Bildern bekanntlich dmchaus nicht abweisend gegenüber. Nach den vorliegenden Stichproben ist Vergil samt seinem Werk - er staunlicherweise? - nicht nm im Feuilleton, sondern bis in die Werbung hinein immer noch (oder besser: immer einmal wieder) visuell wie textuell präsent, auch wenn sein Name manchmal gar nicht genannt wird, obwohl er doch für Aeneas, das Trojanische Pferd oder Palinurus sicherlich die wichtigste zugrunde liegende Quelle bildet. Eine grobe Kenntnis der Aeneis wird gelegentlich vorausgesetzt, mitunter das nötige Hintergrund wissen mehr oder weniger philologisch korrekt referiert. Dieses Werk wird auch am breitesten rezipiert, vielleicht, weil es dmch seine epische Hand lung am bekanntesten ist. Manche Fundstellen sind von Tod und Trauer überschattet (obwohl gerade das Zitat in der Todesanzeige eine erfreuli10 Johann Wolfgang von Goethe, Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sons tigen Bekenn tnisse, hrsg. von Peter Boerner, dt\--Gesamtausgabe Bd. 30, I\Iün chen 1 962, 254f. 1 1 Fünfzig Bilder zu Virgils Aeneide, gestochen unter der Leitung von Carl Ludwig FrommeI, KarL.ruhe, ohne Jahr. Näheres zu diesem wohl 1 827 oder 1 828 er schienenen Werk, eventuellen Vorläufern, Abhängigkeiten und Goethes Kritik erfährt man bei Werner Suerbaum: Handbuch der illu.trierten Vergil-Ausgaben 1 502-1 840, Hildesheim 2008, 624-628, Nr. VP 1 827A.
362
Renate Piecha
chere Perspektive eröffnen will) - Vergil ist nun einmal kein Dichter, mit dem man landläufig Vergnügen und Heiterkeit assozüert. Formal handelt es sich, wie bei Zeitungen nicht anders zu erwarten, bei einigen Erwäh nungen von Vergil oder seinen Themen nicht um Rezeption im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem Vergiltext, sondern sozusagen um eine Rezeption zweiten Grades, etwa wenn implizit oder explizit auf Dante, Freud, Bonstetten oder Operninszenierungen rekurriert wird. Dass Vergil hie und da präsent ist, bedeutet aber noch lange nicht, dass die Verwen dung von Anspielungen oder Zitaten den Vergilkenner überzeugt, haben sie sich doch mitunter sehr weit von dem ursprünglichen Kontext ent fernt. Aber die Rezeption eines Autors ist grundsätzlich frei und nicht an philologische Diskussionen gebunden. Für den Vergilliebhaber bleibt die beruhigende Tatsache, dass zumindest in den Blättern Stände Vergil noch lange nicht völlig verstummt ist.
für
die gebildeten
Von Troja nach Gondor. Tolkiens "The Lord of the Rings" als Epos in vergilischer Tradition
SILKE ANZINGER (M:Üflchen) Tolkiens um of the Rings (im Folgenden: LR) l ist das erfolgreichste Werk der fiktionalen literatur im 20. Jahrhundert. Als es erschien, hätte ihm niemand diesen - oder überhaupt einen - Erfolg vorausgesagt; der Verlag rechnete fast mit einem Verlustgeschäft.2 Es stand in keiner Tradition, und die Rezensenten wussten nicht, womit sie es vergleichen sollten. Die wohlwollenden meinten, dass es heroisch sei, und C.S. Lewis, ein Freund des Autors, war so mutig oder so unklug, auf Ariost zu verweisen, was bei den Kritikern einen Sturm von Hohn und Enttüstung hervorrief.3 Diese hidten es nämlich für ein Kinderbuch, gerade anspruchsvoll genug, um einer Siebenjährigen vorgdesen zu werden.4 Es handdt sich um eine tausend Seiten lange Abenteuererzählung (zur Gattungsfrage später), die in einer erfundenen Wdt namens Mittderde spidt. Diese Wdt wird bevölkert von Menschen und verschiedenen nichtmenschlichen Völkerschaften, die man teils aus Märchen und Sagen kennt oder zu kennen glaubt (EIben, Zwerge, Trolle), die ansonsten aber
2 3
4
Am Ende dieses Aufsatzes ist eine Inhaltsübersicht zum LR beigefiigt, auf die gelegentlich verwiesen wird, anstatt den Text mit Erklärungen von Namen und Zusammenhängen zu bela..ten. Kenner des LR mögen diese Hinweise einfach ig norieren. Der LR wird im Folgenden nach Buch und Kapitel zitiert. Die Seiten zahlen sind nach der einbändigen Paperback-Ausgabe (1 1 968, viele Nachdrucke) angegeben. Zusätzlich werden die Seitenzahlen der verbreiteten drei bändigen deutschen Übersetzung von Margaret Carmux angegeben. Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie, München 1 99 1 , 245f. Vgl. Carpenter, 1 991 (wie Fußn. 2), 249; 250ff.; über den Ariostvergleich im besonderen spottet Edmund WlIson in seiner Rezension "Die bösen, bösen Orks", in: Helmut W. Pesch (Hg.): J .R.R. Tolkien. Der Mythenschöpfer, Meitingen 1 984, 51 -56, hier 52. Wilson (wie Fußn. 3); vgl. auch die Rezension von Edwin Muir, zit. in: Carpenter, 1991 (wie Fußn. 2), 254.
364
Silke Anzinger
ebenfalls erfunden sind (Hobbits, Orks, Ents).5 Sie hat ihre eigenen Spra chen, die sich nicht nur in den elbischen Orts- und Personennamen nie derschlagen, sondern die inso fern tatsächlich existieren, als Tolkien sie erfunden und in einigen von ihnen sogar Gedichte verfasst hat. Tolkiens Welt hat zudem ihre eigene Geographie, eine Mythologie und eine Ge
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schichte, die von der Schöpfung der Welt bis in das Jahr Dritten Zeitalters reicht, in dem die Handlung des
LR
des
hauptsächlich
spielt. Die älteren Mythen und Geschichten sind für das Verständnis der Handlung wichtig - ebenso wie die Kenntnis der Sagen um den Trojani schen Krieg nötig oder von Vorteil ist, um die Handlung der verstehen - und werden
im LR oftmals
Aeneis
zu
nacherzählt oder angedeutet: und
"nacherzählt" ist wörtlich zu verstehen, denn Tolkien hatte an den Sagen des "Ersten Zeitalters" bereits zwanzig Jahre gearbeitet, als er mit dem begann.6 Schon diese kurzen Hinweise zeigen, dass die Welt des
LR
LR
eine sa
genhafte oder mythische, aber ganz offensichtlich nicht die der griechi schen oder römischen Antike ist. Die Helden, nämlich der Hobbit Frodo und seine Gefährten, begeben sich auf eine Fahrt wie Odysseus, Jason oder Aeneas, und begegnen dabei den erstaunlichsten Fabelwesen, aber
5
6
Tom A. Shippey hat in seinen Büchern J.R.R. Tolkien. Author of the Century, London 2000 (dt. 2002) und noch gründlicher in dem älteren The Road to Midd le Earth, London 1 982 (dt. 2008) allerdings gezeigt, dass die Namen dieser Völ kerschaften zum Teil aus endegenen angelsächsischen Quellen stammen und sehr oft ein philologisches Problem aufgreifen, für das die Darstellung im LR gewis sermaßen eine Lö sung anbietet. "Erfunden" sind aber letztlich alle Völkerschaf ten insofern, als Tolkien ihnen in seiner Mythologie Beschreibungen und Rollen nach eigenen Vorstellungen 2IJWeist: Besonders deutlich ist das bei den EIben, bei denen Tolkien davon überzeugt war, dass seine Interpretation ihrer "ursprüngli chen" Gestalt und Charakter näher sei als die verniedlichten ßlumenelfen in Kin derbüchern, die er hasste (vgl. John R. R. Tolkien (un Folgenden: J.R.R.T.): "On Fairy-Stories", in: J.R.R.T.: The Monsters and the Critics and Other Essays, Lon don 2006 [= 1 936], 1 09-161 , hier 1 1 1). Das Silmarilliofl, das diese Sagen enthält, war vor dem LR fertig, und eine Zeirlang bestand Tolkien darauf, die beiden Bücher gemeinsam herauszubringen, da der LR ohne die Sagen des Ersten Zeitalters nicht zu verstehen sei. Der Plan zer schlug sich, und nach der Veröffentlichung des LR begann Tolkien von neuem, das Silmarilliofl umzuschreiben, um es dem LR anzupassen und neue Gedanken aufzunehmen. In seiner jetzigen Fassung wurde es postum von Tolkiens Sohn Christopher zusammengestellt und herausgegeben. Außerdem gibt es auch die Aflhäfl/1,e zum LR (zuerst mit der zweiten, überarbeiteten Auflage des LR 1 966 er schienen), in denen Tolkien für Interessierte detaillierte Zusatzinformationen zu sammengestellt hat: etwa die Annalen der Könige und Herrscher des Zweiten und Dritten Zeitalters, Zeittafeln, Familienstammhäume, Alphabete und anderes mehr.
Tulkicns The I..orrI of the Rings als Epus in " crgilischcr Traditiun
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Zyklopen und Zentauren, Nymphen und Nereiden sind nicht darunter. Dennoch ist der LR. von der Aeneis Vergils stark und tiefgreifend beein flusst. In welcher Weise, wird im Folgenden gezeigt werden.
1 . Einflüsse und Quellen Tolkiens Es besteht kein Zweifel, dass Tolkiens Welt und mythische Erfindungen sich in erster Unie den Epen, Sagen und Märchen Nordeuropas verdan ken. Er selbst war in den Dreißiger und Vierziger Jahren des 20. Jhs., als er am LR. schrieb, Professor fiir Angelsächsisch in Oxford, daneben be schäftigte er sich auch mit dem Isländischen, Finni schen, Gotischen, Wa lisischen und der jeweiligen Uteratur in diesen Sprachen. Von der angel sächsischen Uteratur ist besonders das Beowuif-Epos hervorzuheben, über das Tolkien 1 936 einen noch immer bedeutenden Aufsatz veröffentlichte: dieses und andere Themen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit haben auch sein literarisches Schaffen beeinflusst. Die Sekundärliteratur zu den 'Quel len' des LR. nennt außerdem unter anderem das Kalevala, das Mabinogion, die Sigurdsagen, die Ältere Edda, die Wölsungensaga sowie die Artusepik.7
2. Klassische Literatur und Mythologie, besonders Vergil Auch Einflüsse der antiken Mythologie und Geschichtsschreibung sind nachgewiesen worden,8 aber es kann kein Zweifel bestehen, dass diese zumeist marginal sind. Sofern es sich um ein Einzelmotiv oder eine Per sonenkonstellation handelt, stellt sich außerdem die Frage, auf welchem Wege es in Tolkiens Werk gelangt ist: direkt oder auf Umwegen? Gibt es das Motiv nicht auch und vielleicht näherliegend in der Uteratur, mit der
7
8
Neben den Büchern von Tom A. Shippey, der sich vor allem mit den Reflexen angelsächsischer Wörter im LR beschäftigt (vgl. Fußn. 5), seien genann t: Verlyn Flieger: Medieval epic and romance motifs in J.R.R. Tolkien's The Lord of the Rings, Ann Arbor 1 977; Robert Giddings u.a.: J.R.R. Tolkien. The Shores of Middle-earth, London 1981 . Die keltischen Einflüsse untersucht Dimitra Fimi, "Tolkien's 'Ce1tic' type of legends: Merging Traditions", in: Tolkien Studies 4, 2007, 51-71 . Z.B. Miryam Librin-Moreno, "Parallel Lives: The Sons of Denethor and the Sons of Telamon", in: Tolkien Studies 2, 2005, 1 5-25; dies., "Greek and Latin Amatory Motifs in Eowyn's Portrayal", in: Tolkien Studies 3, 2006, 73-97; James Obertino, "Barbarians and Imperialism in Tacitu.� and The Lord of the Rings", in: Tolkien Studies 3, 2006, 1 1 7-1 3 1 .
366
Silke Anzinger
sich Tolkien nachweislich und intensiv beschäftigte? Viele Motive der antiken Mythologie und Epik sind im Mittelalter wiederaufgenommen, den jeweils einheimischen Erzählungen adaptiert und mit anderen Gestal ten verbunden worden. Muss man nicht, wenn man eine Verbindung von der Antike zu Tolkien herstellen will, jeweils auch dieses 'Missing Link' suchen? Tolkien ist natürlich mit der klassischen literatur aufgewachsen. Er konnte Latein und Griechisch und studierte ein Semester Klassische Phi lologie, bevor er sich seiner wahren und bleibenden Leidenschaft, dem Altenglischen, zuwandte. Vergil kennt er gut, in seinem BeollJll(f-Aufsatz (1 936) nimmt er Bezug auf ihn und vergleicht ihn mit dem BeollJll(f Dichter.9 Ein oder zwei Jahre später begann Tolkien mit der Arbeit am LRl0 Und wiederum einige Jahre später, als er gerade an den Kapiteln schrieb, die jetzt Buch IV bilden, hatte Tolkien Gelegenheit, seine Kennt nis des römischen Klassikers wiederaufzufrischen, denn sein Freund C. S. Lewis arbeitete 1 943/44 an einer Vergilübersetzung, aus der er bei ge meinsamen Treffen VOrtrug.1 1
3. Forschungsliteratur
zu
Tolkien und Vergil
Dass die Kenntnis Vergils in Tolkiens eigenem erzählerischen Werk Spu ren hinterlassen hat, muss also nicht verwundern. In der Forschungslitera tur zu Tolkien wird auch gelegentlich darauf hingewiesen: Die 2006 er schienene Tolkien-Enzyklopädie weist ein Lemma "Vergil" auf;1 2 es gibt
9
).R.R.T.: "Beowulf, The Monsters and the Critics", in: J.R.R.T., 2006 (wie Fußn. 5), 5-48, hier 22; 24ff.; 27f. 10 Das erste Kapitel, ,,A long-expected Party", schrieb er bereits im Dezember 1 937; danach allerdings war ihm sehr lange nicht klar, wie es weitergehen sollte, vgl. Carpenter, 1 991 (wie Fußn. 2), 2 1 2ff.; Interessierte seien auf Christopher Tolkiens Edition und detail1ierte Dokumentation der Vorstufen zum LR verwie sen: ).R.R.T.: The History ofMidtlk l.iol1"h, Bde. VI-IX, London 1 988-1 992, hier Bd. VI: Tht RelNm ofthe .l"hodow. 1 1 Humphrey Carpenter (ed.): The Letters of ).R.R. Tolkien, New York 2000 (zuerst London 1 981), Nr. 81 vom 23./25. 9. 1 944: "We heard [ . . . ] a long specimen of his translation of Vergi1". Bereits im September 1943 hatte Tolkien in einem unpublizierten Brief erwähnt, dass Lewis Vergil in gereimte Alexandriner über setzte (vgl. Arun. 1 zu Nr. 81). 1 2 Cecilia Bare1la: "Virgil", in: Michael D.C. Drout (Hg.): J.R.R. Tolkien Encyclope dia. Scholarship and critica1 Assessment. New York u.a. 2006, 695-696.
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
einige Aufsätze über EinzeImotive; 13 und bereits
1 986
367
ist eine recht um
fangreiche Untersuchung über Tolkien und VergiI von Robert E. Morse erschienen.14 Morse befasst sich in erster Linie mit Übereinstimmungen zwischen den Charakteren, ihren Tugenden und den Wertsystemen bei beiden Autoren: Frodo der Hobbit, der die Bürde des Rings unfreiwillig und zögernd, aber doch in der Gesinnung von
labor
und
pietas
auf sich
nimm t, entspricht dem Aeneas der ersten Eposhälfte, Aragorn, der Krieg um das Land Gondor und die Neugründung des Reiches führt, dem der zweiten. 1 ., In diesen Darstellungen wird jedoch nicht auf die Frage eingegangen,
auf welcher Grundlage der LR überhaupt mit der Ameis verglichen wer den kann : Haben wir es lediglich mit Motivübemahmen, intertextuellen
Anspielungen und mit Ähnlichkeiten in der Figurenkonzeption zu tun, oder reicht die Übereinstimmung tiefer? Welcher literarischen Gattung gehört der
LR überhaupt
an? Und falls es sich wirklich um eine Art Epos
handelt, in welcher Hinsicht steht es Diese Fragen stehen zunächst
im
als Ganzes
in der Tradition Vergils?
Zentrum, ehe an konkreten Beispielen
Bezüge zwischen der Aeneis und dem
LR aufgezeigt werden.
4. Die Gattungsfrage LR angehört, ist in der Tat alle s andere kann man es deshalb einen dem Genre der Fanta.ry oder genauer, der
Welcher literarischen Gattung der
als klar. Das Buch ist lang, es ist Prosa, aber Roman nennen? Heute wird es heroischen
Fanta.ry
(denn es gibt inzwischen zahlreiche Subgenres) zuge-
13
Obettino, James: "Moria and Hades: Underworld Joumeys in Tolkien and VirgiI", in: Comparative Uterature Studies 30 (no. 2), 1 993, 1 53-1 69; Greenman, David: "Aeneidic and Odyssean Pattern of Escape and Return in Tolkien's 'The Fall of Gondolin' and '1be Lord of the Rings"', in: Mythlore 18 (no. 2), 1 992, 49. 14 Morse, Robert E.: Evocation of VirgiI in Tolkien's Art: Geritol for the Classics, Oak Park (I11inois) 1 986. 15 Die drei Hauptkapitel sind "Frodo and Aeneas", ,,Aragorn and Aeneas" sowie "Dido and Denethor" überschrieben. Auf den letzteren Vergleich wird im Fol genden nicht weiter eingegangen, daher an dieser Stelle eine kutze Zusammenfas sung: Denethor, der Herrscher von Gnndor, seines Titels aber nur Truchsess und dazu bestimmt, von Aragorn von der Herrschaft verdrängt ZU werden, kann sich wie Dido nicht mit dem fatum anfreunden, verstrickt sich in Zauberei, verzweifelt schließlich und begeht Selbstmord (vgl. ('bersicht, § 8-9; 1 5) . Ein viertes Kapi tel, "The Nordie Myth", befasst sich mit der Rolle des fatum bzw. Schicksals in beiden Werken. -
368
Silke Anzinger
rechnet; aber eben diese Gattung existierte damals noch nicht, sondern wurde erst durch den LR geschaffen. 1 6 Zur Zeit seines Erscheinens (1 954/55) war der LR hingegen - in den Worten Shippeys - "quite clearly a sport, a mutation, a /usus naturlle, one-item category on its own". 1 7 Tolkien selbst hat das Buch ohne Gattungsbezeichnung veröffentlicht. Auch im Vorwort zur zweiten Auflage (1 966), in dem er zu seinen Inten tionen und einer möglichen "Botschaft" des Buches Stellung nimmt �,it has in the intention of the author none'') , vermeidet er jede Festlegung auf eine literarische Gattung oder Tradition. An einer Stelle bezeichnet er sich als Geschichtenerzähler, und das ist alle s: "The prime motive was the desire of a tale-teller to try his hand at a really long story [ . . . ]".18 Doch wie ist das Buch zu klassifizieren? In anderen Selbstaussagen Tolkiens, insbe sondere in seinen Briefen, stößt man auf drei Begriffe, um den LR zu bezeichnen, nämlich fairy-story, epic und rTJfIIllnce. Inwiefern können nun diese Begriffe für eine Gattungsdefinition des LR in Anspruch genommen werden? Im Jahre 1 939, als er bereits seit einiger Zeit am LR arbeitete, hielt Tolkien einen Vortrag "On Fairy-Stories" (publiziert 1 947);19 und man ches, was er darin zur Rechtfertigung des Märchens2U als einer literatur form für Erwachsene sagt, kann man auch als Erläuterung und Rechtferti gung seiner eigenen Intentionen als Erzähler ansehen. Auch nennt Tol kien in mehreren Briefen den LR eine flliry-stmy.21 Aber kann das Buch deshalb wirklich als Märchen bezeichnet werden?22 16 Freilich gab es auch vorher schon eine in der Epoche der Romantik wurzelnde Tradition phantastischer literatur und auch wnfangreiche heroisch-phantastische Erzählungen; als 'Vorläufer' der modemen Fantasy sind hier etwa die Romane von William Morris (Ende des 1 9. Jh.) und von Edgar Rice Burroughs (Anfang des 20. Jh.) erwähnenswert; Tolkien kannte und schätzte Die KiJ"ni!,stochter tIIIS W ftnlond von Lord Dunsany (1924) und Der WIII71I Ollrobllros von E. R. Eddison (1 926). 17 Shippey, 2000 (wie Fußn. 5), xvili. 1 8 LR, S. 8 [dt. S. 1 0; in der deutschen Ausgabe ist "tale-teller" mit "Märchenerzäh ler" wiedergegeben). 19 Jetzt in: J .R.R. T., 2006 (wie Fußn. 5), 1 09-1 6 1 . 2 0 Fairy-story ist freilich nicht ganz dasselbe wi e "Märchen", denn e s bedeutet "Feengeschichte", und auf diese Bedeutung geht Tolkien in seinem Vortrag aus führlich ein. 21 An eine Leserin schreibt er z.B., der unerwartete Erfolg des LR rechtfertige seinen Glauben, "that the 'fairy-story' is really an adult genre, and one for which a starvmg audience exists", J.R.R. T., Letters 1 981 /2000 (wie Fußn. 1 1), Nr. 1 59 (vom 3. März 1 955; an Dora MarshalI); vgl. Nr. 1 63, S. 2 1 6. In Nr. 1 81 , S. 232, erklärt er: "It is a 'fairy-story', but one written [ . . . ] for adults"; ähnlich Nr. 215, S. 297; Nr. 234, S. 3 1 0. Mehrfach nimmt Tolkien hierbei auch auf den Essay "On
Tulkicns The I..orrI of the Rings als Epus in " crgilischcr Traditiun
369
Tolkiens Selbstäußerungen in diese Richtung sind recht zahlreich und können nicht einfach ignoriert, doch müssen sie in ihren Kontexten be trachtet werden. In seinem Brief an Michael Straight (Nr. 1 81) beispiels weise weist Tolkien vor allem zurück, dass der LR. mit irgendeiner "Bot schaft" befrachtet sein könnte, ganz ähnlich, wie er auch im oben zitierten Vorwort zur 2. Auflage argumentiert: "There is no 'allegory', moral, politi cal, or contemporary in the work at aIl. It is a 'fairy-story' [ . . . ]". Das Wort jairy-sfory dient hier weniger als Gattungsbezeichnung denn als Negativbe griff, um bestimm te Ansprüche an das Buch zurückzuweisen: "Märchen" ist weniger ein Begriff für das, was der LR. ist, als ein Gegenbegriff zu dem, was er auf keinen Fall sein will . Es sei auch darauf hingewiesen, dass Tolkien das Wort gerne in Anführungszeichen setzt, so als sei ihm selbst klar, dass es nicht voll und ganz der Sache entspricht. In der Forschungsliteratur und von den Lesern wird die Bezeichnung "Märchen" offensichtlich nicht akzeptiert (und im allgemeinen ignoriert) und das hat Gründe: Der LR. entspricht nicht den Gattungsmerkmalen eines Märchens; vor allem ist er viel zu lang und weist eine Komplexität der Welterfindung auf, die für das Märchen - und auch die jairy-sfory gerade nicht typisch ist. So ist das Märchen typischerweise in Raum und Zeit unbestimmt,23 und derart unbestimmt fangt in der Tat The Hobbit, der 'Vorgänger' des LR,24 an: "In einem Loch am Boden, da lebte ein Hobbit": das mag man fairy-stories" Bezug und äußert in Nr. 234, das Nachdenken über Märchen habe dem LR gutgetan, denn dieser sei "a practical demonstration of the views that I expressed". (Hier und öfter geht es wn einen Vergleich zwischen dem LR und seinem 'Vorgänger', dem Hobbit, der Hohbit sei fiir Kinder geschrieben, aber das Nachdenken über Märchen habe den Autor dazu gebracht, zu begreifen, dass Geschichten dieser Art auch fiir Erwachsene erzählt werden könnten und soll
ten.)
22 Dieter Petzold: J.R.R. Tolkien. Fantasy üterature als Wunscherfüllung und Welt deutung, Heidelberg 1 980, 1 02ff., diskutiert die Begriffe nollt/ und mmanct und ge langt schließlich zu der Auffassung, dass es sich wn ein Kunstmärchen (engl. fan tarJftclion) handle. 23 Vgl. Lothar Bluhm, "Märchen", Metzler üteraturlexikon. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Auf!. hg. v. Dieter Burdorf u.a., Stuttgart u.a. 2007, S. 472-474. 24 Der Hobbit, die erste längere Erzählung, die Tolkien veröffentlicht hatte, war ein Kinderbuch, das die Abenteuer des Hobbits Bilbo auf der Jagd nach einem Dra chenschatz schildert. Das Buch wurde ein unerwarteter Erfolg, und von seinem Verleger dazu gedrängt, machte Tolkien sich daran, eine Fortset2ung zu schrei ben. Am Anfang dieser Fortset2ung standen nur Bilbo, sein Neffe Frodo, der Ring, den Bilbo auf seiner Fahrt gefunden hatte (weil der Ring nach Tolkiens An sicht als einziges Motiv im Hohbit noch nicht ausgeschöpft war), und die vage
370
Silke Anzinger
als das "Es war einmal" des Märchens verstehen. Der LR war ursprüng lich als Fortsetzung des Hobbit geplant, in der die Abenteuer des Hobbits Bilbo von dessen Neffen Frodo weitergeführt werden sollten; doch im Schreiben erkann te Tolkien allmählich, dass die neue Erzählung keine Geschichte für Kinder sein würde. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Märchen in On Fairy-Stories half ihm bei der Neukonzeption, da sie ihm deutlich machte, dass "solche Geschichten" durchaus auch Er wachsene ansprechen könnten und sollten. Daraus wird vollends deutlich, welche Bedeutung der Begriff des Märchens für Tolkien als Schriftsteller hatte: Es ist die Gattung, an die er anknüpft, weil er darin verschiedene Elemente findet, die dem entsprechen, was er erzählen will (z.B. Welter findung [slIb-mation] , Magie, Trost, Happy End) - aber das heißt nicht, dass tatsächlich ein Märchen das Ergebnis seines Erzählens ist. In welcher Hinsicht aber ist das Buch ein "Epos"? Um mit dem Ein fachsten anzufangen: eben weil es überaus lang ist. Der Autor hat viel leicht nicht den Entschluss gefasst, ein Epos zu schreiben - aber eine so lange Erzählung erfordert mehr und auch eine andere Organisation als die eines Märchens.25 Sie erfordert, dass der Autor anderes Wissen und andere Traditionen, lange Geschichten zu erzählen, zu Hilfe ruft. Die Geschichte verzweigt sich beim Erzählen, Komplexität entsteht, und die Komplexität erzeugt die intentio textus. Die Absicht des Epikers ist es nicht, Sinn be-
Idee, dass Frodo ebenfalls das Auenland verlassen sollte, um Abenteuer zu erle ben. Das erste Kapitel, A 'rm,l!;expected Party, war schnell geschrieben, doch fand Tolkien über viele Wochen keine Fortsetzung und schrieb das Kapitel wieder und wieder um, ohne dass ihn das weiterbrachte. Was fehlte, war ein Motiv: Frodo sollte das Auenland halb aus Abenteuerlust verlassen, wie Bilbo, halb aus einem handfesteren Grund: Bilbos Gold ist aufgebraucht (ein Motiv, das in der Endfas sung als Vorwand überlebt hat: Als Frodo sein Haus verkauft und wegzieht, gibt er vor, es geschehe aus Geldnot), und Frodo will nun selbst Drachengold erwer ben (ygl. J.RR.T.: His/or)' VI, 1 988 [The &turn of the Shadow; wie Fußn. 1 0], S. 41 U.ö. Eine Zusammenfassung dieser &ühen Phase bietet Carpenter, 1 991 [wie Fußn. 2], 210-21 7). Aber aus irgendeinem Grunde vermochte diese bewährte Idee die Geschichte nicht in Gang zu bringen. Erst als die I'"otwendi.l!,k$it geschaf fen war, dass Frodo seine Heimat verlässt, weil er wegen des Ringes verfolgt wird, und damit aus Abenteuer und Drachenjagd Flucht und Verbannung wur den, war die Grundidee gefunden, die von einem ' Hohhit Nr. 2' zu einem völlig neuen \X'erk führte, dem Herrn der Ri'!l!,e. 25 Bei den letzten Kapiteln des vierten Buches des LR etwa fürchtet Tolkien, er werde überhaupt kein Ende mehr finden, und spricht in diesem Zu.. arnm enhang von seinem "epischen Temperament": "I'm afraid in making my sequel too long and complicated and too slow in corning our. It is a curse haying the epic tem perament in an overcrowded age devoted to snappy bir.. !" O.RRT., Letters 1 981/2000 [wie Fußn. l 1] , Nr. 77, S. 90; vom 3 1 . Juli 1 944; ygl. l'\r. 47, S. 58).
Tulkicns Thtr I..orrI oftbe Rings als Epus in " crgilischcr Traditiun
wusst
ZU
konstruieren, sondern die
intentio textHs
zur
371
Geltung zu bringen.
Tolkien wusste das; deshalb schreibt er in seinem Vorwort - wie oben zitiert - nicht, dass seine Geschichte keine Bedeutung habe, sondern dass sie seiner Absicht nach keine habe.26 An einer anderen Stelle drückt er das deutlicher aus: "far greater thing may colour the mind in dealing with the lesser things of a fairy-story", 27 Auch die Bezeichnung
epic gebraucht Tolkien in seinen Briefen, wenn für den LR, und zwar vor allem im
gleich seltener als den Märchenbegriff,
Hinblick auf dessen Länge und Komplexität. Er nennt auch konkrete Namen: Auf Widersprüche
im LR
angesprochen, erwidert er: "There are,
I suppose, always defects in any large-scale of work; and especially in those of literary form that are founded on an earlier matter which is put to new uses - like Homer, or Beowulf, or Virgil [ . . . ]":28 Als Beispiele kom men ihm also sofort die antiken Epiker in den Sinn, und mit ihnen assozi iert er nicht nur ein langes Werk, sondern eines, das mythologisch historische Stoffe zu etwas Neuem verarbeitet und ihnen dabei - in der oben umschriebenen Weise - einen neuen Sinn verleiht. Der Unterschied ist, dass die alten Epiker ihre Mythologie überliefert vorfanden, während Tolkien die seine selbst erfunden hatte. 29
26 Zur Erzeugung von Sinn vgL etwa auch seine Auffassung über den 13towu!f Dichter: "Had the matter [d.h. die Interpretation, die Tolkien soeben vorgetragen hatte) been so explicit to him, his poem had certain1y been the worse." (J.R.R.T., Beowulf 2006 [wie Fußn. 9), 1 8). 27 ).R.R.T., Letters 1 981 /2000 (wie Fußn. 1 1), Nr. 213, S. 288. In diesem und ande ren Briefen nimmt Tolkien auf seinen katholischen Glauben Bezug; Interpretati onen von Lesern wie z.B., dass die Figur GaladrieL� und die Anrufungen an Elbereth etwas mit der katholischen Marienverehrung zu tun hätten, nimmt er zustimmend zur Kenntnis, obgleich ihm diese Bezüge im Schreiben nicht be wusst oder beabsichtigt waren. 28 ).R.R.T., Letters 1 981 /2000 (wie Fußn. 1 1), Nr. 1 56, S. 201 . 29 Ebd. Darüber hinau..� gibt es eine Reihe weiterer l:nterschiede zum klassischen Epos, vor allem die Verwendung von Prosa und das Fehlen eines "Götterappa rats" (zur antiken Gatrungsdefinition vgl. Wemer Suerbaum: VergiL� Aeneis, Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1 999, 43f.). Allerdings gibt es in Tolkien.� Mythologie so etwas wie Götter, die Valar des .I'ilmarillion, die sogar recht antik konzipiert sind; im LR treten sie zwar nicht auf, aber Andeutungen (vor allem von Gandalf, ihrem Abgesandten) verweisen auf sie. Auch die unsterb lichen EIben haben Ahnlichkeit mit Göttern. Lässt man überhaupt inhaltliche statt formalen Kriterien gelten, ist die Eposdefinition Bachtins (Formen der Zeit im Roman, Frankfurt 1 989, 220) erhellend: Gegenstand des Epos sei die nationa le Vergangenheit, die von der Gegenwart durch eine absolute Distanz getrennt sei, seine Quelle sei die nationale Ü berlieferung, nicht persönliche Erfahrung. Diese konstitutiven Elemente hat Tolkien sozu..�agen 'perfekt gefälscht'.
372
Silke Anzinger
Ein Kennzeichen epischen Dichtens ist es also
für ihn,
mythologische
Stoffe durch einen neuen Sinn zu beleben. Eine solche Erneuerung schreibt er in seinem berühmten Aufsatz dem
Beowu!fzu,
und es ist genau
dieser Punkt, in dem er den BeolVllif-Dichter mit Vergil vergleicht: Der Beowuif-Dichter stehe in einer Zeitenwende, gleichermaßen beeinflusst von den Stoffen der nordischen Epik mit der darin enthaltenen Weltdeutung wie von der neuen christlichen Lehre: nicht so, dass er den heidnischen Stoff zu einer Allegorie christlicher Auffassungen umgestalte, sondern so, dass er etwas Neues schafft, das eine Verschmelzung aus beidem darstellt. Ähnlich Vergil: "We have the great pagan on the threshold of the change of the world; and the great Qf lesser) Christian just over the threshold of the great change in his time and place: the backward
sorlemqlle animo miserahls iniqllanl'.3o Dichter bejahen in Tolkiens Sicht
view: mIlIla plltans
Der angelsächsische und der römische beide das Neue, sind aber gleichzeitig
der Vergangenheit zugewandt und voller Melancholie angesichts des unge rechten Schicksals vergeblichen Heldentums.31 Diese Charakterisierung trifft zumindest teilweise auch auf Tolkien selbst und sein mythologisches Schaffen zu. Auch er sieht sich in einer Zeitenwende, und er fiihl t sich gleichermaßen von der heidnischen Epik angezogen und dem katholi schen Glauben verp flichtet,32 den heroischen Tugenden gilt seine Sympa thie, aber seine Verbundenheit dem Lebensgefiihl der Jahrhundertwende, wie es die Hobbits repräsentieren.33
30 J.R.R.T., Beowulf 2006 (wie Fußn. 9), 24 (das Vergilzitat ist Aen. 6,332). Bei diesem Vergleich will sich Tolkien nicht einmal auf die Behauptung festlegen, dass der 13eoll'llif-Dichter Vergi1 wirklich kannte; es geht nicht um Nachahmung im Detail, die Tolkien (zu Recht) ,,inconclusive" findet, "while the real likeness is deeper and due to certain qualities in the authors" (ebd.). 31 "In fact the real resemblance of the Aeneid and Beowulf lies in a constant pres ence of a many-storied antiquity, together with its natural accomparument, a stern and noble melancholy. In this they are really akin", ebd., Arun. 21, S. 46. 32 VgL Petzold, 1 980 (wie Fußn. 22), 60ff., der meint, da.�s dieser Konflikt bei Tol kien echt sei, habe seinem Schaffen gutgetan. Dass Tolkien überzeugter Katholik war, merkt man auf der Textoberfläche dem LR nicht an, der ebenso wie der 13e ofIJlI!lauf religiöse Allegorisierung 'I.'"erzichtet; doch legte er Wert darauf, dass der LR der katholischen Lehre nicht widerspricht (vgL etwa J.R.R.T., Letters 1 981 /2000 [wie Fußn. 1 1], Nr. 1 42; Nr. 165, S. 220). 33 Die Hobbits unterscheiden sich erheblich von den heroischen Protagonisten des SilmorilJion: sie sind im Prinzip, wie Shippey 2000 (wie Fußn. 5), Sf. gezeigt hat, Engländer und sogar überraschend genau zu datieren - auf das Ende des 19. Jh. Sie stellen das Bindeglied zwischen der heroischen Vergangenheit in der Welt des LR und der Modernität des Lesers dar und vermitteln ständig zwischen beiden. Christopher Tolkien zeigt in seinem Vorwort zum 1300k of lhe Lost Taks ( J.R.R.T., Histo1)' 1-11 [wie Fußn. 1 0]), an einigen Beispielen, etwa Sams Kommen=
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
Ein besonders wichtiges Element ist dabei
für
373
Tolkien die bewusste
Erzeugung von 'Zeittiefe', die er sowohl dem Beowllif-Dichter als auch Vergil zuschreibt: Die erzählte Geschichte verweist auf eine Vielzahl unerzählter Geschichten,14 die nicht nur Kulisse sind, sondern die den Eindruck einer ganzen, komplexen, wirklich vorhandenen, sich unermess lich in Zeit und Raum erstreckenden Welt vermitteln, von der die aktuell erzählte Geschichte nur einen Ausschnitt bietet. Auch wenn der BeoWllif Dichter und Vergil sich dabei auf eine vorhandene Mythologie stützen, während Tolkien die seine zur Gänze selbst erfunden hat, handelt es sich doch in allen drei Fällen um die Erschaffung einer
nellcn Welt (slIb-creation),
ist der Eindruck ihrer Wirklichkeit das Ergebnis poetischer Kunst.15 In die Richtung epischen Erzählens weist auch der dritte von Tolkien selbst benutzte Begriff,
romance: "My work
is not a 'novel' but an heroic
romance, a much older and quite different variety of literature".16 Trotz der Bestimm theit im Ton ist auch dies keine absolute Aussage; vielmehr geht es auch hier um die Ablehnung einer Gattungsbezeichnung und der damit verbundenen Lesererwartungen an das Buch. j\lovcl hat schen eine engere Bedeutung als "Roman": Es steht
für
im
Engli
j ene Art eher
realistischer und gegenwartsbezogener Literatur, der Tolkien desinteres siert bis feindlich gegenüberstand. Er lehnt es daher ab,
am
novcl-Begriff
gemessen zu werden, und verweist auf eine ältere literarische Tradition.
Romancc
ist die englische Bezeichnung
man, insbesondere
für
für
den mittelalterlichen Versro
die Artusepik; typisch
für
sie ist die Form der
wen zu Gimlis lied über Durin, den Stammvater der Zwerge, wie erst die unbe fangenen und oft unbedarften Kommenwe der Hobbits dem Leser einen Zu gang zur fingierten heroischen Vergangenheit eröffnen: Erst durch sie wird der zeitliche und mentale Abstand dazu sowohl verdeutlicht als auch überbrückt. 34 Vgl. dazu Fußn. 31 (" many-storied antiquity''). 35 Wer den im Epos angedeute ten unerzählten Geschichten nachtrauert, weil sie scheinbar interessanter sind als das, was tatsächlich erzählt wird, der fant letztlich auf diese Kunst herein; vg!. J.R.R.T., Beowulf 2006 (wie Fulin. 9), 27f. Tolkien setzt sich hier mit der seinerzeit weithin üblichen positivistischen Interpretation auseinander, die die alten Dichter vor allem als Steinbruch benutzte, um yerlore ne Quellen zu rekonstruieren; ironisch (aber nicht nur ironisch) ruft er au': "Alas for the lost lore, the annals and old poets that Virgil knew, and only u,ed in the making of a new thing!" 36 J.R.R.T., Letters 1 981 /2000 (wie Fußn. 1 1), Nr. 329, S. 414. Bisweilen stellt er auch unterschiedliche G attungs bezeichnungen nebeneinander, wie in der ironi schen Selbstcharakterisierung in Nr. 1 65, S. 21 9: "The authorities of the uniyersi ty might weil consider it as an aberration of an elderly professor of philology to write and publish fairy stories and romances [ . . . ]".
374
Silke Anzinger
Queste-Erzählung mit Liebe und Abenteuer als HauptthemenY Als Be zeichnung
für
neuere Erzählungen hat das Wort oft eine pejorative Kon
notation - Kitsch, Unterhaltung: Nicht ohne Grund fügt Tolkien seiner Klassifizierung das Wort
heroic hinzu,
mit dem er das epische Kolorit sei
nes Werks hervorhebt und sich von seichteren, neueren und "romanti scheren" Ausprägungen der Gattung abgrenzt.
5. Wieviel "Romantik" verträgt ein heroisches Epos? Der LR kann also als Epos betrachtet werden, wobei es wenig sinnvoll scheint, diese Gattung von dem, was Tolkien
heroic romance
nennt, scharf
abzugrenzen. Die Aeneis im besonderen rezipiert Tolkien sowohl direkt als auch auf dem Umweg über den mittelalterlichen Versroman, der seiner seits auf die
Aeneis
zurückgeht. Der entscheidende Punkt ist: es ist die
Tradition heroischen Erzählens, die Tolkien erneuert, wiederbelebt, auch verwandelt; und es lässt sich zeigen, dass und in welcher Weise er sich dabei an Vergil orientiert. Der Hauptunterschied zwischen dem klassischen Epos und der
mance besteht in
zentralen Themen der
im Amadis
oder
Ro
der Behandlung des Liebesthemas. Die Liebe ist eines der
Romance,
wie in den mittelalterlichen Artusepen
oder auch in der Parodie des
Don QuichotC',
Der Held be
gibt sich auf eine Fahrt und besteht eine Reihe von Abenteuern, um am Ende die Liebe einer Dame zu gewinnen. Oberflächlich betrachtet, ent spricht bereits die
Aeneis
diesem Schema - der 'Plot', nicht aber die Aus
führung: denn Aeneas begibt sich unfreiwillig auf die Fahrt; er hatte be reits eine Familie: seine Frau ist in Troja umgekommen; auch Dido ver lässt er unfreiwillig, und die Heirat mit Lavinia, bereits im
2.
Buch gewei s
sagt, ist niemals sein Wunschziel, sondern lediglich ein politisches Zweck bündnis, das der Erzähler durch keinerlei Romantik versüßt. Das gleiche Schema liegt auch dem
LR zugrunde:
Wie Aeneas, heira
tet Aragorn am Ende die 'Prinzessin', in seinem Fall die unsterbliche Elbin Arwen. Anders als bei Aeneas ist es keine politische Zweckheirat, sondern eine aus Liebe. Arwen zu gewinnen ist von Anfang an Aragorns Ziel ge wesen, wenn nicht sein einziges18 - sein Motiv ist insofern das eines ro mantischen Ritters.
37 Zur Gattungsdefinition vgl. Christoph Sehöneich, "Romanee", Metzler Uteratur lexikon (wie Fußn. 23), S. 662. 38 Zu Galadriel (vgl. Übersicht, § 1 0) sagt er: 'Lady, you know all my desire, and long held in keeping the only treasure that I seek. Yet it is not yours to give me [ . . ]; and only through darkness shall I eome to it' (LR, 11 8, S. 395 [dt. S. 452]). .
Tulkicn. TIHr I..orrI oftbe Rings als Epus in " crgilischc:r Ttaditiun
375
Aber der Leser weiß es nicht. Es ist Aragorns Geheimnis, über das nur ganz wenige Andeutungen gemacht werden; und alle sind so formu liert, dass der Leser sie missverstehen muss.39 Einmal zum Beispiel ent deckt Frodo Aragorn, wie er in Gedanken versunken dasteht und "zu jemandem, der nicht da ist", Worte sagt, die der Leser nicht entschlüsseln kann;4{) niemand kennt den Grund seiner kurzen Geistesabwesenheit, und er scheint auch nicht weiter wichtig. 41 Aragorn erblickt Frodo, lächelt freundlich, und der Moment ist wie weggeblasen. Viele Kritiker haben moniert, dass Liebe
im LR. überhaupt keine Rolle
spielt, und sehen dies als Hauptgrund, das Ganze als Kinderbuch abzu tun.42 Indessen ist eine solche Aussparung nicht ausschließlich ein Charak teristikum von Kinderbüchern, sondern kann auch als Ausweis heroischen Erzählens gelten.43 Die Liebe hat in der Welt des Epos keinen Platz; ob-
39 Die Hochzeit am Ende kommt für die Leser - wie für die Hobbits - überra schend, die Vorgeschichte erfahrt man erst aus der 1'.'Zäh"'n/!. von Aro)(om lind AnPtn in den Anhiin)(eR (wie Fußn. 6) zum LR, in die Informationen über Aragorns Kindheit und Jugend gewissermaßen ausgelagert werden. Auch die Aussparung der Jugend des Helden ist übrigens typisch für das heroische Epos, vgl. Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 29), 1 29. 40 'Arwen vanimelda, namarie' (LR, 11 6, S. 371 [dt. S. 425]). Die Worte sind elbisch und bedeuten: "Geliebte Arwen, leb wohl". Im Gegensatz zu anderen elbischen "Zitaten" im LR werden sie nicht übersetzt, und der Leser kann die Bedeutung nur mithilfe anderer elbischer Gedichte entschlüsseln, darunter Galadriels Ab schiedslied, das etliche Seiten später gesungen wird (LR, 11 8, S. 398 [dt. S. 455f.]) - was wohl nur die wenigsten tatsächlich tun. 41 Die Versunkenheit des Ritters in Gedanken an seine Dame ist ein typisches Motiv des Versromans. Bei Wolfram von Eschenbach ist Parzival einmal derart in Gedanken an Condwiramurs versunken, dass er unterdessen zwei Ritter hin tereinander durch sein Schweigen beleidigt und dann im Kampf besiegt, ohne es überhaupt zu bemerken (Buch 6, § 283-302). 42 So schreibt z.B. Edwin Muir in seiner Rezension: "Das Erstaunliche ist [ . . . ], da�s alle Figuren kleine Jungen sind, die sich als erwachsene Helden maskieren. Die Hobbits oder Halblinge sind gewöhnliche Jungen, die rein menschlichen Helden gehen schon in die Fünfte Klasse, doch kaum einer weiß Bescheid über Frauen, außer vom Hörensagen" (zit. n. Carpenter, 1 991 [wie Fußn. 2], 254; vgI. auch oben Fußn. 2 und 3). Eine einfühlsamere Deutung desselben Befundes gibt Ma rion Zimmer Bradley: "Von Helden und Halblingen", in: Peseh, 1 984 (wie Fußn. 3), 57-90: Sie interpretiert den LR als riu dt posso)(e bzw. eine Art Entwicklungs roman mit den Hobbits als jugendlichen Helden, die am Ende in die Erwachse nenwelt eingegliedert werden. 43 Vgl. oben Kap. 4. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass Liebe auch im neo_tl Epos kaum thematisiert wird; insbesondere nicht im Hinblick auf den Titelhelden selbst. Nach seinen jugendlichen Heldentaten wird Beowulf schließlich König,
376
Silke Anzinger
wohl der
LR mit einer (Liebes-)Heirat endet,
ist die liebe kein Bestandteil
der epischen Handlung und Wirklichkeit. Es gelten also
im LR die Regeln des
Epos, wie wir sie von Vergil kennen:
1.
Es gibt keine glückliche liebe.
2.
Soweit liebe vorkommt, befördert sie nicht die Erfüllung des heroi schen Auftrags, sondern verzögert sie oder droht sie sogar zu verhin dern.
3.
liebende Frauen können dargestellt werden, liebende Helden aber niemals.
In der Aeneis gelten diese Regeln nicht nur der nichts mit liebe zu
tun
für Aeneas' Kampf um Lavinia, für seine Beziehung mit
hat, sondern auch
Dido, die, solange sie glücklich ist, dem Leser nur in Form von Gerüchten und aus der Außenperspektive des Iarbas, Jupiters und schließlich Mer kurs dargestellt wird. 44 Nur aus der Distanz wird der Leser mit der Vor stellung konfrontiert, dass "die liebenden", also auch Aeneas, ihre Ver antwortung und ihren guten Ruf vergessen haben.45 Die gleichen Regeln gelten auch
für Aragorn,
der zwar liebt, dessen liebe dem Leser aber ver
schwiegen wird und dessen Heldentum
im
übrigen nicht mehr Vergess
lichkeit verträgt als das des Aeneas. Es gibt auch im zukommt, ohne
Eowyn,
im
LR eine Frau, der mehr oder weniger die Rolle Didos Übrigen große Ähnlichkeit mit ihr zu haben, nämlich
Prinzessin von Rohan.46 Im Unterschied zur Aeneis bleibt die liebe Eowyns einseitig - was jedoch nicht verhindert, dass Aragorn schließlich vor dem gleichen Problem steht wie Aeneas: Eowyn will ihn zurückhalten, während er ihr klarzumachen versucht, dass sie, soeben zur
Regentin ihres Volkes ernannt, ebenso wie er ihrer Pflicht folgen müsse.47
44 45 46
47
bleibt aber unverheiratet, und als er nach fiin fzig Regierungsjahren im Kampf ge gen den Drachen stirbt, hinterlässt er keine Nachkommen. Vgl. dazu Verf.: Schweigen im römischen Epos: Zur Dramaturgie der Kommuni kation bei Vergil, Lucan., Valerius Flaccus und Statius, I\Iünchen u.a. 2007, 68-7 1 . Vgl.: f'tJ!!1of'llm immemores (Aen. 4,1 95); oblitoslamM me/ions amantis (Aen. 4,21). Vgl. Ü bersicht, § 12 und 1 6. Anklänge an Dido erblickt auch Libran-Moreno, 2006 (wie Fußn. 8). Sie zeigt, dass das Bild Eowyns, obwohl vorwiegend und deutlich nordisch, doch auch in hohem Maße durch Zitate au.' der antiken Litera tur geprägt ist ,,'Your duty is with your people,' he answered. 'Too often I have heard of duty,' she cried", etc. (LR, V 2, S. 8 1 5 [dt S. 60]). - So wie der Krieg gegen Sauron, die Rolle des Königreichs Rohan in diesem Krieg und Eowyn selbst konzipiert sind, kann sie ihn nicht bitten, seine Mission einfach aufzugeben; sie versucht ihn je doch von einem ganz bestimmten Weg zurückzuhalten, den er einzuschlagen be-
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
377
Er untennauert dies auf die gleiche Weise wie Aeneas - indem er seinen eigenen unerfüll ten Herzen swun sch preisgibt:
'Aragom,' she said, 'why will you go on this deadly road?' 'Beeause I must', he said. 'Only so I ean see any hope of doing my part in the war against Sauron. [ . . . ] Were I to go where my heart dweUs, far in the north I would now be wandering in the fair valley of Rivendell' For a while she was silent, as if pondering what this might mean." Ähnlich äußert sich Aeneas:
'Me si fata meis paterentur dueere vitam auspieiis et sponte mea eomponere curas, urbem Troianam primum duleisque meorum reliquias eolerem' (Aen. 4,34Dff.). In beiden Fällen eröffnet die Dame (wirklich oder scheinbar) die Alterna tive "Krieg vs. liebe", und es ist zu erwarten, dass der Held das eine wünscht, während er das andere tut - doch irritierenderweise äußert er den Wunsch nach etwas Drittem und lässt so diese (elegische?) Alternative insgesamt hinter sich. Dass Aragorn auf Arwen anspielt, die in Rivendell wohnt und die er am Ende heiraten wird, kann der Leser (wie auch Eowyn) zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Es entsteht der Eindruck und er ist nicht falsch -, dass wie Troja
für
für
Aragom Rivendell das gleiche bedeutet
Aeneas: Heimat und
Ort
der Kindheit, zu dem zurückzu
kehren unmöglich ist. Weder Aeneas noch Aragom können die jeweilige Dame von der Notwendigkeit ihres Tuns überzeugen oder wenigstens ihren Schmerz lindern. Dido tötet sich selbst, und zwar auf männliche Art, mit dem Schwert. Eowyn verkleidet sich als Krieger und zieht heimlich mit dem Heer von Rohan, in der Absicht, in der Schlacht umzukommen. Wie Aeneas löst also Aragom eine tragische Katastrophe aus; im Unterschied zu Aeneas hat er Eowyn aber nie verführt oder ennutigt und hat sich also nichts vorzuwerfen. Interessanterweise war er jedoch nicht von Anfang an so unschuldig konzipiert: In der ersten, in der History dokumentierten Fassung der Eowyn-Episode - in diesem Stadium gab es noch keine Arwen - war es nämlich Aragorn, der sich zuerst in Eowyn verliebt:
So Aragom saw her for the first time [ . . . ], and after she had gone he stood still, looking at the dark doors and taking little heed of other things."
absichtigt, den "Pfaden der Toten" (dazu Ü bersicht, § 1 6; vgl. auch unten Kap. 1 0). 48 LR, V 2, S. 814 [dt. S. 60]; zu Sauron vgl. Übersicht, § 1 -2.
378
Silke Anzinger
Damals plante Tolkien, dass die beiden am Ende heiraten sollten, ent schied sich aber bald dagegen, um einen tragischen Ausgang ins Auge zu fassen.5o Auch in der früheren Fassung kommt es zu einem schmerzlichen Abschied:
(Legolas erzählt) 'And that fair lady, [ . . . ] Eowyn, wept at his [seil. Aragorn's] gr> ing. Indeed at the last in the sight of all she set her atms about him imploring him not to take that road, and when he stood there unmoved, stern as stone, she humbled herself to kneel in the dust. 1t was a grievous sight.'51 Dido erspart sich einen ähnlich mitleiderregenden öffentlichen Verlust der Contenance, indem sie ihre Bitten von Anna überbringen lässt, indessen mit einem ganz ähnlichen Ergebnis:
haud secus adsiduis hinc atque hinc vocibus heros tunditur et magno persentit pectore curas: mens immota manet, lacrin1ae volvuntur inanes (Aen. 4,447-449). Was geht in dem Helden vor, der äußerlich so steinern wirkt?52 Vergil lässt darüber keinen Zweifel: Aeneas empfindet Mitleid und Schmerz über die Unmöglichkeit, Trost und linderung zu spenden. 53 In Tolkiens Frühfas sung wird dem Bild des harten Helden, "unmoved, stern as stone", keine mildernde Innensicht entgegengesetzt. In der Endfassung ist das anders:
Then he kissed her hand, and sprang into the saddle, and rode away, and did not look back; and only those who knew him weil and were near to him saw the pain that he bore.54
49 J.R.R.T., History VII, 1 989 (The Trea.ron of lsengard [wie Fußn. 10]), 445, vgl. S. 447. Dieses Verhalten Aragorns widerspricht natürlich eklatant den oben formulierten 'Regeln'. 50 In seinem Manuskript notiert Tolkien als Begründung: "Cut out the love-story of Aragorn and Eowyn. Aragorn is too old and lordly and grim. Make Eowyn [ . . . ] a stern amazon woman. [. . . ] Probably Eowyn should die to avenge or save Theo den" 0 .R.R.T., Hidory VII, 1 989 [wie Fußn. 1 0], 448). 51 J.R.R.T., Hidory VIII, 1 990 (The War ofthe Ring [wie Fußn. 1 0]), 406; zu Legolas s. C'"hersieht, § 7 und 1 6. 52 Manche haben unter Hinweis darauf, dass bei Vetgil nicht der Körper, sondern die Gesinnung (mens) des Helden unbewegt bleibt, argumentiert, dass hier nicht von den Tränen Didos, sondern von denen des Aeneas die Rede sei (vgl. etwa Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Vitgils, Berlin 31 977). Das schließt aber nicht aus, dass Tolkien an die andere Interpretation denkt, die gewiss als 'interpretatio facilior' betrachtet werden kann . 53 So auch schon mehrfach zuvor in der Auseinandersetzung mit Dido; 'I.'gl. dazu Verf., 2007 (wie Fußn. 44), 78ff. 54 LR, V 2, S. 817 [dt S. 61].
379
Tulkicns Thtr I..orrI oftbe Rings als Epus in " crgilischcr Traditiun
Aragoms äußere Haltung ist hier annähemd die gleiche wie
in
der Früh
fassung, auch wenn die Szene dynamischer und der Steinvergleich ver schwunden
ist,55
darüber hinaus
weist
der auktoriale
Erzähler
auf
Aragoms Schmerz hin, der zwar gerade derjenigen, die es am meisten angeht, verborgen bleibt, den seine Gefährten aber bemerken und sozusa gen bezeugen können. 56 Es ist kein Liebesschmerz, der Aragom zuge schrieben wird, als müsste auch er vor dem Odium des gewissenlosen Verfiihrers bewahrt werden, es geht nicht darum, ihn zu rechtfertigen. Aber gerade weil er E owyns Liebe nicht erwidert, scheint die Erzählung es zu erfordern, dass seine heroische Haltung durch einen 'menschlichen' Zug vertieft und gemildert wird. Wie Aeneas, so empfindet Aragorn Schmerz - eine Spur mehr als nur 'Mitleid', das oft mit einem Überlegen heitsgefiihl verbunden ist - um diejenigen, denen durch ihn (nicht durch seine Schuld) Leid geschieht. Tolkien hatte also ursprünglich mehr "Romantik" vorgesehen, kam aber dann davon ab. Auch das Konzept eines tragischen Endes einer Liebe zwischen Aragom und Eowyn gab er auf. Die romantische Episode passte insgesamt nicht zu Aragorn, nicht zu der heroischen Erzählung, wie sie sich
inzwischen
entwickelt
hatte.
Die
Endfassung ist
zum
einen
"vergilischer" und heroischer als die früheren: insofem als Aragom die Liebe Eowyns nicht erwidern kann, während seine eigene Liebe (zu Arwen) nicht Gegenstand der Erzählung ist. Zum anderen aber verkürzt Tolkien das, was Vergil
für
heroisch oder einem Helden zumutbar hielt,
insofern, als Aragorn, obgleich er Aeneas,
im
in
eine ähnliche Verstrickung gerät wie
Gegensatz zu diesem keiner Schwäche nachgegeben und sich
absolut nichts vorzuwerfen hat. Wir können demnach in Aragom nicht
55 Genauer gesagr, ist der Steinvergleich nicht ganz aufgegeben, sondern auf �'Il verschoben: "But Eowyn stood still as a figure carven in stone, [ . . ] and she watched them until they passed into the shadows" (ebd.). Man mag hier an die Szene im VI. Buch der Aenei.r denken, in der, korrespondierend mit dem Eichen gleichnis für Aeneas (Aen. 4,441 -446) , das Steingleichnis für Dido verwendet wird (Aen. 6,470f.). Tolkien benutzt sonst kaum Vergleiche oder gar Gleichnisse, vielleicht weil dies für ihn ein allzu typisches Stilelement des klassischen Epos ist, das er nicht nachahmen will . 56 Ähnlich wissen die Gefährten des Aeneas genug, um seine düsteren Ahnungen angesichts des von Karthago aufsteigenden Rauchs zu teilen: duri mdfl.no sed amof't dolof'tS / poUHto, nOl1lmqHe.forens qHidftmina posnt, / triste per flIIJl!1riHm TeHt:rOl7II1I pectora ducHnl (Aen. 5,5-7). .
380
Silke Anzinger
nur einen 'halbierten' ,.;7 sondern auch einen gewissermaßen bereinigten Aeneas erblicken.
6. Die Motive der handelnden Personen: Aragom und die
Gründung eines Königreichs Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, den Motiven der Helden
für
ihre
Queste. Morse teilt in seiner Untersuchung über Tolkien und Vergil den
LR in
zwei Hälften: "between the wandering of Frodo and the fighting of
Aragorn".58 Dementsprechend sei auch der Held zweigeteilt: Frodo ent spreche dem wandernden Aeneas in der ersten, odysseischen Eposhälfte, Aragom dem kämpfenden in der zweiten. Das trifft zu, ist aber ein wenig zu schematisch. Anders als Aeneas und als Frodo hat Aragorn, wie wir gesehen haben, durchaus persönliche Motive, sich auf das Abenteuer einzulassen: Er die Hand Arwens erringen; außerdem
will
will
er das Königtum in Gondor
wiederherstellen, denn das ist die Bedingung für die Heirat. 59 Beide Moti ve spielen jedoch in der Handlung keine Rolle: wird das eine überhaupt verschwiegen, so wird das andere so weit wie möglich heruntergespielt.
Warum eigentlich nimmt Aragom Mühen und Gefahren auf sich? Die Erzählung ist so konstruiert, dass sich diese Frage gar nicht erst stellt: Erzählt wird aus der Perspektive der Hobbits, und Aragom begegnet ih nen und damit dem Leser zuerst in Bree als Freund und Stellvertreter des (guten) Zauberers Gandalf:60
'nut I am the real Strider [ . . . j', he said, looking down at them with his face sof tened by a sudden smile. 'I am Aragom, son of Arathom; and if by life or dead I can save you, I will.' Die Frage nach der Ursache so großer Hilfsbereitschaft stellt sich den Hobbits, so tnisstrauisch sie zunächst auch alle Äußerungen des Fremden hinterfragen, hier ebenso wenig wie bei Gandalf selbst. Es scheint klar zu sein, dass Aragorn ebenso wie Gandalf in der gtoßen Welt jenseits des Auenlandes zu Hause ist, wo die Großen und Weisen unablässig und tnit selbstverständlicher Uneigennützigkeit daran arbeiten, die Weltordnung zu
57 Wie oben angedeutet, teilt er sich die Rolle des epischen Helden mit Frodo; vgI. dazu im Folgenden. 58 Morse, 1 986 (wie Fußn. 1 4), 1 . 59 Vgl. J R.R.T., AnhänJ!! 1 966 (wie Fußn. 6), 46 : In der don abgedruckten I if'{ählllng von Ar"!l{om lind AtlPt'n stellt Arwens Vater Elrond diese Bedingung. 60 LI{, I 9, S. 1 87 [dt. s. 2141; vgl. Übersicht, § 1 -4. .
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
381
bewahren bzw. wiederherzustellen. Aragom unterstützt die Mission des Ringes, weil er zu einer Kategorie von Personen gehört, die für so etwas einfach zuständig sind. Dass Aragom der Erbe des alten, verschwundenen Königtums ist, ist im ersten Buch, während er die vier Hobbits von Bree nach Rivendell führt, ohne Bedeutung, weil die Hobbits von den "historischen Hinter gründen" ebenso wenig wissen wie der Leser. Erst Elronds Rat in Rivendell bringt zusätzliche Informationen: Frodo erfahrt, wer Aragom wirklich ist, und Aragom begegnet Borornir, dem Sohn und Erben Denethors von Gondor,61 wobei die Rivalität zwischen ihnen sofort wenn auch gedämpft - deutlich wird. Borornir ist sehr bedacht darauf, die Taten und den Ruhm des gegenwärtigen Gondor (einschließlich seiner eigenen) in das rechte Licht zu tücken. Nach Borornirs Rede steht Aragom auf, doch es ist Elrond, der dessen Namen und Abs tammung nennt. Nach einem Zwischenspiel, in dem sich vor allem Frodo über diese Enthüllung verblüfft zeigt, stellt Aragom Borornir die entscheidende Fra ge: 'Now you have seen the sword that you sought, what would you ask? 00 you wish for the House of Elendil to return to the Land of Gondor?' 'I was not sent to beg any boon, but to seek only the meaning of a riddIe, '1',2 ans wered Boromir proudly. 'Yet we are hard presse
Trotz seines prahlerischen Auftretens reagiert Borornir im Grunde recht geistesgegenwärtig. Er übergeht den Herrschaftsanspruch, der in Aragoms Worten verborgen liegt, und konzentriert sich ganz auf den Aspekt des Hilfsangebots, wobei er die Insinuation zurückweist, um ein solches gebe ten zu haben, und nebenbei noch die Erbschaft, die Aragoms Anspruch begründet, Elendils Schwert, generell in Zweifel zieht. Ich bin auf diese Stelle genauer eingegangen, weil sie die einzige ist, an der Aragom seine Absicht, "das Haus Elendil nach Gondor zurückzufüh ren", überhaupt formuliert. Im Vordergrund steht dabei aber die Unter stützung, die er all denen, die gegen Sauron64 kämpfen, wie selbstverständ lich zu geben bereit ist. Viele Seiten später instruiert Gandalf den Hobbit
61 LI{, 11 2; vgl. Übersicht, § 8. 62 Boromir ist nach Rivendell gereist, um die Bedeutung einer Prophezeiung zu entschlüsseln; darauf bezieht sich auch Aragoms vorau-,gehende Bemerkung über "the sword that you sought". 63 LI{, 11 2, S. 264 [dt S. 300]. 64 Vgl. Übersicht, § 1 -2.
382
Silke Anzinger
Pippin,65 wie er vor Denethor zu reden habe, und bittet ihn insbesondere, möglichst nichts über Aragorn zu sagen: '00 as I bidl It is scarcely wise when bringing the news of the death of his heirlo6
to a mighty lord to speak over much of the coming of one who will, if he comes, claim the kingship. Is that enough?' 'Kingship?' said Pippin amazed.
"(es,' said Gandalf. 'If you waIked aII these days with closed ears and mind as leep, wake up nowl'67
Nicht wenige Leser werden Pippins Erstaunen teilen - aus diesem Grunde hält der Erzähler es ja auch fiir nötig, so kurz vor dem Ende der Ge schichte durch Gandalf auf diese dementaren Dinge hinzuweisen: Seit dem Rat von Elrond könnte man wissen, dass Aragom Anspruch auf die Königswürde erheben wird, aber man bemerkt es nicht oder vergisst es wieder, weil es anscheinend keine Bedeutung hat Aragom sdber zögert den Augenblick, sich in Gondor offen als König zu erkennen zu geben, sdbst noch nach Denethors Tod hinaus.68 Aragom zeigt also in Hinblick auf seinen Rang und Anspruch große Zurückhaltung, die allerdings nie mit einem Mangel an Sdbstvertrauen oder Entschlossenheit zu verwechsdn ist; und in beidem gleicht er Aeneas.69 Aeneas betrachtet es als seine Hauptaufgabe, die Penaten nach Italien zu bringen und fiir sein Volk eine neue Heimat, fiir seinen Sohn eine Zukunft zu schaffen. Unterdessen vermeidet er es, sich sdbst König zu nennen; kurz vor dem entscheidenden Zweikampf erklärt er sogar, er sei nicht ausgezogen, um fiir sich ein Königreich zu gewinnen: nec mihi regna peto (Aen. 1 2,1 90). Er "sieht sich in der Rolle des Wegbereiters, ist
Vgl. C'hersieht, § 3 und 1 5. Das bezieht sich auf Boromirs Tod (LR, III 1); s. Übersicht, § 1 1 . LR, V 1 , S . 784 [dt. S . 23]. VgL LR, V 8, S. 895ff. [dt. S. 1 52ff.]: Selbst nach der siegreichen Schlacht hält Aragom die Zeit fiir diese Erklärung noch nicht fiir reif, denn sie könnte, wäh rend der Krieg noch nicht gewonnen ist, Kon flikte zwischen den Verbündeten heraufbeschwören (vgl. insbes. S. 895). Aueh damit stellt Aragom das Allg e meinwohl über die eigenen Interessen. 69 VgL Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit, München 2oo7, 1 77, der das Nebeneinander aus Zurückhal tung und Sendungsbewusstsein bei Aeneas so zusammenfasst ,,Aeneas ist sich also seiner Führungsstellung und seiner göttlichen Herkunft wohl bewusst. Auch wenn er den Königstitel nicht benutzt und stattdessen seine piew betont, also seine Verantwortung [ . . . ], betrachtet er sich aL� vom Schicksal bestimmten An führer, der [ . . . ] ein Königtum errichten soll."
65 66 67 68
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
383
das Ziel aber erreicht, will er kein König sein. "70 Während indessen Aeneas auf seinem Weg zum Ziel vieles aufgeben muss, liegen für Aragorn Glück und Pflicht in der gleichen Richtung: Aragorn widmet sein Leben dem Kampf gegen Sauron, im Vertrauen darauf, dass sich das Üb rige, wenn das Schicksal es so bestimm t hat, von selbst daraus ergibt; und so geschieht es dann auch.71 Aber für beide steht der persönliche Erfolg nicht im Vordergrund ihres Strebens; beide Helden stellen labor und pieta.r, die Mühen, die sie für andere auf sich genommen haben, über rein per sönliche Interessen. Morse folgt in seiner Untersuchung einem traditionellen und zum Teil auch schematischen Bild des Aeneas, demzufolge dieser mit dem Gang durch die Unterwelt Zaudern und Zweifel überwindet und eine Verwand lung "from a reluctant man of destiny into a willing warrior of the fate" erlebt.72 Aragorn entspricht durchaus dieser Beschreibung des gereiften Aeneas der zweiten Eposhälfte, denn er ist zu keiner Zeit "a reluctant man of destiny" und nimmt am Ende seiner Mühen erfreut das entgegen, wo für er gekämpft hat. Indessen erlebt Vergils Aeneas nicht nur in der ersten Eposhälfte, wie Morse meint, sondern bis zum Ende Momente des Zwei fels und der Trauer. Und auch dieser andere Aeneas hat im LR seinen Nachfolger gefunden: in Frodo, dem Hobbit.
70 Vgl. dazu Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 1 73-1 77, hier 1 77. 71 Das Schicksal ebnet ihm nicht nur den Weg zu Arwen, auch in vielen Details und Nebenhandlungen ist Aragorn glücklicher als Aeneas. Vor allem räumen seine Rivalen um die I\Iacht in Gondor, Boromir und Denethor, ohne sein Zutun das Feld, indem sie auf unterschiedliche Weise durch die Macht Saurons in Versu chung gefiihrt, getäuscht und getötet werden (vgl. Übersicht, § 1 1 und 1 5) . Boromir scheint dazu prädestiniert, di e Rolle des Turnus zu übernehmen, doch der Zweikampf, der das Ende der Aentis yerdunkelt, bleibt Aragom erspart. In seinem ersten Entwurf hatte Tolkien bezeichnenderweise einen solchen yorgese hen, "gI. J .R.R. T., Hisw'J' VII , 1 989 (Tbt Treason �l lsenJ!.ard [wie Fußn. 1 0)), 212: "What about Boromir? Does he repent? [ . . . ] No - slain by Aragorn". 72 Morse, 1 986 (wie Fußn. 1 4), 17. Mit dieser fast allgemeinen Auffassung vom "passion-prone Aeneas in book 1 -6 [who] becomes a determined and controlled Aeneas in book 7-12" setzt sich etwa Lyne auseinander: R.O.A.M. Lyne, "Vergil and the politics of war" , in: Stephen J. Harrison (Hg.): Oxford Readings in Ver giI's Aeneid, Oxford u.a. 1 990, 31 6-338, hier 337. Vgl. auch Schauer, 2oo7 (wie Fußn. 69), 1 40-1 55, sowie Gabriele Thome, "Tanton placuit concurrere motu,/Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras? (Aen. 1 2,503f.). Der Krieg in Vergils Aeneis", in: AClass 36, 1 993, 65-8 1 .
384
Silke Anzinger
7. Die Motive der handelnden Personen: Frodo und der
Auftrag des Schicksals Aeneas gewinnt im Laufe seiner Fahrten Klarheit über die Absichten der Götter und des Schicksals und erntet schließlich wie Aragorn den Llhn von pietas und Iabor. Aber diese Ernte kommt letztlich anderen zugute Ascanius und dem Volk der Troer -, und man mag durchaus zweifeln, was das 'Happy End' für ihn persönlich bedeutet, wenn er kurz vor dem Ende Ascanius gegenüber sein Leben so charakterisiert: 'disce, puer, virtutem ex me verumque laborem, fortunam ex alii s .' (Aen. 1 2,435f.)
Es ist dieser andere Aeneas, der sich in Frodo wiederfindet, gerade auch Ende des LR Frodo ist es, dem die "Bürde" des Ringes auferlegt wird und der damit einen schicksalhaften Auftrag erhält, den er nicht begehrt hat. Das Schick sal zwingt ihn, die Heimat zu verlassen; es ist eine Flucht und ein Exil, kein Abenteuer.73 Er selbst charakterisiert seine Situation als eine Art An ti-Queste: am
'For where I am to go? [ . . . ] What is to be my quest? Bilbo went to find a trea sure, there and back again; but I go to lose one, and not return, as far I can see.'''
Wie Aeneas, enthüll t sich ihm das Schicksal erst nach und nach. Er weiß, dass Sauron nach ihm und dem Ring sucht, und geht zunächst nach Rivendell, ohne eine klare Vorstellung von dem, was ihn danach erwarten könnte. In der Beratung bei Elrond wird dann geklärt, dass der Ring we der verborgen noch zum Guten benutzt werden kann, sondern vernichtet werden muss.75 Doch wer soll den mühevollen Weg zum Schicksalsberg auf sich nehmen? Auf diese Frage Bilbos folgt ein langes Schweigen, und so wird der Ringttäger ausgewählt: No one answered. The noon-beIl rang. Still no one spoke. Frodo glanced at aII the faces, but they were not turned to him. All the Council sat with downca.t eyes, as if in deep thought. A great dread feil on him, as if he was awaiting the pronouncement of some doom that he had long and vainly hoped might after aII never be spoken. An overwhelming longing to rest and remain at peace by Bil-
73 Im Einzelnen hierzu Morse, 1 986 (wie Fußn. 14), 1 - 1 6. 74 LI{, I 3, S. 79 [dt. S. 90] . ..There and back again" zitiert den Originaltitel des Hobbit, .. The Hobbit or Thtre and Back A/l,din". Frodos AuBetung spielt damit auch auf die Gattungsfrage an: Wir haben es nicht mit einer Queste-Erzählung zu tun, wie es Der Hobbit, die Erzählung von Bilbos Abenteuern, war. 75 VgL Übersicht, § 5-7.
Tulkicn. Tb. Lord of the Rings als Epus in " crgilischc:r Traditiun
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bo's side in Rivendell fille d al1 his heart. At last with an effort he spoke, and wondered to hear his own words, as if some other will was u.�ing his small voice. 'I will take the ring: he said, 'though 1 do not know the way. '7.
Frodo drängt sich weder nach dem Ring der Macht, der - anscheinend durch Zufall in seinen Besitz gelangt ist, noch nach dem Auftrag, der Mü he und Gefahr bedeutet: das Pflichtgefühl trägt den Sieg davon.77 Schick sal und freier Entschluss halten sich die Waage: Es geschieht nichts, was nicht psychologisch erklärt werden kann, vor allem aus der Situation eines drückenden Schweigens heraus, das dringend nach einem erlösenden Wort zu verlangen scheint. Auch das Gefühl, dass einem in einer solchen Situation die eigene Stimme fremd ist, liegt nicht jenseits der gewöhnli chen Erfahrung. Und doch vermittelt Frodos Entscheidung stark den Eindruck, ihm zugleich von einer höheren Macht eingegeben und gerade zu in den Mund gelegt worden zu sein.78 Er erwartet erst eine "Verkündi gung des Schicksals" und spricht diese dann selbst aus, doch mit dem Gefühl, als sei nicht er es, der spricht. Und Elrond bestätigt seine Ent scheidung und hebt dabei das Zusammenspiel von Bestimmung und frei em Willen abermals hervor: 'I think that this ta.�k is appoinred for YOll, Fmdo; and if you do not find a way, no one will [ . . . ] But it is a heavy burden. So heavy that none could lay it on another. 1 do not Iay it on you. But if you take it freely, 1 will say that your choice is right; and though al1 the mighty e1f-friends of old [ . . . ] were assembled together, your seat should be among them."9 .
76 LR, 11 2, S. 288 [dt. S. 329] . 77 Ahnlich kommt Aeneas wie von selbst zu seinem Amt als Anfiih rer der Troer; die Troer machen ihn dazu, eben indem sie ihm folgen - und er seine Rolle an nimmt (vgl. Schauer, 2007 [wie Fußn. 69], 1 36ff:). 78 Es gibt im LR keinen epischen Götterapparat, obwohl es nicht stimmt, dass überhaupt keine Götter vorkommen (vgl. oben Fußn. 29). Auf diesen Komplex kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden; vgL dazu Colin N. Manlove: "Der Herr der Ringe", in: Peseh, 1 984 (wie Fußn. 3), 91-121, hier 95f. Hier sei nur angemerkt, da.�s sich Tolkien, was das Eingreifen höherer Mächte in das Le ben und die Entscheidungen des Einzelnen und in die Geschichte angeht, sehr bedeckt hält. Selbst Gandalf, der am ehesten darüber Bescheid weiß, wagt keine sicheren Behauptungen aufzustellen, sondern deutet lediglich an, da.�s z.B. die Tatsache, dass der Ring ausgerechnet zu Frodo gelangt ist, mehr als nur ein ab surder Zufall sein könnte. So finden wir in diesem Bereich stets eine Art doppelte Motivation vor - d.h. dass da.� Eingreifen des Übernatürlichen immer auch von der Situation und den Charakteren her motiviert ist - wie man sie ähnlich auch bei Vergil antrifft. 79 LR, 11 2, S. 288 [dt. S. 329] .
386
Silke Anzinger
Wie Aeneas, ist auch Frodo keine "Marionette des Schicksals", er hat sich frei entschieden. 80 Das Aufsichnehmen der Mission gewährt Frodo, ob wohl er nur ein Hobbit aus dem Auenland ist, einen Platz in den Reihen der alten Helden: labor erwirbt gloria. Doch ist der Ruhm ebenso wenig Frodos eigentliches Ziel wie das des Aeneas. Es ist diese Konstruktion von fatum, pietas und labor, also eines göttli chen Auftrags, für den der Held auserwählt wird, den er aber auch be wusst und willig annehmen muss; der zum Ruhme führt, aber Mühe bein haltet, der anderen nützt, aber für ihn selbst den Verlust von Heim, Herd und Privadeben bedeutet, was den IR schon auf den ersten Blick und evident mit der Aeneis verbindet. Und es ist genau diese vergilische Grundkonstruktion und Motivation, deren Erfindung (oder Nacherfin dung) es Tolkien überhaupt erst ermöglichte, das Buch so zu schreiben, wie es ist: als eine "heroic romance", anstelle der märchenhaften Abenteu ererzählung, die ursprünglich geplant war. 81
8. Den Weg zu Ende gehen Das Motiv oder die Idee des harten Weges, den Frodo zu Ende gehen muss, setzt sich in der ganzen Erzählung fort, und hier ließen sich nicht nur im Gedanken, sondern auch in der Formulierung zahlreiche Parallelen zur Aeneis anführen. Vicit iter dumm pietas (Aen. 6,688) trifft auch auf Frodo zu, sowie in den letzten Büchern auf Sam, Frodos Begleiter auf dem letzten bitteren Weg nach Mordor; denn während Frodo in Mordor immer schwächer wird, ist es Sam und seine Liebe zu Frodo, die alle Schwierigkeiten und Anfechtungen überwindet.82 Frodo ist dazu bestimm t, den Weg zu finden, auch wenn er durch nichts, jedenfalls nicht durch Klugheit, Tapferkeit, Heldenkraft oder Her-
80 Bedenkenswett ist hierzu allerdings die grundlegende Kritik von Manlove, 1 984 (wie Fußn. 78), 97ff.: Die Willensfreiheit bleibe nur eine Behauptung, weil Frodo in Wahrheit gar keine Wahl habe und de facto nur als I\Iarionette agie10e - ähnli che Kritik ist auch gegen die Aeneis vorgebracht worden. Ein Hauptpunkt von Manloves Kritik lautet, dass Frodo trotz aller Schwierigkeiten, die er meistem muss, sich doch immer richtig entscheide (S. 1 00) und so ein echte10 Konflikt zwi schen seinem Willen und dem des Schicksals - wie e10 etwa bei Aeneas durchaus vorkommt, z.B. in Karthago - gar nicht erst entstehe. 81 Vgl. dazu Fußn. 24. 82 Zu Sam s. Übersicht, § 3, 1 1 , 17. Zu Sams piefas vgl. insbes. LR, IV 10 �,The choices of I\Iaster Samwise'') und natürlich Buch VI passim.
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kunft, dazu prädestiniert scheint. 83 Frodos Leistung erweist sich vor allem darin, unbeirrt weiterzugehen, im Bewusstsein seiner Pflicht und im Ver trauen auf das Schicksal. Dieses Vertrauen ist nicht unbedingt jenes ermu tigende Gefiihl , dass am Ende alles gut werden wird, sondern eine harte, grimmige Unbeugsamkeit, selbst in hoffnungsloser Lage nicht aufzuge ben.84 Nachdem Frodo und Sam sich von der Gemeinschaft getrennt ha ben,85 scheinen sie den Weg zu verlieren, denn sie quälen sich tagelang durch ein ödes Gebirge, ohne vorwärtszukommen. Sam ist bereits der Verzweiflung nahe; doch Frodo, obwohl er auch nicht weiterweiß, sagt zu ihm: 'It's ml' doom, I think, to go to that Shadow l'onder, so that a wal' will be found."'6
Eine solche Schicksalsergebenheit geht über die des Aeneas noch hinaus. Eine fast wörtliche Entsprechung zu Frodos Worten findet sich auch in der Ameis, doch ist es nicht Aeneas, der sie spricht, sondern Jupiter: fata viam invcnient (Aen. 1 0, 1 1 3). Es ist Jupiter, der hinter den widerstreitenden Partialinteressen das Schicksal weiß; obgleich er im Augenblick keine Möglichkeit sieht, ihm zum Siege zu verhelfen, weiß er doch, dass es sich verwirklichen wird. Was also auf den ersten Blick als Ohnmacht Jupiters erscheinen könnte, ist in Wahrheit ein Zeichen seiner Stärke. 87 Dass Jupi83 Schon zu Beginn sagt Gandalf auf Frodos Frage, warum er auserwählt wurde: "You may be sure that it was not for an)' merit that others do not possess: not for power or wisdom, at any rate. But you have been chosen, and you must therefore use such strength and heart and wits that you have." (LR, I 2, S. 74f. [dt. S. 84]). 84 Wobei diese Haltung auch durch den BeowlIll bzw. durch das, was Tolkien als "Northem theory of courage" definierte, inspiriert sein mag (vgl. J.R.R.T., Beo wulf 2006 [wie Fußn. 9], 20f.). 85 Vgl. Übersicht, § 1 1 . 8 6 LR, IV 1 , S . 628 [dt. S. 240]. Vgl. Frodos spätere Außerung: 'Still we will have to try [ . . . ]. I never hoped to get across. I can't see any hope of it now. But I've still got to do the best I can' (LR, VI 2, S. 959 [dt S. 225]. 87 Gerade in Aen. 1 0,100ff. wird die Macht und Autorität Jupiters besonders deut lich, etwa durch die Art, wie er allein durch sein Auftreten die anderen Götter zum Schweigen bringt. Nach Reinhold Glei: Der Vater der Dinge. Der Krieg in Vergils Aeneis, Trier 1991, 216, gibt Jupiter hier "die stoische Devise aus, nach der alles vom Logos vorherbestimmt ist"; und dass er "den fata ihren Lauf lässt, ist also kein Zeichen schwachen Führungsstils, sondern hat Methode: Eine Par teinahme des höchsten Gottes wäre seinem \l;-'esen unangemessen". (Für die These der Führungsschwäche verweist er auf Gordon \l;-"illiams: Technique and ideas in the Aeneid, New Haven u.a. 1 983, 1 0; Williams schreibt an der Stelle ab er nur: "That is, he [Juppiter] reasserts the distinetion between events in the short
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ters Haltung im LR vom Protagonisten sdbst repräsentiert wird, über rascht auf den ersten Blick, ist aber letztlich eine logische Konsequenz des Fehlens eines Götterapparats im LR: Die Auffassung des Schicksals ist jener der Aeneis ähnlich, aber es gibt keinen Mittler zwischen dem Fatum und den Menschen, keinen Adressaten für Gebete. Im Gegensatz zu Aeneas hat Frodo niemanden, mit dem er hadern könnte; er kann nur weitergehen oder aufgeben.
9. Das glückliche und das unglückliche Ende Wie schon gesagt, entspricht Frodo der 'anderen Seite' des Aeneas: Ist Aragorn derjenige, der einschlägige Voraussetzungen zum epischen Hd den aufzuweisen hat mit seiner göttlichen (bzw. in seinem Fall: dbischen und königlichen) Abstammung, seinem Charisma und seiner erprobten kriegerischen Tüchtigkeit, so entspricht Frodo dem Privatmann Aeneas, wie er in Troja war, geachtet, aber kein Mitglied der Herrscherfamilie, kein Amtsttäger und ohne erkennbare Anwartschaft darauf. 88 Besonders deutlich wird diese Zweiteilung am Ende des LR Wir ha ben schon gesehen, dass Aragorn das glückliche Ende der Aeneis zu kommt: die Früchte des Sieges über den Dunklen Herrscher und der so erreichte Frieden, die Königsherrschaft und die Hand der Prinzessin bzw. Elbin, wodurch die Gründung einer neuen Dynastie erst möglich wird. Frodo hingegen erreicht scheinbar das, was Aeneas versagt bleibt: nach Troja zurückzukehren und es wiederaufzubauen (vgl. Aen. 4,340ff.). Wie deraufbau ist jedenfalls auch im LR nötig: Als die Hobbits am Ende ins Auenland zurückkehren, stellen sie fest, dass Diener der dunklen Seite auch hier eingedrungen sind und Schaden angerichtet haben. Und so erle ben auch die Hobbits zum Schluss noch ihre eigene 'iliadische Hälfte' in nIlce, die freilich mit demsdben oder besserem Recht als odysseische be zeichnet wäre,89 indem die Hobbits, im Ringkrieg geschult, nun die Prasser und Unterdrücker aus ihrem eigenen Lande hinauswerfen. Doch Frodo bleibt an dieser Wiedergewinnung der Heimat merkwür dig unbeteiligt. An den Kämpfen nimmt er nur teil, um sie zu zügdn und einen Bürgerkrieg, das Töten von Hobbits durch Hobbits, zu verhintenn , which an be influenced, and the long-term pattern of destiny, which can not [ . . . ] Juppiter's will canno t be other than identical with fate, even if he does nothing [0 assert it. ") 88 VgJ. Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 1 36ff. 89 Was freilich auch für die Atnm selbst gilt: zur Frage der 'odysseischen' und 'iliadischen Hälfte' der Aeneis vgl. Suerbaum, 1 999 (wie Fußn. 29), 143ff., 149.
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
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dem;90 an seinem Ruhm liegt ihm ebensowenig wie an seiner sozialen Stellung und am Bürgermeisteramt: nec mihi regnapekJ (Aen. 1 2, 1 90).91 So werden im Auenland seine drei Gefahrten schließlich berühmter als er selbst, besonders Sam. Sam, aus kleinen Verhältnissen stammend, heiratet eine Bauerntochter und wird der Begründer einer - für auenländische Verhältnisse - wohlhabenden und bedeutenden Familie; in späteren Jahren bringt er es, wie die Anhänge verraten (aber auch Frodo einmal prophezeit) zum Bürgermeister. Frodo hingegen hat wenig Ruhm, keine Nachkommen, sein Haus überlässt er Sam. 92 Obwohl er in die Hei mat zurückkehren durfte, wird er in ihr nicht mehr heimisch. Nicht un ähnlich Aeneas, der sich virtus, aber nicht fortuna zuschreibt, sagt Frodo am Ende zu Sam: 'I have been too deeply hurt, Sam. 1 tried to save the Shlre, and it has been saved, but not for me. It must be often so, Sam, when things are in danger: some one has to give them up, lose them, so that others may keep them.'''
Das Verblassen seines Namens gleicht auf eigenartige Weise der Zukunft der "Übergangsfigur" Aeneas:94 Aeneas müht sich für die Troer und für Ascanius-Iulus, und Iulus, nicht Aeneas, wird zum Begründer und Na mengeber der julischen Dynastie, während die Troer Namen und Identität verlieren und sich mit den Italikern vermischen. Die entscheidende Gemeinsamkeit besteht darin, dass es weder Frodo noch Aeneas vergönnt ist, das Erreichte lange zu genießen. Aeneas sollen nach dem Sieg noch drei Jahre zu leben bleiben (Aen. 1 ,265f.); und das entspricht auch etwa der Frist, die Frodo nach seiner Rückkehr ins
90 Morse, 1 986 (wie Fußn. 1 4), 25, erblickt zu Recht darin und besonders in Frodos Gnadenakt gegenüber Sarurnan (s. Übersicht, § 12 und 19) einen Gegensal2 zu Aeneas und der Schluss szene der Aeneis; es sei aber daran erinnert, dass auch Aeneas im XII. Buch vor alle m versucht, die neu ausbrechende Kampfeswut, nachdem die Entscheidung durch Zweikampf bereits beschlossen ist, zu verhln dern (Aen. 1 2,31 1 ff.) . 91 Frodo wird stellvertretender Bürgermeister, doch nur für kurze Zeit und nur, um die Vorkriegsordnung im Auenland wiederherzustellen - gewissermaßen rei pub/jcae resnlflendae ct1llSa. 92 Zu Frodos Rückzug vgl. LR, VI 9, S. 1 063 [dt. S. 345]: "Frodo dropped quietly out of all the doings of the Shlre [ . . . ]" 93 LR, VI 9, S. 1 067 [dt S. 349]. Vgl. Sarumans Prophezeiung in LR, VI 8, S. 1 057 [dt S. 338]: 'Do not expect me to wish you health and long life. You will have neither. But that is not my doing. 1 merely foretell.' 94 Vgl. Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 83ff.; 91 ; 271 f.; Suerbaum, 1 999 (wie Fußn. 29), 1 99, spricht von "eine[r] Art Selbstaufgabe".
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Silke Anzinger
Auenland noch zugemessen ist 95 Beide hinterlassen kein Grab. Aeneas wird zu den Göttern entrückt, und Frodo erhält die Erlaubnis, mit den EIben zu den unsterblichen Inseln im Westen zu segeln, um dort geheilt zu werden - unübersehbar eine Todesmetapher. Es ist eine Auszeichnung, aber zugleich ein Verschwinden, ein Abschied von der nicht wiedergefun denen Heimat, endgültiger noch als der Tod.96
1 0. Die Nekyia
-
von
der Wanderung zum Kampf
Einen Götterapparat gibt es im LR. nicht, und es gibt auch keine Unter welt im antiken Sinne. Gibt es aber dennoch so etwas wie eine Unter weltsfahrt? Der LR. ist reich an dunklen, unheimlichen Orten, die in die Tiefe füh ren und in der einen oder anderen Weise unterweltlichen Charakter zu haben scheinen: z.B. die Hügelgräberhöhen, Moria, die Totensümpfe, vielleicht auch Cirith Ungol. Nicht alle diese Orte sind jedoch Symbole oder Entsprechungen der klassischen Unterwelt, auch wenn zu ihrer Be schreibung entsprechende Topoi benutzt werden.97 Moria ist gewiss "darkness, hollow and immense",9H und vieles, was Frodo in den Totensümpfen oder in Mordor selbst sehen muss, ist eben falls düster und nimmt in einer langsamen Steigerung an Dunkelheit im mer noch zu; aber sowohl Moria als auch Mordor gehören sehr eindeutig
95 VgL das letzte Kapitel des LI{, VI 9, sowie die tabellarische Chronologie in den Aflhäflgen (wie Fußn. 6, Anhang B: Die Alljzähumg der Jahn, hier das Jahr 3021/ A.Z. 1421). 96 In ihrem Fluch charakterisiert Dido die Zukunft des Aeneas zwar einseitig, aber nicht verkehrt; das fehlende Begräbnis findet sich demnach auf der Negativseite der Bilanz seines Lebens: fltC t . .] nJl!lo aNt optata lila ftwatur, / Ied cadal aflle mtm mediaqNe iflhllmahls harena (Aen. 4,619f.). 97 Vgl. etwa Obertino, 1 993 (wie Fußn. 1 3), der Bezüge zwischen der Katabasis des Aeneas und der Wanderung durch die Minen von Moria (LI{, 11 4-5; vgI. ('her sicht, § 9) herstellt, wobei er vor allem auf die Archetypenlehre von c.G. Jung und dessen Schüler Erich Neumann zurückgreift Er entdeckt gewisse Ähnlich keiten zwischen der Beschreibung der Umgebung von Moria und der des Ein gangs zur Unterwelt (Aen. 6,237ff.), die jedoch eher unspezifischer Art sind; Tol kien orientiert sich hier allenfalls an einer allgemeinen Topik des Ioats horridllS, die unter anderem auch den Eingang zur Unterwelt in der Atfltü kennzeichnet (vgl. dazu Verf., 2007 [wie Fußn. 44], 351 ff., mit weiterer Literatur). Auch Morse, 1 986 (wie Fußn. 1 4), 1 0ff., beschäftigt sich mit diesem Thema und führt Frodos Weg durch die Totensümpfe an. Vgl. auch Barella, 2006 (wie Fußn. 1 2), 695. 98 LI{, 11 4, S. 333 [dt. S. 382] .
Tulkiens TIHII..orrIofthe Rings als Ep<�' in "ergilisehc:rTtaditiun
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dem Diesseits an. Als Katholik war Tolkien nicht der Meinung, dass 'das Böse' mit dem Tod gleichzusetzen sei; und er hat darauf geachtet, dass Sauron, der das Böse verkörpert, nicht zugleich als Repräsentant des To des oder des Totenreichs aufgefasst werden kann. Eine epische Hadesfahrt sollte jedoch noch spezifischere Vorausset zungen erfüllen als die Darstellung einer düsteren und gespenstischen Atmosphäre: zumindest sollten die Protagonisten einer Welt begegnen, die nicht diese ist, in Kontakt mit den Toten treten, und die Begegnung sollte wesentliche Aufschlüsse bringen. Diese Kriterien erfüllen im LR zwei Episoden: Frodos Abenteuer im Hügelgrab und Aragorns Weg über die "Pfade der Toten" - auch wenn beiden Episoden auf den ersten Blick nicht die Bedeutung und Stellung zukommt, die das 6. Buch in der Aeneis hat: Sie verblassen gegenüber der Finsternis von Mordor. Die Episode von den "Pfaden der Toten" hat in der Motivik kaum Ähnlichkeit mit Vergils 6. Buch, verdient hier aber eine Erwähnung wegen des Orts, den sie in der Gesamtstruktur des LR einnimmt: Sie folgt auf die Eowyn-Episode wie Aeneas' Hadesfahrt auf die Dido-Episode und fun giert als Uberleitung, als die letzte und notwendige Stufe auf Aragorns Weg vom Waldläufer zum König Elessar. Sie ist der Durchgang von sei nen Irrfahrten in allen Ländern zur Ankunft in der neuen Heimat und dem Königreich, das ihm bestimmt ist: Aus dem Wanderer wird damit nicht nur ein Krieger - kriegerischen Ruhm hat er, genau wie Aeneas, schon vorher errungen -, sondern ein Feldherr. Nicht nur erwirbt er auf den Pfaden der Toten eine Armee, sondern er qualifiziert sich, ähnlich wie Aeneas, in einer bestimmten Weise für das Kommende: indem er den Weg, der den gewöhnlichen Sterblichen verschlossen ist,99 findet, zu be treten wagt und zurückzukehren vermag. HK) Auch Frodo erlebt eine Art Nekyia, als er und die anderen Hobbits, Sam, Pippin und Merry, von Totengeistern in die Hügelgräber gezogen und
99 Vgl. LR, V 2, S. 815 [dt. S. 59]): (Eowyn:) ,,'TItey do not suffer the Iiving to pass.' 'They may suffer me to pass,' said Aragom." 100 Aragoms Anspruch auf den Palantir, den Sehenden Stein, ist 'I/on ähnlicher Be deurung - er beansprucht und beweist eine Kraft, sich mit magischen Gegen ständen auseinanderzusetzen und sie seinem Willen zu unterwerfen, wie man sie bis dahin nur Gandalf zugetraut hat. Es mag die (iefihrten wie auch den Leser überraschen, aber es ist eben keine Hybris, wenn Aragom Gandalfs guten Rat, den Palantir nicht zu benutzen, sowohl mit ererbtem Recht als auch mit Erfolg missachtet. Mit wie großem Erfolg, wird nur dem Leser klar: in einem ent.�chei denden Moment ist Sauron durch Aragom abgelenkt, so dass Frodo und Sam in Mordor unbemerkt bleiben (LR, VI 2, S. 958 [dt. S. 224]).
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beinahe fiir immer dort eingesperrt werden.101 Die Episode steht eher am Anfang des LR und findet in einer Art Niemandsland, einem Landstrich zwischen 'Drinnen' und 'Draußen' statt, nachdem die Hobbits die Grenze des Auenlandes überschritten haben und bevor sie in Bree auf Aragom treffen und in die 'große Wdt', die Wdt der Menschen, die Wdt des Epos, eigentlich eintreten. Speziell Frodos Erlebnisse im Hügelgrab werden dadurch stark aufgewertet, dass Gandalf später darüber sagt, dies seien die gefährlichsten Momente der bisherigen Fahrt gewesen: '[ . . . ] But you have some sttength in you, my dear hobbitl As you showed in the Barrow. That was touch and go: perhaps the most dangemus moment of all.'l02
Das Erlebnis bedeutet eine Art Initiation - und markiert wie bei Aragom den Übergang vom Wandern zum Kampf: denn nun werden die Hobbits von Tom Bombadil mit Waffen aus dem Hügelgrab ausgestattet, und dies macht ihnen erst bewusst, worauf sie sich eingelassen haben: Pighting had not before occurred to any of them as one of the adventures in which their flight would land them.103
Die Waffen verweisen die Hobbits auf ihre Zukunft in der epischen Wdt, in der Schwerter zur Grundausstattung von Hdden gehören, und stellen zugleich eine Verbindung mit der Vergangenheit her, auch wenn die Hob bits diese vorerst nur schemenhaft begreifen: Die Waffen sind Klingen von Westernis, vor langer Zeit geschmiedet und mit Zauberkräften ausge stattet, die sich am Ende als entscheidend erweisen werden.104 In diesem Zusammenhang wird in frappierender Weise die vergilische Hddenschau aufgegriffen. Nachdem Tom Bombadil die Waffen ausgeteilt und deren Geschichte kurz erläutert hat, erleben die Hobbits eine Vision: 'Pew now remember them [seil. the Men of Westemesse)', Tom murrnured, 'yet still some go wandering, sons of forgotten kings walking in loneliness, guarding from evi1 things folk that are heedless.' The hobbits did not undersrand his words, but a.� he spoke they had a vision a.� it were of a great expanse of years behind them, like a vast shadowy plain over
101 Vgl. Übersicht, § 3. 102 LR, II 1, S. 235 [dt. S. 268). 103 LR, I 8, S. 161 [dt. S. 1 84]. 104 Vgl. LR, I 8, S. 161 [dt. S. 1 83f.]. Merry tötet später in der Schlacht von Minas Tirith (s. "Übersicht, § 13 und 16) den Anführer der NazgW mit der Hügelgrab klinge; und sie ist genau dafiir geschmiedet worden, denn der NazgW ist ebenje ner Hexenkönig aus Angmar, den die Menschen von Westernis vor Jahrhunder ten bekämpft haben.
Tolkicns Tb. Ipm oftb. Rings als Epos in vergilischer Tradition
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which thetce sttode shapes of ;\Jen, ta1l and grirn with bright swords, and last came one with a star on his brow.'OS
Drei Bezüge zur Aeneis sind in diesen Sätzen zu erkennen: erstens, das Unverständnis derer, denen die Schau zuteil wird;'06 zweitens, die Er scheinung eines künftigen Helden; drittens, "one with a star on his brow". Die Gestalten, die die Hobbits sehen, sind offenbar die Menschen von Westemis, über die Tom Bombadil eben gesprochen hat, Helden der Ver gangenheit, die über das Meer gekommen sind, in dieser Gegend ein Reich gegründet haben, dann verschwunden sind und nun in den Hügel gräbern begraben liegen. Aber nicht alle sind tot, und es ist diese Bemer kung Toms, die die Hobbits nicht verstanden haben: denn die letzte Ge stalt, "der mit dem Stern auf der Stirn", kann nur Aragorn sein, der letzte Erbe der vergessenen Könige und dazu bestimmt, ihr Reich wiederherzu stellen; diese Bestimmung enthüllt sich freilich erst viele hundert Seiten später.107 Es ist eine in der antiken Epik sonst nicht anzutreffende Besonderheit der Ameis, dass der epische Held in der Unterwelt nicht nur den Toten, sondern auch Gestalten der Zukunft begegnet: Augustus wird nicht pro phezeit, sondern seine Seele tritt sichtbar in Erscheinung (Aen. 6,788807). So sehen auch die Hobbits, ohne es zu wissen, den künftigen König, dessen Krönung letztlich das Ziel ihrer Mühen sein wird. Es gibt aber einen bezeichnenden Unterschied: am Ende der Reihe steht in der Aeneis nicht der mit dem Stern,lOS sondern einer mit einem Schatten auf seiner Stirn: 'filiu, anne aliquis magna de stirpe nepotum?
qui sttepitus circa comitum, quantum instar in ipso,
sed nox atta caput tristi circumvolat umbra.' (Aen. 6,864-866) 105 LR, I 8, S. 1 61 [dt. S. 1 83]. 106 So reagiert Aeneas allerdings nicht explizit in der Heldenschau, abetc in ähnlichem Zusammenhang, angesichts detc Bilder der römischen Zukunft, mit denen Vulcanus seinen Schild geschmückt hat: miratur rrrumque {Il,narus imaj!jne J!.autkt, I attolJens umero Jamamque ef fata n epotum (Aen. 8,730f.). Neben dem Motiv der L'n wissenheit verweist auch das der Waffenübergabe auf das VIII. Buch detc Aeneis. 107 Vgl. oben, Kap. 6. Die Bedeutung des Sterns wird überhaupt nie erklärt; eine Andeutung findet man am Ende, wo Aragom in I\Iinas Tirith einzieht "his head was bare save for a star upon his forehead bound by a siender fillet of silver" (LR, VI 5, S. 1002 [dt. S. 275]). Die AnhänJ!.f (wie Fulln. 6) nennen den Stern als eines detc W'ahrzeichen von Elendils Haus und verweisen dazu ausdrücklich auf Frodos Vision (Anhang A, Anm. 23) . 108 Der Stern des Augu'tus war das !idus [u/ium, das etc auf viele seiner Münzen prä gen lief!. Es wird in der Schild beschreibung der Ameis erwähnt: AII,ll,lIJoo, { . .] CIIi {. . .] patrium {. . .] aperitur vertief si""s (Aen. 8,681).
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Aeneas, der Augustus und die anderen Helden stumm an sich hat vorüberziehen lassen,1 09 zeigt allein an dieser Gestalt ein erkennbares Inte resse, an dem frühverstorbenen Augustusneffen Marcellus. Der strahlen den Erscheinung des Augustus steht so ein dunkles Gegengewicht gegen über, dem dadurch, dass es die Reihe beschließt, noch mehr Bedeutung verliehen wird. Demgegenüber bietet Tolkien eine vereinfachte und ideali sierte Heldenschau, gewissermaßen eine Heldenschau, wie sie sein sollte: Namenlose Gestalten ziehen vorüber, die gleichgültig bleiben; aber von dem letzten her, dem mit dem Stern auf der Stirn, wird die genealogische Unie deutlich, erhält der Strom Richtung und Ziel: die Vision der Hobbits macht so in einem einzigen Satz die Teleologie der Geschichte evident.
11.
Geschichtsbild und Wdtdeutung
Wir haben gesehen, dass der LR in mancher Hinsicht episch und vergilisch ist, insbesondere was die verhalten geschilderte Uebesepisode und die Heldenkonzeption betrifft. Auch Einzelmotive der Aeneis, wie die Heldenschau oder das sidus IHliu1ll, werden im LR wiederaufgegriffen. Darüber hinaus gibt es eine tieferliegende Gemeinsamkeit mit der Aeneis, die in der Gesamtdeutung von Welt und Geschichte liegt. Denn wie die Aeneis erzählt der LR nicht nur von den Abenteuern eines bzw. mehrerer Helden, sondern von einer Zeitenwende: 110 Aeneas selbst mag nur eine Übergangsfigur und ein Wegbereiter sein, der Erfolg seines Auftrags ist jedoch die notwendige Voraussetzung fiir die Gründung Roms, fiir die Herrschaft des Augustus und das römische Weltreich, "unbegrenzt in Zeit und Raum".l11 Es geht also auch nicht nur um ein einziges Volk oder 1 09 Vgl. dazu Verf., 2007 (wie Fußn. 44), SOff. 1 1 0 Bereits ManIove, 1 984 (wie Fußn. 78), 93, beschreibt den LR als ein Epos, "das eine zeitliche Crux wiedergibt und auf der Annal1me beruht, dass die Geschichte nicht bloß zyklisch, sondern gerichtet ist. [ . . . 1 Das Geschichtsbild ähnelt somit dem der Aneu, insofern als etwas Dauerhaftes erreicht wird." Er fuhrt diesen Vergleich allerdings nicht weiter aus. 1 1 1 So Jupiter in seiner Prophezeiung: his ego nee metos rerum nte tempora pono (Aen. 1 ,278). Diese räumliche Au.�dehnung auf die ganze Welt wird auch durch die of fenkundige Zusammengehörigkeit der Welt der Atntis plausibe� die m. W. zuerst Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 91 ff., so klar analysiert hat: Aeneas durchquert kei ne unentdeckten Gebiete voller Fremdheit und ungelöster Rätse� sondern solche, die durch die Diplomatie Trojas, Verwandtschaft, durch Odysseus oder im Fall Karthagos - durch andere Reisende und deren Erzählungen über Troja aus nahmslos erschlossen sind. Die Welt ist letztlich klein: man kennt sich. Und es ist bezeichnend, dass auch im LR die Ringgefährten auf kein Land stoßen, das nicht -
Tulkicns The I..orrIofthe Rings als Epus in "crgilischcr Traditiun
395
Königreich, sondem um die Geschicke der Menschheit: Der Auftrag des
für
Aeneas verändert die Wdt
immer; das Geschichtszid wird erreicht
werden, ein neues Goldenes Zeitalter anbrechen (Aen.
Ein
1 ,29 1 -296).
solches tdeologisches Geschichtsbild vermittdt auch der LR Das
eigentliche Zid der Geschichte ist nicht die Herrschaft Aragoms, auch nicht die Erneuerung des Königreiches von Gondor und Amor, sondem eine Wiederherstellung in einem tieferen und umfassenderen Sinn. Sie ist gebunden an die Niederwerfung Saurons, des letzten großen Feindes der EIben und Menschen
in
Mittderde, und fiihrt zum Anbruch eines neuen,
des Vierten Zeitalters.
Es
ist ein glückliches Ende Gedenfalls weit besser als die Alternative),
besonders
für
Gondor und das Auenland, also
für
Menschen und Hob
bits. Im Lande der Hobbits erblüht tatsächlich einen Sommer lang ein Goldenes Zeitalter, sozusagen im auenländischen Kleinformat:
Altogemet 142()112 in me Shire was a marvellous year. Not only was mete won detful sunshine and de1icious rain, in due times and perfect measure, but mere seerned something more: an air of richness and growth, and a gleam of a beauty beyond mat mortal swnmers mat flicket and pass upon this middle-earth.113 Die Schilderung wendet sich den des ländlichen Lebens
dann dem reichen Emtesegen und den Freu
zu,
und auch dies erinnert an eine vergilische
Schilderung:
at secura quies et nescia faUere vita, dives opwn variarum, at Jatis otia fundis, speluncae vivique lacus et frigida Tempe mugitusque bown mollesque sub arbore somni non absunt; [ . . . ] extrerna per illos Iustitia excedens terris vestigia figit. (Verg. georg. 2,467-474) Überall
in
der Wdt mag Krieg herrschen, aber im Lande der italischen
Bauern hat noch ein Rest des Goldenen Zeitalters überlebt; die Götter sind von der Erde verschwunden, aber hier haben sie eine Spur ZUtÜckgdassen. Auch der auenländische Sommer von
1 420
(vestigia)
verdankt sich
einer solchen "Spur": der Zaubererde, die Galadrid Sam geschenkt hat, während sie sdbst Mittderde verlässt.
Gandalf oder Aragom schon früher durchwandert hätten und dessen Geschichte unbekannt wäre. Es entsteht so ein Eindruck der 'Überschaubarkeit und Hand habbarkeit der Welt, so groß und vielgestaltig sie auch sein mag. 1 12 Nach der Auenland-Zeitrechnung; 3020 nach der allgemeinen Zeitrechnung. 1 1 3 LR, VI 9, S. 1 061 [dt S. 343].
Silke Anzinger
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Denn dass das neue Vierte Zeitalter insgesamt ein goldenes sei oder erwarten lasse, wäre zuviel gesagt. Im LR gibt es anfangs unterschiedliche Meinungen
zu
der Frage, welche Folgen die Vernichtung des Ringes ha
ben werde:
'We know not for certain', said EIrond sadly. 'Some hope that the Three Rings, which Sauron have never touched, would then become free, and their rulers might heal the hurts of the world that he has wrought. But maybe when the One has gone, the Three will fail, and many fair things will fade and be forgotten. That is my belief.'114 Es gibt also die optimistische Auffassung, dass die Drei EIbenringe, die eine Art Gegengewicht zu dem Einen darstellen, dann unbelastet von der dunklen Macht wirken können, dass sich also das Gute ohne das Böse frei entfalten würde; das entspräche der Hoffnung auf ein Goldenes Zeitalter. Bewahrheiten wird sich aber die pessimistische Meinung: Die schönen Dinge verschwinden, die nichtmenschlichen Völker ziehen sich in ihre eigenen Welten zurück, insbesondere die EIben, die Mittelerde verlassen was eher an das Eiserne als an das Goldene Zeitalter denken lässt.ll5 Das Vierte Zeitalter ist das Zeitalter der Menschen und natürlich alles andere als ,,golden":116 es ist die Geschichte, die wir kennen. Denn auch in dieser Hinsicht nimmt der LR ein vergilisches Thema auf: obwohl Tolkien seine eigene Mythologie schafft, spielt seine Geschichte - anders als die spätere Fantasy-Literaturl17 - doch in unserer Welt, geographisch leicht verändert, aber durchaus wiederzuerkennen. Sie spielt
in
einem mythi
schen Zeitalter, das vergessen ist, das aber in die wirkliche geschichtliche Welt mündet, ihre Entstehung erklärt und sie damit auch als notwendig rechtfertigt.
114 LR, II 2, S. 286 [dt. S. 327]. 115 Vgl. z.B. Ov. met. 1 ,1 50: llitima caekshlm urras Astrata reliqllit. 1 1 6 Vgl. den Disput zwischen Legolas und Gimli in LR, V 9, S. 907 [dt. S. 166]: (Le golas:) ,:[ . . . ] The deeds of men will outlast us, GimIi.' 'And yet come to naught in the end but might-have-beens, I guess,' said the Dwarf. 'To that the Ewes know not the answer,' said Legolas." 117 Zu den Ausnahmen gehören die Chroniken von Prydain (1 964-1968) von Uoyd Alexander, die in einem leicht verfremdeten Britannien spielen und an deren En de in ähnlicher Weise das Verschwinden der Magie und der Übergang vom my thischen zum geschichtlichen Zeitalter stehen.
Tolkiens The I..orrIofthe Rings als Ep<�' in "ergilisehc:r Tradition
12.
397
Zusammenfassung
Tolkiens umJ o/the Rings kann in vieler Hinsicht als Epos in der Nachfolge der Aeneis betrachtet werden: Tolkien selbst hat sich zwar bezüglich der Gattung nicht festlegen wollen, aber allein schon die Länge und Komple xität des Werks und die zeitliche und räumliche Ausdehnung der fiktiven Mythologie, die es präsentiert, verraten epischen Atem. Dazu kommen Stilelemente des Epos bzw. heroischen Erzählens: zum Beispiel werden Liebesbeziehungen ähnlich verhalten geschildert wie in der Aeneis. Gerade die Aragorn-Eowyn-Episode erinnert in vielem an die Dido-Episode. Auffallende Gemeinsamkeiten kann man auch in der Heldenkonzeption erkennen: Frodo und Aragorn, die nicht persönlicher Abenteuerlust oder Ruhmsucht, sondern einem schicksalhaften Auftrag folgen, um die Welt zu retten, haben beide Ähnlichkeit mit Aeneas: Erinnert Aragorn mehr an den Herrscher und Krieger Aeneas, so lässt Frodo vor allem an die menschliche Seite des vergilischen Helden denken. Beide Protagonisten des LR. erleben auch eine Art Unterweltsfahrt, wobei Vergil in bezeich nender Weise abgewandelt wird: Die "Heldenschau", die Frodo zuteil wird, ist schlichter und bereitet dem Verständnis keine Schwierigkeiten wodurch sie auch ein Licht auf die irritierenden Momente wirft, die Vergils Epos hervorruft. Das gilt auch fiir andere Vergil-Reminiszenzen: die Dido-Episode und Aeneas' Zweikampf gegen Turnus klingen beide im LR. an, doch in einer 'beschönigten' Version, die es vermeidet, den Helden in ein zweifelhaftes Licht zu riicken.118 Verfolgt man die Entwicklung dieser Episoden in der History 0/ Middle Earth, stellt man fest, dass die Vergilanklänge in den frühen Phasen des LR. sogar stärker waren, dann aber zurückgedrängt wurden. Die bedeutsamste Gemeinsamkeit mit Ver gil liegt aber in der teleologischen Geschichtsdeutung: Wie in der Aeneis, so erstreckt sich das Fatum auch im LR. unbegrenzt in Zeit und Raum, wirkt das Handeln Weniger auf die ganze Menschheit und weit in die Zu kunft; wird die Welt also nicht nur fiir den Augenblick gerettet, sondern fiir immer verändert. Und neben die Freude über das glückliche Ende tritt eine Melancholie über die Vergänglichkeit und darüber, dass jeder Sieg seinen Preis kostet. Darin erkennt man vielleicht am meisten Verwandt-
1 1 8 Zu Turnus vgL Fußn. 71 und 90. Ich konnte hier nicht im Detail auf diejenigen
Punkte eingehen, in denen Tolkien Vergi1l1icht folgt; dennoch sei auf die harmo nisierende Tendenz des LR zumindest hingewiesen, für die der Cmgang mit den 'Turnusfiguten' signifikant ist Boromir rallt, aber nicht von Aragoms Hand; Saruman (s. Übersicht, § 12 und 1 9) wird getötet, obJllOhi Frodo ihn begnadigt: sein Frevd straft sich sdbst, und die Hand des Siegers bleibt unbefleckt. Das wä re, auf Aeneas/ Augustus übertragen, ein panegyrisches Endel
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schaft mit Vergil, auch wenn Tolkien den Todesschatten des Marcellus aus seiner Hddenschau verschwinden ließ.
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Anhang: The Lord of the Rings - Inhaltsübersicht Buch I: (§ 1) Der Hobbit Frodo hat von seinem ünkd Bilho einen goldenen Zauberring geerbt. Der Zauberer Ganda!f findet heraus, dass dieser Ring der lange verschwundene Eine Ring des Dunklen Herrschers Sauron ist. Sauron, vor langer Zeit besiegt, gewinnt in seinem Lande Mordor wieder Kraft und sucht nach dem Ring. (§ 2) Der Ring verleiht absolute Macht, und es geht eine verderbliche Versuchung von ihm aus, die nur eine Lö sung zulässt: den Ring in die Klüfte des Schicksalsbergs in Mordor zu werfen, wo er geschmiedet wurde. (§ 3) Auf Anraten Gandalfs verlässt Frodo mit drei Freunden, den Hobbits Sam, Pippin und Merry, das AuenJand. Verfolgt von den Schwarzen Reitern (Na�iI�, durchqueren sie den Alten Wald, das Reich Tom BombadiJs und die Hügelgtäberhöhen. (§ 4) Im Gasthaus zu B1lIe treffen sie auf Aragorn, den sie nach anfanglichem Misstrauen als Führer akzeptieren, nicht zuletzt, weil er nachweisen kann, dass er ein Freund Gandalfs ist. Buch 11: (§ 5) In Rivendell, der Wohnstatt des mächtigen und weisen Halbdben Elrond und anderer Eiben, treffen die Hobbits Bilbo und auch Gandalf wieder. (§ 6) In einer langen Beratung mit Elrond, Gandalf und anderen wird beschlossen, dass tatsächlich keine andere Lösung in Frage kommt, als den Ring in die Schicksalsklüfte zu werfen, und dass Frodo dies vollbringen soll. (§ 7) Frodo werden acht Gefahrten mitgegeben, doch außer ihm sdbst ist keiner verpflichtet, bis zum Ende zu gehen: der Zauberer Gandalf, die Menschen Aragorn und Boromir, der Elb LegoJas, der Zwerg GimJi sowie die Hobbits Sam, Pippin und Merry. (§ 8) Boromir ist der Sohn und Erbe Denethors, des amtierenden Herrschers von Gondor, seines Zeichens allerdings nur Truchsess: die gegenwärtigen Herrscher von Gondor stammen von den Truchsessen des vor etwa 1 000 Jahren ausgestorbenen Königshauses ab und üben ihr Herrscheramt offiziell nur treuhänderisch aus, "bis der König zurückkommt". (§ 9) In dieser Ver sammlung wird auch erstmals deutlich, wer Aragorn wirklich ist, nämlich der Nachkomme und Erbe der wahren Könige von Gondor. (§ 1 0) Die neun Gefahrten wandern durch die Minen von Moria, wo Gandalf (scheinbar) stirbt, und durch das schöne Land Unen, wo die Elbenherrin GaJadriei wohnt. (§ 1 1) Boromir wird im Kampf von ürks erschlagen, Frodo und Sam trennen sich heimlich von den Gefahrten, um allein nach Mordor zu gehen. So zerfallt die Gemeinschaft des Ringes. Buch III: (§ 1 2) Aragorn, Legolas und Gimli verfolgen die ürks, die Pippin und Merry gefangengenommen haben, durch das Land Rohan. Hier finden sie Gandalf wieder und lernen Theoden, den König von Rohan, und
Tolkicns Tbe IBm oftbe Rings als Epos in vergilischer Tradition
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dessen Nichte Eouyn kennen. Zusammen mit Theoden bekämpfen sie den Zauberer .faruman, der zum Bösen abgefallen ist. (§ 13) Gandalf reitet mit Pippin nach Minas Tiri/h, der Hauptstadt von Gondor, wo Krieg gegen Sauron nahe bevorsteht. Buch IV: (§ 14) Frodo und Sam verzweifeln fast daran, den Weg nach Mordor allein zu ftnden. Sie treffen auf GoI/11m, die Kreatur, der Bilbo den Ring einst abgenommen hat, und die seitdem den Ring verfolgt. Obwohl durchaus nicht vertrauenswürdig, erweist sich Gollum als nützlicher Füh rer, der die beiden Hobbits schließlich über die Grenze des Schwarzen Landes bringt. Buch V: (§ 15) Gandalf und Pippin überbringen Denethor die Nachricht von Boromirs Tod. Minas Tirith wird belagert. Denethor verzweifelt und begeht Selbstmord. (§ 16) In Rohan beschließt Theoden, selbst in den Krieg nach Gondor zu ziehen, und Eowyn wird die Regentschaft übertra gen. Aragorn zieht mit Legolas und Gimli über die "Pfade der Toten" nach Gondor und begegnet dabei ein weiteres Mal Eowyn. Da er ihre Begleitung ablehnt, schließt sie sich heimlich dem Heer Theodens an. Alle nehmen an der Schlacht um Minas Tirith teil, die siegreich endet, aber den Krieg nicht entscheiden kann . Buch VI: (§ 17) Frodo und Sam gelangen unter großen Strapazen zum Schicksalsberg. Dort angekommen, erliegt Frodo der Versuchung des Rings und ernennt sich selbst zum Herrn der Ringe. Gollum beißt ihm den Ringftnger ab und stürzt mitsamt dem Ring in die Schicksalsklüfte. Damit ist Sauron vernichtet und der Krieg zu Ende. (§ 18) Aragorn wird König und heiratet Arwen, Elronds Tochter. Eowyn heiratet Faramir, den zweiten Sohn Denethors. (§ 19) Die Hobbits kehren ins AuenIand zurück und vertreiben Saruman und seine Helfershelfer, die inzwischen dort die Macht ergriffen haben. Sam heiratet; Frodo verlässt Mittelerde.
Te, Palinure, petens Vergilrezeption in Palinurus' The Unquiet Grave SlEGMAR D(,)pp
(Berlin)
I. Einführung Im Dezember 1944 warb die bei Curwen Press in London1 erscheinende Monatszeitschrift Horizon. A &view of U/erature & Art für ein Buch, das vom Verlagsbür02 bezogen werden könne: ... we are able to offer our readers and the general public a beautifully printed limited edition of an original work by an English author entided The Unqllie/ Grave, by Palinu rus".3 Über den Inhalt des Werks hieß es in der Anzeige, sicher mit den Worten des Autors: "The Unqllie/ Grave is a year's joumey through the mind of a writer who is haunted by the turbulent Mediterranean figute of Palinurus, the drowned pilot whose uneasy ghost demands to be placated. Three movements indicate with deepening intensity the three blust'ring nights when he is adrift on the ocean, and the Epilogue examines the myth from both the historical and psychological aspects". Zunächst er schien das Buch, für das der Verfasser ursprünglich den Titel The Tomb of PalinllT'llS vorgesehen hatte,4 mit dem Untertitel A lIlO1"d qcle gebunden und als Paperback-Ausgabe in jeweils fünfhundert Exemplaren.5 Als erste exzellente Kritiken vorlagen,6 veröffendichte der Londoner Verlag Ha mish Hamilton im September 1945 eine durchgesehene Ausgabe (revired edition) in rund 3500 Exemplaren. Schon kurz darauf, im Dezember 1945, "
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Plaistow E. 13 im Ostteil der Stadt 6 Selwyn House, Lansdowne Place, London, W.C.I. Horizon, vol. 10, no. 60, Dezember1944, auf einer unpaginierten Seite vor S. 367. Jeremy Lewis: Cyril Connolly. A Iife, London 1997, 383. VgL die ßuchanzeige in Horizon 60,1944. Z. B. von John Hayward: "ßrev &.in London", in: ßonniers ütterära Magasin, ßL"\I14, 1945, 498-501. Für die Übersetzung dieses ArtikeL� aus dem Schwedi schen danke ich N ils Jäger (Göttingen) .
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erschien eine Ausgabe bei Cass Canfield in New York; auf deren Titelblatt war auf Drängen des Verlegers, gegen den Wunsch des Autors nach der Verfasserangabe Palinurus der Name CyriI Connolly in Klammem hinzu gefügt.? Es handelt sich um CyriI Vemon Connolly (10.9. 1903 Coventty26.11.1974 London),8 den Herausgeber der Zeitschrift Hori!{!Jn,9 einen höchst angesehenen Literaturkririker1 0 und Schriftsteller.1 1 1951 ließ der Londoner Verleger Hamilton eine weitere Auflage folgen: "The Unquiet Grave. A word rycie f!J Palinunts. Revised edition with an introduction I!J (yri/ Con nol!y".12 Die neu hinzugekommene Einführung enthält für die Genese und
Lewis, 1997 (wie FuHn. 4), 383. In der 1 951 hinzugefügten Einführung (s. unten) schreibt Connolly: "The identity of the author-publisher was never regarded as a top secret" (p. XIII) . 8 Zu seinem Leben und Werk vgl. David Pryce-Jones: Cyri1 Connolly. Journal and memoir, New York 1984; Lewis, 1 997 (wie Fußn. 4); Clive Fisher: Cyri1 Connolly. The Iife and times of England's most controversial literary cririe, New York 1996. 9 Die Zeit�chrift existierte von 1940 bis 1950; zu Connolly als deren Herausgeber vgl. vor allem Michael Shelden: Friends of promise. Cyril Connolly and the world of HoriZO", London 1989 (Nachdrucke 1 990 und 1 991). 10 Außer in HoriZO" veröffentlichte Connolly regelmäßig Beiträge in New .l'taksm411, Obst/ver und The .l'1I11dt.!y Times. 11 Vor The l1nlJlliet Grave hatte Connolly zwei größere Bücher veröffentlicht: The Rock Pool, einen saririschen Roman (1936), und The 1 inemies 0/ Promise (1938), wo rin er zu erklären versucht, warum er da.� Meisterwerk nicht zu schaffen ver mochte, das er nach dem Urteil anderer und seinem eigenen zu schreiben im stande gewesen wäre. 12 Diese mit einem Register versehene Ausgabe wurde mehrfach anastatisch nach gedruckt, zuletzt von Persea Books in New York 1 999 (ISBN 0-89255-058-9). Es liegen zwei deutsche Übersetzungen vor: Palinurus, Das Grab ohne Frieden. Deutsch von Leonharda Gescher (Bibliothek Suhrkamp 11), Berlin und Frank furt a. M. 1952; Palinurus, Das ruhelose G-rab. Ein Wörterzyklus. Revidierte Aus gabe mit einer Einführung von Cyri1 Connolly. Übersetzung aus dem Englischen und Nachwort von Chris Hirte (Bibliothek Suhrkamp 1388), Frankfurt am Main 2006. Nach Auskunft des Waschzettels der Übersetzung von 2006 gehörte "Das Grab ohne Frieden" zu den Lieblingsbüchem des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Cnseld (1 924-2002). Das Register der englischen Ausgabe ist in den beiden deut schen C'bersetzungen unverständlicherweise fortgefallen - und da.�, obwohl es in der Einführung (S. 15 der Übersetzung von 2006) erwähnt wird. In der Überset zung von 1952 fehlt überdies die wichtige Einführung. Wenn in dieser Überset zung der Titel des englischen Originals angegeben wird al.� "The Cnquiet Grave. A word cycle by Palinuru.� (i. e. Cyri1 Connolly)", so ist das irreführend, da sich der das Pseudonym auflösende Zusatz nur in der amerikanischen Ausgabe von 1951 und ihren Nachdrucken findet.
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Tc, Palinurc, pctcns. Vcq,�lrczcption in Palinurus'
Tbe Unq";,, Gra..
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den literarischen Charakter des Buchs sowie für die Selbstauffassung des Autors wichtige Hinweise. 13 Wie sich bereits der Buchanzeige von 1944 entnehmen lässt, umfasst das Werk selbst, von der späteren Einführung abgesehen, drei größere Kapitel sowie einen als Epiloglle bezeichneten Abschnitt. Die Untersuchung des Palinurus-Mythos, die dieser Epilog bietet, besteht im Wesentlichen in einer Interpretation der einschlägigen Partien der Vergilischen Aeneis; in den drei Kapiteln, dem Kernstück des Buchs, werden zahlreiche Autoren der griechisch-römischen Antike erwähnt und zum Teil auch zitiert: Apu leius, Aristipp, Epiktet, Epikur, Homer, Horaz,14 Lucan, Lucrez, MartiaI, Ovid, Petron,15 Servius, Tacirus und Tibull. Connollys wichtigster Bezugs autor ist jedoch VergiI. Dessen Palinurus-Darstellung hatte Connolly be reits 1927 in der ersten mit seinem Namen gezeichneten Veröffentlichung erwähnt. 16 Jetzt zielt er schon mit der Wahl der Selbstbezeichnung Palinurus auf die Aeneis, welch die ausführlichste und komplexeste antike Porträtierung dieser mythischen Gestalt enthält. 17 Vor allem aber finden sich in den drei Kapiteln mannigfache Verweise auf VergiI. Freilich kennt und zitiert Connolly auch andere Erwähnungen des Palinurus in lateini scher Uteratur: bei den nachvergilischen Autoren Lucan (7,36-50), Martial (3,78) und Servius (Verg. Aen. 6,378).
13 Im Folgenden wird der englische Text nach der New Yorker Ausgabe von 1999 (p.) zitiert und die entsprechende Seite in der deutschen Version von 2006 jeweils hinzugefügt (S.). Die Übersetzung der englischen Zitate stammt von mir. 14 Zur Horazrezeption in Tbr Unquiet Grave vgl. Theodore Ziolkowski: Uses and abu..es of Horace: His reception since 1 935 in Germany and Anglo-America, IJCT 1 2, 2oo5, 1 83-21 5. 15 Zu Conno11y und Petton vgl. Barry Baldwin: Cyril Conno11y and Pettonius, PSN 30, 2000, 17f. 16 Vgl. Tbe Unquief Grave p. XII; S. 1 1 ; es handelt sich um die Besprechung einer Oxford-Au..gabe von Laurence Sternes Werken in lVew Sfafuman vom 25.6.1 927 (pryce-Jones, 1 984 [wie Fußn. 8], 108). 17 Zu Palinuru..-Darste11ungen vor Vergil vh!. Otto Immisch: "Palinurus", in: \Vtl helm Heinrich Roscher (Hg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römi schen Mythologie, Bd. 3, Abt. 1, Leipzig 1 897-1 902, 1295-1 300, hier: 1298; Edu ard Norden: P. Vergilius I\Iaro: Aeneis Buch 6, Leipzig 1 903 (Darmstadt 41957), 229f.; Jean Hubaux: Palinure, LEC 3, 1 934, 1 74-1 94; Vinzenz Buchheit Von der Entstehung der Aeneis, Nachrichten der Giessener Hochschulgese11schaft 33, 1 964, 1 31-143, hier: 1 36; Thomas Köves-Zulauf: Die Steuermänner im Gesamt rahmen der Aeneis: Leucaspis, Menoetes, Palinurus, ACD 34/35, 1 998-1 999, 303-325, hier: 310; Nicholas Horsfall: Virgil, Aeneid 3. A commentary, Lei den/Boston 2006, 174.
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Im vorliegenden Beitrag soll es wn Art und Umfang der Vergilrezeption in The Unquiet Graue gehen.18 Bevor wir aber in das Werk selbst schauen, seien als Folie für Connolly die Erwähnungen des Palinurus in Vergils Aeneis vergegenwärtigt.19
18 Mit diesem Thema haben sich bisher Theodore Ziolkowski: Virgil and the Mo dems, Princeton 1 993, 1 29-1 45; 256-257 und Alessandto Schiesaro: Virgil in Bloomsbury, PVS 24, 200 1 , 31-47 beschäftigt. 19 In neuzeitlicher Uteratur ist Vergils Palinurus-Darstellung außer von Connolly noch mehrfach rezipiert worden. In Dante Alighieris Divina CommeditJ erscheint die Gestalt des Palinurus zwar nicht selbst, aber in den Canti 3-6 des PII'l!.atono weist die Schilderung der Begegnung mit Jacopo dei Casero, Buonconte da Montefehro und La Pia zentrale Motive aus Aen. 6,337-384 (s. unten) auf; dazu vgl. Her mann Knittel: VergiI bei Dante. Beobachtungen zur Nachwirkung des sechsten Äneisbuches (Diss. Freibmg i. Br. 1 971), Konstanz 1 971 ; Caron Ann Cioffi: Farne, prayer, and politics: Virgi1's Palinurus in PII'l!.amno V and VI, Dante Studies 1 10, 1 992, 1 79-200; Aldo Setaioli: "Palinuro: genesi di un personaggio poetico", BStudLat 27, 1 997, 56-81 , 77f. und Christine God&ey Perkell: Irony in the underworlds of Dante and Virgil: Readings of Francesca da Rimini and Palinurus, MD 52, 2004, 1 25-140. In dem Prosawerk PaliflllrtlS sive De fllicitale et misena (1445) lässt Maffeo Vegio (1406/1407-1 458) Palinurus in der Unterwelt ein Gespräch mit C haron führen; der Autor ist nicht allein durch Lukians Dialoge inspiriert, sondern in noch höherem Maße von VergiI (David Marsh: Lucian and the Latins. Humor and humanism in the earlv Renaissance, Ann Arbor 1 998, 6771); in einer Lukianausgabe von 1 470 wird d�r Dialog irrtümlich als Übersetzung eines Lukianischen Werks ausgegeben (Ernst Philip Goldschmidt: The first editi on of Lucian of Sarnosata, JWI 14, 1 9 5 1 , 7-20, 1 3f.). Giuseppe Ungaretri (1 8881 970) legt in &citativo di Palinllro, einem Gedicht aus sechs Sestinen und einer ab schließenden Terzine, Palinuru.� eine Rede in den Mund; entstanden 1 947, gehört das Gedicht zu dem Zyklus LJ TentJ Promessa. FrtJlflmenn 1935-1953, in dem VergiI weithin präsent ist (Ausgaben und deutsche Übersetzungen: Giuseppe Ungaretri, Das verheißene Land, Das Merkbuch des Alten, zweisprachige Ausgabe, deutsch von Paul Celan, Frankfurt arn Main 1 983; Giuseppe Ungaretri, Vita d'un uomo. Ein Menschenleben. Werke in 6 Bänden, Band 3. Herausgegeben von Angelika Baader und Michael von Killisch-Hom, München 1 992, 28-31 ; 21 8f.); zu Cngarettis Vergilrezeption vgl. Man&ed Lossau: Elpenor und Palinurus, WS 93 (N. F. 14), 1 980, 1 02-1 24, 1 23f.; Mario Petrucciani: "La discesa nella memoria, il pilota innocente. Cngaretri e Virgilio (Altri prolegomeni a LI TentJ Promtssa)", At ti dei Convegno Intemazionale su Giuseppe Ungaretri, Urbino 3-6 Ottobre 1 979, Crbino 1981, vol. 1 , 597-637, und Setaioli (wie oben) 78-80. Von Ungaretri beein flusst ist schließlich Ru.�sell Thomas' PalinllT'llS, eine poetische Rede des Protago nisten, die in der unpaginierten Sammlung um;nolls Alltomatie Donk� (Nashvil1e 1 961) enthalten ist; vgl. dazu Setaioli (wie oben) 80 n. 1 59.
Tc, Palinure, pcu:ns. Vcrgilrczcptinn
in Palinuru.,' Tbe URqlli.t Gra..
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II. Palinurus in Vergils Aeneis Bei der Betrachtung des Vergiltextes stellt sich allerdings das Problem, ob der in Manuskripten überlieferte Text des Epos in allem authentisch ist oder ob er nicht von fremden Händen Zusätze erfahren hat. Vor allem Christian Gotdob Heyne (1 729-1 8 1 2), Petrus Hofmann Peerlkamp (1 786-1 865) und in jüngster Zeit Otto Zwierlein rechnen mit einer ganzen Reihe von Interpolationen; das Verdikt betrifft insgesamt folgende Par tien: Aen. 3,201 -2022(1; 3,51 2-5 1 721; 5,8 1 4-8 1 522; 5,855b-856a (cum pNppis parte reNNIsa / cumqNe gNbernacio)23; 5,865-86624; 5,870-87125 sowie die ge samte Palinurus-Handlung im sechsten Buch (6,337-384).26 Nun hat Connolly alle diese Partien offensichdich fiir Vergilisch angesehen, wie dies in jüngerer Zeit etwa auch Roger A. B. Mynors in seiner Ausgabe (Oxford 1 969) tut;27 so braucht das Echtheitsproblem jetzt, im Blick auf Conolly, ungeachtet seiner grundsätzlichen Bedeutung fiir die Vergilinterpretation nicht weiter erörtert zu werden.
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Otto Zwierlein: Die Ovid- und Vergil-Revision in tiberischer Zeit Band I: Prolegomena, Berlin/New York 1999, 45; 47. Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 180-183; 306, n. 1; 309. Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 227 n. 1. P. Vergilü Maronis Aeneidos !ibri. Edidit et annotatione illustravit P. Hofmann Peerlkamp, 1: Libri I-VI, Leiden 1843; Christian Gnilka: "Palinurus. Eine Schul geschichte aus Westfitlen", in: Ders.: Philologische Streifzüge durch die römische Dichtung, Basel 2007, 11-16. Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 38 n. 4; 64f. Heyne (Pub!ius Virgiliu., Maro varietate lectionis et perpetua adnotatione iIIu..tratus a Christ Gott!. Heyne. Editio quarta. curavit Ge. Phi!. Eberard. Wa gner, volumen secundum: Aeneidis !ibri I-VI, Leipzig/umdon 1832), 839: {. . .J nisi tJIInllm iNdicillm aIIimiqllt smslls prorttS me fallit, II/timi hi dllo "erSill: 0 nimium cae10. Nudus in ignota a Vitl!i/iana manll projecti non slInt Nihii dici poterflljrigjdilll et /an Jl.NidiIlS, et !?Tamlllatico IJCIIllil ne di/l,1lills; Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 63-65. Anders urteilt etwa Immisch, 1897/1902 (wie Fußn. 17), 1296: Aeneas' "Seufzer nlldlls in Wzota, PalinIlre, iacebis harena (871) schließt in feinersonnener Weise die Episode genau mit derjenigen Vorstellung ab, an wei che die Wiederaufnahme des Motivs in der Nekyia anknüpft". Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), lOH. Diese Ausgabe !iegt der folgenden Inhaltsübersicht zugrunde. Leider erfährt man au.. Mynors' kritischem Apparat nichts von den Athetesen, die ältere Philologen wie Heyne und Peerlkamp an der Palinurus-Darstellung vorgenommen haben. Etwas bessere Auskunft bieten in dieser Hinsicht die Ausgaben von Geymonat: P. Vergili Maronis opera post Remigium Sabbadini et A10isium Castig!ioni recensuit Marius Geymonat, Turin 1973; P. Vergili Maronis opera edita anno MCMLXXIII iterum recensuit Marius Geymonat, Roma 2008.
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Das erste Mal tritt der Steuermann Palinurus innerhalb der autodiegeti schen Erzählung auf, die Aeneas am Hofe Didos vorträgt (3,192-202). Es ist eine gefahrliche Situation, in der Palinurus da erscheint, und Aeneas charakterisiert das Bedrohliche, indem er auf die gtoße Erfahrung des Palinurus verweist. Nachdem nämlich die Schiffe der Trojaner Kreta ver lassen haben, zieht, bevor sie zu den Strophaden gelangen, ein gewaltiger Sturm auf: Sogar Palinurus (ipse [. . .J Palinurtls),28 erzählt Aeneas, bekenne, Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden zu können und den Weg nicht mehr zu wissen (3,201f.). Noch dreimal kommt Aeneas in seiner Erzählung vor Dido auf Palinurus zu sprechen. Nach der Prophezeiung der Harpyie Celaeno fliehen die Aeneaden auf dem Meer, wobei sie sich ganz dem Wind und dem Steuer mann anvertrauen (3,268-272). Als die Trojaner später in der Nähe der Ceraurua-Höhen rasten, schildert Aeneas, wie sich Palinurus munter vom Lager erhebt, die Winde erkundet, den Lüften lauscht und sämtliche Ster ne bestimmt. Nachdem er gesehen habe, dass am Himmel alles in Ord nung sei, habe er vom Heck ein lautes Signal zum Aufbruch gegeben (3,512-520).29 Als die Aeneaden sodann in die Nähe der Charybdis gelan gen, fordert Aeneas die Gefahrten auf, sich in die Ruder zu legen: Als erster, so berichtet Aeneas, habe Palinurus den Bug in die Wellen zur Linken gedreht (3,561-567). Insgesamt zeichnet Aeneas in Buch 3 das Porträt eines überaus kundigen und bewährten, den Gefahren des Meeres entschlossen trotzenden Helfers.10 Das nächste Mal begegnet uns Palinurus zu Anfang des fünften Buchs (5,1-34):11 Als bald nach der Abfahrt der Flotte aus Karthago ein gewalti ger Sturm aufzieht, so berichtet jetzt der epische, d. h. der heterodiegeti sche, nicht-fokalisierende Erzähler,12 weist der Steuermann Aeneas auf die große Gefahr hin: Italien zu erreichen, könne er derzeit nicht hoffen. An gesichts der Überlegenheit Fortunas sei es ratsam, ihrem Wink zu folgen �,[. . .) SHperat quoniam Fortuna, sequamur I quoque uocal, ucrlamus iter [. . .]"
28 Ein das Versende überspannendes Hyperbaton. 29 Vgl. dazu Horsfall, 2006 (wie Fußn. 17), 368. 30 Horsfall, 2006 (wie Fußn. 17), 390: "an alert and energetic seaman". 31 Auf inhaltliche Probleme in dieser Partie weist besonders Wolf-Hartmut Fried rich: "Libyeo cursu. Über Anfang und Schluß des 5. Buchs der Aeneis", in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1. Phil.-hist. Klasse, Jahrgang 1982, Nr. 2, Göttingen 1982, 69-101, hier: 71-81 hin. 32 Man könnte ihn auch als allwissenden, olympischen oder auktorialen Erzähler bezeichnen.
Tc, Palinurc, pctcns. Vcq,�lrczcption in Palinurus'
Tbe Unq";,, Gra..
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[5,22b--23aD und statt der italischen Küste das nahe Sizilien anzusteuern. Aeneas folgt dem Rat des Palinurus und erteilt seinen Leuten den entspre chenden Befehl (5,10-34). Als die Aeneaden schließlich nach den Lei chenspielen zu Ehren des Anchises von Sizilien fortsegeln, wendet sich auf der Ebene der Götterhandlung Venus voller Sorge an Neptun; er ver sichert ihr, Aeneas werde, wie sie es wünsche, wohlbehalten im Hafen des Avernus (bei Cumae) landen. Einen nur werde sie vermissen, der im Stru del des Meeres untergegangen sei; nur ein Haupt werde für viele geopfert werden: unus erit tanturn arnissum quem gurgi te quaeres, unum pro multis dabitur c apu t (5,81 41).
Das gewaltsame Ende der nicht genannten Person wird von Neptun als stellvertretender Tod charakterisiert, als ein Opfer, dazu bestimmt, die glückliche Landung der übrigen Aeneaden in Italien zu sichern. 33 Dass Neptuns Prophezeiung auf Palinurus zielt, wird im Gang der Er zählung sehr bald klar: in 5,827-841, "one of the most moving scenes of the Aeneid".34 Bei ruhiger See und günstigem Wind segeln die Trojaner gen Italien. Den Zug der Schiffe führt Palinurus an, an dessen Kurs sich die anderen ausrichten sollen. Als sich kurz vor der Mitte der Nacht die Seeleute auszuruhen beginnen, gleitet vom Himmel Somnus, der Gott des Schlafs, herab. In einer besondere emotionale Anteilnahme signalisieren den Apostrophe an Palinurus gibt der allwissende Erzähler an, welches die Intention des Gottes ist: Er sei auf dem Weg zu Palinurus, um ihm, dem Unschuldigen (insons), tödliche Träume zu bringen: te, Palinure petens, tibi somnia tristia portans3.; insonti (5,8401).
33 Zu diesem Motiv vgl. Cesareo Bandera: " Sac rific ial levels in Virgil's Aeneid", Arethusa 1 4, 1 98 1 , 21 7-239, hier: 223; Frederick E. Br en k : " Unum pro multis dabifllr caput. I\Iyth, his tory, and symbolic imagery in Vergil's Palinurus incident", Latomus 43, 1 984, 776-781 = Brenk: Clothed in purple light: Studies in Vergil and in Latin literature, including aspects of philosophy, religion, magie , Jud ais m and the New Testament b ac kground Stuttgart 1 999, 34-59; Philip Hardie: The epic successors of Virgil. A study in the dynamies of a tradition, Cambridge 1 993, 32; Dyson, Julia Taussig: King of the wood : The sacrificial victor in Virgil's Ae nei d, Norman 2001, 75-94; Micha el von Albrecht Vergil. Bucolica, Georgica, Aeneis. Eine Einführung, Heidelberg 2006, 4; 1 77. 34 Williams (Robert Deryc k W'illiams: P. Vergilii Maronis Aeneidos liber quintu.., e dited with a commentary, Oxford 1 960) z. St. 35 Zur Bedeutung von somnia tristia vgl. Hans Rudolf Steiner: Der Traum in der Aeneis, Bern U.a. 1 952, 78-80. ,
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Der Gott zeigt sich, so berichtet der epische Erzähler, dem Palinurus frei lich nicht in seiner wirklichen Gestalt, sondern tritt als Phorbas16 auf; des sen wahre Identität bleibt Palinurus verborgenY Den Steuermann redet Phorbas als laside Palinure an (5,844), d. h. als Nachkommen von Dardanus' Bruder Iasius,18 diese trojanischen Urväter waren einst aus Italien nach Asien ausgewandert. Die See sei ruhig, so lässt sich Phorbas vernehmen; Palinurus möge sich ausruhen und ihm für kurze Zeit das Steuer überlassen (5,843-846). Ohne auch nur aufzublicken, entgegnet Palinurus, sein Gegenüber solle nicht so tun, als ob er, der Steuermann, die trügerische Ruhe des Meeres nicht kennte (5, 847-851). Unter diesen Worten umkl ammert Palinurus das Steuer, die Augen fest auf die Sterne gerichtet. Somnus schwenkt nun einen Zweig, von dem der 'Tau des Ver gessens' hinabtropft (wohl einen Mohnstengel), über beide Schläfen des Palinuru.<; und schließt dem langsam Nachgebenden die Augen. Kaum hat Palinurus zu schlafen begonnen, als der Gott sich über ihn beugt und ihn vom Schiff stößt; bei dem Sturz, so heißt es in den Handschriften, seien das Steuerruder und ein Stück des Hecks mit in die Tiefe gerissen worden: cum puppis parte reuulsa / cumque gubemaclo (5,858b-859a).19 Von den Wellen aus ruft Palinurus vergeblich seine Gef:ihrten um Hilfe, derweil sich der Gott in die Lüfte erhebt (5,852-861). Trotz dem Verlust ihres Steuer manns fährt die Flotte, wie es Neptun versprochen hatte, sicher dahin. Als sie sich den Felsen der Sirenen nähert, bemerkt Aeneas das Fehlen des Palinurus. Daraufhin übernimmt er selbst die Lenkung des Schiffs - auf welche Weise Ersatz für das abgerissene Steuer und das Heckteil geschaf fen worden ist, wird nicht erzählt. Erschüttert durch das tödliche Schicksal (casus), das den Freund (amicus) getroffen hat, ruft Aeneas in einer Apo strophe aus:
36 Über ihn wird in der Aeneis nichts Näheres mitgeteilt In der J/ias erscheint ein Phoroos als ein reicher Troer, der von Hermes geliebte Vater des Ilioneus (14,490f.); diese Stelle hat Connolly wohl im Auge, wenn er p. 1 32 schreibt: " [ . . . ] Phorbas was already dead - killed in the siege of Troy. He represent. the 'old school' of Trojan" (S. 1 72). 37 Vgl. dazu Wemer Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1 999, 250: "Auf der Ebene der epischen Handlung bleibt die wahre Identität des Phorbas den ihm begegnenden Menschen verborgen; nur dem Leser wird sie vom Dichter kundgetan. Dadurch wird die Bedeutsamkeit der Handlung gesteigert - an sich wäre es nicht nötig gewesen, einen Gott 'einzu..et zen', damit der Steuermann des Aeneas ins Meer stürzt". 38 Aen. 3,1 67f. 39 Vgl. dazu Thomas Berres: Die Entstehung der Aeneis, W"lesbaden 1982, 250-281 , hier: 267.
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in Palinuru.,' Tbe [JRqlli.t Gra..
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"0 nimiurn caelo et pelago confise sereno, nudus in ignota, Palinure, iacebis harena" (5, 8701):
"Der du allzu sehr dem heiteren Himmel und dem Meer vertraut hast, Palinurus, wirst nackt an unbekanntem Strand liegen!"
Mit diesen an ein Epitaph erinnernden Versen epigrammatischen Charak ters'") endet das fünfte Buch. Dass Palinurus sich durch das ruhige Wetter habe täuschen lassen, muss Aeneas aus der Tatsache von Palinurus' Verschwinden geschlossen haben: Denn da Aeneas die Begegnung zwischen dem Steuermann und Phorbas, die zuvor erzählt worden war, nicht miterlebt hat, kann er nicht wissen, wie sehr sich Palinurus gegen die Überwältigung durch Somous/Phorbas gewehrt hat. Schließlich, im sechsten Buch, trifft Aeneas die (den Umriss einer Gestalt zeigende) Sede des Toten, als er, von der Cumäischen Sibylle geleitet, in die Unterwdt hinabsteigt: unter den Seden der Unbestatteten, die sich am Ufer des Acheron drängen in der Hoffnung, von Charon übergesetzt zu werden (6,337-384). Vom epischen Erzähler wird Palinurus eingeführt als der Steuermann, der kürzlich auf der "Überfahrt von Libyen" (U1!Jco [ .J cursu)41 beim Beobachten der Sterne vom Heck hinab gefallen und in die Wogen gestürzt sei (6,337-339). Hier lässt der Dichter - anders als in Buch 5 - Palinurus' Unfall noch vor dem sizilischen Aufenthalt, bald nach der Abfahrt aus Karthago, stattfinden.42 Auch ist jetzt keine Rede von der Einschläferung durch Somous, vidmehr wird der Eindruck er weckt, Palinurus habe die Pflicht der Himmdsbeobachtung allzu ernst genommen. Sobald Aeneas den Trauernden in der Dunkdheit erkannt hat, redet er ihn an mit der Frage, wdcher Gott ihn denn den Gefahrten entrissen und im Meer versenkt habe, wo doch Apoll einst prophezeit habe, Palinurus werde, ohne Schaden zu nehmen, zu den Ausoniern ge langen (6,337-346) . Wo und wann Aeneas einen solchen Orakdspruch .
40 Vgl. dazu Alessandro Barchiesi: "Palinuro e Caieta. Due 'epigrammi' virgiliani", Maia 31 , 1 979, 3-1 1 , bes. 3-9; die Aussage ist nach Barchiesi, 8 durch tragische Ironie gekennzeichnet. In diesem Sinne (und nicht im Sinne einer Fahrt nach Libyen) sind die Worte hier gemeint: Buchheit, 1 964 (wie FuUn. 1 7), 148; Berres, 1 982 (wie Fußn. 39), 277f. ; Giovanni Laudizi: "Palinuro (Verg. Aen. V 827 ss.; VI 337 ss.)", Maia 40, 1 988, 57-73, hier: 59; Köves-Zulauf, 1 999 (wie FuUn. 1 7), 31 1 . Köves-Zulauf, 1 999 (wie FuUn. 1 7) , 3 1 2 ist der Ansicht, Vergil habe die Route im Auge, welche durch die weite Öffnung zwischen Sardinien und Westsizilien fiihrt. 42 Friedrich, 1 982 (wie Fußn. 31), 84.
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empfangen hat, wird in der Aeneis nicht berichtet. Auf Aeneas' Frage ent gegnet Palinurus, weder habe das apollinische Orakel getrogen (hat er Italiens Küste doch schwimmend etteicht)43 noch habe ihn ein Gott im Meer ertränkt, vielmehr sei das Steuer von ungefahr (jorle) mit großer Wucht vom Heck losgerissen worden; bei seinem Sturz in die Tiefe habe er es mit sich hinab gezogen. Voller Sorge um das steuerlos fahrende Schiff sei er dann drei stürmische Tage von den Wogen dahingetragen worden. Am vierten Tag schließlich habe er Land gesichtet, sei ans Ufer geschwommen; dort habe ihn eine grausame Volksmenge getötet. Nun sei sein Körper ein Spielball des Meeres und der Küstenwinde. Aeneas möge entweder Erde auf seinen Leib werfen oder seine Schattengestalt über die Fluten des Acheron tragen (6,347-371) .44 Während Aeneas im Schweigen verharrt, weist die Sibylle das Ansinnen, ohne vorherige Bestattung über gesetzt zu werden, ent.<;chieden ab. Doch kündigt sie Palinurus an, als Trost ffu sein hartes Geschick werde die Bevölkerung seinen Gebeinen Frieden geben (ossa piabunl), ein Grab (d. h. ein Kenotaph) ffu ihn errich ten und dort Totenopfer darbringen; auch werde der Ort alle Zeit seinen Namen tragen. Diese Ankündigung, eine Aitiologie des Namens der Loka lität, vermag Palinurus' Schmerz zu lindern (6,372-384) . Alle s i n allem erscheint Palinurus bei Vergil nicht allein als überaus kundi ger Steuermann, sondern auch als enger und hochgeschätzter Freund des Aeneas, mit dem er ganz weitläufig verwandt ist. Anders als dem Anführer Aeneas bleibt es ihm allerdings versagt, lebend nach Italien, in die Heimat seiner Vorväter, zu gelangen, mit seinem Opfertod trägt er jedoch zum Gelingen des ganzen Unternehmens bei. Zwischen der Schilderung von Palinurus' Sturz in Buch 5 und der Rück schau auf dieses Ereignis im sechsten Buch bestehen gewichtige Diskre panzen.45 So unterscheiden sich zum Beispiel die jeweiligen Wetterlagen voneinander: In Buch 5 herrscht bei Palinurus' Sturz Windstille, während in Buch 6 ein Sturm tobt. Auch scheint, um ein weiteres Beispiel zu nen nen, die in der Unterwelt weilende Seele des Palinurus nichts von der
43 Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 184. 44 Als "erzählender Redner" tritt Palinurus hier als "Konkurrent des erzählenden Dichters" auf: Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 37), 268. 45 Eine Zusammenstellung findet sich bei Immisch, 1897-1902 (wie Fußn. 17), 1296f.; Williarns, 1960 (wie Fußn. 34), XXV-XXVIII; vgl. ferner G. Karl Galinsky: ,,Aentid V and the Aenrill ' , AJPh 89, 1968, 157- 185; Gnrdon Williarns: Technique and ideas in the Aeneid, New Haven/London 1983, 281f.; Nicholas Jl.I. Horsfall: Virgilio: L'epopea in a1arnbicco, Napoli 1991, 100-103.
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nächtlichen Begegnung mit Phorbas zu wissen. Die Aufgabe, derartige Inkonsistenzen zu analysieren und zu erklären, treibt die Vergilexegese seit der Antike um.46 Teils behilft man sich mit der bereits erwähnten Tilgung von Verspartien,47 teils sucht man die ermittelten Unterschiede zu mini malisieren oder gar zu eskamotieren;48 teils wertet man sie als Zeichen dafür, dass das Epos von Vergil nicht abgeschlossen werden konnte, und nimmt an, der Dichter würde sie bei einer Überarbeitung beseitigt ha ben;49 wieder andere setzen die Differenzen zu einer präsumtiven Ideolo gie in Beziehung: Vergil habe versucht, den hohen Preis, den die Grün dung des römischen Imperiums kostete, zu verschleiern. 50 Wie immer man die Unterschiede gewichtet - festzuhalten bleibt, dass Palinurus' Sturz ins Meer bei Vergil von drei verschiedenen Instanzen und aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. 51 Der heterodiegeti sche Erzähler des Epos schildert das Geschehen als den durch göttliches Eingreifen bewirkten Stellvertretertod eines Unschuldigen. Aeneas führt das Verschwinden des Palinurus auf dessen allzu großes Vertrauen in den heiteren Himmel zurück, auf eine Verkennung der tatsächlichen Gefahr also (S,870f.); diese Fehleinschätzung des so überaus Erfahrenen kann er 46 Am Anfang steht fiir uns Servius
zu Aen. 6,338. 47 So namentlich Heyne, 1 832 (wie Fußn. 25), Peerlkamp, 1 843 (wie Fußn. 23), Zwierlein, 1 999 (wie Fußn. 20) und Gnilka, 2007 (wie Fußn. 23). 48 Vgl. vor allem Buchheit, 1964 (wie Fußn. 1 7) und Thomas Edmund Kinsel': "The death of l'alinurus", La Parola del Passato 40, 1 985, 379-380. 49 Dies nahm im Blick auf Aen. 6,365f. bereit.. der bei Aulus Gelliu... (2. Jahrhundert n. ehr.) mehr&ch erwähnte Vergilkommentator Iulius Hl'ginus an (Gell. 1 0,1 6,1 5); s. ferner etwa Norden, 1 903/1957 (wie Fußn. 1 7) , 231 ; Richard Heinze: Virgi1s epische Technik, Leipzig/Berlin ' 1 9 1 5 (Nachdruck Darmstadt 1965), 146 n. 1 ; 452, n. 1 1 ; E. de Saint-Denis: "Du situer !es ecuei1s des Sirenes et la chute de Palinure?", LEe 7, 1 938, 489f.; Paul Jacob: "L'episode de Palinure", LEe 20, 1 952, 1 63-1 67; Emanue1e Salottolo: "Palinuro", RAAN 27, 1 952, 1 78-1 83; Stei ner, 1 952 (wie Fußn. 35), 8tf.; Williams, 1 960 (wie Fußn. 34), XXV-XXVII; Franz Josef Worstbrock: Elemente einer Poetik der Aeneis. Untersuchungen zum Gattungsstil vergilianischer Epik, Münster 1 963, 53f.; Brooks Otis: Virgi1. A stu dl' in civilized poetry, Oxford 1 963, 41 7f.; Bettes, 1 982 (wie Fußn. 39), 281; W!I liams, 1 983 (wie Fußn. 45), 281 . Altere Arbeiten verzeichnet Buchheit, 1 964 (wie Fußn. 1 7), 1 36 n. 24 und 25. 50 Susanne Undgren Wofford: The choice of Achilles: The ideology of figure in the epic, Stanford 1 992, 1 76-203; 451 -455; Michael Dyson: "Palinurus and bis rud der: Vetgi1, Aentid 5.858-9", Anrichthon 24, 1 990, 70-78. 51 S. William S. Anderson: The an of the Aeneid, Wauconda II1. 1 969 (Nachdruck 1 989), 55; Roland Gregory Austin,: P. Vergili Maronis Aeneidos liber sextus, Ox ford 1 977, zu Aen. 6,348.
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sich offensichtlich nur durch das Einwirken eines Gottes erklären (6,341 b--342). Palinurus selbst, der zu Beginn des fünften Buchs in einem Gespräch mit Aeneas nachdrücklich auf die Macht der Fortuna hingewie sen hatte;,2 sieht einen unvorhersehbaren Zufall am Werke. Auch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Erzählinstanzen und perspektiven der Schilderung kann freilich die Differenzen nicht zum Verschwinden bringen.53
III. The Unquiet Grave: Epilog An der lebhaften philologischen Diskussion über die Vergilische Palinurus-Darstellung hat sich nun auch Cyril Connolly beteiligt: Der Epiloglle genannte letzte Abschnitt von The Unqlliet Grave ist der Frage gewidmet: Who was PalinllT7Js? (p. 1 26-1 38; S. 1 65-1 79) .54 Der Autor spricht hier - genau wie in der später hinzugefügten Einführung - ohne die Maske des Palinurus. Am Balliol College in Oxford hatte Connolly unter anderem bei Maurice Bowra (1 898-1 971) Classics studiert. 55 So war er für eine Interpretation der Vergilischen Palinurus-Geschichte und ande rer antiker Testimonien bestens gerüstet. Der Buchanzeige vom Dezem ber 1 944 entsprechend, prüft er den Mythos unter historischen und psy chologischen Gesichtspunkten, vor allem unter den letzteren. Die Untersuchung selbst gibt sich ironisch als the P[Ychiatrist's corifidential repor/ aus, als Fallstudie; ironisch ist auch die Diagnose formuliert, gleich-
52 5,22b -23a. 53 Zu Recht schreibt PerkeIl, 2004 (wie Fußn. 1 9), 1 29: " [ . . . ) the differences be tween the passages are not trivial, and they can lead to questions of great mor al and theological consequence".
54 Zu dem Epilog finden sich in jüngerer Zeit Bemerkungen bei Cioffi, 1 992 (wie Fußn. 1 9), 1 8 1 , Ziolkowski, 1 993 (wie Fußn. 1 8), 1 37-1 39, Scbiesaro, 2oo1 (wie Fußn. 1 8), 32-45 und PerkeIl, 2004 (wie Fußn. 1 9) . 5 5 Seinem akademischen Lehrer hat Connolly i n The Sunda} Times vom 29. August 1 971 einen Nachruf gewidmet, worin er Bowra als poet manquf bezeichnet; zu Bowras Leben s. vor allem Hugh Uoyd-Jones: "Sir I\Iaurice Bowra 1 898- 1 97 1 ", PBA 58, 1 972 (London 1 974), 393-408, ferner Lynette Gail Mitchell: Bowra, Sir (Cecil) Maurice (1 898-1 971), Oxford Dictionary of National Biogr aphy, Oxford 2004; ooline edition Mal' 2005; zu den Beziehungen zwischen Bowra und Con nolly s. Uoyd-Jones (wie oben), 397 �,[ . . .) men of letters like [ . . .) Cyril Connolly [ . . . ] owed much to bis friend,hip and bis influence''); Fisher, 1 996 (wie Fußn. 8), 60f. und Lewis, 1 997 (wie Fußn. 4), 1 06-1 09.
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sam mit einer Tautologie: StrongJy morked palinuroid tendendes (" Stark ausge prägte palinuroide Tendenzen''). Bei seiner Interpretation folgt Connolly getreulich der Abfolge der Vergilischen Erzählung in Buch 3, 5 und 6 und führt ausgiebig Zitate an, einige Verse auf Latein;,6 zahlreiche längere Partien in der 1 697 zum ers ten Mal erschienenen Ü bersetzung von John Dryden (1 631-1 700).57 Auch wenn die kommentierenden Bemerkungen oft recht knapp ausfallen, ver gisst Connolly nicht, auf die Musikalität der Vergilverse hinzuweisen,58 wie dies bester angelsächsischer Tradition entspricht. Nachdem Connolly als einziges bekanntes Detail der persönlichen Ver hältnisse des Palinurus dessen Abstammung von dem Trojaner Iasius angeführt hat;'9 stellt er fest: There is no evidence of 0'!Y inherited p�'chopathic tenden!} ("Es gibt keinen Beweis für irgendeine ererbte psychopathische Tendenz", p. 1 26; S. 1 65) . Die erste Erwähnung des Palinurus in der Aeneis - gemeint ist Aeneas' Schilderung eines Sees turms 3,1 92-202 zeige ihn in einem Zustand der Verwirrung und lege die Ansicht nahe, dass er unter einem vorübergehenden block-out gelitten habe. Eine solche Interpretation6o wird der Partie schwerlich gerecht - dem Vergilischen Aeneas kommt es vielmehr darauf an, das Exorbitante der Gefahr zu kennzeichnen, wenn er sagt, sogar Palinurus bekenne, Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden zu können (3,20t f.) .61 Auch dass es eine die tatsächliche Situation klar analysierende Außerung des Palinurus ist, die Aeneas hier zitiert,62 zeigt, dass auf Seiten des Steuermanns keine geistige Verwirrung vorliegt.
56 Aen. 3,268-271; 4,620; 5,815f.; 849b; 870f. 57 Tbe Works 0/ Vif}!,il (1697); zu dieser transiaJion with latitude s. Williarn Frost: "Dry den's Virgil", Comparative Uterature 36, 1984, 193-208, Colin Burrow. "Virgil in English translation", in: The Carnbridge Companion to VirgiI, edited by Charles Martindale, Carnbridge 1997, 21-37, hier: 24f.; 28-31 und Richard F. Thomas: VirgiI and the Augustan reception, Carnbridge 2001 (paperbackau..gabe C arn bridge 2006), 122-153. Zitiert wird von Connolly die L'bersetzung folgender Ver se: Aen. 3,192-202; 268-271; 512-520; 562-567; 5,10-34; 833-871; 6,335-384. 58 Zweimal auf p. 127 (S. 166). 59 S. Phorbas' Anrede des Palinurus: Iaside Palinllre (5,844). 60 Ähnlich urteilen etwa Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 180 �,The first glimpse we have of Palinurus is a negative one: he cannot, despite his navigational skills, steer through the storm.") und Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 36. 61 S. dazu Lossau, 1980 (wie Fußn. 19), 115 und oben. 62 Ipse diem noctemqlle n��af discmure caelD / nec 11Ieminisse lIiM media Palinllnls in IInda. In der von Connolly zitierten Übersetzung Drydens ("Ev'n Palinuru.. no distinction
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Feinsinnig beobachtet hat Connolly, dass mit den Worten PaJinurNs in unda (3,202b) zum ersten Mal das Thema der ganzen Geschichte anklingt.
An die Partie Aen. 3,562-567, in der Aeneas vor Dido schildert, wie die Trojaner unter tatkräftiger Hilfe des Palinurus dem Meeressttudel Cha rybdis auszuweichen vermochten, knüpft Connolly die Diagnose, jede der Prüfungen, die Palinurus in der Fremde überstanden habe, hätte bei einem weniger innerlich gefestigten Menschen an anxiery-neurosis or efforl-!yndrome heraufbeschwören können (p. 1 29; S. 1 68) .63 Und er fügt die reizvolle Frage hinzu, wie Palinurus wohl auf Aeneas' Schilderung jenes Erlebens reagiert haben möge. Ob sich Palinurus unter den Hörern an Didos Hof hat, ist aus der Aeneis nicht zu erfahren - Vergil hat sich darauf be schränkt, die Wirkung der Aeneas-Rede auf Dido zu beschreiben (Aen. 4,1-5). Als die Trojaner heimlich aus Karthago abfahren, werden sie beim Zu rückschauen des Feuerscheins gewahr, der von Didos Scheiterhaufen herrührt. Wenn Palinurus nun angesichts des sogleich aufkommenden Sturms Aeneas dazu rät, statt unmittelbar auf Italien lieber auf Sizilien Kurs zu nehmen (Aen. 5,1-34), so lässt der Steuermann in Connollys Auslegung damit erkennen, dass er augenblicklich begreift, dass sich Aeneas der Hybris (huhris) und Gottlosigkeit (jmpiery) schuldig gemacht habe, in zugespitzter Formulierung: He was 'not the Messiah ' (p. 1 30; S. 1 69). An dieser Interpretation ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen zeichnet Connolly den Steuermann als einen sensiblen, hellsichtigen Deuter des Geschehens, der dessen Zeichenhaftigkeit erkennt; zu dieser Interpretati on wurde Connolly sicher angeregt durch die Verse Aen. 5,4b-7, denen zufolge die Trojaner im Wissen darum, was eine rasende Frau vermöge, von einer dunklen Ahnung erfüllt wurden. Zum andem schreibt Connolly dem Vergilischen Aeneas, der im Epos eindringlich als pius dargestellt wird, eine Tat der impietas zu - die hier repräsentierte Auffassung begegnet bereits in der Spätantike, bei LaCtanz,64 wird von einigen Philologen in den 1 930er Jahren vertteten65 und sollte rund dreißig Jahre später eine beson-
found / betwixt the Night and Day: such darkness reign'd around'') fehlt ein Ä quivalent zu ne/!.at. 63 Nach Hirte (Übersetzung 2006, wie Fußn. 1 2, 1 99) ist iffort-�ndrome eine "alte Bezeichnung für 'posttraumatische Belastungsstörung"'. 64 Lact. inst 5,1 0,1 -9; s. dazu Wemer Suerhaum: VergiIs Aeneis. Beitriige zu ihrer Rezeption in Geschichte und Gegenwart, Bamberg 1 981 , 1 05-1 1 1 . 65 S. dazu Ernst-August Schmidt: "The meaning o f VergiI's Aeneiet American and German approaches", in: C:W 94, 2000/2001 , 1 45-1 7 1 , hier: 149f.
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dere Rolle spielen: bei den Anhängern der so genannten /wo voices theory,66 welche im Text des Epos eine offizielle Stimme des Erzählers, das Lob für Gründung, Erhaltung und Mehrung des Imperiums, unterscheiden von einer gleichsam privaten Stimme, der Markierung moralisch bedenklicher Züge im Handeln des Aeneas sowie der vielen durch Krieg und Erobe rung verursachten LeidenP Dass Palinurus bei den Leichenspielen für Aeneas' Vater Anchises im fünften Buch nicht an den Segelwettbewerben teilnimmt,68 veranlasst Connolly zu der Bemerkung, man könne sich gut vorstellen, wie Palinurus in Zurückgezogenheit über den vorangegangenen S turm und das Verhal ten seines Herrn nachdenke, während ringsum der Lärm der Spiele tobe und aufgebrachte Trojanerinnen einige der Schiffe in Brand steckten69 (p. 1 30; S. 1 69). Wie bei Vergils Darstellung der Reaktion auf Aeneas' Erzäh lung ist es eine Leerstelle der epischen Erzählung, die Connolly hier mit seiner Einfühlung in das seelische Befinden eines der Akteure zu füllen sucht.
66 S. besonders Adam Parry: "The two voices of Virgil's Aeneid", in: Arion 2, 1963, 66-80; wieder in: Henry Steele Commager (Hg.): Virgil. A collection of critical es says, Englewood Cliffs 1966, 107-123 [danach zitiert); rVlichael c. J. Putnam: The poetry of the Aeneid. Four studies in imaginative unity and design, Cambridge, Mass. 1965, 64-104; Charles Segal: ,.,4etemum per SdßCllJa nomen. The golden bough and the ttagedy of history", in: Arion 4, 1965, 617-657; Arion 5, 1966, 34-72; Kenneth Quinn: Virgil's Aeneid. A critical description, l.ondon 1968. 67 Ausfuhrlichere Stellungnahmen zur /wo voicts theoD' finden sich namentlich bei Antonie W1osok: "VergiI in der neueren Forschung", in: Gymn asium 80, 1973, 129-151 (wieder in: Antonie W1osok: Res humanae - res divinae. Kleine Schrif ten, herausgegeben von Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt, Heidelberg 1990, 279-300); Suerbaum, 1981 (wie Fußn. (4), 31-45; Stephen J. Harrlson: "Some views of the Aeneid in the twentieth century", in: Stephen J. Harrison (Hg.): Ox ford Readings in Vergil's Aeneid, Oxford 1990, 1-20, hier: 5-10; Schmidt, 2000/2001 (wie Fußn. 65); Ernst-August Schmidt: "Vergils Aeneis als augustei sche Dichtung", in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen erzählen. Forrnkonstanzen und FunktionswandeI vormoderner Epik, Stuttgart 2001, 65-92, hier: 80-90; Gyburg Radke: "Symbolische Aeneis-Interpretationen. Differenzen und Gemeinsamkeiten in der modemen Vergilforschung", in: A&A 49, 2003, 90112, hier 99-103. Von diesen Autoren haben sich vor allem Putnam, 1965 (wie Fußn. 66), 93-104 und Segal, 1965 (wie Fußn. 66), 645-654 näher mit Vergils Palinurus-Darstellung beschäftigt. 68 Die Regatta wird 5,114-285 beschrieben; dass Palinurus ihr fernbleibt, halten unter Hinweis auf Connolly auch Cioffi 1992 (wie Fußn. 19), 181 und PerkeIl, 2004 (wie Fußn. 19), 138f. für signifikant. 69 Aen. 5,604-699.
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Die Ankündigung Neptuns, die Aeneaden würden sicher in Italien landen, einer jedoch werde in den Fluten wnkommen (Aen. 5, 8 1 4f), lässt sich in Connollys Augen nicht wissenschaftlich erklären: "Wäre der Erzähler Palinurus und nicht Vergil", könne man geneigt sein, den Vorfall einer delusion o/riference, einem Beziehungswahn, zuzuschreiben (p. 1 30; S. 1 69).70 Sodann wendet sich Connolly der Vergilischen Schilderung von Somnus' Auftreten und Aeneas' Reaktion (5,833-871) zu; seinen Kommentar er öffnet er mit der Bemerkung, der epische Bericht berge vide Probleme (Tbe account isfun 0/ dijficulties, p. 1 32; S. 17 1) - dies entspricht dem allge meinen Tenor der sich über Jahrhunderte erstreckenden Diskussion. Eine offene Frage ist fiir Connolly, wie Aeneas, nachdem er das Fehlen des Palinurus bemerkt hatte, das Steuer übernehmen könne, wenn es nicht mehr vorhanden sei.7 1 In der Tat berichtet Vergil lediglich, Aeneas habe das Schiff sdbst gdenkt (ipse ratem noclllrnis rexit in undis), ohne über die technische Lösung Auskunft zu geben. 72 Weit größeres Gewicht hat fiir Connolly jedoch die Frage, ob die Behaup tung des epischen Erzählers zutrifft, Palinurus sei "unschuldig" (insons) (5,841 a). Palinurus müsse doch der langen fruchtlosen Irrfahrt müde ge-
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Zu den beiden Versen schreibt Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 38: " [ . . . ] it is worth remembering in this context that Connolly insisted on the relationship between Palinurus and Aeneas as doubles" - eine solche Auffa.�sung kann ich bei Connolly nicht finden. Anders als Connolly betrachten in jüngerer Zeit Willi am S. M. Nicoll: "The sacrifice of Palinurus", in: CQ 38, 1988, 459-472 und Philip Hardie: VirgiI, Oxford 1998, 104-114 Palinurus und Aeneas im übertragenen Sin ne als ·Zwi1Iinge'. 71 Nach 5,863 fugt Dryden in seiner von Connolly zitierten Übersetzung den Satz ein: Whol lhe Mon forsook, the God supplies (Aen. 5,1041); diesen Vers bezeichnet Connolly zu Recht als Interpolation (p. 133, n. 1). Der von der Gottheit beschaff te Ersatz ist Connolly zufoIge ein clauus - das Wort könne nicht nur Schlüssel und Steuer, sondern auch Penis bedeuten. Mit dieser Andeutung lässt Connolly den Leser allein . In VergiIs A entis kOlrunt clauus an drei Stellen vor, jedes Mal in der Bedeutung "Steuer": 5,176f. ([ . .] ipse [Gyas] mo!,isttr / hortoturque uiros clflIIumque rul litom torquet); 852f. ([. ] (palinurus] clauom o4fixus .1 h.uTPns / nusqulJl1l IlI1Iitttbot oculosque sub oslm /entbot) und 10,218 (ipse setkn.r clauumque f'l!git uelisque minislmfJ ; in der Bedeutung "Penis" begegnet das Wort wohl nur ein einziges Mal in der Schönen literatur (5. Heinrich Spelthahn: "clavus", in: ThLL 3, 1328-1331, hier: 1329,60-62): bei Au.�onius (310-nach 393), der Cento nuptiolir VIII (Imminutio) V. 124f., die Verse Aen. 5,852f. als Versatzstück verwendend, dem Wort den obszönen Sinn unterlegt. 72 S. oben. .
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wesen sein,73 entsetzt über die Fühllosigkeit und Abgesrumpftheit (ca/Ioumess), die Aeneas Connolly zufolge mit dem Verlassen Didos gezeigt hat (p. 1 32; S. 1 7 1), entsetzt auch über die Verbrennung mehrerer Schiffe - da werde Palinurus' Verschwinden nicht zufällig gewesen sein, wie dies aber Aeneas vermute.74 Wenn Palinurus bei seinem Sturz ins Meer außer dem Steuerruder Teile des Hecks mit sich gerissen habe,75 so zeige dies, dass er sich nicht allein ein Floß verschaffen, sondern auch Aeneas schwe ren Schaden zufügen wollte, und das in der gefahrlichen Nähe zu den Sirenen! Kurz, Palinurus' Verhalten sei ein Beispiel von anti-sacial l!Jsteroid resentment ("von unsozialem, hysterieähnlichem Übelnehmen", p. 1 32f.; S. 1 72) . Wenn er, wie es diese Formulierung besagt, die Aeneaden mit Ab sicht im Stich gelassen hat, kann er in Connollys Augen keineswegs als 'frei von Schuld' (insam) gelten.76 Gegen Ende des Epilogs wird Connolly auf die Sornnu s-Szene noch einmal zurückkommen und dabei einräumen, dass sich deren Sinn nicht sicher erschließen lasse - das heißt aber, dass über Palinurus' Intention letztlich keine eindeutige Aussage möglich sei (p. 1 37; S. 1 77). Aeneas' an ein Epitaph gemahnender Ausruf, Palinuru.<; habe allzu sehr dem ruhigen Meer vertraut und werde nackt an einem unbekann ten Strande liegen (5,870f.),77 wird von Connolly als doppelte Ironie verstan den: Zum einen hatte sich Palinuru.<; gebrüstet, er sei viel zu erfahren, um dem Meer zu vertrauen (5,849f.), zum andern hatte Dido in ihrer letzten Rede den Wunsch geäußert, Aeneas möge vor der Zeit den Tod finden und unbestattet an einem Strande liegen (4,620) .78 An dieser Stelle seines Kommentars weist Connolly nachdrücklich auf die 1 936 in Oxford er schienene Untersuchung Cumaean Gates von William Francis Jackson Knight (1 895-1 964) hin; dort wird die Vermutung geäußert, Palinurus' 73 Nach McKay (1 984) 1 23 könnten die Worte somnia tristio portans insonti "irnply despair at the interminable odyssey". 74 Cioffi, 1 992 (wie Fußn. 1 9), 1 8 1 urteilt in ihrer Interpretation zu Aen. 5,1 2-1 8 über Connollys Auffassung folgendermaßen: " Palinurus' readiness to give up may suggest that he has been demoralized by prior events Iike the sojoum in Car thage and the seeming fruidessness of the joumey thus far. Jl.lore to the point, I think, is his lack of trust in the god. Neptune and Jupiter". 75 Aen. 6,349-351 ; s. auch 5,858-860. 76 Anders urteilt etwa Pierre GrimaI: Virgile ou Ia seconde naissance de Rome, Paris 1 985, 209: "Ainsi, Palinure sera sacrifie pour le salut de Ia flotte, �.jctime expia toire. Palinure est innocent" . 77 Zu Zweifeln an der Echtheit der beiden Verse s. oben. 78 S. auch James J. O'Hara: Death and the optimistic prophecy in Vergil's Aeneid, Princeton 1 990, 1 6-24, 1 09 und Dyson, 2001 (wie Fußn. 33), 71.
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Entfernung des Schiffshecks stelle ein Vergilisches Echo auf das Gilga mesch-Epos dar,79 in dem der Protagonist auf seiner Fahrt in die Unter welt einen wichtigen Teil seines Schiffes verliert (p. 1 33; S. 1 73) . 80 Was die Begegnung zwischen Aeneas und Palinurus' Seele in der Unter welt betrifft, so vermutet Connolly, Aeneas' Erwähnung einer Prophezei ung Apolls könne eine Falle (a trap) sein, finde sich im Epos doch kein weiterer Hinweis auf dieses Orakel (p. 1 34 n. 1 ; S. 1 74 n.). Die Schilderung, die Palinurus von seinem Sturz ins Meer gibt (6,347-371), erinnert Con nolly an die Art und Weise, wie psychisch Kranke ihre Unschuld zu be teuern pflegen (p. 1 34; S. 1 73) . Palinurus ziele mit seiner Darstellung da rauf ab, das Misstrauen des Aeneas zu zerstreuen (p. 1 34 n. 1 ; S. 1 74 n.).8 1 Dass dem Steuermann nicht Aeneas, sondern die strenge Sibylle antwortet (6,372-381), hält Connolly ohne weitere Ausführung fiir bemerkenswert (noteworll!Y) (p. 1 36; S. 1 75) . Zu Recht weist er darauf hin, dass Palinurus von einem Einschlafen nichts sagt, sondern behauptet, das Steuer sei ihm mit Gewalt entrissen worden (6,349, p. 1 36; S. 1 75). Schließlich hebt Con nolly noch hervor, dass die Verse Aen. 6,362-271 starke Ähnlichkeit mit der in der 04Yssee (1 1 ,5 1-83) geschilderten Begegnung zwischen Odysseus und der Seele des Elpenor haben; die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Szenen sind in jüngerer Zeit näher behandelt worden. 82 79 W. F. Jackson Knight: Cumaean gates. A refetence of the sixth Aeneid to the initiation pattern, Oxford 1 936; wieder abgedruckt in: W. F. Jackson Knight: Vergil. Epic and anthropology, edited by John D. Chrisrie, London 1 967; zitiert wird hier nach dieser Ausgabe: 1 59; 1 7 1 . - Eine feine Würdigung von Knights Vergilinterpretation findet sich bei Timothy P. Wisernan: Talking to Virgil. A miscellany, Exeter 1 992, 171 -209; zu Cllmaean GaIe.r s. 1 79-1 83. 80 Gemeint sein muss die Schilderung auf Tafel 1 0, wie Gilgamesch "die Steiner nen" zerschmetten (10 Stefan Mauls Übersetzung [Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert, München 420081 V. 78-1 08). Was man sich unter "den Steinernen" vorzusteUen hat, ist bis heute ungeklän (Maul, 1 80 zu X, 88) . Knight, 1 967 (wie Fulin. 79), 1 7 1 schließt sich an Thompson (Thompson, R. CampbeU: The epic of Gilgamish. A new translation from a collarion of the cuneifonn tablets in the Brirish Museum rendered literaUy into English hexame ters, London 1 928) an, der 46 n. 3 schreibt, möglicherweise seien Paddel gemeint - eine Auffassung, die Maul ausschIieBen möchte. 81 Zwischen der Cbersetzung von 6,348 und 349 fügt Dryden folgende zwei Verse ein: "But while the Stars, and course of Heav'n I keep I My weary'd Eyes were seiz'd with fatal sleep"; zu Recht weist ConnoUy p. 1 33 n. 1 (S. 1 74 n.) darauf hin, dass Palinurus von einem Einschlafen nicht spricht; s. auch unten. 82 S. etwa Jacques Heurgon: "Un exemple peu connu de la retractatio virgilienne", in: REL 9, 1 93 1 , 258-268, hier: 262; Steiner, 1 952 (wie FuBn. 35), 82f; Lossau, 1 980 (wie Fulin. 1 9); Laudizi, 1 988 (wie Fulin. 41), 65-67.
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Der Tod des Palinurus bildet für Connolly eine Parallele zu dem des Misenus, der in der Brandung vor Cumae ertrunken war; vor dem Abstieg in die Unterwelt hatte Aeneas den Leichnam seines Trompeters unbestattet am Strand gefunden (Aen. 6,1 62b-- 1 76a) . 83 Die Entsprechun gen zwischen dem Schicksal von Misenu.<; und Palinurus haben ebenfalls in neuerer Zeit größere Aufmerksamkeit gefunden, zumal beide, Palinurus wie Misenus, einem Kap an der Westküste Italiens ihren Namen geben. 84 Der Umstand, dass Aeneas gerade in dem Augenblick, da er sich aus schließlich seiner Rolle als Reichsgriinder zu widmen beginnt, zwei seiner besten Fachleute, den Steuermann und den Trompeter, und kurz darauf auch noch seine Amme Caieta verliert, veranlasst Connolly zu einer küh nen Hypothese: Vielleicht habe es unter den Trojanern eine "alte Garde" gegeben, die der Leitung durch Aeneas überdrüssig war und sich unbe wusst dagegen sträubte, das Gelobte Land zu betreten oder um dieses Zieles willen weitere Strapazen auf sich zu nehmen (p. 1 36; S. 1 76) . In diesem Zus ammenhang zitiert Connolly W. F. Jackson Knights Urteil, Vergil habe den Preis (cost;, den der Aufstieg des Reichs forderte - an Leid, an Gewissensqualen und sehr vielen anderen Dingen - sehr wohl gekannt und aufs klarste erkennbar werden lassen;85 es handelt sich um jene pessimistische Aeneis-Deutung, die von den Sechziger Jahren an na mentlich in der angloamerikanischen Forschung entfaltet werden sollte. 86 Des Weiteren gibt Connolly in einer Fußnote zu erwägen, ob sich Vergil mit dem Steuermann identifizierteS7 und so seinen unbewussten Todes wunsch (unconscious death-wish) reflektierte; wenn dies der Fall gewesen sei, dann ergebe sich die Proportion Palinurus / Aeneas : Vergil / Augustus (p. 1 36 n.; S. 1 76 n.) - eine mit Typologie kombinierte Analogie.
83 In diesem Kontext verweist Connolly auf eine von VergiI abweichende Überliefe rung: Gemeint ist das Kapitel 1 ,53 der Rnmaike Arcbaiolo.l!,ia des Dionysios von Halikarnass, nicht, wie es in der englischen Ausgabe von 1 945 und in der ameri kanischen von 1 981 sowie in der deutschen Übersetzung von 2006 heißt, eines Dionysus.
84 Heurgon, 1 931 (wie Fußn. 82), 261f; Putnam, 1 965 (wie Fußn. 66), 1 00; Ray mond ). Clark: Catabasis. Vergi1 and the wisdom tradition, Amsterdam 1 979, 1 521 54; 1 57f.; Lossau, 1 980 (wie Fußn. 1 9), 1 1 3; Alexander G. McKay: "Vergilian heroes and toponymy. Palinurus and ;\fisenus", in: Harold D. E'ien (Hg.): Mne mai. Classical Studies in memory of Karl K Hulley, Chico 1 984, 1 21 - 1 37; Köves Zulauf, 1 998-1 999 (wie Fußn. 1 7), 31 7-323. 85 Knight, 1 967 (wie Fußn. 79), 273. 86 S. dazu oben. 87 S. dazu Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 1 8), 34.
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Nicht nur mit Elpenor und Misenus lässt sich Palinurus Connolly zufolge in Beziehung setzen, sondern auch mit Phrontis, Menelaos' Steuermann, der von ApolIon während der Fahrt getötet wurde (04Yssee 3,278-285). Nach diesem Überblick über die Vergilische Erzählung versucht Connolly abschließend, Wesen und Handeln des Palinurus im Ganzen zu charakte risieren. Der Vergiltext erlaube freilich kein definitives Urteil:88 Ob der Steuermann die Aeneaden vorsätzlich im Stich lassen wollte, ob er das unschuldige Opfer göttlicher Rache war oder ein melancholischer, verbit terter Charakter, der fühlte, dass seine besondere nautische Begabung bald nicht mehr gebraucht werden würde, könne aus dem vorhandenen Be weismaterial nicht erschlossen werden (cannot be deducedfrom the evidence, p. 1 37; S. 1 77) . Palinurus' raue Seemannsart könnte über seine tatsächliche Gemütsverfassung hinwegtäuschen. Gleichwohl zeigt sich Connolly ge neigt, Selbstmord und einen Unfall auszuschließen. Was als Erklärungs möglichkeit bleibe, sei entweder ein Vorsatz, d. h. eine im Voraus geplante Flucht und Rache, oder etwas Übernatürliches, nämlich ein Sühneopfer für Juno, welches den Erfolg von Aeneas' Unternehmen sichern sollte. Welche dieser beiden Erklärungen man vorziehe, hänge davon ab, wie man die Ansprüche der Vernunft im Vergleich zu denjenigen offenbarter Religion bemesse (p. 1 37; S. 1 77). Connollys Fazit lautet: Als Mythos, vor allen Dingen als ein Mythos, der wichtige psychologische Aufschlüsse gebe, stehe Palinurus offensichtlich for a cerlain wi//-t01ailure or repllgnance-to Sllccess, a desire to give up at the last moment, an IIrge towards Ioneliness, isolation and obscuri!J, "für einen gewissen Hang zum Scheitern oder eine Abneigung gegen den Erfolg, für ein Verlangen, im letzten Augenblick aufzugeben, für ein dringendes Bedürfnis nach Einsamkeit, Isolation und Unbekannt heit" (p. 1 37; S. 1 78) . Trotz seiner großen Fähigkeiten und seiner geachte ten Stellung in der Gesellschaft habe Palinurus seinen Posten im Augen blick des Sieges verlassen und sich für die fremde Küste entschieden. Wie viele andere, die den Kampf aufgeben, weil sie Erfolg für etwas geradezu Verhängnisvolles ansehen, bereue er seinen Verzicht sofort und wünsche, er wäre seiner Aufgabe treu geblieben. Obwohl er den Beifall der Menge und den Ruhm verachte, lerne er auf seiner langen Irrfahrt, sich für diese Geringschätzung zu hassen. Ganz am Schluss des Epilogs befasst sich Connolly mit der Etymologie des Wortes Palinurus (lTaAivoupos), weil nun einmal Neurotiker ihrem Namen besonderes Gewicht beizumessen pflegten: Das griechische Wort
88 S. oben.
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bedeute "einer, der wiederum Wasser lässt" (mx?uv ovpsi), und werde in diesem Sinne von Martial in Epigr. 3,7889 verwendet: Minxisti currente semeI, Pauline, carina. Meiere uis iterurn? Iam Palinurus eris l "Du hast schon einmal (über Bord) gepinkelt, Pau1inu" als dein Schiff dahineilte. Willst du erneut pissen? Sogleich wirst du ein Palinurus sein".'o
Die Wörter ovpsiv, mingere, meiere besäßen auch eine sexuelle Komponente, und das eröffne die Möglichkeit zu einer Tiefenanalyse (deep analYsis) nach dem Muster von Sigmund Freud. Doch dieser Aufgabe, so schließt Con nolly seine Betrachtung, wolle und könne er jetzt nicht nachgehen. Was die Etymologie des Namens Palinuru.<; betrifft, so gibt es in jüngerer Zeit mehrere Versuche der Erklärung;91 beispielsweise bringt man das Wort mit oupos (Wind) oder oupos (Wächter) in Zusammenhang. Die von Connolly vorgetragene Etymologie findet heute wohl keinen Fürsprecher. Versuchen wir eine Bilanzierung des "Epilogs"! Zwar hat Connolly die Diskrepanzen innerhalb der Vergilischen Palinurus-Erzählung nicht eigens thematisiert, aber er muss doch gespürt haben, dass diese Partie der Amtis so manche Frage offen lässt. Mehrfach versucht Connolly, dort nicht Erzähltes gewissermaßen nachzutragen und auf solche Weise Leerstellen des epischen Textes zu füllen. Wichtigste Intention seiner Vergilexegese ist es, mit dem begrifflichen Rüstzeug psy chologischer Analyse Palinurus' Charakter zu bestimmen und die Beweg gründe seines Handelns zu errnitteln.92 Dabei kommt es ihm zum einen darauf an, die innere Beziehung zwischen dem Steuermann und Aeneas zu erschließen: Er meint, bei Palinuru.<; ein starkes Befremden über Rück89 S. dazu Alessandro Fusi: M. Valerii Martialis Epigrammaton liber tertius. Intro duzione, edizione critica, traduzione e commento, Hildesheim 2006, 474-476. 90 Das heißt über Bord gehen. 91 S. besonders Immisch, 1 897-1 902 (wie Fußn. 17); Pellegrino Claudio Sestieri: "Palinuro", in: RAAN 24-25, 1 949-1 950, 5 1 f. ; Reinhold Merkelbach: "Palinuru,", in: ZPE 9, 1 972, 83; Albrecht Dihle: "Zur nautischen Fachsprache der Grie chen", in: Glotta 5 1 , 1 973, 268-280; Feliciano Speranza: "Palinuro", in: Ettore Paratore (Hg.): Itinerari virgiliani. Raccolta di saggi promossa da! Comitato na zionale per le celebrazioni del bimillenario virgiliano, Milano 1 98 1 , 1 33-136; Kö ves-Zulauf, 1 998-1 999 (wie Fußn. 1 7) ; Horsfall, 2006 (wie Fußn. 1 7) , 1 74. 92 Zur Anwendung psychoanalytischer Verfahren auf literarische Texte der Antike s. die prinzipiellen Betrachtungen bei Thomas A. Schmitz: Moderne Literaturthe orie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 21 4-224.
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sichtslosigkeit und Hybris auf Seiten des Aeneas zu erkennen. Zum an dem schließt Connolly auf einen Widerstteit in Palinurus' Psyche: Einer seits fühle Palinurus die Verpflichtung, die Aufgabe, die ihm von der Ge meinschaft zugewiesen wurde, zu erfüllen, indem er die Flotte sicher zum verheißenen Land fuhrt; andererseits scheue er im Verlangen nach einem Leben in Ruhe und Einsamkeit vor jener letzten Ansttengung zurück, die ihm die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Aufgabe ermöglichen würde. Was die psychologische Herangehensweise betrifft, so verweist Connolly in der Einführung selbst auf die von Carl Gustav Jung (1 875-1 961) geübte Mythendeutung:93 Der Epilog sei a pastiche tif p�'cho-anafytical jargon and Jllngian exegesis (p. XVI; S. 14t). Ein wichtiges Vorbild bei der Heranzie hung von Jungs "analytischer Psychologie" war sicher W. F. Jackson Knight: In seiner Rezension von Knights Buch Roman Virgil, die er am 2. April 1 944 in The Ohserver unter der Überschrift Lord tifLlnguage veröffent licht hat,94 rühmt Connolly besonders die Nähe des Autors zur Jungschen Psychologie.95 Das Resultat von Connollys Interpretation der Vergilischen Palinurus Darstellung ist in der bündigen Formulierung Theodore Ziolkowskis "a thoroughly ironie modernization of the Aeneid".96 Man sollte es bei einem solchen Urteil freilich nicht bewenden lassen, sondern hinzufügen: dass Connolly durch die psychologische Analyse der Befindlichkeit des Palinurus sowie der Beziehung zwischen Palinurus und Aeneas einen Bei ttag zur Vergildeutung geliefert hat, der gewiss auch heute noch Beach tung verdient - nicht zuletzt dadurch, dass solchermaßen der Blick auf Leerstellen der epischen Erzählung gelenkt wird. Wichtig ist auch, dass Connolly die grundsätzliche Schwierigkeit der Vergilexegese hervorhebt.
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Zu Jungs ?lIythendeutung s. Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einfüh rung, l\Iünchen/Zürich 1985, 41-43 und Carl-Friedrich Geyer: Mythos. Fonnen Beispiele - Deutungen, München 1996, 60-64; 95. 94 Ziolkowski, 1993 (wie Fußn. 18), 134. 95 Nachdem Conno11y rühmend hervorgehoben hat, dass Knight die anthropologi schen Methoden yon Jarnes George Frazer (1854-1941) angewandt habe, fahrt er fort ,,And from Jung he has gained an eyen deeper understanding of myth, reli gion, and ritual. Jung's Theory of Archetypes of the Co11ectiye Unconscious, of each race inheriting a sub-conscious mind stocked with primeval mythical figures, truly magical beings, like the symbols of the Tarot pack, is now beginning to be ar fmit in the work of those who haye absorbed it." 96 Ziolkowski, 1993 (wie Fußn. 18), 138.
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IV. Thc Unquiet Grave:
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Teil 1-3 im Überblick
Damit ist es Zeit, sich dem Hauptteil von Connollys Thc Unqllie/ Grave, den drei Kapiteln, zuzuwenden.97 Wie Connolly in der Einführung schreibt,98 verweist der Titel des Werks zum einen auf das Kenotaph des Palinurus, dessen Totenseele einem von Servius mitgeteilten Orakel zufolge besänftigt werden mussY9 Zum andem ist Thc Unqllic/ Grave der Titel einer anonymen siebenstrophigen Ballade aus dem 1 5. Jahrhundert,HK' in der ein Uebhaber das Grab seiner Gelieb ten aufsucht, ihren Schlaf durch das Begehren eines Kusses stört und nach dreihundertsechsundsechzig Tagen des Ausharrens von ihr fortgeschickt wird. Im dritten Teil zitiert Connolly die Strophen 3--7 (p. 89f.; S. 1 2 1 f.), in der Einführung die erste und siebente (p. XIIIf.; S. 1 2). Was ihn an dieser Ballade fasziniert, ist wohl, dass die Geliebte ein ähnliches Verlan gen nach Einsamkeit und Fürsichsein zeigt, wie er es an Palinurus beo bachtet (p. 1 37; S. 1 78). Wie der Leser aus der Einführung erfahrt, liegen Connollys Werk die Auf zeichnungen dreier Notizbücher zugrunde, die er zwischen Herbst 1 942 und Herbst 1 943 in seiner Wohnung am Bedford Square (im Londoner Stadtbezirk Bloomsbury)101 abgefasst hat.102 So ist denn The Unqllie/ Grave auf weite Strecken als Journal des Autors angelegt. Die Zeitangaben setzen nach einer längeren reflexiven Partie auf p. 24 (S. 44) mit dem 1 2. Dezem ber ein; wie sich aus Connollys späteren Hinweisen auf seinen vierzigsten Geburtstag ergibt,103 ist das Jahr 1 942 gemeint. Die letzte Datumsangabe betrifft den 1 1 . November [1 943] (p. 1 1 3; S. 1 50) .104 um die Erwähnungen des Palinuru.. gehen, nicht darum, den geistigen Gehalt des W'erks im Ganzen zu erschließen; einen wichtigen Beitrag zu dieser Aufgabe leistet Jonathan Michael Kertzer: "Cyrill Connolly's Tbe Unquiet Grave: The pilot and the noonday devil", in: Mosaic 20/4, 1 987, 21-36. 98 P. XIII-XIV; S. 12. 99 Servius zu Aen. 6,378: Mox "ero ucaniJ pestilmtia laborantibus Il'spondit oraC/lllim lWanes Palinuri me placandos: ob qllam Il'm non IoI1,�e a Velia ef IIiC/lm et cmotaphillm ci
97 Dabei kann es nur
dedenm!.
100 Der Text ist wieder abgedruckt in: Laura Barber (Hg.): Penguin's Poems for Life, London 2oo7, 341 . 101 Heute ein Teil des London Borough of Camden. 1 02 Tbc Unqllief Grave p. XI; S. 9. 1 03 P. 86; 87; 89; S. 1 1 7; 1 1 9; 1 2 1 . 1 04 S . auch die Einführung p . XI; S . 9: Der Autor "hielt seine Aufzeichnungen zwi schen Herbst 1 942 un d Herbst 1 943 i n drei kleinen Notizbüchern fest".
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Das Buch bietet keinen zus ammenhängenden, in sich geschlossenen Text, sondern enthält zwn einen zahlreiche wörtliche Zitate aus Werken der Weltliteratur oder auch Inhaltsreferate;105 zwn anderen finden sich Be schreibungen etwa von Landschaften, Blwnen und Flüssen sowie Reflexi onen des Autors zu den verschiedensten Gegenständen, zwn Beispiel darüber, was ein literarisches Meisterwerk ausmache, oder über die Eigen schaften der Quitte; zuweilen gewinnen diese Reflexionen die Prägnanz eines AphorismusYJ6 So verbindet sich in The Unquiet Grave ein vor allem durch die Datwnsangaben kenntliches Element der Autobiographie mit der Anlage einer Anthologie und dem Charakter einer Sammlung pointier ter Reflexionen. Das Ganze stellt freilich keineswegs eine planlose Anhäu fung heterogener Bestandteile dar. Was die einzelnen Äußerungen mitei nander verklammert, ist das immer wieder aufgenommene Nachdenken des Autors über seine Eindrücke, Empfindungen und Stimmungen, die Analyse seines seelischen Befindens, zu der er zahlreiche Reflexionen von Autoren der Weltliteratur heranzieht. Geprägt ist die psychische Situation wesentlich durch Angst; in deren Vermeidung liege das Geheimnis des GIÜcks.1U7 Zur Frage der Einheitlichkeit des Werks gibt Connolly im Üb rigen selber einen wichtigen Hinweis in der Einfiihrung (p. XII; S. 1 0): Bei der Überarbeitung der 1 942/ 1 943 geschriebenen Notizbücher sei in den Aufzeichnungen eine verborgene Struktur zutage getreten, die sich als "Initiation, Höllenfahrt, Purgatoriwn und Erlösung" des sprechenden Ichs beschreiben lasse. Connolly setzt die Anlage seines Buchs also in Analogie zwn Aufbau von Dantes Divina Commedia. Dass die Zusammen fiihrung sehr unterschiedlicher Elemente letztlich auf ein Ganzes zielt, deutet auch der Untertitel des Werks an: A /VOm rycie, ist ein Zyklus doch eine Gruppe von zwar selbständigen, autonomen Texten, die aber ,,in narrativer Sukzession oder thematischer Variation" aufeinander bezogen sind. lOH
1 05 Eine herausragende Rolle spielen dabei französische Aumren wie Blaise Pa.ca! (1 623-1 662) (Kap. 1), Charles-Augustin Sainte-Beuve (1 804-1 869), Nicolas Chamfort (1 741 -1 794) (Kap. 2), Gustave Flaubert (1 821 -1 880), Gerard de Nerval (1 808-1 855) und Charles Baudelaire (1 821 -1 867) (Kap. 3). 1 06 Berühmt ist etwa der Satz: Jmprironed in everyJat lIIan 0 thin one is wild!,. signal/in!. to he kt out (" Gefangen in jedem fetten Mann, begehrt ein dünner wild gestikulierend, herausgelassen zu werden", p. 58; S. 85). 1 07 S. p. 29 (S. 50): The semt of happiness lies in the avoidance ofAn!.st (anxie!'J, spleen, noia, flar, relllorse, c% rd). 1 08 ClalL. Michael Ort: " ZykllL''', in: Reallexikon der deutschen literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2003, 899-901 , hier: 899.
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Hinsichtlich der Kombination von Tagebuch und literarischer Reflexion lässt sich The Unqlliet Grave vor allem mit zwei früheren Werken verglei chen: mit Zibaldone, den überaus umfangreichen Aufzeichnungen des von Connolly sehr geschätzten und in seinem Buch mehrfach rühmend er wähnten Giacomo I..eopardi (1798-1 837),109 und mit den postum veröf fentlichten Cahiers des Charles-Augustin Sainte-Beuve;l l0 allerdings ist der relative Anteil der Zitate aus anderen Autoren bei beiden Vorgängern weit geringer als bei Connolly. Die Gliederung des Buchs in drei Kapitel verweist nach Connollys eige nem Bekunden auf den Palinurus-Mythos: Die Zahl entspricht derjenigen der Tage und Nächte, die der Steuermann nach seinem Sturz im Meer verbracht hat, bis er die italische Küste etteichte.1 1 1 Der erste Teil ist Ecce Gubernator überschrieben, ein Zitat aus Aen. 6,337 (ecce gubernator sese Palinurus agebat). Dieses Kapitel bietet a self portrait of Palinurus, with his views on literature, love and religion, his bitter doubting attitude �,ein Selbstporträt des Palinurus mit seinen An sichten zu Literatur, Liebe und Religion, seiner bitteren Haltung des Zwei feIns", p. XIV; S. 1 2) ; der psychische Abwärtsdrang des von mannigfa chen Ängsten gepeinigten Schreibenden mündet in den Gedanken an Selbstmord. Zum ersten Mal ruft sich der Autor in diesem Teil die Straßen von Paris, einer Stadt, in der er sich mehrfach aufgehalten hat, ins Ge dächtnis zurück; sie werden dann in den beiden nächsten Abschnitten eine große Rolle spielen. An das Ende des ersten Kapitels knüpft der Anfang des zweiten an, das mit Te, Pa/inllT'C, pefens, einem Zitat aus Aen. 5,840, überschrieben ist. Der
1 09 Die Aufzeichnungen erstrecken sich über die Jahre 1 8 1 7 bis 1 832 (Giacomo Leopardi: Tutte le opere a cura di Walter Binni con la collaborazione di Enrico Ghiberti, Florenz 1 962). Den Hinweis auf Leopardi habe ich bei Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 1 8), 31 f., gefunden. 1 1 0 Es handelt sich um L'berlegungen, Urteile, Anekdoten und I\Iaximen, die Sainte Beuve zwischen 1 834 und 1 868 aufgezeichnet hat; sie sind bisher nur in Au.. zü gen erschienen: 1 876 (hg. v. J. Troubat), 1 926 unter dem Titel Mes Poisons (hg. v. V. Giraud) und 1 973 unter dem Titel Cahiers I: Lt Cahur verf, 1834-1847 (hg. v. R. Molho), jeweils in Paris. Connoll)' bezieht sich auf Girauds Ausgabe von 1 926 (p. 58f.; S. 86): Beim Lesen dieser Notizen habe er eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung empfunden und entdeckt: His is me. 1 1 1 S. die Buchanzeige in HoriifJn 60, Dezember 1 944; s. auch Hayward, 1 945 (wie Fußn. 6), 500 - allerdings schreibt Hayward irrtümlich, Palinuru..' Leichnam sei im Meer umhergetrieben.
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Autor erinnert zu Beginn an vier Bekannte, die sich das Leben nahmen.l l2 Unter anderem äußert er in diesem Teil den Wunsch, die Straßen von Paris und die sonnigen Strände möchten Fürbitte fiir ihn einlegen (p. 62; S. 90). Der Titel des dritten Kapitels, "La cle des chants" �,Der Schlüssel zu den Gesängen"), soll die Erfüllung dieses Wunsches andeuten. Die Gespens ter, die den Autor lange Zeit gequält hatten, werden schließlich besänftigt. Den Wandel seines Gemütszustands beschreibt er in Entsprechung zur Vergilischen Schilderung in Aen. 5 und 6, indem er den Ausklang des Kapitels folgendermaßen charakterisiert: Placated and placating, the soul of Pa/inurus drifts aw'!Y; his botIJ i.r washed up on afovourite shore �,Versöhnt und versöhnend schwebt die Seele des Palinurus davon; sein Körper wird an einem Lieblingsstrand bespült", p. XVI; S. 1 4) ; gemeint ist - so ergibt sich aus dem Schluss des Teils 3 - das Ufer des Siagne, eines Flusses in den französischen Seealpen.ll3 Wie sich in diesen Inhaltsskizzen zu den Kapiteln 1 -3 andeutet, metaphorisiert Connolly das Geschehen, in dessen Zentrum die Vergilische Palinurusgestalt steht: Er überträgt die fiktive Ereignisfolge der epischen Erzählung auf die Entwicklung, welche die seelische Befind lichkeit seines Palinurus genannten second se!f innerhalb des behandelten Jahres nimmt: So ist Gegenstand von The Unquiet Grave in der Tat, wie es in der Buchanzeige vom Dezember 1 944 formuliert war, "a year's journey through the mind of a writer".
V. Palinurus in The Unquiet Grave, Teil 1-3 Die Figur des Palinurus tritt nun in den drei Kapiteln von The Unquiet Graue auf verschiedene Weisen hervor: als Wir- oder Ich-Sagender, mit dem Gebrauch der Er-Form und in Apostrophen des Schreibenden, also in Selbstanreden. Ein paar Beispiele dieser unterschiedlichen Aussagefor men seien jetzt betrachtet.
1 1 2 Philip Hese1tine [peter Warlock] (gest. 1 7.12.1 930), Harry Crosby (gest. 1 929), Rene Creve1 (gest. 1 935), Mara Andrews (gest. 1 942). 1 1 3 Wie der Autor Palinurus ausdrücklich anmerkt, weicht seine Darstellung hier von der Vergilischen Erzählung ab, in der ein Kap am Golf von Policastro nach dem Steuermann benannt wurde (p. 125; S. 164). Selbstironisch mit dem Leser spie lend, fUgt der Autor hinzu, die Divergenz sei Anlass, seine Wahrhaftigkeit (vmJa.ty) in Zweifel zu ziehen.
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Wie es dem Usus des Tagebuchs gemäß ist, äußert sich der Autor häufig in der Wir- oder Ich-Form. Mit einem Wir schließt sich der Schreibende in eine je und je definierte Gruppe ein. Beispielsweise bezeichnet er auf diese Weise die Leute, mit denen er gemeinsam in Frankreich reiste: Leaving Bellac [. . .] we enter the Bocage Limousin �,Bellac verlassend, erreichen wir [ . . . ] den Bocage Limousin", p. 98; S. 1 33). Zuweilen zielt der Autor mit einem WIr vor allem auf die Zeitgenossen: Without hea/th and courage we cannotface the present or the germ of thefuture in the present and take refuge in evasion ("Ohne Gesund heit und Mut können wir uns der Gegenwart oder dem Keim der Zukunft in der Gegenwart nicht stellen und nehmen Zuflucht im Ausweichen", p. 99; S. 1 34) . An anderen Stellen meint der Autor in anthropologischer Re flexion alle Menschen, etwa bei der Aussage: We are doser to the Vegetable Kingdom than we know ("Wir sind dem Königreich der Pflanzen näher, als wir wissen", p. 49; S. 74t), in der Beobachtung: We think we recognize someone in possing. A mistake, but a moment later we nm into them ("Wir meinen, jeman den im Vorbeigehen zu erkennen. Ein Irrtum . Aber im nächsten Augen blick laufen wir ihnen in die Arme", p. 64; S. 92) oder beim Nachdenken darüber, auf welche Weise man das Empfinden von Glück befördern könne: By removing Angst [. . .] we are r . .] prepared to receive such b/essings os m'!Y come our w'!Y ("Durch Beseitigung der Angst [ . . . ] sind wir [ . . . ] dazu gerüs tet, solche Segnungen entgegenzunehmen, wie sie uns auf unserem Weg begegnen können", p. 29; S. 50) . Die Ich-Form erscheint des Öfteren bei Äußerungen, die einen ausgepräg ten Bekenntnischarakter haben. So möchte der Autor einmal das Empfin den ausdrücken, bestimmten Pflanzen, Tieren, Menschen und Epochen besonders nahe zu sein: Als "meine alte Inkarnation" (nr>' o/d incamation, p. 9) apostrophiert er Palinurus vulgaris, die Gewöhnliche oder Europäische Languste,114 und fahrt nach der Nennung weiterer Inkarnationen fort: "Perioden, in denen ich gelebt habe: das augusteische Zeitalter in Rom, in Paris und London zwischen 1 660 und 1 740 sowie zwischen 1 770 und 1 850" (p. 9; S. 27). Zu seinen Freunden im dritten Zeitalter rechnet er u. a. Edward Gibbon, Lord Byron, Charles Baudelaire, Gerard Nerval und Gustave Flaubert, zu den Freunden im zweiten neben anderen Jean de La Fontaine, Fran<;ois de La Rochefoucauld, Jonathan Swift, David Hume und Voltaire, zu denen in der augusteischen Epoche Horaz, Tibull , Vergil 1 1 4 Das Tier wird auch PaJinuITIs elepha.r genannt und ist wie alle Langusten in der Nacht aktiv; zur Interpretation von 'Palinuru.. " Aussage s. Kertzer, 1 987 (wie Fußn. 97), 26.
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- und den bereits der frühen Kaiserzeit angehörenden Pettonius. Ein anderes Bekenntnis lautet etwa: For me success in life means suroival �,Für mich bedeutet Erfolg im Leben Überleben", p. 1 0; S. 28) . Einmal fugt der Autor dem Wort Ich den Namen Palinurus als Appositi on hinzu: In Teil 2, worin seine Gedanken wieder und wieder um den Selbstmord kreisen, vergleicht er sich mit einer Pflanze des südamerikani schen Dschungels, deren lange trompetenförrnige Blüte zu befruchten, einzig ein Schmetterling mit ebenso langem Rüssel imstande sei: l, Palinurus, am such an orchid, growing daiIJ more untempting as 1 await the Visitor who never comes ("Ich, Palinurus, bin eine solche Orchidee, die von Tag zu Tag weniger anziehend wird, während ich auf den Besucher warte, der niemals kommt", p. 6 1 f; S. 89). Es folgt ein Zitat aus Molieres Menschen feind: "On a pour ma personne une aversion grande / et quelqu'un de ces jours il faut que je me pende". Wenn der Autor dann fortfahrt, es gebe viele, die es nicht wagten, sich umzubringen, "aus Angst davor, was die Nachbarn sagen", dämpft er den Ernst seines Gedankens mit Sarkasmus. An zwei Stellen setzt sich das schreibende Ich in einen unmittelbaren Konnex mit der mythischen Figur Palinurus. Die erste Passage lautet: As I waddle along in thick black overcoat and dark suit with a leather brief-case under my arm, I srnile to think how this costume officially disguises the wild and storm-tossed figure of Palinurus; who knows that a poet is masquerading here as a whey-faced bureaucrat? And who should ever know? ("Während ich im dicken schwarzen Mantel und dunklen Anzug einherwatschele, eine lederne Aktentasche unterm Arm, lächele ich bei dem Gedanken, wie diese Kostürnierung auf amtliche Weise die wilde und sturmgebeutelte Gestalt des Palinurus verkleidet; wer weiß, dass sich hier ein Dichter als molkengesichtiger Bürokrat maskiert? Und wer sollte es je wissen?", p. 29; S. 50) . Der Autor identifiziert sich hier mit der mythischen Figur in der Weise, dass er seine tatsächliche Er scheinung, seinen Phänotyp, als Verkleidung, als Maske versteht. An der zweiten Passage berichtet der Autor vom Abgang seiner Quälgeis ter, von aufkeimender Hoffnung und beginnender Angstfreiheit: Dare 1 suppose that a eure has been accomplished, the bones of Palinurus huried and his ghost laid? �,Darf ich die Vermutung wagen, dass eine Heilung erreicht worden ist, die Gebeine des Palinurus begtaben und sein Geist zur Ruhe gelegt worden sind?", p. 1 02f; S. 1 37) . Von der Ich- zur Er-Form wechselnd, spielt der Autor hier auf jene Servius-Stelle an, die er als eines von drei Motti seinem Buch vorangestellt, dann noch einmal zum 24. 1 2. [1 942]
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zitiert hatte (p. 24; S. 44) und in der Einführung zur Erklärung des Buchti tels heranziehen wird (p. XIII; S. 1 2): Manes Palinuri esse placandos. Hatte er die Worte in der Notiz zu Heiligabend in die Schilderung einer depressi ven Stimmung eingefügt und sich als alw'!)s lind, alw'!)s bond, alw'!)s hurt, alw'!)'s hating (" allezeit müde, allezeit gelangweilt, allezeit gekränkt, allezeit hassend'') charakterisiert, so dient ihm jetzt die Anspielung auf das von Servius angeführte Orakel dazu, eine unerwartete seelische Beruhigung zu registrieren. Dafür, dass der Autor von sich in der dritten Person spricht, gibt es außer der letztgenannten Stelle noch weitere Beispiele. Aus der Antike lässt sich Caesar anführen, der in seinen Commentarii de bello Gallico und De belJo ciuili die eigenen Taten durchweg in der Er-Form schilderte, wohl um der Dar stellung den Anschein von Objektivität zu verleihen und ihre Bedeutsam keit zu steigern. Etwas Entsprechendes wird vermutlich auch die Intenti on des Connollyschen Palinurus sein. Am
Ende des zweiten Kapitels berichtet der Autor von einem Gespräch, das er mit Freunden über die Schwächen und Laster der Anwesenden führte (p. 8 1 ; S. 1 1 2) . Einer habe damals gesagt, das Laster des Palinurus sei inconstanC)', Unbeständigkeit. Im Nachhinein versucht der Autor selbst ironisch einen Einspruch: Sei sein Laster nicht vielmehr die Beständigkeit (constanry), nämlich die Treue zu der Erfahrung, dass er die ganze Welt im Stich zu lassen bereit sei um eines neuen Gesichts willen, das zur Ekstase verlocke? Oder sei das auch nur eine weitere herbstliche Ust der Selbst zerstörung? Ohne eine Entscheidung zu treffen, fügt er (in Drydens Über setzung) die Worte hinzu, mit denen Vergils Palinurus das Drängen des Phorbas/Somnus abzuwehren sucht (Aen. 5,850f.). Mit dem Zitat zeigt der Autor an, wie sehr er sich mit der mythischen Gestalt identifiziert. Ein anderes Mal stellt der Schreibende in der Ich-Form folgende Frage: What fathers would I like to vindicate? ("Welche Väter würde ich gerne für mich in Anspruch nehmen?", p. 73; S. 1 02) . Zur Er-Form übergehend, variiert er diese Frage sodann mit einer geistreichen Anspielung auf die Asphodelos-Wiese der Homerischen Unterwelt (Ocfyssee 1 1 ,53 9) : Who, on nading PalinunJs in the Arphodel Club will s'!), '1 toldyou so '? ("Wer wird, wenn er Palinurus im Asphodel-Club liest, äußern: 'Ich hab's Ihnen gesagt'?"). Die Antwort gibt der Autor gleich selbst: Aristipp, Horaz, Tibull , Mon taigne, "Sankt" Flaubert und Sainte-Beuve. Mit der Nennung des Namens Palinurus hebt der Schreibende die Bedeutung der eigenen Person, rückt sich selbst in größere Nähe zu den Granden der Uteratur, als dies mit dem schlichten Akkusativobjekt me der Fall gewesen wäre.
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Etwas Vergleichbares geschieht, wenn der Autor einmal schreibt: Palinurus says: 'It is better to be the lichen on a rock than the President's carnation. Only by avoiding the beginning of things can we escape their ending' �,Palinurus sagt: 'Es ist besser, die Flechte auf dem Felsen zu sein als die Nelke [am Revers] des Präsidenten. Nur dadurch, dass wir den Anfang der Dinge meiden, können wir deren Ende entgehen''', p. 1 6; S. 34). 1 15 Es folgt gleichsam eine Auslegung dieser Äußerung: "So endet jede Freundschaft im Streit, der ein Konflikt der Willen ist . . . ". Mit Palinurus says nimmt der Autor für sich in Anspruch, zu den klassischen Repräsen tanten des Aphorismus zu gehören. Das gilt auch für eine spätere Stelle, an der sich die folgende Maxime fin det: If ail the world loved pkasure as milch as PalinllfJIs Ihm wollid be no war �,Wenn alle Welt das Vergnügen so sehr liebte wie Palinurus, gäbe es keinen Krieg", p. 67; S. 96). Diese Äußerung ist zum einen bemerkens wert, weil sie zu den zwar seltenen, aber doch gewichtigen Stellen in The Unqlliel Grave gehört, die auf das zentrale Ereignis der Entstehungszeit, den Zweiten Weltkrieg, hindeuten.1 1 6 Zum andem ist sie ein Beleg dafür, welch hohen Rang der Autor dem Ideal der Hedone zuweist, das ihm von Epikur und Aristipp her vertraut ist - denn in diesem Sinn ist pleasure hier zu verstehen. Als letztes Beispiel für die Verwendung der Er-Form sei der Schluss des dritten Teils angeführt (p. 1 25; S. 1 63f.): Hier wird der Fluss Siagne gebe ten, ihn, Palinurus, zu empfangen und zu seinem Grab am Meeresufer zu geleiten, nämlich bei La Napoule (M:andelieu-La Napoule nahe Cannes) . Nachdem er in einer launigen Anmerkung auf diese Abweichung vom Vergilischen Bericht hingewiesen hat,1 17 fügt der Autor das Gebet an, Palinurus möge naked lIn/kr his watery sign �,nackt unter seinem Wasserzei chen'') zur Ruhe kommen, und schließt mit dem Zitat von Aeneas' Epi taph auf Palinurus (Aen. 5,870f.).
115 Zur Interpretation s. Kertzer, 1 987 (wie Fußn. 97), 34. 1 1 6 S. noch p. 33 (S. 55); 41 (S. 65); 98 n. 1 (S. 1 33 n.1) 121 (S. 1 59 [Anspielung auf Nietzsche und Hider]). Später hebt er in der Einfiih rung den Bezug des Werks auf den Krieg besonders hervor: 'The lllllJlliet Gf'fJ/Jt ' is il1tvitahfy a war-hook. Ob wohl er versucht habe, sich dem Krieg zu entziehen und in den Höhen des euro päischen Geistes zu weilen, habe er nicht lange über den Wolken schweben kön nen (p. XI; S. 9). 1 1 7 S. dazu oben.
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Schließlich seien noch solche Stellen betrachtet, an denen der Schreibende sich selbst anredet. Aus der Antike lässt sich hier vor allem der Dichter Catull vergleichen, der sich etwa in c. 8 auffordert, nicht länger ein Narr zu sein, seine Liebe zu einer Frau verloren zu geben und bei diesem Vor satz künftig zu verharren. In der Erörterung über das Wesen des Meisterwerks, mit welcher der erste Teil einsetzt, verknüpft der Autor die Er-Form einmal mit einer Selbstan rede. Er hat einen Kanon von zwölf Klassikern zusamm engestellt.ll 8 Ge meinsam sei ihnen Liebe zum Leben und zur Natur, ein Mangel an Fort schrittsgläubigkeit, ein mit Verachtung vermischtes Interesse an der Menschheit, kurz: alle seien sie das, was ein Kritiker einmal über den Schriftsteller Palinurus gesagt habe: earlhbollnd, dem Irdischen verhaftet (p. 2f.; S. 1 8f.) . Jene Meisterwerke spiegelten entweder wider, was der Autor Palinurus gerne wäre, oder ein Selbst, zu dem er sich nicht zu bekennen wage. Jetzt fordert er sich auf, er möge es zumindest versuchen, to work at the same level of intention ("auf derselben Ebene der Absicht zu arbeiten'') wie jene Zwölf: Spiritllalize the Earlhbollnd, Palinllrus, and don 't aim too high! ("Vergeistige das Erdgebundene, Palinurus, und strebe nicht zu hoch hinaus!''). Die Selbstanrede erinnert an den Duktus von Catull c. 8 und markiert, dass den Schreibenden sein Thema in besonders emotionaler Weise berührt. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn der Autor unmittel bar anschließend das, was er jetzt vorlegt, eben den Wortzyklus The Unqlliet Grave, mit den b ewunderten Meisterwerken vergleicht: Auf dieser Folie erscheint ihm das Eigene als ein bloßes Experiment, als Versuch, durch Selbstanalyse zu ermitteln, was das Fließen der Quelle blockiert und den Namen Palinurus zu einem Archetypus des Versagens werden lässt (wheref?y the name of PalinllT'llS is becoming an archetype offrustration). Der Termi nus archetype verweist auf Carl Gustav Jungs analytische Psychologie. Besondere Emotionalität zeigt auch jene Partie, in der der Autor seine Sorge über die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft ausdrückt: Es drohe sich ein kollektivistischer Staat auszubilden, in dem das Individuum
1 1 8 Horaz, Oden und I 'j>iJkln; Vergil, I icl��m und Grofll,;ca; Franc;ois Villon, Le Testa mmf (1 461-1 462); Montaigne (1 533-1 592), lissais; Jean de La Fontaine, rabIes (1 668-1 692); Franc;ois de La Rochefoucauld, Rij1txions ON Smknces ef maximts mo ra/es (1665); Jean de La Bruyere (1 645-1696), Les caractiTr!S de Thfophraste, tradNits dN Grec, avec les caractrres ON Its mOCNrs de ce sirclt; Charles Baudelaire, Les NeNrs du Alal und joNmaux intimes (entstanden 1 855-1 866, veröffendicht 1 887); Alexander Pope (1 688-1 744); Giacomo Leopardi (1 798-1 837); Arthur Rimbaud (1 854-1 891), Les IIINminations; Lord Byron, IJonjuan (erschienen 1 819-1 824).
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seinen Wert verliere und sich am Ende nicht mehr von der Gemeinschaft unterscheide: How wiUyou enjrry that, Palinums? (" Wie wird dir das gefallen, Palinurus?", p. 27; S. 48). Als der Autor an späterer Stelle über die Berechtigung zum Selbstmord nachsinn t, stellt er die Frage: Was, wenn die Agonie, die der Selbstmörder durchlebe, bis er beschließe, sich das Leben zu nehmen, wenn die Über zeugung, dass alles verloren ist, ansteckend sei? And ifyou have contracted it, Pa/inums, if it has sought you out? (" Und wenn du es dir zugezogen hast, Palinurus, wenn es dich ausgesucht hat?"; p. 45; S. 69) . Auf die bangen Fragen lässt der Autor das Zitat von Aen. 5,840-841 a folgen, worin der epische Erzähler den Steuermann apostrophiert: Te, Palinure, pe/ens, tibi somnia tristia portans / insonti. Die Selbstanrede des Autors und Palinurus' Apostrophierung durch den Vergilischen Erzähler werden hier in enge Verbindung gebracht. Als sich der Autor seinem vierzigsten Geburtstag nähert, gelingt ihm, wie er schreibt, "ein flüchtiger Moment von Weisheit" (a glimpse of wisdom), indem er folgendes Wort an sich selbst richtet: 'Live in the prmnt, Palinurus; you are too unbalanced to brood upon the past. Gne dayyou will remember no/hing but its essence; now you must expe/ it from your mind' (" Lebe in der Gegenwart, Palinurus; du bist zu labil, um über der Vergangenheit zu brüten. Eines Tages wirst du dich nur noch an deren Essenz erinnern; jetzt musst du sie aus deinem Geist vertreiben", p. 89; S. 1 21). Noch stärker als bei Spiritua/ize the Earthhound, Pa/inurus! (p. 2f.; S. 1 8f.) ähnelt die Selbstanrede des Schreibenden hier der Gefühlslage, die in Catull s c. 8 ausgedrückt wird. Nachdem der Autor eine Reihe von Grundtatsachen der Gegenwart wie den Niedergang Europas, mehrere Formen des Imperialismus sowie Mas saker und Hungersnot angeführt hat, richtet er im Namen eines nicht näher definierten Wir an sich selbst die Frage, auf welcher Seite er denn stehe, ob er sich zur Korngöttin oder zum Traktor, zu Christus und Freud oder zu Marx und Stalin bekenne (p. 100 ; S. 1 34): Comt clean, mo0tb' ]>a/inllrtls, no synthesiJ this time and no Ma,l!jc Ci"le either.' We need men lik.eJ'oll in the Group A,gt. Willyoll take.'J'ollr turn at the helm fJS.Y01I lISed 1o? &memher?
Princeps gubemator densum Palinurus agebat Agmen? Or do yoll prifer 10 da)'d,..am in the lavatoty .. ? .
�,Entscheide dich, launischer Palinurus; keine Synthese diesmal und auch kein Magischer Zirkell W'ir brauchen Männer wie dich im Zeitalter des Gruppenmen schen. W'irst du deinen Part am Steuer übernehmen, wie du es ZU tun pflegtest?
Tc, Palinure,
petrns.
Vergilrczcptinn
in Palinuru.,' Tb. [J1IqIli.t Gra..
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Du erinnerst dich? 'Als erster führre Palinurus, der Steuermann, den dichten Zug [der Schiffe] an'. Oder ziehst du es vor, auf der Toiletre zu tagträumen . . . ?'�.
Wieder einmal setzt sich der Schreibende hier mit der mythischen Figur aus der Aeneis völlig ineins. Bei dem Vergilzitat (Aen. 5,83�34a) hat er, den originalen Wortlaut ändernd, die beiden Worte ante omnis durch das eine gubemator ersetzt - und damit einen Verstoß gegen das metrische Schema des daktylischen Hexameters in Kauf genommen: Es kam ihm sicher darauf an, mit der Apposition gubemalor jene Meisterschaft und Tatkraft herauszuheben, die Palinurus einst in Vergils Epos gezeigt hat. Nunmehr seinen Launen ergeben (moor!J), hat der Autor Palinurus den Eindruck, die frühere Entschlossenheit verloren zu haben, und so fordert er sich mit der Selbstanrede dazu auf, sich aufzuraffen und in existentiel len Fragen seiner Zeit Stellung zu beziehen. In ganz ähnlicher Weise verwendet der Autor die Selbstanrede, als er über sein wieder erwachtes Interesse an Philosophie, Psychologie und Religion nachdenkt: 'Your time is short, watery PaiinurNs. Whal do you believe?' ("Deine Zeit ist kurz bemessen, wassertrlefender Palinurus. Woran glaubst du?", p. 1 1 3; S. 1 50) . Und er gibt sich selbst die Antwort, es gelte, die zwei Gesich ter der Wahrheit, das Sowohl-als-auch zu erkennen und das Leben als ein Ineinander von Komödie und Tragödie zu begreifen. Alles in allem insistiert der Schreibende in den Teilen 1-3 auf seiner völli gen Identität mit der mythischen Figur. So wie der Steuermann ein Meis ter seines Fachs ist, der über reiche Erfahrung und ausgebreitete Kennt nisse verfügt, möchte der Autor Palinurus, wie er von Anfang an zu er kennen gibt, ein Meister der literatur sein. Zu den literarischen Epochen, denen er sich besonders nahe fühlt, gehört das Zeitalter des Princeps Au gustus, das ja auch dasjenige Vergils ist. Als Züge des eigenen Charakters führt der Autor Launenhaftigkeit (mootIY) und Labilität (unbaJanced) an; den Freunden gelte er als unbeständig (jnconslan�). Der Vergleich mit der süd amerikanischen Orchidee, die nur geringe Chancen auf Bestäubung hat, zeigt, wie sehr er unter dem fott.�chreitenden Verlust von Attraktivität leidet. Was ihn fteilich noch stärker beschäftigt, ist die Frage, was den Quell seines Schaffens am Fließen hindert, so dass der Name Palinurus geradezu zum Inbegriff von fmstration werde. Das Empfinden des Versa gens ist offenbar so stark, dass es immer wieder den Gedanken an Selbst mord nahe legt. Doch im Laufe des Jahres, über das er schreibt, beobach tet der Autor an sich eine allmähliche Beruhigung - in Analogie zum Schicksal des Vergilischen Palinurus, dessen Seele Besänftigung in Aus sicht gestellt wird.
Siegmar Döpp
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VI.
Schlussbemerkung
An keiner Stelle von Thc Unquict Gravc, weder in den Teilen 1-3 noch im Epilog, auch nicht in der später hinzugefügten Einführung, gibt Connolly explizit Auskunft darüber, warum er als der Verfasser dieses Werks unter dem Namen Palinurus auftritt. Da er aber nicht nur in seinen Aufzeich nungen immer wieder über Palinurus spricht, sondern auch im Epilog eine Interpretation der Erzählung Vergils vorlegt, bietet sich für den Leser von Thc Unquiet Grave eine wohl höchst rare Möglichkeit: Durch Zusammen führung der jeweils einschlägigen Aussagen in den Teilen 1-3 und im Epilog kann er eruieren, welche Selbstauffassung des Autors dem Werk zugrunde liegt.
Was ergibt sich nun aus der Betrachtung des Ganzen für Connollys Selbstdeutung? Gewiss spielerisch, aber doch mit Nachdruck setzt Connolly den Steuer mann Palinurus und den Schriftsteller Palinurus in eins. Bei diesem Vor gehen spielt sicher eine Rolle, dass sich nach Connollys Auffassung der Dichter Vergil mit dem Steuermann identifiziert hat (p. 1 36 n; S. 1 76 n.). So begreift sich Connolly als Meister auf dem Feld der Uteratur, im Besitz reicher Kenntnisse und zu feinfühliger Interpretation begabt. Als solcher strebt er durchaus nach öffentlicher Anerkennung und gesellschaftlichem Erfolg. Zugleich fühlt er eine starke Verpflichtung, der literarischen Welt jenes bedeutende Werk zu geben, das sie von ihm und das er von sich selbst erwattet.ll9 Bei der Erstellung des eigenen Psychogramm s , für die ihm die Lehre Carl Gustav Jungs eine Hilfe ist, stößt er freilich auf man ches, das der allseits erwarteten Leistung und dem ersehnten Erfolg im Wege steht: Launenhaftigkeit, Unbeständigkeit, ganz besonders mannigfa che Ängste und Selbstzweifel, aber auch das starke Bedürfnis nach Ein samkeit und Unbekanntheit - sie hindern ihn, jenen letzten Schritt zu tun, der zur Vollendung des ganz großen Werks fuhren würde. So weicht er wie der mythische Steuermann, dessen Karri ere kurz vor dem Fahrtziel der Aeneaden ihr Ende findet, vor der schwierigen Aufgabe zurück. Und für solches Ausweichen hasst er sich, er hasst sich für a certain wili-to-failure or repugnance-to-success, a dcsire to give II/J at the last moment, an urgc towardr Ioneli ncss, isolation and ohscuri!J. Diese Charakteristika, die der Philologe Connolly an Vergils Palinurus zu erkennen meint, prägen, so sieht es der Schriftstel-
1 1 9 Dies war bereits ein wichtiges Thema seines Buchs Tbe I inemies '!ll'romüe (1 938).
Tc, Palinure, pctt:ns. Vcrgiln:zcptinn
in Palinuru..' Tbe UfllJlli.t Gra..
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ler Connolly, ganz wesentlich die eigene Existenz. 1 20 Der Vergilische Palinurus repräsentiert in Connollys Augen den Archetypus dessen, als was er sich selbst versteht. 12 1 So trifft auf Cyril Vemon Connolly das Wort Friedrich Schlegels zu: ,Je der hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte, vorzüglich sich selbst" (Athenäums-Fragment [1 51 ]).1 22
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an
introduction
1 20 S. auch Shelden, 1 989 (wie Fußn. 9), 1 1 1 und Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 1 8), 32. 121 Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei noch einmal betont: Es geht hier nicht um eine Charakterisierung Connollys, sondern um eine Erschlie ßung seines Selbstverständnisses. 1 22 Da.. Zitat verdanke ich dem Germanisten Peter-Andre Alt (Freie Universität, Berlin), der es einem Reporter gegenüber anfiih rte, als er von ihm an1ässlich der Gründung der 'Friedrich Schlegel Graduate School of Literary Studies' nach sei nem Lieblingswort ans Schlegel gefragt wurde: "Die Antike als Spiegel unter schiedlicher Selbstentwürfe, das gefällt mir am besten bei Schlegel" (Der Tagmpie gef Nr. 1 9 961 , Sonnabend 1 2. Juli 2008, B 2). - Für hilfreiche Kritik danke ich Marcus Deufert (Leipzig).
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Aeneas ohne Sendung? Cormac McCarthys Thc Road FRANK WlTICHOW
1.
(Berlin)
Antiker Mythos und amerikanischer Spätwestern
In Sergio Leones Meisterwerk Spiel mir da.r Lied vom Tod (1 968) muss der namenlose Held! in einer Schlüsselszene, die sein Racheverhalten erklären soll, als kleiner Junge seinen älteren Bruder auf die Schultern nehmen, der mit einer Schlinge um den Hals an einem Torbogen gelyncht werden soll. Der sadistische Bandit Frank (Henry Fonda) schiebt dem Kind eine Mundharmonika zwischen die Zähne und fordert das Kind auf zu spielen: "Make your brother happy!" Der Atem des erschöpften Kindes produziert "das lied vom Tod". Doch der ältere Bruder strampelt sich von den Schultern des jüngeren frei, um die unerträgliche Situation durch seinen Tod zu beenden. Diese Szene hat in der deutschen Synchronisation eine interessante Neudeutung erfahren: Der zitierte Satz, der das Verwandtschaftsverhältnis der beiden Gepeinigten offenlegt, ist nicht übersetzt worden. Dadurch wurde und wird, wegen des großen Altersunterschiedes, in Deutschland in der Regel angenommen, der Sohn stütze hier seinen Vater. Diese Umdeu tung ist kulturell eigentlich die produktivere: Nur wenn der Vater alt und krank ist und der Sohn erwachsen, kann dieser ihn stützen. Ist das Kind noch klein und schwach, muss der erwachsene Vater es an die Hand neh men. 2 Diese Wahrheit haben die Römer in einer wirkmächtigen Ikone ausgedrückt: Bei der Flucht aus dem brennenden Troja nimmt Aeneas den greisen Vater Anchises auf die Schultern und den kleinen Ascanius an die Hand. Es ist Vergil, der aus dieser Ikone Weltliteratur gemacht hat. Ihm ist es zuallererst zu verdanken, wenn wir das Motiv des fliehenden Aeneas
2
Charles Bronson spielt den namenlosen Fremden, von dem wir nur den Spitz namen "Harmonica" erfahren. Auch bei Sergio Leone übernimmt der ältere Bruder die Vaterrolle, indem er den Bruder durch seinen Freitod von der Verantwortung erlöst
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Frank \'\'ittchow
mit seinen direkten männlichen (� Verwandten immer -wieder in der Kunst und literatur aller Zeiten auffinden. Dabei mag es auf den ersten Blick überraschen, es ausgerechnet im amerikanischen Western zu vermuten. Der Western ist ein in Europa zwar beliebtes, aber gleichwohl auch in seinem kulturellen Wert oft belächeltes Genre. Für die amerikanische Kultur jedoch versieht er durchaus die Funktion eines Gründungsmythos und wird als solcher immer wieder reinszeniert und mit kultureller Bedeutung aufgeladen.1 Die inhaltliche Parallele zwischen den Pionieren des nelllfrontier und dem Stammvater der Römer, der sich seine neue Welt erobern muss, sollte ebenfalls nicht über sehen werden. Die vertriebenen Trojaner sind wie die pilgrim fatherr Land flüchtlinge mit religiösem Sendungsbewusstsein. Hinzu kommt, dass die römischen Mythen für das amerikanische Selbstverständnis in politicis keine geringe Rolle spielen.4 Der Aeneasstoff freilich, um den es hier besonders gehen soll, ist im zwanzigsten Jahrhundert nicht eben häufig literarisch oder filmisch umge setzt worden."' Ein Grund dafür mag in der teleologischen Konzeption des Helden bei Vergil liegen: Weltkriege und Faschismus haben zum Zusam menbruch eines als sinnhaft erlebten Kosmos beigetragen.
2.
The Road
Auch Aeneas' pietas unterscheidet sich doch maßgeblich vom Individua lismus des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Doch hat möglicherweise die Erfahrung der Globalisierung, in der der Mensch eben nicht mehr das Gefühl hat, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, das Schicksal als 3 4
5
In diesem Zusammenhang einschlägig Thorsten Burkard: "Die Rezeption von antikem Drama und Epos bei A. Mann und S. Leone", in: Martin Korenjak u.a. (Hgg.): Pontes 11. Antike im Film, Innsbruck u.a. 2002, 1 1 7-1 27. Michael Lobe: ,,Aneas in Amerika (feil 1). Von der Aktualität des yergilischen Aneas-Mythos", Forum Classicum 49,1 , 2006; und ders.: "Aneas in Amerika (feil 11). Von der Aktualität des yergilischen Aneas-Jl.lythos", Forum Classicum 50, 1 , 2007. Das Amt des amerikanischen Präsidenten e twa orientiert sich an der gemä ßigten Diktatur des Cincinnatus (Gatty WiIls: Cincinnatu.,. George Washington and the Enlightenment, Garden City, N.Y. 1 984) und wer einen Blick auf das Re gierungsyiertel in Washington D.C. wirft, kann sich der antiken Bezüge kaum er wehren. Werner Suerbaum: Vergils Aeneis, Stuttgart 1 999, 10f.; UIrich Schmitzer: "Das Abendland braucht keinen Vater mehr. VergiIs Aeneis auf dem Weg in die Ver gessenheit", in: AJeida Assmann u.a. (Hgg.): Vergessene Texte, Konstanz 2004, 259-286.
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Erklärungsmuster wieder neu in seine Rechte eingesetzt und auf literatur und Film beflügelnd gewirkt.6 Allerdings wird dieses neue fatum eher als dunkle Bestimmung oder gar Bedrohung denn als ordnender Lebenssinn verstanden. Diese Vorstellung hat in radikaler Weise der amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy in seinem jüngsten, Pulitzer-Preis gekrönten Werk Tbc Road imaginiert. In seinen Romanen beschwört er Naturerfahrungen (oft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet), die in ihrer Härte den Menschen an den Rand seiner Existenzmöglichkeiten bringen oder ihn sogar vernichten. Der Mensch ist von Gott, der Natur und den Seinen verlassen. Dieses Verlassensein wird bei Cormac McCar thy immer wieder als Schicksal semantisiert: "Yet there are no crossroads. Our decisions do not have some alternative. We may contemplate a choice but we pursue one path 00ly."7 In seinem Roman Tbc Road hat McCarthy die von ihm selbst geschaf fene Gattung des literarischen Spätwestems8 noch einmal überboten und radikalisiert. Ein Mann wandert mit seinem etwa zehnjährigen Sohn durch ein von einem Atomschlag verwüstetes Amerika. Die Zerstörung der Erde ist unumkehrbar: Der Boden ist verödet und alle Tiere sind tot. Die Men schen sind zum großen Teil gestorben, der Rest fillt übereinander her. McCarthy erklärt diese Situation nicht weiter. Klar ist nur, dass es sich um eine von Menschen gemachte Katastrophe handelt. Die Menschen existie ren von Konserven und alten Früchten, die sie unter der Asche finden. Sie haben nur noch wenige funktionierende Maschinen oder Waffen, der Vater selbst hat noch einen Colt mit zwei Kugeln, die er für sich und sei nen Sohn aufspart, denn marodierende Banden greifen sich wehrlose 6
7 8
Frank Wittchow: Determinismus in David Lynchs l\Iullholland Drive (2003) : http:// www2.hu-berlin.de/kiassphil/allgemein/Wittchow1 .pdf. Cormac McCanhy: Cities of the Plain. Volume Three of the Border Trilogy, London 1 999, 286. Diese Aussage ist voraussetzungsreicher, als sie zunächst erscheinen mag. Natür lich ist auch McCanhys Spätwestem keine creatio ex nihilo: Sein Werk ist immer wieder, und mit vollem Recht, mit dem von William Faulkner verglichen worden (der erste Roman McCanhys bekam z. B. den Faulkner-Preis, der Lektor, der McCanhy zunächst herausgab, war in der Tat der letzte Lektor William Faulkners, vgl. dazu den englischsprachigen Artikel zu Cormac McCanhy bei W"lkipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Cormac_McCarthy, zuletzt besucht am 1 . 1 1 .2008). Die Parallelen zum Spätwestern im Kino sind ebenfall. nicht zu über sehen, freilich ist die Beeinflussung hier bereits wechselseitig. Ob der wtestem Tbe tbm J3urials '!l Melquiades listrat!a (2005) ohne Cormac McCanhys Werk denkbar ist, möchte ich in Frage stellen. Der Hauptdarsteller dieses Films (Tommy Lee Jones) verkörpert auch den Protagonisten in No Country· for O/d lUen (2007), der oscargektönten Verftlmung des gleichnamigen Romans von Cormac McCarthy (2005).
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Überlebende, vergewaltigen sie, halten sie als Lustsklaven oder essen sie auf. Vater und Sohn schieben einen alten Einkaufswagen durch das ver wüstete Land, in dem ihre Habseligkeiten aufbewahrt werden. Die Frage, die sich dem Leser die ganze Zeit aufdrängt, lautet: Wohin führt der Vater seinen Sohn? Die Reise der beiden soll an die Küste führen, wo sie offen bar auf weitere Menschen treffen wollen. Aber was der Sinn der ganzen Anstrengung sein soll, angesichts des Umstandes, dass die ganze Welt steril geworden ist, wird zunächst nicht klar. Jedenfalls versucht der Vater, seinen Sohn, der erst nach der Katastrophe geboren wurde, irgendwie am Leben zu erhalten. Die Mutter des Kindes hat zum Zeitpunkt der Haupt handlung bereits resigniert Selbstmord begangen und ist nur noch Erinne rung.9
3.
Biblische Strafen
Diese von Menschen verursachte Katastrophe hat biblische Ausmaße. Der erste Bezugsrahmen für Cortnac McCarthys Prosa ist daher die Bibel. Die einzige namentlich genannte Person in Thc Road nennt sich Ely.1O Er ist ein alter Mann, dem die beiden Protagonisten auf ihrer Reise begegnen und auf Drängen des Kindes von ihrem Essen abgeben. Sowohl der Ich habe den Vorfall, der alles Leben ausgelöscht hat, als 'Atomschlag' interpre tiert, aber auch das lässt McCarthy offen. In einer Szene erinnert sich der Vater an die nun schon etwa zehn Jahre zurückliegende Katastrophe. Er bemerkte da mals mehrere dumpfe Schläge und ein Leuchten in der Nacht: Cormac McCar thy: The Road, New York 2007, 45: "The docks stopped at 1 : 17. A long shear of light and then a series of low concussions." Dass es etwa zehn J ahre zurückliegt, errechne ich aus dem vermuteten Alter des Kindes und dem Cmstand, dass er erst nach der Katastrophe geboren wurde �,the world [d. h. die Welt vor der Ka tastrophe) that for him [den Jungen) was not even a memory", S. 46). In einer Szene am Anfang des Buches erinnerr sich der Vater, wie seine Frau ihn und das Kind eines Nachts verlassen hat, um Selbstmord zu begehen. Sie spricht von ih ren Gefühlen bei der Geburt des Kindes: "My heart was ripped out of me the night he was born so dont ask for sottow now." (S. 48f.). Dieses starke Trauerge fühl bei der Geburt kann eigentlich nur dadurch motiviert sein, dass die Mutter ihr Kind bereits in die verwüstete Erde hinein hat gebären müssen. Dass das Kind direkt nach der Verwüstung geboren sein muss, ergibt sich wiederum aus der genannten Szene S. 45 "She was standing in the doorway in her nightwear, dutching the jamb, cradling her belly in one hand." Offenbar ist sie bereits hoch schwanger, aL, die Eheleute nachts durch den Lärm des Atomschlags wach wer den. 10 Er nennt sich so, aber er heißt nicht so: "Is your name really Ely? - No. - You dont want to say your name. - I dont want to say it." (S. 144).
9
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Klang des Namens als auch die Situation verweisen auf den Propheten Elijah, der im Alten Testament mehrfach auf wunderbare Weise Nahrung erhält und vor dem Ende der Zeiten die Menschen zur Umkehr ermahnen soll. 1 1 Die Hinweise auf antike Texte im Allgemeinen und auf die Aeneis im Besonderen sind in dem Roman deutlich subtiler versteckt, auch wenn die Aeneis fiir die narrative Makrostrukrur des Romans möglicherweise ein viel wichtigeres Vorbild war als die Bibel. Die beiden Überlebenden bezeichnen sich selbst immer wieder als Träger des Feuers. 1 2 Dies ist zugleich ein biblisches wie heidnisch-antikes Bild: Das Feuer war das entscheidende Geschenk des Prometheus fiir die menschliche Kulturwerdung, auf der gerade der Sohn in seiner Mitleidsfa higkeit beharrt.13 An einer anderen Stelle verweist McCarthy eindeutig auf die Metamorphosen des Ovid. Es ist genau der Moment, in dem der Vater dem Drängen seines Sohnes nachgibt, dem alten EIy etwas von ihrem Essen abzugeben: "He stood looking off down the road. Damn, he wis pered. He looked down at the old man. Perhaps he'd turn into a god and they to trees. All right, he said." 14 Damit zitiert der Vater ironisch die Philemon und Baucis-Geschichte aus den Metamorphosen (8,620-724): Das arme und alte phrygische Ehepaar Philemon und Baucis nimmt, anders als ihre reicheren Nachbarn, die Göt ter Iuppiter und Merkur gastlich auf. Dafiir werden die beiden zu Pries tern gemacht und am Ende ihres Lebens in Bäume verwandelt, die so einträchtig wie in ihrem Menschenleben auf den Stufen des Tempels wachsen. Die anderen Phryger dagegen gehen in einem Sumpf unter, den die Götter ihnen als Strafe gesandt haben. Die Logik dieser
11
" The violence is so Biblical in scale (and in origin - McCarthy hints that the war was a sectarian one) that human s seem capable of no thing else." Julie Philipps:
"Where they buried the survivors. The Road, by Cormac McCarthy", reviewed by Julie Phil1ips in TroulP, Arnsterdam, February 25, 2007 (http://www.julie phillips.com/mccarthy-review.htm, zuletzt besucht am 1 4. 1 2.2008). Ebendort auch die (häufig diskutierte) Gleichsetzung von Ely mit Elijah. 12 S. 1 29. 13 Phillips, 2007 (wie Fußn. 1 1), bezeichnet den Sohn als einen jungen Prometheus. Die Anspielung findet sich aber so explizit nicht im Roman. Gedacht wird hier vermutlich auch an die verlorene Aischylos-Tragödie (PromethellI lytphoros). Man möchte auch an den Spruch "Nicht die Asche anbeten/bewahren, sondern das Feuer weiter tragen" denken (gerade angesichts der Aschewüsten, durch die die beiden Protagonisten ziehen) . Diese Formulierung wird verschiedenen Autoren zugeschrieben (Gustav Mahler, Ricarda Huch) und gerne im christlichen Sinne gedeutet. 14 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 1 37.
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Metamorphosenerzählung ist die einer klassischen Folge von Strafe und Belohnung für ein bestimmtes menschliches Verhalten. Als solche ist sie Zeichen eines geordneten Kosmos. Cormac McCarthy zitiert diese Ge schichte ironisch: In seiner apokalyptischen Welt ist die Strafe schon vor Jahren gekommen und datiert vor der gastfreundlichen Geste. Die Götter haben sich längst aus dieser Welt verabschiedet und es wachsen keine Bäume mehr. Auch Ely ist ein Prophet einer gottlosen Welt: "There is no God and we are his prophets. " 1 5 Die antiken Prätexte werden von Cormac McCarthy gleichsam spiegelbildlich verwendet. Damit wird das Ende der mythischen Ordnung inszeniert. Die Aeneis ist aber in viel grundlegende rer, nämlich konzeptioneller Weise ein Schlüssel zu diesem Roman.16 Schon die Exposition des Romans ist parallel zur Aencis gestaltet. Wir treffen in Thc Road den Vater mit seinem Sohn auf der Reise an die Küste an: Die Acneis eröffnet mit der Landung des Aeneas in Karthago. Der alte Anchises ist hier bereits gestorben (zum Großvater in Thc Road s. u.).
4.
Hektor und der Untergang Trojas
Von der Katastrophe, die Aeneas zum Flüchtling gemacht hat, erfahren wir erst in der Rückschau aus seinem Munde, nämlich als er sie Dido er zählt. Auch der Vater erinnert sich erst in einer in den Lauf der Erzählung eingebaute Rückschau an den Atomschlag. Freilich hat er keinen Ge sprächspartner, denn diese beiden Flüchtlinge werden von niemandem
15
Dies äußert Ely in einem Gespräch, das er mit dem Vater über Gott fühtt (S. 143). 16 Wir finden bei Cormac McCarthy zwar keinen expliziten AmeiJbezug, aber doch Palimpseste, antike kulturelle Skripte, die die Formation eines Kunstwerkes be stimmen. In diesem Sinne hat Anja Wieber ffu den Bereich der filmischen Adap tion zwischen echtem Antikefilm und solchen Filmen unterschieden, die prima vis ta einen modernen plot haben, aber antike Texte als Subtext verwenden Anja \Vieber: "Drehbuch Antike", AU 50.6, 2007, 4-1 4. In diesem Aufsatz, der ein ganzes Heft zu solchen Interpretationen moderner Filme einleitet, beschäftigt sich \,I;rieber mit Sub text und "Palimpsest" und führt auch den Western als Gat tung an, der vom antiken Epos beeinflusst ist (S. 1). Dagegen war AU 48. 1 , 2005 ganz der ,,Antike im Film", also dem explizit auf antiken Stoffen basierenden Film gewidmet (z.B. Troja); vgl. auch Anja Wieber: "Antike am laufenden Meter Mehr aI., ein Jahrhundett FiIrngeschichte. Antikfilrne im neuen Jahrtausend - zur Aktualität des Alten", in: Mischa ]l.Ieier u.a. (Hgg.): Antike und Mittelalter im Film, Konstruktion - Dokumentation - Projektion, Köln u.a. 2007, 1 9-40, hier 29.
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aufgenommen. Wie Aeneas aber ist der Vater durch den Leuchten der Flammen aus dem Schlaf gerissen worden:
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und das
The docks stopped at 1 :17. A long shear of light and then a series of low concus sions. He got up and went to the window. What is it? she said. He didnt answer. Verg. Aen. 2, 302f.: Excutior somno et summi fastigia tecti ascensu supero atque arrectis auribus asto.
Vergil und McCarthy ähneln sich hier sogar in der Lakonik des Erlebnis berichts. Zwar öffnet sich der Bericht bei Vergil im Folgenden (Aen. 2,304-31 3) einer breiten Schilderung der Sinneseindrücke, aber über Aeneas' Gefiihle erfahren wir zunächst nichts, nur dass er wahrnimmt (arrecti.r aurihu.r a.rto) . In der Reaktion freilich unterscheiden sich Aeneas und der Vater signifIkant: Aeneas stürzt sich schließlich wie von Sinnen in den verlorenen Krieg (Aen. 2,31 4: arma amen.r capio) . Dagegen lässt bei Cormac McCarthy der Vater in stoischer Selbstkontrolle Wasser in eine Wanne laufen, weil er sofort begreift, dass es bald keines mehr geben wird. Die Variation bei McCarthy ist aber kein Zufall : Der Vater hat den Verlust der Heimat fast sofort in seiner letzten Konsequenz begriffen. Umso überraschender ist die Verbissenheit, mit der sich dieser Aeneas o h n e Sendung in den folgenden Jahren daran macht, seinem Sohn eine neue Heimat zu suchen, obwohl an eine solche nicht sinnvoll geglaubt werden kann . Der vergilische Aeneas dagegen bleibt ein Zauderer trotz der Sendung, von der er sogar schon vor dem Erwachen durch das Traumbild des toten Hektor erfahren hat. Auch für den Traum von Hek tor gibt es bei McCarthy eine Parallele, die durch einen erzählerischen Kunstgriff geschaffen wird. Aeneas träumt bekanntlich von Hektor, kurz bevor er in die Katastrophe hinein aufwacht. McCarthy schildert einen Traum mit antikisierendem Inhalt in der Jetztzeit der Erzählung, kurz bevor er die Genese der Vernichtung als Rückblick schilderr. N arra tiv haben wir also auch bei McCarthy die Reihenfolge Traum - Realität der Katastrophe, chronologisch ist die Reihenfolge gerade anders herum. Der Inhalt des Traumes betont daher auch die Leere der antiken Mythen: They stood on the rar shore of a river and called to him. Tattered gods slouching in their tags across the waste. Trecking the dried f100r of a mineral sea where it lay cracked and broken like a fallen plate. Paths of fetal fire in the coagulate sand•. The figures faded in the discance. He woke and lay in the dark,17
Aeneas träumt vom zerlumpten Hektor, der Vater von einem Exodus zerlumpter Götter - das Ende der Welt, die diese Väter kannten.
17 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 44.
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6.
Creusa
Als der vergilische Aeneas in seiner inneren Haltung dahin gefunden hat, wo der apokalyptische von Anfang an war, zur Akzeptanz des Heimatver lustes, da besinn t er sich auf die Rettung seiner Familie: Vater, Sohn und Gattin. Diese Personen tauchen auch bei McCarthy auf, und zwar in der gleichen Logik wie bei VergiI, nur dass die Konstellation wiederum auf den Wdtuntergang und seine allgemeine Sinnvernichtung hin urnkonzipiert wurde. Wir müssen uns dazu kurz die Situation verdeutli chen: Die Flucht aus Troja geht schnell und muss schnell gehen. Die Flucht aus dem vernichteten Amerika ist im eigentlichen Sinne gar nicht möglich. Der Vater nimmt nicht hektisch seinen eigenen Vater auf die Schultern und das Kind an die Hand. Irgendwann wird deutlich, dass man in der Wohnung nicht bleiben kann, dass die Zukunft der Familie darin liegt, draußen herumzuirren, sich vor Plünderern und Vergewaltigern in Acht zu nehmen und Nahrung zu suchen. Dies erzählt Cormac McCarthy nicht an einer konkreten Stelle, sondern es geht aus den Einzdbildem der Erzählung allmählich hervor. Die Flucht aus der Katastrophe ist ja eigent lich bei McCarthy nie zu Ende und daher im Vergleich zur Aeneis nartativ gedehnt. Gerade deshalb aber ist es auffällig, wie McCarthy durch die narrative Organisation der Einzdbilder ein Äquivalent zur vergilischen Fluchtszene schafft. Die Mutter des Kindes war zum Zeitpunkt der Kata strophe schwanger. Das Kind wird in die Apokalypse hineingeboren.18 Diese Mutter taucht in der zweiten Rückerinnerung19 des Vaters wieder auf, und zwar genau in dem Moment, in dem sie die Qualen der Flucht nicht mehr aushält, Vater und Kind im Stich lässt und den Sdbstrnord wählt. Sie verschwindet, trotz der flehenden Bitten ihres Mannes, in die Nacht und wird nie wieder gesehen. Das entspricht der Entrückung der Creusa. Genau wie diese freiwillig in Troja bleibt, um eine Göttin zu wer den, scheidet die Mutter freiwillig aus dem Leben. Vater und Sohn sind allein. Wieder ist die narrative Logik erhalten, die mythische travestiert worden: Es gibt keine Götter im apokalyptischen Amerika. Während Creusa frohlockt, weil die Götter sie durch ihre Vergöttlichung vor der Gewalt der Sieger bewahren (Aen. 2,785f.: non ego Myrmidonum sedes 1 8 Wie Ascanius bei VergiI ist der Knabe damit ein Vertreter der neuen Generation: Bleibt Ascanius vom Krieg in Troja weitgehend verschont, so ist der Junge in Tbt Road ohne jede Erfahrung einer heilen Welt. Vater und Sohn sind dadurch in bei den Fäll en auf ra dika le Weise getrennt. 19 Die beiden Erinnerungen schaffen gemeinsam eine Kontinuität der Erinnerungs erzählung, die dem zusammenhängenden Bericht des Aeneas bei Dido entspricht, auch wenn dieser eben nicht unterbrochen wird.
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Dolopumue superbas / a.rpiciam au/ Grais semitum matribus ibo), rettet sich die Mutter vor Vergewaltigung und Kannibalismus durch den Selbstmord.
7. Anchises Doch wurde eingangs von der p a trilinearen drei - Ge n e r a t i o n e n K o n z e p ti o n gesprochen, die für das Epos des Vergil s o tragend ist. Wo ist Anchises bei McCarthy? Der Großvater scheint zum Zeitpunkt der Katastrophe bereits gestor ben zu sein. Immerhin ist auch Anchises schon tot, als die Aeneis einsetzt. Dennoch sind natürlich aus Troja drei männliche Generationen geflohen. Das Besondere des Bildes der drei männlichen Generationen liegt freilich darin, dass der senex dem iuvenis mit seinem Staats- und Weltwissen hilft, die Rolle als Verteidiger der Familie und des Gemeinwesens (nach römi schem Verständnis ist das kein Dualismus) richtig zu spielen. Stirbt der senex, liegt dessen Kompetenz beim erwachsenen Sohn und wird wiede rum an diesen weitergegeben. Nun ist aber bei Cormac McCarthy der Sinn des greisen Weltwissens durch den Untergang der bisherigen Welt verlo ren gegangen. Dieser Aspekt wird immer wieder thematisiert, wenn etwa der Vater nicht mehr weiß, mit welchen Geschichten er seinen Sohn ei gentlich unterhalten soll, wenn sie sich doch alle auf eine untergegangene Welt beziehen. Die Leerstelle, die Anchises hier hinterlässt, verweist auf diesen Verlust. Und sie wird noch einmal in Parallelität zur Aeneis ausge schrieben. Denn wie Aeneas steigt der Vater in die Unterwelt, um noch einmal zu seinem eigenen Vater zu finden. Auf der Reise an die Küste setzt der Vater einen Abstecher in sein eigenes Vaterhaus durch. Diese Szene liegt ganz am Beginn des Buches und hätte auch später in der Handlung ihren Platz gefunden. Doch eben durch die Platzierung am Beginn glänzt die erste Generation von Anfang an durch Abwesenheit. Der Vater sucht dort nach den Erinnerungen an seine Kindheit, aber es ist sein eigenes Kind, das hier nur noch Gefahr und keinen Sinn mehr ver mutet: We should go, Papa. Can we go? Yes. W'e can go. I'm scared. I know. I'm sorry. I'm really scared. It's aIl right. W'e shouldnt have come.20
20 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 23.
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Das Haus ist leer und bietet keinen Schutz mehr. Insofern ist dieser Ab stecher, den der Vater in seine eigene behütete Kindheit21 unternimmt, der Weg in eine untergegangene Welt, eine Unterwelt, in der eben kein Vater mehr wartet, um Anweisungen zu erteilen.
8.
Heimkehr
Die Aeneis ist bekanntlich auch eine Odyssee. Odysseus findet am Ende in sein Haus zurück. Aeneas findet eine neue Heimat. Nun ist aber auch der Schluss der Aeneis merkwürdig gebrochen. Kämpfe brechen zwischen den Trojanern und den Rutulern aus und die Zukunft wird einerseits durch Gefahren immer wieder in Frage gestellt, andererseits durch Prophezeiun gen gesichert. In dieser Ambivalenz endet das zwölfte Buch der Aeneis. Aeneas besiegt seinen erbitterten Feind Turnus, setzt aber seine morali sche Integrität durch seine Weigerung, den bereits besiegten bittflehenden Feind zu töten, aufs Spiel - ob er sie dabei verliert, möchte ich hier nicht erneut zur Diskussion stellen. Der Kampf um Heimat und die Sicherung der moralischen Kultur sind auch das zentrale Thema bei McCarthy. Im mer wieder erinnert der Sohn den Vater daran, dass sie das Feuer tragen, d.h. dass sie moralisch handeln müssen, wenn sie wirklich als Menschen überleben wollen. Wie geht dieser Kampf aus? Im Finale der Aeneis gibt es einen Moment, in dem Vergil bestimmte Fassungen der Aeneassage zi tiert, nach denen Aeneas gemeinsam mit Turnus fällt und erst sein Sohn den Krieg zu Ende bringen wird. Aeneas wird dort von einem Pfeilschuss getroffen (1 2,31 9-323) und spricht, obwohl er von seiner Mutter Venus geheilt wird, voll Todesahnung zu seinem Sohn (1 2,435f.) .22 Die Offenheit des vergilischen Finales musste auch für Cormac McCarthy attraktiv sein. Es ist ja einerseits klar, dass in einer völlig verwüsteten Erde kein neues Latium, keine new world mehr zu vergeben ist. Andererseits fragt sich der Leser schon, wohin der Vater seinen Sohn eigentlich bringt und wie es mit dem Kind nach dem Ableben des (kranken) Vaters eigentlich weitergehen soll. Und tatsächlich stirbt der Vater am Schluss. Der Sohn aber findet Aufnahme bei einer Familie, die die gleiche Ethik hat wie der gerade ver storbene Vater. Einen Mann, der sich ihm freundlich nähert, fragt der Junge: 21
"My cot was against this wall. In the nights in their thousands to dream the dreams of a ehild's imaginings, worlds rieh or fearful such as might offer them selves but never the one to be." (S. 23). 22 Frank W'ittehow: "Vater und Onkel: Julius Caesar und das Finale der Aenm", Gymnasium 1 1 2, 2005, 45-69, 59 mit Arun. 55 und 63.
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Are you carrying the fire? [· · ·1
Yeah. We are. Do you have any kids? We do. Do you have a little boy? We have a little boy and we have a little girl. [· · ·1
And I can go with you? Yes. You can. Okay then. Okay.2.1
Die Rettung des Kindes findet nicht im Materiellen, sondern im Ideellen statt. Auch der neue Vater kann die Natur nicht wieder lebendig machen. Aber er trägt das Feuer. Die neue Heimat ist kein Ort, sondern ein Wett. Vergil hätte das gefallen.
23 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9). 238f.
Werner Suerbaum Publikationen 1 993-2009 Die älteren, zwischen 1 961 und 1 992/93 erschienenen Publikationen von Wemer Suerbaum (W.S.) sind verzeichnet in dem S ammelband: In
Klios und Kallio pes Diensten. Kleine Schriften von Wemer Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegmar Döpp, Bamberg 1 994, S. 458-464.
Fettdruck weist
auf selbständige Publikationen.
68. Aeneis pieturis narrata - Aeneis versibus pieta. Semiotische Überlegungen
zu Ver giI-IIIu..trationen oder Visuelles Erzählen. Buchillu..trationen zu Vergils Aeneis. In: Studi Italiani di Filologia Classiea (SIFC) 85, 1 992, S. 271 -334 (mit 54 Abb.; Vor trag auf dem FIEC-Kongress Pisa 1989).
69. Erinnerungen an Klassische Philologen. Festgabe für Emst Vogt zu seinem 60. Geburtstag am 6.11. 1990, gesammelt und unter Mitarbeit von Uwe Du bielzig hrsg. von Wemer Suerbaum, Bologna 1993 (Eikasmos 4).
Darin als eigene Beiträge von W.S.: 69a. Vorwort des Herau..gebers, S. 3-8. 69b. De vita et moribu.. philologorum classicorum. Empirische Beobachtungen zu
69c.
Nutz und Frommen erster und bemooster Semester, S. 9-24. Franz Beckmann (1 895-1 966), S. 1 1 1-125.
70. Der Aeneas Vergils - Mann zwischen Vergangenheit und Zukunft (Vortrag auf
dem Kongress des Deutschen Altphilologen-Verbandes Berlin, 6.-1 0. April 1 992). In: Gymnasium 1 00, 1 993, S. 419-447. 71. In KIios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Wemer Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegmar Döpp, Bamberg 1993, 478 S. Darin -
Neudruck von 17 Auf..ätzen aus den Jahren 1 967 bis 1 990, dazu S. 458-464 der ältere Teil der Publikationsliste von W. S.; enthalten sind in dem Sammelband die Nrr. 1 1 , 13, 1 6, 20, 21, 24, 3 1 , 32, 36, 39, 41 , 48a, 53, 55, 56, 57, 62. Direkt für die Rezeption VergiL. darin einschlägig sind die Nr. 39 und Nr. 53:
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"" erner Suerbaum
Ein neuer Aeneis-Zyklus: Darkness visible. In: Anregung (Zeit.�chrift für Gymnasialpädagogik) 29, 1 983, 1 -25 (hier 1 993, S. 346-370) , mit 14 Abb.; Vergil nineteen eighty-four. Anstöße der "Aeneis"-Interpretation. In: H.-J. Glücklich (Hrsg.): Lateinische uteratur, heute wirkend, Bd. 1, Göttingen 1987 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1 529) , 81-109 (hier 1 993, S. 403-431 ) , mit 1 Abb. 4 Beihefte zur Münchner Horaz-Ausstellung, hrsg. von Werner Suerbaum, München 1993, jeweils 64 S., jeweils illustriert 72. Beiheft 1 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Wemer Suerbaum: Katalog zur Ausstellung: Horaz. Disiecti membra poetae, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. 73. Beiheft 2 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Materialien, Kommentare, Es says. Mit Beiträgen von Georg Müller, Renate Piecha und Wemer Suerbaum, München 1993, 64 S., mit vielen Abb.
Darin 15 meist kleinere Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u.a.: Einführung in die Münchner Horaz-Ausstellung 'Disiecti membra poetae', S. 5-14; Der zerstückelte Dichter / Zum ersten Mal: Horaz in Prosa erfunden, S. 1 6-22; Fragmente und Konfrontationen / Horaz und Rose Au.�länder, S. 30-36; Viermal der Name des Horaz, S. 49-53. 74. Beiheft 3 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Wemer Suerbaum: Bilder zu Horaz, München 1993, 64 S., mit vielen Abb.
Darin 10 Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u. a.: Der poeta laureatus Horaz 1498 alias Jakob Locher 1 497. Von Dürer zum Picto gramm in der ältesten Horaz-Illustrierung, S. 6-34; (Zur Darstellung des) 'Saeculum Augustum', S. 40-45; 'Und es kamen Tauben vom Himmel'. Landschaft mit dem Knaben Horaz, Philipp Hacken 1 805, S. 46-48; Horaz im Graffitti-Zeitalter: ey Twomblys Horaz-Hommage, S. 54-58. 75. Beiheft 4 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Texte und Publikationen zur Horaz-Rezeption in der Neuzeit. Mit Beiträgen von Matthias Ferber, Maria Rutenfranz, Wemer Suerbaum, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. Darin 7
Einzelbeiträge von Werner Suerbaum, u.a.: Horaz und Anna E1issa Radke, S. 5-9; Horaz in der 'Folgenden Geschichte' (bei Cees Nooteboom), S. 1 0-1 2; uteraturhinweise, S. 35-41 . zu Cato dem Cen sor. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft (WJA) �'F 1 9, 1 993, S. 85-109.
76. Sex and Crime im Alten Rom: Von der humanistischen Zensur
Publikationen 1 993-2009
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77. Herculanensische Lukrez-Papyri - N eu e Belege für di e Phase der Majuskel-Kursi ve eines bekannten Klassikertextes. Nachbetrachtungen zur Edition von K Kleve, CronErc 1 9, 1 989, 5-2. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigtaphik (ZPE) 1 04,
1994, S. 1 -2 1 . 78. Kann ein Bürgerkrieg unblutig beendet werden? Z u Tac. hist. 2,37/38 un d Üy. 7,39-42. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASiU) 41 , 1 994, Heft 4, S. 8-1 8. 79. Ennius als Dramatiker, in: Orchestra. Drama. l\Iythos. Bühne, (Festschrift Hellmut Flashar), hrsg. von Amon Bierl u.a., Stuttgart - Leipzig 1 994, S. 346-362. 80. Der Pyrrhos-Krieg in Ennius ' Annales VI im üchte der ersten Ennius-Papyri aus Herculaneum. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigtaphik (ZPE) 1 06, 1 995, S.
31 -52. 81. Ein heidnischer Klassiker als ' Dünge r' christlicher Bildung. Quellen und Bedeutung des Vergil-Bildes bei Ermenrich von Ellwangen (um 850), in: Panchaia. Festschrift für Klau.. Thraede. Htsg. von Manfred Wacht, Münster 1 995 Oahrbuch für Antike und Chris ten tum, Ergänzungsband 22), S.238-250. 82. Cicero (und Epikur) über die Freundschaft und ihre Probleme, In: II concetto di amicizia nella storia della cultura europea. Der Begriff Freundschaft in der Ge schichte der Europäischen Kultur. Atti del XXII conyegno intemazionale di studi italo-tedeschi Merano 1 994. Edizione curata dall'Accademia di Studi Italo-Tedes chi, Metan 1 995, S. 1 36-1 71 (mit italien. Resümee S. 1 68-1 71). 83. Rh etorik gegen l1'frhos. Zum Widerstand gegen den Feind aus dem Osten in der Rede des Appius Claudiu.. Caecu.. 280/279 Y. Chr. nach Enniu.. , Oratorum Roma norum fragmenta und G. B. Niebuhr. In: Rom und der Griechische O s ten. Fest schrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, dargebracht von Schülern, Freunden und Münchener Kollegen, hrsg. von Ch. Schubert u.a., Stuttgart 1 995, S.
251 -265. 84. Der Leidensweg eines antiken Vermittlers. Zur Biographie des Philologen Orbiliu.. (Suet. gtamm . 9), des Prügelknaben des Horaz. In: Die Antike und ihre Vermitt lung. Festschrift für Friedrich Maier. Hrsg. von Karl Bayer, Peter Petersen und Klaus \'\!estphalen, München 1995, S. 21 -34. (parergon 1, ohne .Nr.) Elegie zu Friedrich Maiers 60. G eburts tag am 21 . 1 0. 1 995. In: Die Al ten Sprachen im Unterricht (DASIU) 42 , 1995, Heft 4, S. 812. 85. Lateinisches Staatsexamen in Schönheitspflege. Bayerische Student(inn)en interpretieren Ovid: Ars amatoria 3, 101-128. In: Anregung (Zeitschrift für Gymnasialpädagogik) 42, 1 996, S. 75-90.
\"'erner Suerbaum
458
86. Fehlende Redner in Ciceros 'Brotus'? Nebst Hinweisen auf fehlende Entwicklung, fehlende Belege und fehlende Ernsthaftigkeit in einer Geschichte der römischen Beredsamkeit. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift /Ur Alfons Weische zum 65. Geburtstag am 1 7. 1 . 1 997, hrsg. von Beate Czapla u.a., Wiesbaden 1997, S. 407-
419. 87. Zivilisten zwischen den Fronten: die Mandubier vor Alesia (Caes. Gall. 7,78) und Muslime in Srebrenica. Ein Beispiel /Ur (un)moralische Geschichtsschreibung. In: Anregung (Zeitschrift /Ur Gymnasialpädagogik) 43, 1997, S. 1 7-24. 88. Am Scheideweg zur Zukunft. Alternative Geschehensverläufe bei römischen Hi storikern (Vortrag beim Kongress des Deutschen Altphilologen-Verbandes Jena 12.4.1 996). In: Gymnasium 1 04, 1 997, S. 36-54. 89. (Rezension
) Enciclopedia Virgiliana Vol. 3-5**, Rom 1 987-1 991 . In: Gnomon
zu:
69, 1 997, 498-508 (l\Ianuskript vom Juli 1 995). (parergon 2, ohne Nr.) Der dramatische Mensch. Rede zur Emeritierungsfeier von Hellmut Flashar (21 .7.1 997). In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 44, 1 997, Heft 3, S. 27-36. 90.
In memoriam Uvo Hölscher 8. ]l.Iärz 1914 -31 . Dezember 1 996. Gedenkfeier des Instituts /Ur Klassische Philologie der Universität München am 9. Mai 1997, in Zusammenarbeit mit Wemer Suerbaum hrsg. von Joachim Latacz, Basel
1997,
58
S.
90a: Darin von W. Suerbaum: Programm und Begrüßung, S. 1 2- 1 8. (parergon 3, ohne Nr.) Zu Joachim Grobem 60. Gebumtag, 1 7. Juni 1 997. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASlU) 44, 1997, Heft 4, S. 35-41 . 91. Vorliterarische römische Redner (bis zum Beginn des 2. Jh.s v. Chr.) in Ciceros 'Brotus' und in der historischen Überlieferung. In: Wfuzburger Jahrbücher /Ur die Altertumswissenschaft (WJA) N.F. 21 , 1996/97, S. 1 69-1 98. 92. Q. Ennius, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 3 (0 - Epi), 1 997, 1 040-1 046. 93. Denkmalschändung einer stolzen Römerin? Zu einer Neuinterpretation des Epi taphs auf Claudia. In: Anregung (Zeitschrift /Ur Gymnasialpädagogik) 43, 1 997, S.
366-380. 94. Bibliographie (Auswahlbibliographie zur Tusculum-Ausgabe). In: Vergil, Aeneis, lat.-dt. ... von Johannes Götte, Düsseldorf-Zürich, 9. AutI., 1 997, S. 581 -583.
Publikationen 1 993-2009
459
95. Si}1fa paterrtltur. Gedanken an alternatives Handeln in Vergils Aeneis. In: Candide ludex. Beiträge zur augusteischen Dichtung. Festschrift für Walter \X!immel zum 75. Geburtstag, hrsg. von Anna Elissa Radke, Stuttgart 1 998, S. 353-374.
5 Beihefte zur l\Iünchener Vergil-Au."tellung 1 998 VergiI visuell, hrsg. von Wemer Suerbaum, München 1 998, jeweils 64 S., jeweils illustriert. 96. Beiheft 1 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Wemer Su erbaum: Katalog der Schautafeln 1 (poster 001-114), München 1998, 64 S., mit vielen Abb. 97. Beiheft 2 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Wemer Suerbaum: Katalog der SchautafeIn 2 (poster 115-230), München 1998, 64 S., mit vielen Abb. 98. Beiheft 3 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Wemer Suerbaum: Bilder zu Vergil, München 1998, 64 S., mit vielen Abb.
Inhalt: 1 . Gemäldezyklen zur Aeneis in italienischen Palazzi; 2. Gemäldezyklen zur Aeneis in deutschen Schlössern; 3. Vergil-Zyklen einzelner Künstler; 4. Vorstellung ausgewählter moderner Zyklen von Buchillu.,trationen zu Vergil; 5. Synopsen zu Buchillu.,trationen zu VergiI und Literaturhinweise zur bildlichen Rezeption Vergils. 99. Beiheft 4 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Wemer Suerbaum: Zur modemen Rezeption Vergils. Mit einem Beitrag von Mafia Rutenfranz, München 1998, 64 S., mit vielen Abb. Darin 12 Einzelbeirräge von W. Suerbaum, u.a. zu Thornton Wilder, 1 926; Rudolf
Borchardt, 1 929; W'a1dtraut Lewin, 1 979; Botho Strauß, 1 981 ; Jorgos Chimonas, 1984/dt. 1 990; Louis Begley, 1 991/dt. 1 994; Joseph Brodsky, 1 995; David W'ishart, 1 995. 100. Beiheft 5 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Wemer Suerbaum: Materialien und Illustrationen. Beiträge von Renate Piecha, Marcus Schröter, Wemer Suerbaum, München 1998, 64 S., mit vielen Abb.
Darin 8 Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u.a.: Was geschah sonst in Vergils Geburt.,jahr? Die Olympiasieger 70 v.ehr., S. 7-9; Das Grabepigramm Vergils - Thema mit Variationen, S. 1 0-12; Augustus und die Sibylle, S. 26-33; Zu den Danaiden am Schwertgurt des Pallas, S. 37-43; Zu den Vergil-Briefmarken 1 930 und 1 981 , S. 44-51 . Odyssee für Rom: Vergils 'Aeneis'. In: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften. F1ensburger l:niversirätszeit.,chrift 6 (\Veltliteratur), 1 998, S. 9-26.
101.
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"" erner Suerbaum
102. Unsterblicher Klassiker VergiI: "Hör mir bloß mit dem Scheiß auf". Zur Evaluation von Vergil-Kennmissen. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 46, 1 999, Heft 2, S. 6-20. 103. Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, RecIam: Stuttgart 1999, 427 S. (Universal-Bibliothek 17618: literaturstudium) (mit 15 Abb.). 104. Schwierigkeiten bei der Lektüre des sc de Cn. Pisone patte durch die Zeitgenos sen um 20 n.Chr., durch Tacitu.� und durch heutige Leser. In: Zeitschrift für Papy rologie und Epigraphik (ZPE) 1 28, 1 999, S. 21 3-234. 105. Iivius Andronicus, L., Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 7, 1999, 373-377. 106. Naevius comicus. Der Komödiendichter Naellius in der neueren Forschung, in: Dramatische Wäldchen. Festschrift für Eckard LeIevre, hrsg. von Ekkehard Stärk / G. Vogt-Spira, Hildesheim u.a. 2000, S. 301 -320. 107. Religiöse Identitiits- und A1teritiitsangebote im 1!quos Troianus und im f:.YCllfJ!.ISI des Naevius, in: Identitiit und Alteritiit in der frührömischen Tragödie, hrsg. von Gesine Manuwald, Würzburg 2000, S. 1 85-1 98. 108. Vetgils Aeneis. Die Erschließung eines geistigen Raums, in: Meisterwerke der antiken Uterarur. Von Homer bis Boethius, hrsg. von Martin Hose, München 2000, S. 1 03-123. 109. Die Vertreibung vor-ciceronischer Redner aus der römischen Uteraturgeschichte. In: Wiener Studien 1 1 4, 2001 (Festschrift A. Primmer), S. 1 69- 1 82. 110. Porcius Ucinus, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 10 (pol - SaI), 2001 , 1 62. 111. Semus [Nr. 2] , römischer Grammatiker, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 11 (Sam Tal), Stuttgart - Weimar 2001, 470-472. 112. Handbuch der lateinischen literatur der Antike, 1. Band: Die archaische literatur. Von den Anlangen bis Sullas Tod. Die voditerarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. ehr., hrsg. von Wemer Suerbaum, unter Mitarbeit von Jürgen Blänsdorf u.a., München 2002, XLVIII, 611 S. (Handbuch der Altertumswissenschaft VIII 1). - Etwa zwei Drittel dieses Bandes sind '\Ton W.S. verfasst, darunter die Abschnitte zu Uvius Andronicus (93-1 04), Naeviu.� (1 041 1 9), Ennius (1 1 9-143), zu Epos und Lehrdichtung (278-296), zur Satire (297-304) und zu Lucilius (304-31 8), zu Gelegenheitsdichtung und Kleinformen (31 9-339) und zur gesamten Prosaliteratur (343-560. 574-580), also u.a. zu allen Historikern und Rednern, wie Cato Censorius (380-41 8), ausgenommen die juristischen Schrif ten.
Publikationen 1 993-2009
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113. Lob des Zweiten. Die Römer und ich, in: Weltbild und Weltdeurung, hrsg. von
Peter Neukam und Bemhard O'Connor, Dialog Schule - Wissenschaft, Klassische Sprachen und üteraturen Bd. 36, München 2002, S. 1 84-220 mit 7 Abbildungen. (Eine Version mit kleinen Abweichungen ist zuvor seit dem 19.07.2001 als Privat druck verteilt worden.) 114. Ansprachen zur Emeritierungsfeier von Professor Dr. Werner Suerbaum, hrsg. von Wemer Suerbaum, München 2002, 60 S. mit 8 eingeklebten Farb fotos, Privatdmck. Die Broschüre ist vorhanden in der BSB, in der VB München
und in der Bibliothek des In�tituts für Klassische Philologie (der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie) der Universität München. 115. P. Vergilius [N r. 41 Maro, der römische Dichter, Artikel in: Der Neue Pauly Band
12.2 (Yen - Z), Stuttgart- Weimar 2003, S. 42-60. 116. (Rezension zu:) Virgil Aeneid 7. A commenrary by Nicholas Horsfall, Leiden u.a. 2000 (XlJV , 567 S.) . In: Gnomon 75, 2003, S. 21 3-21 8. 117. Ennius in der Forschung des 20. Jahrhunderts. Eine kommentierte Biblio graphie für 1900 -1999 mit systematischen Hinweisen nebst einer Kurzdar stellung des Q. Ennius (239 - 169 v.Chr.), Hildesheim - Zürich - New York 2003, 280 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 1) 118. Cato Censorius in der Forschung des 20. Jahrhunderts. Eine kommentierte Bibliographie für 1900-1999 mit systematischen Hinweisen nebst einer Kurz darstellung des Schriftstellers Cato Censorius (234-149 v.Chr.). Hildesheim Zürich - New York 2004, 312 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 2). zu Tacitus. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 5 1 , 2004, Heft 3, S. 1 3-22 und 27-3 1 .
119. Gedichte
120. Tacitus schreibt eine unpolitische Geisterstory des Plinius i n eine Auf.�teigerge schichte um . Aufstieg und Fall des Curtius Rufus bei Plin. epist. 7,27,2f. und bei Tac. ann . 1 1 ,20f. In: Ad fontesl Festschrift für Gerhard Dobesch zum 65. Geburts am 1 5. September 2004. enter der Agide der Wiener Humanistischen Gesell schaft hrsg. von Herbert Heftner und Kurt Tomaschitz, Wien 2004, S. 493-304.
�
121. Petrarca - ein I '-nttÜiS olter oder ein V"Kilius oJleIY In: Petrarca und die römische
üteratur, hrsg. von Ulrike Auhagen, Stefan Faller und Florian Hurka, Tübingen 2005 (NeoLatina 9), S. 17-33. 122. Seen im Schatten Roms. Commmtorii Caesars 1., Papst Pius' IT. und (ITI.) Plinius
des Jüngeren (epist. 8,20) und anderer lateinischer Schriftsteller. In: Athlon. Fest schrift für Hans-Joachim Glücklich (Herausgeber: Landesverband Rheinland-Pfalz
462
\"femer Suerbaum
im Deutschen Altphilologenverband), Speyer 2005, S. 79-1 03 (mit 1 Kane und 4 Fotos). 123. Von Arkadien nach Rom. Bukolisches in der Aeneis Vergils. In: Philologus 149,
2005, S. 278-296. 124. Vier (und mehr) Frauen-Bilder zu Vergils Aeneis. In: Die Alten Sprachen im Vn
terricht (DASIU) 54, 2006, Heft 3/4, S. 5-32 (mit 1 5 Abb.). 125. Die fiktiven Grabepigramme der republikanischen Dichter, mit Ausblicken auf
solche der Augusteischen Zeit. Uterarhistorische Cberlegungen. In: Die metrischen Inschriften der römischen Republik, (Sammelband) hrsg. von Peter Kruschwitz, Berlin-New York 2007, S. 63-96.
126. Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502-1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Mit besonderer Berücksichtigung der Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek München und ihrer Digitalisate von Bildern zu Werken des P. Vergilius Maro sowie mit Beilage von 2 DVDs, Hildesheim-Zürich-New York 2008, 684 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 3). - Die beiden DVDs
umfassen rund 8,5 Gigabyte und bieten unter ca. 6000 Digitalisaten etwa 4000 Vergil-Illu..trationen; im Buch selbst sind 41 gedruckte Abb. enthalten. 127. W'erner Suerbaum / W'olfgang-Valentin Ikas / Jl.latthias Groß: Vergiliu.. Pictus
digitalis. Ü ber ein Fachwissenschaft und Bibliothek verbindendes Projekt. In: Hau..mitteilungen der Bayerischen Staatsbibliothek München (HM) 1 10, 2008, 2631 (mit 7 Abb.) (technischer Arbeit..bericht zu �r. 1 26); erneut publiziert in: Bibliotheksdienst 43, 2009, (Heft 6), S. 579-587;
128. Die Schildbeschreibung Vergils in Worten und Bildern zur Aeneis (8.608-731),
in: Vergil und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel. In Verbindung mit V. M. Strocka und R. von Haehling hrsg. von Stefan Freund und Meinolf Vielberg, Stuttgart 2008, 451 -481 (mit 1 1 Abb.) (zuerst Vortrag an der Universität Straßburg 21 .2.2007 - dazu ein französisches Resümee, nach deutscher Vorlage von W.S., in REL 85, 2008, 8-1 1 - und in der Petronian Society München 1 7.7.2(08). 129. Das Sarntal bei Bozen. Beobachtungen eines Papstes (1 464) und eines Professors
(2007). In: Die Alten Sprachen im Vnterricht (DASIU) 56, 2008, Heft 2, S. 4-21. zum l\;eoklassizismu.• . Geschichte, Typen und Tendenzen der Aeneis-Illustration in gedruckten Vergil Ausgaben und -Ü bersetzungen von 1 502 bis 1 840. In: Philologia antiqua. An
130. Titelbilder zu den Aeneis-Büchern vom Humanismus bis
Publikationen 1 993-2009
463
International Journal of Classics (Pisa - Roma) 1, 2008, S. 99-201 (mit 90 Abb.) (Manuskript vom August 2006). 131. Die Goldene Zeit bei Vergil: die Historisierung des Paradieses. In: Deutsches
Dante-Jahrbuch 83, 2008, 39-61 (Vortrag bei der Tagung der Deutschen Dante Gesellschaft, Krefe1d 6.1 0.07); selbstverfasstes Resümee dazu in: Mittei1ungsblatt der Deut�chen Dante-Gesellschaft e. V, Juni 2008, S. 10r. 132. Aeneas als nackter Heroe, Augustu.� als Gott Zum neoklassizistischen Aeneis
Zyklus des Anne-Louis Girodet-Trioson um 1 820. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 56, 2008, Heft 4, S. 7-35 (mit 1 7 Abb.). 133. Die Sichtbarkeit des Autors in seinem Werk. Vergi1 in Buchi1lustrationen
zur
Aeneis. In: Gymnasium 1 1 6, 2009, 41 3-458 (mit 22 Abb). 134. The king's two bodies. Is Aeneas an embodiment of Augustus in illustrations for
ehe Aeneid? In: Vergi1ius 55, 2009, 31 -54 (mit 33 Abb.). 135. Ein Mantua-Epigramm auf Vergi1 und auf Andreas Hofer. In: Die Alten
Sprachen im Unterricht (DASIU) 57, 2009, Heft 3, S. 34-35. 136. Vergi1 als Jugend-Erzieher. Achates gibt Ascanius Anweisungen für anständiges
Verhalten bei Hofe (Aen. I 643ff.). - Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 57, 2009, Heft 4, S. 2-8.
In Vorbereitung: 137. Kann primm (wie prior') auch der erste von nur zweien sein? Zur Zahl der Bücher von Schriften, von denen nur ein liber primlls zitiert wird, und zur Zahl der Lager
des Varus bei Tac. ann. 1 ,61 ,2. In: Gymnasium 1 1 7, 201 0, 1 -6. 138. (Rezension) Lee Fratantuono: A commentary on Virgi1, Aeneid XI, Bruxelles
2009, 340 S. - Gnomon 139. M. Didius Falco ermittelt auf den Spuren von Tacitus HislrJriat. Lindsey Davis
schreibt 1 992 die Geschichte des Bataveraufstandes 69/70 n. ehr. weiter.
Namenregister Achares 64, 1 74, 1 76-1 78, 262, 307 Acerbas 299, 306( AchiU 62, 1 97, 285, 287(, 325 Adam 231 , 261 Adamastor 1 22 Aegon 54, 21 8 Aeneas 2, 9-14, 1 6-25, 28f., 32, 34-43,
45-47, 50, 79, 83, 85-95, l OH., 1 04, 1 08-1 10, 1 1 5-1 1 8, 1 2 1 , 1 24-1 26, 1 28, 1 30, 1 38-140, 142f., 1 74-1 85, 1 97f., 206, 252, 254-259, 261 -267, 272, 274-276, 284-285, 288-290, 292-299, 303-309, 326, 334, 349-351 , 355-361 , 3(�, 367, 374, 37(�380, 382-391 , 393-395, 397, 408-424, 432, 443f., 448-452 Aeneas Silvius Piccolomini 76, 78, 351 Aeolus 1 4f., 22, 24f., 96, 1 24f., 128-1 33, 144 Aepolus 1 67 A&icu.� 1 36 Aiax 1 3 1 Ala.�tor 200, 202, 205 Albicerio 3OOf., 306( Alexander der Große 1 28 Alexande� Iloyd 396 Alexis 1 68, 1 94 Alphesiboeus 1 60f., 1 63f., 1 67 Allecto 339 �s 214, 220, 233, 236, 238( runour 290-295, 298 Anchises 1 8, 258(, 262, 265, 276, 334, 409, 41 3, 443, 448, 451 Andromache 288 Anna (Schwester der Dido) 90, 174-1 77, 1 79, 1 82-1 84, 294, 305(, 378 Apoll 6, 57, 60(, 86, 98, 1 1 4(, 1 74, 290, 41 H., 420, 422 Apollonios Rhodios 1 3 1 , 1 76, 182, 252 Aquilo 93, 1 37
Aragom 367, 374-384, 388, .W I -393,
395, 397, 4OOf.
Aratus 3OOf., 308 Archirnedes 7 Areria 254-259, 261 -263, 267 Arerino 319 Argonauten 62, 1 3 1 , 1 82f., 264, 266 Ariadne 1 82f. Ariost 125, 13t f., 1 34, 252, 255, 363 Arisripp 405, 431 ( Aristoteles 43 Artus 365, 373f. Ascanius (vgL Julus) 88, 1 74, 1 77f., 1 82,
1 84, 262, 384, 389, 443, 450
A.�traea 59, 396 Athene 1 31
Augusrin 19-27, 30, 334 Augustus 5f., 34, 36, 39, 4t f., 49f., 58, 68, 1 04, 1 1 6, 259f., 262, 272, 298, 393f., 397, 421 Auster 1 37 Bacch�� 1 , 87, 121(, 1 28- 1 3 1 , 142( Baiäo, Andre 1 23, 1 37, 140 Balde,Jacob 1 87-209, 21 9, 225 Balthasar 222 Banaias 229 Barce 305 Barlaeus, Caspar 1 47 Barlae��, Melchior 147f., 1 60f., 1 67f. Bartholomaeus Coloniensis 215f. Battus 1 49, 1 5 1 , 1 54, 1 56f., 1 60f., 1 63-
1 68, 222
Baucis 447 Baudelaire, Charles 426, 429, 43.' Bebel, Heinrich 78, 216 Beowulf 365(, 371 -373, 375, 387 Berlioz, Hector 358 Bemhard von Clairvaux 334 Bersman, Gregor 223f., 229
466
Namenregister
Berthold von Regensburg 331 Bettini, Mario 1 94 Bilbo 369f., 384, 400f. Bitias 1 97f. de Blancmesnil, Potier 276 Boccaccio 317, 319 Bocer,Johannes 1 60, 215f., 2 1 8 Bonaventura 334 von Bonstetten, Karl Vicmr 360-362 Boreas 98, 1 36f. Boucher, Frans:ois 294 de Brebeuf, Georges 279 Britting, Georg 355 Brunetto Latini 319 Caesar 65, 67, 69, 76, 97, 237, 259, 278, 288f., 297, 431 Caieta 421 Calpurnius Sicu1us 54, 236, 245f. Calvus 4 Camerarius, Joachim 215f., 2 1 8, 225f., 229 Camilla BI, 207 Camillus 259 Capaneus 204 Carducci, Giosue 319f., 323, 326, 328 Caro, Annibale 355 Carrara, Ubertino 251 -267 Ca.�tellio, Sebastian 223 Cato d.Ä 4, 83, 259 Cam Uticensis 83, 259, 279-281 , 294, 297 Catull 4f., 8 1 , 1 82f., 1 90, 1 96, 433f. de Caumartin, Lefevre 271, 273 Celadon 227-229, 242-245, 247-250 Celaeno 408 Celsus 1 66 Cephalus 243, 245, 248 Cervantes 1 32 Chamforr, Nicolas 426 Charles IX I Carlin 62, 283 Chamn 79, 406, 41 1 Charybdis 1 39, 1 40, 408 Chigi, Fabio 224 Christlicher Gott 1 4- 1 6, 1 8-21 , 24-26, 28, 41 , 56, 58, 66, 1 1 0, 1 1 4, 1 39, 145, 21 8, 220f., 228, 224, 237f., 239f., 247f., 254, 262, 266, 272, 275, 277, 279f., 286, 294, 297, 3 1 6, 439, 448
Chromis 249 Cicero 1 1 , 269, 289 Cisnerus, Nicolaus 216f. Claudian 82, 1 90, 1 96, 199-203, 205-208, 246 Claudiu.� 4 Claudiu.� Donat 32 Clemens VII 109 Clement, Jacques 276 Clio 60f. Coelho 1 34f. de Coligny, Gaspard 282-288, 297, 298 Columbus, Christoph 254-264, 266f. Columella 3, 7 Connolly, Cyri1 Vemon 404-407, 410, 41 4-428, 431 , 436f. Constantia 255f. Corydon 1 62, 1 67f., 1 94, 215 McCarthy, Cormac 443, 445-453 Cossus 259 Cupido 1 58, 176 Cymothoe 1 5, 1 42f. Dach, Simon 21 1 -21 5, 2 1 , 220, 222-226, 228-231 , 236 Dädalus 83, 1 1 5f. Damon 1 60-1 62, 223 Dante 66, 1 1 4, 284, 319f., 323, 326, 335, 353, 362, 406, 426 Daphnis 56, 1 60f., 1 94, 216, 21 8-221, 227-229, 234-237, 239-245, 247-250 Dardanus 48, 86, 284, 410 Daunus 1 97f. Dauphin 58 Da�d 221 , 227f., 237, 243, 246, 248 de Segrais, Jean Regnauld 292 Decembrio, Pier Paolo 13, 42f., 46-48 Deiopea 1 25, 1 30, 1 44 Denethor 367, 381 -383, 400f. Desfontaines, AbM 272, 279, 292 Deshoulieres 294 Deucalion 1 38 Diana 59, 1 78, 290 Diane de Poitiers 59, 291 Dido 12f., 34, 43, 76, 85-95, 1 09, 1 1 7f., 1 26, 1 69f., 1 74-1 85, 206, 265f., 282, 285, 289f., 292-295, 298-309, 3 1 1 -
Namenregister
313, 350f., 356, 358f., 367, 374, 376379, 390(, 397, 408, 41 6, 419, 448 Diophas 248 Discorde 281, 290 Dodus 300, 301 , 308 Donat 7 Donato Acciaiuoli 1 1 Doris 1 5 1 - 1 53, 1 56-1 60, 1 64-1 66 Dorylas 243, 245, 248 Doze de Inglaterra 1 22, 1 32, 1 44 Dranees 276 Dryden, John 292, 41 5, 418, 420, 431 Du Bellay 1 72f. Düntzer, Heinrich 300-302, 3 1 2 Eichhoff, Frederic Gustave 269( Elbereth 371 Elijah 447 Elisabeth I 272, 282, 286 Elissa 94, 299, 300, 305-307, 3 1 2, 3 1 3 Elpenor 420, 422 Elrond 380-382, 384(, 396, 4OOf. Empedokles 22 Endymion 59 Engel 1 5, 1 10-1 14, 1 1 9, 1 39, 220, 223, 227, 228, 245, 246, 255, 262, 308 EnrUus 63, (>4, 1 96, 270 Eobanus Hessus 21 5, 21 6, 21 8 Eowyn 376-379, 391 , 397, 401 Epikur 34, 1 85, 280, 405, 432 Erci1Ia 1 25 Eukleides 332 Eumolpus 204 Eunaeus 204 Euphorbus 234, 237, 239 Euricius Cordus 215, 218 Euripides 128, 1 83 Europa 353 EunL� 7, 98(, 1 34, 136( Euseb 52 Eutropi1L� 205 Fama 1 74, 1 76, 242, 247, 295, 352 Faunus 54, 1 1 8 Ferdinand V. 260 Ficino, Marsilio 1 1 F1aubert, Gustave 426, 429, 431 Fortuna 389, 408, 414
467
Franciscus Patricius / Francesco Patrizi 21 7, 221 Fran�ois d'Anjou 61 Fran�ois I 60f. Fran�ois 11 58 Freud, Sigmund 339, 352, 356, 362, 423, 434 Frodo 364, 367, 369(, 375, 380(, 383393, 397, 400f. Fulgenti1L� 1 1 (, 21 , 27(, 44 Furien 86, 92, 94, 176, 339 Gabrielle 289, 291 -296, 298 Galadriel 371 , 374f., 395, 400 Galatea 143f., 1 77, 21 5 Gallus (Comelius Gallus) 1 , 34, 167 da Gama, Paulo 1 35 da Gama, Vasco 12t f., 1 36, 1 38(, 141, 258, 260f. (�dalf 371, 380-382, 385, 387, 391 (, 397, 400 f. GeraIdini, Antonio 21 9, 222, 229, 236 Giganten 1 22, 1 32, 138 Gmelin, Friedrich 360 Goethe, Johann Wolfgang von 299-303, 308-31 3, 337, 360, 361 Goliath 246 Gollum 401 Granicu.� 222 Grazie 1 25 (�gor VII 329, 334 Gustav 11. Adolf 1 9 1 Gustav III 357( Hardy, Alexandre 1 69-1 85 Hektor 1 M., 1 39, 1 78, 1 97, 257, 287, 307, 448f. Hecuba 284f. Hege), Georg W!lhelm Friedrich 270, 337 Hehte 1 63, 233, 237, 239 Hector / Hektor 1 6, 1 7, 1 39, 1 78, 1 97, 257, 287, 307, 448, 449 Helena 291 Helen1L� 20, 1 98, 288 Henri de Guise Heinrich 11 58-61, 291 Heinrich III 61 , 275f., 282
468
Namenregister
Heinrich N 61-63, 270-272, 274-277,
282(, 286, 290(, 293-298 Hera (vgl Juno) 1 9, 20, 23, 26-28, 125 Herkules 79 f , 83, 1 75 Herder, Johann Gottfried 301 , 303, 337 Hermione 288 Herpylis 1 60, 222, 243, 245, 248 Hesiod 273 Hieronymus 23, 1 1 4, 327 Hieronymus Vida 1 09, 20 Hiob 23-26 Hippotes 1 33 Homer 2, 25, 37, 40, 1 1 0, 1 23-125, 1 27, 1 28, 1 35-1 37, 1 40, 1 45, 1 7 1 , 252, 253, 256, 257, 269, 273, 278, 326, 338, 360, 371 , 431 Honorius 205 HOf22 1 , 5, 38, 50, 76, 1 40, 1 87, 1 90, 1 94, 1 96, 1 99, 204, 209, 237, 251 , 273, 282, 298, 323, 326, 405, 429, 431 Huelle, Pawe1 353 Hypnos (vgl. Somnus) 125 .
Iasius 41 0, 41 5 Ignatius von Loyola 328, 332-334, 342 lkarus 82f., 1 1 5 Ines de Castto 1 22 Infant Don Juan 52, 433 Iolas 226 Iosias 229 Iris 359 Isabella 52 Iustitia 1 5, 395 Jairus 221 , 238 J arbas / Iarbas / Hiarbas / Jarbes 86,
1 74-1 76, 1 79, 293-295, 299, 300-303, 306-308, 358, 359, 376 Jason 1 63, 1 83, 364 Jean le Blanc 62f. Jeanne d'A1bret 63, 283 Jeremias 332, 333 Jesaja 237 J esus Christus 1 7, 20, 25, 41 , 52, 56, 57, 59, 108, 109-1 1 4, 1 1 6-1 19, 1 94, 219, 220-226, 229, 230, 233, 237, 242, 247, 330, 434
Josef / Joseph 54, 1 09, 226, 237 Joseph von Arimathäa 1 1 3 Juan del Encina 52 Judas 1 94, 219, 223 Julus (vgl. Ascanius) 88, 91 , 290, 31 1 , 389
Juno (vgl. Hera) 1 2-1 5, 1 9-26, 28, 29, 34,
63, 86, 98, 1 1 4, 1 1 5, 1 25, 128- 1 3 1 , 143, 1 85, 285, 289, 306, 339, 356, 359, 422 Iuppiter Hammon 279, 293, 294 Jupiter 1 8, 2 1 -23, 34, 63, 79, 8 1 , 86, 98, 1 04, 1 2 1 , 1 24, 1 29f., 1 38, 1 43, 1 74, 1 76(, 1 84, 246, 252, 257, 277, 279, 280, 284, 289, 293-295, 306, 359, 376, 387, 394, 419, 447 Justinus 299, 301 , 303-305 Juvenal 76, 78, 1 03, 1 90, 1 96, 1 99(, 202, 205
Kalli machos 2, 3, 6 Kalliope 1 22 Kalypso 1 24 KarI August 309 Karl der Große 1 0, 1 1 , 1 4, 1 6 - 1 9, 2 1 , 2426, 28, 29
KarI V. 257, 258, 260
Ka.�par 222
Katharina von Medici 58f., 61, 283, 286f.
Kauffmann, Angelika 356 Kellgren, Johan Henrik 358 KJrke 220, 236, 233, 236, 239, 255 Kleanthes 279 Kleopatta 291 Konstantin 52, 266 Krasinski, Zygmunt 65, 66 Kraus, Joseph Martin 357-359 Kreusa (Gattin des Aeneas) 88, 1 80, 264(, 450
Kreusa (Tochter des Kreon) 1 63 Kyklop 246, 256 Labienus 279 de La Fayette 294 Laktanz 41 (, 51, 334, 41 6 Laetitia 53 Landino, Cristoforo 1 1 (, 27-29
Namenregister
469
Laokoon 1 92, 337, 354 Larinus 34, 41, 47, 48, 1 1 8, 1 30, 1 97, 1 98, 254, 270, 339 LavüUa 292, 374, 376 Lazarus 1 08, 221 , 238 �nius, SUnon 215, 2 1 8 Leo X 1 09 Leone, Sergio 443 Leonteus 1 98 Leopardi, Giacomo 3 1 9, 343, 427, 433 Lessing, Gotthold Ephrnim 331 , 337 Lethe 93, 1 51 , 1 57, 1 65 Lewin, Waldtraut 66-68 Lewis, C.S. 363, 366 Livius Andtonicus 270 Lord Bolingbroke 275, 297 Lorichiu.� Secundus, Pettu.� 21 6, 2 1 8, 229, 245 Ludwig IX 276, 277 Ludwig Xll 58 Ludwig XIII 63, 272 Ludwig XIV 64 Ludwig XIV 63, 271 , 272, 336 Ludwig XV 64, 278 Lucilius 6 Luise Henriette 229 Lukan 49, 82, 83, 94, 97, 98, 1 25, 1 38, 1 52, 1 88, 252, 259, 273, 278-281 , 285, 294, 297, 405 Lukrez 1 , 55, 64, 80, 1 21 , 1 90, 1 96 Lusus 121 Lycabas 233, 239, 243, 245, 248 Lycidas 54, 1 94, 222, 229, 243, 246, 249 Lycon 1 94
Maximi1ian 74f., 92, 1 02-1 05, 1 90 Medea 1 6 1 , 1 63f., 1 67, 1 82f., 220, 233, 2"36, 239 Meeresgottheit 96, 1 04, 1 22, 1 29-1 32, 144 Megasthenes 128 Melampu.� 1 50, 156 Meliboeus 1 62 Menalcas 54, 56, 1 50, 1 55, 1 63 Menelaos 288, 422 Merkur 82, 1 0 1 , 1 1 7, 1 22, 1 74, 1 76, 1 79, 1 81 , 265, 293, 295, 298, 447 Michel de Tour!! , GuiUaume 52 Mickiewicz, Adam 66 Milcon 226 Minos 1 1 5, 1 83, 324( Minotaurus 1 1 5 Misenus 1 1 8, 421 , 422 Mnemosyne 273 Moeris 163 Molon 228, 245, 247, 250 Mopsus 54, 1 94, 220-222, 227, 233-2'16, 238-241 Momay 275, 282, 286, 294( Morphon 1 49, 1 5 1 , 1 54, 1 56, 1 60-1 65, 1 67f. Müller, Heiner 66, 68-71 Muse 59, 63(, 74, 1 22, 1 5 1 , 1 56, 1 60(, 207, 234, 273-275, 278, 28Oc282, 297, 357 Mycon 214, 220-223, 227, 233-236, 238241 , 244, 246, 249 Mynylldon 243, 246, 249( Myrti1us 229
Macrobius 1 24 de Malherbe, Fran� ois 1 73 Mann, 1rhomas 3 1 5, 3 1 7 Mantuanus 1 62 Manzoni 3 1 9 Mare Aurel 294 MarceUus 259, 394, 398 Margarete von N avarra 57, 6 1 , 277 Maria 54, 1 09, 1 94, 206, 21 8(, 223, 233, 238 Maria Magda1ena 1 1 0-1 19, 228f., 245 Marot, C\ement 57-61 Mamal 5, 77, 1 90, 1 96, 405, 423
Naevius 1 24, 270 Napoleon 65, 69 Nemesian 238, 246 Neoptolemu.� vgl. Pyrrhus Neptun 1 4(, 22, 1 03, 1 1 7, 1 25, 1 27-1 30, 1 32, 1 35, 142-144, 263, 355, 409(, 41 8( de Nerval, (ierard 426, 429 Nietzsehe, Friedrich 337, 432 Nikander 3 Nikolaus 1 88 Nisa 1 49(, 1 54-1 56, 1 60-1 62, 21 8, 236, 238, 241 , 243, 249
470
Namenregister
Noah 1 39 Nonnos 3, 108 Notus/Notos 1 34, 1 36f. Nymphe 2, 1 22, 1 25, 1 30, 144, 2�3, 239, 252, 293, 296, 365 Nysa (vgl. Nisa) 160, 238, 236 Octavian (vgL Augustus) 50 Odysseus 26, 35, 104, 124, 1 25, 1 36, 2�6, 325, 364, 394, 420, 452 Oetha 1 49, 1 54 Ogon 300-302, 308 Omphale 1 75 Opitz, Mattin 211 f., 21 8f. Oporinus 223 Orestes 288 Orithyia 1 43f. Orontes 13f., 16, 25, 1 34 C>rph�� 60, 6 1 , 79, 83, 228, 246, 356 C>rphna�� 200, 202, 205 Chrid 3, 75-77, 8O, 85, 88f., 90f., 98, 100, 1 04, 1 1 0, 1 1 8, 125, 1 32, 1 34-1 36, 144, 1 61 f., 1 65, 1 67, 1 90, 1 96, 1 99f., 202, 204f., 236, 251 , 405, 447 Palaemon 243, 245, 248 Palinurus 1 1 7, 174, 177-1 79, 355f., 361 , 403-425, 427-436 Pan 6, 60f. Pandarus 1 97f. Papst lnnozenz III 322, 332, 334 Papst Pius II (vgl. Aeneas Silvius Piccolomini) 217, 351 Papst Sixtus V 275 Paris 1 28, 196 Parzen 57, 62f. Pascal, Blaise 426 Pasiphae 1 1 5, 1 1 7 Pasithea 1 25 Paulus 23, 1 39, 333 Pegasus 203, 207 Perrault, Charles 272 Pe�ius 1 96, 199, 200, 202, 204, 205 Pettarca, Francesco 1 2, 41 , 46, 1 25, 1 96, 206, 298, 31 9f., 323f. Petton 204, 405, 430 Phaedra 1 83 Philemon 447
Philipp II 1 48 Pholoe 234, 237, 239 Phorbas 41 0f., 413, 415, 431 Phrontis 422 Phyllis 21 5 Pilarus 107, 109 Pindar 204, 251 Platon 20, 82, 281 , 294 Plautus 1 90, 1 96 Plinius
Namenregister
Sarpedon 16f., 139 Saturnus 54, 59, 64, 78, 82 Scaliger,Julius Caesar 40, 1 08, 144 Schiller, Friedrich 302f., 308, 31 1 , 337 Schlegel, August Wilhe1m 337 Schlegel, Friedrieh 437 Schlegel, Johann Elias 303, 307 Scultetu.�, Tobias / Tobias von Sehwanensee und Bregosehitz 21 8 Skylla 1 39f. Serena 200f., 205, 207 Servius 3f., 6f., 1 6, 21 f., 32, 42, 44, 1 24, 2,7, 405, 41 3, 425, 426, 430f. Shakespeare, William 337 Sibylle 29, 55, 59, 79, 1 1 5, 246, 256, 326, 41 1 f., 420 Signorelli, Luca 351 Silius Italieus 1 25, 196 Silvesttis, Bemardus 12 Simaitha 1 67 Simeon 22, Sirenen 410, 41 9 Sirillus 22, Sim 204 Somtes 50, 237 Somnu.� 98, 355f., 409-41 1 , 41 8f., 431 Statius 56, 1 25, 1 82, 1 88-1 90, 1 96-204, 207f., 252 Steropes 244, 246, 249 Stilicho 200, 205 Stobaeus, Johannes 226 Sttabo 4 Sueton 5, 7, 207 Sychaeus 1 74, 176, 179, 1 83f., 305f., 358 Syrinx 60f. Tacitus 7 1 , 76, 405 Tasso, Totquato 252f., 255, 274, 281 de TeIigny, Comte 286, 297 Terenz 1 96 Terrullian 338 Teufel / Sathan 1 3-1 5, 18f., 21 -29 Theoden 4OO f. Theodorus 205 Theokrit 1 6 1 - 1 64, 167, 236, 298 Themmantis 263 Theseus 79-81 , 83, 1 76, 1 80, 1 83
471
Thetys 1 22 Thomas von Aquin 334 Thytsis 1 62 Tiberius 4 Tibull 70f., 1 96, 237, 405, 429, 431 Timaios 299, 307 Tityos 243, 246 Tityrus 54, 57, 193f., 222 Tolkien, Christopher 364, 366, 372 Tolkien, J.R.R. 363-374, 378-380, 383, 385-387, 391 , 394, 396-398 Tom Bombadil 392f., 400 Tommaso Campanella 63f. Trimalchio 1 Triton 1 5, 1 32, 142f. Turnus 1 3, 27, 34, 36, 38, 42, 47f., 1 42, 1 97f., 207, 257, 276, 292, 383, 397, 452 Tydides 1 6f., 1 39 Ungaretti, Giuseppe 406 Valerius Flaceus 125, 252, 264, 266, 376 Varius Rufus 357 Varro 22 Vegio, Maffeo 1 3, 39, 43, 406 Venus 53f., 86, 1 1 6f., 121 f., 1 24, 1 28, 1 38, 1 42-144, 1 85, 206, 254, 256258, 260, 266, 277, 284, 289-29 1 , 296, 306f., 309, 355, 359, 409, 542 Verino, Cgolino 10-13, 1 5f., 1 8f., 2 1 f., 24-29 Verire 275-278, 280-282, 294, 297 Vida, Mareo Girolamo 107-1 1 9 Villon, Fran,.ois 6 1 , 433 Vogler, Christian 213 Voltaire 64, 269-298, 317, 319, 429 von Spee, Friedrich 1 94, 214, 220 von Stein, Charlotte 299-31 3 Voss, Johann Heinrich 69, 325f. Vulkan 1 1 6, 1 38, 251 , 254-256, 296, 393 Watteau, Antoine 294, 296 Zephyros 7, 1 36f., 244 Zopyrion / Zopyros 234, 237, 2'9
Stellenregister Augustin Ve Civildle Vei civ. 1 0,21 : 20 civ. 1 0,22: 20
Conrad Cdtis Amores am 1 ,6,1 -8: 79 am 1 ,6,9-1 4: 79 am 1 ,6,15-18: 80 am 1 ,6,19-24: 81 am 1 ,6,25-36: 81 am 1 ,6,37-48: 83 am 1 ,6,49-54: 83 am 2,1 1 ,5-8: 84 am 2,1 1,9-12: 84 am 2,1 1,1 3-20: 87 am 2,1 1,21 -24: 87 am 2,1 1,25-30: 88 am 2,1 1,31 -38: 89 am 2,1 1 ,39-44: 89 am 2,1 1 ,45f.: 90 am 2,1 1,47-50: 90 am 2,1 1,51 -56: 91 am 2,1 1,57-60: 91 am 2,1 1,61 -76: 92f. am 2,1 1 ,77-79: 93 am 2,1 1 ,80: 93 am 2,1 1,81 -88: 94 am 4,14,25-40: 96f. am 4,1 4,77-86: 98 am 4,14,87-98: 98 am 4,14,99-1 1 0: 99 am 4,14,1 1 1 -1 1 6: 100 am 4,14,1 1 7-1 30: l00f. am 4,1 4,1 57-1 68: lOH. am 4,1 4,21 6-229: 1 03f. .
Francisco Fildfo Ve Morali Visaplind
p.71 f.: 42
.
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Jacob Balde �yriCd Iyr. 1,8: 1 92 Iyr. n,35: 193 Iyr. n,63-65: 195 Iyr. m,306: 1 88 Iyr. m,314: 1 89 Iyr. m,317: 1 89 Iyr. Vl,452f.: 1 97 Iyr. Vl,455: 199 Iyr. Vl,456: 199 Iyr. Vl,457-459: 200f.
.
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Fulgentius Ve Aetatiblls Mllndi
148M: I 1 f.
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Antonio Geraldini Carmen Bllcolicum carm. buc. 1 , 1 -7: 222
.
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Horner Ot!Jssee Od. 5,295f.: 136 Od. 5,33 1 f.: 136 Od. 5,306-307: 25 (Fn.)
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Melchior Barlaeus PhdTflltJ&elltria, tel V Volltext 1 49-1 53
.
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Gtegor Bersrnan PoemdIa carm. sacr. 1 ,5,15f.: 224
. .
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Tommaso Campandla Ijclo.l1,d ecl. 1 ,1 -5: 64
.
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258 258 261 261 256 263f.
Christoforo Landino Visplilationes disputationes 4,209: 29 (Fn.)
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Ubertino Carrara Coillmhlls Col. 3,51 7-533: Col. 3,568-570: C01 3,585-589: Col. 3,61 3-6 1 8: Col. 3,630-635: Col. 3,642-655:
Juvenal .\dtlirae Juv. 7,1 -3: 103 Juv. 7,74-78: 1 03 (Fn.)
Simon Dach Weihnachtsekloge Volltext: 233-236 Osterekloge Volltext: 242-245
Lucan Pharsalid Ph ars. 1 ,1 -7: 278f. (Fn.) Phars. 9,554f.: 279 Phars. 9,564-584: 279f. Macrobius .\dtlimalia sat. 5,4,4: 1 25 (Fn.) sat. 6,2,31 : 1 24 (Fn.)
Stellenregister
Martia! lipigrammala epigr. 3,78: 423 epigr. 1 4,1 00: 5
Aeo. 7,31 1 : 22 Sueton
VivliS AIIJloo lU
Aug. 76f.: 5 Mela
Mela 3,56: 102 (po.)
Novum Testamentum
Strabon
Geographika Strab. 4,6,8: 5
Eph 2,1-2: 23
Vulgo Eph 2,1 -2: 23 Mt 1 2,40: 1 1 3 Ovid
l ipi.rllllal (heroidu) epist. 7,17-18: 89 epist. 7,21 -22: 89 epist. 7,77-84: 88 (pn.) epist. 7,1 33-1 38: 91 MetamotphostS met. 1 1 ,503-506: 1 36 (pn.) met. 1 1 , 534-536: 1 00 lacopo Sannazaro
Ve Parlll Vitginü
de partu Virg. 3,1 31-
1 34: 53
d e partu Virg. 3,1 94-
1 96: 54
de partu Virg. 3,200-
232: 54f.
de partu Virg. 3,233-
236: 56 Servius Commentarii in Vergilii opem Verg. georg. 2,95f.: 4 Vetg, Aeneis Aeo. 1 ,47: 21 Aeo. 6,378: 425 (pn.)
Vergi1
Aeneü Aen. 1 ,52-54: 1 33 Aeo. l ,67f.: 1 30 Aeo. l ,82f.: 1 33 Aen. 1 ,84-86: 1 36 Aeo. 1 ,87: 1 34 Aeo. l ,88f.: 1 33 Aeo. 1 ,90: 1 37 Aen. 1 ,94-96: 1 40 Aen. 1 ,96-101 : 1 39 Aen. 1 ,92-1 02: 1 6 Aeo. l , 1 06f.: 135 Aen. 1 , 1 08-1 1 7: 1 34f. Aen. 1 , 1 24-1 29: 143 Aeo. 1 , 1 30: 143 Aeo. l ,1 38f.: 1 29 Aeo. 1 ,200f.: 1 40 Aen. 1 ,41 1 -414: 307 Aeo. �'102f.: 449 Aen. 2,535-543: 287 Aen. 2,547-550: 287 Aen. 2,687-691: 18 (pn.) Aeo. 3,506f.: 140 Aen. 4,1 33-1 39: 289 Aen. 4,333-336: 94 Aen. 4,340-347: 266; 377 Aen. 4,381 -384: 90 Aen. 4,384-387: 92
473 Aen. 4,447-449: 378 Aen. 4,589-591 : 289 Aen. 4,698f.: 289 Aen. 5,5-7: 379 (pn.) Aen. 5,685-692: 18 (pn.) Aen. 5,81 4f.: 409 Aen. 5,840f.: 409 Aen. 5,870f.: 41 1 Aen. 6,823: 334 Aen. 6,863-866: 259; 393 Aen. 7r'l02f.: 140 Aen. 7,3 1 2: 339 Aen. 1 2,1 07-109: 257 Aen. 1 2,435f.: 384 Edogae ecl. 8,52-54: 224 Georyjca georg. 2,86: 3 georg. 2,89-96: 3; 4 georg. 2,97-1 00: 6 georg. 2,10H.: 7 georg. 2,1 03-1 08: 7 georg. 2,31 9-322: 2 georg. 2,368-370: 2 georg. 2,467-474: 395 Ugolino Verino
Carliar
Carl. 1 ,97- 1 1 3: 17
Vetus Testamentum Vulgo lob 1 ,1 8-19: 24 (pn.) Marco Girolamo Vida
Chrirtiar
Chr. 6,351 -368: 1 1 H.