HISTORISCHE ZEITSCHRIFT
Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter (Hrsg.)
Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Loth...
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HISTORISCHE ZEITSCHRIFT
Johannes Burkhardt, Christine Werkstetter (Hrsg.)
Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 41
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Inhalt Die Frühe Neuzeit als Medienzeitalter und ihr kommunikatives Spektrum. Einleitung. Von Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter ..
Zur Einführung: Podiumsdiskussion und Gegenrede
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.
Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck? Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei? Podiumsdiskussion unter der Leitung von Winfried Schulze. Diskutanten: Werner Faulstich und Michael Giesecke (Medienhistoriker), Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann (Historiker/in) ..................................... 11 "Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis". Die Kommunikationsrevolution - ein Konzept zum besseren Verständnis der Frühen Neuzeit. Von Wolfgang Behringer ........................... " ......... 39
Teil 1: Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit. Einleitung. Von Stephan Füssel ............... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 57 Das Buch als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit. Von Ute Schneider . ...................................................... 63 Rhetorik des Bildes. Die kommunikative Funktion sprachlicher und graphischer Visualisierung in der Publizistik zur Zerstörung Magdeburgs im Jahre 1631. Von Silvia Serena Tschopp .......................... 79 Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne. Von Holger Böning ................. 105 © 2005 Oldenbourg Wissenschafts verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und die Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-64441-6
Teil 2: Kommunikationsraum Dorf und Stadt
Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung. Von Gerd Schwerhoff137 Die Kirche im Dorf. Von Werner Freitag . ........................ 147 Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive. Von Christopher R. Friedrichs ......................... 159 Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols. Überlegungen in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Von Maria Heidegger ................... "......................... 175
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Inhalt
Wirtshäuser als Zentren frühneuzeitlicher Öffentlichkeit. London im 17 . Jahrhundert. Von Dagmar Freist ............................ 201
Teil 3: Kommunikationsraum Region und Reich
Inhalt
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Teil 6: Der Körper als Medium Der Körper als Medium. Einleitung. Von Rudolf Schlögl ............. 429 Kommunikation und Inszenierung. Vom Nutzen der Ethnomethodologie für die historische Forschung. Von lörn Sieglerschmidt ............. 433
Kommunikationsraum Region und Reich. Einleitung. Von Maximilian Lanzinner .................................................. 227
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen (1350-1650). Von Franz-losej Arlinghaus ........... 461
Das Reich als kommunikative Einheit. Von Michael North ........... 237
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken. Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert. Von Stejan Haas ................................................ 499
Der Reichstag des 16. Jahrhunderts als politisches Kommunikationszentrum. Von Dietmar Heil ...................................... 249 Die Pest in der Stadt des Reichstags. Die Regensburger "Contagion" von 1713/14 in kommunikations geschichtlicher Perspektive. Von Christine Werkstetter ................................................. 267
Teil 4: Kommunikationsraum Europa und Welt
Zur Konstellation: der Körper höfischer Kommunikation. Von Mark Hengerer .................................................. 519 Resümee: Typen und Grenzen der Körperkommunikation in der Frühen Neuzeit. Von Rudolf Schlögl ................................... 547 Abkürzungsverzeichnis ....................................... 561
Kommunikationsraum Europa und Welt. Einleitung. Von Mark Häberlein . ...................................................... 295
Abbildungsverzeichnis ....................................... 563
Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531-1598). Von ChristI Karnehm ..................................................... 301
Autorenverzeichnis ., ........................................ 565
Brief und Mobilität bei Albrecht von Haller. Zur Geographie einer europäischen Gelehrtenkorrespondenz. Von Martin Stuber .............. 313 Kulturelle Vermittler und interkulturelle Kommunikation im kolonialen Nordamerika. Von Mark Häberlein ............................. 335
Teil 5: Informationsstrategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze Informations strategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze. Einleitung. Von Sabine Doering-ManteuJfel ....................... 359 Jesuiten-Fabeln des 16. und 17. Jahrhunderts. Leistungen und Grenzen von Propaganda in der Frühen Neuzeit. Von Sabine Doering-ManteuJfel 367 Die Kunst des Lügens. Ketzerverfolgung und geheimprotestantische Überlebensstrategien im theresianischen Österreich. Von Regina Pörtner ....................................................... 385 Netzwerke des Nachrichtenaustauschs. Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der ,neuen Zeitungen'. Von Franz Mauelshagen ...... 409
Die Frühe Neuzeit als Medienzeitalter und ihr kommunikatives Spektrum Einleitung Von
Johannes Burkhardt und Christine Werkstetter Die von neuen Medien bestimmte Kommunikationsgesellschaft stellt die Geschichte heute vor neue Herausforderungen. Den Verheißungen und Leistungen der High-Tech-Offensive und ihrer kommunikationswissenschaftlichen Auslegung fehlt der Rückhalt eines historischen Gedächtnisses. Die Informationsgesellschaft kennt ihre eigene Geschichte noch nicht. Die Kulturwissenschaften sind nicht nur Nutzer der elektronischen Systeme, sondern zu ihren Aufgaben gehört auch ihre kulturelle Deutung. Um die sich hier anbahnenden Veränderungen abzuschätzen, bedarf es einer weiten historischen Vergleichsperspektive. Die moderne Medienrevolution ist kein einmaliges Ereignis, sie muß sich an ihren Vorläufern messen lassen. Wer in das ,global village' einzieht, sollte das alteuropäische Dorfgeschwätz kennen. Informierte Informatiker wissen das. "Medientheorie muß sich hier nur stärker als Mediengeschichte begreifen" (Werner Faulstich), lautet somit das Forschungsprogramm. Der Frühneuzeitforschung wächst damit eine besondere Aufgabe zu. Denn die Druckmedien, die seit Beginn der Neuzeit zum Einsatz kamen, bedeuteten eine gewaltige Erweiterung der Verbreitungsmöglichkeiten und Speicherleistung von Information und Wissen. Die typographische Verarbeitung hat die Weichen der europäischen Kultur für Jahrhunderte auf die Vorrangstellung des Schrifttextes gestellt. Was nach akustischen und bildlichen Formen der Fernkommunikation in den Netzen der Gegenwart geschieht, wird so auch als eine triumphale Rückkehr des Schrifttextes auf anderer Ebene erkennbar. Auch der Verschriftlichungsschub im Dienste der Administrationen gründet in Politik und Kultur der Frühen Neuzeit; Kaufmannskorrespondenzen, Gesandtschaftsberichte und Visitationsprotokolle sind Verständigungsmittel ihrer aufsteigenden Institutionen. Die methodische Ablage und Aufbereitung des Wissens in Archiven, Bibliotheken und Enzyklopädien fundierten die frühneuzeitliche europäische Wissensgesellschaft. Ebenso zu bedenken aber ist die materielle Infrastruktur der Kommunikationswege, die etwa in der neuen durchregulierten Nachrichtenpost geradezu spektakuläre Ausmaße annahm. Zwischen Reformation und Aufklärung entfalteten sich frühmoderne
Öffentlichkeiten, in denen sich Informationsaustausch, Meinungspflege, Propaganda und Kommunikationspolitik multimedial entwickelten. Aber Kommunikation in der Frühen Neuzeit folgte auch eigenen Wegen. In den dörflichen wie den städtischen Kommunikationsräumen kam den unterschiedlichen sozialen Netzwerken große Bedeutung zu. Im mikrohistorischen Zugriff gewährt der Kommunikationsaspekt Einblick in die Zusammenhänge von obrigkeitlichen Regulierungsmaßnahmen und Partizipation der Untertanen. Die kulturelle Inszenierung und das politische Zeremoniell bestimmten das frühneuzeitliche Inventar ordnungspolitischer Kommunikation. Körperliche, zeichenhafte und insbesondere mündliche Formen der Kommunikation bedürfen eigenwertiger Beachtung. Denn die schriftliche Überlieferung verzerrt auch unsere Wahrnehmung: Kommunikation fand noch weitgehend mündlich statt; in einer ubiquitären nonverbalen Sprache, deren historische Erforschung gerade erst beginnt. Die mit zunehmender Lese- und Schreibfähigkeit durchgesetzte Schriftkultur aber modifizierte auch diese Strukturen. Der Entwicklungspfad verläuft nicht immer linear und hält zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit viele Überraschungen bereit.
* Dies waren die Vorgaben, unter denen die Frühneuzeitler aufgerufen waren, die medien- und kommunikationsgeschichtliche Bedeutung ihrer Fachepoche zu erkunden. Vom 13. bis 15. September 2001 fand in Augsburg die 4. Tagung der "Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit" im Deutschen Historikerverband statt. Gewidmet war sie dem Thema "Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit" - ein Forschungsfeld, das nicht nur eine große Zahl von Historikerinnen und Historikern aus Deutschland, sondern auch aus dem übrigen Europa und den USA anzog. Es war ein offener Kommunikationsbegriff, mit dem hier gearbeitet wurde, und es blieb auch offen, ob so eine Vorgeschichte oder eine Gegenwelt der heutigen Medienwelt freigelegt werden würde. Sowohl als auch und im einzelnen verschieden, lautet der in der Geschichte kaum anders zu erwartende Befund, aber es kann nach all den theoretischen Reflexionen und Fallstudien auch keinen Zweifel geben, daß sich diese Epoche auf Fragen, die unleugbar einem gegenwärtigen Erkenntnisinteresse geschuldet sind, so oder so außerordentlich auskunftsfreudig verhält. Gegen diese Fragestellung legen die frühneuzeitlichen Quellen kein Veto ein, sondern warten vielmehr darauf, auch medial gelesen, kommunikationsgeschichtlich eingeordnet und auf ihre Informationsleistungen hin untersucht zu werden. Die Frühe Neuzeit wird als ein auf ihre Weise bereits außerordentlich dichtes und hochkomplexes Medienzeitalter erkennbar. In Anlehnung an den Tagungsverlauf haben Autoren, Sektionsleiter und Herausgeber diesen Themenband erstellt, der dies dokumentiert und in ver-
schiedenen Punkten noch etwas weiterführt. Die von den Sektionsverantwortlichen eingeleiteten Teile sind so zugeschnitten, daß sie weit auseinanderliegende Forschungsinteressen zu integrieren vermögen. Ihre Abfolge schreitet den Kreis des Möglichen ab, von den klassischen Druck- und Schriftmedien über die multimedialen Kommunikationsräume in aufsteigender Größenordnung zu besonderen Intentionen und Formen der Kommunikation, die mit Propaganda, Netzwerken und Körpermedialität den Blick auf neuerschlossene Forschungsfelder freigeben. Die besondere Stellung, die dem Buchdruck als dem neuzeitlichen Medium schlechthin gern zugesprochen wird, läßt es geraten erscheinen, mit diesem Thema zu beginnen. Vorangestellt ist eine Podiumsdiskussion, die - fast selbst schon ein Medienexperiment - vom oft sehr spontanen Wortlaut ins Schriftmedium übertragen wurde, um eine Begegnung zwischen den bei den bekanntesten historisch ausgewiesenen Medienwissenschaftlern mit medienbewußt arbeitenden Historikern in ihren fachsprachlichen Besonderheiten und Klärungsprozessen authentisch zu dokumentieren. Winfried Schulze führte in die Doppelfrage nach Anfang und Ende eines Zeitalters des Buchdruckes ein und leitete die Diskussion. Die Epochenfrage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck begonnen habe, wird ausgehend von dem in diesem Fall schon zeitgenössischen Innovationsbewußtsein von Michael Giesecke wie J 0hannes BUrkhardt entschieden bejaht. Der Kommunikationswissenschaftier sieht die innovative Modernität in der Technisierung der Informationsverarbeitung, der Vernetzung durch den Markt und vor allem in der die modeme Wissenschaft begründenden neuartigen Spiegelungsform der Welt, betont aber in seiner Stellungnahme die kulturellen Kosten der weiteren Entwick1ung. Der Historiker verweist auf die Nutzung der leistungsfähigeren Druckmedien für die Verbreitung gleichlautender aktueller Information, den Zugriff auf den normsetzenden religiösen Schlüsseltext und die Herstellung von Öffentlichkeit, die mit Reformation und Bauemkrieg unmittelbar die erste modeme Massenbewegung auslösten und fortwährend weitere Wirkungen zeitigten. Die Gegenposition vertritt der Medienhistoriker Werner Faulstich, der die Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck beginne, eindeutig verneint. Faulstich ebnet die Zäsurbedeutung des "Buchdruckes" ein, und zwar sowohl des Buches als des Druckes, und sieht in der Ablösung von Oralität und "Menschmedien" durch eine breit ausdifferenzierte Medienkultur der Schriftlichkeit um 1400 mit weiteren Zäsuren um 1700 und um 1830 das Neue. Die Skepsis gegenüber dem Buchkult teilt Gudrun Gersmann und argumentiert von seinem Ende her, dem Abbau durch die Digitalisierung selbst der Bibliotheken. Aus dieser Relativierung der Buchkultur in der Gegenwart entwickelt Gersmann die Frage, ob nicht auch eine Entmystifizierung der Buchkultur in der Geschichte angesagt sei und die heutige digitale Perspektive auch eine andere mediale Vorgeschichte brauche.
Danach suchte der Kongreß, und dieser Band läßt der um die Druckmedien kreisenden Einführungsdiskussion die explizite Gegenthese von Wo(fgang Behringer folgen: "Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis". Wie in seiner großen Untersuchung "Im Zeichen des Merkur" stellt Behringer als die wahre Kommunikationsrevolution der Frühen Neuzeit dem Buch die Post gegenüber. In der Tat validiert die Gründungszeit der Taxis-Post die Epochenzäsur um 1500, und das einzigartige lineare Wachstum des Postwesens während der gesamten Frühen Neuzeit zeigt seine epochenspezifische Bedeutung. Behringer erkennt in der Portionierung des schrumpfenden Raumes durch die Posten der Stafetten, in der Normierung der verkürzten Zeiten und in der Einführung der Beförderungsperiodizität die neue Wahrnehmung einer modernen Welt und betont die Rückwirkung dieses Leitmediums auf andere, zum Beispiel die sich an die Postkurse haltenden Korrespondenzen und die periodische Presse. Das kann die Druckmedien, wie schon das Pressebeispiel zeigt, nicht wirklich zur Seite schieben, aber es werden künftig zwei Galaxien in der Frühen Neuzeit zu beachten sein und vielleicht auch noch mehr. Die eigentliche Präsentation der klassischen Medien im ersten Teil hat der Direktor des Instituts für Buchwissenschaft der Gutenberg-Universität Mainz Stefan Füssel übernommen. Ein erheiternd paradoxes Eingangszitat, das dem lieben "Leser" schriftlich (!) den Rat gibt, wenn er denn "nit lesen" könne, sich einen Vorleser zu suchen, erinnert an die Startschwierigkeiten des Druckmediums. Der Buchwissenschaftier zeichnet selbst die Ausgangsbestimmungen einer "neuen Kommunikationsgesellschaft" und betont im Blick auf die Handschriftenkultur die fließenden Übergänge und die Bedeutung der humanistischen Textorientierung für die Durchsetzung des Druckmediums. Die weitere Entwicklung entfaltet sich in drei Beiträgen, in denen mit Buch und Buchhandel, Flugblättern und Flugschriften sowie Zeitungen und Zeitschriften von Experten präsentierte typographische Kernmedien an Beispielen und im Überblick zur Sprache kommen. Die frühe Bindung der Wissensverbreitung an das Buch, die ein Weltbild umkreisende charakteristische Bild-TextRhetorik des 17. Jahrhunderts und die sich fast zu einer zweiten Medienrevolution steigernde Regelmäßigkeit und Dichte der Kommunikation durch die Periodika des 18. Jahrhunderts und ihre politische Wirkung verweisen auf ganz entscheidende Leistungen dieser klassischen Druckmedien der Frühen Neuzeit. In den nächsten drei großen Teilen bilden den Ausgangspunkt nun nicht mehr bestimmte Medien, sondern unterschiedliche Kommunikationsräume. Dabei interessiert aber natürlich nicht zuletzt, welche Medien darin wirksam waren. Dorf und Stadt bildeten die kleinsten ausgeschilderten Kommunikationsräume, und der Moderator dieses Teils, Gerd Schwerhoff, hat am Beispiel Kölns selbst schon gezeigt, daß der kommunale Raum eine kommunikationsanalytisch ergiebige Einheit ist. Hier aber setzen die Beiträge bei noch kleine"'"
ren städtischen und dörflichen Lokalen an, Kirche und Rathaus, Dorfgericht und Wirtshaus. Und selbst diese Lokalitäten, so zeigt sich, dienten oft nicht nur einem kommunikativen Zweck, sondern wurden zumeist multifunktional genutzt. Die Erwartungen, hier nun der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, erfüllen sich durchaus, aber als das Überraschende hält Schwerhoff aufgrund der Befunde fest, daß die moderneren Verschriftlichungsmedien wie Gerichtsbücher und Nachrichtenblätter auch in diese kleinen sozialen Einheiten einziehen. Dieser "Medien-Mix" (Schwerhoff) entspricht der Entwicklungstheorie, daß neue Medien alte Medien ergänzen, aber nicht verdrängen - wie auch des Moderators lebenspraktischer Wink daran erinnert, daß es das "frühneuzeitliche Dorfgeschwätz" schließlich auch heute noch gebe, wie übrigens auch das Stadtgespräch. In der Erschließung weiterer Kommunikationsräume in aufsteigender Größenordnung über die Region zum Reich kommt ein frühneuzeitlicher Fachschwerpunkt zur Sprache, der aufgrund seines weiten Forschungsspektrums hier nur ansatzweise erfaßt werden kann. Maximilian Lanzinner rückt den Reichstag ins Zentrum der kommunikationsgeschichtlichen Überlegungen dieses Teils und geht dabei von den noch nicht verstetigten "periodischen" Reichstagen aus, hier im allgemeinen Sinne eines Zeitabschnitts verstanden, nicht einer regelmäßigen "Periodizität". Der Herausgeber der Reichstagsakten des 16. Jahrhunderts erkundet die dabei zu beachtenden kommunikativen Beziehungen und Wertungen und schlägt über die Außenrelationen auch eine Brücke zu den Regionen. Auch die einzelnen Beiträge beziehen diese Perspektive des Reichstags ein, entweder in seiner expliziten Thematisierung als politisches Kommunikationszentrum oder eingeordnet in den Rahmen der weiteren Kommunikationsprozesse im Reich. Die kommunikative Bedeutung entfaltet sich von der Gesamtwahrnehmung des Reiches als Kommunikationszusammenhang bis zum am Krisenfall der Seuchengefahr erschlossenen Zusammenspiel von Reich und Region. Wie aber hielt es nun die Frühe Neuzeit mit der Globalisierung? In dem Europa und der Welt gewidmeten Teil ist immerhin ein so reiselustiger wie korrespondenzfreudiger Prinz abgebildet, der in vereinnahmender Pose seine Hand auf den Globus legt. In der Regel konzentrieren sich jedoch die Korrespondenznetze, hier an den frühneuzeitspezifischen charakteristischen BeIspielen eines kaufmännischen und eines gelehrten Netzes, erst einmal auf Europa. Diese und weitere kommunikative Beziehungen aber waren es, wie Mark Häberlein in seiner Einführung herausstellt, die das hohe und in mancher Hinsicht sogar noch höher als heute anzusetzende Maß der Einheit europäischer Kultur konstituierten. Für den Zugriff auf die ganze Welt bedurfte es hingegen der interkulturellen Kommunikation. Häberlein analysiert in einem eigenen Beitrag selbst diese kulturelle Vermittlung im kolonialen Nordamerika, die auch die ins Zentrum kommunikationswissenschaftlicher Diskurse
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rückende Vermittlerfigur signifikant hervortreten läßt. Aber nicht nur Interaktionen' so ein vom Moderator im einzelnen konkretisiertes Forschungsdesiderat, sondern die zu kontextualisierenden Institutionen und die Medien selbst bedürfen einer Europäisierung und Globalisierung. Dem Durchgang durch die Räume der Kom'hlUnikation folgt ein eigener Blick auf besonders auffällige Informationsstrategien. "Propaganda und ihr Gegenteil", könnte dieser Teil heißen, aber die Geheimhaltung ist dann auch wieder ein ähnlich manipulativer Umgang mit Kommunikation wie die Verbreitung von Information oder Desinformation mit propagandistischen Wirkungsabsichten. Sabine Doering-Manteuffel stellt für diesen Teil von einigen neueren Fällen her die Glaubwürdigkeitsfrage und sensibilisiert für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen damals und heute. Fallstudien zu den Iesuitenfabeln, deren propagandistisches Wirkungs spektrum in einem eigenen Beitrag von Doering-Manteuffel erkundet wird, und zum Geheimprotestantismus entwickeln am zentralen Frühneuzeitthema der Konfessionalisierung die der religiösen Intoleranz und ihren Kämpfen geschuldeten Kommunikationsextreme. Druckmedien erweisen sich dabei nicht nur für die Propaganda, sondern auch für die Geheimlektüre der Unterprivilegierten als Grundlage. Gegenübergestellt ist ein Beitrag, der vielmehr in der handschriftlichen Korrespondenz, ja in den Netzwerken selbst eine Schlüsselkategorie der Kommunikationsgeschichte sieht, Information generell an Austausch binden und in entmaterialisiertes Handeln auflösen will. Die umgekehrte Strategie sehen manche Beobachter in dem neuen Interesse am Körper und seiner Sprache, dem der abschließende Teil gewidmet ist. Denn der Körper scheint in den postmodernen Verwicklungen einen relativ festen Halt und neue Objektivierungsmöglichkeiten zu bieten, ist aber, wie Rudolf Schlögl klarstellt, natürlich ebenfalls ein Diskursprodukt und ein historisch variabler Kommunikator. Ein enzyklopädischer Beitrag, der alles reflektiert' was die Geschichtswissenschaft seit dem linguistic turn teils zu neuen Ufern, teils aber auch nur ins Schwimmen brachte, formuliert über das Forschungsfeld kommunikativer Körperlichkeit sein methodologisches Konzept. Drei Teilstudien zeigen das Medium Körper sowohl in seinen zeichenhaften als auch in seinen performativen Kommunikationsleistungen in den anschaulichen Kontexten des Gerichtswesens, der Eherituale und des höfischen Zeremoniells. Das die Ergebnisse der Beiträge bündelnde Fazit des Moderators setzt für diesen Teil wie auch für die insgesamt erkundete Abfolge der kommunikationsgeschichtlichen Untersuchungs felder einen sinnfälligen Schlußpunkt. In diesem darum an das Ende des Bandes gerückten Resümee hebt Schlägl auf typologische Varianten der Körperkommunikation ab und bestimmt ihre entwicklungsgeschichtliche Stellung. Dabei wird sehr deutlich, daß diese Kommunikationsform in einigen sozialen Bereichen der Frühen Neuzeit initiie-
rende, zeitweise dominierende und manchmal unverzichtbar bleibende Leistungen erbrachte, dann aber auch von anderen Medien und insbesondere von politisch-institutionell organisierten Formen der Kommunikation überholt und abgelöst wurden. Aus diesem perspektivischen Befund Schlögls lassen sich zwei verschieden gewichtende Strategien für die weitere Erforschung von Kommunikation und Medien in dieser Epoche ableiten: Entweder konzentriert man sich direkt auf die unmittelbar in die moderne Medienwelt führenden frühneuzeitlichen Präfigurationen, oder aber man nimmt die gerade für das epochenspezifische Kommunikationssystem insgesamt unverzichtbaren andersartigen Erscheinungen in den Blick. Das Fach braucht beides, und erst beides zusammen erschließt die kommunikative Leistung der Frühen Neuzeit.
* Der Kongreß hätte ohne die Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, die Universität Augsburg, die Gesellschaft der Freunde der Universität sowie die Stadt Augsburg nicht stattfinden können. All diesen Institutionen danken die Herausgeber sehr herzlich. Ein ebenso herzlicher Dank gebührt auch all denen, die im Organisationsteam mitwirkten und nicht nur einen reibungslosen Ablauf der Tagung sicherstellten, sondern auch zum, atmosphärischen' Gelingen beitrugen. Die Herausgeber danken allen Referenten und Referentinnen, die ihre Beiträge ausformuliert und nach den Bedürfnissen dieses Themenbandes eingerichtet haben. Ein besonderer Dank gebührt den Sektionsleitern, die für den von ihnen verantworteten Teil eine das Themenfeld und die Beiträge vorstellende Einleitung erarbeitet haben. Lothar Gall gilt der Dank der Herausgeber für die Aufnahme des Tagungsbandes in die "Beihefte" der Historischen Zeitschrift.
Zur Einführung: Podiumsdiskussion und Gegenrede
Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck? Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei? Podiumsdiskussion unter der Leitung von Winlried Schulze. Diskutanten: Werner Faulstich und Michael Giesecke (Medienhistoriker), Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann (Historiker/in)
I. Einführung von Winfried Schulze Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserer Podiumsdiskussion zu dem aufsehenerregenden Thema über den Beginn der Neuzeit, über den Buchdruck und die damit verbundene Frage, ob die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei ist. Diese Fragen sollen in Kooperation zwischen Medienwissenschaft und Geschichtswissenschaft diskutiert werden. Es geht ganz bewußt um eine doppelte Frage: zum einen nach der Rolle des Buchdrucks zu Beginn der Neuzeit und zum anderen nach der Zukunft der Medien. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem Vorstand unserer Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit für seine Weitsicht zu danken, diese bei den Fragen miteinander zu koppeln. Im Grunde folgen wir damit auch einer Anregung von Michael Giesecke, der nämlich geschrieben hat: "Gerne mächte man wissen, auf was der unübersehbare kulturelle Wandel im Gefolge der Installierung der neuen Medien zusteuert. Bislang verfügen wir jedoch nur über eine ganz geringe Erfahrung in der Abschätzung der Folgen der Implementierung von Informations- und Kommunikationstechnik. [... ] In dieser Lage bietet es sich an, Erfahrungen über den Zusammenhang von Kultur- und Medienwandel und über die zu seiner Erforschung notwendigen Methoden und Modellvorstellungen erst einmal an historischen Gegenständen zu sammeln."! Das ist der Grund für die Verbindung dieser bei den Fragen, die wir uns im Rahmen unserer Podiumsdiskussion heute vorgenommen haben. Starten wIr also zunächst mit der Frage: "Beginnt die Neuzeit mit dem Buchdruck?" Wir alle haben genug Texte und TextsteIlen im Kopf, die mit mehr oder weniger starken Worten solche Weliungen befürworten. Ich erinnere an Autoren
1 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991,2.
von Franz SchnabeP bis etwa Elizabeth L. Eisenstein und ihre Studie "The Printing Press as an Agent of Change"3, und es gibt noch viele, viele andere, die genannt werden können. Wie Sie sicherlich wissen, kann dies auch in Verbindung mit anderen historischen Faktoren geschehen, ohne daß ich jetzt hiermit eine Debatte über die Periodisierung, den Be'ginn der Frühen Neuzeit, vorwegnehmen will. Relativierungen hat diese These erfahren zum einen durch den Kollegen Werner Faulstich. Seine Anschauungen im Hinblick auf die Einordnung des Buchdrucks in die Gesamtgeschichte der Medien der Frühen Neuzeit werde ich etwas genauer vorstellen. Es handelt sich hierbei um eine Diskussion, die auch schon - jedenfalls ansatzweise - in unserer ersten Sektion "Klassische Druckrnedien der Frühen Neuzeit" repräsentiert ist. Relativierung aber auch durch die Analysen von Uwe Neddermeyer, der mit seiner neuen Arbeit "Von der Handschrift zum gedruckten Buch" von 1996 eine sehr viel kontinuitätsorientiertere Darstellung der medialen Veränderungen im späten 15. und auch frühen 16. Jahrhundert geliefert hat. 4 Wie wir wissen, hat er auch schon früher darauf hingewiesen, daß in der Parallelität von Handschrift und Buch ein stärkeres Kontinuitätsargument gesehen werden kann. N eddermeyer setzt den Beginn des Buchzeitalters um 1370 in das Manuskriptenzeitalter, wie er es nennt. Denn bereits ab der Mitte des 14. Jahrhunderts steigen die Produktionszahlen nicht zuletzt als Auswirkungen des ,billigeren Pergaments', des preiswerteren Papiers, sprunghaft an. Werke werden in großem Maße auch in pragmatisch-literarischen Textsorten verschriftlicht, so daß ein durch steigende Alphabetisierungsraten gewachsenes Lesepublikum über ein entsprechendes Angebot verfügen kann. Der Buchdruck beschleunigte dann diesen Prozeß weiter - da erkennt man die Relativierung. Die technologische Umstellung nach 1470 bedeutet keinen Bruch, so lautet die Grundthese zum Handschriftenzeitalter. Die Leistungsexplosion ist aufgrund des aufgestauten Altbedarfs überhaupt erst möglich geworden. Hier wird es also um eine genuin historische Fragestellung gehen, die freilich mit relativ komplexen Ansätzen zu beantworten versucht werden soll. Derartige Ansätze sind in den letzten Jahren vor allen Dingen von den Medienwissenschaftlern vorgelegt worden. Das ist auch der definitive Grund dafür, daß wir in dieser Sektion für die Podiumsdiskussion Medienwissenschaftler eingeladen haben, um mit ihnen das Gespräch zu suchen. 2 Franz Schnabel, Der Buchhandel und der geistige Aufstieg der abendländischen Völker. Freiburg 1951. 3 Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformation in Early-Modern Europe. 2 Vols. London/New York/Melbourne 1979. 4 Uwe Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. Wiesbaden 1996.
Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß die Frühneuzeitforschung selbst durch die intensivere Erforschung der Reformation als kommunikativer Prozeß seit den späten sechziger Jahren diese neue Betonung der Mediengeschichte eingeleitet und empirisch vorbereitet hat. Dies alles ist zu sehen vor dem interessanten Paradigma, das von Jürgen Habermas zu Beginn der sechziger Jahre im Hinblick auf die Öffentlichkeit entwickelt worden ist. 5 Hierbei handelte es sich um eine Arbeit, die bekanntlich ebensosehr zum Widerspruch angeregt hat, wie sie sich für die Forschung als befruchtend erwiesen hat. Soweit meine einleitenden Worte zur ersten Frage. Die zweite Frage: "Ist die Ära der Typographie im Zeitalter der digitalen Medien endgültig vorbei?", greift nun Diskussionen auf, die seit der Mitte der sechziger Jahre die atlantisch-europäische Welt erfüllten und immer stärker erfüllen. Auslöser hierfür war der amerikanische Literaturwissenschaftler Marshall MacLuhan mit seiner "Gutenberg Galaxis" von 1962, die erst etliche Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde. 6 Meines Erachtens stellt dies ein wichtiges Thema dar, nicht nur aus dem Grund, weil es unsere alltägliche Arbeit in erheblichem Maße betrifft, sondern auch den gesamten kulturellen Prozeß, in dem wir uns befinden. Vilem Flusser hat einmal geschrieben, wir seien "Bücherwürmer, und wir fressen, wovon wir aufgefressen werden. Wir leben von Büchern für Bücher".7 Man kann natürlich daraus folgern, was passiert, wenn wir die Bücher nicht mehr hätten. Das wäre wirklich ganz furchtbar, weil in einer solchen Situation dem Wurm gewissermaßen die Nahrung fehlte. Das wäre die tragische Konsequenz. Wenn eine solche Vorstellung auch nur annähernd stimmt, dann ist dieses Thema für uns von entscheidender Bedeutung. Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, daß sich die Rahmenbedingungen für diese Diskussion seit MacLuhans Buch dramatisch verändert haben. Der Sieges zug des PC und vor allem des Internet mit seinen ganz neuen Publikationsmöglichkeiten haben das interaktionsarme Medium Buch durch neue, interaktive Medien ersetzt. Wir alle haben dies in den letzten Jahren am eigenen Leibe erfahren - im wahrsten Sinne des Wortes. Unser Informationsverhalten hat sich - da bin ich mir ganz sicher - bereits grundlegend verändert, während sich unser Publikationsverhalten noch nicht im gleichen Ausmaß verändert hat. Die Reputation des gedruckten Textes, ob in Buchform oder Zeitschriftenform, scheint noch deutlich·höher zu liegen als die der elektronischen PubliJiirgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. 6 Marshall MacLuhan, The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographie Man. Toronto 1962. In deutscher Übersetzung zuerst 1968: Die Gutenberg-Galaxis: das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf 1968. 7 Vilem Flusser, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 1987,94.
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kationsformen. Nicht zuletzt die Tatsache, daß ,online' kein Geld oder vermutlich nur wenig Geld zu verdienen ist, sichert den traditionellen Publikationsformen einen beachtlichen Vorsprung. Aber auch hier zeichnen sich neue Entwicklungen ab, gerade im Bereich der Naturwissenschaften, in denen die Online-Publikationen einen ganz anderen Stellenwert besitzen und zunehmend die gedruckten Publikations formen verdrängen. Man darf vermuten, daß dieser Trend sich mit Verzögerungen auch in den Geisteswissenschaften durchsetzen oder diese zumindest stark beeinflussen wird. In gleichem Maße beginnen unsere liebsten Partner, die Bibliotheken und Bibliothekare, umzudenken. Retrospektive Digitalisierung greift um sich und digitale Quellensammlungen entstehen. Bibliotheken verstehen sich zunehmend als Informationsbroker. Vor diesem Hintergrund scheint mir eine Diskussion über die Zukunft des typographischen Systems ebenso sinnvoll wie notwendig zu sein. Gerade solche Überlegungen bilden letztlich auch den Grund dafür, daß wir auf diesem Podium Kollegen versammelt haben, die ne:" ben ihren buch- und mediengeschichtlichen Forschungen eigene Positionen zu den oben angeschnittenen Fragen entwickelt haben, so daß wir davon ausgehen können, in diesem Zusammenhang interessante Anregungen zu erhalten. Damit bin ich beim Verlauf unserer Diskussionsveranstaltung angelangt. Wir wollen beginnen mit den Statements der eingeladenen Fachkollegen aus den Medienwissenschaften, von Michael Giesecke und von Werner Faulstich. Im Anschluß daran werden Johannes Burkhardt und Gudrun Gersmann sprechen. Ich hoffe auf eine interessante und spannende Veranstaltung! Lassen Sie mich Ihnen kurz die Teilnehmer vorstellen, zuerst natürlich die eingeladenen Medienwissenschaftler. Ich fange bei Michael Giesecke an, der seit 1999 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwere: punkten Kultur- und Medientheorie, Mediengeschichte in Erfurt ist. Wir kennen ihn alle von seinem großen Buch "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit", das jetzt in der 3. Auflage mit einem umfangreichen Nachwort vorliegt.8 Das ist aber nur das bekannteste Werk in einer ganzen Reihe von Arbeiten zur Medien wissenschaft. Sodann begrüßen wir Werner Faulstich, Medienwissenschaftler an der Universität Lüneburg und Direktor des dortigen Instituts für angewandte Medienforschung. Neben Arbeiten zu Programmanalysen und Imageforschung sind seine mediengeschichtlichen Arbeiten für uns von besonderem Interesse. Von diesen liegen bereits drei Bände vor. Ein vierter Band, der den Zeitraum bis 1830 umfaßt, ist gerade erschienen. 9 Giesecke, Der Buchdruck (wie Anm. 1),3. Aufl. Frankfurt am Main 1998. Wemer Faulstich, Das Medium als Kult: von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert). (Die Geschichte der Medien, Bd. 1.) Göttingen 1997; ders., Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800-1400. (Die Geschichte der Medien, Bd. 2.) Göttingen 1996; 8
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Dann darf ich begrüßen Gudrun Gersmann, Historikerin in München lO , die mit einer auch medien- und buchgeschichtlichen Dissertation "Im Schatten der Bastille", also über die ,ecrivains obscures' im späten 18. Jahrhundert in Frankreich, hervorgetreten ist ll und zudem die Erfinderin und Macherin des Servers Frühe Neuzeit ist, dessen segensreiches Wirken Sie hoffentlich bei Ihrer täglichen Arbeit, spätestens hier aber in der Augsburger Präsentation bereits wahrgenommen haben. 12 Zu guter Letzt heißen wir Johannes Burkhardt willkommen, den ich an dieser Stelle nicht extra vorzustellen brauche. Er hat sich als Macher der Tagung hier in Augsburg verdient gemacht. Seine Arbeiten brauche ich hier en detail nicht vorzustellen. Soviel zu den Mitstreitern, die sich hier freundlicherweise auf dem Podium versammelt haben. Ich darf nun Michael Giesecke das Wort erteilen.
11. Diskussionsbeitrag von Michael Giesecke Meine Damen und Herren, Sie werden nicht erwarten, daß ich eine Zusammenfassung meines Buches zum Buchdruck in der Frühen Neuzeit hier in wenigen Minuten vortrage. 13 Aber ich habe mir gedacht, daß es vielleicht sinnvoll ist, einige Visionen, die ich aus der Arbeit an diesem Thema gewonnen habe, Ihnen in Kurzform vorzustellen. Es geht ja hier um die Kulturgeschichte, und ich bin eingeladen, aus kommunikations- und medientheoretischer Sicht hierzu etwas zu sagen. 1. Dazu wäre zunächst etwas zur Kultur zu sagen, zum Kulturbegriff und zum Kulturkonzept. Ich bemühe mich jetzt ganz besonders deshalb darum, weil es sowohl in der Buchwissenschaft als auch bei vielen Historikern üblich ist, den Kulturbegriff sehr eng mit dem Gesellschaftsbegriff zu identifizieren. Natürlich können wir Epochengeschichte, wie zum Beispiel die Neuzeit, als eine Gesellschaftsgeschichte begreifen und uns dann fragen, wie sich gesellders., Medien zwischen Herrschaft und Revolte: die Medienkultur der Frühen Neuzeit (1400-1700). (Die Geschichte der Medien, Bd. 3.) Göttingen 1998; ders., Die bürgerliche Mediengesellschaft: 1700-1830. (Die Geschichte der Medien, Bd. 4.) Göuingen 2002:.~ Bd.5 erschien im Sommer 2004: ders., Medienwandel im Industrie- und MassenzeitaHer (1830-1900). (Die Geschichte der Medien, Bd. 5.) Göttingen 2004. 10 Inzwischen Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Köln. 11 Gudrun Gersmann, Im Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Kolporteure und Buchhändler am Vorabend der Französischen Revolution. Stuttgart 1993. 12 Gudrun Gersmann, Der Server Frühe Neuzeit. Ein Internetprojekt für Historiker, in: Bibliotheksforum Bayern 28, 2000, 2, 178-186. Internetadresse: http://www.sfn.unimuenchen.de. Dem sfn hat sich inzwischen das historische Fachportal historicum.net (www.historicum.net) zugesellt. 13 Giesecke, Buchdruck (wie Anm. 1).
schaftliche Epochen voneinander abgrenzen. Das wäre aber eine Perspektive, die sich sehr stark anlehnt an eine kulturelle Epoche, nämlich an unsere europäische Neuzeit. Diese hat es in der Tat verstanden, sich selbst als Gesellschaft zu beschreiben: als aufgeklärte Gesellschaft, als Industriegesellschaft oder als Sozialstaat. Ich würde, wenn ich so vorgehe, im Grunde genommen die Selbstsimplifizierung dieser Kultur auf die soziale Dimension mit übernehmen. Davor scheue ich aber zurück. Und ich scheue mich ebenso, wie ich dann im folgenden noch weiter ausführen werde, insbesondere als Medienwissenschaftler, dies zu tun. Ich denke auch, daß sich alle grundlegenden Fragen unserer Gegenwart und insbesondere die medienpolitischen Fragen unserer Gegenwart nicht beantworten lassen vor dem Hintergrund einer Gesellschaftstheorie oder auch vor dem Hintergrund einer Theorie sozialer Kommunikationssysteme. Das ist übrigens auch die Tragik von Niklas Luhmanns Sozialtheorie. Vielmehr geht es, glaube ich, gegenwärtig um die Gestaltung des Zusammenwirkens einerseits von Gesellschaft, also menschlicher Sozialordnung, andererseits der belebten Natur und dritterseits der unbelebten Natur einschließlich der Technik und der Bodenschätze. Kulturen sind vor diesem Hintergrund zu verstehen als ein ökologisches Netzwerk, das sich zusammensetzt aus ganz verschiedenen - jetzt würde ich als Medientheoretiker sagen - Medien. Wir können es erst noch einmal im allgemeinen so stehen lassen: als ein ökologisches Netzwerk aus ganz unterschiedlichen, artverschiedenen Faktoren, die miteinander in Kontakt gebracht werden müssen. Die Ökologie als Lehre von den Beziehungen zwischen artverschiedenen Lebewesen und zwischen diesen Lebewesen und der unbelebten Natur gibt uns einige Hinweise darauf, wie eine solche Beziehungslehre aussehen kann. Kulturen sind - ganz im Einklang mit der Biosystemtheorie - selbstbeschreibende Systeme. Sie kommen nicht umhin, Identitätskonzepte über sich zu entwickeln. Sie kommen auch nicht umhin, Programme über ihr eigenes Handeln zu entwickeln. Diese Programme sind immer, da die Wirklichkeit komplexer ist, Simplifikationen, Mythen oder eigentlich - je nachdem, was man für einen Begriff davon hat - Ideologie. Eine solche Ideologie ist auch die neuzeitliche Reduktion von Kultur auf Gesellschaft und die Prämierung von Technik und sozialen Informationsformen. 2. Diese Abkehr von Soziologie und Sozialgeschichte und auch von Bewußtseinspsychologie hat natürlich Konsequenzen für die Kommunikationsund Medientheorie. Sie darf, wenn man diese Wende ernst nimmt, nicht als Lehre von der Verständigung zwischen Menschen, und diese womöglich noch reduziert auf die höheren Bewußtseinsschichten, verengt werden. Als Medien kommen vielmehr Pflanzen und Tiere, Steine und Technik ebenso in Betracht, und als Kommunikatoren kommen eben auch sehr viel mehr Faktoren in Betracht als nur die Menschen. Aus ökologischer, mediengeschichtlicher Sicht
lassen sich Kulturen gerade dadurch unterscheiden, welche Medien sie bevorzugen und was sie als Kommunikatoren akzeptieren. Die Aranda, ein Aborigines-Stamm in Australien, nutzen natürliche Felsformationen, Steine und viele andere natürliche Formationen als Kommunikationsmedien. Die Ägypter kommunizierten mit ihren Toten und nutzten übrigens den überwiegenden Teil ihres Mehrprodukts für die Technisierung dieser Kommunikation, also der Kommunikation mit den Toten. Leib und körperliche Bewegung im Tanz hielten die indischen Hochkulturen stärker zusammen als Schrift und Rede. Für nicht-soziale Kommunikationsformen lassen sich, wenn man kulturübergreifend forscht, viele Beispiele finden. Die Frage, die ich mir hier und heute stelle, ist, was die paradigmatischen Medien und Kommunikationsformen in älterer und neuerer Zeit sind. Die These, die im Raum steht, ist folgende: Die komplexe Drucktechnik und die Technik überhaupt hat in der Frühen Neuzeit die Rolle leiblicher und anderer Medien übernommen, und die sozialen Kommunikationsformen und damit zusammenhängend die sprachliche, logische Informationsverarbeitung wurden prämiert. Mancher ahnt schon, daß die Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck zusammenhängt oder davon katalysiert ist, davon .abhängt, welche Form der Selbstsimplifikation, welche Ideologie und welche Selbstbeschreibung wir haben wollen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Technik tatsächlich das Totem der Neuzeit ist, dann werden wir in der Tat auf den Buchdruck als dasjenige identitätsstiftende Symbol dieser Zeit kommen. Aber wir sind natürlich frei zu entscheiden, welche Form der Selbstbeschreibung wir wollen. Und wir stehen vielleicht im Augenblick vor der Aufgabe, neu zu überlegen, welche Selbstbeschreibung - nicht für die Vergangenheit, wohl aber für die Zukunft angemessen ist, um aktuelle Fragen besser beantworten zu können, als wir das bislang konnten. Bevor ich jetzt auf diesen Punkt noch etwas genauer eingehe, lassen Sie mich noch etwas zum Kommunikationsbegriff sagen. Der ist zwar in meinem Buchdruck-Buch enthalten, entwickelt, aber leider noch sehr implizit. Ich kann ihn mittlerweile etwas genauer formulieren. Es sind drei Dimensionen, die ich in dem Buchdruck-Buch behandle. Zum einen verstehe ich unter Kommunikation soziale Informationsverarbeitung. Es ist heute ziemlich un:. strittig, daß wir, wenn wir miteinander kommunizieren, wahrnehmen und stets Informationen verarbeiten. Der zweite wichtige Punkt jeglicher Kommunikationstheorie ist die Vernetzung. Wir kommen nicht umhin, Kommunikatoren zu vernetzen. Also haben wir zu fragen, welche Vernetzungswege es gibt. Welche Formen von Vernetzung kennen die verschiedenen Kulturen? Und da kennen sie sehr viele. Der dritte Aspekt ist wesentlich komplizierter. Da geht es darum, daß durch Kommunikation immer Gemeinsamkeiten zwischen Medien und zwischen Kommunikatoren geschaffen werden. Ich nenne
dieses Konzept Spiegelungskonzept. Hier geht es zum Beispiel darum, wie sich die psychischen Strukturen von A in den psychischen Strukturen von B wiederfinden. Man wird Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen und je nachdem sagen: die Kommunikation hat zum Erfolg geführt oder nicht. Unter diesen drei Dimensionen kann man nun als Kommunikations- und Medientheoretiker die Kulturgeschichte betrachten. Intuitiv, denke ich, passiert so etwas immer. Man muß versuchen, in einem Zeitraum systematisch in diesen Dimensionen zu arbeiten und dann die Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen, so daß man eine Möglichkeit hat zu korrigieren und zu falsifizieren. Vor diesem dreifachen Hintergrund die Frage: Was sind die Leistungen des Buchdrucks? Aus der ersten, der informationstheoretischen Sicht, wenn wir also soziale Informationsverarbeitungen in den Vordergrund stellen, können wir sagen: Der Buchdruck ermöglicht reversible, interaktionsfreie und damit technisierte Parallel verarbeitung, nicht von allen Informationen, wohl aber von sprachlichen und bildhaften Informationen zwischen Menschen. Wie schafft er das? Durch eine radikale Normierung und Sozialisierung der Wahrnehmung des Denkens und der Darstellung. Die Leistungen des Buchdrucks, der interaktionsfreien, intersubjektiven Verständigung, sind ja nur denkbar, wenn wir uns auf soziale Idealtypen reduzieren, wenn wir uns auf den Standpunkt eines generalisierten Anderen stellen. Diese Standpunkte haben wir alle in unserer schulischen Ausbildung und in der Familie gelernt. Die große Leistung der Neuzeit, der Frühen Neuzeit, ist es, innerhalb relativ kurzer Zeit Programme ausgearbeitet und sie in der Gesellschaft verankert zu haben, die eine solche Standardisierung der Wahrnehmung ermöglichen. Natürlich funktioniert die Verständigung über den Buchdruck nur dann, wenn Autoren und Leser diese Programme kennen und annehmen. Wenn sie andere annähmen, würde die Verständigung nicht klappen. Insofern ist der Buchdruck ein enormes Instrument der Normierung psychischer Informationsverarbeitung und natürlich auch der Darstellung von Informationen. Damit hängt übrigens das Problem der Objektivität, der Absehung von Subjektivität, das Problem der Wahrheit und vieler anderer Gruppen, vieler anderer Dinge zusammen. Diese Prinzipien einer Normierung und Standardisierung sind für viele, für die meisten, für die wesentlichen, für die vorwärtstreibenden Bereiche der neuzeitlichen Gesellschaft verbindlich geworden. Insofern kann man einfach sagen, daß der Buchdruck die neuzeitliche Kultur mitschafft und die neuzeitliche Kultur diese Form der typographischen Informationsverarbeitung stützt. Der zweite Punkt ist die Vernetzung. Da benutzt der Buchdruck ein völlig neues Vernetzungsmedium mit ganz anderen Prinzipien als die Kulturen zuvor, nämlich den freien Markt. Es ist eine marktwirtschaftliehe, mono mediale Form der Vernetzung, die von der Selbstauswahl der Konsumenten oder der
Leser lebt. Eine Steuerungsform, die im Augenblick wieder zur Disposition steht. Es ist die Frage: Soll das Internet nach den gleichen Prinzipien reguliert werden wie die Buchkultur der Frühen Neuzeit sich reguliert hat? Wir wissen, daß Bill Gates die Antwort gibt: Ja, sie soll es. Aber die Frage ist: Kann unter diesen Bedingungen wirklich ein neues Medium entstehen? Ich habe eher den Eindruck, es wäre so, als wenn der Buchdruck in Spanien unter den Bedingungen unangefochtener feudaler Herrschaft erfunden worden wäre und man versucht hätte, das neue Medium in diese Strukturen einzubauen. Der Buchdruck hätte dann seine enorm befreiende Potenz nicht entwickeln können. Aus ontologisch-spiegelungstheoretischer Sicht - das ist die dritte kommunikative Dimension - geht es um die Frage nach den prämierten Medienarten und nach den prämierten Spiegelungsformen. Prämiert werden Sprache und Technik, die übrige Natur wird zum Rohstoff. Während die vormodernen Gesellschaften eher holistisch dachten, Mikro- und Makrokosmos miteinander in Beziehung setzten, "alles in einem und das eine in allen Teilen", wie Leonardo formulierte, also komplexe Spiegelungen und Rückkoppelung oder das, was man heute Interaktivität nennt, in den Vordergrund gestellt haben, findet in der Frühen Neuzeit eine Umorientierung statt. Diese findet insbesondere auch in der Technologie statt, die für den Buchdruck konstitutiv ist, nämlich durch das Prinzip der linearen, monokausalen, rückkoppelungs armen Spiegelung zwischen den Medien und den Menschen. Das ganze führt zu dem bekannten mechanistischen Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft, aber es ist eben auch die Voraussetzung aller industriellen Technik. Ich habe dieses Prinzip der Verminderung der Rückkoppelungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Medien am Beispiel der Drucktechnologie gezeigt: Zum einen, wie die Patrize möglichst nur die Matrize beeinflußt und man nicht möchte, daß sie sich verändert durch diesen Einschlag. Zum anderen, wie die Letter durch die Matrize geformt wird und man nicht möchte, daß die Matrize sich bei jedem Guß verändert. Letztendlich, wie der Ausdruck bestimmt wird durch die Letter und man nicht möchte, daß die Letter sich durch die verschiedenen Druckvorgänge verändert. Diese Form des Denkens ist typisch für die Neuzeit, sie ist typisch für die typographische Technik, sie ist typisch für das Denken von Gutenberg, und insofern beginnt die Neuzeit auch mit dieser Form des Denkens, mit dem Buchdruck. Insbesondere wird sie dadurch bestärkt. Ich spare mir an dieser Stelle meinen Schlußteil. Ich kündige nur an, daß es natürlich Folgelasten dieser Entwicklung gibt. Mit diesen Folgelasten der Entwicklung habe ich mich in dem Buchdruck-Buch nicht auseinandergesetzt. Darin habe ich eher die Lobeshymne auf den Buchdruck gesungen. Aber es gibt natürlich die Schwächen und die Mystifizierungen. Mit diesen Themen habe ich mich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren befaßt. Selbstverständlich hoffe ich auch, daß dieses Werk auf Dauer fertig wird. Es wird nicht mehr in der klassischen Form als gedrucktes Buch erscheinen, son-
dem in multimedialer Form mit CD-ROM und mit Website. 14 Ich denke, daß wir in der Diskussion vielleicht zurückkommen sollten auf einige der Leistungen der Buchkultur, die zu Stolpersteinen für die Nutzung der neuen Medien zu werden drohen.
111. Diskussionsbeitrag von Wemer Faulstich Ich bedanke mich bei den dafür verantwortlichen Frühneuzeithistorikern, daß sie die Begegnung zwischen den Historikern und den Medienwissenschaftlern befördert haben und befördern. Das ist eine Seltenheit. Als ich vor sieben, acht Jahren begonnen habe, mich der Aufgabe einer Mediengeschichtsschreibung zu stellen, habe ich keinerlei Hilfen und auch nur sehr, sehr wenige Vorarbeiten bei den Historikern gefunden. Ich freue mich sehr, daß das jetzt anders ist. Die zentrale Frage lautet: "Begann die Neuzeit mit dem Buchdruck?" Und im Gegensatz zu Herrn Giesecke würde ich sagen: Nein. Für mich ist das eine Frage der Zäsur im historischen Wandel, folglich eine Frage der Periodisierung. Für die Medienwissenschaft gilt, daß Medien für Gesellschaft zentrale Funktionen haben und schon immer hatten: Orientierungsfunktionen, Steuerungsfunktionen, Integrationsfunktionen. Gesellschaft ist und war auch schon immer Mediengesellschaft. Das heißt: Medien sind teils Ursachen, teils Folgen, jedenfalls konstituierende Bestandteile gesellschaftlicher Umwälzungen. Gesellschaftlicher Wandel ist immer, zumindest auch - wenn nicht primär - Medienwandel. Ich weiß, daß es provokativ für die Historiker klingt, wenn ich sage, jede Zäsur ist Folge einer Medienrevolution. Oder abgeschwächt: jede Zäsur ist zumindest mit einer Medienrevolution verbunden. Das Problem der Mediengeschichtsschreibung besteht darin, daß sie sich nicht nur einem einzelnen Medium widmet, wie die Buchwissenschaft dem Medium Buch, die Filmwissenschaft dem Medium Film, die Fernsehwissenschaft dem Fernsehen usw., sondern daß sie versuchen muß, alle Medien in einer Zeit in ihrer Verknüpfung miteinander, in ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Funktionen zu fassen. Das war die Frage, die im Kontext der Beiträge zu den klassischen Druckmedien angesprochen ist. Das heißt, es geht darum, Medien als ein System, als Medienkultur zu begreifen. Wenn man das versucht, muß man eine Zäsur der gesellschaftlichen Entwicklung ebenso wie der Medienentwicklung etwa um 1400 setzen, als der 14 Das Werk ist inzwischen erschienen: Michael Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft - Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Frankfurt am Main 2002. Mit CD-ROM und website (www.mythen-derbuchkultur.de).
Wandel von der Oralität zur Literalität begonnen hat - Wandel dann verstanden als ein Prozeß des Umschwungs, der sich über dreihundert Jahre erstrekken sollte. Natürlich ist dabei der Kontrast wichtig zum Mittelalter. Mein Beitrag in dieser mehrbändigen Geschichte war ein Beitrag über die Medienkul.:. tur des Mittelalters, der mir unglaubliche Kritiken von Historikern, speziell von Mediävistenkollegen, eingetragen hat. 15 Das ist vielleicht bekannt. Vor 1400 gab es selbstverständlich auch Medien, die entsprechende Funktionen des Speicherns, der Informationsvermittlung, der Kommunikation, der Unterhaltung usw. wahrgenommen haben. Die Publizistikwissenschaft nennt sie Primällnedien, aber das ist eher verschleiernd. Ich nenne sie Menschmedien - ein schlechter Begriff; wenn jemand von Ihnen einen besseren weiß, bin ich dafür durchaus offen. Menschmedien heißt - zum Medienbegriff kann ich später genaueres sagen -, daß ganz bestimmte Systeme oder Instanzen ich nenne die wichtigsten: der Hofnarr, der Minnesänger, der Prediger, der Magister, der Erzähler, die Erzählerin und ähnliche - Medienfunktionen übernommen haben. Diese Menschmedien wurden im Mittelalter verstärkt durch sogenannte Schreibmedien, also den Brief, das Blatt, die Wand, das Buch das Buch existierte natürlich im Mittelalter auch schon -, mit sozialpublizistischen Funktionen. Das Ende des Mittelalters war dadurch gekennzeichnet, daß die verschiedenen Teilöffentlichkeiten, konstituiert durch je spezifische Medien und Mediengruppen, durch sogenannte intersystemische Medien, zerfielen. Bestimmte Kommunikations- und Infonnationsprozesse haben sich nicht mehr an die etablierten, festgelegten Grenzen gehalten. Grenzen wurden aufgebrochen - eine Tatsache, die aus medienhistorischer Sicht das Ende des Mittelalters mit herbeigeführt hat. Die Zäsur war etwa um 1400. Die Ausführungen von Stephan Füssel in der ersten Sektion vermögen wichtige Eckdaten in Erinnerung zu rufen: 14. JahrhundertlEnde des 14. Jahrhunderts: Papier kam in Italien auf, ab 1390 Papiermühlen in Nürnberg und anderswo, ab 1398 Holzschnitt, Blockdruck usw. in Europa, frühe Buchbindereien, Schreibstuben, 1450 dann Gutenberg, 1490für das Medium Brief enorm wichtig - die Etablierung der Post als System. Solche Daten gibt es genügend, aber wichtiger für die Zäsur ist, daß die traditionellen Medien des Mittelalters in ihrer gesellschaftlichen Prägung verschwanden bzw. irrelevant wurden oder auch schlicht einen Funktionswandel' erlebten. Die zweite Zäsur lag etwa um 1700. Hier war die Trennung der Druckmedien von den Menschmedien im wesentlichen abgeschlossen. Ab der Zeit um 1700 war eine Dominanz der Druckmedienkultur in der europäischen Gesellschaft gegeben und damit die Entstehung der bürgerlichen Mediengesellschaft ins Leben gerufen. Ich erwähne zwei, drei Punkte zur Verdeutlichung: 15
Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800-1400 (wie Anm. 9).
Die Menschmedien wurden nach 1700 endgültig von Druckmedien abgelöstzum Beispiel wird der Erzähler/die Erzählerin abgelöst von der Buchvorleserin oder der Märchenvorleserin. Oder der Ausrufer, der die Informationen der Herrschaftsschicht an das Volk vermittelt hat, durch das Intelligenzblatt beispielsweise. Der Prediger zum Teil durch die Zeitschrift. Der Lehrer durch das Lehrbuch. Sogar das Theater - ein Menschmedium par excellence - wurde verstärkt durch das Lesedrama abgelöst. Ein anderer Gesichtspunkt: Die neuen Druckmedien, vor allem Zeitung, Brief, Buch, Zeitschrift, waren integrativ miteinander verflochten. Medienverbund war relevant. Ein Markt entwickelte sich. Und diese neu entstehende Printmedienkultur produzierte eine neue Art von Öffentlichkeit: die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit - eben insofern diese Art von Medienproduktion und -rezeption das Bürgertum als Schicht, als Klasse identifizierte abgrenzend nach oben zu den feudalen Repräsentationsmedien, etwa dem Herold oder auch einem Gestaltungsmedium wie dem Schloß, und nach unten auch die Medien des Volkes zurückdrängend: das Fest, das Volkstheater, den Tanz u. ä. Der Preis dieser Identifikationsstiftung des Bürgertums durch die Printmedien war Abstraktifikation, war - wenn Sie wollen - Entsinnlichung. Das heißt, die bürgerliche Medienkultur ist zentral vom Lesen geprägt - eine ganz abstrakte Geschichte! Eine dritte Zäsur lag um 1830. Danach sollte das Zeitalter der Massen beginnen, das Zeitalter der Massenmedien, das Zeitalter von Dampfpresse, Papiermaschine, Heftmaschine, das Zeitalter von Fotografie, Illustrierter, Plakat, Litfaßsäule. Das heißt, die neuen elektronischen Medien angefangen von der Fotografie über die Schallplatte, Film bis Computer und Fernsehen in Frühform haben sich danach entwickelt. Ich komme zum Ausgangspunkt zurück und schließe mein einleitendes Statement. Die Neuzeit begann nicht mit dem Buchdruck. Auch nicht mit dem Buch. Auch nicht mit dem Druck. Die Neuzeit begann mit dem Wandel der Medienkultur. Die nächste Medienrevolution nach einer Übergangsphase setzte dann um 1900 ein. Und im beginnenden Zeitalter der digitalen Medien heute, um die zweite Frage dieser Podiumsdiskussion aufzugreifen und überzuleiten, ist nicht die Typographie obsolet oder überholt, wohl aber die Dominanz der alten Druckmedienkultur. Die gibt es nicht mehr. Und auch die Dominanz der alten elektronischen Medienkultur wird in absehbarer Zeit von den digitalen Medien abgelöst sein. Noch ist das nicht der Fall. Vor zwei Tagen, am 11. September, haben wir alle gesehen, wie bei einem weltrelevanten Ereignis die Medien Information transportieren. Das World Wide Web ist zusammengebrochen, das Internet hat versagt. Das Fernsehen und die Presse, vor allem das Fernsehen, haben die Massen überall in den westlichen Kulturen angezogen und alle haben diese Medien benutzt. Noch ist die Vorherrschaft der elektronischen Medien nicht gebrochen.
IV. Diskussionsbeitrag von Johannes Burkhardt Ja, ich freue mich zunächst einmal, daß wir Historiker mit den beiden Kommunikationswissenschaftlern, die meine Lieblingsbücher in diesem Bereich geschrieben haben, sprechen können. Ich meine, daß beide uns sehr viel zu sagen haben, aber daß das, was sie sagen, nicht immer das ist, was auch wir meinen müssen. Zunächst zu Michael Giesecke und seinem großen Werk. Ich habe mit Interesse gehört, wie das weitere Denken des Autors verlaufen ist. Wenn ich das pointiert zusammenfasse: Michael Giesecke ist weiter wie auch ich der Meinung, mit den Druckmedien habe die Neuzeit begonnen, aber er findet es heute nicht mehr so gut, was da geschehen ist. Während Werner Faulstich sozusagen den Stand seines Buches aufrechthält und zur Frage, ob die Neuzeit mit dem Buchdruck begonnen habe, klar nein sagt. Aber so etwas ähnliches wie eine Medienrevolution ist in seiner Perspektive dann um 1400 doch der Fall, und über 100 Jahre hin oder her kann man natürlich immer leicht streiten, so daß wir so weit gar nicht auseinander liegen. Aber ich will auch ganz klipp und klar sagen, damit die Positionen klar sind: Ja, die Neuzeit hat mit dem Buchdruck begonnen. Meine Überlegung ist folgende bei dieser vereinbarten Ausgangsfrage: Wir haben als Frühneuzeitier ja eine Epochendiskussion geführt, auf die hier noch einmal Bezug genommen wurde. Wir Historiker führen keine Epochendiskussion darüber, welches die wichtigste Zäsur der Mediengeschichte ist, sondern ob eine mediengeschichtliche Zäsur für uns so wichtig ist, daß wir sie auch zur Zäsur für alles andere erheben. Und da nehmen wir einfach mal die prominenteste. Das heißt, wir haben vorher eine geschichtswissenschaftliche Debatte darüber geführt, ob zum Beispiel die Reformation vielleicht die entscheidende Zäsur ist, aber inhaltlich ist sie uns nicht mehr so wichtig heute ob allein durch den Glauben, "mit, in und unter ... ", das ist doch kein Neuzeitkriterium, da kommen wir nicht weiter. Bei anderen Dingen, die uns wichtig sind, wie das Thema Amerika, merken wir, das hat um 1500 noch gar nicht gegriffen. Der Schnitt liegt gerade auf dem Felde der europäischen Expansion eigentlich erst im 17./18. Jahrhundert, wenn nicht noch später. Das ist auch keine geeignete, fachbegründende Zäsur für die Frühe Neuzeit. Und hier meine ich nun, ist Buchdruck, Typographie, Textreproduktion alSo) Kriterium einfach wichtig. Und wenn wir uns jetzt erst einmal an das zeitgenössische Bewußtsein halten, und das habe ich aus dem Werk von Giesecke gelernt, ist das einer der ganz wenigen Punkte, über den bereits zeitgenössisch ein Innovationsbewußtsein ganz deutlich zu greifen ist. Die "ars nova scribendi" wird gepriesen, eine erfindungsreiche Kunst. Erst geht es - in den Worten von Giesecke - um eine "Schönschreibmaschine", dann merkt man: Die kann ja viel mehr, wir können ja viel mehr und viel schneller drucken als schreiben. Das ist derartig singulär um 1500 und noch im ganzen 16. Jahrhun-
dert, daß man eine Neuerung als positiv bewertet, daß allein schon das ein Kriterium ist. Man nimmt etwas Neues wahr und bewertet es positiv! Die Reformation, die Renaissance hingegen, alle dachten im Grunde in umgekehrter Zeitrichtung und wollten zu alten Zuständen zurück. Daß die Alten schon gedruckt hätten, konnte man jedoch beim besten Willen nicht behaupten. Hier also ist wirklich ein Neuerungsbewußtsein, ein positives Innovationsbewußtsein zum ersten Mal zu fassen, und das ist schon ein erstes Kriterium, meine ich, für eine historische Zäsur. Wir müssen aber weiter fragen: Hat das, was da durch den Druck passiert ist, tatsächlich Relevanz für die allgemeine Geschichte? Und auch da würde ich sagen: auf jeden Fall. Welche Relevanz hat das neue Medium für die Epoche? Nun, zuerst einmal nach der Erfindung von Gutenberg im 15. Jahrhundert - geben wir es ruhig zu - überhaupt keine. Das war eine ziemlich aufwendige, extreme Spitzentechnologie - erst die Patrize, dann die Matrize, schließlich die Letter und so weiter, wunderschön nachzulesen wie es funktioniert bei Herrn Giesecke - und der ganze Aufwand für einen doch noch beschränkten Bedarf. Wenn man nämlich Hans-Jörg Künasts einschlägiges Buch liest, stellt man fest, daß um 1500 der in seinen Produktions zahlen schon sehr hoch entwickelte Buchdruck gegen Null heruntergeht und dann dort herumpendelt. 16 Und wann steigt er wieder auf? Exakt im Jahre 1517 gab es einen steilen Aufstieg, und das galt - Hans-Joachim Köhler ist auch da und kann das als Experte bestätigen 17 - für alle deutschen Flugschriften. Die Konjunktur begleitete praktisch die Reformationsgeschichte von 1517 bis 1525 mit exponentialern Wachstum und stabilisierte sich dann auf einer mittleren Linie. Woran könnte dieser plötzliche Aufschwung - jedenfalls wenn man das eigentlich progressive Genre, die Flugschriften, nimmt - denn liegen? Das liegt daran, daß man vorher nichts anderes gemacht hatte als bei den Handschriften. Was man vorher abgeschrieben hat - Aristoteles oder die lateinischen Klassiker, die lateinische Bibel, auch einmal eine schlechte deutsche, die aber niemand interessiert hat -, wurde nun gedruckt, aber dieser Markt des Nachdruckens von vorhandenen Handschriften hatte seine Grenzen. Jetzt aber, 1517, kommt Luther, und er ist der erste - so ähnlich steht es bei einem der bei den Medienhistoriker auf dem Podium -, der sozusagen in die Druckpresse hineindiktiert. Der also etwas schreibt, damit es gedruckt wird, das aktuell ist und Meinung trägt. Seither wird für die Druckpresse, für die Verbreitung, für die neue Verbreitungsmöglichkeit überhaupt geschrieben. Das ist der ganz entscheidende Punkt, und wenn Sie die Reformationsgeschichte mit diesem Starautor durchgehen, da knistert es ja förmlich von Papier, ja, Luther und seine Mitstreiter
sind von Station zu Station ihre eigenen Berichterstatter. Luther wird verhört von Cajetan, und als nächstes publiziert er das. Luther verbrennt des Papstes Bücher, und als nächstes erscheint die Schrift, warum Martin Luther des Papstes Bücher verbrannt hat. Das heißt, Luther und die Reformation - das ist der erste historische Vorgang, der gleich als gedruckte Reportage verbreitet wurde, kein Wunder, daß dies das historische Bewußtsein bis heute prägt. Es ist ein völlig neuer Stil des Umgangs mit diesem Medium. Insofern könnte man tatsächlich sagen, das Neuzeitliche ist nicht nur die Technologie, sondern die Art, wie man damit umgeht. Daß man erst einmal entdeckt, was man damit machen kann. Und das ist sicher in der Reformationszeit passiert. Und dazu kommt nun auch noch die passende "Medientheologie". Dazu haben beide anwesenden Medienexperten geschrieben, und das hat mir sehr eingeleuchtet. Einmal die Ablösung des "Menschmediums" Priester (Faulstich), den man nicht mehr braucht, wenn man den Text derartig erhöht, daß er eigentlich die göttliche Botschaft trägt und jeder die Möglichkeit hat, sie abzurufen, indem man sie publiziert und allen zugänglich macht. Die Bibel, der "zentrale Informationsspeicher des Glaubens" (Giesecke), Gott erscheint sozusagen auf dem Heimcomputer, wunderbar! Nun versteht man auch, warum das einen derartigen Eindruck gemacht hat, denn das war eine ganz neue Nutzanwendung dieses Mediums und begründete die Auszeichnung des Textes vor allem anderen. Diese besondere Dignität des Textes, vor allem aber des gedruckten Textes - Herr Giesecke verwendet hier gern das schöne Wort ,prämiert' - wurde auch verallgemeinert. Das trifft sich dann auch mit älteren Beobachtungen zur protestantischen Textorientierung, und wir wissen jetzt auch, weshalb: da steckt ein bleibender Wahrnehmungswandel dahinter. Denn uns erscheint vielleicht nicht mehr Gott auf dem Bildschirmtext, aber vielleicht die Wissenschaft. Das ist ein bleibender historischer Wandel zum Text hin, der hier zuerst zu greifen ist. Und dann - ganz wichtig in dieser Zeit für die Geschichte: es ist die erste Herstellung der Öffentlichkeit. Wirklich die erste Herstellung der Öffentlichkeit in dem Sinne, in dem Jürgen Habermas den Begriff eingeführt hat. lS Erinnern wir uns, er hat über das 18. Jahrhundert geschrieben, und erst dort gibt es für ihn ordentliche Öffentlichkeit, die höfische vorher war ihm nichts Gescheites. Da haben wir Historiker uns verblüfft gefragt: Ja, was er da für das18. Jahrhundert beschreibt, gab es das denn nicht auch schon in der Reformationszeit? Und Rainer Wohlfeil hat die richtige Konsequenz gezogen. Das war damals vielleicht ein bißchen anders, "reformatorische Öffentlichkeit" eben, aber Öffentlichkeit durch diese Verbreitungsmöglichkeit identischer Texte. 19
16 Hans-Jörg Künast, ,Getruckt zu Augspurg'. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555. (Studia Augustana, Bd. 8.) Tübingen 1997. 17 Vgl. dazu Hans-Joachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition in 33 Teilen. Zug 1978-1987.
Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 5). Rainer Wohlfeil, ,Reformatorische Öffentlichkeit', in: Ludger GrenzmanniKarl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. 18
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Das hat die Agenda schon derartig festgeklopft, daß alle und jedermann über nichts anderes schrieben als über das Evangelium. Also eigentlich wieder über den Text selbst. Der kommt sozusagen zweimal vor. Das ist ganz ungeheuerlich. Und was kam dabei heraus? Die erste mediengestützte Massenbewegung der Geschichte, nämlich der sogenannte Bauernkrieg! Der hat auch soziale Gründe, auch politische, aber es gelingt ja nicht zu erklären, warum er ausgerechnet 1525 ausbrechen mußte, weil es die politischen und sozialen Gründe auch vorher gegeben hat. Was hat dann eigentlich dem Bauernkrieg seine Einheit gegeben? Ich sage es Ihnen: Luther hat 1522/23 das Neue Testament herausgebracht und in der ersten Lieferung den Anfang des Alten Testaments, auf den es ankam für biblische Einsichten wie: "Als Adam grub und Eva spann - wo war denn da der Edelmann?" Und 1524 haben alle darin gelesen. Das läßt sich nachweisen, daß die Lutherübersetzung gelesen wurde. Das war das Lektürejahr der deutschen Geschichte. 1525 ging es los. Man zog die Konsequenzen. Das war, wie Peter Blickle sehr schön sagt, eine "Verträglichkeitsprüfung" der tatsächlichen Verhältnisse mit dem Evangelium. 20 Und was nicht paßte, wurde abgestrichen und geändert, erst von Luther im religiösen Kult, dann in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hier hat wirklich ein Medium eine Massenbewegung initiiert. Und außerdem natürlich auch auf dem normalen Weg über die Flugschriften und durch den Druck der Zwölf Artikel mit den Bibelstellen am Rande in großer Verbreitung. Thomas Müntzer hat am Ende niemand mehr gedruckt, sondern erst nachträglich, da mußte er natürlich verlieren. An diesem Beispiel des Bauernkrieges sieht man den Anfang der Wirkung des Mediums, das sofort in die Gesamtgesellschaft hineingreift, und jetzt hat hier einer nach dem anderen praktisch den Stab in die Hand genommen. In der politischen Geschichte Karl V. mit seinen berühmten Propagandaschriften da sitzt Heinz Duchhardt, der darüber geschrieben hat21 - oder man denke hier sitzt Herr Schulze - an die Türkenkriegsflugblätter und -flugschriften22 , so daß die ganze Politik praktisch durch diese persuasive Kommunikation umgeformt wurde. So war dann der Dreißigjährige Krieg, der mit seinen vielen Flugblättern der Flugblattkrieg schlechthin geworden ist, ein Medien-
Symposion Wolfenbüttel 1981. (Germanistische Symposien-Berichtbände, Bd. 5.) Stuttgart 1984,41-52. 20 Peter Blickte, Reformation und kommunaler Geist. Die Antwort der Theologen auf den Verfassungswandel im Spätmittelalter, in: HZ 261, 1995,365-402, hier 392. 21 Heinz Duchhardt, Das Tunisunternehmen Karls V. 1535, in: Mitteilungen des ästerreichischen Staatsarchivs 37, 1985, 35-72. 22 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978.
krieg. Vielleicht auch die Französische Revolution. Aber da würde ich dann vielleicht Frau Gersmann fragen. Ich fasse zusammen: Fortan ist nichts Relevantes passiert, was auch ohne die Druckmedien denkbar gewesen wäre. Natürlich gibt es noch andere Dinge, aber sie sind ein Leitmedium darin, sie initiieren, vereinheitlichen, legitimieren, stabilisieren auch bei der Institutionenbildung, Konfessionsbildung und so weiter. Die Neuzeit ist ein typographiegestütztes Zeitalter, lautet das Fazit. 23 Das alles galt der synchronen Kommunikation in dieser Epoche. Ich hätte gerne noch etwas zur diachronen Kommunikation gesagt, denn da hätten wir auch die neuzeitliche Wissenschafts geschichte stärker hereinbekommen. Aber meine Zeit ist abgelaufen.
v. Diskussionsbeitrag von Gudrun Gersmann Im Unterschied zu meinen Vorrednern möchte ich vom 21. Jahrhundert ausgehen und den Weg zurücklenken. Als geeigneter Einstieg in diese Diskussion erschien mir eine Debatte interessant, die in diesem Jahr 2001 in renommierten amerikanischen Presseorganen geführt wird und die ich außerordent1ich faszinierend finde. Es geht um die Thesen des Schriftstellers und Bibliophilen Nicholson Baker, der im Frühjahr 2001 - soeben hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber kurz berichtet - ein Buch unter dem Titel "Double Fold" veröffentlicht hat, in dem er die schonungslose Härte - den bibliothekarischen Vandalismus, wie er es nennt - an den Pranger stellt. 24 Anlaß dafür ist die gängige Praxis großer amerikanischer Bibliotheken, einen Teil ihrer historischen Buch- und Zeitschriftensammlungen nach der Durchführung von Sicherungsmaßnahmen, das heißt nach der Digitalisierung und nach der Mikroverfilmung, zu zerstören oder zu verkaufen. Baker nennt diese Praxis eine "Guillotinierung von Büchern" und wirft im Tone eines überzeugten ,J'accuse' den Bibliothekaren vor, sie täten nichts anderes, als systematisch die Geschichte aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Die Bibliotheken selbst sehen nun diese Handlungen sehr pragmatisch und begründen ihr Vorgehen einer: seits mit gravierenden Raumproblemen. Sie würden von Buchrnassen erschlagen und bräuchten die platzsparenden digitalen Speichermedien und sähen darin die einzige Zukunftslösung. Zum anderen argumentieren sie mit den
23 V gl. insgesamt Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. 24 Nicholson Baker, Double Fold. Libraries and the Assault on Paper. New York 2001.
Notwendigkeiten der Bestandserhaltung gegenüber der Problematik des stark säurehaltigen, sich selbst auflösenden Papiers. Man kann natürlich unterschiedliche Positionen zu dieser Debatte einnehmen, die in den amerikanischen Bibliothekarskreisen hohe Wellen geschlagen hat. Einer der großen, führenden Bibliothekare in den USA hat dies mit zwei Kommentaren begleitet. Zum einen mit dem Kommentar, daß er es für ausgeschlossen halte, daß Nicholson Baker je an das Festpult der jährlichen Jahreshauptversammlung der amerikanischen Bibliothekare eingeladen werde. Zum anderen aber mit der weit signifikanteren Bemerkung, daß er sich niemals habe vorstellen können, daß bibliothekarische Angelegenheiten es einmal auf die erste Seite in die Schlagzeilen der New York Times schaffen würden. Sicher ist diese Debatte in vielerlei Hinsicht von Polemiken geprägt, aber sie rührt dennoch an etwas, was über einen esoterischen Gelehrtenstreit hinausgeht. Sie rührt nämlich mit dem apokalyptischen Szenario, das man dahinter sieht, durchaus an das Mark einer der Kultur verpflichteten Gesellschaft, und vor allen Dingen zeigt sie, daß die Objekte unserer Forschung als Buchhistoriker vielleicht in ihrem physischen Sinne so lange gar nicht mehr existieren werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Digitalisierungsprogramme großer europäischer Bibliotheken, wie der Bibliotheque de France, die einen beträchtlichen Bestand ihrer Werke in der Gallica-Sammlung digitalisiert hat. Das alte Erlebnis des Paris-Forschers, der in der Bibliotheque Nationale in der Rue de Richelieu forschte, der sich also noch nicht in die megalomanischen Türme der Bibliotheque de France transferieren mußte, bleibt nicht länger haften, sondern der künftige Buchforscher wird vermutlich auf die Bestände von Gallica zurückgreifen - und die physische Präsenz des Buches nicht mehr haben. Man könnte es so formulieren, daß sich möglicherweise im Kontext dieser Digitalisierungsprogramme im Windschatten der Öffentlichkeit ganz allmählich, aber auch sehr deutlich ein Akt der physischen Vernichtung klassischer Buchtraditionen vollzieht. Dieses Beispiel, das ich "gar nicht weiter ausfalten will, zeigt für mich eines, nämlich daß eine Einbeziehung dieser Thematik der neuen Medien kein modisches Dekor darstellt, sondern im Grunde eine Notwendigkeit auch bei einer Tagung zur frühneuzeitlichen Medienkultur. Denn wenn auf der einen Seite - wie es in einer Presseerklärung der Augsburger Veranstalter heißt - die Informationsgesellschaft ihre historischen Wurzeln kennen muß, darf sich auf der anderen Seite natürlich die Auseinandersetzung mit der flühneuzeitlichen Mediengeschichte nicht auf den Zeitraum zwischen 1500 und 1800 beschränken, sondern muß sich auch öffnen für die Frage der Einbeziehung der neuen Medien. Michael Giesecke, von dem ich ganz unterschiedliche Publikationen kenne - vom Buchdruck in der Frühen Neuzeit bis zum elektronischen Museum -, hat diesen Brückenschlag zwischen alten und
neuen Medien in einer Vielzahl von Werken auch schon vollzogen. Zum anderen scheint mir, daß das, was in der Auseinandersetzung um die Thesen Bakers immer wieder formuliert wurde - die Auseinandersetzung nämlich über den Stellenwert des Wissens über Bücher, die man beseitigen kann, und Bücher, die man erhalten muß -, daß diese Auseinandersetzungen im Grunde auch erst in einem epochenübergreifenden Vergleich angegangen werden können. Erst in der Zusammenschau der Medienrevolution des 16. bis 18. und auch der des 20. Jahrhunderts wird man säkulare Veränderungsprozesse von Gesellschaft, wird man Prozesse der Etablierung fester Speichermedien mit Wahrheitsanspruch, und wird man schließlich auch den Prozeß einer medialen Überwindung von Zeit und Raum - angefangen beim frühneuzeitlichen Postreiter bis hin zur E-Mail-Benutzung - rekonstruieren können. Dies alles muß gekoppelt sein mit einer Fülle unterschiedlicher Herangehensweisen, die einerseits den neurophysiologischen Prozessen, auf der anderen Seite aber auch den kognitiven, intellektuellen Prozessen der Informationsverarbeitung Rechnung trägt. Bei diesem epochenübergreifenden Vergleich kann man auf der einen Seite sehr deutlich die Parallelen der Medienrevolutionen sehen. Viele Diskussionen - es wurde gerade schon angesprochen -, die im Moment über die Zensur im Internet oder über Autorenrechte im elektronischen Zeitalter geführt werden, finden sich mit ihren Argumenten durchaus so im 18. Jahrhundert wieder. Aber ich greife auch das Beispiel von Werner Faulstich noch einmal auf. Wir haben vor zwei Tagen, am 11. September, gesehen, wo tatsächlich die Unterschiede zum 21. Jahrhundert existieren. Natürlich ist das Internet zusammengebrochen, was auf die Fragilität dieses Mediums deutet. Auf der anderen Seite war eine Stunde nach dem Anschlag in New York das Wissen darüber weltweit verbreitet. Zwei Stunden später gab es die ersten Zusammenfassungen, Tageszusammenfassungen: der Terroranschlag im Rückblick. Dies ist eine Akzelerierung eines Mediums in einer Massenhaftigkeit, wie sie in dieser Form nicht existiert hat und wie sie auch dazu zwingt, sich in der einen oder anderen Form damit auseinanderzusetzen. Welche Schlußfolgerung kann man aus der Baker-Debatte ziehen? Audf hier möchte ich mich noch einmal auf Giesecke und Faulstich beziehen, die das Thema angedeutet haben. Man kann daraus natürlich zum einen die Konsequenz ziehen, die ganze Sache zu betrachten, wie Robert Darnton sie betrachtet, als "great book massacre", aus dem nichts anderes hervorgehen wird als die Vernichtung kultureller Traditionen. 25 Auf der anderen Seite kann ge25 Robert Damton, The Great Book Massacre. Rezension von N. Baker, in: The New York Review ofBooks, Vol. 48, Nr. 7, 26. 4. 2001.
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rade diese Auseinandersetzung um die Digitalisierung, um das Schicksal der Bücher im elektronischen Zeitalter, vielleicht auch dazu führen, was Herr Giesecke gerade mit einer Diskussion über die Entmystifizierung der Buchkultur angesprochen hat. Hat die jahrhundertelange Apotheose des Buches nicht vielleicht doch einen gewissen Tunnelblick herbeigeführt? Einen Tunnelblick, der das Buch zum Herz aller Dinge erklärt? Muß man dies nicht - und das ist eigentlich eine rhetorische Frage - gerade im jetzigen Zeitalter, im digitalen Zeitalter, relativieren? Inwieweit stehen das Buch oder die Typographie generell nicht auch für kulturelle Verlusterfahrung, die man in der einen oder anderen Weise definieren könnte? Zum einen im Hinblick auf orale Kommunikation, zum anderen aber auch im Hinblick auf den Verlust von kollektiven Kommunikations-, Rezeptions- und Wahrnehmungs weisen, wie sie in Gieseckes Mediengeschichten auch angesprochen worden sind. Im übrigen sind Klagen und skeptische Formulierungen gegenüber der Wirkmächtigkeit des Buches nicht neu. Die Entmystifizierung des Buches wurde im französischen 18. Jahrhundert in einer geradezu topischen Literatur immer wieder betont mit Formulierungen, die über das Siede des lumieres nur so überschwappten. Welche Konsequenzen kann man daraus ganz forschungspragmatisch ziehen? Ich möchte am Ende meines kurzen Statements nur auf ein Beispiel verweisen, auf einen Paradigmenwechsel der französischen Forschung, die mir ein bißchen vertraut ist, den ich sehr signifikant finde. Vielleicht könnte man daraus den einen oder anderen Diskussionspunkt auch noch mit entwickeln. Die französische Buchgeschichte des 18. Jahrhunderts war lange Zeit von einem ungebrochenen Glauben an die Macht des gedruckten Werkes geprägt. Nach Daniel Mornet im frühen 20. Jahrhundert waren es vor allem Roger Chartier und Robert Darnton, die immer wieder etwa im Frankreich der prerevolution einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Schmähschriften und Broschüren und dem Anwachsen einer politischen Sensibilisierung und Radikalisierung im Umfeld der Revolutionen hergestellt haben. "Riot books caused a revolution. A reading of Robert Darnton" hat David Bell noch vor wenigen Jahren seine Hommage an Robert Damton überschrieben, in der noch einmal der kausale Zusammenhang in Darntons Arbeiten von Buchkultur, Revolution und Radikalisierung betont wurde. Interessanterweise hat Darnton, der Altmeister der französischen Revolutions- und Buchforschung des 18. Jahrhunderts, selbst eine erstaunliche Kehrtwendung vollzogen, indem er das alte Kausalmodell von Buchlektüre und dadurch bedingter Politisierung durch das explizite Postulat einer Archäologie der mündlichen Kommunikation nun durchbricht. Der gleiche Robert Darnton, der jahre- und jahrzehntelang über das Lesen und Schreiben im revolutionären Frankreich geschrieben hat, fordert nun eine Untersuchung der schwer faßbaren Gerüchte, eine Untersuchung der subver-
siven Kommunikationen im Palais Royal und vor allem eine Untersuchung der handgeschriebenen kleinen Nachrichtenblättchen, die im 18. Jahrhundert en masse als Medium der Informationsgesellschaft der Pariser Kultur zirkulierten. "How did you find out wh at the news was in Paris not by reading in newspaper" ist das Fazit, das er aus seinen neuesten Forschungen gezogen hat26 , die im übrigen durch eine ganze Reihe von Studien aus anderen Kontexten - wie etwa in einer breiten Spanne von Arbeiten von den Kaffeehäusern im Stuart-England über Teehäuser in China bis hin zur marokkanischen Marktplatzkultur der Gegenwart - unterstützt werden. Wenn man damit zum Ende kommt, könnte man als Fazit formulieren: Dieser Prozeß einer Entmystifizierung des Buches, der in ganz unterschiedlichen Kontexten gespiegelt werden kann, könnte kulturpessimistisch begriffen werden in gewisser Weise als das Ende einer Kultur, die in der Frühen Neuzeit und in der Reformation ihren Aufschwung mit der Typographie genommen hat. Wenn auf der anderen Seite der Buchdruck immer nur ein Medium neben anderen gewesen ist und vielleicht sogar die Existenz anderer Kommunikationsformen aus dem Denken der Zeitgenossen und der Nachwelt verdrängt hat, dann wird das Ende der europäischen Buchtradition - sollte es sich tatsächlich im Rahmen solcher Massendigitalisierung abzeichnen - auch nicht das Ende aller Kulturen bedeuten.
VI. Podiumsdiskussion Schulze: Vielen Dank. Ich bedanke mich zunächst einmal bei den Diskutanten für ihre sehr klaren Statements. Herr Burkhardt hat nun den Versuch gemacht, die Differenzen mit Herrn Faulstich zur Datierung der neuzeitlichen Medienzäsur ein bißchen wegzuwischen, und hat etwas locker gesagt: Über 100 Jahre kann man reden. Da hat man aber doch den Eindruck, daß diese lockere Aussage nicht so ganz auf allgemeines Einverständnis trifft. Ich möchte nun bei Herrn Faulstich nachfragen, ob er das noch einmal kommentieren möchte. Und dann möchte ich dazu eine spezielle Nachfrage an Herrn Burkhardt richten. Zuerst bitte Herr Faulstich. Faulstich: Also, ich glaube, wir sind näher zusammen als uns guttut. Aber die 100 Jahre, das ist mir schon wichtig, beziehungsweise das, was dahinter steht. Buchdruck ist kein Medium. Buchdruck als Druck ist eine Tätigkeit, die hat es vorher gegeben, die hat es nachher gegeben. Die an sich kann nicht epochenbegründend oder zäsurbegründend sein. Ich denke, man muß unterscheiden zwischen verschiedenen Druckmedien. Ich gebe zu, daß die Buchgeschichte, Rohert Darnton, An Early Infonnation Society, in: http://www.indiana.edu/~ahr/darn ton/texts/p02.html. 26
speziell die Buchwissenschaftsgeschichte, munter verschiedene Medien ineinanderwirft. Da spielt es keine Rolle, ob es um das Medium Blatt geht - das Blatt oder Flugblatt ist ein ganz eigenständiges Medium - oder um das Medium Flugschrift oder Heft - das ist wieder ein ganz anderes Medium - oder um das Medium Ablaßbrief oder was immer. 'Es sind alles Medien, die nichts mit dem Buch zu tun haben, aber in der Forschung, auch in der Fachliteratur, finden Sie alles in eins gemengt. Das wird sozusagen von der Buchkultur vereinnahmt. Das ist ein gewisser Imperialismus, der natürlich in einer Buchgesellschaft legitim ist, aber wir sind ja eigentlich nicht mehr in der Buchgesellschaft heute. Das heißt, man müßte jetzt allmählich dazu kommen zu differenzieren, und wenn man differenziert zwischen verschiedenen Druckmedien, dann bedeutet das, daß es nicht mehr um das Medium ,Buch' geht, das im 15. Jahrhundert eigentlich überhaupt keine Rolle oder keine herausragende Rolle gespielt hat, sondern daß es um die Entstehung verschiedener Ausdifferenzierungen von einzelnen Druckmedien geht. Und dann sind wir bei der Printmedienkultur. Und dann sind wir auf einer Linie. Aber der Begriff ,Druck' erklärt überhaupt nichts. Das ist der eine Punkt. Darf ich noch einen zweiten anfügen? Schulze: Bitte. Burkhardt: Darf ich vorher noch einmal rückfragen: Sind Ihre, sind diese Medien, die sie genannt haben, nicht gedruckt? Faulstich: Es sind keine Bücher. Burkhardt: Also ich meine schon Typographie, ich meine nicht das Kulturgut Buch. Faulstich: Also wenn Sie von Buchdruck reden, meinen Sie dann nicht den Druck von Büchern? Burkhardt: Ich verwende Buchdruck in dem Sinne wie es auch Herr Giesecke in seinem Titel "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit" tut, damit sozusagen die Öffentlichkeit weiß, wovon man spricht. Faulstich: Und genau das würde ich als falsch kritisieren. Schulze: Vielleicht ,typographisches System'? Burkhardt: Also ,typographisches Textverarbeitungssystem " damit bin ich vollkommen einverstanden. Wir müssen uns dann streiten, ob das immer Reproduktion mit beweglichen Lettern sein muß oder nicht; Sie, Herr Faulstich, nehmen ja auch die Blockbücher mit dazu. Aber egal wie, auf jeden Fall ein typographisches System. Faulstich: Wenn das Wort ,Kultur' mit reinkommt: ja! Der zweite Punkt: Man muß - denke ich - das Ganze in den Blick nehmen. Das ist notwendig, aber auch außerordentlich problematisch. Vorhin hat jemand darauf abgehoben, daß das Medium Buch natürlich nur einen minimalen, kleinen Bruchteil der Gesellschaft erreicht hat. Daß es eigentlich gesellschaftlich insgesamt völlig irrelevant war. Da waren auch in der Frühen Neuzeit, noch im 17. Jahrhun-
dert, ganz andere Medien relevant. Ich nenne zum Beispiel das Medium Kalender, das von den Buchwissenschaftlern noch nie explizit als eigenständiges Medium betrachtet oder erfaßt worden ist. Oder verschiedene weitere Medien, die eben neunzig Prozent der Landbevölkenmg geprägt haben und nicht nur diese drei oder vier Prozent, die überhaupt imstande waren, sich Bücher finanziell leisten und sie auch lesen zu können. Schulze: Vielen Dank. Burkhardt: Darf ich noch einmal etwas zur Klärung sagen? Schulze: Bitte, Herr Burkhardt. Burkhardt: Das wollte ich noch ausdrücklich sagen: Ich meine nicht Bücher, die man nachher auch gebunden hat, was man sich so unter einem Buch vorstellt. Ich hatte ausdrücklich schon selbst klargemacht, daß mir mit den Flugschriften sogar die eigentliche Spitze der Innovationen zum Vorschein gekommen zu sein scheint. Und das ist dann natürlich auch etwas, was sofort gesellschaftlich relevant ist. Das kann man ja nun 1517 bis 1525 gar nicht bestreiten. Und zumindest das eine klassische Buch, das auch Bibel heißt, hat natürlich durchaus eine große Rolle gespielt im 16. Jahrhundert, eine ganz und gar zentrale. Im 16. Jahrhundert ist das also anders, im 15. Jahrhundert gibt es hingegen ... - ja, dann sind wir vielleicht doch bei der Zäsur um 1500! Schulze: Ich würde gern einmal bei Herrn Burkhardt nachfragen. Sie haben ja sehr stark auf den Buchdruck als epochendefinierendes Element abgehoben und haben damit die Reformation so ein bißchen zurückgeschoben. Sie haben gesagt, das ist heute kein Thema mehr für uns. Aber ist denn nicht auch in Ihren späteren Ausführungen deutlich geworden, daß im Grunde das Faszinierende dieser Zeitenwende, von der wir als Frühneuzeitler ja immer ausgehen, in der interessanten Überlagerung von mehreren Prozessen liegt und daß dies der Grund ist, daß wir von einer eigenen Epoche sprechen können? Ist dies im Grunde jetzt eine nachträgliche - ich sage mal- medienzeitalterbedingte Verkürzung, die wieder nur ein einziges Kriterium herausdefiniert, anstatt davon auszugehen, daß wir ja in einem erstaunlich kurzen Zeitraum eine Fülle von gesellschaftlich tiefgreifenden Veränderungen sich vollziehen sehen, die eben von der Entdeckung der neuen Welt über den Frühkapitalismus, den Buchdruck oder das typographische Zeitalter bis hin zu den Umbrüchen in den Reformationen reicht? Es zählt sozusagen der Zusammenhang der Dinge. Das ist, was uns interessiert, das macht diese Epoche so interessant. Jedenfalls so interessant, daß wir sie als eigene Epoche behandeln können. Ist das nicht ein möglicher Verlust, der bei Ihrer Betrachtung eintreten würde, Herr Burkhardt? Burkhardt: Nein, ich liebe die Reformation. Ich versuche sie zu lehren und versuche sie natürlich auch von einer Seite zu erwischen, von der sie für mich und meine Studenten interessant ist. Das wäre vorauszuschicken. Aber ich meine auch, daß man tatsächlich in einer Art dialektischer Denkbewegung da
dann wieder herankommen kann, Herr Schulze. Die habe ich im Grunde ja vollzogen: Wenn man überlegt, wo die entscheidenden Zäsuren der Mediengeschichte sind, kommt man plötzlich wieder auf die Reformation und kann die Reformation fast als inhaltliche Auslegung dessen, was mediengeschichtlich passiert ist, interpretieren. Zum BeispieHn der Medientheologie, die eigentlich schon eine Medientheorie enthält, zu der Herr Giesecke und Herr Faulstich unter sehr verschiedenen Konzepten ganz entscheidende Punkte gebracht haben, die aber auch inhaltlich im Sinne der Historiker die reformatorische Lehre ist. Also, ich meine, da wir nun mal einen leichteren Zugang haben zu etwas, mit dem wir heute umgehen, kann man von dieser Seite her erst einmal wunderschön beschreiben, was an der Reformation für uns interessant ist. Ich meine, man kann wie bisher sagen, das war die Offenbarung, die Luther wiederentdeckt zu haben glaubte, und dann die Reformationsgeschichte mit allen Problemen erzählen. Man kann aber auch sagen, das Evangelium war das Modebuch der Zeit, das alle gelesen haben, weil sie geglaubt haben, Gott spricht hier direkt zu ihnen. Da versteht man dann besser, was da passiert, und eben dann wird es eine faszinierende Geschichte. Schulze: Aber dazu Herr Faulstich, bitte. Faulstich: Man kann natürlich auch sagen, die Reformation hat sich durchgesetzt, weil sie die modemen Druckmedien benutzt hat. Während die katholische Kirche, doch immerhin die etablierte Kirche, die falschen, die veralteten, nämlich die Menschmedien eingesetzt hat, vor allem Prediger und Priester, die eben in der Reformation keine Rolle mehr gespielt haben. Das heißt, daß eigentlich - ich versuche, etwas provokativ zu sein - das Phänomen der Reformation nichts anderes zeigt als einen Medienkampf, als einen Kampf zweier Mediengruppen. Und auch so erklärt werden kann. Burkhardt: Nur ein Wort noch direkt dazu. Schulze: Bitte, Herr Burkhardt. Burkhardt: Ich möchte nur als Konfessionshistoriker etwas zur Klärung sagen. Die katholische Konfessionalisierung hat natürlich von der protestantischen Textkultur auch etwas angenommen und natürlich diese alten Punkte des spätmittelalterlichen Priestertums aufgenommen. Aber die eigentliche Zentralkategorie ist die Institution. Hier sehe ich einen Dissens Ihnen gegenüber, Herr Faulstich, weil Sie in Ihrem Buch für die katholische Seite bei dem alten Menschmedium bleiben. Aber übergeordnet und das, was neu ist, auch in der katholischen Konfessionsbildung, ist, daß die Organisation, also die kirchliche Organisation, doch das letzte Wort bekommt. Die Institution steht voran und entscheidet, was mit dem Text ist. Im anderen, evangelischen Fall steht der Text voran, und die Institution wird danach beurteilt und ausgerichtet. Das sind die verschiedenen Standbeine. Schulze: Danke. Ich will zunächst nur, bevor wir einen größeren Zuhörerkreis mit hineinnehmen, doch einfach mal fragen, ob hier auf dem Podium unter-
einander noch weitere Fehden auszutragen sind. Bitte, Herr Giesecke,Sie haben sich dazu gemeldet. Giesecke: Also Fehde wäre zu viel, nach den vielen wohlwollenden Rückgriffen auf meine Arbeit. Aber ich denke, zu Luther und der Medientheorie sollten doch noch ein oder zwei Sätze gesagt werden. Also die Bedeutung von Luther liegt für den KommunikationswissenschaftIer tatsächlich darin, daß er der geniale Theoretiker monomedialer, interaktionsfreier Kommunikation ist. Und zwar, und darin liegt natürlich auch seine Tragik, ist das, was ihm gelungen ist - ich meine, das ist das Wesen seiner Gnadenlehre -, die Menschen darauf einzustimmen, daß sie etwas hinausschreien und nicht sicher sein können, ob jemand zuhört, und daß auf jeden Fall klar ist, daß es völlig frei ist, wie der Zuhörer, in diesem Fall Gott, reagiert. Also das ist der absolute Bruch mit der rhetorischen Kommunikationsauffassung, die bis dahin gegolten hat. Man war immer der Meinung, man könnte den anderen beeinflussen. Luther sagt, das ist Unfug, hört auf damit. Und diese Haltung ist notwendig gewesen, damit sich Autoren gefunden haben und sich ja irgendwann hingesetzt und Bücher geschrieben haben. Und sie konnten sich nie sicher sein, daß das, was sie schreiben, überhaupt von jemandem gelesen wird. Und sie konnten nie sicher sein, daß es so verstanden wird, wie sie es wollten, und sie haben trotzdem weitergeschrieben und konnten sich damit auf die Gnadenlehre mindestens in der Formulierung von Luther berufen. Es ist nun nicht so, daß diese monomediale und interaktionsfreie Ausrichtung ohne Konsequenzen ist. Sie führt natürlich dazu, daß damit der Dialog und die anderen Medien unterdrückt werden. Und deswegen mußten ja auch die Sakramente unterdrückt werden. Und ein Grund, warum der Protestantismus Schwierigkeiten hat, immer gehabt hat und jetzt besonders, und die katholische Kirche mehr Glück hatte in ihrer Missionierungsarbeit, ist, daß die katholische Kirche immer multimedial geblieben ist. Sie hat ja den Buchdruck nicht abgelehnt, sie hat ihn sehr frühzeitig aufgenommen. Aber sie hat daneben auch noch die Engel, die inneren Stimmen und natürlich auch das Gespräch zwischen Gott und den Menschen, vermittelt durch die Priester, akzeptiert. Das ist eine reichere Lehre unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten. Und deswegen geht es ihr im Augenblick besser. Ich meine, das habe ich jetzt als Parabel ausgeführt, weil es uns einen Hinweis darauJ gibt - und das wäre also, wenn man so will, der leichte Dissens -, daß das, was um 1500 richtig, notwendig und gut, eine zivilisatorische Errungenschaft, war, daß das natürlich im Jahr 2000 nicht unbedingt die gleiche positive Wirkung haben muß. Wir haben das jetzt 500 Jahre gemacht. Diese Form der Kommunikation hat sich durchgesetzt, und sie wird auch nie wieder verloren gehen. Aber es kommt jetzt darauf an, eine ökologische Kommunikation zu gestalten und sich der Multimedialität unserer Kommunikationsformen bewußt zu werden. Jeder weiß - und das brauche ich hier nicht zu erwähnen-,
daß sie das immer gewesen ist. Aber es ist natürlich nicht gleichgültig, ob man ein Medium prämiert, finanziert, ideologisch unterstützt, in den Schulen unterstützt und die anderen Medien herunterstuft oder ob man sie gleichgewichtig oder relativ gleichgewichtig entwickelt. Das ist die Frage, in der uns Luther, so leid es mir als Protestant und Lutheraner tut, heute nicht weiterhilft, aber das ist genau die Frage, um die es geht. Gersmann: Ich wollte einmal den Punkt medialer Gebrauchsweisen und Mischformen ansprechen, der mir vor diesem Hintergrund sehr wichtig er"'" scheint. Auch in der Geschichte haben wir ja multimediale Kommunikation, zum Beispiel Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit, und ich glaube, vor diesem Hintergrund muß man zum Beispiel auch solche programmatischen Kehrtwendungen wie die von Robert Darnton relativieren, denn es ist im Grunde keine Kehrtwendung insofern, als wahrscheinlich die Gerüchtestreuer im Palais Royal die intensivsten Rezipienten der Druckschriften im Vorfeld der Französischen Revolution gewesen sind. Ich glaube, daß darin eines der spannendsten Forschungsfelder überhaupt besteht und daß man dann aber auch verstärkt auf Themen eingehen muß, wie zum Beispiel auf das Zusammenwirken von Bild und Schrift. Also, es tut mir leid, ich bleibe noch einmal bei der Französischen Revolution. Zum Beispiel: Druckgraphik der Französischen Revolution. Inwieweit beeinflussen die Bilder Leser? Inwieweit sind Bild und Schrift überhaupt kongruent? Inwieweit muß man unterschiedliche Rezeptionsweisen unterscheiden? Diese Mischformen gelten im übrigen aber genauso auch für die digitalen Medien. Es ist ja inzwischen common sense, daß das Internet zum Beispiel, wie MacLuhan es auch formuliert hat, zu einer Re-Oralisierung des global village geführt hat, denn im Netz schreibt man anders als in sonstigen gedruckten Texten: man schreibt, wie man spricht. Auf der anderen Seite sieht man selbst bei einem per se so flüchtigen Medium wie den digitalen Medien auch einen Versuch, die typographische Dignität, von der Herr Burkhardt gesprochen hat, wieder einzuführen, zum Beispiel durch das PDF-Format, das nämlich das Aussehen klassischer Buchseiten suggeriert, und zum Beispiel auch durch die diffizile Klärung von Zitierweisen, die immer noch dem Vorbild des gedruckten Buchs angelehnt sind. Insofern scheint mir die Auseinandersetzung mit diesen Mischformen und Gebrauchsweisen auch noch einmal eine Klammer zu sein, die die unterschiedlichen Bereiche von der Reformation bis zum Internet zusammenbindet und die auch Wert ist, analysiert zu werden. Schulze: Vielen Dank, Frau Gersmann und dem ganzen Podium.
VII. Bericht über die Diskussion im Plenum Bei allen Unterschieden der Datierung, Deutung und Bewertung war das Podium doch von einerdruckgestützten Textorientierung als einer neuzeitlichen Grundgegebenheit ausgegangen. Die Diskussion im Plenum meldete vor allem daran Zweifel an, wandte sich gegen Überpointierungen und Verkürzungen und regte ergänzende Perspektiven an, wie sie zum Teil auch in der weiteren Tagung zum Tragen kamen. Franz Mauelshagen betonte, daß in der Reformation natürlich gerade die in einer illiteraten Gesellschaft noch vermittelnden Prediger als Medium eine herausragende Rolle spielten, und verwies auf Untersuchungen zur Körperkommunikation im Mittelalter, die auch auf die reformatorische Bildpublizistik übertragen werden könnten. Stephan Füssel klagte eine stärkere Berücksichtigung des Humanismus und seiner neuen Inhalte, der von ihm initiierten Bildungsreform und des "Medienereignisses Erasmus" ein, die eine Voraussetzung auch der Reformation gewesen seien. Auch die früh verbreiteten Bibeldrucke sprächen für eine frühere und nicht zu punktuelle Zäsursetzung mit der Renaissance und dem Humanismus. Esther Beate Körber relativierte die exklusive Bedeutung der Typographie für die Frühe Neuzeit und verwies auf das komplexe Verhältnis von medialer Distanznahrne, positiver Aneignung und fortwirkender Bedeutung der Metaphorik sowie auf die heute unveränderte typographische Fixierung digitaler Medien, sozusagen vom Druck zum Drucker. Claudia Ulbrich forderte die Einbeziehung der Gebrauchsweisen von Büchern in die Debatte, die zu einseitig die Buchlektüre voraussetze, und wies auf das Sammeln, Schenken und Tauschen als Tätigkeiten hin, deren Berücksichtigung auch andere Periodisierungsmöglichkeiten eröffnen würde und zur Erklärung des Fortbestandes der Buchkultur bis heute etwas beitragen könnte. Das Podium nahm die Anregungen auf. Als überhaupt nur dem Podium geschuldete Verkürzungen bestätigte Burkhardt die nicht zur Sprache gekommenen Vermittlungsleistungen reformatorischer Predigt und der Oralität überhaupt, die in Rainer Wohlfeils Theorie der "reformatorischen Öffentlichkeit" bereits eingebaut worden sei, sowie des Humanismus, der aus der Druckgeschichte unter diachroner wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive gar nicht wegzudenken sei. Aber das wirkungsvollste Neue sei - so Burkhardt - ebGn doch die Verbreitung gleichlautender Texte zu aktuellen Fragen gewesen seit 1517. Demgegenüber sah sich Faulstich durch die humanistische Intervention Füssels in der Frühdatierung um 1400 bestätigt. Die Überlegungen zum Gebrauchswert schienen ihm auch deshalb besonders wichtig, weil nur die Mediennutzung in der Gesellschaft das Ansetzen allgemeingeschichtlicher Zäsuren rechtfertige. Gegenüber der Hochschätzung der Druckmedien durch Burkhardt verwies er auf die typographische Abstraktheit, Entsinnlichung und Verarmung, der dann im 18. Jahrhundert Sinnlichkeit und Liebe als
Interaktionsmedien entgegengestellt worden seien. Das sei gleichsam das "bürgerliche Triebschicksal".27 Karl Hahn problematisierte die Dominanz, die in den Mediensystemen das jeweils neue Medium gegenüber dem alten ausübe, so daß jede Medienrevolution auch zu Verlusten führe, und entwickelte daraus die Frage, ob uns wohl im 21. Jahrhundert einmal eine echte Multimedialität gelingen werde. Giesecke nahm die Frage auf und erklärte aus seinen Forschungen zur Einführung der Typographie die Ursache dieser Dominanz: Um neue mediale Formen gesellschaftlich durchzusetzen, müßten sie gegenüber den bereits eingeführten prämiert werden, bräuchten sie einen Schutzraum bis hin zur Mystifizierung des Denkstils, der heute nach gelungener Durchsetzung nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Zur Epochendiskussion der Historiker verwies Giesecke darauf, daß nicht jede Kultur und Gesellschaft von Kommunikation und Medienzäsur bestimmt sein müsse - einer Gesellschaft von Kriegern oder Rosenliebhabern sei es gleichgültig, welche Medien sie benutzten -, daß aber wir, die wir uns als Informationsgesellschaft verstünden, keine Wahl hätten und daher Programme und Visionen für den rechten Umgang mit ihnen entwickeln müßten. Daran sollten sich die Historiker, wie hier begonnen, weiter beteiligen. "Medien sind problemlösende Systeme", mit diesem Zitat des Züricher Publizistikwissenschaftlers Ulrich Saxer28 gab Faulstich am Ende der Debatte noch einen neuen Aspekt zu bedenken. Der Autor der ersten deutschen Mediengeschichte stellte abschließend die Forschungshypothese auf, daß es in der ganzen Geschichte eine Korrelation von Bevölkerungswachstum und innovativer Medienkultur gebe. Daraus erwachsende neue Probleme ließen sich oft mit den alten Medien nicht lösen und führten zu ihrer weiteren Ausdifferenzierung. Nach diesen Schlußkommentaren der bei den Medienhistoriker dankte Winfried Schulze allen Diskutanten und hielt als einen seiner Eindrücke fest, daß der Buchdruck doch ein recht interaktions armes Medium gewesen sei, daß aber auch das Internet die "face-to-face"-Kommunikation nicht ersetzen werde. Verschiedentlich hatten schon Esther Beate Körber und andere die laufende Veranstaltung als lebendigen Beweis dafür zitiert. Der Diskussionsleiter nahm das auf und verallgemeinerte es als hoffnungsvolles Zeichen für die ganze Hochschullandschaft.
*** Die Herausgeber danken Reinhard Plesch für die Verschriftlichung der Diskussionsbeiträge. Die Redaktion, in der die mündliche Form soweit wie möglich gewahrt wurde, besorgte Christine Werkstetter. 27
28
Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft (wie Anm. 9). Ulrich Saxer, Medien als problemlösende Systeme, in: Spiel 10, 1991, H. 1,45-79.
"Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis" Die Kommunikationsrevolution - ein Konzept zum besseren Verständnis der Frühen Neuzeit Von
Wolfgang Behringer Die Geschichte der Frühen Neuzeit hat einen erfreulichen Aufstieg erlebt, abgetrennt als eigenes Segment vom Rest der Moderne. Zu Rankes Zeiten noch lebendig, rückt sie immer weiter in die Ferne und bleibt doch nahe. Wenn man die Erzählungen von den großen Umwälzungen, auf denen die Gegenwartskulturfußt, Revue passieren läßt, so wird man häufig auf die Frühe Neuzeit zurückverwiesen, bei großen Themen wie Reformation, Wissenschafts- und Industrieller Revolution sowie den politischen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich. Ich möchte mich einer anderen grundlegenden Umwälzung zuwenden, die von der Historiographie etwas stiefmütterlich behandelt worden ist, der Kommunikationsrevolution. Wie ergiebig das Thema Kommunikation für die Frühe Neuzeit sein kann, mag die verkehrsweglose Europa-Karte des Ulmer Ptolemäus-Drucks von 1482 andeuteni, die wir als Ausgangspunkt zu Vergleichen im Kopf behalten können. Kommunikation ist bei den Klassikern der Sozialwissenschaften, von denen sich Historiker inspirieren lassen, kein Thema. Erst in jüngster Zeit wird ihr - etwa bei Giddens - systematische Bedeutung eingeräumt. 2 Seit etwa zehn Jahren werden die Konsequenzen der gegenwärtigen ,communications revolution' für die Neuorganisation des Raumes und die Neuverteilung der ökonomischen Möglichkeiten diskutiert3 , wobei dem Netzwerk der Kommunikation und seinen Funktionären besondere Beachtung geschenkt wird4 . Im folgenden möchte ich die These begründen, daß es sich bei der Kommuni1 Karl-Heinz Meine, Die DImer Geographie des Ptolemäus von 1482. Zur 500. Wiederkehr der ersten Atlasdrucklegung nördlich der Alpen. Weißenhorn 1982. 2 Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuratioh. Cambridge 1984, 29, 123, 143 und 262. Zur Ausnahmestellung Giddens' in der Gesellschaftstheorie in dieser Frage: lohn Urry, Sociology ofTime and Space, in: Brian S. Turner (Ed.), The Blackwell Companion to Social Theory. Oxford 1996,369-395. 3 Stanley D. Brunn/Thomas R. Leinbach (Eds.), Collapsing Space and Time. Geographie Aspects of Communications and Information. London 1991; lames O. WheelerIYuko Aoyama/Barney Waif, City Space, Industrial Space, and Cyberspace, in: James O. Wheeler/Yuko Aoyama/Barney Warf (Eds.), Cities in the Telecommunications Age. The Fracturing of Geography. New York 2000,3-17. 4 Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture. Vol. 1: The Rise ofthe Network Society. Oxford 1996.
kationsrevolution um einen Fundamentalvorgang der Modeme handelt, der in prototypischer Form in der Frühen Neuzeit stattgefunden hat. Die Revolution des Kommunikationswesens wird dabei als übergreifender Prozeß begriffen, der eine Serie von Medienrevolutionen umfaßte oder hervorbrachte, von denen jede einzelne tiefgreifende Veränderungen bewirkte. Wie vergleichbare Begriffe (, Wissenschaftsrevolution " ,Industrielle Revolution ') soll auch der Begriff ,Kommunikationsrevolution ' im Singular verwendet werden, weil die erste Kommunikationsrevolution als Matrix späterer Revolutionen gesehen werden kann, bzw. als Auslöser eines Prozesses fortwährender Veränderung bis heute. Der Begriff ,Communication Revolution' ist in den 1930er Jahren von amerikanischen Wirtschaftshistorikern kreiert worden5, zunächst mit Blick auf das 19., dann jedoch das 18. Jahrhundert, in dem sich die Kolonien vernetzten und zu jener politischen Willensbildung fanden, die zur Amerikanischen Revolution führte 6. Im Hintergrund dieses demokratischen Urknalls standen Kommunikationsspezialisten wie Benjamin Franklin, der auf einem Delegiertenkongreß in Philadelphia zum ersten "Postmaster General" der United States of America (USA) ernannt wurde.7 Dieser wassertrinkende Vegetarier, der sich in seiner Autobiographie zum prototypischen Amerikaner stilisiert, kann als Exempel für Max Webers "Protestantische Ethik" dienen, aber auch als idealtypische Verkörperung des flühneuzeitlichen Kommunikationsgenies - hatte er doch bereits im kolonialen Pennsylvania das Postwesen geleitet und als Druckereibesitzer periodische Zeitungen herausgegeben,s Tatsächlich waren die meisten frühen Zeitungs verleger entweder Buchdrukker, wie der Erfinder der periodischen Presse Johann Carolus 9, oder Postmeister, wie einige seiner frühen Konkurrenten, etwa Johann von den Birghden in Frankfurt, der als erster - wie später Franklin - Zeitungen auf der Basis seines Postunternehmens drucken ließ 10. Löst man das Konzept der Kommunikationsrevolution aus seinem kolonialen Kontext, so stellt man rasch fest, daß in Europa eine andere Chronologie gilt.
Robert G. Albion, The Communication Revolution, in: AHR 37, 1932, 718-720. Richard R. lohn, American Historians and the Concept of the Communications Revolution, in: Lisa Bud-Frierman (Ed.), Information Acumen. The Understanding and Use of Knowledge in Modern Business. LondoniNew York 1994, 98-110. 7 Richard R. lohn, Spreading the News. The American Postal System from Franklin to Morse. Cambridge, Mass. 1975. 8 William Smith, The Colonial Post-Office, in: AHR 21, 1916,258-275, hier 270-274. 9 lohannes Weber, ,Unterthenige Supplication Johann Caroli/Buchtruckers'. Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 38, 1992,257-265. 10 Karl Heinz Kremer, Johann von den Birghden (1582-1645), in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1984, H. 1, 7-43. 5
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In der Geschichtsschreibung ist bisher das Informations-Speicher-Medium Buch - etwa bei McLuhan, Eisenstein oder Giesecke - überbetont worden)1 Das Schlagwort von der , Gutenberg-Galaxis' 12 hat sich im Bewußtsein so sehr festgehakt, daß amerikanische Wissenschaftler Gutenberg gar zum "Man of the Millennium" wählten, noch vor Galilei und Luther. Doch wenn die "Printing Revolution" so prägend gewesen ist, warum wurde nicht im 15. Jahrhundert mit dem Druck aktueller Nachrichten begonnen?13 Gab es keine interessanten Neuigkeiten im Zeitalter der Reconquista, der Türkenkriege, der Entdeckungen oder der Reformation? Der Buchdruck erklärt auch nicht das Entstehen der "reformatorischen Öffentlichkeit"14, Verändenmgen im Mobilitätsverhalten und der Kartographie. Wie schon im Fall der amerikanischen Kommunikationsrevolution spielten Kanäle der Kommunikation eine entscheidende Rolle bei der veränderten Wahrnehmung von Raum und Zeit. Zu der Zeit, als die Zentralperspektive in die Kunst Einzug hielt, wurde viel experimentiert mit Botensystemen, vor allem in Italien. Dort ergänzte man zuerst die segmentären Kommunikationssysteme der Fürsten-, Städte-, Klosterund Universitätsboten durch ein effektives System von Kaufmannsboten, das auf Gasthäusern basierende Scarsella-System. 15 Zwischen Mailand und Rom wurde bereits mit Reiterstafetten experimentiert, einern System der Raumportionierung durch regelmäßige Pferdewechselstationen, das aus der antiken Literatur und von Marco Polo bekannt war. Die Pluralität dieser Einrichtungen zeigt eine ungewöhnliche Verdichtung der Kommunikation an. 16 Jacob Fugger der Reiche, der durch seine Finanzkraft die Kaiserwahl von 1519 zugunsten Karls 1. von Spanien entschieden hat, wußte durch seine Agenten in ganz Europa schneller als alle Konkurrenten über neue Entwicklungen Bescheid. Aber wie konnte selbst der reichste Mann Europas ein Nachrichtensystem finanzieren, welches das mancher Fürsten übertraf? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Jacob Fugger war einer der ersten 11 Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe. 2 Vols. Cambridge 1979; dies., The Printing Revolution in Early Modern Europe. Cambridge/London 1983; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991. 12 Herbert Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographie Man. Toronto 1962; ders., Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf/ Wien 1968, Neuaufi. BonnIParis1995. 13 Vgl. lohannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. 14 Heike Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsreferat 1980-1991, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 6. Sonderh., Forschungsreferate 3. Folge, 1994, 1-26. 15 Thomas Szabo, Art. "Botenwesen", in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. Stuttgart 1981, 484-487. 16 Vito SaUerno, Le Poste a Milano nei secoli XV, XVI e XVII. Mailand 1972.
privaten Nutzer der habsburgischen Reiterstafetten, die 1490 zwischen Tirol und den Niederlanden eingerichtet und bald nach Ungarn, Italien, Spanien und Böhmen ausgedehnt wurden. Dieses System war allerdings so kostspielig, daß es immer wieder zusammenbrach. Anders als in den antiken Großreichen oder in China war keine europäische Dynastie um 1500 in der Lage, dauerhaft ein solches System zu finanzieren. Die italienischen Unternehmer, die König Maximilian I. nach Brüssel vermittelte und die ihr Handwerk in Mailand, Venedig und Rom gelernt hatten, fanden eine Lösung des Finanzierungsproblems. In einem frühen Akt der Privatisierung übernahmen sie statt der fürstlichen Hofkammern selbst die Regie. Sie öffneten die Kommunikationskanäle für die Allgemeinheit und verlagerten das finanzielle Risiko auf Gastwirte als Franchise-Nehmer. Aus einer segmentären wurde eine öffentliche Serviceeinrichtung, die gegen Bezahlung jedem Kunden offenstand. Eine Konsequenz davon war die Fixierung der Kommunikationskanäle und die Einrichtung ständiger ,Offices'. Dies war der Ursprung der Postämter. Der Grund, warum alle Nachrichten der Fugger von denselben Orten kamen, lag nicht im fuggerischen Faktoreisystem. Die Briefschubladen im Kostümbuch des Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz, das ihn mit seinem Herrn im Hauptbüro der Fugger zeigt, spiegeln die Struktur des ersten öffentlichen Kommunikationssystems wider: sie tragen die Namen der großen Postämter. 17 Und analysiert man die Nachrichtenorte der Fuggerzeitungen, die von 1564 bis 1605 gesammelte Nachrichten aus aller Welt enthalten, von Persien bis Peru, immer von denselben Orten und an denselben Wochentagen, dann kommt man zu exakt demselben Ergebnis. 18 Wenn die avanciertesten Nachrichtensammlungen auf dem Postsystem beruhten, wodurch zeichnete sich dieses aus? Die Antwort hätte Emile Durkheim begeistert, denn sie lautet: Arbeitsteilung. 19 Geschwindigkeit war unter vorindustriellen Bedingungen nur optimierbar, indem man den Raum portionierte und Stationen einrichtete, an denen Pferd und Reiter gewechselt wurden. Dies und nichts anderes waren die Posten, die dem System seinen Namen verliehen. Anders als die Wolffsche "Glückseeligkeit" war die von den Kameralisten und Policeywissenschaftlern2o zum obersten Ziel der Kommunikation 17 Wolfgang Behringer, Fugger und Taxis. Der Anteil Augsburger Kaufleute an der Entstehung des europäischen Kommunikationssystems, in: Johannes Burkhardt (Hrsg.), Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. (Colloquia Augustana, Bd. 3.) Berlin 1996,241-248. 18 Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 189.) Göttingen 2003. 19 Emite Durkheim, De la division du travail social. Etude sur l'organisation des societes superieures. Paris 1893. 20 Zum Zusammenhang der ökonomischen Theorien mit der Philosophie Christian Wolffs: lutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Ge-
erhobene Geschwindigkeit eine meßbare Variable. Der erste Postvertrag zwischen Francesco de Tassis, dem Hauptunternehmer der Habsburger, und Philipp von Burgund, dem König von Spanien, legte im Jahre 1505 erstmals Mindestgeschwindigkeiten fest und normierte das Verhältnis von Raum und Zeit. 21 Die zur Messung der Geschwindigkeit benötigten Daten wurden bereits seit den 1490er Jahren protokolliert, und noch auf den Stundenzetteln wurde den Postreitern mit dem Cito-Vermerk der Zweck ihrer Mission eingeschärft und ihre Wichtigkeit mit einem Galgensymbol unterstrichen. 22 Mit solchen Laufzetteln war kontrollierbar, ob die vereinbarte Beförderungsdauer eingehalten wurde oder ob die Geschwindigkeit gefallen oder gestiegen war. Die Berechnung erfolgte nicht anhand der physikalischen Formel (v= sft), doch ging man im 18. Jahrhundert so weit, auf Vordrucken Soll- und Istzeiten auf allen Postkursen von Station zu Station routinemäßig zu vergleichen und Verspätungen in eigenen Rubriken auszuweisen. Zeit war ein kostbares Gut geworden, das nicht vergeudet werden durfte. Und dies war nicht die "Zeit der Händler", wie Jacques Le Goff meinte23 , sondern die Zeit des Postwesens, dessen Geschwindigkeit nicht nur für Kaufleute von höchstem Interesse war, sondern auch für die Diplomatie der Regierungen, wie der Mailänder Postverwalter Codogno betont hat24 , oder für Wissenschaftler und Liebende, wie man Briefwechseln entnehmen kann. Dieses ganze frühneuzeitliche Universum der Kommunikation hat nichts mit dem Buchdruck zu tun. Sollte man es mit einem McLuhanesken Schlagwort bezeichnen, so müßte es nach seinem Erfinder Taxis-Galaxis heißen. 25 Nach Ansicht Reinhart Kosellecks wurde der Begriff ,Fortschritt' Ende des 18. Jahrhunderts geprägt. 26 Doch der meßbare Fortschritt setzte im Kommuschichte der politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und 18. Jahrhunderts. München 1977,211-256, bes. 222f., 229-233. 21 Fürstliches Zentralarchiv Thurn und Taxis, Regensburg [im folgenden: FZATTR], Posturkunden, Nr. 1; Martin Dallmeier, Quellen zur Geschichte des europäischen Postwesens 1501-1806. Bd. 1: Quellen - Literatur - Einleitung. Bd. 2: Urkunden - Regesten. Bd. 3: Register. Kallmünz 1977-1987, hier Bd. 2, 3 f. 22 Oswald Redlich, Vier Post-Stundenpässe aus den Jahren 1496-1500, in: MIÖG 12, 1891,494-504; Aloys Schulte, Zu dem Stundenpaß von 1500, in: MIÖG 20, 1899,284287; Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und modeme Zeit:: ordnungen. München 1992,303-308. 23 lacques Le Goff, Au moyen äge: Temps de l'Eglise et temps du marchand, in: Anna1es 15, 1960,898-914. 24 Ottavio Codogno, Nuovo Itinerario delle Poste per tutto il Mondo. Mailand [Girolamo Bordoni] 1608, Escusazione (Vorwort). 2S Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München 1990. 26 Reinhart Koselleck, "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" - zwei historische Kategorien, in: Ulrich Engelhardt/Volker SelliniHorst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modemen Welt. Werner Conze zum
nikationswesen schlanke 300 Jahre früher ein. Die Zahl der Poststationen, der Postämter, der Postkurse, der Pferde (und später der Kutschen) pro Posthalterei, die Zahl der Beamten pro Postamt, die Frequenz der Postreiter und Postkutschen, deren Geschwindigkeit, die Anzahl und Auflage der Zeitungen, der Postkurskarten und der Posttabellen, die Zahl der bilateralen Verträge mit Regierungen, die Kilometer der gebauten Wege und chaussierten Straßen, schließlich auch die Höhe der erzielten Einnahmen oder Pachtsummen, die in einem Zeitalter ausufernden Fiskalismus' akribisch notiert wurden, beweisen dies zur Genüge. Dabei kann man eine erstaunliche Beobachtung machen: Im Unterschied zu anderen c1iometrischen Variablen entwickelte sich die Zahl der Poststationen von ihrem Nullpunkt um 1500 bis zum Eisenbahnbau linear in immer nur eine Richtung. Selbst in Krisenzeiten wie dem Dreißigjährigen Krieg, der Pest der 1660er Jahre oder der Hungerkrise der 1690er Jahre, in denen das Handelsvolumen und die Bevölkenmgszahl zurückging, wurde das Kommunikationssystem kontinuierlich ausgebaut. Die Statistik der Poststationen kennt - wie die der anderen genannten Variablen - keine Rückschläge, ja nicht einmal erkennbare Konjunkturen, sondern läßt zumindest bei der Reichspost mit ihrer gewachsenen Struktur, aber genauso bei der französischen Post eine stetige Aufwärtsentwicklung erkennen. 27 Eine qualitative Veränderung erfuhr das Kommunikationssystem mit der Einführung der Ordinari-Post in den 1530er Jahren. Diese organisatorische Veränderung war von enormer Wirkung. Der wöchentliche Rhythmus der Ordinari-Reiter prägte seither den Zeittakt der Korrespondenz von Regierungen, Banken, Handelsfirmen und Privatpersonen. 28 Das Postwesen drückte als Leitmedium seinen Stempel - die Periodizität - anderen Medien auf, etwa dem segmentären Botenwesen und darüber hinaus der Ordinari-Zeitung, die im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage der transkontinentalen Postlinie zwischen Rom und Antwerpen entstand. Dieses neue Medium baute auf den Charakteristika des Postwesens auf: Periodizität, Aktualität, Universalität und Publizität. 29
31. Dezember 1975. (Industrielle Welt, Sonderbd.) Stuttgart 1976, 13-33; Wiederabdruck in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979,3. Aufl. 1984,349-375, hier 383. 27 Belege bei Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 18). 28 Für das 18. Jahrhundert vgl. zum Beispiel den Briefwechsel der Meta Klopstock: Franziska Tiemann/Hermann Tiemann (Hrsg.), Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 17511758. München 1980. Generell: Alexandru Dutu/Edgar HäschiNorbert Oellers (Hrsg.), Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Essen 1989, sowie das originelle Buch von Siegert, der gar die Literatur dieser Zeit als "Epoche der Post" interpretiert: Bemhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913. Berlin 1993. 29 Otto Groth, Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden.
Auf die Zeitungs entwicklung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, aber wir alle wissen, wie sehr der Habitus der periodischen Informationsaufnahme unsere Alltagsroutine und unsere Bewertung politischer Vorgänge bestimmt. Hier soll vielmehr der räumliche Aspekt hervorgehoben werden: Alle gedruckten Zeitungen bezogen sich wie ihre Vorläufer, die geschriebenen Zeitungen, im Prinzip auf die gesamte Welt, in der Praxis jedoch damals vor allem auf Europa. Überspitzt könnte man formulieren: In den Jahrzehnten nach der Entdeckung Amerikas wurde zunächst einmal Europa erschlossen. In den zehn Generationen der Frühen Neuzeit ist dieser Kontinent überschaubarer geworden als jeder andere geographische Raum zuvor. Diese Entwicklung kann ebenso mit Hilfe der Kartographie gezeigt werden. Bereits die erste europäische Verkehrskarte, 1501 durch den Nürnberger Kartographen Erhard Etzlaub entworfen3o , hatte sich von der "Inselraumstruktur" des Mittelalters verabschiedet und stellte den Kontinent als euklidischen Raum dar, frei von Drachen und Monstern und im Prinzip berechenbar31 . Die Punkte, mit denen Etzlaub die Strecken zwischen den Städten markiert hat, stellen kein Medium dar, weder Weg noch Verkehrsmittel, sondern symbolisieren Distanzen vonje 1 Meile (7,5 km).32 Dennoch wirkt die gesüdete Karte auf den heutigen Betrachter befremdlich und unpraktisch. 80 Jahre später veröffentlichte Michael Aitzinger, ein anderer genialer Kommunikator, der auf der Basis seiner Kontakte zum Kölner Postamt die ersten Meßrelationen herausgab 33 , einen europäischen Verkehrsatlas. Dieser wirkt sehr viel moderner, krankt aber an der Tatsache, daß es die eingezeichneten Straßen - vor dem Beginn des Straßenbaus - eigentlich gar nicht gab.3 4 Doch noch einmal 50 Jahre später wurde in Paris von Melchior Tavernier eine Karte gedruckt, die tatsächlich eine revolutionäre Neuerung darstellte. Diese Karte verzeichnete nicht Straßen, sondern Postlinien und beruhte nicht auf einem virtuellen, sondern München 1948, 339f.; C. lohn Sommerville, The News Revolution in England. Cultural Dynamics ofDaily Information. Oxford 1996, 1-16. 30 Pritz Schnelbägl, Leben und Werk des Nürnberger Kartographen Erhard Etzlaub, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 57, 1970,216-231. 31 Bemhard lahn, Raumkonzepte der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt am Main 1993. 32 [Erhard Etzlaub], Das sein di lantstrassen durch das Römisch reych [... ] von meilen zu meilen mit puncten verzaichnet. Nürnberg 1501. Faksimile in: lohannes Cochläus, Brevis Germaniae Descriptio (1512), mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1501. Hrsg., übers. u. komment. v. Kar! Langosch. Darmstadt 1960, 3. Aufl. Darmstadt 1976, Anhang. 33 Pelix Stieve, Über die ältesten halbjährigen Zeitungen oder Messrelationen und insbesondere über deren Begründer Freiherrn Michael von Aitzing, in: Abhandlungen der historischen Klasse der Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaften 16, 1881, 177265. 34 lose! Egon Schuler (Hrsg.), Der älteste Reiseatlas der Welt [Das Itinerarium orbis christiani]. Vorw. v. Alois Fauser u. Traudl Seifert. Stuttgart 1965.
einem tatsächlichen Medium, das man buchen und mit dem man reisen konnte: den damals in Frankreich neu eingeführten Postkutschen. 35 Der Kartograph Nicolas Sanson hatte die Daten direkt vom Pariser Generalpostamt bekommen. Nicht Wegekarten, sondern Postkurskarten stellten die entscheidende Neuerung in der Verkehrskartographie dar. Sie visualisieren zuerst ein real existierendes Netzwerk der Kommunikation. 36 Die Einführung fahrplanmäßiger Kutschen für den Personentransport auf dem existierenden Postensystem zog freilich eine weitere Innovation nach sich, da Kutschen nicht wie Wanderer oder Pferde über Stock und Stein springen konnten 37 : den systematischen Straßenbau38 . Wo dieser rasch Fortschritte machte, wie in England, erschienen im späteren 17 . Jahrhundert auch brauchbare Straßenkarten, doch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Postroutenkarten von größerer Bedeutung. Bereits vor Beginn des Eisenbahnbaus zeigen sie eine erstaunliche Verdichtung des Verkehrs, wie ein Ausschnitt aus der Mitteleuropa-Karte Raffelsbergers von 1829 verdeutlicht. 39 Diese Infrastruktur spiegelt bis zu einem gewissen Grad sogar die Industriedichte wider. Nicht nur Wasserstraßen, sondern auch Postlinien bedeuteten Standortvorteile im Prozeß der Industrialisierung. Beide waren Kanäle der Kommunikation, die einen für den Waren-, die anderen für den Nachrichten-, Geld- und Personentransport. Regelmäßiges Reisen auf der Infrastruktur der Post, mit stationsweise gewechselten Pferden, gab es bereits seit dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, dem symbolischen Beginn der Neuzeit. 4o Reisende nahmen große Kosten und weite Umwege in Kauf, um in diesen Kanälen der Kommunikation sicher und schnell reisen bzw. reiten zu können. Bei diesen ,postierenden' Reisenden finden wir eine überraschende Veränderung der Wahrnehmung: In ihren Aufzeichnungen scheint der Raum zu verschwinden, wahrgenommen werden nur noch die Etappenorte oder gar nur noch die Anzahl der Pferde35 [Nicolas Sanson/] Melchior Tavernier, Carte geographique des postes qui traversent la France. Paris 1632. 36 Guy ArbeIlot, Autour des routes de poste. Les premieres cartes routieres de la France. XVIIe-XIXe siecle. Paris 1992. 37 Wolfgang Behringer, Wege und Holzwege. Aspekte einer Geschichte der Kommunikation in der Frühen Neuzeit, in: Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie 11, 1993,287-305. 38 Wolfgang Behringer, Kommunikation und Kooperation. Straßenbau und Postwesen in Vorderösterreich, in: Vorderösterreich - nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten. Stuttgart 1999, 336-343. 39 Franz Raffelsberger, Der Reise-Secretär. Ein geographisches Posthandbuch für Reisende, Kaufleute, Geschäftsmänner und Postbeamte. Bd. 1 mit 2 in Kupfer gestochenen illuminierten Postkarten von Deutschland und Europa. Wien 1829/30. 40 Wolfgang Behringer, Automobility im Mittelalter? Infrastruktur als Voraussetzung für den Individualverkehr, in: Automobility - Was uns bewegt. (Ausstellungskatalog des Vitra Design Museums.) Weil am Rhein 1999, 156-171.
wechsel bis zur Nachtruhe. Bereits seit 1500 stoßen wir auf jenes ,shrinking of distance', das üblicherweise der Eisenbahn zugeschrieben wird. 41 Und mit der Einführung der Postkutschen, der großen Reisemaschinen, kommt seit dem 17. Jahrhundert auch das Gefühl einer Entfremdung von der Natur und die Angst vor zu hoher Geschwindigkeit hinzu. Der arme August von Goethe, ängstlicher Sohn eines wagemutigen Vaters, war derart von Geschwindigkeitsfurcht gepeinigt, daß er bei seiner Italienreise in den 1820er Jahren das postreisen aufgab und statt dessen ab Basel eine langsame Privatkutsche für seine empfindsame Reise benutzte, die "durch diese herrlichen Gegenden schnell, aber doch nicht zu überschnell postet".42 Dadurch vermied er auch das irritierende Zusammentreffen mit der Lokalbevölkerung. Denn wie wir von Reiseberichten und Protokollen von Postkutschen-Überfällen wissen, reisten zunehmend auch Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Trotz prohibitiver Preise führte das Postreisen zu einer Demokratisierung des Reisens. 43 Wem die gravierenden Veränderungen im frühneuzeitlichen Reisewesen nicht geläufig sind, dem werden einige zeitgenössische Reflexionen darüber unverständlich bleiben. Im "Ophirischen Staat" eines unbekannten sächsischen Autors wachen reisende Policey-Räte über den Straßenzustand in den provinzen, ähnlich den Postkommissaren im zeitgenössischen Kurs achsen, und in Christian Gerbers "Unerkannten Wohltaten Gottes" wird der Umstand, "daß itzo der Geringe so wohl sich der geschwinden Posten bedienen kann", zum Ausweis der verwirklichten Utopie. 44 Die Euphorie über diesen Fortschritt wird deutlich aus dem Titelkupfer von Beusts "Erklärung des Postregals", der den triumphierenden Merkur als Herrn der Poststraßen, Wegweiser und Postmeilensäulen vorstellt. 45 Durch das öffentliche Kommunikationssystem wurde der Raum überschaubar. Er wurde vermessen und portioniert, in Zeit und Geld umrechenbar und tabellarisch kalkulierbar. Am verblüffendsten ist die Entdeckung, daß ,Post' aufgrund der optimalen Relationierung Bernhard Greif.{, Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494-1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg. Augsburg 1861. 42 Andreas Bayer/Gabriele Radecke (Hrsg.), August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. Erstdruck nach den Handschriften. MünchenlWien 1999,9-17, Zitat 17. .. 43 Wolfgang Behringer, Reisen als Aspekt einer Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Michael Maurer (Hrsg.), Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999,6595. 44 Ophirischer Staat, oder Curieuse Beschreibung des [... ] Kö~igreichs O~hir. Leipz~g 1699; Christian Gerber, Von dem wohleingerichteten Post-Wesen m Sachsen, m: ders., DIe unerkannten Wohlthaten Gottes in dem Chur-Fürstenthum Sachsen und desselben vornehmsten Städten. Dresden/Leipzig 1717,585-592. Aus dem sagenhaften Land Ophir importierte im Alten Testament Salomon Gold und Edelsteine. 45 Joachim Ernst von Beust, Versuch einer ausführlichen Erklärung des Post-Regals, und was deme anhängig, überhaupt und ins besondere in Ansehung des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation [... ] verfasset. 3 Bde. Jena 1747/48.
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von Raum und Zeit eine universale Maßeinheit wurde, mit der man Raum sowohl als Zeit als auch als Geschwindigkeit und sogar als Kosten messen konnte. 46 Die Kommunikationsstrukturen der Frühen Neuzeit bewirkten die Verändenmg zweier Parameter, die jeder traditiortalen Gesellschaft als unveränderlich erscheinen: Raum und Zeit47 und die doch in hohem Maße durch gesellschaftliche Bedürfnisse und Strukturen determiniert werden. 48 Pioniere der "subjektiven Geographie" wie Donald G. Janelle haben die Beschleunigung des englischen Personentransports seit den Zeiten der Stage Coach am Beispiel der Strecke London-Edinburgh berechnet, um die These der, shrinking world' zu belegen. 49 Tatsächlich könnte man dies anhand jeder beliebigen Strecke tun. Ich habe Daten für die Strecke von Hamburg nach Augsburg herausgesucht, wo der Ausbau des Postwesens zu einer Verkürzung der Reisedauer von etwa 30 Tagen im Jahr 1500 auf elf Tage im Jahr 1615 50 und fünf Tage um 1800 für Postreiter5l , in den 1820er Jahren auch für Postkutschenreisende führte 52 . Rein rechnerisch war damit die Beschleunigung zwischen 1615 und 1820 größer als zwischen 1820 und heute. Belege bei Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 18). Zur Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa: Rudolj Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen 1980; Wo?fgang Behringer, Veränderung der Raum-Zeit-Relation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Hans MedickJBenigna von Krusenstjern (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 148.) Göttingen 1999,39-82. 48 Pitirim A. Sorokin/Robert K. Merton, Social Time. A Methodological and Functional Analysis, in: American Journal of Sociology 42, 1937,615-629. 49 Nach der Formel (TTI - TT2 I Y2 - Yl): Donald G. Janelle, Central Place Development in a Time-Space-Framework, in: Professional Geographer 20, 1968, 5-10, hier 6, Fig. 1: TT = Travel Time/Reisedauer; Y = Year/Jahr bzw. Datum. Janelle kam rechnerisch auf eine Beschleunigung von 29,4 Minuten pro Jahr für den Zeitraum 1776-1966. Siehe auch Donald G. Janelle, Spatial Reorganization: A Model and Concept, in: Annals of the Association of American Geographers 59, 1969,348-364. 50 Stadtarchiv Köln, Bestand Handel, Nr. 571. 51 Geplanter Direktkurs 1615: FZATTR, PA 2521; 1616: FZATTR, PA 1233, fol. 10; 1642: FZATTR, PA 3365; 1653: Robert Stauden raus, Das Post- und Botenwesen in der ehemaligen Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach, in: Archiv für Postgeschichte in Bayern 13, 1937,24-37,95-103; ebd. 14, 1938, 177-188,237-252; ebd. 15, 1939, 313-328, 373388, hier 385; 1695: Robert Staudenraus, Alte Posthaltereien des Postkurses NürnbergHamburg auf dem Weg durch Franken und Thüringen, in: ebd. 18, 1943,267-288, hier 281; Visitationsbericht 1715: Georg Renne rt, Die Poststation Duderstadt und Posten-Visitierung zwischen Hamburg und Kassel im April 1715, in: Deutsche Verkehrs-Zeitung 56, 1932, 631-632; Visitationsakten 1726: FZATTR, PA 1489; Poststundenzettel 1804: FZATTR, PA 1113. 52 Schnellpost in Preußen seit 1821, in Österreich 1823, in Sachsen 1824, in Bayern 1826: RudoljWagenbrenner, Die Einführung der Eilpostwagen in Bayern. Ein Beitrag zur Erforschung der Entwicklungsgesetze der Post, in: Archiv für Postgeschichte in Bayern 2, 1926, 4-20; Klaus Beyrer, Eilwagen und Schnellpost, in: ders. (Hrsg.), Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600-1900. Karlsruhe 1992, 189-197; Friedrieh H. Hofmann, 46
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Diese Beschleunigung hatte praktische Konsequenzen: Der Zeitunterschied zwischen den geographischen Längengraden begann eine Rolle zu spielen. 53 Die Abstimmung der Fahrpläne erforderte die Einführung einer Normalzeit. Diese Standardisierung der Zeit gilt als Paradebeispiel für die Konsequenzen des Eisenbahnbaus. Doch bereits 1825 wurde eine Normaluhr am preußischen Hauptpostamt in Berlin eingerichtet, welche die Zeit zwischen Königsberg und Kleve standardisieren sollte. Transportable Kursuhren mußten jetzt von allen Postkutschen und -reitern mitgeführt werden und trugen die Normalzeit des Hauptpostamts in die letzten Winkel des Reiches. 54 Die Beschleunigung der Geschichte war früher angelegt als die Anhänger einer ,Sattelzeit' um 1800 wahrhaben möchten. Ihr Start erfolgte mit dem traditionellen Beginn der Neuzeit, der Etablierung eines Systems der Raumportionierung zur Rationalisierung der Kommunikation, nicht mit der Gutenberg-, sondern mit der ,Taxis-Galaxis' um 1500. Der ,Take-off' dieses Kommunikationswesens ereignete sich im 17. Jahrhundert - und vielleicht nicht zufällig - synchron mit einer anderen bekannten Umwälzung, der ,Scientific Revolution', deren Dynamik ganz wesentlich auf der raschen und systematischen Diskussion neuer Ideen beruhte55 , wie man am Briefwechsel des ersten Sekretärs der Royal Society, Henry Oldenburg (ca. 1617-1677), erkennen kann56 . Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß sich in diesen KOlTespondenzen und Korrespondenzkreisen über politische und konfessionelle Grenzen hinweg auch öffentliche Meinung konstituierte. 57
Das kursächsische Postwesen, in: Eberhard Stimmel (Hrsg.), Lexikon Kursächsische Postmeilensäulen. Berlin 1989,49-78, hier 77. 53 Eviatar Zerubavel, The Standardization of Time. A Sociohistorical Perspective, in: American Journal of Sociology 88, 1982, 1-23; Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde (wie Anm. 22), 296-321; zur Normaluhr: ebd. 316f. 54 Walter Ehrenfried, Kursuhren, in: Beyrer (Hrsg.), Zeit der Postkutschen (wie Anm. 52), 200f. (mit Abbildungen). 55 Thomas S. Kuhn The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962,2., erw. Auti. Chicago 1970; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übers. v. Hermann Vetter. Frankfurt am Main 1976; Bertita L. Compton, Scientific Communication, in: Ithiel de Sola PoollWilbur Schramm (Eds.), Handbook of Communication. Chicago 1973, 755778; Marie Boas Hall, Oldenburg and the Art of Scientific Communication, in: Britis)1 Journal for the History of Science 2, 1965,277-290; William Eamon, From the Secrets of Nature to Public Knowledge, in: David C. Lindberg/Robert S. Westman (Eds.), Reappraisals of the Scientific Revolution. Cambridge 1990, 333-366. 56 Rupert Hall/Marie Boas Hall (Eds.), The Correspondence of Henry Oldenburg. Vol. 1: 1641-1662. With the Collection of Eberhard Reichmann. MadisonlMilwaukee 1965,481. Zu den sozialen Aspekten des "networking": Iordan Avramov, An Apprenticeship in Scientific Communication: The Early Correspondence of Henry Oldenburg (1656-63), in: Notes. Rec. Royal Society London 53, 1999, 187-201. .. 57 Hans Erieh Bödeker, Lessings Briefwechsel, in: ders./Ulrich Herrmann (Hrsg.), Uber den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Göttingen 1987, 113-138, hier 137f.
Zur Beantwortung der Frage, ob die Kommunikationsrevolution der Frühen Neuzeit die europäische Gesellschaft verändert hat, sei darauf hingewiesen, daß die großen politischen Revolutionen in England, in Nordamerika und Frankreich, die Wissenschaftsrevolution ul!d die Industrielle Revolution in der Ära des Postwesens gründeten. 58 Die krhische Öffentlichkeit konstituierte sich nicht in Habermasschen Kaffeehäusern, sondern in einem frei zugänglichen, öffentlichen "Space of Flows", wie Castells den physischen Raum der Kommunikation genannt hat59 , der eine permanente kritische Diskussion überhaupt erst ermöglichte. Mit der Kommunikationsrevolution entstand eine permanente Öffentlichkeit, gespeist durch regelmäßige aktuelle Nachrichten, die zudem durch Auswahl zugespitzt, im Druck vervielfältigt und rasch durch die Kanäle der Kommunikation verbreitet werden konnten. Der Zusammenbruch der Zensur im England des Jahres 1642 beleuchtet schlaglichtartig die Wirkung des neuen Medienverbunds, der binnen Wochen eine öffentliche Meinung von unbekannter Durchschlagskraft organisierte. 6o Der böhmische Kupferstecher Wenzel Hollar brachte bereits im Vorfeld den berühmten Druck "The World is Ruled and Governed by Opinion" heraus. 6! Das frühneuzeitliche Postwesen war das avancierteste Kommunikationssystem, welches bis dahin existiert hat. Wenige Jahre nach seiner Einführung begann es die Wahrnehmung von Raum und Zeit, von Religion und Politik zu beeinflussen. Auf seine Infrastruktur waren Nachrichtenfluß und Personenverkehr angewiesen. Eine ähnlich, universale' Struktur hatte es vor 1500 niemals und nach 1850 nicht wieder gegeben, denn seither spalteten sich die Funktionen der Kommunikation auf andere Medien auf. 62 Während der Frühen Neuzeit erwies sich das Netzwerk des Postwesens als generative Matrix, auf deren Grundlage andere ,neue Medien' entstehen konnten. Die ,Botschaft' des Mediums war, horribile dictu, Modernisierung. 63 Dies ist seit dem Scheitern der Modernisierungstheorie ein umstrittener Begriff, der von manchen einer vergangenen Epoche zugewiesen wird. Hier hat er aber seine BeBernard BailyniJohn B. Hendl (Eds.), The Press and the American Revolution. New York 1980. 59 Manuel Castells, Grassrooting the Space of Flows, in: Wheeler/Aoyama/Warf (Eds.), Cities (wie Anm. 3), 18-30. 60 Joad Raymonds, The Invention of the Newspaper. English Newsbooks, 1641 to 1649. Oxford 1996. 61 Henry Peachum, The World is Ru1ed and Governed by Opinion [with an engraving by Wenceslaus HollarJ. London 1641. 62 So wurde seit etwa 1800 die optische Telegraphie, seit 1844 die elektrische Telegraphie für die Nachrichtenübermittlung eingesetzt, seit den 1830er Jahren die Eisenbahn für den Personentransport: Klaus Beyrer (Hrsg.), So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegraphie. Eine Publikation des Museums für Post und Kommunikation Frankfurt am Main. Karlsruhe 1995. 63 David Harrison, The Sociology of Modernization and Development. London 1988, 4. Ndr. der 2. Aufl. LondonlNew York 1997. 58
rechtigung, denn die ,Post-Modeme' im Wortsinn, von der ich hier spreche, steht nicht am Ende oder in der Mitte, sondern am Beginn des Prozesses der Modernisierung. Das frühneuzeitliche Postwesen war die Matrix aller standardisierten Kommunikationsprozesse, insofern es viele jener Merkmale erstmals ausprägte, die alle späteren Kommunikationsnetze auszeichnen: Verläßlichkeit, Gleichmäßigkeit, Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit der Zeit und Kalkulierbarkeit der Kosten der Kommunikation. 64 Dazu wurden Hilfsmittel erfunden, deren Existenz heute für selbstverständlich gehalten wird: Wegeverzeichnisse, Ortslexika65 , Verkehrskarten, Verkehrs atl anten , Kurskarten, Reiseführer, Streckenpläne66 , Zeitungen, Fahrpläne auf Plakaten, in Kalendern, Zeitungen und Büchern, Porto- und Fahrtkostenübersichten, Werbeplakate und -inserate sowie Fahrkarten bzw. Tikkets 67 . Hinzu kam der Straßenbau, die Errichtung von Meilensteinen, welche die künstliche Raumportionierung auch in der Natur visualisierten, Wegweiser und Ortstafeln. 68 Das wichtigste Reisebuch des Jahrhunderts der Aufklärung funktionierte nur im Zusammenhang mit den seit 1700 stets beigegebenen "Accuraten Post / und Boten-Charten der vornehmsten Städte Europae".69 Mit den Institutionen und Medien im Umkreis der Post konnte jeder Dies entspricht ziemlich genau den Merkmalen: "precise, punctual, calculable, standard, bureaucratic, rigid, invariant, finely coordinated, and routine", die Zerubavel als charakteristisch für den Rationalismus der westlichen Kultur benennt: Eviatar Zerubavel, Hidden Rhythms. Schedules and Calendars in Social Life. Chicago 1967, XVI. 65 Christian Friedrich Goldschadt, Sammlung nöthiger Nachrichten oder deutliche Beschreibung derer Marktflecken, Flecken, Stifter, Klöster, Schlösser, Ämter und dergleichen in Deutschland, mit einer Vorrede von Gottlieb Stolle. Jena 1735; Christoph Ludwig Eber, Geographisches Reise-, Post- und Zeitungs lexikon von Teutschland, oder gesammiete Nachrichten von denen in Teutschland liegenden Städten, Marktflecken, Flecken, Schlössern, Klöstern, Dörfern u.s.w. in alphabetischer Ordnung, samt deren Lage, Herrschaft, Gerichtsbarkeit, Merkwürdigkeiten, Distanzen, Poststraßen, Postberichten u.d.m., zum allgemeinen Nutzen derer Postämter, Reisenden, Kauf- und Handelsleute und überhaupt aller Correspondenten herausgegeben. Mit Röm. Kaiser!. und König!. Pohln. und Kurfürst!. Sächs. allerhöchsten Privilegiis. 2 Bde. Jena 1756. 66 Wolfgang Behringer, Südtirol a la Carte: Reisehilfsmittel für Reisende zwischen Deutschland und Italien, in: Der Weg in den Süden. Reisen durch Tirol von Dürer bis Heine. Eine Ausstellung des Landesmuseums Schloß Tiro!. Bozen 1998,27-45. 67 Wolfgang Behringer, Der Fahrplan der Welt. Anmerkungen zu den Anfängen der europäischen Verkehrsrevolution, in: Hellrnut TrischlerlHans-Liudger Dienel (Hrsg.), G€schichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York 1997,40-57. 68 Reisen ohne diese Ausschilderung barg drastische Risiken. Dem Benediktiner Plazidus Schar! (1731-1814) wurde 1757 auf einer Reise durch Mittelfranken von einem Bauern, der keine Mönche mochte, der falsche Weg gewiesen: "Lange irrten wir im Wald umher, verloren einen Holzweg nach dem anderen, kamen in Verhaue, gegen Zäune, in moosige Gründe, in Felsenmassen hinein, daß wir uns oft nur mit Mühe durchzuschlagen im Stande waren." Zitiert nach Hildebrand Dussler (Hrsg.), Reisen und Reisende in BayerischSchwaben. Bd. 1. Weißenhorn 1968,229. 69 Die Vornehmsten Europäischem Reisen I wie solche durch Teutschland I Franckreich I Italien I Dännemarck und Schweden I vermittelst der dazu verfertigten Reise-Carten nach
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einzelne Mensch mit jedem einzelnen Ort dieses Kontinents problemlos persönlich durch Reisen oder als Korrespondent in Kontakt treten. 70 Wie hat man ohne diese Hilfsmittel jemals reisen können? Auch, Postmodernisten ' werden darauf nicht verzichten wollen - und wenn <;loch, dann würden wir nie wieder etwas von ihnen hören. So kommen wir zu dem Ergebnis, daß die euphorischen Bewertungen von Zeitgenossen über dieses Kommunikationswesen nicht unberechtigt waren. Ohne in Determinismus zu verfallen, kann man feststellen, daß die Kommunikationsrevolution die Frühe Neuzeit wesentlich geprägt und in gewisser Weise konstituiert hat, wie bereits das "Wissenschaftliche Magazin für die Aufklärung" im Jahr 1785 betont hat: "Unaussprechlich, unsterblich hat sich der Mann um das ganze Menschengeschlecht verdient gemacht, der uns mit der ietzigen Postanstalt beglücket hat. Unter den in der That einfachen und wenigen Ursachen, durch deren Zusammentluß unser kleines Europa zum herrschenden Welttheil und zum ausschließenden Size aller Cultur und Politik geworden ist, stehet seine Erfindung oben an. [... ] Ohne sie würde der Handel niemals aus seiner Wiege gerissen, noch seine Kenntniß zum Gegenstand der tiefsten Speculation und zu einem der reichhaltigsten Capitel der Regierungs Kunst, d[as] i[st] der großen Kunst, das Glück eines Staats zu befördern, gemacht worden seyn. Auch der Adlerflug, welchen unsere neuere Literatur ge.:. nommen hat, war nicht möglich ohne einen so leichten und schnellen Weg, seine Gedanken, Erfindungen, Aussichten, Vorschläge anderen mitzuteilen. [... ]. Groß also in jeder Rücksicht ist das Verdienst des Mannes, welchem wir die Erfindung der ietzigen Postanstalt zu verdanken haben. "71 Und bereits Anfang der 1740er Jahre hatte der Publizist Johann Jacob Moser davon gesprochen, daß die Einführung des Postwesens "die Welt in einen anderen Model gegossen" habe.7 2 Diese bildhafte Formulierung bedeutet nichts weniger als eine zeitgenössische Diagnose der Kommunikationsrevolution. den bequemsten Post-Wegen anzustellen / und was auf solchen Curiöses zu bemercken. Wobey die Neben-Wege, Unkosten, Münzen und Logis zugleich mit angewiesen werden. Welchen auch beygefügt LI. Accurate Post- und Bothen-Carten [... ]. 2 Bde. Hamburg 1703 [Vorläufer: Das geöfnete Teutschland. Hamburg 1700], Verfasser ist Peter Ambrosius Lehmann (1663-1729); 3. Auti. in 2 Bden. 1706; 4. Auti. in 2 Bden. 1709; 5. Auti. in 2 Bden. 1713; 6. Auti. in 2 Bden. 1724; 7. Auti. in 2 Bden. 1729; 8. Auti. in 2 Bden. 1736; 9. Auti. in 2 Bden. 1741; 10. Auti. in 2 Bden. 1749; 11. Auti. in 2 Bden. 1755; 12. Auti. in 2 Bden. 1767, hrsg. v. Gottlob Friedrich Krebel (1729-1793); 13. Auti. in 3 Bden. 17751783; 14. Auti.in4Bden.1783-1791; 15. Auti. in3 Bden. 1792-1796; 16. Auti.in4Bden. 1801. Französische Ausgabe: Straßburg 1786. 70 Kritisch zu dieser Ansicht: Michael North, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 59.) München 2000,51. Die Replik in: Behringer, Im Zeichen des Merkur (wie Anm. 18),661. 71 Über das Postwesen in Teutsch1and, dessen Geschichte, Rechte und Mängel, in: Ernst Ludwig Posseit (Hrsg.), Wissenschaftliches Magazin für die Aufklärung 1, 1785, 298. 72 Johann Jacob Moser, Postwesen, in: Teutsches Staats-Recht. 50 Tle. in 25 Bden. Leipzig 1737-1775, Fünfter Teil, Worinnen sonderlich die Materie von dem Postwesen, so
Zu den Besonderheiten dieser Revolution gehörte es, daß sie zu allen Veränderungen mindestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Kritik bereits mitlieferte und dies nicht nur in politisch unruhigen Zeiten. Die auf dem Postsystem beruhenden Zeitungen geißelten gnadenlos fehlende Fahrverbindungen oder Verspätungen der Fahrpost, und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hielt die negative Utopie des Verkehrs staus in die Literatur Einzug, etwa in Louis-Sebastien Merciers (1740-1814) Satire "Das Jahr 2440", wo der ständig steigende Kutschenverkehr zu einer hoffnungslosen Verstopfung der Straßen führte. 73 Daher ist es kein Wunder, daß man bereits die ersten Ballonaufstiege der Brüder Montgolfier, die manche für die Krönung des aufgeklärten Zeitalters gehalten haben, praktisch von Anfang an mit der Möglichkeit einer Luftpostin Verbindung gebracht hat. Der Berner Kunstmaler Balthasar Antoine Duncker (1746-1807) entwarf darauf - und mit einem Hinweis auf Merciers Jahr 2440 - das Spottblatt der "Großen Post-LuftKugel", die ungehindert von Posthaus zu Posthaus und letztlich bis nach China fährt.7 4 Dekoriert mit einem Posthorn und ausgestattet mit Kirche und Freudenhaus, verwies dieses bewegliche Luftschloß deutlich auf die Erdenschwere noch der schnellsten Postkutschen, freilich zu einer Zeit, als Alternativen zum Postwesen selbst Luftschlösser waren. Das Konzept der, Kommunikationsrevolution " die als langfristiger, systematisch verwobener Umwälzungsprozeß die Strukturen der Kommunikation grundlegend und irreversibel veränderte, soll sowohl zum Verständnis der Frühen Neuzeit als Epoche als auch zum Verständnis ihrer Sonderstellung in der Geschichte beitragen. Mit der Einführung einer tragfähigen Infrastruktur der Kommunikation war die Welt nicht mehr dieselbe. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft veränderten sich grundlegend und dramatisch bereits im 16. Jahrhundert, wie der Aufschwung der Diplomatie und des regelmäßigen Korrespondenzwesens, das seinen Niederschlag in den systematischen Nachrichtensammlungen fand, zeigen. Medienrevolutionen auf der Basis der neuen Infrastruktur, wie etwa die Erfindung der periodischen Presse, der periodischen Zeitschrift, des regelmäßigen Personentransports, des systematischen Straßenbaus, bewirkten jeweils Entwicklungsschübe in einem säkularen Rationalisierungsprozeß, der zur Signatur der westlichen Geschichte dann von denen Rechten und Freyheiten, welche der Kayser denen Reichs-Ständen und deren Unmittelbaren in Ansehung ihrer Lande und Unterthanen mitzuteilen befugt, nicht weniger denen Ptiichten, dazu er wegen eben solcher Unterthanen verbunden ist [... ] enthalten seynd. Leipzig 1742, 1-272,2. Auti. 1752,262. 73 Louis-Sebastiel1:. Mercier, L' an deux mille quatre cent quarante, reve s'il en fUt jamais. Paris 1770. In dt. Ubersetzung: Das Jahr 2440, ein Traum aller Träume. Leipzig 1772. 74 Balthasar Antoine Duncker, Große Post-Luft-Kugel. Welche den lOten Merz des Jahres 2440 nach China und umliegenden Gegenden [... ] tiiegen wird. Bern 1784; Wolfgang Behringer/Constance Ott-Koptschalijski, Der Traum vom Fliegen. Zwischen Mythos und Technik. Frankfurt am Main 1991.
und der modernen Geschichte überhaupt - wurde. Ohne Kenntnis der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution ist ein Verständnis anderer grundlegender Strukturveränderungen, wie etwa der Wissenschaftsrevolution oder der Industriellen Revolution und auch der Rolitischen Revolution, unmöglich. Um es provozierend zu formulieren: MelIT als jede andere Strukturveränderung hat die Kommunikationsrevolution die Neuzeit geprägt.
Teil! Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit
Klassische Druckmedien der Frühen Neuzeit Einleitung Von
Stephan Füssel "Lieber Leser, kannst nit lesen, so such Dir einen jungen Mann, der Dir diesen Text vorleset [... ]." Dieser besonders plastische, zunächst paradox klingende Satz aus einer reformatorischen Flugschrift des Jahres 1524 wirft ein Schlaglicht auf die Grenzen der Rezeptionsmöglichkeiten, die das neue gedruckte Medium in der Sturmphase der Reformation zu bewältigen hatte. Die Informationen standen zwar in großer Zahl bereit, die Herausbildung einer bildungsgeschichtlich gewichtigen Anzahl von Lesern war jedoch noch eine große Aufgabe der nachfolgenden Jahrzehnte, nicht zuletzt wiederum angeregt durch die reformatorischen Bildungsimpulse. Dieser kurze Einleitungssatz eines Flugblattes macht zudem deutlich, daß die ,Medien' der Frühen Neuzeit eben nicht nur die gedruckten Medien Flugblatt und Buchpublikation waren, sondern ebenso die orale Vermittlung durch die Predigt, den Gesang (Volkslied und der beginnende Kirchengesang der Reformation), das (laute) Lesen und das Vorlesen. Dies nutzte nicht nur Martin Luther, der auf Flugblättern seine neuen Kirchenlieder auf alte, bekannte Melodien dichtete und an die zur Reformation übergetretenen Gemeinden verteilen ließ, sondern ebenfalls ein ,Medienkaiser' wie Kaiser Maximilian I. (1459-1519), der nun seine Reichstagsausschreibungen, Achterklärungen und Mandate nicht mehr als ,litterae c1ausae' verbreitete, sondern als ,litterae patentes', um damit die öffentliche Meinung im Vorfeld von Reichstagen etc. in seinem Sinne zu beeinflussen. Er setzte darauf, daß diese kaiserlichen Deklarationen in den Kirchen verkündet und an den Rathäusern angeschlagen, daß sie vorgelesen und allgemein verbreitet wurden. Der umfassende Empfängerkreis solcher Mandate wird durch den Einleitungssatz einer Flugschrift (Werbung für den Eintritt in den St. Georg-Ritterorden) aus dem Jahre 1494 deutlich: "Wir entbieten allen und jeglichen, uns ern und des heiligen Reichs Kurfürsten, Geistlichen und Weltlichen, Prälaten, Grafen, Freien, Herren, Rittern, Knechten, Hauptleuten, Vitzthuemern, Vögten, Pflegern, Verwesern, Amtleuten, Schultheißen, Bürgenueistern, Richtern, Räten, Bürgern und Gemeinden, und sonst allen anderen uns ern und des Reichs Untertanen und Getreuen, in was Würden Stands und Wesen sie seien, den dieser unser königliche Briefe oder Abgeschrift davon zu sehen oder zu lesen fürkommt oder gezeigt wird, unser aller Gnad und alles Gut."
Hier erwuchs eine neue Kommunikationsgemeinschaft, die durch unterschiedliche Zugänge zu Wissen und Bildung, zur tagespolitischen und zur konfessionspolitischen Information gelangte und sich dabei der neuen und der alten Medien gleichzeitig bediente. Kaiser Maximilian sah sich als Herr aller Künste, der nicht nur die Dichter l].nd Publizisten, sondern auch die Musiker (Hofkapelle), die Skulpteure und Steinrnetze, die Maler, Zeichner und Vorzeichner für den Holzschnitt für seine Propaganda einsetzte. Bei der Betrachtung der frühesten Druckgeschichte wird deutlich, daß wir es in jeder Beziehung mit fließenden Übergängen zu tun haben, daß auf keinen Fall ein harter Bruch in der Mediengeschichte zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit zu konstatieren ist. So liegt die Grundlage für die Massenkommunikation sicherlich in der Bereitstellung von Papier, das wir nördlich der Alpen erst ab 1390 mit der ersten datierten Papiermühle von Ulmann Stromer in Nürnberg nachweisen können. Dieses Papier nun wiederum war durch die Vermittlung der Seidenstraße und mit der Ausbreitung des Islams auf einem 1200 Jahre alten Weg aus dem ostasiatischen Raum übernommen worden, gleichzeitig mit der Hochdrucktechnik des Holzschnitts, den wir ab etwa 1400 bei zahlreichen Heiligenbildchen, Spielkarten oder sogenannten Blockbüchern finden. Aber auch die Herstellung auf Vorrat und die damit verbundene Notwendigkeit der Werbung und des Vertriebes kennen wir bereits aus der Handschriftenära, so zum Beispiel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bei Diebold Lauber in Hagenau im Elsaß. Auch andere Änderungen der Kommunikationssituation, die immer mit dem Buchdruck datiert werden, hatten bereits in der Handschriftenzeit eingesetzt, so zum Beispiel die für die deutsche Epik bezeichnenden Prosaauflösungen von Verserzählungen des europäischen Mittelalters. Da das Vorlesen und Zuhören dem (Selber-)Lesen und Rezipieren wich, konnten die Merkformen der Metrik und des Reimes entfallen und die Texte neu in Prosa umgegossen werden. Der Buchdruck unterstützte dann diese Tendenzen, indem er die Verserzählungen gerade der französischen oder deutschen mittelalterlichen Tradition in frühneuhochdeutsche Prosaversionen übertrug und in populären, später so genannten, Volksbüchern' in einem kleinen Taschen-Format verbreitete. Ebenso ist darauf hinzuweisen, daß die Erfindungen von Johannes Gutenberg, die sich auf Beschreibstoff und Drucktinte, Typenguß, Satz und Druck, Finanzierung und Vertrieb bezogen, nicht punktgenau auf das Jahr 1450 in Mainz zu bestimmen sind, sondern daß auch hier ein Jahrzehnte dauernder Prozeß der Umänderungen und Aneignungen in der Handwerkskunst und beim Bankwesen vorausging. Die Buchwissenschaft, deren Ergebnisse in diesem Sammelband am Anfang stehen können, thematisiert in erster Linie diese Wechselgeschichte zwi-
chen Technikgeschichte und Geistesgeschichte. Daher ist es ausgesprochen
~ichtig, festzuhalten, daß neben den Entwicklungen der Glockengießer und
Papiermacher, der Drechsler und Kaufleute, der innovativen Straßburger und Mainzer Händler und Handwerker auch ein Blick in die parallel ablaufende Bildungs- und Kulturgeschichte geworfen wird. Ohne den aus den romanischen Ländern sich nach Norden verbreitenden Humanismus mit seinem Glauben an die allgemeine Bildungsfähigkeit der Menschen und der damit verbundenen Hinwendung zu den Texten der Antike wäre eine rasche Ausbreitung der Buchdruckerkunst nicht möglich geworden. Daß sich in der Zeit zwischen 1450 und 1500 - in der sogenannten Inkunabelzeit des Buchdrucks _ etwa 3000 Offizinen in 350 Orten quer durch Europa herausbilden konnten, zeigt, welche große Resonanz und Aufnahmebereitschaft diese technisc~e Erfindung in der Bildungskultur der Zeit fand. Nicht unzufällig wurde dIe zunächst noch grobe und ungeschlachte Technik sofort von italienischen Klerikern und italienischen Humanisten aufgegriffen. Ist die Buchdruckerkunst in deutschen Landen erfunden worden, so erlebte sie in Italien ihre typographische und buchillustratorische Verfeinerung und eine intellektuelle Nutzung, die ihr nördlich der Alpen erst mit der typischen Verspätung zuteil wurde. Es dauerte über zwanzig Jahre, bis sich dieses neue Medium von seinen alten Formen und Inhalten emanzipierte. Die ersten gedruckten Bücher von Bedeutung waren diejenigen Texte, die schon in der Handschriftenzeit zu den nachgefragten Bestsellern gehörten, sei es, daß es sich um die Bibel, Ablaßbriefe und Kalender oder Grammatiken von Aelius Donatus aus dem 4. Jahrhundert handelte. Es ist eine generelle Beobachtung bei Medienwechseln, daß zunächst die Inhalte des alten Mediums weitertradiert werden. Erst nach und nach bildeten sich neue Inhalte und vor allen Dingen dem neuen Medium adäquate äußere Erscheinungsformen aus: Ab 1480 finden wir üblicherweise Titelblätter und Druckvermerke, Seitenzahlen und Register, typographisch abgesetzte ,Anmerkungen' in den Randglossen und den Wechsel hin von groß~n Folianten zu handlicheren Buchformaten. Auch die Hinwendung zu Texten m der Volkssprache - europaweit in der Inkunabelzeit nur etwa acht Prozent benötigte zwei bis drei Leser-Generationen. Um 1480 und noch einmal um 1530 kann man einen drastischen Kostenrückgang konstatieren, der nun auch die Bücher für eine größere Zahl von Rezipienten erreichbar machte. So wie im 15. Jahrhundert der Humanismus, so bot im 16. Jahrhundert die Reformation den entscheidenden inhaltlichen Impuls, der dem technischen Medium zum Durchbruch verhalf. Es wird im nachfolgenden Abschnitt versucht, diese komplexe Situation an drei Fallbeispielen zu erhellen. Der Augsburger Historiker Hans-Jörg Künast hat in seinen Beiträgen das Verhältnis der Druckmedien zur Gesellschaft am Beispiel der Druckerstadt Augsburg plastisch werden lassen. Es sei auf seine ertragreiche Dissertation zum Augsburger Buchdruck und Buchhandel ver-
60 wiesen, die bereits 1997 in der Reihe Studia Augustana unter dem Titel ",Getruckt zu Augspurg': Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555" erschienen ist. Wir verdanken Hans-Jörg Künast eine detaillierte prosopographische Studie über die engen, Verflechtungen der Druckhäuser und der Patrizierlamilien dieser Stadt. Eröffnet wird dieser Teil mit einem Grundlagenbeitrag von Ute Schneider vom Institut für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die wichtigen theologischen und liturgischen Publikationen des frühen Buchdrucks wurden bereits erwähnt, ebenso ein kurzer Hinweis auf die Kompendien und Editionen lateinischer Klassiker durch die Humanisten gegeben. Schneider wendet sich dem Buch als dem zentralen Wissensvermittler der Frühen Neuzeit zu. In ihrem Beitrag werden die Leistungen des Buches für die Ordnung und die Systematisierung von Wissen besonders augenfällig und einsichtig. Die Bedeutung des Buches als Publikationsform mit strukturierendem und systematisierendem Effekt wird darin sowohl bei der schematischen Präsentation von Wissen und Erkenntnis als auch in der zusammenfassenden Konzentration von Debatten auf dem Hintergrund der "gelehrten Bücherkenntnis" der Frühen Neuzeit dargelegt. Über die Bereiche der universitären Wissensvermittlung hinaus wird deutlich, daß auch Handwerk und Gewerbe zu den bevorzugten Profiteuren der neuen Buchdrucktechnik gehörten. Ute Schneider zeichnet darüber hinaus das Berufsbild des Buchführers nach, der ein wichtiges Glied im Informationsnetz ,Buchhandel' wurde. Die Buchmesse in Frankfurt zeigte sich als die internationale, die gelehrte und lateinische Messe, die Frankfurt zum Zentrum der Bildung und des Wissens in der Frühen Neuzeit machte, obwohl es keine Universitätsstadt war. Die Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg Silvia Serena Tschopp zeigt am Beispiel eines signifikanten Ereignisses aus dem Dreißigjährigen Krieg, der Zerstörung Magdeburgs 1631, auf welche Weise historisches Geschehen medial aufbereitet und unterschiedlichen Deutungen zugänglich gemacht werden konnte. Die gewaltsame Eroberung der Stadt durch kaiserliche Truppen hat eine sehr große Zahl von Publikationen sowohl protestantischer als auch katholischer Provenienz generiert, welche besonders geeignet ist, diese Funktionsweisen frühneuzeitlicher Medienkommunikation zu veranschaulichen. Tschopp richtet dabei ihr spezielles Augenmerk auf die Frage nach dem Verhältnis von ,verbum' und ,pictura'. Ihr Interesse gilt dabei nicht nur den Illustrationen und der sie kennzeichnenden Ikonographie, sondern auch den sprachlichen Bildern mit den ihnen inhärenten Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Analyse der verwendeten Metaphern und des Text-Bild-Bezuges erhellt sowohl die theologischen Implikationen als auch das notwendige rhetorische Vorverständnis dieser auf den ersten Blick so populären Mediengattung.
Unmittelbar nach den ersten Büchern im ersten Jahrzehnt der Geschichte des Buchdrucks entstanden Flugblätter, die zu einzelnen kriegerischen oder politischen Ereignissen, Unglücksfällen oder Verbrechen Stellung nahmen. Eine Warnung vor Falschgeld wurde ebenso wie ein Sensationsbericht über einen Kometenfall auf meist einseitig bedruckten, plastisch illustrierten Flugblättern verbreitet und quer durch Europa nachgedruckt. Großereignisse wie die Sintflut-Hysterie des Jahres 1524 lassen sich heute noch auf Hunderten unterschiedlicher Flugblätter aus Mitteleuropa dokumentieren. Diese Flugblätter erschienen aber in aller Regel einzelfallbezogen und daher in unregelmäßiger Reihenfolge und an unterschiedlichen Erscheinungsorten. Zeitung und Zeitschrift im modernen Sinne mit ihrer Periodizität und allgemeinen Publizität sind Kinder des 17. Jahrhunderts. Holger Böning, Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen, wendet sich in seinem Beitrag von der ereignisbezogenen Publizistik der periodischen Presse zu, die sich in der Barockzeit zur wichtigsten Nachrichtenquelle und zum Steuerungselement der politischen Öffentlichkeit entwickelte. Das Thema "Medien und Öffentlichkeit" steht daher im Zentrum seiner Untersuchungen, von der Zeitung als zunächst bloßer, unkommentierter Vermittlerin von Nachrichten, bis hin zur Zeitschrift im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, die sich als Plattform für Räsonnement und Diskussion verstand. Bis etwa 1730 entstand in Deutschland eine hoch differenzierte Zeitschriftenlandschaft, die auf allen Feldern eine Debatte ermöglichte. Holger Böning fragt danach, welche Bedeutung diese neuen Medien für die Herausbildung einer Öffentlichkeit hatten und in welchen Formen sich die Einbeziehung aller sozialen Schichten in den öffentlichen Diskurs vollzog. Da wir Holger Böning zusammen mit Reinhard Siegert die wichtigsten biobibliographischen Nachschlagewerke zur Volks aufklärung verdanken, kann hier die Rolle und Bedeutung des Buchdrucks zwischen Gutenberg und der Aufklärung für die Bildungs- und Kulturgeschichte paradigmatisch erörtert werden. Es zeigt sich, daß Technikgeschichte und Geistesgeschichte, Rechtsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, Buchwissenschaft und allgemeine Geschichtsforschung gerade für den Bereich der Frühen Neuzeit noch enger interdisziplinär verknüpft arbeiten müssen, um die gesamtkulturelle Bedeutung von Bildungsfortschritten und ihrer medialen Umsetzung zu erfassen."
Das B ueh als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit Von
Ute Schneider 1626 erschien beim Frankfurter Verleger Lucas Jennis schon in zweiter Auflage eine deutsche Übersetzung der 1589 erstmals in Venedig publizierten "Piazza Vniversale" des Juristen Thomas Garzonus. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel "Das ist Allgemeiner Schauwplatz / oder Marckt / vnd Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händeln vnd Handtwercken / so in der ganzen Welt geübt werden",l Es handelt sich um ein Lexikon, das in 153 Einzeldarstellungen und einem Generalkapitel dem Leser einen Überblick über die Berufe der Frühen Neuzeit liefert. Der Titel wird von Medaillons eingerahmt, in denen verschiedene Berufe sowie die Allegorien Diligentia und Experientia zu sehen sind. Jeweils sechs Berufsbilder sind rechts und links neben dem Titel so angeordnet, daß ihre Beziehungen deutlich werden. Ein Beruf hängt in gewisser Weise vom anderen ab. Dem Arzt steht der Apotheker gegenüber, dem Maler der Bildhauer, dem Papiermacher der Buchbinder, dem Müller der Bäcker, dem Metzger der Koch. Lediglich Jäger und Fischer weisen nicht unmittelbar diese enge Bindung auf, die durch die Allegorien Diligentia ("Fleis bringt Nahrvng") und Experientia ("Zeit bringt Erfahrvng") erläutert wird. Oben über dem Titel ist der Marktplatz als Ort des Handels abgebildet, eingerahmt von Athene und Merkur, und unter dem Titel befindet sich eine Buchdruckerszene. Von den Erzeugnissen der Buchdrucker können alle Berufe profitieren. Der Buchdruck bildet quasi die Basis des beruflichen Wissens.
1. Die frühe Ausdifferenzierung von Verlagsprogrammen Der europäische Buchmarkt des frühen 17. Jahrhunderts stellte bereits eiri reichhaltiges Bücherangebot zur Verfügung, das sich inhaltlich sowohl am gelehrten Wissen als auch am volkstümlichen Alltagswissen orientierte. Gelehrte Literatur wie auch volkssprachliche Fachprosa wurden vertrieben. 1 Thomas Garzonus, Piazza Vniversale. Das ist Allgemeiner Schauwplatz / oder Marckt / vnd Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händeln vnd Handtwercken / so in der ganzen Welt geübt werden. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1626, Exemplar der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Signatur: Q16/69.
Während die Druckerverleger des 15. Jahrhunderts in den ersten Jahrzehnten nach Gutenbergs Erfindung vor allem die schon in den Handschriften tradierten Inhalte zum Druck brachten, sich also nicht nur äußerlich, sondern auch bei der inhaltlichen Gestaltung ihres Verlagsprogramms an der Handschriftenproduktion orientierten, da sie dadurch'den sicheren Absatz ihrer Produkte annehmen konnten, wurden die Verlagsprogramme im Laufe der Frühen Neuzeit an die zeitgenössischen professionellen und sozialen Bedürfnisse des Käuferpublikums angepaßt. Bereits ab 1470/80 weitete sich das allgemeine Bücherangebot inhaltlich aus. Bücher wurden allmählich preiswerter und dadurch auch mehr und mehr zum Gebrauchsgegenstand. Die Texte zeitgenössischer Autoren wurden gegen Ende des 15. Jahrhunderts häufiger gedruckt, wie an der Blüte der humanistischen Buchproduktion leicht abzulesen ist. Neben der gelehrten humanistischen Literatur treten dann jedoch auch volkssprachliche, illustrierte Werke auf den Markt. 2 Etwa 27-30000 Inkunabelausgaben können nachgewiesen werden, die zwar noch zu 80 Prozent in lateinischer Sprache gedruckt wurden und damit für den gelehrten Leser in ganz Europa gedacht waren, aber die Erschließung weiterer Käuferschichten und Leserkreise durch Lektürestoffe, die in ihrer Gesamtheit sowohl unterhaltenden als auch belehrenden Charakter hatten, und die Aufbereitung populärwissenschaftlicher Fachprosatexte im Druck leiteten bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts die "Geburt der Wissensgesellschaft" ein. 3 Ein sehr frühes Beispiel der Aufbereitung gelehrter Kenntnisse für größere Leserkreise, die des Lateinischen nicht mächtig waren, ist das Pestbüchlein Heinrich Steinhöwels in deutscher Sprache, das 1473 beim UImer Erstdrucker Johannes Zainer herausgebracht wurde. Dieses "Büchlein der Ordnung" stand in der Tradition der seit Mitte des 14. Jahrhunderts bereits in lateinischen und arabischen Handschriften vorliegenden Pestliteratur, wandte sich aber an ein frühbürgerliches Publikum und an Leser wie Wundärzte oder Barbiere, die aus professionellen Gründen an der Prophylaxe wie an der Therapie der Seuche interessiert waren, die lateinische (oder arabische) Fachliteratur jedoch nicht verstehen konnten. 4 Weitere Beispiele volks sprachlicher Fachprosatexte der Inkunabelzeit sind das erste gedruckte Rechenbuch von Ulrich Wagner (1482 bei Heinrich Petzensteiner in Bamberg) oder das Kochbuch "Kuchemaistrey" (1485 bei Peter Wagner in Nürnberg), das auch noch im 16. Jahrhundert in neuen, teilweise geänderten Auflagen immer wieder verlegt wurde. Kochbücher wie Rechen2 3
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Vgl. Stephan Füssel, Gutenberg und seine Wirkung. Frankfurt am Main 1999, 76ff. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin
200l. Vgl. zum Inhalt des Büchleins ausführlicher Nikolaus Henkel, Heinrich Steinhäwel, in: Stephan Füssel (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit 1450-1600 - Ihr Leben und Werk. Berlin 1993,51-70, hier 55. 4
Abb. 1: Thomas Garzonus, Piazza Vniversale. Titelblatt des Exemplars der Universitätsbibliothek JohanlI Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign.: Q16169.
bücher sind Publikationsformen, die Spezialwissen für Laien ebenso wie für Angehörige spezifischer Berufe bereithalten und neben Kräuterbüchern und volksmedizinischen Schriften zu den meist gedruckten populären Publikationsformen der Frühen Neuzeit zu zählen sind. Die Druckerverleger reagierten relativ schnell auf eine gestiegene Nachfrige und erweiterten ihr Verlagsprogramm zielgerichtet auf die Bedürfnisse neuer Käuferkreise. Zwei Käuferkreise waren dominierend und wurden in der Folge besonders angesprochen: die Gelehrten, die den größeren Anteil des Lesepublikums ausmachten, einerseits und die wohlhabenderen bürgerlichen Schichten in den Städten andererseits. Vor allem Kräuterbücher wurden nicht nur für Gelehrte, sondern auch für den interessierten Laien konzipiert. Indiz für diese verlegerische Strategie, zwei Käuferkreise zu bedienen, sind die Doppelausgaben der Kräuterbücher, die einmal in lateinischer Sprache und einmal in deutscher Sprache gedruckt wurden. Das läßt sich schon beim ersten gedruckten Kräuterbuch leicht nachweisen. Der Mainzer Frühdrucker Peter Schöffer publizierte 1484 einen lateinischen "Herbarius", dem er nur ein Jahr später, Ende März 1485, den deutschen "Gart der Gesundheit" folgen ließ. Erstaunlich ist hierbei, daß das deutschsprachige Buch keine einfache Übersetzung des lateinischsprachigen war, was sich ja angeboten hätte, sondern textlich völlig unabhängig von dem lateinischen Kräuterbuch und auch nicht an eine handschriftliche Vorlage angelehnt ist. Auch die Illustrationen wurden für den deutschsprachigen "Gart der Gesundheit" neu geschnitten. Die Aufbereitung lateinischer naturkundlich-medizinischer Drucke für volkssprachliche Ausgaben durch eine neue Textorganisation, durch semantische und stilistische Modifikationen wurde jüngst von Mechthild Habermann auch an anderen Kräuterbüchern und Destillierbüchlein nachgewiesen. 5 Die deutschsprachige "Piazza Vniversale" erschien erstmals 1619, also in der Blütezeit des europäischen Buchhandels, der zwischen 1600 und 1620 mit circa 1600 Titeln jährlich einen frühen Höhepunkt und gleichsam einen vorläufigen Abschluß gefunden hatte. Zwischen 1575 und 1615 hatte sich die Buchproduktion verdreifacht. Für das 16. Jahrhundert werden etwa 140150000 gedruckte Titel angenommen, die Zahl der hergestellten Exemplare dürfte sich allein auf deutschem Sprachgebiet auf etwa 140 Millionen belaufen. Ab 1620 erlitt die jährliche Buchproduktion bedingt durch den Dreißigjährigen Krieg einen rapiden Rückgang auf weniger als 1000 Titel pro Messe und erreichte erst 150 Jahre später wieder das Niveau der Vorkriegsproduktion. 5 Mechthild Habermann, Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. (Studia Linguistica Germanica, Bd. 61.) Berlin/New York 2001.
Mit der steigenden Quantität im 16. Jahrhundert vollzog sich gleichzeitig eine weitere inhaltliche Ausdifferenzierung der Verlagsprogramme, was auf einen steigenden gesellschaftlichen Bedarf an Büchern als Informationsträger hinweist. Für die Professionen, die das opulente Titelblatt der "Piazza Vniversale" aufführt, existierte ein schon relativ spezifisches Angebot an Fachliteratur, aus der potentiell jeder einzelne bei der Ausübung seines Berufes theoretisches Wissen und praktische Anleitungen entnehmen konnte. Bücher, die als Handlungsorientierung und Handlungsmotivation für die praktische Alltagsbewältigung gedacht waren, nahmen im 16. Jahrhundert einen enormen Aufschwung. Weil dies noch weitgehend unerforscht ist, wissen wir nicht, welchen genauen prozentualen Anteil Reit- und Fechtbücher, Koch- und Arzneibücher, Rechen- und Sprachbücher, Hauswirtschafts- und Gartenbücher an der gesamten Buchproduktion hatten, aber aufgrund von bürgerlichen Nachlaßinventaren können wir annähernd die Rolle umschreiben, die die Gebrauchsliteratur, die die Fachprosa auf dem Buchmarkt allmählich hatte. Als Buchkäufer und Leser kamen - wie das Beispiel der Nachlaßinventare von Braunschweiger und Kitzinger Bürgerbibliotheken belegt - nicht nur Gelehrte, sondern auch lateinunkundige städtische Bürger und Handwerker wie Schmiede, Bäcker, Müller, Gerber, Barbiere usw. in Frage. Gerade von den Handwerkern ist durch neuere Forschungen bekannt, daß sie sich aus professioneller Motivation heraus schon früh eine kleine, nutzbringende Fachbibliothek zusammenkauften, auch wenn es sich bei diesen Handwerkerbibliotheken meist nur um 20 bis 30 Titel handelte. 6 In der "Piazza Vniversale" heißt es im 128. Diskurs über die Bedeutung der Buchdrucker für die Wissensvermittlung, in früheren Zeiten seien Bücher sehr teuer gewesen, so daß "man vorzeiten / ehe diese wunderbarliehe Kunst der Druckerey erfunden / gar wenig gelehrter Leut [... ] hat gefunden", die durch Bücher hätten Kenntnisse erwerben können, nun aber seien "alle auffgewacht / vnd haben alle gute Gelegenheit / etwas zu lernen vnd zu erfahren", und jetzt könne "wer nur Lust vnd Liebe darzu hat / Bücher genug vnd wolfeil durch die Druckerey bekommen".7 Auch wenn die Formulierung, jeder könne Bücher wohlfeil erhalten, die tatsächliche Situation idealisiert, ist es potentiell richtig, daß der Zugang zu Wissen und Information jedem offenstand, freilich in Abhängigkeit von den individuellen finanziellen Möglichkeiten und Bil:-. dungsvoraussetzungen. Das Buch war ein wissensvermittelndes Medium neben anderen wie Flugschriften oder Flugblättern. Auch die mündliche Tradierung von Wissensbe6 V gl. Erdmann Weyrauch, Die Illiteraten und ihre Literatur, in: Wolfgang BrücknerlPeter Blickle(Dieter Breuer (Hrsg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur m Deutschland. T. 2. (Wo1fenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13.) Wiesbaden 1985,465-474. 7 Garzonus, Piazza Vniversale (wie Anm. 1),647.
ständen steht noch annähernd gleichberechtigt neben den gedruckten Medien. Einschätzungen, nach denen das Buch als Medium in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine nur marginale Rolle gespielt habe, sind jedoch in ihrer Pauschalität nicht haltbar. 8 Solche Bewertungen lassen sich anhand einer Quelle widerlegen, die aus dem Jahr 1569:auf uns gekommen ist. Es handelt sich um das Meß-Memorial des Frankfurter Buchhändlers Michael Harder, der quasi als Sortimenter oder Zwischenhändler für andere Frankfurter Drukkerverleger fungierte. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, daß er auf der Frankfurter Fastenmesse 1569 insgesamt 5918 Bücher verkaufte. Ein einziger Buchhändler setzte also fast 6000 Bücher auf einer einzigen Messe ab. 9 Und: Michael Harder verkaufte ausschließlich deutschsprachige Bücher. Diese setzten sich einerseits aus Unterhaltungsliteratur zusammen, zum Beispiel Schwanksammlungen oder mittelalterliche Ritterromane, darunter der "Fortunatus", die "Melusine", die "Schöne Magelone", "Schimpf und Ernst" usw. Daneben verkaufte Harder aber auch 227 Exemplare eines Hausarzneibuchs und insgesamt 343 Rechenbücher, darunter wiederum allein 150 Exemplare des Rechenbuchs von Adam Ries, außerdem 141 Kochbücher und 452 sogenannte Teufelbücher, wobei der ,Eheteufel ' und der , Saufteufel ' die beliebtesten waren. Die deutsche Fachprosa, deren intendiertes Ziel die Wissensvermittlung war, war keineswegs ein marginaler Artikel im Buchhandel. Praxisbezogenes Wissen vermittelten neue Buchinhalte wie technikwissenschaftliche Texte. Ein oft genanntes Beispiel ist das Werk Georg Agricolas über das Berg- und Hüttenwesen "De re metallica", das schon 1556 in zwei Auflagen erschien und bis 1657 neun Ausgaben und 18 Auflagen erlebte mit Übersetzungen ins Deutsche, ins Italienische und 1643 auch ins Chinesische. lO Auch hier folgte der lateinischen Originalausgabe von 1556 ein Jahr später die deutsche Übersetzung, was wiederum ein Indiz für die verlegerische Strategie bildet, zwei Leserkreise anzusprechen. In diesem Fall handelte das Basler Verlagshaus Froben nach diesem Prinzip. Dasselbe Vorgehen finden wir beim Züricher Verleger Froschauer. Hier erschien 1551 die berühmte "Historia animalium" von Konrad Gesner. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden in rascher Folge drei Übersetzungen des Werkes aufgelegt, wobei es sich um Ausschnitte und Zusammenfassungen handelte. 1557 kamen ebenfalls bei Froschauer in Zürich das deutschsprachige Vogelbuch des Pfarrers RudolfHeußlin und 1563 das deutschsprachige Fischbuch des Arztes Konrad Forer heraus. Naturwissenschaftliche Bestandsaufnahmen in zoologi8 Vgl. Werner Faulstich, Medien zwischen HelTschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400-1700). (Die Geschichte der Medien, Bd. 3.) Göttingen 1998,271 ff. 9 Vgl. Ernst KelchnerlRichard Paul Wülcker (Hrsg.), Mess-Memorial des Frankfurter Buchhändlers Michael Harder. Frankfurt am Main 1873. 10 Vgl. Hans Prescher, Verbreitung und Rezeption des Werkes von Georgius Agricola, in: Ferrum 67, 1995,26-31.
schen Werken mit schon speziellen Studien zu Vögeln, Fischen und Insekten begründeten die neuzeitliche Zoologie und befriedigten die Wißbegier der Laien. Botanische Tafelwerke mit großzügigen Holzschnitten, später Kupferstichen, und Kräuterbücher dienten als praktische Ratgeber wie auch als naturwissenschaftliche Grundlagenwerke. Die Vielfalt der Verlagsprogramme spiegelt sich auch in opulenten wissenschaftlich aufbereiteten Historischen Chroniken, in Vorlagen- und Ornamentbüchern für handwerkliche und kunstgewerbliche Interessen, in Reit- und Fechtbüchern und anderen praxisbezogenen Literaturgruppen, die als Anleitungen zum Feld- und Gartenbau oder der Jagd fungierten. Daneben verließen Rechtsliteratur und mathematische Werke die Druckereien der Frühen Neuzeit. Letztere umspannten den weiten Bogen von dezidieli gelehrter Literatur wie die Werke Newtons oder Leibniz' bis hin zu Rechenbüchern für den allgemeinen Gebrauch. Die Rechenbücher von Adam Ries beispielsweise erlebten im 16. und 17. Jahrhundert über hundert Auflagen. Sie dienten zunächst dem Kaufmann im Kontor, dann auch dem Schüler. Anatomische Studien und andere medizinische Werke - hier ist unter anderen an die "Wundarzney" von Paracelsus aus dem Jahr 1536 zu denken deckten den Bedarf an neuem Wissen. Architekturbücher und Beschreibungen technischer Konstruktionen, angefangen von den Werken des antiken Baumeisters Vitruv bis zu Abhandlungen zum Schiffsbau, bedienten die speziellen Fachinteressen des Gelehrten wie des städtischen Bürgers. Astronomische Werke, Reiseberichte und Kartenwerke dokumentierten das neuzeitliche Weltbild ebenso wie die großen Sammelwerke der Erdbeschreibung und Länderkunde. Sebastian Münsters "Cosmographie" erschien 1541 und wurde bis 1650 in 46 Ausgaben und in verschiedenen Sprachen gedruckt. Einen Höhepunkt fand diese Publikations form im 17. Jahrhundert in den reich illustrierten Topographien Matthaeus Merians. Gerade im Fall des Frankfurter Verlegers Merian kann man - wenn auch noch vorsichtig formuliert - von einem Verlagsprofil im modemen Sinn sprechen. Merian konzentrierte sein Programm auf die großen topographischen Werke wie das 20000 Seiten umfassende "Theatrum Europaeum", und inhaltlich ergänzt wurden die großen Städtebeschreibungen von Werken der Religion, der Geschichte und der Naturwissenschaften sowie der Technik und von militärwissenscha(t..:lichen Werken. Einen weiteren Programmschwerpunkt Merians bildeten ebenfalls reich illustrierte medizinische und pharmazeutische Werke. Merian spezialisierte sich auf Wissensgebiete, die die gesellschaftliche Ordnung und den Mensch in der Zeitgeschichte umfaßten. 11 Profitable Schulbücher und literarische Werke fehlten ganz in seinem Programm. 11 Vgl. Stefan Soltek, Matthaeus Merian - Verleger seiner Zeit, in: Catalog zu Ausstellungen im Museum für Kunsthandwerk Franckfurt am Mayn (15.9.-7. 11. 1993) und im
Ein anderes Beispiel für die Profilierung von Programmschwerpunkten im 17. Jahrhundert nach Wissensgebieten stellt die Produktion der berühmten holländischen Verlegerfamilie Elsevier dar, die einerseits mit Länderbeschreibungen, den sogenannten "Republiken", und kleinformatigen wissenschaftlichen Büchern handelte, sich aber vor all~m auch auf die niederländischen Universitäts schriften spezialisierte. Die vielen Gründungen von neuzeitlichen Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert, allein knapp zwanzig auf deutschem Sprachgebiet, erhöhten den Bedarf an Lehrbüchern wie Grammatiken, Wörterbüchern und klassischen Werken als Unterrichtsgrundlagen. An vom Humanismus inspirierten Universitäten wurden Poesie und Rhetorik, aber auch Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik und Musik gefördert, wozu vermehrt wissenschaftliche Abhandlungen verfaßt wurden und in Druck gingen. Schriftlich abgefaßte und gedruckte Thesen dienten als Disputationsgrundlagen im Unterricht und bei Promotionen. Wichtige Zentren des Buchdrucks im 16. Jahrhundert waren die oberrheinischen Städte Basel und Straßburg, dann Augsburg, Nürnberg, Köln, Leipzig, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch Frankfurt am Main. In diesen Zentren bildeten sich zum Teil inhaltlich erheblich voneinander abweichende Drucktraditionen heraus, die man als kollektive Verlagsprogramme bezeichnen könnte. Wir können für die Frühe Neuzeit zwar bei den einzelnen Drukkerverlegern noch keine derart stark spezifizierten Verlagsprogramme feststellen wie sie für die Verlage des späten 19. oder des 20. Jahrhunderts typisch sind, denn die Druckerverleger waren im Prinzip Universalverleger, aber wir können doch regionale Schwerpunkte in der Buchproduktion festmachen, die sich aus den regionalen Bedürfnissen der Leserschaft herleiten lassen. Das Publikum einer Universitäts stadt hatte möglicherweise andere Lektürebedürfnisse als eine florierende Handelsstadt. Wenn wir feststellen, daß in Augsburg schon in der Inkunabelzeit mehr deutschsprachige Werke und vor allem auch illustrierte Werke gedruckt wurden als an anderen Druckorten, dann ist dies ein Indiz für eine wohlhabende Augsburger Käuferklientel, die diese Produktion nachfragte und auch abnahm. Bei lateinischer Literatur lassen sich freilich anhand der örtlichen Verlagsprogramme weniger eindeutige Aussagen über die Lektürevorlieben der regionalen Käuferschichten machen, denn lateinische Literatur wurde europaweit gehandelt. Für lateinische und griechische Werke war Basel ein primärer Druckort. Die dortigen Offizinen der Froben, der Petri, Johann Amerbachs und Johann Oporinus stehen für dezidiert wissenschaftliche Ausgaben lateinischer und griechischer Gelehrtenliteratur. Köln blieb mit über neunzig Offizinen das Kunstmuseum Basel (28. 11. 1993-13.2. 1994) als Unsterblich Ehren-Gedächtnis zum 400. Geburtstag des hochberühmten Delineatoris (Zeichners), Incisoris (Stechers) et Editoris (Verlegers) Matthaeus Merian des Aelteren. Frankfurt am Main 1993, 276-293.
und daZentrum vorwiegend der katholisch theologischen Buchproduktion, . b d her dominierten auch hier die lateinischen Druckwerke. Wüten erg, as von der unbedeutenden Bauern- und Handwerkerstadt zum Ze~trum ~es ~efor~a torischen Buchdrucks mit insgesamt 79 Druckereien avancIerte, 1st em weIteres bekanntes Beispiel.
11. Die Aufbereitung des Wissens im Buch Der Buchdruck leitete ab der Mitte des 15. Jahrhunderts den Prozeß der ~nroblematischen und effektiven Speicherung und Sammlung von InformatlO~en und Wissensbeständen ein sowie auch gleichzeitig den Prozeß der ~uan titativ höheren Verbreitung und Rezeption von Wissen. Das ist unumstntten. Wesentliche Folge der technischen Innovation war zunächst die Vernetzung el ehrten Wissens durch die Garantie identischer Texte an verschiedenen Or~en wodurch die Grundlage für eine Standardisierung des Wissensstandes geschaffen wurde. Auslegungen überlieferten Wissens und Vergleiche von alten mit neuen Wissensformen und -beständen wurden unabhängig vom individuellen Aufbewahrungsort des singulären Buches. 12 Und aus dem Zuwachs an Informationen, die der einzelne aufzunehmen hatte, aus der steigenden Quantität resultierte Komplexität, die der Selektion und des Filterns redundanter Information bedurfte. Wissen in Buchform mußte so repräsentiert werden, daß der sele~~ive, methodische Zugriff auf Wissen und Information erleichtert wurde. Außerlich hatte das Buch des 16. Jahrhunderts bereits die uns heute bekannte normative Gestalt angenommen: Das nun übliche Titelblatt hielt alle wichtigen Selek~ onskriterien wie Autor, Inhalt, Drucker oder Verleger, Druckort und ErscheInungsjahr bereit, so daß der singuläre Titel nun leicht identifizi~rt werden konnte. Buchinterne Lesehilfen wurden beispielsweise in Form emer Leseranrede hinzugestellt, in der der Autor oder der Verleger den Sinn und Zweck des Buches darlegten. Neben der Leseranrede finden wir in der Regel ein Inhaltsverzeichnis, des weiteren einen mit Überschriften gegliederten Hauptteil, auch schon lebende Kolumnentitel. Diese Paratexte fungieren strukturierend für den schnellen Zugriff auf das Wissen und veränderten das methodische Lesen durch inhaltliche Verweisungszusammenhänge im Buch und Bezugnahmen auf bereits im Medium Buch publiziertes Wissen.
12 Zu den Auswirkungen auf die Entwicklungen der frühneuzeitlichen Wisse.»sc~aft vgl. Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. CommumcatlOns and Cultural Transformation in Early-Modem Europe. 2 Vols. LondonlNew YorklMelboume 1979.
Auf die buchinternen Lesehilfen wurde von den Verlegern meist auf den Titelblättern werbend hingewiesen. Besonders auf einen Paratext wurde der potentielle Käufer von Verlegerseite oft aufmerksam gemacht: auf ein Register. Der Frankfurter Erstdrucker Christian Egenolffbeispielsweise brachte Eucharius Roeßlins "Kreuterbuch" in den Jahren 1533 bis 1550 in acht Ausgaben heraus. Egenolff setzte in der Ausgabe von 1542 dem Titel hinzu: "Alles über vorige Edition / Gebessert und vermehret. Inhalt dreier fleissigen fürgestelten Register", und 1550 lautet der Zusatz: "Alles über vorige Edition / mit verbesserung / auß täglicher erfarnuß / auch alten und newen Scribenten in der Artznei / gemehrt. Inhalt dreier fleissigen vorgehenden Register." Die Hinweise auf Überarbeitung und Korrektur des Inhalts sowie auf Hilfsmittel, die den Überblick über den Text erleichtern sollten, grenzten das Buch gegen konkurrierende Titel auf dem Buchmarkt ab und versprachen dem Käufer, den aktuellen Wissensstand zu erfahren und sich diesen auch komplikationslos aneignen zu können. Mit dieser Werbestrategie reagierte der Verleger nicht nur auf die Bedürfnisse des Publikums, sondern er schuf auch gleichzeitig den Bedarf, informiert zu sein: "Verbessert, vermehrt, corrigiert, aufs neu übersehen, leichtlich zu gebrauchen" lauteten die Schlagwörter auf einem expandierenden Buchmarkt.
mündlichen Unterrichtung und ihren didaktischen Anleitungen wie Repetieren des Gelernten und Mitschreiben der Vorlesungen. Neben diesen wissenschaftsinternen Bildungsinstitutionen werden aber auch wissenschaftsexterne Instanzen im Wissensvermittlungsprozeß relevant, denn wenn sich Wissen in der publikations form Buch artikuliert, dann muß es im Kontext der Organisation von Verlag, Druck und Vertrieb gesehen werden. Ohne einen funktionstüchtigen Buchhandel, ohne das Engagement dieses Kaufmannsstandes hätte die europäische Gelehrtenrepublik kaum entstehen können. Für die Kommunikationsstruktur einer sich entwickelnden europäischen Wissenskultur konstitutiv sind zwei buchhändlerische Organisationsformen: erstens das entstehende internationale buchhändlerische Vertriebssystem durch den marktstrategischen Einsatz von Buchführern und zweitens die Etablierung der Frankfurter Messe als zentralem Buchhandelsplatz.
1. Die Organisation des Buchvertriebs durch Wanderverkehr
Michael Giesecke hat in seiner Studie zum Buchdruck der Frühen Neuzeit völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß erst die Entstehung eines umfassenden Buchmarktes sowie dessen stetige Kommerzialisierung den sozialen Charakter des durch das Buch transportierten Wissens begründete.1 3 Aus dem Warenaspekt des Wissens und dem Aufbau eines "Informationsmarktes" resultierte ein offenes Wissenssystem, das auf der engen Bindung von Erkenntnis an die Produktion durch den Buchdruck beruhte, wie Peter Burke pointiert zusammenfaßt. 14 Das Medium Buch erfüllt seine wissensstützende kommunikative Funktion als Träger von Wissensbeständen und als Artikulationsort neuer theoretischer und praktischer Erkenntnisse nur dann, wenn es in ein leistungsfähiges Vermittlungs netz eingebunden ist. Die Vermittlung der Buchinhalte geschah einerseits durch die Institutionalisierung des Wissens an den Universitäten, den Akademien, auch an den Schulen, und zwar mit Hilfe der
Die hohe Leistungsfähigkeit des europäischen, internationalen Buchhandels bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts bestand zunächst im Wanderverkehr als buchhändlerischer Organisationsform. Neben dem reinen Druckerverleger differenzierte sich noch im 15. Jahrhundert der Beruf des Buchführers heraus, der als früher SOliimenter im Auftrag eines Druckerverlegers oder auch auf eigene Rechnung Bücher, Flugschriften und Broschüren und somit Wissen und Information vertrieb. 15 Durch die wachsende Quantität der Buchproduktion auch innerhalb der einzelnen Druckereien war es dem einzelnen Druckerverleger schon relativ schnell nicht mehr möglich, Verlag, Druck und Vertrieb der Bücher selbst zu übernehmen. Er bedurfte der Unterstützung in der Organisation, vor allem im Hinblick auf den Vertrieb seiner Druckerzeugnisse. Aus dieser Erfordernis resultierte der Beruf des Buchführers als früher Sortimenter. Der Buchführer war als offizielle Berufsbezeichnung schon in der Inkunabelzeit bekannt. Er betrieb sein Unternehmen entweder stationär mit einem offenen Ladengeschäft oder zog mit seinem Sortiment über Land oder betrieb beide Arten des Verkaufs. Die über Land ziehenden Buchführer konnten relativ flexibel auf Verkaufsgelegenheiten reagieren und nutzten zentrale, von möglichst vielen potentiellen Kunden besuchte öffentliche Plätze. Traditionelle Verkaufs orte für Gedrucktes waren Messen und Jahrmärkte, auch Wirtshäuser und Kirchplätze oder in den Universitäten die Kollegien.
13 Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991, 393 ff. u. ö. 14 Burke, Papier und Marktgeschrei (wie Anm. 3), 205.
15 Zur Forschungsproblematik des frühen Buchvertriebs vgl. Ursula Rautenberg, Buchhändlerische Organisationsformen in der Inkunabel- und Frühdruckzeit, in: Barbara Tiemann (Hrsg.), Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Zweiter Halbbd. Hamburg 1999,339-376, hier 345-347.
III. Die internationale Vernetzung des Wissens durch Wissensvertrieb
In der "Piazza Vniversale" wurde im 127. Diskurs unter dem Titel "Die Profession der Buchhändler" der Beruf des Buchführers charakterisiert, wobei die Begriffe Buchhändler und Buchführer synonym benutzt werden. Er sei, so heißt es, der Kaufmannschaft nahe verwandt, da die Buchführer "nicht allein einzige Bücher / sondern dieselbeü:' auch in grosso mit ganzen Ballen kauffen vnd verkauffen. Endlich sind sie auch desto mehr zu lieben vnd zu ehren / dieweil sie dem Vaterland dienen / sintemal man durch Hülffe ihrer Bücher alles wissen vnd erfahren kann / was man nur begeret / sonderlich heutigen tages / da alle Künste vnd Grillen an Tag gedruckt / vnnd offentlieh verkaufft werden / daß man also ohne sonderliche Mühe zu allen Wissenschaften kommen / vnnd alle Künste / so vorzeiten verborgen gewesen / erlernen kan."16 Der Buchführer sei als Kommunikationsinstanz auch deshalb von großer Bedeutung, weil er stetige Kontakte pflege zu "Theologis, Doctoribus Juris, Medicis, Philosophis vnd andern / so in allerhand Künsten vnd Wissenschaften berühmbt sind".17 Da die Gelehrten in ihren Buchläden ein- und ausgingen, bestehe für die Buchführer die Chance, "etwas [zu] hören / das ihnen hernach können nutz machen", was nichts anderes heißt, als daß sie die Nachfrage nach Büchern zu bestimmten Themen - sowohl nach gelehrten Werken als auch nach populärwissenschaftlicher Fachprosa - einschätzen und vielleicht auch Bücher anregen konnten. Über eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Buchführern und Autoren liegen zur Zeit noch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Die Zusammenarbeit zwischen Drukkerverlegern und Gelehrten ist seit der Zeit des Humanismus bezeugt. Welche Rolle der Buchführer in diesem Kommunikationsprozeß möglicherweise eingenommen hat, ist noch unerforscht. Die Argumentation in der "Piazza Vniversale" leuchtet jedoch ein, denn den Kontakt zum ,Endverbraucher' pflegte im buchhändlerischen Wanderverkehr vor allem der Buchführer. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind bereits über 1000 Buchführer namentlich bekannt, die sowohl in größeren Städten als auch in kleineren Orten den Vertrieb von Druckwerken übernommen hatten. 18 Die Buchführer bildeten im internationalen Wanderhandel durch ihren Besuch von Messen und Märkten ein leistungsfähiges Kommunikationsgeflecht. Der Speyerer Drukkerverleger Peter Drach beispielsweise konnte schon in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts mit fünfzig bei ihm festangestellten Buchführern ein Femhandelsnetz vor allem in Böhmen und Mähren unterhalten, das ihm sowohl den Vertrieb der bei ihm gedruckten Werke als auch der von ihm erworGarzonus, Piazza Vniversale (wie Anm. 1),646. Ebd. 18 Vgl. Heinrich Grimm, Die Buchführer des deutschen Kulturbereichs und ihre Niederlassungsorte in der Zeitspanne 1490 bis um 1550, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7,1967,1154-1771. 16 17
benen Drucke sicherte. Darüber hinaus unterhielt er in fast zwanzig Städten Bücherlager.1 9 Der Kölner Verleger Franz Birckmann2o , der aus Antwerpen kommend zu Beginn des 16. Jahrhunderts bereits eine Niederlassung in London gegründet hatte, beschäftigte Drucker in verschiedenen europäischen Städten und nahm durch den Einsatz von Buchführern eine führende Stellung im Handel mit Burgund und den Niederlanden ein21 . Für das 16. Jahrhundert kennen wir sogar überregionale Zusammenschlüsse von Druckerverlegern zu Vertriebsgesellschaften bzw. zum Verlegerkonsortium, bei dem Verlagshäuser ein dauerhaftes Bündnis eingingen, um ihre Produkte nach Italien und England, die Niederlande und Polen zu exportieren, so daß die Buchführer zum Multiplikator der Druckerzeugnisse in ganz Europa wurden. 22 Durch die Buchführer wurden sowohl die verschiedenen städtischen Produktionszentren miteinander verknüpft als auch kleinere Ortschaften und Landstriche mit Druckwerken versorgt.
2. Das Zentrum des europäischen Buchhandelsdie Messe in Frankfurt am Main 1564 erschien der erste Meßkatalog als buchhändlerisches Werbemittel, das der Augsburger Buchhändler Georg Willer initiierte, um den Besuchern der Frankfurter Messe einen schnellen Überblick über sein Bücherangebot zu ermöglichen. In den zunächst privat organisierten, später reichsstädtischen Meßkatalogen waren die Novitäten nach den Universitätsfakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie) kategorisiert. Daher dienten sie über ihre werbende Funktion hinaus dem Gelehrten auch als Informationsmittel über die neueste Literatur seiner Interessengebiete. Das Datum des ersten Erscheinens eines Meßkatalogs wird in der buchwissenschaftlichen Forschung zum Anlaß, eine neue Epoche in der Organisationsstruktur des europäischen Buchhandels anzunehmen. 23 Die Drucklegung eines Katalogs ist schlagender Beweis für die steigende Bedeutung fester Messeplätze und fester Handelstermine, auf die sich die Druckerverleger bei der Produktionsplanung und zu19 Das Rechnungsbuch von Peter Drach ist erhalten und wurde von Ferdinand Geldner ediert und kommentiert. Vgl. Ferdinand Geldner, Das Rechnungsbuch des Speyerer Druckherrn, Verlegers und Großbuchhändlers Peter Drach, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 5, 1964, 1-187. 20 Vgl. Severin Corsten, Unter dem Zeichen der "Fetten Henne". Franz Birckmann und Nachfolger, in: Gutenberg-Jb. 37, 1962,267-272. 21 Vgl. Heinz Finger, Die "Große Kompagnie" in Köln und Mainz. Ein rheinisches Verlegerkonsortium im europäischen Buchhandel des 16. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jb. 70, 1995,294-310. 22 Vgl. ebd. 295 ff. 23 Darüber besteht Konsens in sämtlichen einschlägigen Abhandlungen zur europäischen Buchhandelsgeschichte.
nehmend auch die Autoren einrichten mußten, wollten sie einen Druck überregional verbreitet wissen. In diesem Übergang vom bis dahin dominierenden Wanderverkehr zum europäischen Meßverkehr etablierte sich die Stadt FrankfUli am Main als zentraler Umschlagplatz für Druckwerke in der Frühen Neuzeit. Die Frankfurter Messe wurde zum zeitlichen Fixpunkt für die rechtzeitige Auslieferung der gelehrten Novitäten, was auch Einfluß auf den Publikationsprozeß der Autoren hatte. Erasmus von Rotterdam schrieb 1530 an den Zürieher Verleger Christoph Froschauer, das gesamte Werk des Augustinus werde zur Frankfurter Herbstmesse fertig werden und die Tenninierung der Produktion seines Basler Verlegers Johann Froben orientiere sich stets am Messedatum, so daß er, Erasmus, in den Wochen vor der Frankfurter Messe immer mit gelehrten Arbeiten, gemeint waren Druckkorrekturen, überhäuft sei. In Frobens Offizin seien - so Erasmus - dann sechs Druckpressen ununterbrochen in Betrieb. 24 Der Besuch der Messe in Frankfurt am Main, die zweimal im Jahr als zentraler Handelsplatz auch für Bücher fungierte, war für die Druckerverleger aus ganz Europa ein wichtiger Geschäftstermin. Der Handel mit Büchern wurde spätestens ab den l460er Jahren Bestandteil der seit 1240 mit kaiserlichem Privileg existierenden Handelsmesse in Frankfurt. Die Freie Reichsstadt Frankfurt war durch ihre verkehrs günstige Lage am Main prädestiniert, einen Knotenpunkt im europäischen Femhandel zu bilden. Geographisch attraktiv wurde sie vor allem für den Geschäftsverkehr mit holländischen, englischen, französischen, dann auch italienischen Buchdruckern. Bereits für das ausgehende 15. und verstärkt dann für das 16. Jahrhundert ist belegt, daß Buchführer aus Paris, Lyon, Genf, Antwerpen, Löwen, Amsterdam und Utrecht regelmäßig den Frankfurter Handelsplatz zu Messezeiten frequentierten. Die europäische Dimension in der Buchproduktion wird augenscheinlich in der Dominanz der in lateinischer Sprache publizierten Titel, die über die engen nationalsprachlichen Grenzen hinaus Absatzmärkte in ganz Europa erschlossen. Der rege Handel mit identischen Druckwerken über politische und sprachliche Territorien hinaus förderte die Kommunikationsmöglichkeiten auch für den Gelehrten. Daher wurde die Frankfurter Messe nicht nur zum internationalen Kommunikationszentrum für die Druckerverleger und Buchführer, die dort ihre Produkte verkauften oder miteinander tauschten, sondern sie entwikkelte sich auch zu einem intellektuellen Zentrum, zu einer Gelehrtenmesse für das gesamte frühneuzeitliche Europa. Der französische Druckerverleger Henri Estienne gelangte 1574 zu der Auffassung, Frankfurt am Main sei zum 24 Belegt bei Friedrich Kapp, Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das siebzehnte Jahrhundert. Leipzig 1886,456.
neuen Athen" geworden: "Man täuscht sich nämlich", so Estienne, "wenn ~an etwa glaubt, daß in diesem Stadtbezirk - den man wie gesagt das Frank-
furter Athen nennen könnte - nicht die Schriftsteller selbst, sondern nur ihre Schriften auf der Messe vertreten wären; [... ] So kommt es, daß aus dieser Messe-Akademie, wie ich sie oben genannt habe, ein Gewinn gezogen wird, der sich aus keiner Bibliothek erzielen läßt. Denn hier kann jedermann der lebendigen Stimme vieler Lehrer lauschen, die von den verschiedenen Akademien an diesem Ort zusammenströmen; hier kann man gar manche von ihnen in den Buchhändlerläden selbst nicht weniger ernst philosophieren hören, als man einst in den Räumen des Lykeion in Athen einen Sokrates und einen Plato hören konnte. "25 Bezeugt ist das Treffen Melanchthons im Jahr 1518 in Frankfurt mit seinem Verleger Thomas Anshelm, und im gleichen Jahr war Martin Bucer auf der Frankfurter Herbstmesse, um sich mit dem Baseler Druckerverleger Froben zu treffen. Auch die europäischen Universitäten schickten ihre Bibliothekare nach Frankfurt, um dort die Neuerscheinungen für die Universitätsbibliotheken zu kaufen, und als der später berühmte Druckerverleger Isaak Elsevier 1620 zum Universitätsdrucker in Leyden ernannt wurde, mußte er sich verpflichten, die von den Gelehrten der Universität gewünschten Schriften in Frankfurt zu besorgen und sie auf eigene Kosten nach Holland transportieren zu lassen.
IV. Resümee Es können hier nicht alle inhaltlichen und organisatorischen Facetten der frühneuzeitlichen Buchproduktion aufgeführt werden. Die wenigen Beispiele erlauben aber, eine Einordnung des Mediums Buch in den Wissensvermittlungsprozeß vorzunehmen. Erstens wurde Wissen durch den Buchdruck überprüfbar und vergleichbar aufgrund identischer Texte an verschiedenen Orten. ,Altes' Wissen konnte von ,neuern' Wissen zuverlässig unterschieden werden. Zweitens richteten die Druckerverleger ihr Programm schon früh auf unterschiedliche Interessenlagen und Wissensbedürfnisse der Buchkäufer aus. Sie produzierten für einen europäischen, gelehrten Markt einerseits wie für einen volks sprachlichen Markt andererseits. Das Medium Buch hielt im Laufe der Frühen Neuzeit ein immer größeres Informationspotential auch für den nichtgelehrten Leser bereit. Drittens war der Buchführer/Buchhändler die dominierende Vermittlungsinstanz in der internationalen Res publica litteraria. Er agierte in einem dynamischen, ganz Europa umspannenden DistributionsZitiert nach der Übersetzung von Hans Widmann in: Hans Widmann (Hrsg.), Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Bd. 1. Hamburg 1965,36.
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netz, das durch hohe Mobilität gekennzeichnet war. Die effiziente Verbreitung von Wissensbeständen war spätestens ab Ende des 15. Jahrhunderts eng an den Verlag, den Druck und den Vertrieb von Wissen in Büchern gebunden. Und daher symbolisiert auch folgerichtig der Buchdruck am Fuß des Titelblatts der "Piazza Vniversale" die Basis beruflichen Wissens.
Rhetorik des Bildes Die kommunikative Funktion sprachlicher und graphischer Visualisierung in der Publizistik zur Zerstörung Magdeburgs im Jahre 1631 Von
Silvia Serena Tschopp ,,[A]ls die Käyserlichen Magdeburg erobert hatten, verübten sie solche Grausamkeiten, die fast nicht zu beschreiben sind. Unter andern schleppten sie große Hauffen todte Cörper zusammen, satzten sich oben drauf, soffen einander Gesundheiten zu, und nannten das die Magdeburgische Hochzeit, weil sie an der Stadt eine Jungfrau zur Braut bekommen hatten."! Wenn über hundert Jahre nach der blutigen Eroberung der Stadt Magdeburg durch das kaiserlichligistische Heer der "Magdeburgische[n] Hochzeit" in Johann Heinrich Zedlers "Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste" ein eigenes Lemma gewidmet wird, ist dies ein Indikator für die Bedeutung, die dem Ereignis nicht nur bei den Zeitgenossen zukam. Bereits unmittelbar nach der Einnahme Magdeburgs durch Tillys Truppen am 20. Mai 1631 bezeugt das ungewöhnlich lebhafte publizistische Echo die Signifikanz des Geschehens. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die außergewöhnlich große Zahl an gedruckten Schriften, die sich direkt auf die Belagerung und Zerstörung der Stadt beziehen2 , sondern auch die Tatsache, daß in allen wichtigen Medien Zeitung, Flugschrift und Flugblatt - ausführlich über die Ereignisse berichtet und räsoniert wurde. Nicht weniger bedeutsam scheint mir schließlich, daß ein beträchtlicher Teil der Drucke katholischer Provenienz ist und damit für einmal die publizistische Dominanz evangelischer Autoren, denen wir die Mehrzahl der während des Dreißigjährigen Kriegs erschienenen Flugschriften und Flugblätter verdanken, durchbrochen wird. Die publizistischen Reaktionen auf die Eroberung und Zerstörung Magdeburgs sind demnach besonders geeignet, die Funktionsweisen frühneuzeitlicher Medienkommunikation veranschaulichen. Sie sollen deshalb den Ausgangspunkt bilden für den im
zu
1 Art. "Magdeburgische Hochzeit", in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Großes UniversalLexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 19. HallelLeipzig 1739,254. 2 Das - keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebende - bibliographische Verzeichnis in der einschlägigen Studie von Werner Lahnes, Magdeburgs Zerstörung in der zeitgenössischen Publizistik. Magdeburg 1931, listet 205 Flugschriften sowie 41 Flugblätter auf, welche im unmittelbaren Kontext der Belagerung und Eroberung Magdeburgs erschienen sind (vgl. 214-259).
folgenden unternommenen Versuch, an einem exemplarischen Fall darzulegen, auf welche Weise im frühen 17. Jahrhundert historisches Geschehen medial aufbereitet und unterschiedlichen Deutungen zugänglich gemacht werden konnte. Nach kurzen einleitenden Überlegungen zum frühmodernen Kommunikationssystem werde ich in einim ersten Schritt das Medienecho auf die Zerstörung Magdeburgs thematisieren, um anschließend in einem zweiten Schritt einige zentrale Argumentationsmuster der im Zusammenhang mit der Belagerung und Eroberung der reichen Hansestadt veröffentlichten Drucke zu analysieren. Das Augenmerk richtet sich dabei in erster Linie auf die Frage nach dem Verhältnis von verbum und pictura. Das Interesse gilt einerseits den in Flugschriften und Flugblättern verwendeten sprachlichen Metaphern und andererseits jenen in den meist illustrierten Einblattdrucken begegnenden Bildmustern, die ein visuelles Sinnstiftungsangebot graphisch untermauern. Die spezifische kommunikative Leistung frühneuzeitlicher Publizistik gründet - dies dürften die nun folgenden Darlegungen deutlich werden lassen - nicht zuletzt in einer Strategie, welche die sich aus einer bewußten Kombination von Text und Bild ergebenden Wirkungsmöglichkeiten auf umfassende Weise nutzt.
1. Konstituenten des frühneuzeitlichen Mediensystems : Flugblatt, Flugschrift, Zeitung Der massenhafte Einsatz von Publizistik im Hinblick auf die Beeinflussung eines mehr oder weniger umfassenden Adressatenkreises ist kein Spezifikum unseres Jahrhunderts. Bereits kurz nach der Erfindung des Buchdrucks gelangen die ersten Flugblätter und Flugschriften auf den Markt, die belegen, daß ein Bedürfnis nach derartigen publizistischen Formen sowohl bei Produzenten als auch bei Rezipienten bestand. Es handelt sich bei diesen frühen Druckerzeugnissen noch vorwiegend um obrigkeitliche Erlasse, religiöse, Kleinliteratur' wie Ablaß- und Beichtbriefe sowie Gebete oder Anweisungen zur Bewältigung alltäglicher Probleme "etwa in Form von" Aderlaßmännlein.3 Dies ändert sich mit der Reformation: Im Zusammenhang mit den konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1517 bis 1525 erlebt die religiöse und politische Publizistik eine erste Blüte. Flugblatt und Flugschrift werden als äußerst wirksames Mittel der Meinungsbildung entdeckt, es ent-
3 Die erhaltenen deutschsprachigen Einblattdrucke aus der Inkunabelzeit sind verzeichnet in: Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts. Ein bibliographisches Verzeichnis. Hrsg. v. der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Halle an der Saale 1914, Ndr. NendeIn 1968.
steht eine "reformatorische Öffentlichkeit"4, die maßgeblich durch Publizistik bestimmt wird. So hat Martin Luther seine Kampfschriften zunächst als Flugschriften veröffentlicht, und auch die Programme und Thesen der an den Bauernkriegen beteiligten Parteien erscheinen fast ausschließlich in Form von Flugschriften. Die reformatorischen Autoren wissen jedoch auch die Möglichkeiten des Bildes zu nutzen. Insbesondere im Kampf gegen das Papsttum dienen einzelne Bilder oder aber ganze Bildprogramme dazu, in polemisch zugespitzter Weise die Rechtmäßigkeit des päpstlichen Autoritätsanspruches in Frage zu stellen. 5 In der Folge werden so gut wie alle politischen und religiösen Ereignisse durch eine mehr oder weniger umfangreiche publizistische Reaktion begleitet. Wichtige Etappen der konfessionellen Entwicklung (die Confessio Augustana von 1530, der Augsburger Religionsfriede von 1555, das erste Reformationsjubiläum von 1617) werden ebenso kommentiert wie politisch-militärische Konflikte (Türkenkriege, Dreißigjähriger Krieg). Die Publizistik der Frühen Neuzeit stellt sich demnach als Phänomen von quantitativ und qualitativ herausragender Signifikanz dar. In ihrer Form und Funktion unterscheidet sie sich allerdings nicht unwesentlich von medialen Erzeugnissen des 19. und 20. Jahrhunderts und soll deshalb im folgenden kurz charakterisiert werden. Die publizistischen Hauptformen im 16. und 17. Jahrhundert sind das Flugblatt, die Flugschrift und die Zeitung. 6 Eine scharfe Abgrenzung des jeweiligen Mediums von benachbarten Publikations formen ist, vor allem was die Zum Begriff "reformatorische Öffentlichkeit" vgl. Rainer Wohlfeil, ,Reformatorische Öffentlichkeit', in: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. (Germanistische Symposien-Berichtbände, Bd. 5.) Stuttgart 1984,41-52. 5 Auf die vielfältigen Aspekte reformatorischer Bildpropaganda geht ein Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation. (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture, Vol. 2.) Cambridge 1981. 6 Zur Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik vgl. loachim-Felix Leonhard/Hans-Werner Ludwig/Dietrich SchwarzeIErich Straßner (Hrsg.), Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Teilbd. 1. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 15/1.) Berlin/New York 1999,132-143 u. 785-824. Vgl. auch Silvia Serena Tschopp, Art. "Flugblatt, -schrift", in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen 1996, 375-383. Eine gut~ Einführung in frühmoderne Bildpublizistik bietet die Monographie von Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 29.) Tübingen 1990; speziell zu Flugschriften vgl. Johannes Schwitalla, Flugschrift. (Grundlagen der Medienkommunikation, Bd. 7.) Tübingen 1999. Wesentliche Impulse für die historische Zeitungsforschung sind Else Bogel und Elger Blühm zu verdanken: vgl. Else Bogel/ Elger Blühm (Hrsg.), Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. Bd. 1: Text. Bd. 2: Abbildungen. (Studien zur Publizistik, Bd. 17.) Bremen 1971; Bd.3: Nachtrag. Münchenl New YorkILondonlParis 1985. Vgl. auch Leonhard u.a., Medienwissenschaft (wie Anm. 6), Teilbd. 1, 143-148 u. 825-973. 4
Funktion anbelangt, kaum durchführbar. Flugblatt und Flugschrift zu einem Ereignis oder Thema stehen oft in engstem Zusammenhang, ergänzen und bestätigen einander. Auch die periodische Presse, seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts Teil des frühneuzeitlichen Medienverbundes, spielt, ungeachtet ihres Anspruchs, sachliche InfOnhation zu liefern, eine zunehmend wichtige Rolle im öffentlichen Meinungsbildungsprozeß. Unterschiede ergeben sich vor allem aus der formalen Gestaltung. Beim Flugblatt handelt es sich um ein einseitig bedrucktes Blatt, meist in Folio-Format, das fast immer eine Graphik enthält, die in einem engen Bezug zum Text steht. Es handelt sich um den formal komplexesten Publikationstypus, der in der Regel das Ergebnis einer Zusammenarbeit mehrerer Urheber darstellt - neben dem meist anonymen Autor wären hier der Zeichner, der Holzschneider oder aber Kupferstecher und schließlich der Drucker zu nennen. Die Flugschrift ist in der Regel einfacher gestaltet. Sie besteht aus mehreren Seiten, meist in QuartFormat, und enthält nur selten eine (Titel-)Graphik. Im Gegensatz zu Flugblatt und Flugschrift, die situations- und ereignisbezogen veröffentlicht werden, erscheint die Zeitung in regelmäßigen Abständen. Aus einer wöchentlich erscheinenden Druckschrift von wenigen Seiten entwickelt sie sich im Lauf des 17. Jahrhunderts zu einem umfangreichen Presseerzeugnis, das täglich erscheint. Der Vertrieb von Zeitungen läuft bereits in der Frühzeit der periodischen Presse über Abonnement, während Flugblatt und Flugschrift durch Buchhändler oder Kolporteure verkauft werden. Die Tatsache, daß Flugblätter und Flugschriften bis ins 18. Jahrhundert nicht, wie dies in späterer Zeit meist der Fall ist, kostenlos verteilt werden, zeitigt Folgen für die Gestaltung solcher Drucke. Durch eine attraktive Graphik und/oder eine ausführliche Titelei, die deutlich macht, was der Leser erwarten darf, wird versucht, potentielle Kunden dazu zu bewegen, den für damalige Verhältnisse eher hohen Betrag für eine derartige Publikation auszugeben. Zudem erhebt die frühe Publizistik den Anspruch, für jeden Lebens- und Interessenbereich Anregungen und Informationen anzubieten. In der Tat fällt auf, wie vielfältig und heterogen sich die Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik des 16. und 17. Jahrhunderts im Vergleich zur modernen Publizistik darstellt. Neben politischer und konfessioneller Propaganda erscheinen Flugblätter religiös-erbaulichen Charakters 7, Wunderzeichenblätter8, satirische Blätter, welche spezifische 7 Vgl. Wolfgang HannslMichael SchillinglAlbrecht JuergenslWaltraut Timmermann (Hrsg.), Deutsche illustrielte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 3: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Theologica. Quodlibetica. Kommentierte Ausgabe. Tübingen 1989, Nr. 1-133, und Wolfgang Harms/Cornelia Kemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Die Sammlungen der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. Kommentierte Ausgabe. Tübingen 1987, Nr. 1-4. Zu den erbaulichen Flugblättern vgl. auch die Studie von Eva-Maria Bangerter-Schmid, Erbauliche illustrierte Flugblätter aus den Jahren 1570-1670. (Mikrokosmos, Bd. 20.) Frankfurt am Main 1986.
Denk- und Handlungsweisen oder das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bzw. den Generationen thematisieren9, naturkundlich-philosophische Blätter, die wesentlichen Anteil an der Verbreitung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse haben 10, sowie Drucke, die architektonische oder technische Phänomene beschreiben und kommentieren 11. Der thematischen Vielfalt entspricht die formale Heterogenität: Gattungen wie Epistel, obrigkeitlicher Erlaß, Dialog, Predigt, Gebet, Lied, Alexandrinergedich~ l~nd Epigra~m sind in Flu~ blättern und Flugschriften einzeln oder kombInIert nachweIsbar. Durch dIe hier beschriebene Vielfalt früher Publizistik können Flugschriften und Flugblätter unterschiedlichen Interessen dienstbar gemacht werden. Dabei geht es nicht nur darum, Bedürfnisse von Rezipienten wie Befriedigung von Neugier, Information über wichtige Ereignisse oder Anleitung zur Lebens- und Krisenbewältigung zu befriedigen. Die Produzenten frühneuzeitlicher Publizistik verbinden in der Regel mit ihren Erzeugnissen noch andere Absichten. Neben kommerziellen sind es in erster Linie politische und konfessionelle Interessen, die Form und Inhalt der Veröffentlichungen bestimmen. Ein nicht unwesentlicher Teil der Publizistik des 16. und 17. Jahrhunderts ist offiziellen oder offiziösen Ursprungs und vertritt damit direkt die Anliegen der Staatsgewalt. Eine weitere Gruppe von Tagesliteratur dient den Interessen spezifischer konfessioneller und politischer Parteien und wird meist dort publiziert, wo die propagierten Denk- und Handlungsweisen in Einklang mit den Wünsc~en d~r jeweiligen politischen und religiösen Obrigkeiten stehen. Obwohl SIch dIe frühneuzeitliche Publizistik, wie aus den bisherigen Ausführungen zu ersehen ist, nicht immer in den Dienst parteienspezifischer Ziele stellt, muß ein Großteil der publizistischen Produktion des 16. und 17. Jahrhunderts als im weite8 Die wohl berühmteste Sammlung von Wunderzeichenblättern wurde vom Zürcher Ratsherrn Johannes Wiek (1522-1588) angelegt. Vgl. dazu Bruno Weber (Hrsg.), Erschröckliehe und warhafftige Wunderzeichen 1543-1586. Faksimiledruck von Einblattdrucken aus der Sammlung Wikiana in der Zentralbibliothek Zürich. Zürich 1971, und den da~u gehörigen Kommentarband: ders., Wunderzeichen und. ~inkeldruc~er 15~3-:-1586 ...E!nblattdrucke aus der Sammlung Wikiana in der Zentralblbhothek Zünch. Dletlkon-Zunch 1972. Vgl. auch Wolfgang HannslMichael Schilling (Hrsg.), Deutsch.e i~lustriert~ ~lugblät ter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 7: Die Sammlung der Zentralblbhothek Zunch. T. 2: Die Wickiana II (1570-1588). Kommentierte Ausgabe. Tübingen 1997. 9 Vgl. Wolfgang HarmslMichael SchillinglBarbara Bauer/Cornelia Kemp (Hrsg.), Deut~ sehe illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 1: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Ethica. Physica. Tübingen 1985, Nr. 1-178, und HarmslKemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm.7), Bd.4, Nr. 6-59. Nicht alle der unter "Ethica" aufgeführten Blätter bedienen sich der Satire. Sie sind jedoch insgesamt gekennzeichnet durch eine didaktische Grundhaltung, die auf die Vermittlung ethischer Normen zielt. 10 Vgl. HarmslSchillinglBauerlKemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 9), Bd. 1, NI. 179-241, und Harms/Kemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 7), Bd. 4, Nr. 287-300a. 11 Vgl. HannslKemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 7), Bd. 4, Nr. 308-311.
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Silvia Serena Tschopp
sten Sinne propagandistisch angesehen werden. Flugblatt und Flugschrift vermitteln nicht nur Informationen, sie reflektieren und kommentieren politische, religiöse und ökonomische Erfahrungen und tragen so in erheblichem Maße zur Meinungsbildung innerhalb einer seit dem 16. Jahrhundert zunehmend breiteren Öffentlichkeit bei. 12 Es ist denn auch kein Zufall, daß es politischkonfessionelle Konfliktsituationen wie im 16. Jahrhundert die Reformation oder im 17. Jahrhundert der Dreißigjährige Krieg waren, die zu einem massiven Anstieg der publizistischen Produktion geführt haben.
Ir. Brautmetaphorik in der Publizistik zur Eroberung Magdeburgs im Jahre 1631 Kaum ein Ereignis des Dreißigjährigen Kriegs hat derart zahlreiche und heftige publizistische Reaktionen hervorgerufen wie die Eroberung Magdeburgs im Jahre 1631. Auf den in Aussicht gestellten Sukkurs durch schwedische Truppen hoffend, hatte der Rat der protestantischen Hansestadt eine Übergabe an die vor den Mauern lagernden ligistischen Truppen verweigert. Am 20. Mai stürmten die Belagerer die Stadt. Ein verheerender Brand und die durch die kaiserlichen Soldaten begangenen Massaker an der Bevölkerung führten zur fast gänzlichen Vernichtung Magdeburgs. Das Vorgehen des Ligaheers rief in den evangelischen Gebieten des Reichs Empörung hervor und dürfte auch bei Katholiken zu Irritationen geführt haben. Die Zahl und der Tenor der katholischen Publikationen stützen die Vermutung, daß man es auf kaiserlicher Seite für notwendig hielt, das Geschehen zu rechtfertigen, um Vorwürfen, auch aus dem eigenen Lager, zuvorzukommen. Zwar betonen die katholischen Autoren mit Rückgriff auf reichsrechtliche Argumente wiederholt die Legitimität der Belagerung und Eroberung Magdeburgs, der moralischen Verm1eilung der kaiserlichen, Victoria', wie sie vor allem in Flugschriften und Flugblättern evangelischer Provenienz begegnet, hatten sie, angesichts der Brutalität, mit der gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen worden war, wenig entgegenzusetzen. 13 Auch die meist schwedisch gesinnten protestantischen Publizisten befanden sich allerdings in einer prekären Situation, 12 Zur Problematik des Begriffs ,Öffentlichkeit' vgl. zuletzt Vlrich Rosseaux, Die ](jpper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620-1626). Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 67.) Berlin 2001, 19-21 (dort weiterführende Literatur). 13 Zur juristischen bzw. moralischen Begründung der Ereignisse rund um die Eroberung Magdeburgs vgl. Michael Kaiser, "Excidium Magdeburgense". Beobachtungen zur Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg, in: Markus Meumann/ Dirk Niefanger (Hrsg.), Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Göttingen 1997,43-64, hier 51-55.
stellte doch der von Schweden angekündigte, jedoch nicht rechtzeitig erfolgte Entsatz der belagerten Stadt ein argumentativ nur schwer zu bewältigendes Problem dar. Die außerordentlich große Zahl an Publikationen, die unmittelbar nach der Zerstörung der einst mächtigen Hansestadt zur Veröffentlichung gelangten, läßt sich demzufolge auch damit erklären, daß sowohl der Wiener Hof als auch das schwedische Hauptquartier unter Rechtfertigungsdruck standen. Durch Werner Lahnes einschlägige Studie sind wir über das Medienecho, welches die Katastrophe von Magdeburg bewirkte, umfassend informiert. In den in- und ausländischen Zeitungen wurde über die Ereignisse in Magdeburg ausführlich berichtet, wobei sich die Drucker nicht selten auf amtliche Berichterstattung stützen konnten. 14 Es überrascht deshalb nicht, daß die periodische Presse, die durch ihre Erscheinungsweise ohnehin dem Zugriff der Zensur stärker ausgeliefert war als Einblattdrucke und Flugschriften und deshalb eine vergleichsweise neutrale Darstellungsform pflegte, sich um eine eher informierende als wertende Rekonstruktion der Voraussetzungen und des Verlaufs der Eroberung und Zerstörung Magdeburgs bemüht und die Nähe zu offiziellen Positionen nicht verleugnet. Anders die Flugblatt- und Flugschriftenpublizistik, die in der Regel pointierter Stellung bezieht und damit ganz wesentlich zur Meinungsbildung beiträgt. Ungeachtet ihres bisweilen offiziellen oder offiziösen Charakters bieten Flugschriften und Flugblätter in weit höherem Maße als Zeitungen die Möglichkeit, eine spezifische politisch-konfessionelle Haltung zu legitimieren bzw. anzugreifen: Betonen die publizistischen Manifestationen katholischer Herkunft denn auch die Rechtmäßigkeit des kaiserlichen Vorgehens und weisen die Schuld an der Katastrophe den Magdeburger Bürgern zu, die nicht bereit gewesen seien, die Hand zu einer unblutigen Übergabe der Stadt zu bieten, so verurteilen die Schriften evangelischer Autoren die Grausamkeit, mit der die kaiserlichen Generäle und ihre Truppen die Eroberung der vordem blühenden Stadt bewerkstelligt hätten. 15 Es sind gerade jene in großer Zahl erschienenen Flugschriften und Flugblätter, die aus eindeutig katholischer bzw. evangelischer Sicht in den Meinungskampf eingreifen, welche sich für unsere Fragestellung als von Belang erweisen. In ihnen kommt nämlich ein Bildkomplex zum Tragen, der auch in den um Neutralität bemühten Drucken bisweilen anklingt und der innerhalß' der Publizistik zur Belagerung und Eroberung Magdeburgs bald geradezu Vgl. Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 5-38. Eine differenziertere Darstellung der sowohl in amtlichen und offiziösen wie auch in ,privaten' Flugschriften vertretenen Positionen bietet Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 41-184. Zur Flugblattpublizistik vgl. ebd. 187-205. Eine große Zahl anläßlich der Belagerung und Eroberung Magdeburgs erschienener Flugblätter ist abgebildet in: lohn Roger Paas, The German Political Broadsheet 1600-1700. Vol. 5: 1630 and 1631. Wiesbaden 1996, P-1335-P-1369. 14 15
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topische Qualität gewinnt: die metaphorische Darstellung der Stadt als umworbene Jungfrau. Es ist diese in publizistischen Äußerungen stereotyp beschworene Imagination Magdeburgs als ,Jungfrau' bzw. ,Braut', der im folgenden anhand einiget ausgewählter flugschriften und Flugblätter nachgegangen werden soll. Wie zu zeigen sein wird, ist die Vorstellung der protestantischen Hansestadt als Figuration bedrängter Weiblichkeit mit all ihren argumentativen Implikationen besonders geeignet, das für frühneuzeitliche Publizistik konstitutive "Wort-Bild-Geflecht"16 mitsamt dem ihm inhärenten Funktionspotential zu erhellen. Als "Haimbführung der fürnemmen, / Weitberümbten vnd [... ] vnüberwindlichen Gesponß vnd Jungkfräwlichen Statt Magdeburg" wird im Titel einer bereits Ende Mai 1631 in Druck gegangenen katholischen Flugschrift die Eroberung Magdeburgs bezeichnet.!7 Der Vergleich Magdeburgs mit einer jungfräulichen Braut ist keinesfalls originell, er fügt sich vielmehr ein in eine längere Tradition allegorischer Städtedarstellungen. 18 Daß Magdeburg allerdings derart oft und in unterschiedlichsten Zusammenhängen als weibliche Personifikation in Erscheinung tritt, hängt wesentlich mit dem Namen und dem Wappen der Stadt zusammen, das eine von zwei Türmen flankierte über einem Stadttor aufrecht stehende Frauenfigur zeigt, die in ihrer erhobenen rechten Hand einen Kranz trägt. 19 Ein in die Antike zurückreichender Gründungsmythos, heraldische Bildlichkeit sowie der damit in Verbindung stehende Name der Hansestadt bilden das Fundament für jene Gleichsetzung von Magdeburg mit ,Braut' bzw. ,Jungfrau', die in den 1631 publizierten Flugschriften und Flugblättern auf vielfältige Weise reproduziert wird. 2o
16 Wolfgang Hanns, Einleitung, in: Harms/SchillinglBauer/Kemp (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 9), Bd. 1, VII-XXX, hier XII. 17 S~~marischer Ext~act / Vnd Glaubwürdiger Bericht / von Erober: vnd Haimbführung der furnemmen / Weltberümbten vnd [... ] vnüberwindlichen Gesponß vnd Jungkfräwlichen Statt Magdeburg [... ], 1631. V gl. Paul Hohenemser, Flugschriftensammlung Gustav Freytag. Hildesheim 1966, Nr. 5439. 18 V gl. Ulinka Ruhlaek, Metze und Magd. Frauen, Krieg und Bildfunktion des Weiblichen in deutschen Städten der Frühen Neuzeit, in: Sibylle BackmannlHans-Jörg Künast/Sabine Ullmann/Ann B. Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. (Colloquia Augustana, Bd. 8.) Ber1in 1998, 199-222. l~ Eine b.esonders eindrückliche frühe Reproduktion des Magdeburger Wappens findet Sich auf emem ISS 1 erschienenen Flugblatt. Das Blatt ist abgebildet in Ruhlaek, Metze und Magd(wie Anm. 18),220. 20 Vgl. dazu Martin Knauer, " ... das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläfft ... ". Die Eroberung Magdeburgs als heilsgeschichtliches Ereignis, in: " ... gantz verheeret!" Magdeburg und der Dreißigjährige Krieg. Beiträge zur Stadtgeschichte und Katalog zur Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Magdeburg im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen 2. Oktober 1998 bis 31. Januar 1999. (Magdeburger Museumsschriften, Bd. 6.) Magdeburg 1998, ?1-79, hier 72. Eine ausführlichere Darstellung des Gründungsmythos Magdeburgs und eme Erklärung ihres Namens findet sich in der Flugschrift: Kurtze vnd Warhaffte Beschreibung Vom Vhrsprunge vnnd Erbawung der nunmehr gewesenen für-
Es ist vor allem die katholische Publizistik, welche die Eroberung Magdeburg s als erfolgreiche Brautwerbung beschreibt. So stellt das in mehreren Varianten überlieferte Blatt "CAPITVLATIONES Was gestalt Herrn General Graffen von Tilly den 20. May 1631. die alte Iunckfraw zu Magdeburg veerHeirat worden" die von dem als Brautvater fungierenden schwedischen König geleitete und von den als Brautführer bezeichneten Repräsentanten der Reichsstädte Augsburg und Regensburg flankierte als Braut gekleidete Personifikation Magdeburgs dar, wie sie ihrem Bräutigam, General Tilly, zugeführt wird. 21 Dieselbe Szene bildet den graphischen Teil eines anderen katholischen Einblattdrucks mit dem Titel "Magdeburgisch Hochzeit Lied", der die Einnahme der Stadt als eheliche Verbindung mit dem Brautwerber Tilly beschreibt. 22 Magdeburg, die sich, da sie dem schwedischen König versprochen sei, zunächst weigert, der Werbung Tillys nachzugeben, wird schließlich von diesem überwunden und mit ihm als ihrem rechtmäßigen Ehemann vermählt. Es ist gerade die von katholischen Autoren behauptete Legitimität der ,Magdeburgischen Hochzeit', die in Publikationen protestantischer Provenienz in Frage gestellt wird. In "Klägliches Beylager Der Magdeburgischen Dame / so sie den 10. Maij dieses 1631. Jahrs / mit ihrem Blutdürstigen Gemahl/dem Tylli gehalten" werden die Umstände der Hochzeit einer scharfen Kritik unterzogen. 23 Das "HochzeitMahl", zu dem der "newe Bräutigam" Tilly geladen habe, trägt alle Zeichen der Gewalt, mit der die Hochzeit erzwungen wurde, in sich. So erscheinen die "HochzeitSpeisen" als "das rothe MenschenBlut / Vnd jhr verstorben Fleisch", das die Eroberung der Stadt gekostet hat, und die Braut verweigert sich ihrem Zukünftigen mit den Worten: Jeh mag noch sol fürwar dein liebster Schatz nicht seyn / Jndem du mit Gewalt mir nimbst mein Kräntzelein. Nimb hin den Leibes=Krantz / den du hast offt begehret / Nimb hin mein Jungfraw=Kleid / so dir jetzt ist bescheret [... ] Du hast dem Leibe nach mich zwar gemacht zu schanden / Doch ist die Jungfrawschafft der Seelen noch verhanden / Der kanstu mich (nechst Gott) berauben nimmermehr / Wann du gleich für vnd für auch wütest noch so sehr.
nehmen Evangelischen Handelstad Magdeburg [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr. 5422. 21 Wolfgang HarmslMiehaeI SehillinglAndreas Wang (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flug?lätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek m Wolfenbüttel. Historica. Kommentierte Ausgabe. Tübingen 1997, Nr. 227. Varianten des Blatts finden sich in Paas, German Political Broadsheet (wie Anm. 15), P-1356-P-1362. 22 Das Flugblatt ist abgedruckt in Paas, German Political Broadsheet (wie Anm. 15) P-1355. ' 23 Das Flugblatt ist abgedruckt in Paas, German Political Broadsheet (wie Anm. 15), P-1363. Auch von diesem Blatt sind mehrere Varianten überliefert; vgl. ebd. P-1363P-1367.
Der Text des Blattes endet mit dem Bekenntnis Magdeburgs: Ein ander liebet mich / einm andern wil ich geben Den grünen Seelen Krantz / der wird in jenem Leben Mein liebster Bräutgam seyn / vnd ich die liebste Braut / Weil ich durch Gottes Wort / jhm gäntzlich biu,yertrawt.
Die Identität des wahren Bräutigams, dem Magdeburgs Liebe gehört, ist nur scheinbar evident. Zwar ist davon auszugehen, daß in erster Linie an Christus gedacht ist, mit dem sich die Braut verbinden wird, wenn sie ihrem irdischen Unglück für immer entronnen ist, der wiederholte Hinweis auf Gustav H. Adolf als den auserwählten Bräutigam Magdeburgs in protestantischer Publizistik dürfte bei zeitgenössischen Lesern allerdings auch eine politischere Deutung der oben zitierten Worte begünstigt haben. Eine zentrale Rolle spielt die Brautbildlichkeit beispielsweise in der Flugschrift "Tröstliches Gespräch / Königlicher Majest[ät] in Schweden / mit der [... ] Stadt Magdeburg".24 Im nach Art eines Brautgesprächs verfaßten Dialog zwischen dem schwedischen König und der "Jungfraw" Magdeburg tritt der evangelische Monarch, dem die Stadt nach eigener Aussage "hoch verlobt" (Aiiijv) ist, als Rächer der vergewaltigten Braut auf. Mit Hilfe petrarkistischer Formeln schildert Magdeburg das ihr angetane Unrecht und den dadurch bewirkten Verlust ihrer früheren Schönheit: Wend her dein Angesicht / schaw die verbrannte Haaren / So vor mit weicher Seiden vnd Gold geflochten waren / Schaw die versengte Stirn / so vor als Helffenbein / Schaw Wang vnd Lippen an / zuvor als Röselein / Sich / meiner Augen glantz vbertraff Diamandn / Vnd Edelste Saphier / alle die mich nur kantn Gabn meiner Schönheit ruhm / mein Leib war weiß vnd klar / Jetzt hat ihn Schwert vnd Flamm geschändet gantz vnd gar. [ ... ] Jch / Jch war die Jungfraw / die weder Pfeil noch Bogn / Noch Macht / noch Tyranney / zur Vnzucht hat bewogn / Mit Lieb man buhlen muß: Mit Gwalt ich bin geschwächt / Doch mein hoch Edles Hertz ein ewig Kräntzlein trägt. (Aiijr-Aiijv)
Der schwedische König verspricht daraufhin der Stadt Magdeburg, sie zu rächen und tröstet sie mit dem Worten:
o Edles Magdeburg / wie hett ich deiner Kronen / Zu Ehren keine müh vnd arbeit wollen schonen: Was Kronen Krantz / hett ich wol können sagen An statt deß Krantz / solt du ein Krone tragen / Vnd zwar in Rechter Hand / weil du in diesem Tantz Jn lincker Hand / vnschuldig / verlohrn deinen Krantz [... ] (Br) 24 Tröstliches Gespräch / Königlicher Majest. in Schweden / mit der / von aller Welt verlassenen / nunmehr verheelien und verösigten Stadt Magdeburg [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr. 4562.
Das metaphorische Spiel mit Brautkrone und Jungfe:nkranz verwei.s~ nich~.nur . mal mehr auf den Bildkomplex der ,Magdeburglschen HochzeIt, er ruckt ::leichjene Jungfräulichkeit M.agdeburgs in den Blick: welche in einer Vielzahl von Schriften sowohl katholIschen als auch evangelIschen Urspr~ng~ theatisiert wird. In den dem kaiserlichen Lager nahestehenden PublIkatIOnen mrscheint Magdeburg wiederholt als Jungfrau, die sich bereits einmal -. gee eint ist die Ablehnung des Augsburger Interims durch die streng luthensche ~adt in den Jahren 1550/51 - dem Kaiser verweigerte und sich nun endlich ihrem Gebieter zu beugen habe. 25 So zeigt das Flugblatt "Abbildung 'Yas gestalt Herr Graff von Tilly [... ] bey den Magdenburger gehalten frey shlessen" den General des Ligaheers bei einem Schützenfest, das ihm als Trophäe das Magdeburgisch Junckfreylein" einbringt26 , und in der Flugschrift "Alte vnd Newe Zeitung Von der weitbekandten Stadt Magdenburg" heißt es 27 : Vor Jahren hat die alte Magd / Dem Kayser einen Tantz versagt. Jetz Tantzt sie mit dem alten Knecht / So gschicht den stoltzen Mägden recht. Es ware nie kein NVSS so hart / Die endtlich nicht auffbissen ward. Gott seye Ehr / Preyß vnd Danck. (Ciiijr)
Was in der katholischen Publizistik als legitime Unterwerfung einer Widerspenstigen dargestellt wird, erscheint bei evangelischen Autoren mit Rückgriff auf dieselbe Bildlichkeit als ungesetzliche Attacke auf eine Unschuldige. In der Dialogflugschrift "Tittel Seines Geldes wol werth" wendet sich Tilly zunächst voller Ehrerbietung an Magdeburg, die er als "Ehrbar und tugendsame, Hochgeehrte Jungfrau" und "zarte, schöne Maid" anspricht. 28 Die Stadt erteilt Eine ähnliche Vorstellung bringt allerdings auch ein von Martin Opitz stammendes Gedicht zum Ausdruck, das in einer von ihrer Tendenz her als protestantisch einzustufendenden Wochenzeitung abgedruckt wurde. Vgl. Claus Lenz, Die Jungfrau und der PoetMartin Opitz über die Eroberung Magdeburgs, in: Simpliciana 9, 1987, 193-203. Der Text des Gedichts zitiert nach ebd. 194, lautet: "Die stets alleine schlieff / die züchtig Alte Magt / Von Tausendt gehofft / vnd Tausenden versagt / Die Carl zuvor / vnd jtzt der Marggraff hat begehrt / Doch jenem nicht / vnd dem nicht lenger war gewehrt / (Weil jene~ ehelich war / vnd dieser Bischoff ist / Vnd keine Jungfraw / Ihr ein frembdes bett erkIest)J Kliegt Tylli / also kompt jtzt keusch / mit keuschen Flammen / Vnd Jungfraw und [!] Geselle / Alt vnd Alt zusammen." 26 Harms/SchillinglWang (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 21), Bd. 2, NI'. 235. 27 Der vollständige Titel lautet: Alte vnd Newe Zeitung VOn der weitbekanndten Stadt Magdenburg / welche / auß gerechtem Vrtheil GOttes / jhr verdiente Straff / wegen jhres vor 80. Jahren verübten gros sen Muetwillens / den 20. Maij diß lauffendes 1631. Jah~s erschröcklich außgestanden. [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (WIe Anm. 17), Nr. 5488. 28 Die Flugschrift ist auszugsweise abgedruckt in Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth, Die historisch-politischen Volkslieder des dreißigjährigen Krieges [... ] Hrsg. v. Karl 25
90 dem "Bayer", der als "Bräutigam und Freier" um die Jungfrau wirbt29 , einen Korb und veranlaßt ihn zur Drohung "Ei nu, Du schnöde Metze, Weisest du ab so mich, So sag ich Dir zur Letzte, Es soll gereuen Dich"30. Statt sich dem "Jungfruwschänder"31 auszuliefern, zieht Magdeburg es daraufhin vor, sich, dem Vorbild Lucretias folgend, den Tod~zu geben32 . Auch an anderer Stelle wird Tilly als "alte[r] geile[r] Bock" geschmäht, der die Jungfrau Magdeburg aufgrund seiner "Huren-Lieb [... ] in Vnehr" begehrte und dem sich die Stadt durch Selbstvernichtung entzogen habe. 33 So heißt es in einem im Anhang der Flugschrift "Repudium Venetianum" befindlichen "Verslein"34: Tyllische Victoria vor Magdeburg. DJeweil die alte Dirn / die züchtig alte Magd / Dem alten Corporal den Beyschlaff hat versagt / V nd weil sie mit gewalt darzu gebracht solt werden / Wüntzscht sie jhr auch so bald nicht mehr zu sein auff Erden / Stirbt als ein Keusche Magd / vnd solchen Ruhm erhelt. Von dem mann sagen wird / so lange steht die Welt. Denn ehe die Jungfraw wolt beym losen Pfaffen liegen / Ehe sie gen Himmel auff im Fewr hat wollen fliegen. Was dünckt nun Tylli dich? Verlohnt sichs auch der Müh? Daß du der guten Magd wöllst greiffen an die Knie / Vnd vber diesen Grieff gelassen auff den Plan / Von deinen schönen Volck etliche Tausent Mann? Glück zu! (Biijv)
In einem der zahlreichen Drucke, welche 1631 die bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandene Magdeburger Elegie des Petrus Lotichius Secundus noch einmal ins Bewußtsein der Zeitgenossen holten35 , finden sich in Bartsch. Heidelberg 1882, 152-163. Die zitierten Stellen finden sich auf S. 152 (T. 1, Strophen 1 bzw. 3). 29 Ebd. 153 (T. 1, Strophe 9). 30 Ebd. 159 (T. 2, Strophe 2). 31 Ebd. 160 (T. 2, Strophe 13). 32 V gl. ebd. (T. 2, Strophe 14). Der Untergang Magdeburgs wird in mehreren Schriften mit der Selbsttötung der Römerin Lucretia verglichen, so beispielsweise in der Flugschrift: Ein Liedlein / Von elender vnd erbärmlicher Einäscherung der Christlichen vnd hochrühmlichen Stadt / Magdeburg. Zitiert nach Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 179, heißt es dort: "Magdeburg, du keusche Dirne, du mänlich taffer Magt, / Dein Zucht berühmt ist ferne, sehr tapffer hast gewagt, / Lucretia dir ein Beispiel ist, / Ihr Zucht mit deinem Todte / Weit vberwunden hast. / Lucretia ward geschendet, doch nur an jhrem Leib, / Mit Leib vnd Seel verblendet, dich wolt haben zum Weib, / Per Forza der Catholisch Gott, / Sein werben war vergebens, / Es war dir nur ein Spott." 33 Zitiert nach Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 163. 34 Repudium Venetianum, Das ist: Der Venedische Korb / Vnd abschlägige Antwort / welche die Venediger einem Königlichen Gesandten aus Franckreich / wegen restituierung der Jesuiter gegeben haben [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr.5476. 35 Zu Petrus Lotichius Secundus' Elegien und insbesondere dessen Magdeburger Elegie vgl. Wilhelm Kühlmann, Magdeburg in der zeitgeschichtlichen Verspublizistik (1551/
·n·em Sonnet / Auff einer keuschen Magd / höchst kläglichen doch rühmel " lichen Vnfall" folgende Zeilen36 : So hastu / keusche Magd / viellieber wollen sterben / Für deine Freyheit alt / für deine Zucht vnd Ehr / Für dein' erkante - recht vnd recht - bekante Lehr / AIß mit unkeuscher Lieb beflecken dich vnd ferben? (Bijr)
Es sind denn auch vor allem die protestantischen Flugblätter und Flugschriften, in denen die Eroberung Magdeburgs explizit mit der Vergewaltigung einer Jungfrau in eins gesetzt wird. 37 In "Tyllysche Vorbereitung / zum Hingang / Zu seinem Vater" wird der Oberbefehlshaber des Ligaheers als alter Mann, der sich durch Notzucht verjüngen wolle, verspottet: Er habe Magdeburg, die als eine "in stetem Flor erwachsene, Keusche, züchtig, vnd ob wol tentiert, von je keinem doch noch berürte Dam grawsamlich angefallen" und deren "Scham gebrochen"38, und in "Thränen der Stadt Magdeburg" klagt die Stadt: "Heist mich nicht mehr Magdeburg, den ich bin geschwechet, vnd meine Jungfrawschafft ist verlohren, vnd mein blühender Krantz ist dem AItengreiß (!) auffgesetzet."39 In drastischen Worten wird schließlich in einem "Trauer=Lied" die Vernichtung der vormals blühenden Stadt beklagt. Magdeburg, einst ein "glücklichs Jungfräulein", erscheint nun als "ermordte Braut [... ], überall bedecket Mit Eisen, Asch und Blut, erschrecklich, blaß, verbrennt, Geschwollen, stinckicht, schwarz, unflätig und zerschändt, Zerschändt durch Nothzucht, auch durch Nothzucht so zerrüttet, Daß sich die Sonn entsetzt, die Erde drob erschüttet, Der Himmel selbst erschrickt".4o Daß in den 1631), in: Gunter Schandera/Michael Schilling (Hrsg.), Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes. (Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte Sachsen-Anhalts, Bd. 1.) Magdeburg 1999, 79-106, .hier 93-106. Auf ~ie Drucke, die 1631 Petrus Lotichius Secundus' Magdeburger ElegIe abdrucken, verweIst Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 183 f. 36 Der Titel der Flugschrift lautet: Nuhnmehr leider erfullete Propheceiung / Von der harten Belagerung vnd erbärmlichen Vntergang der Löblichen / weitberümbten Stadt Magde. burgk [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr. 4566. 37 Vereinzelt begegnet die Vorstellung, Magdeburg habe durch den gewaltsamen Angnff der ligistischen Truppen ihre Virginität eingebüßt, allerdings auch in katholischer Publizistik. So heißt es in einem Schreiben des Generals Gottfried Heinrich Pappenheim: "GOTT sey ewig gelobt, Magdenburg ist gedämpfft, vnd jhr Junckfrawschafft ist hinweck." D.as Schreiben findet sich in der Flugschrift "COPIA Kays: May: an etliche Reichstädt abgangens Schreiben, wie auch andere Schreiben die Stadt Magdeburg betreffendt" und ist abgedruckt in Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 67. 38 Zitiert nach Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2), 160. 39 Zitiert nach ebd. 175. 40 Das Trauer=Lied" ist Teil einer 1632 unter dem Titel "Die Buß=Psalmen in Poesie gesetzt" e~schienenen Flugschrift. Letztere ist abgedruckt in: Julius Opel/Adolj Cohn (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg. Eine Sammlung von historischen Gedichten und Prosadarstellungen. Halle 1862, 220 ff. Die zitierten Stellen finden sich auf S. 220 f. Verfasser des Gedichts ist Diederich von dem Werder; vgl. Kühlmann, Magdeburg in der zeitgeschichtlichen Verspublizistik (wie Anm. 35), 104f.
Rhetorik des Bildes
Berichten über die Einnahme Magdeburgs mit bemerkenswerter Häufigkeit die an Magdeburger Mädchen und Frauen durch kaiserliche Soldaten begangene sexuelle Gewalt geschildert wird, ist in diesem Kontext zu sehen. 41 Zwar gehört der Hinweis auf die Schändung vo~ Frauen zu den Topoi nicht nur der frühneuzeitlichen Kriegsberichterstattung und beschreibt im übrigen eine gängige, nur selten geahndete Praxis marodierender Soldaten, im Zusammenhang mit der Eroberung Magdeburgs kommt ihm jedoch besondere Relevanz zu. Daß es im Zuge der Einnahme und Plünderung der Stadt zu zahlreichen Vergewaltigungen gekommen ist, läßt sich angesichts der Quellenlage nur vermuten; immerhin spricht die auch von katholischen Augenzeugen bestätigte Grausamkeit, mit der die kaiserlichen Soldaten gegen die zivile Bevölkerung vorgingen, dafür, daß die sexuelle Mißhandlung von Frauen das kriegsübliche Maß überschritten hat. 42 Aus der Sicht der Publizisten entscheidender ist, daß durch die wiederholte Erwähnung der an Frauen begangenen Greueltaten realhistorisches Geschehen und metaphorische Repräsentation in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Indem die Verfasser von Flugblättern und Flugschriften konkretes Ereignis und bildhafte Gestaltung konvergieren lassen, verleihen sie ihren Aussagen zusätzliche Plausibilität. Dies dürfte auch der Autor einer in der Flugschrift "Eucharii Eleutherii / fax magdeburgica" abgedruckten "Klage" bezweckt haben, wenn er Magdeburg zunächst als "elende Dama", um deren "Zucht, Ehr und Schame" es nun "ganz geschehn" sei, weil deren "Buhl" ihr das "Ehren=Kränzelein" zerrissen habe, einführt, um anschließend darauf hinzuweisen, daß ,,[m]anch keusch Jungfrau von Ehren [... ] jämmerlich geschändt" worden sei. 43 Die vorgängig zitierten Belegstellen mögen genügen, um deutlich werden zu lassen, welche Signifikanz der Braut- und Jungfräulichkeitsbildlichkeit in jenen publizistischen Drucken zukommt, die im Zusammenhang mit der Einnahme Magdeburgs durch kaiserliche Truppen veröffentlicht wurden. Sowohl in Zeitungen als auch im offiziellen und offiziösen Tagesschrifttum, vor allem 41 Nicht nur in Flugblättern und Flugschriften wird über die systematische Vergewaltigung der weiblichen Gefangenen berichtet, auch in Zeitungen finden sich zahlreiche diesbezügliche Hinweise. So heißt es etwa, es seien "viel Frauen Zimmer hinweg geführet, vnd geschendet worden"; vgl. Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2),21; ,,[d]ie Frawen vnd Töchter so dem Fewer entrunnen, [habe] man in das Läger geführt, vnd den Soldaten preiß geben", sie seien daraufuin "von einem Soldaten dem andern verkaufft vnnd vbergelassen worden" (v gl. ebd. 27), und in einem "Aviso" aus Nürnberg hält der Verfasser fest: "Die üble Behandlung, welche Magdeburg erfahren, wo diejenigen Mädchen und Frauen, welche das Feuer verschont (mit Ausnahme der wenigen Edelfrauen so gerettet worden), verkauft und geschändet wurden, hat den Mut der Protestanten viel mehr erregt denn niedergeschlagen [... ]" (vgl. ebd. 37). 42 Vgl. Kaiser, Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm. 13),43-46. 43 Der Text der Klage ist abgedruckt in Ditfurth, Die historisch-politischen Volkslieder (wie Anm. 28), 150f. Die zitierten Stellen finden sich auf S. 150 (Strophen 1 bzw. 5).
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'edoch in den primär propagandistisch ausgerichteten Flugschriften und
~lugblättern erfährt der Topos der Magdeburgischen Jungfrau vielfältige Ak-
tualisierungen. Bemerkenswert ist dabei, daß die formal durchaus unterschiedlichen Publikations typen Flugschrift und Flugblatt sich als weitgehend funktionsäquivalent erweisen. Zwar bieten insbesondere die offiziellen und offiziösen Drucke Raum für eine ausführlichere Beschreibung der Ereignisse rund um die Belagerung und Zerstörung der protestantischen Hansestadt und betonen nicht selten die Authentizität und historische Zuverlässigkeit ihrer Berichterstattung, sowohl in Flugschriften als auch in Flugblättern geht es jedoch in erster Linie darum, zeitgeschichtliches Geschehen einer politisch und konfessionell begründeten Deutung zu unterziehen. Dies gilt gleichermaßen für katholische und evangelische Drucke. Die auf der Linie des Wiener Hofs argumentierenden Autoren bedienen sich, wie der Blick auf exemplarische Flugschriften und Flugblätter ebenfalls offenbart hat, ein und desselben Bildmusters, um die Belagerung und Eroberung Magdeburgs zu beschreiben und zu deuten. Die Publizistik zur Eroberung der protestantischen Metropole erscheint so in ihrer Gesamtheit als ein vernetztes System, innerhalb dessen das stereotyp verwendete Bild der umworbenen und schließlich bezwungenen Jungfrau Magdeburg sein Funktionspotential entfaltet.
III. Verbum und pictura. Funktionsweisen sprachlicher und graphischer Bildlichkeit im Kontext politischkonfessioneller Argumentation Es kann in den nun folgenden abschließenden Überlegungen nicht darum gehen, eine umfassende Analyse der vielfältigen Funktionsweisen und damit verbunden der kommunikativen Leistung frühneuzeitlicher Publizistik zu versuchen. Gefragt wird vielmehr danach, welche spezifischen Möglichkeiten der persuasio der Rückgriff auf sprachliche und graphische Bildformeln im Kontext politischer Argumentation beinhaltet. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß Flugschriften und Flugblätter sich hinsichtlich ihrer formalen Struk~. tur unterscheiden. Inwiefern Differenzen in der formalen Gestaltung die Wir~ kungsweise der hier interessierenden Medien determinieren, bedarf also zunächst einer Klärung. Anders als die Flugschrift, die gerade im 17. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen eine Titelgraphik aufweist, ist das Flugblatt so gut wie immer illustriert, verfügt demnach nicht nur über eine verbale, sondern auch über eine graphische Bildsprache. In den meinen bisherigen Ausführungen zugrundeliegenden Einblattdrucken bildet die Illustration in der Regel allerdings kein eigenständiges Zeichensystem, das von dem im selben Zusammenhang pub li zier-
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Si/via Serena Tschopp
ten Text unabhängige Bedeutungen generiert; Text und Bild scheinen vielmehr aufs engste verwoben, wobei die pictura sich nicht notwendigerweise in den Dienst des verbums stellen muß, wie dies das in der Frühen Neuzeit dominierende theologisch fundierte B~ldverständnis fordert. 44 So inszeniert der graphische Teil in "Abbildung Was gestalt Herr Graff von Tilly [... ] bey den Magdenburger gehalten frey shiessen" die Erstürmung Magdeburgs als jenes Schützenfest, das auch der Text satirisch beschreibt, und betont die Korrelation zwischen Text und Illustration durch mehrere Bildinschriften. Auch in "CAPITVLATIONES Was gestalt Herrn General Graffen von Tilly den 20. May 163l. die alte Iunckfraw zu Magdeburg veerHeirat worden" dient das Mittel der inscriptio einer stärkeren Verschränkung von Graphik und erläuterndem Text, wobei hier die bildliche Darstellung die dominierende Rolle einnimmt. Eigenständiger in seiner Aussage wirkt der Kupferstich in "Klägliches Beylager Der Magdeburgischen Dame / so sie den 10. Maij dieses 1631. Jahrs / mit ihrem Blutdürstigen Gemahl/dem Ty lli gehalten". Daß über dem Bräutigam Tilly eine dunkle Gewitterwolke schwebt, während die weiterhin ihren Kranz hochhaltende Personifikation Magdeburgs von einer Sonne beschienen und von göttlicher Hand gekrönt wird, bringt auf augenfällige Weise den Gegensatz zwischen den bei den bildlich dargestellten Figuren zum Ausdruck. Anders als im gereimten Text erscheint Magdeburg im Bild durch ihre aufrechte Haltung und durch den zwischen ihr und ihrem Freier Tilly erkennbaren Graben als unberührt und unberührbar. Was der Autor des Blatts in seinen abschließenden Versen erst ankündigt, die Restitution der Jungfräulichkeit Magdeburgs und deren Verbindung mit ihrem göttlichen Bräutigam, wird dem Betrachter als bereits vollzogen vor Augen geführt. Bild und Text bleiben allerdings auch hier aufeinander bezogen, bilden einen komplementären Zusammenhang, der es wenig sinnvoll erscheinen läßt, Bild- und Textteil eines Flugblatts als je autonome Ausdrucksform zu verstehen. Piktoriale und sprachliche Aussage weisen demzufolge offenkundige Kongruenzen auf, bedingen sich gegenseitig45 : Ein adäquates Bildverständnis setzt in aller Regel die Kenntnis schriftlicher Überlieferung und des sprachlich vermittelten Kontexts voraus, auf die eine bildliche Darstellung unmittel-
Zum - nicht nur - theologischen Bildverständnis in der Frühen Neuzeit vgl. CarstenPeter Warncke, Sprechende Bilder - sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 33.) Wiesbaden 1987. 45 Vgl. dazu etwa Gottfried Willems, Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der Wort-Bild-Beziehungen. Skizze der methodischen Grundlagen und Perspektiven [1], in: Wolfgang Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. (Germanistische Symposien, Berichtsbände, Bd. 11.) Stuttgart 1990,414-429, hier 422ff. Eine ausführlichere Darlegung des im genannten Aufsatz Postulierten findet sich in Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 103.) Tübingen 1989. 44
bar oder mittelbar rekurriert. 46 Der Text wiederum bedient sich des Bildes, um den verbal abgesteckten Deutungsspielraum zu konturieren und um seiner Botschaft optische Prägnanz und damit stärkere Wirkung zu verleihen. Angesichts eines derart symbiotischen Verhältnisses zwischen sprachlich vermittelter und im Bild veranschaulichter Aussage scheint es kaum legitim, Flugblätter und Flugschriften als fundamental verschiedene publizistische Präsentationsmodi zu definieren. Zwar bieten Flugschriften Raum für eine ausführlichere Darstellung und Kommentierung historischen Geschehens, während Flugblätter aufgrund ihrer formalen Struktur zu größerer Prägnanz und Anschaulichkeit neigen, hinsichtlich der in ihnen begegnenden argumentativen Strategien und vor allem hinsichtlich der Bedeutung, die bildliche Aussagen im Kontext dieser argumentativen Strategien gewinnen, weisen sie jedoch auffällige Übereinstimmungen auf. Auch wer die besondere Eignung des Flugblatts für propagandistische Zwecke postuliert, weil es durch die Kombination von Text und Graphik die dem Medium Sprache und dem Medium Bild inhärenten rhetorischen Wirkungsmöglichkeiten auf umfassende Weise nutzt, wird den vorgängig behaupteten komplementären Charakter der Relation zwischen Flugschrift und Flugblatt nicht negieren können. Es sind die durch Flugschriften argumentativ untermauerten ,Schlagworte', welche die volle Bedeutung einer Flugblattillustration ins Bewußtsein der Rezipienten treten lassen, und es sind zugleich die in Einblattdrucken begegnenden ,Schlagbilder' , welche den Verbalisierungen historischer Erfahrung in Flugschriften Einprägsamkeit verleihen. Die beiden Publikationstypen bleiben ungeachtet formaler Differenzen in funktionaler Hinsicht aufeinander verwiesen; sie partizipieren gemeinsam an jenen öffentlichen Diskursen, welche die politischen und konfessionellen Konflikte seit dem 16. Jahrhundert begleiten. Die enge Verschränkung zwischen den hier interessierenden Ausformungen nichtperiodischer Publizistik resultiert wesentlich auch daraus, daß die illustrierten Einblattdrucke in der Regel einen metaphorischen bzw. allegorischen Komplex vor Augen führen, dem auch in den Flugschriften eine zentrale Rolle zukommt. Im Bild der jungfräulichen Braut gelangen in den anläßlich der Zerstörung Magdeburgs im Jahr 1631 gedruckten Flugblättern und Flugschriften verbale und graphische Darstellung zur Deckung, verbinden sich bildliche Rede und sprechendes Bild. Neben der Bild-Text-Beziehung als Relation zwischen einer wörtlichen Äußerung und einem visuell gestalteten ikonographischen Ensemble kommt so in den vorgängig untersuchten publizistischen Manifestationen auch eine, innere' Bild-Text-Beziehung zum Tra46 Was Wolfgang Harms mit Blick auf mittelalterliche Werke bildender Kunst betont, nämlich die an "Schriftlichkeit gebundene Kulturtradition und -funktion", gilt im wesentlichen auch für Bilder in frühneuzeitlichen Drucken. Vgl. Harms, Einleitung (wie Anm. 16), XI.
gen, die sich sprachlicher Einbildungskraft verdankt. Der sprachliche Tropus bildet nicht nur das Fundament für die in Flugblättern zur Zerstörung Magdeburgs begegnenden Illustrationen, er generiert auch jene mentalen Figurationen, die als Scharnierstelle zwischen graphischem und schriftlichem Ausdruck funktionieren und zugleich eine ~ngere Verzahnung von Flugblatt und Flugschrift bewirken. 47 Was leistet nun - und damit kehre ich zu meiner Ausgangsfrage zurück _ eine auf sprachliche und visuelle Bildlichkeit gestützte Argumentationsstrategie gegenüber einer Vorgehensweise, die sowohl auf graphische Illustrationen als auch auf metaphorische und allegorische Aussagemuster verzichtet? Es dürfte bereits deutlich geworden sein, daß durch die parallele Verwendung rekurrierender Bildformeln sowohl in sprachlichen als auch in graphischen Zusammenhängen die Medien Flugblatt und Flugschrift als Konstituenten ein und desselben Kommunikationssystems erkennbar werden. Es lassen sich allerdings noch andere - und wie mir scheint - wesentlichere Leistungen des , Wort-Bild-Geflechts' in frühneuzeitlicher Publizistik beschreiben: Die verbal und graphisch vermittelte Vorstellung Magdeburgs als jungfräuliche Braut steuert zum einen auf spezifische Weise die Wahrnehmung der Rezipienten, sie autorisiert und legitimiert zum andern die jeweils vertretene Position, und sie verweist schließlich und drittens auf die heils geschichtliche Relevanz des dargestellten historischen Geschehens. Das Bild ist, darüber besteht seit der Antike Konsens, durch eine Anschaulichkeit gekennzeichnet, die dem Begriff abgeht. 48 Was im Rahmen einer begrifflichen Erörterung notwendigerweise abstrakt bleiben muß, erfährt durch (sinn-)bildliche Darstellung eine Konkretisierung, welche die Perzeption durch den Leser bzw. Betrachter erleichtert. Es ist insbesondere die antike Rhetorik, die dem optischen Wahrnehmungsvermögen höchste Priorität zuge-
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Daß ~wischen einem :Imaginationsbild' als mentaler Visualisierung und einer graphi-
s~hen ?lctura ~ls tatsächl1~her f\bbildung lediglich eine graduelle, im Medium begründete,
mcht Jedoch eIlle kategorIale DIfferenz besteht, postuliert auch Wolfgang Neuber, Locus, Lemma, Motto. Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie, in: Jörg Jochen Berns~?lfg~ng Neuber (Hrsg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedachtmskunst 1400-1750. (Frühe Neuzeit, Bd. 15.) Tübingen 1993 351-372 hier 364. ' , 48 Aus der zunehmend unüberschaubaren Literatur zum Verhältnis von Text und Bild soll.en hier nur einige wenige Beiträge genannt werden: Eine systematische Skizze verschIedener .Zugänge zum Problem der '!'ext-Bild-Relation bietet Man/red Muckenhaupt, T~xt und Bll~. Grun~fragen der BeschreIbung von Text-Bild-Kommunikation aus sprachwIssens~haft.hch~r SIcht. (Tübinger Beiträge zur Linguistik, Bd. 271.) Tübingen 1986, 5-15. EIlle hIstorIsche Betrachtung und Analyse des Verhältnisses von Text und Bild leistet Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. ~icht zu überzeugen vermag die jüngst erschienene Einführung von Erich S~raßner, Te~t-BIld-Kommunikation. Bild-Text-Kommunikation. (Grundlagen der Medlenkommumkation, Bd. 13.) Tübingen 2002.
steht. So bezeichnet Cicero in "De oratore" das Sehvermögen als "sensus acerrimus"49 und weist dem Auge in der Hierarchie der Sinne den höchsten Rang zu 50 . Folgerichtig erkennen die antiken Verfasser rhetorischer Schriften in der sprachlichen Verbildlichung ein wichtiges Mittel, einer Aussage nachhaltigere Resonanz zu verleihen. Besondere Bedeutung kommt metaphorischem Ausdruck in Zusammenhang mit der memoria zu, die neben inventio, dispositio, elocutio und pronuntiatio zu den rhetorischen Grundoperationen gehört. 51 Soll eine Rede im Gedächtnis verankert werden, bedarf es einerseits der, Verräumlichung' des zu speichernden Wissens durch dessen Zuordnung zu spezifischen Merkörtern (loci) und andererseits der, Verbildlichung' des rhetorisch Vermittelten. Durch verbale Visualisierung werden Merkbilder (imagines) geschaffen, die sich dem Gedächtnis einprägen und damit jederzeit abrufbar bleiben. Diese Merkbilder nun sollen, wie Cicero betont, ,lebendig' und ,markant' sein, damit sie um so wirksamer und schneller in die Seele einzudringen vermögen und jene Evidenz erzeugen, auf die es rhetorischem Ausdruck ankommt. 52 Im Zuge einer intensiven Rezeption der antiken Rhetorik und damit verbunden der antiken ars memorativa seit dem 16. Jahrhundert gewinnt die mnemotechnische Funktion mentaler Bilder erneut an Relevanz. 53 Wenn der Nürnberger Dichter Georg Philipp Harsdörffer in seiner Vorrede zu Johann Michael Dilherrs erbaulichem ,Trostbüchlein' "Frommer Christen Täglicher Geleitsmann" (Nürnberg 1653) den Sehsinn als "Siegel
49 Marcus Tullius Cicero, De oratore / Über den Redner. Lateinisch-Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Harald Merklin. 2., durchges. u. bibliographisch erg. Aufl. Stuttgart 1991, 546 (IH 160). 50 Zur Bedeutung der optischen Anschauung in der Antike vgl. Herwig Blum, Die antike Mnemotechnik. Diss. Phil. Tübingen 1969, 164-171. 51 Zur Gedächtniskunst seit der Antike vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim 1990 (amerikanische Ausgabe: 1966). Eine kritische Revision des zum Klassiker avancierten Buches von Frances A. Yates hat kürzlich vorgelegt: Wo(fgang Neuber, Wahrnehmungen an der Oberfläche des Denkens. Zur Kanonkonstruktion der mnemonischen Literatur bei Frances Yates, in: Heinz J. Drügh/ Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuelIen Faszination durch Bilder. (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 12.) Heidelberg 2001, 57-70. Zur rhetorischen ars memorativa vgl. auch Harald Weinrich, Gedächtniskultur - Kulturgedächtnis, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 45, 1991, 567-582, und Wolfgang Neuber; Zur Topik des Sinn-Bilds im Spannungsfeld von Ars Memorativa und Emblematik (am Paradigma des "Indianers"), in: Harms (Hrsg.), Text und Bild (wie Anm. 45), 245-261, sowie vor allem BernslNeuber (Hrsg.), Ars memorativa (wie Anm. 47). Zur Bedeutung ?er Visualisierung im Kontext rhetorischer memoria vgl. Bernhard Asmuth, Art. "Imago", 111: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd.4. Tübingen 1998, 228-235. 52 Vgl. Cicero, De oratore (wie Anm. 49),436 (H 358): ,,[ ... ] imaginibus autem agentibus, acribus, insignitis, quae occurrere celeriterque percutere animum possint." 53 Vgl. Joacllim Knape, Die Stellung der memoria in der frühneuzeitlichen Rhetoriktheorie, in: Berns/Neuber (Hrsg.), Ars memorativa (wie Anm. 47), 274-285.
unsres Gedächtniß" bezeichnet54 , drückt er aus, was rhetorisch fundiertem zeitgenössischen Bildverständnis entspricht. Auch in der Frühen Neuzeit wird dem mentalen und dem graphischen Bild perspicuitas und damit verbunden eine besondere Einprägsamkeit und persuasive Kraft zugesprochen. Zwar begünstigt die Reformation eine kritischere Betrachtung mnemotechnischer Praktiken und in diesem Zusammenhang der Funktionsfähigkeit von Bildern 55 , dennoch vertraut man auch und gerade im protestantischen Kontext auf die Evidenz visueller Formeln. Dies belegen nicht zuletzt die Flugblätter und Flugschriften zur Zerstörung Magdeburgs, die durch die bewußte Kombination von graphischer und sprachlicher Darstellung bzw. mittels einprägsamer Metaphern und allegorischer Figurationen die Überzeugungskraft ihrer Botschaft zu steigern versuchen. (Sinn-)bildlicher Darstellung kommt allerdings nicht nur eine mnemotechnische Funktion zu, sie zielt zugleich auf eine Emotionalisierung der Wahrnehmung. Wenn Cicero rät, besonders ,markante' imagines zu wählen, die geeignet seien, "animum percutere"56, oder die "Rhetorica ad Herennium" empfiehlt, ungewöhnliche und erschreckende Bilder zu verwenden, um die intendierte Wirkung zu erzeugen57 , wird offenkundig, in welchem Maße Bilder auch als Mittel der Affekterregung verstanden werden. Dies läßt sich insbesondere an protestantischen Publikationen verdeutlichen. Die Darstellung Magdeburgs als Braut, die gegen ihren Willen einem ungeliebten Bräutigam vermählt wird, vor allem jedoch die Visualisierung der Einnahme der Stadt als Vergewaltigung einer Jungfrau zielt weniger auf eine rationale als vielmehr auf eine emotionale Perzeption. Der Assoziationsspielraum von ,Braut', ,Hochzeit', ,Keuschheit', ,Jungfrau', aber auch von ,Gewalt', ,Freiheitsberaubung', ,physischer Verletzung' und ,Erniedrigung' berührt rechtliche und moralische Tabubereiche, auf deren Verletzung mit einer ausschließlich 54 Johann Michael Dilherr, Frommer Christen Täglicher Geleitsmann. Das ist / Neuverfasstes Gebet= Lehr= und Trost=büchlein. Nürnberg 1653,4, zitiert nach Dietmar Peil, Zur "angewandten Emblematik" in protestantischen Erbauungsbüchern: Dilherr, Arndt, Francisci, Scriver. (Euphorion, Beihefte, Bd. 11.) Heidelberg 1978,86. Daß die Vorstellung der b~sonderen .Einprägsarnkeit von Bildern im Kontext erbaulichen Schrifttums begegnet, ist mcht zufällIg. Welche immense Bedeutung der ,Betrachtung' in der frühneuzeitlichen Frömmigkeitspraxis zukommt, erhellen gleich mehrere Beiträge im jüngst erschienenen Band von Gerhard Kurz (Hrsg.), Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. (Formen der Erinnerung, Bd. 2.) Göttingen 2000. 55 Vgl. Jörg Jochen Berns, Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung, in: BernslNeuber (Hrsg.), Ars memorativa (wie Anm. 47), 35-72. 56 Cicero, De oratore (wie Anm. 49), 436 (II 358). 57 V gl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein. ~~nchenJZür~ch 1994, 174 (III 36): "Nam si quas res in vita videmus parvas, usitatas, cottldIanas, memmisse non solemus, propterea quod nulla nova nec admirabili re commovetur animus; at si quid videmus aut audimus egregie turpe, inhonestum, inusitatum, magnum, incredibile, ridiculum, id diu meminisse consuevimus."
rationalen Wahrnehmung nicht angemessen reagiert werden kann . .Indem die im Zusammenhang mit der Belagerung und Eroberung Magdeburgs in Drukken protestantischer Provenienz verwendeten Bildformeln das historische Ereignis mit einer Vergewaltigung parallelisieren, übertragen sie außerdem geschichtliches Geschehen auf die Ebene möglicher individueller Erfahrung und fördern damit die Identifikation mit dem Opfer, d. h. der eroberten Stadt. In katholischen Drucken wiederum können mit dem satirischen Hinweis auf Magdeburg als sich verweigernde ,alte Magd', die schließlich überwunden wird, jene Reaktionen hervorgerufen werden, die auch den Gestus der Argumentation charakterisieren: Genugtuung über den endlich errungenen Sieg und Schadenfreude angesichts des bestraften Hochmuts der einst mächtigen Hansestadt. Bilder - und dies gilt gleichermaßen für mentale imagines wie für konkrete picturae - sind nicht nur durch besondere Einprägsamkeit und affizierende Wirkung gekennzeichnet, sie verfügen auch über eine spezifische ,Ökonomie', wie bereits Quintilian betont. 58 Bilder sind in der Lage, komplexe Sachverhalte, deren sprachliche Vermittlung nur durch eine längere Rede bzw. einen längeren Text zu leisten wäre, zu verdichten und als Abbreviaturen zu fungieren, welche bereits gespeicherte Wissensbestände und Befindlichkeiten abzurufen vermögen. 59 Auf die hier beschriebene ,Ökonomie' von Bildern vertrauen nicht wenige der im Zusammenhang mit der Zerstörung Magdeburgs veröffentlichten Flugblätter. Was durch eine Vielzahl von Zeitungsberichten und Flugschriften argumentativ vermittelt wird, erfährt in Flugblättern eine Visualisierung, die in engstem Zusammenhang mit der zeitgenössischen Deutung des Ereignisses zu sehen ist. Die Bildformeln ,Hochzeit', ,Braut', ,Jungfrau', , Vergewaltigung' sind, wie bereits dargelegt wurde, ohne eine zunächst sprachliche Erklärung nicht adäquat zu verstehen. Wenn jedoch die mit den genannten Bildformeln verknüpfte Botschaft erst einmal im Gedächtnis der Rezipienten gespeichert wurde, kann die Veranschaulichung durch ein vertrautes (Sinn-)Bild genügen, um die gesamten mit der Zerstörung Magdeburgs verbundenen argumentativen und affektiven Erfahrungen zu vergegenwärtigen. Es ist deshalb entscheidend, frühneuzeitliche Publizistik immer als umfassenden Kommunikationszusammenhang in den Blick zu nehmen: Flugblätter und Flugschriften zu einem Ereignis oder zu einem thematische~ 58 Quintilian definiert die metaphorische Darstellung als brevitas-Form des Vergleichs und stellt so deren besondere Prägnanz heraus. Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Institutio oratoria. Lateinisch-Italienisch. Ed. Rino Faranda/Piero Pecchiura. 2 Vols. 2. Aufl. Turin 1979, Vol. 2, 204 (VIII 6, 8), wo die "metaphora" als "brevior similitudo" bezeichnet wird. 59 Zum Bild als Abbreviatur vgl. Nikolaus Henkel, Schauen und Erinnern. Überlegungen zu Intentionalität und Appellstruktur illustrierter Einblattdrucke, in: Volker .HonemannJ Sabine Gries/Falk EisermannlMarcus Ostermann (Hrsg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien. Tübingen 2000, 209-243, hier 212f.
Komplex sind nicht jeweils isoliert zu betrachten, sie müssen vielmehr in Beziehung gesetzt werden zu all jenen medialen Äußerungen, auf die sie explizit oder implizit rekurrieren. Auch und gerade die anläßlich der Eroberung Magdeburgs veröffentlichte Publizistik bildet ein eng vernetztes und konventionalisieltes System von Argumenten und~;Gegenargumenten, von Bildern und ,Gegenbildern', das in seiner Gesamtheit betrachtet werden muß, wenn man den einzelnen Flugblättern und Flugschriften gerecht werden will. Dabei genügt es nicht, sich auf eine synchrone Perspektive zu beschränken. Die vorgängig erörterten Quellen machen vielmehr deutlich, daß ein, Wort-Bild-Geflecht' umso evidenter erscheint, je mehr es sich an einen bereits vorhandenen Erinnerungsbestand anzuschließen vermag. Die Vorstellung Magdeburgs als Jungfrau ist nicht zuletzt deshalb so wirkungsmächtig gewesen, weil sie an heraldische, historiographische, literarische und publizistische Überlieferungen anknüpfen und sich damit in einen bereits existierenden Wissenshorizont integrieren konnte. Der Rückgriff auf das Bild der bedrängten und gewaltsam überwundenen Jungfrau zielt nicht nur auf die Erzeugung rhetorischer Evidenz und damit verbunden auf eine spezifische Steuerung der Perzeption, sie dient auch einer Rechtfertigung der eigenen Position - und der Verurteilung derjenigen des politischen Gegners. Indem in protestantischen Schriften die Weigerung des Magdeburger Rats zu kapitulieren mit dem Beharren Magdeburgs auf ihrer Keuschheit in eins gesetzt wird, erübrigt sich die Frage, ob der Rat nicht klüger gehandelt hätte, wenn er in Anbetracht der prekären Situation zur unblutigen Übergabe der Stadt bereit gewesen wäre. In moralischer Hinsicht erweist sich das Handeln Magdeburgs bzw. die Entscheidung des Magdeburger Rats, den Belagerern zu trotzen, als einzig richtige Haltung. Die Angriffe des Ligaheers erscheinen im selben Kontext als ungerechtfertigt und moralisch verwerflich, richten sie sich doch gegen eine Stadt, deren Integrität als naturgegebenes Recht postuliert wird und die überdies bereits anderweitig gebunden ist, wie der wiederholte Hinweis auf die Verlobung Magdeburgs mit dem schwedischen König deutlich macht. Inwiefern das Vorgehen Tillys und seiner Truppen rechtlich abgesichert ist, steht nicht zur Diskussion; sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn als Jungfrauenschänder gebrandmarkt, verkörpert der Oberbefehlshaber des Ligaheers den in juristischer und moralischer Hinsicht Schuldigen. Ganz anders die Verfasser katholischer Publizistik, die, indem sie die Einnahme der Stadt als endlich zustande gekommene Hochzeit zwischen Magdeburg und dem ihr zugedachten Bräutigam Tilly beschreiben, die Legitimität der kaiserlichen Position betonen. Nicht die sich ihrem Gemahl verweigernde evangelische Hansestadt befindet sich im Recht, sondern Tilly, der in kaiserlichem Auftrag ihre "Haimbführung"60 bewerkstel60
Summarischer Extract / Vnd Glaubwürdiger Bericht / von Erober: vnd Haimbführung
li t. Dadurch nun, daß der Rückgriff auf die Metapher der ,Jungfrauenschänd!ng' bzw. der ,Hochzeit' sowohl mittels graphischer als auch sprachlicher Mittel erfolgt, können die damit verknüpften Bildformeln auf vielfältige Weise wiederholt und variiert werden. Die dadurch generierte Stereotypie der politisch-konfessionellen Botschaft suggeriert Evidenz, eine Evidenz, die sich nicht differenzierter Argumentation, sondern der Hartnäckigkeit, mit der die wiederkehrenden Bildformeln die Wahrnehmung des Lesers und Betrachters in Beschlag nehmen, verdankt. Was immer wieder formuliert wird, gewinnt allein durch seine Rekurrenz eine Überzeugungskraft, die kritischer Reflexion den Boden entzieht und zu jener dezidierten Stellungnahme auffordert, welche sich die Verfasser propagandistischer Publizistik von ihren Adressaten erhoffen. Die sinnbildliche Darstellung der Ereignisse vom 20. Mai 1631 als , Magdeburgische Hochzeit' bzw. als Vergewaltigung Magdeburgs ermöglicht allerdings nicht nur eine Rechtfertigung politischen Handeins, sie hebt darüber hinaus das Besondere im Allgemeinen auf, enthebt das einzelne historische Ereignis der Zeit und erhellt dessen heilsgeschichtliche Bedeutung. 61 Es ist kein Zufall, daß in den Flugschriften und Flugblättern, die nach der Eroberung Magdeburgs veröffentlicht werden, die Geschichte der Stadt in den Blick der Publizisten gerät. Die ablehnende Haltung der Stadt zum Augsburger Interim und die daran anschließende Belagerung durch kaiserliche Truppen 1550/51 werden sowohl in katholischen als auch protestantischen Drucken mit der Einnahme der Stadt im Jahr 1631 in Verbindung gesetzt. 62 Bedeutsam ist nun, daß bereits im Zusammenhang mit den Ereignissen der Jahre 1550/51 Magde-
der fürnemmen / Weitberümbten vnd [... ] vnüberwindlichen Gesponß vnd Jungkfräwlichen Statt Magdeburg [... ],1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr.5439. 61 Vgl. dazu Knauer, " ... das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläfft ... " (wie Anm. 20), der eine vergleichbare These vertritt. Auch Hans Medick verweist auf die medial bewerkstelligte ,Historisierung' der Ereignisse rund um Magdeburg, die es den zeitgenössischen Betrachtern erlaubte, die Zerstörung der evangelischen Hansestadt als weltgeschichtliches Ereignis zu deuten. Vgl. Hans Medick, Historisches Ereignis und zeitgenössische Erfahrung. Die Eroberung und Zerstörung Magdeburgs 1631, in: Benigna von Krusenstjern/Hans Medick (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschic~te; Bd. 148.) Göttingen 1999, 377-407. 62 VgL die bereits zitierte Flugschrift "Alte vnd Newe Zeitung Von der weitbekandten Stadt Magdenburg", die schon im Titel auf den "vor 80. Jahrn verübten grossen Muttwillen[s]", welcher der Stadt die "verdiente Straff" eingetragen hätte, hinweist und auch im Text aus katholischer Perspektive daran erinnert, daß Magdeburg bereits einmal einen Tanz verweigert hätte. V gl. S. 89 dieses Beitrags. Im ebenfalls bereits zitierten "Sonnet / Auff einer keuschen Magd / höchst kläglichen doch rühmlichen Vnfall" betont der evangelische Verfasser Magdeburgs "alt[ e] Freyheit" und beschwört damit den bereits in der Vergangenheit dokumentierten Widerstandswillen der protestantischen Stadt. Vgl. S. 91 dieses Beitrags.
burg als Jungfrau apostrophiert worden war63 , unter anderem auch in jener im Kontext des Interimstreits entstandenen Elegie des Petrus Lotichius Secundus, die 1631 in mehreren Flugschriften wieder abgedruckt wurde. Das lateinische Original läßt Magdeburg als weibliche Personifikation auftreten, die in der Rolle jener Jungfrau spricht, welche <;l:as Wappen der Stadt darstellt. 64 Damit stellt es eine Bildformel zur Verfügung, die in den deutschen Übersetzungen des Gedichts wieder aufgegriffen wird. So heißt es in der Flugschrift "Elegia De Obsidione Magdeburgensi. Das ist Klage=Reimen / Von der Belägerung vnd Eröberung der weitberühmten vnd vhralten Stadt Magdeburg"65: Vnd von der Mawer rab ein Jungfraw schawet an / Jm Läger rings herumb gar manchen Kriegesmann / Vnd ist mir aber recht / sah ich wie sie dort oben Jn jhrer lincken Hand ein Kräntzlein bug erhoben / [... ] Von jhrer Scheitel ab / drauff sie ein Thurn thet tragen / Hat sie jhr langes Haar trawrig zu Feld geschlagen. [... ] (Av-Aijr)
Es sind demnach nicht nur realgeschichtliche Analogien, sondern auch und vor allem die hier angesprochenen Imaginationen Magdeburgs als zunächst bedrohter und schließlich überwältigter Jungfrau, welche die historischen Erfahrungen von 1550/51 und 1631 verbinden. Sie stehen für eine Kontinuität, die sich sowohl in der Wiederkehr analoger Ereignismuster als auch in den diesen inhärenten Sinnstiftungsmöglichkeiten manifestiert. Letztere konvergieren mit jener heilsgeschichtlichen Auffassung, die das Geschichtsverständnis in der frühneuzeitlichen politischen Publizistik generell prägt. 66 Wenn beispielsweise in einer katholischen Flugschrift der Gewißheit Ausdruck gegeben wird, "daß die Stadt Magdeburgk, hinforth Marienburg heißen sol, denn Herr Graff Tylli jetzo ein Marienbild mit dem Kindlein Jesu runds vmbher, vnd die Magdeburgische Magd, mit jhrem Krantze, so vnter den Füssen Maria liget, hawe lassen [... ]"67, belegt dies, daß die Verfechter des ,alten Glaubens' Vgl. Knauer, " ... das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläfft ... (wie Anm. 20), 73. Vgl. Kühlmann, Magdeburg in der zeitgeschichtlichen Verspublizistik (wie Anm. 35), 100. In ihrer Klage über das Schicksal der Stadt thematisiert Magdeburg auch die den Bewohnerinnen angetane Gewalt und antizipiert damit ein Beschreibungsmuster, das in den publizistischen Drucken des Jahres 1631 immer wieder begegnet: "Weh mir, was für ein Ende wird die Stadt nehmen, wenn sie f<mt (was Gott verhüte), die Tore geöffnet von feindlicher Hand? Wer wird den zarten Leib des furchtsamen Mädchens mit seinem Schwert durchbohren? Welchem Räuber wird die Jungfräulichkeit zum Opfer fallen?" Ebd. 65 Elegia De Obsidione Magdeburgensi. Das ist Klage=Reimen / Von der Belägerung vnd Eröberung der weitberühmten vnd vhralten Stadt Magdeburg / Von dem vornehmen Potten PETRO LOTICHIO II. [... ], 1631. Vgl. Hohenemser, Sammlung Freytag (wie Anm. 17), Nr.4565. 66 V gl. dazu Silvia Serena Tschopp, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635. (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, Bd. 29.) Frankfurt am Main 1991. 67 Zitieli nach Lahne, Magdeburgs Zerstörung (wie Anm. 2),53. 63
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die Eroberung Magdeburgs in allegorischem Sinn als Rückführung der protetantischen Religion in den Schoß der katholischen Kirche deuten konnten. Es :ind jedoch vor allem die Flugschriften und Flugblätter evangelischer Proveienz, welche die heils geschichtliche Dimension der Eroberung Magdeburgs ~ervorheben. Im wiederkehrenden Kampf um die Stadt, die bei evangelischen und katholischen Zeitgenossen als protestantisches Bollwerk galt, spiegelt sich - so deren Botschaft - die biblisch präfigurierte, den Geschichtsverlauf bestimmende Auseinandersetzung zwischen göttlicher Allmacht und den Mächten des Bösen. Im Kontext eines derartigen geschichtlichen Dualismus' , der weltimmanente Erfahrung als Signum transzendentalen Geschehens begreift, steht Magdeburg stellvertretend für die Gemeinschaft der Protestanten im Sinne einer evangelischen ecclesia. Für die protestantischen Autoren verkörpert Magdeburg die Erfahrung der evangelischen Kirche seit der Glaubens spaltung , verstanden als Erfahrung steter Bedrohung und steten Kampfes. Die Eroberung der Stadt wird im Horizont einer heilsgeschichtlichen Auffassung gedeutet, welche den historischen Prozeß in die Apokalypse münden läßt. Im Konflikt zwischen der Gemeinschaft der Gläubigen und dem Antichrist erringen die satanischen Mächte mit der Belagerung und Zerstörung Magdeburgs zwar einen vorübergehenden Erfolg, am Ende steht jedoch der Triumph Christi und seiner Kirche. Der Sieg bei Breitenfeld im September 1631, in der protestantischen Publizistik euphorisch gefeiert, erscheint im Kontext eines derartigen Geschichtsdenkens folgerichtig als Sieg über die antichristlichen Widersacher und als Apotheose der wahren, evangelischen ecclesia. In zahlreichen Drucken wird die Niederlage der kaiserlich-ligistischen Truppen vor Leipzig denn auch als Wiederherstellung der Ehre und Integrität Magdeburgs gedeutet. 68 Die sprachlich und ikonographisch bewerkstelligte Evokation Magdeburgs als umworbener, dann gewaltsam bezwungener und schließlich gerächter und in ihrer Ehre wiederhergestellter Jungfrau erweist sich so als Kristallisationspunkt nicht nur publizistischer, sondern auch universalhistorischer Intentionen. Sie fördert eine Wahrnehmung, die realgeschichtliches Geschehen als teleologisch gedachten Ereigniszusammenhang konzipiert, und lenkt zugleich den Blick auf den göttlichen Willen, der sich in ebendiesem realgeschichtlichen Geschehen manifestiert.
68 Vgl. ebd. 162-166. Auch Andreas Wang betont, daß das in zahlreichen Flugblättern dargestellte Konfektessen als Teil des Hochzeitsmahls an die Bildlichkeit der geraubten und vergewaltigten Braut Magdeburg anknüpft und damit den schwedisch-sächsischen Sieg bei Breitenfeld als "Teil eines historischen Kontinuums" deutbar macht; Andreas Wang, Information und Deutung in illustrierten Flugblättern des Dreißigjährigen Krieges. Zum Gebrauchscharakter einiger Blätter des Themas Sächsisch Confect aus den Jahren 1631 und 1632, in: Euphorion 70, 1976,97-116, hier 108.
Weltaneignung durch ein neues Publikum Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Modeme Von
Holger Böning "Man nennet die Erfindung der Buchstaben / und Schreibens / billig eine Göttliche Kunst." 1
I. Nachrichten über das Zeitgeschehen vor der Entstehung von Wochenzeitungen Es ist schwer, sich eine historische Epoche vorzustellen, in der es für die große Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Möglichkeit gab, sich regelmäßig über das Geschehen im eigenen Land und in der Welt zu informieren. Politische, wirtschaftliche und militärische Ereignisse müssen dem einzelnen wie Naturereignisse erschienen sein, ausgehend von fremden, unbekannten Mächten, unberechenbar, undurchschaubar und unbeeinflußbar durch ihn selbst. Spürbar waren allein die Konsequenzen, die in das Alltagsleben hineinwirkten. , Religion, Politik und Wissenschaft waren Angelegenheit kleinster Gruppen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts jedoch und verstärkt in den großen konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit deutete sich Neues an. Nach der Erfindung des Druckes mit beweglichen Lettern gewann das Buch als Wissensspeicher und Medium des Austausches neue Bedeutung. Zwar kann von einer Unterrichtung über die Zeitereignisse, die durch allgemeine Zugänglichkeit, Aktualität, Kontinuität und Regelmäßigkeit der Berichterstattung informierte und wohl gar urteilsfähige Bürger schafft, noch keine Rede sein, doch in der "reformatorischen Öffentlichkeit" erfuhren die Menschen durch gedruckte, oft anschaulich illustrierte Flugblät= ter und Flugschriften erstmals von unterschiedlichen theologischen Auffassungen, wurden von den daraus erwachsenden politischen Konflikten erfaßt und begannen deren Bedeutung für ihr individuelles Alltagsleben zu erahnen. 2 Selbst Analphabeten waren von den Debatten in den ersten Jahrzehnten I Johann Frischen Erbauliche Ruh=stunden [... ]. T. 1-5. Hamburg 1676-1680, Vonede zu T. 2,1777. 2 Vgl. dazu Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der Reformation. München 1982, sowie ders., "Reformatorische Öffentlichkeit", in: Ludger Grenzmann/Karl Stack-
des 16. Jahrhunderts nicht ausgeschlossen. Stets fanden sich Lesekundige, die durch Vorlesen den Stoff zur Diskussion lieferten. Von Beginn an war die Druckerpresse sogleich auch für die Berichterstattung über aktuelle politische Geschehnisse genutzt worden. Sie begann mit einer Ente, wobei diese noch heute geläufige Bezeichnung für Falschmeldungen in der Zeitung keinerlei Beziehung zum Flügeltier hat, sondern aus der frühen Zeitungsgeschichte kommt, wo unbestätigte Meldungen dem Leser mit dem N.T. - gesprochen: Ente, bedeutend: non testatum, nicht bestätigtkenntlich gemacht wurden. In Gutenbergs Türkenkalender für 1455 - "Eyn manung der cristenheit widder den durken" - wurde über die Eroberung von drei osmanischen Städten durch den Fürsten von Caramanien berichtet und das ungarische Konyar mit dem anatolischen Konya verwechselt, dessen Fürst zum Zeitpunkt der Nachricht bereits Frieden mit dem türkischen Sultan geschlossen hatte. 3 Die "nuwe mere", wie die "Neue Zeitung" hier genannt wird, ist nicht nur die älteste Falschmeldung, sondern auch die erste gedruckte Zeitungsmeldung überhaupt. Sie hatte den Zweck, zum Kampf gegen die Türken aufzumuntern, auf die Richtigkeit kam es im Grunde nicht an. Zu einer schnellen Berichtigung fehlten zudem noch die Mittel. Der Kalender, das älteste Medium einer regelmäßig-periodischen Berichterstattung über das Weltgeschehen überhaupt, hätte dazu ein ganzes Jahr benötigt. Immerhin war er - wie die das ganze 16. Jahrhundert zu punktuellen Ereignissen berichtenden Neuen Zeitungen - allgemein zugänglich. Noch war Autoren, Nachrichtenübermittlern und Druckern der Gedanke fremd, aktuelle Meldungen über wichtige Geschehnisse müßten mit möglichst großer Geschwindigkeit einem größeren Publikum bekannt gemacht werden. Zwar existiert zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein eng geflochtenes Informationsnetz, das - basierend auf einem ausgebauten Postwesen - alle wichtigen europäischen Städte einbezieht. Zwar fließen aus dem regelmäßigen brieflichen Nachrichtenaustausch von Kaufleuten und Gelehrten, Politikern und Diplomaten Rinnsale - und manchmal auch mehr - in die Flugschriften, die Kalender und Meßrelationen oder in die Neuen Zeitungen. Doch eine regelmäßige und aktuelle Unterrichtung aus der Welt des Politischen erreicht allein jene in die bestehenden Korrespondenznetze einbezogenen Personenkreise aus dem unmittelbaren Umfeld von Handel und Politik. Sie sind es auch, die handschriftlich vervielfältigte Zeitungen beziehen, verfertigt von mann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Stuttgart 1984,41-52. Siehe auch Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525-1618. Berlin 1998. 3 V gl. dazu Ilona Hubay, Zum historischen Hintergrund des Türkenkalenders für 1455, in: Gutenberg-Jb.44, 1969,64-67.
haupt- oder nebenberuflichen Zeitungs schreibern, im wöchentlichen Rhythmus der Post an die Abonnenten versandt. In einem nur schwer rekonstruierbaren Ausmaß erreichen Meldungen aus diesem Nachrichtenverkehr allerdings auch größere Teile der Öffentlichkeit. Beispielhaft verrät dies ein 1623 in Nürnberg, einem der wichtigsten deutschen Handels- und Nachrichtenzentren, ergehender Ratsbeschluß, der sich ausdrücklich auf die Verbreitung handschriftlicher Zeitungsmeldungen bezieht und einen kleinen Blick auf die städtische Öffentlichkeit dieser Zeit erlaubt: "Und weil man täglich erfährt", so mahnen die Ratsherren, "dass die kaufleute am markt fast täglich allerlei seltsame discours bei ablesung der zeitungen treiben, dadurch gemeiner stadt leichtlich grosse gefahr könnte zugezogen werden, ist befohlen, die kaufleut durch die marktvorgeher warnen zu lassen, sich des zeitungsschreibens und discourierens am markt zu enthalten, weil es an leuten nicht mangelt, die solche reden aufklauben; gleichmässige warnung soll man auch den zeitungsschreibern tun und sein die herren, so uber diese frag am stadtgericht sitzen, ersucht worden, die assessores und schöpfen am stadtgericht deswegen auch zu warnen. "4 Die Rede ist hier von Zeitungen. Gemeint sind Nachrichten, die in Briefen an Kaufleute in die Stadt kommen oder von ihnen nach auswärts geschrieben werden. Auch die wöchentlich erscheinenden handschriftlichen Zeitungen kommen in Betracht. Ausbreitung und öffentliche Diskussion dieser Nachrichten empfindet der Rat als Gefahr. Ausdrücklich untersagt er auch, auf Plätzen und in Wirtshäusern mit Neuen Zeitungen zu hausieren. Diese Medien, so erfahren wir, reichen aus, um wichtige Ereignisse umgehend zum Stadtgespräch werden zu lassen. Schriftliche Nachrichtenübermittlung und mündliche Nachrichtenverbreitung wirken eng zusammen. Doch geschieht dies nur punktuell - anläßlich herausragender Geschehnisse.
11. Die Geburt der Zeitung - ihre Entwicklung im 17. Jahrhundert Das Nürnberger Beispiel verweist auch darauf, daß die Städte die ersten Zentren des Nachrichtenverkehrs sind. Ihre Verbindung durch die Post seit demBeginn der Frühen Neuzeit erscheint als revolutionärer Akt in der Geschichte der Kommunikation, ohne den alle weiteren Entwicklungen des Verkehrsund Kommunikationswesens nicht denkbar gewesen wären. 5 Der Übergang 4 Nürnberger Ratsbes,chluß vom 7. November 1623, zitiert nach Lore Sporhan-Krempel, Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700. (Nürnberger Forschungen, Bd. 10.) Nürnberg 1968,69. 5 Einen Überblick über die neueste Literatur zur Postgeschichte gibt Wolfgang Behringer,
vom fallweisen Boten- zum regelmäßigen und allgemein zugänglichen Postverkehr ist die eigentliche Grundlage eines Nachrichtenwesens, das im festgelegten Rhythmus jedermann zugängliche Informationen über das Weltgeschehen liefert. In den Zonen urbaner Verdichtung bilden sich so zuerst die Voraussetzungen des Zeitungs- und Press:ewesens heraus, das in seinen ersten Ausprägungen ziemlich genau in dem Augenblick entsteht, da sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die kaiserliche Reichspost etabliert hat und alle wichtigen städtischen Zentren an das mitteleuropäische Postnetz angebunden werden. 6 Im durch die Post ermöglichten Briefverkehr ist die Wurzel jedweder regelmäßigen Kommunikation, jeglichen kontinuierlichen Nachrichtenaustausches geschaffen. In sogenannten Brief-Zeitungen finden sich individuell adressierte Nachrichten übermittelt, später wurden politischdiplomatische, militärische oder Handelsnachrichten auf eigenen Beilagen zu individuellen Briefen mitgeteilt, die dann auch weiteren Lesern zugänglich gemacht werden konnten. Aus ihnen entstehen geschriebene Zeitungen, die handschriftlich aus verschiedenen Quellen gesammelte Nachrichten zusammenstellen, zunächst unregelmäßig, dann regelmäßig wöchentlich erscheinend. Das Sammeln und handschriftliche Vervielfältigen von Nachrichten wird zu einem eigenen Beruf. Die unregelmäßig erscheinenden handgeschriebenen Zeitungen sind eigentliche Vorgänger der gedruckten Neuen Zeitung, die regelmäßig erscheinenden, an einen festen Abonnentenkreis versandten handschriftlichen Zeitungen die der gedruckten Wochenzeitungen. Deutlich wird auch, daß sich die Periodizität des Erscheinens sowohl der handschriftlichen als auch der späteren gedruckten Zeitungen unmittelbar aus der Periodizität des Postverkehrs ableitet. 7 Der Übergang von der handschriftlichen zur gedruckten Wochenzeitung stellte für die Zeitgenossen keineswegs eine sensationelle Innovation dar, erschienen sie doch von ihrer äußeren Gestaltung wie von ihren Inhalten als Fortführung der gewohnten handgeschriebenen Zeitungen. Der junge Straßburger Johann Carolus verfällt im Herbst des Jahres 1605 als erster auf die
Bausteine zu einer Geschichte der Kommunikation. Eine Sammelrezension zum Postjubiläum, in: ZHF 21, 1994,92-112. Behringer kritisiert die bei vielen Historikern zu verzeichnende groteske Verkennung der Bedeutung des frühen Postwesens. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band. 6 Vgl. dazu die zahlreichen Quellen bei Martin Dallmeier (Bearb.), Quellen zur Geschichte des europäischen Postwesens 1501-1806. T. 1: Quellen - Literatur - Einleitung. T. 2: Urkunden - Regesten. T. 3: Register. (Thurn und Taxis-Studien, Bd. 9/1-3.) Kallmünz 1977-1987. 7 Überblicks darstellungen bieten Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar. Konstanz 2000, sowie Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/ Wien 2000.
zündende Idee, zwei von ihm beherrschte Handwerke in einem Arbeitsprozeß zu vereinigen. Wie Gutenberg gelingt ihm die Bündelung verschiedener Bereiche zu etwas gänzlich N euem. Als "Avisenschreiber" geht er nach dem Erwerb einer Presse dazu über, die einkommenden Nachrichten im Wochenrhythmus drucken zu lassen, und zwar allein, "dieweil es mit dem Abschreiben langsam zugangen und viI Zeit darmit zugebracht".s Im Nachhinein erscheint die Tat des Straßburger Druckers jedoch als Initialzündung. Jetzt hängen Verbreitung und Wirksamkeit des neuen Mediums allein von der Nachfrage ab. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit erobern sich die periodischen Nachrichtenblätter ihr Feld. Der Krieg verhilft ihnen zum Durchbruch, um die Mitte des Jahrhunderts erscheinen sie - oft schon mit örtlicher Konkurrenz - in allen großen Reichs- und Residenzstädten. Aus der Presse der Kriegsjahrzehnte ließe sich eine Chronik des großen Schlachtens und Zerstörens anfertigen, die von unübertrefflichem Detailreichtum und Vielfältigkeit der Information wäre. 9 1650 sieht Leipzig die erste Tageszeitung. lO Im letzten Drittel des Jahrhunderts suchen bereits 60 Blätter gleichzeitig ihre Leser, womit die Zeitung zum quantitativ bedeutendsten weltlichen Lesestoff geworden ist. 11 Man kann bereits für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts von einer geradezu revolutionären Verdichtung und Ausweitung der Information sprechen. In den achtziger Jahren erscheinen dann allein in Hamburg und Altona acht Zeitungen gleichzeitig. 12 Flächendeckend sind nun re8 Die Entstehung der ersten gedruckten Wochenzeitung ist detailliert dargestellt bei Johannes Weber, "Unterthenige Supplication Johann Caroli / Buchtruckers". Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38, 1992,257-265. 9 Vgl. dazu den Aufsatz von Wo(fgang Behringer, Veränderung der Raum-Zeit-Re1ation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Benigna von Krusenstjern/Hans Medick (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, Bd. 148.) 2. Auf!. Göttingen 2001,39-81. 10 Vgl. dazu Arnulf Kutsch/Johannes Weber (Hrsg.), 350 Jahre Tageszeitung. Forschungen und Dokumente. (Presse und Geschichte, Neue Beiträge, Bd. 3.) Bremen 2002. 11 Zur Entwicklung der Zeitungen im 17. Jahrhundert vgl. grundlegend Else Bogel/Elger Blühm, Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. Bd. 1: Text. Bd. 2: Abbildungen. Bd. 3: Nachtrag. (Studien zur Publizistik, Bd. 1711-3.) BremenlMünchen 1971-1985. Siehe weiter Johannes Weber, Der große Krieg und die frühe Zeitung. Gestalt und Entwicklung der deutschen Nachrichtenpresse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Jb. für Kommunikationsgeschichte 1, 1999, 23-61. 12 Die Titel sind wie alle anderen periodischen Schriften bibliographisch verzeichnet und inhaltlich beschrieben bei Holger Böning (Hrsg.), Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Bd. 111-3: Hamburg. Bearb. v. Ho/ger Böning u. Emmy Moepps. StuttgartlBad Cannstatt 1996; Bd.2: Altona, Bergedorf, Harburg, Schiffbek, Wandsbek. Bearb. v. Ho/ger Böning u. Emmy Moepps. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996/97.
gelmäßige Nachrichten über das politische, diplomatische und militärische Weltgeschehen öffentlich und allgemein zugänglich. Das Bemühen um aktuelle, seriöse und vollständige Nachrichtendarbietung ist das erste und wichtigste Charakteristikum der Zeitungsberichterstattung, wie sich nachdrücklich am Beispiel der beQeutenden Presseorte Hamburg und Altona zeigen läßt. 13 Wer regelmäßig die Zeitung las, war bereits während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in allen Einzelheiten über den Fortgang der politischen und militärischen Ereignisse informiert, auf die sich mit geringen Abweichungen 90 Prozent aller Meldungen bezogen. Wunder- und Sensationsmeldungen der Neuen Zeitungen fehlen fast ganz. Ohnehin darf die Qualität der Berichterstattung nicht allein anhand von Einzelnachrichten beurteilt werden. Es war die große Masse der nun regelmäßig gelieferten Meldungen, die zu einer neuen Qualität der Unterrichtung führte und dem Leser mit der Zeit Quer- und Kreuzverbindungen zwischen den europäischen Ereignissen erlaubte und sein Verständnis für die Mechanismen schärfte, denen die Staatsund Kriegsgeschäfte unterworfen waren. Auffällig ist der schnelle, sich in zahlreichen Zeitungen innerhalb weniger Jahrzehnte vollziehende Wandel von einer allein Fakten übermittelnden Berichterstattung im diplomatischen Jargon zu einer allgemeinverständlichen Darstellung politischer und militärischer Vorgänge. Der Wandel von Sprache und Stil erfolgt nicht bei allen, aber bei den avanciertesten Blättern - wichtig für die Sprachstandardisierung und die Entwicklung der Volkssprache. An die Stelle des bloßen Kompilierens von Nachrichten treten echte journalistische Leistungen. Nachrichtenzusammenfassungen werden üblich, Schlagzeilen, Erklärungen und Lesehilfen. In Nachrichtendarbietung und -qualität erreichen die Zeitungen am Ende des 17. Jahrhunderts einen Rang, der sie als eigenständiges Informationsmedium auch an den Höfen und in den Regierungen unentbehrlich macht, wo sie neben der weiterhin bestehenden exklusiven diplomatischen Korrespondenz ausgewertet werden. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren in Hamburg und Altona mehrere angesehene, durch ein akademisches Studium qualifizierte Persönlichkeiten im Zeitungsgeschäft tätig. Wer eine informationsreiche und interessante Zeitung produzieren wollte, mußte selbstverständlich nicht nur perfekt lesen und schreiben können, sondern auch über Sprachkenntnisse verfügen, die ihm die Verarbeitung fremdsprachiger Korrespondenzen und Zeitungen ermöglichten. Tatsächlich wurde aus den Avisenhändlern der Zeitungsfrühzeit, die, wie andere Kaufleute auch, ihre Waren so verkauften, wie Exemplarisch dargestellt an Hamburg bei Holger Böning, Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Harnburg und Altona als Beispiel. (Presse und Geschichte, Neue Beiträge, Bd. 5.) Bremen 2002, sowie ders., Periodische Presse. Kommunikation und Aufklärung. Hamburg und AItona als Beispiel. (Presse und Geschichte, Neue Beiträge, Bd. 6.) Bremen 2002. 13
.e sie erhielten, ganz langsam ein Berufsstand mit eigenem Selbstverständnis SI . k I . h und Ehrenkodex. Aus Kopisten, Druckern und Postmeistem entwlc e ten SIC Journalisten, von denen der Leser mehr verlangte als die bloße Weitergabe eingelaufener Korrespondenzen. Zwar hing die Wertschätzung einer Zeitung auch am Ende des 17. Jahrhunderts noch in hohem Maße davon ab, daß verschiedene, eigene Urteile ermöglichende Berichte geliefert wurden, doch wurde die redaktionelle Gestaltung, auch wenn sie noch bescheiden ausgeprägt war, zu einem Markenzeichen der besten Zeitungen. . .. Die Behauptung, die Nachrichten in den gedruckten ZeItungen selen 1m Verhältnis zu denen in den geschriebenen Zeitungen von minderer Art gewesen, nur ein Ri~nsal des Nachrichtenstromes sei durch den Filter der geschriebenen Zeitungen in die gedruckten gelangt, ist empirisch ebenso unhaltbar wie die, das "Sieb der inoffiziellen Nachrichtenkontrolle der Kaufherren und der offiziellen Nachrichtenzensur der Verwaltungen" habe bewirkt, daß die gedruckten Zeitungen ihren Lesern im wesentlichen lediglich Auslandsnachrichten, Hofnachrichten und belanglose Wirt schafts nachrichten, aus dem Repertoire der Einblattdrucke die traditionellen "Neuigkeiten", "die Wunderkuren und Wolkenbrüche, die Morde, Seuchen und Verbrennungen" geliefert hätten. 14 Richtig ist das genaue Gegenteil: aus allen europäischen Ländern einschließlich Deutschlands wurden alle die Meldungen gebracht, die für das Verständnis der politischen und militärischen Geschehnisse und Entwicklungen unentbehrlich waren. Die traditionellen "Neuigkeiten" aus dem Bereich der Naturwunder, Katastrophen und Kuriositäten spielten - anders als heute selbst in qualitativ besseren Zeitungen - nicht einmal eine Nebenrolle und waren, wenn etwa über Naturkatastrophen berichtet wurde, in der Regel seriösen Charakters. Meldungen von Wundererscheinungen und Morden bildeten seltene Ausnahmen. 15 Kaspar Stieler bemerkt am Ende des 17. Jahrhunderts ganz zu Recht, in den gedruckten Zeitungen fände sich sogar "oft ein weit mehrers / wovon auch nicht einmal Residenten und Agenten Wissenschaft gehabt haben" .16 Die Entwicklung der Berichterstattung ist engstens mit der schnellen Ausweitung der Zeitungsleserschaft verbunden. Trifft es anfänglich zu, daß die Berichterstatter der frühen Zeitungen offenbar ein Lesepublikum vor Augen hatten, das dem Bereich des Politischen traditionell recht nahestand, und daß den Zeitungsherausgebern erst ganz langsam der öffentliche Charakter ihrer Berichterstattung deutlicher und gleichzeitig das Lesepublikum immer anony14 So ]ürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorw. zur Neuaufl. 1990. Frankfurt am Main 1990, 78. lS V gl. dazu detailliert Böning, Welteroberung (wie Anm. 13). 16 Kaspar Stieler, Zeitungs Lust und Nutz. Ndr. der Ausgabe Hamburg 1695. Hrsg. v. Gert Hagelweide. (Sammlung Dieterich, Bd. 324.) Bremen 1969, 74f.
112 mer wurde 17 , so läßt sich schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts konstatieren, daß die Zeitung zum wichtigsten weltlichen Lesestoff geworden war. Bei der Beantwortung der Frage nach der exakten sozialen Zusammensetzung des neuen Zeitungs publikums ist man allerdings auf Indizien, manchmal auch auf Vermutungen mit einer gewissen Plausibilltät angewiesen. An erster Stelle ist der dem Bereich des Politischen traditionell nahestehende Kreis von Räten, Kammern, Regierungen und Höfen zu nennen, auch Agenten, Residenten und Diplomaten sind als Abonnenten nachweisbar. Ebenso Stifte, Klöster, Geistliche, Studenten und Schüler. An akademischen Gymnasien und Universitäten werden erste Zeitungskollegs abgehalten, wie überhaupt Gelehrte immer wieder als Zeitungsbezieher nachweisbar sind. Selbstverständlich ist der Zeitungsbezug auch bei vielen Kaufleuten; im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts entwickelt sich ein eigener, für ein kaufmännisches Lesepublikum bestimmter Service. Berichtet wird auch von Zeitungslesern unter den gebildeten Ständen der Landbevölkerung, Gutsbesitzer etwa und Dorfgeistliche. In einer erheblichen Zahl von Einzelfällen gerät selbst schon der ,gemeine' Zeitungsleser ins Blickfeld, auch wenn Berichte über handfeste, durch die Zeitungslektüre ausgelöste Auseinandersetzungen in Weinschenken und Gasthäusern nicht verallgemeinert werden dürfen. In Hamburg gibt es bereits Zeitungsbuden, die zum halben Kaufpreis die bloße Lektüre der aktuellen Zeitung anbieten. Für diese Stadt läßt sich unter Zugrundelegung lediglich von Auflagen, die mit 300 bis 400 Exemplaren die Rentabilität garantieren, und von einer heutiger Marktforschung entsprechenden Blatt-Leser-Relation von 1 zu 2,5 zeigen, daß schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts Leser aller oberen Stände einschließlich der oberen Mittelschichten gewonnen werden konnten. Am Ende des Jahrhunderts hatte sich die Zahl der gedruckten Zeitungs exemplare dann noch einmal verdoppelt. Jeder fünfte bis sechste Hamburger kam nun als regelmäßiger Zeitungsleser in Frage. 18 Die Langlebigkeit der meisten im 17. Jahrhundert entstehenden Zeitungen spricht zudem für eine enge Leserbindung. Bei allen Unsicherheiten, die bei den Schätzungen zu veranschlagen sind, muß man von einer ungewöhnlichen Erfolgsgeschichte sprechen, auf die das neue Medium um die Wende zum 18. Jahrhundert zurückschauen konnte. 17 V gl. Johannes Weber, Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. Zur Vorgeschichte öffentlichen politischen Räsonnements, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), "Öffentlichkeit" im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, 137-149, sowie Jörg Jochen Berns, Medienkonkurrenz im siebzehnten Jahrhundert. Literarhistorische Beobachtungen zur Irritationskraft der periodischen Zeitung in deren Frühphase, in: Elger BlühmJHartwig Gebhardt (Hrsg.), Presse und Geschichte. II: Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. (Deutsche Presseforschung, Bd. 26.) MünchenlLondonlNew YorkiOxford/Paris 1987, 185-206, sowie ders., "Parteylichkeit" und Zeitungswesen. Zur Rekonstruktion einer medienpolitischen Diskussion an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Wolfgang F. Haug (Hrsg.), Massen, Medien, Politik. (Argument-Sonderbd. 10.) Karlsruhe 1976,202-233. 18 Zu den Details Böning, Welteroberung (wie Anm. 13).
Die Zeitung, so eines der wichtigsten Charaktelistika der Presseentwicklung des 17. Jahrhunderts, bahnt maßgebend den y!eg zu jede~ ande~~n ,:eltlichen Lektüre. Sie schafft neben den Gelehrten em Lesepubhkum fur lllchtreligiöse Literatur in der Muttersprache und ist, wie im folgenden zu zeigen sein wird, hauptverantwortlich für die Entstehung weiterer Gattungen der peliodischen und nichtperiodischen Literatur, die auf der Ze~~ungsbericht~~ stattung aufbauen, sie vertiefen und erste Foren der Debatte uber das PolItIsche bieten. Sie markiert den Anfang einer regelrechten Eroberung der Welt, der Welt des Politischen zunächst.
III. Zeitungen und die Folgen - Mentalitätswandel und Entstehung neuer Medien der politischen Information "Ein Zeitungsleser / hat oft Gedanken / die ihme kein Keyser wehren kan / wenn er ihn gleich todt schlüge. "19 Es ist nicht die Sache des Zeitungsschreibers, dem Leser die Schlüsse vorzumachen, wel-
~he dieser leicht von selbst und gemeiniglich besser macht. "20
Die Zeitungen können als wichtigstes derjenigen Medien des 17. J ahrhunderts gelten, die die Epoche der Aufklärung vorbereiten. Sie tun dies in erster Linie dadurch, daß sie Informationen zu Gesellschafts- und Lebensbereichen liefern, mit denen die Mehrzahl der Menschen zuvor nicht vertraut war. Im Verhältnis zur Politik, darauf hat Johannes Weber aufmerksam gemacht, ist das neue Medium für einen Mentalitätswandel verantwortlich, der eine fundamentale Voraussetzung für Aufklärung und politische Moderne ist. 21 Dies geschieht wenig spektakulär, die große Masse der gelieferten Meldungen führt zu einer neuen Qualität der Unterrichtung. Sie erlaubt dem Leser mit der Zeit, die Zusammenhänge zwischen den europäischen Ereignissen zu erkennen, und schärft sein Verständnis für die Mechanismen, denen die Staats- und Kriegsgeschäfte unterworfen sind. Die Politik hat begonnen, aus dem Arkanbereich zu treten; für den Zeitungsleser wird sie zu einem Gegenstand alltäglicher Betrachtung. Die Zeitung vermittelt Sachinformationen, die zu Weltkenntnis und Welterkenntnis beitragen, und macht mit gesellschaftlichen Strukturen und Entscheidungskriterien der politisch Mächtigen vertraut. Erstmals in der Geschichte wird ein größerer Kreis von Privatleuten mit den PrinStieler, Zeitungs Lust und Nutz (wie Anm. 16), 158. Dieses Motto findet sich noch in Nr. 74 des Jahrgangs 1783 der "Staats- und gelernten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen COlTespondenten".. . 21 Vgl. dazu u. a. Joharmes Weber, Daniel Hartnack -. ein gel~t:rter Strelthah~ und AVlse~ schreiber am Ende des 17. Jahrhunderts. Zum Begmn polItIsch kommentIerender Zeltungspresse, in: Gutenberg-Jb. 69,1993,140-158. 19
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Weltaneignung durch ein neues Publikum
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zipien bekanntgemacht, nach denen Staat, Politik, internationale Beziehungen und Militär strukturiert sind und gelenkt werden. Indem der Leser mit den Unterschieden vertraut wird, die zwischen verschiedenen Ländern bestehen, wird die Unabänderlichkeit gesellschaftlicher Strukturen in Frage gestellt, auch erschließt sich ihm die Welt als geographischer Raum. Noch sind die Zeitungen keine Medien eines kritischen Räsonnements durch ein Publikum von Privatleuten, doch liefern sie jene Informationen, die dafür Voraussetzung sind. Über den Zeitraum fast eines Jahrhunderts entstehen die Grundlagen für eine Urteilsfähigkeit, ohne die Aufklärung nicht denkbar ist. Nicht nur in den Berichten über die aktuellen konfessionellen Konflikte, die zur Identitätsbildung der Leser beitragen, wird deutlich, daß die Zeitungen Ausdruck zunehmender Weltbezogenheit sind. Im ersten Jahrhundert der Zeitungs geschichte ist der Anfang eines Prozesses zu beobachten, durch den der irrationale Umgang mit gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen zurückgedrängt und statt dessen auf die rationalen Grundlagen menschlicher Entscheidungsfindungen im politischen Geschäft hingewiesen wird. Auch der Krieg verliert in der Berichterstattung seinen Charakter als unbeeinflußbares Naturereignis und erscheint mehr und mehr als in menschlicher Verantwortung stehendes Ereignis. Die regelmäßige Information über das Weltgeschehen wird als erster Schritt zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse verstanden, wie zahlreiche Überlegungen zeitgenössischer Gelehrter verraten, die sich mit der zunehmenden Zeitungslektüre auseinandersetzen. 1688 vertritt Daniel Hartnack die Auffassung, die Novellen seien eine "Eröffnung des Buchs der gantzen Welt / in welches ein jeder nunmehr sehen / und sonder wenig Kosten darinnen lesen kan".22 Johann Peter Ludewig betont, "daß uns nun die meiste Länder / kundiger / als unsern Vorfahren gewesen / dem aufkommen der Zeitungen zu zu schreiben seyn dürffe".23 Mehr und mehr verbreitet sich die Überzeugung, daß die Zeitung für alle Stände als unverzichtbares Mittel der Informationserlangung und der Selbstbildung anzusehen sei. Zeitungen, so Kaspar Stieler, seien "Wegweiserinnen" zu "allerley Künsten und Wissenschaften", denn "es führen die Avisen junge Leute gleichsam bey der hand in das Reichs und Völker-Recht: Sie eröffnen hoher Potentaten Rahtstuben: weisen spielend und mit Lust allerhand Statsstriche an: machen die Welt mit ihrer Sitten-Höflichkeit / ihrem Stellen und Vorstellen bekant / und lehren oft / üm einen Groschen / in einer viertel Stunde jungen Leuten mehr / als sie von dem Daniel Hartnack, Erachten von Einrichtung der Alten Teutschen und neuen Europäischen Historien. Zelle / verlegts Hieronymus Friedrich Hoffmann / Buchh. / Hamburg / Gedruckt bey Nic1as Spieringk / 1688, 100. 23 10hann Peter Ludewig, Vom Gebrauch und Missbrauch Der Zeitungen / Bey Eröffnung Eines COLLEGII geführet. Anno 1700, in: ders., Gesamte Kleine Teutsche Schriften. Bd. 3. Halle 1705, 80-111, hier 94. 22
Abb. 1: Die "Relation aus dem Parnasso" erschien in Hamburg von 1687 bis ca. 1740 und präsentierte eine zei:~tng~~eschichtlich neue literarische Form der Berichterstattung. Ihr Redakteur war der vlelseltlg gelehrte Theologe, Historiker und Rektor der Lateinschule in Altona Daniel Hartnack.
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Holger Böning
besten Doctor in einern Monat und länger lernen können".24 Aus ihnen sei "das ganze Reichs-Recht" zu studieren. 25 Johann Peter Ludewig sieht den Nutzen der Zeitungen darin, daß die Leser "aus Kundschafft der gegenwärtigen Dinge ein Urtheil auff die künfftige f,,:ssen; das ist / vernünfftig raisonniren lernen mögen".26 . Auch wenn dies von den Zeitungsherausgebern gar nicht beabsichtigt war, stieß die Zeitungsberichterstattung erstmals ein Fenster auf, durch das ein breiteres Publikum nun einen Blick auf das Politische tun konnte. Wichtige militärische und politische Nachrichten, so zeigen Berichte, verbreiteten sich über die Zeitungen in der gesamten Bevölkerung und wurden in allen öffentlichen Institutionen wie Kirche, Markt und Kaffeehäusern diskutiert. 27 Nicht jeder liest die Zeitung selbst, aber nahezu jeder ist mit den wichtigen darin enthaltenen Nachrichten vertraut, sei es über die öffentliche Debatte, über die öffentlichen Verkünder neuer Nachrichten oder andere mündliche Verbreitung. In ganz sicher überzeichnender, tendenziell aber wohl richtig beobachteter Weise wird bereits 1637 behauptet, der ,gemeine Mann' habe durch die Zeitungen gelernt, die Potentaten zu kritisieren. 28 Noch sind die Zeitungen keine Bühne kritischer Debatten. Aber im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts stoßen sie zu Entstehung und Nutzung weiterer Medien an. Regelmäßig werden in den Zeitungen zur eingehenderen Information und Diskussion Flugschriften, Broschüren, politische Traktate und Säeler, Zeitungs Lust und Nutz (wie Anm. 16), 117. Ebd. 159f. 26 Ludewig, Vom Gebrauch (wie Anm. 23),109. In der immer häufiger werdenden Erörterung des Für und Wider der Zeitungs lektüre durch Gelehrte wie den Rechtswissenschaftler Christopher Besold, den Kanzler des Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt Ahasver Fritsch, den Professor für Eloquenz, Politik und Poesie am Gymnasium zu Weißenfels Christian Weise, das Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft Kaspar Stieler oder den Verfasser der ersten akademischen Dissertation über die Zeitungen Tobias Peucer sieht Franz Schneider den Beginn der "Selbstapprobation" des Bürgertums. Siehe Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848. (Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft, Bd. 24.) Neuwied am Rhein/Berlin 1966, 70f.; siehe weiter lörg lochen Bems, Zeitung und Historia. Die historiographischen Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts, in: Daphnis 12, 1983, 87-110, sowie jetzt auch Ina Timmermann, "vernünftig raisonniren lernen". Politische Meinungsbildung und -äußerung im Vorfeld ,bürgerlicher Öffentlichkeit' am Beispiel ,zeitungstheoretischer Schriften' des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Arnulf Kutsch/Stefanie Averbeck (Hrsg.), Großbothener Vorträge. Bd. 3. Bremen 2002, 33-72. 27 Vgl. dazu beispielhaft die Berichte, wie sie 1683 der polnische Edelmann Jan Chryzos~om Pas~k über die konfessionell geprägte Aufnahme neuer Nachrichten vom Türkenkrieg 1ll Danzlg gegeben hat: lan ChryzostOin Pasek, Pamietniki. Ndr. Krakau 1929, 525 f. Deutsch in: St{anislaw] Hajner/O{tto] TureceklG{ünther] nytrzens (Hrsg.), Slavische Geisteswelt. Baden-Baden 1959, 86. 28 So der Autor der Broschüre: Dankbarkeit des Kurfürsten von Sachsen, 1637, zitiert nach Heinrich Hitzigrath, Die Publizistik des Prager Friedens (1635), in: Hallesehe Abhandlungen zur neueren Geschichte. H. 9. Halle 1880,22-46, hier 23. 24
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polemiken angeboten. Sie zählen nach Tausenden und gehören zu den neben den Zeitungen in ihrer Bedeutung am meisten unterschätzten Medien politi scher Information und Kommunikation im 17. Jahrhundert. 29 Mehrfach sorgen die selbständig ersc~.einenden Broschüren in aktuellen Konflikten für eine erstaunlich entwickelte Offentlichkeit, in der Autoren nicht nur detaillierte Informationen bieten, sondern auch unterschiedliche Standpunkte darlegen und begründen.3 0 Daneben werden aber bereits Mitte des 17. Jahrhunderts auch weltpolitische Ereignisse von größter Tragweite - die Englische Revolution ist ein Beispiel- in einer Weise diskutiert, wie man es bei der Lektüre der zeitgenössischen Zeitungen kaum vermuten würde. 31 Es spricht für ein hochentwickeltes, besonders auch über die Flugschriften entwickeltes Informationswesen, daß die deutschen Fürsten auf dem Reichstag von 1653/54 angesichts der Berichterstattung über die Englische Revolution beschlossen, weitere wohlwollende Darstellungen der englischen Ereignisse durch Verbot zu verhindern. Dies sei nötig, so heißt es in einem Votum, weil "solche Scripta divulgirt vnd in des gemeinen Manns vnd davon händ gebracht, so sich zu demagogis gebrauchen lass"'. Es sei "höchste gefahr", daß "die Sache nicht auff eine vitiosam Democratiam oder gar Anarchiam hinaußlauffe".32 Endlich nutzten auch die Regierungen solche Schriften, in denen der eigene Standpunkt in Konflikten und Auseinandersetzungen dargelegt wurde, zur publizistischen Untermauerung und Unterstützung ihrer territorialen und juristischpolitischen Ansprüche. Za~lreiche Beispiele zeigen, wie hier Geheimverhandlungen, diplomatische Bemühungen und die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ineinandergreifen konnten. 33 29 Zum Forschungsstand über die deutsche Flugschriftenliteratur besonders des 17. Jahrhunderts siehe Günter Berghaus, Die Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640-1669. Bd. 1: Studien zur politischen Literatur und Publizistik im 17 . Jahrhundert mit einer Bibliographie der Flugschriften. Wiesbaden 1989. Die deutschen Flugschriften der Nachreformationszeit, so heißt es hier, seien immer noch nicht systematisch erfaßt, über ihre Bedeutung als literarisches Medium oder als politischer Informationsträger lasse sich nach wie vor Sicheres nicht sagen. Ein wesentliches Problem bei der Erforschung dieses Mediums scheinen nach wie vor akademische Grenzziehungen zu sein, die trotz aller Reden von Interdisziplinarität weiterhin nur selten ignoriert werden. Selbst die einfachsten Fragen nach Autoren, Lesern, Nachrichtenquellen, Verlegern und Druckern oder Vertrieb sind nicht beantwortbar, was Theorien zur Öffentlichkeit dieser Zeit allerdings wenig" behindert hat. 30 Im Hamburger Staatsarchiv finden sich Hunderte solcher Schriften, beispielsweise zu den Jastram-Snitgerschen Wirren und zur Belagerung Hamburgs durch die Dänen im Jahre 1686. 31 Allein zu den Ereignissen während der Englischen Revolution erschienen von 1640 bis 1669 mehr als sechshundert Flugschriften, bei deren Mehrzahl auf die Angabe des Druckund Verlags ortes verzichtet wurde. Vgl. dazu die Bibliographie bei Berghaus, Aufnahme (wie Anm. 29). 32 Dazu detailliert ebd. 91 f. 33 Wichtig sind auch die im gesamten Reich erscheinenden Staatsschriften, die besonders für das 18. Jahrhundert dargestellt sind bei Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffent-
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Die Veröffentlichung von Flugschriften und Broschüren ist im 17. Jahrhundert engstens mit neuen publizistischen Konzeptionen verbunden, die erst mit dem neuen Medium Zeitung möglich wurden. Aufschlußreich zeigt dies der Hamburger Verleger Thomas von Wieril1g. Er nutzte als Zeitungsverleger das große zeitgenössische Interesse an politiSChen Tagesfragen und verlegte in seinem Unternehmen bereits im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mehrere hundert Schriften, allein während des Zeitraumes von 1706 bis 1748 waren dies dann mindestens 433 Flugschriften34 , die, wie heutige Bibliotheksstandorte verraten, auch überregional vertrieben wurden. In seinem ab 1674 erscheinenden "Relations-Courier" zeigte er seine Verlags erzeugnis se regelmäßig an, durchweg wurde für den Leser deutlich, daß es sich dabei um Ergänzungen und Vertiefungen der Zeitungsnachrichten handelte. Diese Flugschriften machten fürstliche Dekrete, Parlamentsreden, Streitschriften, Kriegserklärungen, Friedensschlüsse und Deduktionen bekannt, häufig vertrieb Wiering N achdmcke bereits andernorts erschienener Schriften. Auch Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen, Dänischen, Schwedischen oder Niederländischen erschienen. Regelmäßig war Wiering um Aktualität bemüht, oft vergingen nur wenige Wochen zwischen der in der Schrift behandelten Begebenheit und dem Erscheinen. 35 Das neue Interesse am politischen Zeitgeschehen führte ebenfalls zur Gründung zahlreicher chronikartiger Periodika und Zeitungsextrakte, in denen die Darstellung von Zusammenhängen und Entwicklungen möglich war, sowie zu ersten Periodika, in denen die politischen Ereignisse diskutiert wurden. Hier sind die Wurzeln des Zeitschriftenwesens in Deutschland zu entdekken. 36 Mit dem Nürnberger "Verkleideten Götter-Both Mercurius" erscheint 1674 die erste politische Zeitschrift. 37 1675 will der "Historische Tagweiser" des Zeitungsredakteurs Johann Frisch in einer Monatsschrift zu einer kritilichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, 194ff. 34 Auf die große Bedeutung der Flugschriftenliteratur für die städtische Öffentlichkeit in Hamburg und zugleich auf die engste Verbindung von Zeitungen und Flugschriften hat meines Wissens erstmals Werner Kayser aufmerksam gemacht. Siehe insbesondere die Darstellung der Verlags tätigkeit von Thomas Wiering und seinen Erben bei Werner Kayser, Thomas von Wiering und Erben. Ein bedeutendes Kapitel hamburgischer Druckgeschichte, in: Auskunft. Mitteilungsblatt Hamburger Bibliotheken 10. Jg., Dezember 1990, H.4, 343-371. Die Zahlenangaben beruhen auf Auszählungen der Anzeigen im "Relations-Courier" und auf Autopsie, siehe ebd. 351. 35 Ebd. 351 f. 36 Die lange vertretene Auffassung, die seit 1665 publizierte gelehrte Zeitschrift "Journal des Savants" sei "die Wurzel der gesamten wissenschaftlichen, beruflichen, fachlichen und ernsthaften kulturellen Zeitschriften", ist für die politischen Zeitschriften unzutreffend. Vertreten wurde sie u. a. von Wilmont Haacke, Die politische Zeitschrift 1665-1965.2 Bde. Stuttgart 1968/82, Bd. 1, 120, Bd. 2, 15f. 37 Dazu Johannes Weber, Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland. Bremen 1994.
schen Zeitungs lektüre befähigen. 38 1676 nutzen die wöchentlich erscheinenden "Erbaulichen Ruh-Stunden" Zeitungsmeldungen zu Reflexionen über moralische Implikationen der tagespolitischen Ereignisse. 39 Ein Zeitgenosse nennt diese ersten deutschen Zeitschriften "Kinder und Früchte der Zeitungen"40; Christian Weise weist auf den Nutzen der Zeitungen wie der neuen Zeitschriften mit den Worten hin, es sei "die Übung der Geistesschärfe nicht zu verachten, wenn wir die wahren oder die scheinbaren Gründe für die Handlungen suchen oder das Urteil anderer beobachten"41. Uns verraten die ersten politischen Zeitschriften den Wunsch nach tieferem Verständnis und nach Räsonnement über die Staats angelegenheiten. In ihnen läßt sich verfolgen, wie aus Zeitungslesern ganz langsam ein räsonierendes und debattierendes publikum wurde.
IV. Die Welt der Wissenschaften in Zeitschriften und gelehrten Zeitungen "Wir sollen GOttes Wunder nicht verschweigen / und jeder ist verbunden / das jenige so ihm GOtt mitgetheilet / seinem nechsten auch mitzutheilen."42 " ... daß man desto besser unterscheiden könne / was Licht oder Finsterniß sey. "43
Die Erobemng des Politischen durch ein neues Publikum ist ganz selbstverständlich mit dem Gebrauch der deutschen Sprache verbunden, während sich die politisch Mächtigen im 17. Jahrhundert häufig noch längst nicht der Volkssprache bedienten. Wie das Politische aus dem Arkanbereich in die Öffentlichkeit tritt, so verhält es sich seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts überall in Europa auch mit den Wissenschaften. Mit der Verdrängung des Lateinischen als Sprache der Gelehrtenrepublik und dem zunehmenden Gebrauch der Muttersprache ist eine Hinwendung zu einem Publikum über den kleinen Kreis der Gelehrten hinaus zu beobachten.
38 Johann Frischen Historischer Tagweiser oder Anweisung dessen was sich in der Christenheit von Tag zu Tage zugetragen hat. Altona 1675. 39 Johann Frischen Erbauliche Ruh=stunden (wie Anm. 1). 40 Stielei; Zeitungs Lust und Nutz (wie Anm. 16),54. 41 Zitiert nach Karl Kurth (Hrsg.), Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Die Urteile des Christopherus Besoldus (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676) und Tobias Peucer (1690) über den Gebrauch und Mißbrauch der Nachrichten. Brünn/MünchenlWien o. J. (1944),72. 42 Relationes Curiosae. T. 1-5. Hamburg 1682-1691, hier T. 1, 1683, Vorrede. Die "Relationes Curiosae" erschienen zunächst als wöchentliche Beilage zum "Relations Courier" sowie auch in 5 Bänden zu je 2 Teilen. 43 Wochentlicher Curiöser Zeit-Vertreiber. Hamburg 1699-1700, unpaginierte Bandvorrede.
Holger Böning
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Weltaneignung durch ein neues Publikum
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Abb 2· Die Sch ;-Ft H' . 1 . . . rl.Jl" IstonSCt7e Remarques" erschien von 1698 an i R b ' . eme der frühen gelehrten Wochenschriften in deut~cher S , n .. am u,rg. Sze Ist mente einer allgemeinwissenschajtlichen Zeitschrift aUfw~:~che, dze daruber hznaus Ele-
d In den avanciertesten deutschen Verlags städten beginnen in den letzten beien ..Jahrzehnten, des 17. Jahrhunderts gelehrte Zeitungen zu erscheinen die zunachst monatlIch dann h 11 .. h . . ' . . ' sc ne woc entlIch mIt den neuesten Entwicklungen I~ den WIssenschaften vertraut machen. Auch wenn sich die Heraus eber vorwIegend noch an gelehrte Leser wenden, ist doch auch bereits an di: Po-
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pu1arisierung der Wissenschaften gedacht. Er habe "keine Lust mit der kahlen Gelehrsamkeit sich bloß und alleine aufzuhalten", so äußert sich mit Peter Ambrosius Lehmann einer der Pioniere des deutschsprachigen gelehrten Zeitungswesens.44 Selbst an Orten, wo mit der professionellen Gelehrsamkeit befaßte Leser fehlen, etablieren sich gelehrte Joumale, die den Fortgang der Wissenschaften verfolgen. Gemeinsam mit den popularisierenden Periodika tragen sie nach den Zeitungen zusätzlich zu einer innerweltlichen Orientierung eines neuen Lesepublikums bei. Von besonderer Bedeutung für die Weltaneignung mit wissenschaftlichen Mitteln sind Periodika, deren ausdrückliches Ziel die Wissenschaftspopularisierung ist. Sie bieten ihren Lesern das zeitgenössische Wissen und eine Anschauung der Welt, die durch Detailgenauigkeit und umfassende Information von ganz neuer Qualität ist. Ohne Frage ist es eines der wichtigsten Ereignisse im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, daß sich nun ein Publikum, das zuvor mit wissenschaftlichen Debatten nicht in Berühung gekommen war, kontinuierlich mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen befaßt. Gerade die populären Zeitschriften sind für die Wandlung eines Weltbildes von größter Bedeutung, das mehr und mehr die neuen Erkenntnisse der Naturerforschung in Erklärungs- und Deutungsversuche einbezieht und eine auf Magischem und Irrationalem basierende Weltsicht verwirft. Anschaulich wie in kaum einem anderen Medium läßt sich das Entstehen aufklärerischer Weltanschauung verfolgen. Die erste universalhistorische und allgemeinwissenschaftliche Zeitschrift beginnt ihr Erscheinen 1681 noch vor den "Acta eruditorum", jenem gelehrten lateinischsprachigen Joumal, das gewöhnlich den Anfang jeder deutschen Zeitschriftengeschichte macht. Sie wird sogleich zu einem der größten Verlagserfolge des 17. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine deutschsprachige Wochenschrift mit dem Titel "Relationes Curiosae", gut fünf Jahre bevor Christian Thomasius in Leipzig seine Universitätsvorlesung in deutscher Sprache ankündigt und die "Monatsgespräche" herausgibt. Die Zeitschrift erscheint mit großer Resonanz separat und als Beilage zu einer erfolgreichen Zeitung, dem Hamburger "Relations-Courier".45 Der Herausgeber Eberhard Wemer Happel, einer der ersten deutschen Autoren Schöner Literatur, die schon im 17. Jahrhundert vom Schreiben leben und zu diesem Zweck joumalistisch tätig sind, will Wissen und Kenntnisse nach aktuellem wissenschaftlichen Stand vermitteln. Programmatisch spricht 44 Historische Remarques Der Neuesten Sachen In Europa. Jg. 1-9. Hamburg 1699-1707. Die Zeitschrift umfaßte je 52 Bogen bzw. Nummern. Zur Programmatik der Zeitschrift vgl. neben den Vorreden auch Jg. l700, 148-152. 45 Relationes Curiosae (wie Anm. 42). Vollständiger Titel und weitere detaillierte Angaben zu Auflagen, Neuausgaben, Nachahmungen, Übersetzungen und Standorten finden sich bei Böning/Moepps (Be31·b.), Hamburg (wie Anm. 12), Titel-Nr. 42.
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er von der "löblichen Begierde zu den Wissenschafften", die "billich bey allen verständigen Menschen zu finden" sein sollte. Aufgabe der Wissenschaften sei es dabei, den Dingen auf den Grund zu gehen, denn "Glückselig ist der Mensch von jederman zu nennen / Der auch den Ursprung kan der Dinge recht erkennen".46 Ein neues Bewußtseiil von der Bedeutung der Naturwissenschaften für Welterkenntnis und Welterklärung wird erkennbar. Alles soll "nach dem Probierstein der Vernunft" erklärt werden. Auch im Hinblick auf sein Publikum hat Happel konkrete Vorstellungen. Es geht ihm darum, "daß der Gelehrte repetire, der Verständige judicire, und der Einfältige sammt den Kindern unterrichtet werde". Aufklärerisches Ethos wird präludiert, wenn es über die Gegenstände der Zeitschrift heißt, "dergleichen löbliche Sachen" dürften "nicht verdunckelt und in einer privat Studier-Stuben verborgen bleiben" .47 Die Zeitschrift bietet ein Beispiel ganz neuen Wissensdurstes. Außergewöhnlich ist die Aufgeschlossenheit, mit der fremde Länder, Völker und Sitten betrachtet und beschrieben werden. Neben den dem gelehrten Nachrichtenwesen verpflichteten Periodika und den populäreren polyhistorischen Zeitschriften beginnen bereits im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erste wissenschaftliche Fachzeitschriften zu erscheinen, die frühe Beispiele für die sich dann im 18. Jahrhundert stark ausdifferenzierende Zeitschriftenlandschaft bieten.
V. Eroberung moralischer Deutungshoheit durch ein bürgerliches Lesepublikum Zur Eroberung des Politischen und der Inbesitznahme der Wissenschaften kommt ebenfalls bereits im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Auseinandersetzung um sittlich-moralische Wertmaßstäbe, Tugenden und Laster, die im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts besonders in den städtischen Zentren zu einer moralisch-ethischen Deutungshoheit durch ein bürgerliches Lesepublikum führen wird. In mehreren Zeitungen werden tagespolitische Ereignisse zum Ausgangspunkt allgemeiner philosophisch-moralischer Betrachtungen. Der Hamburger "Nordische Mercurius" etwa spricht seine Leser mit moralischen Erörterungen, Tadel von Modetorheiten oder anerkennender Darstellung bürgerlicher Leistungen an. 48 Eine Moralisierung politischer Vorgänge ist in den Zeitungen hin und wieder bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts
Relationes Curiosae (wie Anm. 42), T. 1, 1683, Vorrede. Ebd. 48 Nordischer Mercurius. Hamburg 1664-1730. Dazu auch Elger Bliihm, Nordischer Mercurius, in: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. (Publizistik - Historische Beiträge, Bd. 2.) Pullach 1972,91-102. 46
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Abb. 3.' Die "Relationes Curiosae" wurden als populärwissenschaftliche Zeitschrift zu einem der größten publizistischen Erfolge des 17. Jahrhunderts.
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festzustellen. Urteile über die Verderblichkeit des Krieges und seiner Wurzeln in menschlichem Eigennutz und unmoralischem Machtstreben sind auf die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zurückzuführen. Die Berichterstattung über politische und militärische Vorgänge liefert zugleich Stoff für moralische Urteile. 1645 betont ein Zeituhgsherausgeber, man bezeichne die "Relatio Historica nicht vnbillig als eine Schulmeisterin dess Menschlichen Geschlechts von bösen lästerhafften zu gutten Exemplarischen tugendlichen Leben, vnd ein reiner Spiegel weltlicher Weissheit, wie vnd welcher Gestalt alle Ding in der Welt blühen und vergehen".49 Vor allem aber ist die Infragestellung traditioneller Deutungen und Sichtweisen Aufgabe solcher Zeitschriften, die eine eigenständig deutsche Tradition der Moralischen Wochenschriften begründen. Auch in den literarischen Formen findet sich bereits manches, was später in Hunderten von Zeitschriften ~elebriert wird. Allenthalben ist ein moralpädagogischer Impetus spürbar, der m der aufklärerischen Ethik der Moralischen Wochenschriften zur vollen Ausprägung kommen wird. Eine unmittelbare Vorgängerin der Moralischen Woc.henschriften ist bereits in einer der frühesten deutschsprachigen Wochenschriften anzutreffen, die ab 1676 in Hamburg erscheint. In Johann Frischs "Erbaulichen Ruh-stunden" stehen belehrend-moralische und belehrend-unt~rhaltende Elemente im Mittelpunkt. Die Zeitschrift ist ohne die Tätigkeit mcht denkbar, die Frisch als Redakteur der in Altona erscheinenden "Altonaischen Relation" seit 1672 ausübte. Beständig bezieht sich der Herausgeber auf aktuelle Ereignisse, wobei lehrhafte Aspekte betont werden und nützli~he S~chen" vorherrschen, die "zugleich Lehr- und Lustreich seyn" ~~llen. DIe ZeItungsnachrichten erscheinen nur noch als Anknüpfungspunkt für weitergehende Reflexionen und Erörterungen. Wichtigstes Ziel der Zeitschrift ist es, informierend und erzieherisch auf junge, aber auch auf andere verst~ndige~' L~ser zu wirken. 50 Die pädagogischen Absichten des Herausg~bers zeIgen SIch m moralisierenden Abhandlungen, mit denen menschliche Untugenden und Torheiten behandelt und Tugendgebote vermittelt werden sollen. Es ~st kein Zufall, daß mit dem "Vernünfftler" die erste deutschsprachige MoralIsche Wochenschrift 1713 dann in Hamburg erschien. Die Frage, wie der Mensch in der Gesellschaft nach Maßstäben der Vernunft und der Moral existieren könne, beschäftigte die Presse in der Hansestadt bereits seit Jahrzehnten. 51 Bekannt ist die vom "Patrioten" ausgelöste Debatte, die die Haltungen und Orientierungen einer ganzen Generation von Gebildeten und Bür4~ .So Andreas Duncker d. J. in ~iner B~tte an de.n Rat von Braunschweig um ein Privileg fm ?r~ck und Ve~lag der "Woc~enthchen ZeItungen". Siehe Karl Kurth, Wurde der "AVISO von 1609 III Wolfenbüttel oder in Braunschweig gedruckt?, in: Zeitungswissenschaft 18, 1943,247-255. 50 Johann Frischen Erbauliche Ruh=stunden (wie Anm. 1). 51 DerVernünfftler.Nr.l-100(l01?).Hamburg l7l3-1714.
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. rn in ganz Deutschland mitbestimmte. Die Zeitschrift erzielte eine Auflage ge fünfeinhalbtausend Exemplaren und ersch"1en In me hreren N euau fl agen. 52 ·zvon leich ist sie ein frühes Beispiel für die engste Verb'mdung neuer aufkl"'areug . . . 53 N . . .sch engagierter Gesellschaften und der ZeItschnftenlIteratur. eu I~t e1~e ~usgeprägte Diesseitsorientierung, die kombiniert ist mit WeltfrömmigkeIt. Der alles leitende Gott spielt in dieser Vorstellungswelt ebenso kau~ ~och eine Rolle wie die angeborene Sündhaftigkeit. Die Kraft zum Gutsem 1st.auch ohne geistliche Leitung - als eigener Trieb im Mensch~n angel~gt. Em "höchstes ewiges Wesen" habe ihn, dieses Gutsein in prak~Ischer WIrk~~~ keit nicht nur für das eigene, sondern auch für das allgem~me un~ das. 0 der Mitmenschen zu entfalten, in die Welt gesetzt und damIt den eIgentlIchen Sinn seiner Existenz bestimmt. Die Legitimation zur Sittenerziehung er·a"chst aus dieser zugewiesenen Aufgabe, die zugleich Maßstab aller Tugendw 'f ebote und Sittenkritik ist. Die Autoren der Moralischen Wochenschrl ten ~erstehen sich in diesem Sinne nicht als selbsternannte Sittenrichter, sondern kommen dem allen Menschen übertragenen Auftrag nach, indem sie ihre Mitmenschen auf sittlich-moralische und gesellschaftliche Hindernisse hinweisen, die gemeinnützigem Wirken im Wege stehen. In säkularisierter Form nehmen sie damit die traditionellen Aufgaben der Geistlichen wahr. Sie tun dies als Privatpersonen in eigener Verantwortung, rechenschaftspflichtig nur gegenüber einem anonymen publikum und verpflichtet allein dem eigenen Urteil und der eigenen Vernunft. 54 Die neue Haltung der Diesseitigkeit, des aktiven Gestaltens nach Grundsätzen der Vernunft und in eigener Verantwortung muß auf ein verbreitetes Empfinden in den gebildeten Ständen gestoßen sein. Diese hatten seit einem Jahrhundert damit begonnen, sich von allein geistlich bestimmten Wertmaßstäben zu lösen, waren durch die Zeitungen und ein um sie herum entstandenes dichtgeknüpftes Informationsnetz vertraut geworden mit der Welt des Politischen Der Patriot. Jg. 1724-1726, Nr. 1-156. Hamburg: Johann Christoph Kißner 1724-1726. Zur umfangreichen Forschungsliteratur siehe den von Wolfga~g Martens her~u~gegebenen Neudruck der Zeitschrift: Wolfgang Martens (Hrsg.), Der Patnot. Ndr. der Ong1l1alausgabe Hamburg 1724-1726. Bd. 4: Kommentarb~nd. Berl~n/New :örk 1984, 6 f .. , . 53 Siehe Franklin Kopitzsch, Grundzüge e1l1er SOZIalgeschIchte der Aufklarung III Hamburg und Altona. T. 1-2. (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 21.) Hamburg 198~.' 2., erg. Aufl. Hamburg 1990. . . 54 Zu den Moralischen Wochenschriften siehe Wolfgang Martens, DIe .Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutsche? Moralisch~n ~o~henschnfte~. Stuttg~ 1968. Studienausgabe 1971. Weiter ]ürgen RathJe, ,:Der ~atnot . Ell~e ha~burglsche ~eIt schrift der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeltschnft des Verems fur..Hamb~lrgls~he Geschichte 65, 1979, 123-143, sowie ders., ?eschichte, Wesen u~d ,Of~enthc~elts wirkung der Patriotischen Gesellschaft von 1724 m Hamburg. Der ,Patnot ,d.le ,Poes.l~ der Niedersachsen' und Johann Adolf Hoffmanns ,Zwey Bücher von de.r Zufnedenh~lt als Zeugnisse gemeinnütziger Bestrebungen ~m ~rü~en 18. Jahrhundert, m: Rud~~fVlerhaus (Hrsg.), Deutsche patriotische und geme1l1nutzige Gesellschaften. (Wolfenbutteler Forschungen, Bd. 8.) München 1980,51-69.
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Weltaneignung durch ein neues Publikum
und hatten sich durch die Zeitschriften lektüre mit Maßstäben zu urteilen gewöhnt, die den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, eigen waren. Nun forderte der "Patriot" dazu auf, die neugewonnenen Sichtweisen und Wertmaßstäbe auch auf das eigene Alltagsleben und auf die Gestaltung aller persönlichen und gesellschaftlicheif Beziehungen anzuwenden. Die Leistung dieser Moralischen Wochenschrift lag also auch darin, daß sie in großer Klarheit Haltungen und Sichtweisen formulierte, die sich während der vergangenen Jahrzehnte bei den Gebildeten herausgebildet hatten. Die Kunst der Autoren lag weniger darin, vollständig Neues zu artikulieren, als vielmehr Vorhandenes so in ein geschlossenes Weltbild zu integrieren, daß es bei einem e~heblichen Teil des Publikums auf Zustimmung stoßen konnte. Vielleicht lag hIer das Aufregendste für den zeitgenössischen Leser: Erstmals wandte sich eine Zeitschrift der alltäglichen Lebenspraxis zu und nahm für sich in Anspruch, die Dinge des Alltags und des Alltagshandelns nach vernünftigen und moralischen Maximen zu durchmustern. In einer Zeit, da die Untertanen in den absolutistisch regierten Territorien Deutschlands von gesellschaftlicher und politischer Mitwirkung ausgeschlossen sind, schwebt dem "Patrioten" das Idealbild eines Bürgers vor, der sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlt, über Verbesserungen und Reformmöglichkeiten nachdenkt und diskutiert, eingreift, wo ihm dies möglich ist, und tätig an den gemeinschaftlichen Aufgaben mitwirkt. Von einer Tendenz der Moralischen Wochenschriften zur Entpolitisierung der Moral kann keine 55 Rede sein , richtig ist, wie Wolfgang Martens formuliert hat, das gerade Gegenteil: "In der Tat zeigt sich in der Wochenschrift im Zuge moralischer Unterweisung ein soziales und staatsbürgerliches Engagement, das den Bürger sich bereits als Citoyen verstehen lassen kann, - mehr als zwei Generationen vor der Ära der Französischen Revolution. Und so sind denn hier auch bürgerliche Lebenswelt und Öffentlichkeit nicht zwei getrennte Räume, das Moralische muß nicht erst, wie man es für das 18. Jahrhundert sonst diagnostiziert hat, danach trachten, eines Tages politisch zu werden, vielmehr sind im Konzept des ,Patrioten' privatbürgerliche Tugend, soziale Verpflichtung und politische Verantwortung eng miteinander verbunden. "56 Die politische Brisanz der Moralischen Wochenschriften liegt gerade darin, daß hier an den Lebensbedingungen bürgerlicher Schichten orientierte moralische Werturteile öffentlich werden und in der Öffentlichkeit eine moralische Deutungshoheit beansprucht wird. Das gesamte bürgerlich-aufklärerische Lebenskonzept findet sich im "Patrioten" erstmals entfaltet und wird sich in seinen wichtigsten Grundlinien die nächsten hundert Jahre nicht wesentlich verändern. Erstmals wird hier für die gebildeten Stände formuliert, was mit 55
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Sie behauptet Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit (wie Anm. 33), 193. Martens, Botschaft (wie Anm. 54), 515.
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einer Zeitverzögerung von einigen Jahrzehnten dann auch an das "Volk" ver'ttelt werden wird, nämlich die Welt nicht mehr als Jammertal und Durch:ngsstation zu begreifen, sondern zu d sich das Leben nach den Grundsatzen ewer vernunftIgen Moral ewun . d' urichten. 57 Daneben werden alle die bürgerlichen Tugenden propagIert, Ie Z. selbstverantwortetes und dem Gemeinwohl verpflichtetes Leben stützen elll .. . sollen: Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, Solidität, UmsichtIgkeIt, Freun dl'IC hkeI:, Aufgeschlossenheit und im Mittelpunkt immer wieder Sinn für GemeinnützI-
nac~ irdisc~er Glüc~.seli.gkeit
stre~en
ges. . "Der p ' " und den durc h' Mit der Moralischen Wochenschnft atnot SIe provo. rten Flugschriften, den Gegenschriften, Nachahmungen und Seitenstücken Zle . d' h wurde erstmals in der deutschen Pressegeschichte die durch perlO ISC e Schriften prinzipiell bestehende Möglichkeit genutzt, mit den Mitteln ~er Druckerpresse und in regelmäßig erfolgender Rede und Gegenrede öffentlIch darüber zu diskutieren, wie Menschen in ihrem Alltag und in der Gesellschaft denken und handeln sollen. Erst jetzt spürten die Zeitgenossen, daß mit der Orientierung bürgerlicher Leser auf eine Lebensgestaltung nach säkularen, der Vernunft verpflichteten Prinzipien ein wesentlicher Schritt zur Zurückdrängung traditioneller christlich-konfessioneller Vorstellungen get.an wurde. An die Stelle christlicher Erbauungsliteratur, so könnte man zugespItzt sagen, treten die weltlichen Moralischen Wochenschriften. Der Mensch ist aufgefordert, den eigenen Verstand, diese "schätzbareste Gabe des Schöpfers", zu nutzen. Das Selbstdenken wird zur moralischen Pflicht, die nicht "dem Gelehrten allein anständig ist", sondern "iedweder Mensch nach seinem Maasse, er lebe in was vor einem Stande er wolle, beobachten solle und könne".58 Mit dem Patrioten" wurde erstmals in der deutschen Zeitschriftengeschichte das ~eistliche Deutungsmonopol in sittlich-moralischen Angelegenhe.iten nicht nur in Frage gestellt, sondern mitso1cher Deutlichkeit zurückgewIes~n, ~aß die mehrheitlich orthodoxe lutherische Geistlichkeit in Hamburg dann ewe Kampfansage erkannte. Bürgerliches Selbstbewußtsein, wie es sich im "Patrioten" äußerte, hatte in den hamburgischen Verhältnissen eine reale Grundlage, doch dürfte die Wirkung kaum zu überschätzen sein, die dessen offe~ sive Formulierung in anderen deutschen Territorien hatte. Neu war auch.w Hamburg die Forderung an jeden einzelnen Bürger, sich aktiv ~ür di~ Geme1l'rschaft zu engagieren, an Verbesserungen und Reformen mItzuwI~ken u~d soziales Verantwortungs bewußtsein durch praktisches Tun zu beweIsen. DIe Vorstellung, alle gesellschaftlichen Angelegenheiten prinzipiell in die eigenen 57 Zur Volksaufklärung und ihren Konzepten siehe Holger ~ö!ling/Reinha~~ S~egert, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur ~opularislerung aufklarenschen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bIS 1850. Bd. 1-2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990/2001. 58 Die Matrone, Jg. 1728, 8. Stück, 62.
-----------------------------------Hände nehmen zu müssen, widersprach konträr absolutistischen Staats stellungen. vor-
VI. Die Bedeutung des 17. Jahrhunderts für die Entwicklung des Pressewesens ~er wich.tigste Grund dafür, daß der Schwerpunkt dieser Darstellung ga
eme~ ZeItl:~um gewidmet ist, der gewöhnlich im Schatten des folgenden au~~
geklarte~ S~ulums weniger ~eacht~ng findet, liegt darin, daß die quantitative und qualItatIVe Bedeutung, die penodische Schriften bereits im Verlauf de 17 .. J cm.rhunderts erlangten, regelmäßig selbst unter Historikern nicht zu Ge~ memwlss~n geworden ist oder grob unterschätzt wird. Doch hier haben d' Prozesse Ihre Wurzeln, die schließlich zur modernen Gesellschaft und zu d le umfassenden. Kommunikationsmöglichkeiten führen, die noch unsere G:~ genwart be~tImmen: In seiner Bedeutung für die Herausbildung der Moderne ~andelt es sIch um emen ganz unzureichend gewürdigten Zeitraum. Alle wicht~gen Voraussetz~mgen werden geschaffen, auf deren Grundlage die aufklärensche Kommumkationsgesellschaft des 18. Jahrhunderts sich entwickeln kann. Das be~onders unter Literaturhistorikern verbreitete Bild von den LesegewohnheIten und Interessen der Bevölkerung im 17. und 18 J hrh d h d l' . . a un ert nac ~m Ite~'~nsche Lesestoffe dominierend gewesen seien, bevor es zu; RezeptIOn P?htIs~he~ gekommen sei, ignoriert bis heute souverän die Tatsache, daß dIe penodisch erscheinende politische Zeitung bereits im 17. Jahrhunder~ neben dem Kalender zum quantitativ wichtigsten weltlichen Lesestoff w~rd .. Daran konnten auch diverse Arbeiten von Historikern wenig änd~rn, dIe dIe Befunde der historischen Presseforschung in ihre Überlegung en embezogen. 59 .. N oc~ ist ~m 17. J ahrhu~dert in den meisten deutschen Territorien keine Offen~lichk~It en~standen, m der allgemein über politische und StaatsangelegenheIten dIskutIert worden wäre, doch sind durch die neuen Medien d'
Voraussetzu~~e~ entstanden, die erstmals die allgemeine Teilhabe am Zeitg~~
schehen ermoghchten. ~olg~ man dem Konstrukt von Jürgen Habermas, nach dem der alte Ko~mumkatIOnsbereich einer repräsentativen Öffentlichk 't durch den neuen emer publizistisch bestimmten Öffentlichkeit in dem Auge~-
blick grundsätzlich bedroht ist, in dem es eine "Presse im strengen Sinne" und mit ihr eine regelmäßige, öffentliche, dem Publikum allgemein zugängliche Berichterstattung gibt, dann wäre dieser Tatbestand spätestens für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zu konstatieren. 60 Doch trotz einer durchaus umfassend zu nennenden Zeitungs berichterstattung und trotz aller Debatten, die bereits zu dieser Zeit und in den nachfolgenden Jahrzehnten geführt werden, kann im 17. Jahrhundert noch nicht von einem Forum gesprochen werden, "auf dem die zum Publikum versammelten Privatleute sich anschickten, die öffentliche Gewalt zur Legitimation vor der öffentlichen Meinung zu zwingen".61 Zwar gab es jenes Publikum bereits, noch nicht aber die bezeichneten Intentionen und die Frontstellung von Obrigkeit und Öffentlichkeit beziehungsweise von Obrigkeit und Untertanen. Zu Recht mißt Habermas der Presse zentrale Bedeutung für die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu, doch scheint sie lediglich eine notwendige, nicht aber eine allein hinlängliche Voraussetzung dafür zu sein. 62 Die Zeitungen schaffen jene Weltkenntnis und Weltorientierung, ohne die ein selbstbewußtes bürgerliches Publikum ni~ht denkbar ist, doch damit in dem Publikum der Zeitungsleser der Wille zur Mitgestaltung des Staats- und Gemeinwesens erwachen und damit dessen Wandel zum politischen Subjekt vonstatten gehen kann, bedarf es weitergehender Prozesse. Zwar zeigen sich in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts die Anfänge einer regelmäßigen kritischen Reflexion des politischen Geschehens, doch wird man noch nicht davon sprechen können, daß sie zu einem gesamtgesellschaftlich wahrgenommenen Kontinuum geworden ist. Jener Gesamtprozeß der Weltaneignung, wie er in der periodischen Presse bis zu den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist, erscheint als erste entscheidende Voraussetzung für die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und eines Publikums von Privatleuten, das eigenständig auf politische Gestaltung drängt. Erst die souveräne Inbesitznahme all jenen Wissens aus den Bereichen der Politik und der Wissenschaften, das den Zeitgenossen zur Verfügung stand, eröffnet die Möglichkeit eigenbewußten und eigenständigen Handeins sowie des Urteilens nach eigenen Wertmaßstäben. Noch einmal ist zu betonen, daß es vor allem die zunehmende Vertrautheit mit der Welt des Politischen ist, die das Selbstbewußtsein und jene moralisch",
Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 14),72. Ebd. 84. 62 Weber, Deutsche Presse (wie Anm. 17),7, 137, 145, hat 1997 von einem Irrtum in "doppelter Hinsicht, empirisch und theoretisch" bei Habermas gesprochen. Sein historischempirischer Irrtum bestehe darin, daß er den Beginn eines regelmäßigen öffentlichen Nachrichten- und Zeitungswesens fast ein Jahrhundert zu spät datiert habe, sein theoretischer darin, daß er der politischen Presse zu große Bedeutung beigemessen habe, wenn er sie für das ausschlaggebende Konstitutivum der "bürgerlichen Öffentlichkeit" bezeichne. 60
61
::C~l:itB(%~~i~n~ ~i~e ~l~he .S~d.ie ~t nenne~: Gestri~h,
zu Absolutismus und ÖffentWelke e' 11' d' r eZIe tInS esondere dIe verschIedenen Arbeiten von Martin 17. Jahr~~~~~;t: ~m as Werk: Martin Welke, Rußland in der deutschen Publizistik des Berlin 1976, 105_~;J.3-1689). (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd.23.)
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ethische Kompetenz eines neuen Publikums wachsen läßt, die dann sukzessive auch auf alle anderen Lebensbereiche übertragen wird.
VII. Ausblick auf das aufgeklärte Säkulum Für das 18. Jahrhundert ist bekannt, daß es nun zu einer enormen Ausweitung des Pressewesens kommt. Als die Französische Revolution die Zeitungsleser gefangen hält, sind es weit mehr als 200 Blätter, die das deutsche Lesepublikum in Auflagen von manchmal mehreren zehntausend Exemplaren über die unerh~rten Ereignisse unterrichten. Ebenso beeindruckend ist die Entwicklu~g emer hochdifferenzierten und vielfältigen Zeitschriftenlandschaft, in der k~m Themenbereich, keine Wissenschaft ohne eigene Blätter bleibt. Joachim KIrchner hat für das 18. Jahrhundert insgesamt etwa 4000 Zeitschriften verzeichnet. 63 Bibliographische Arbeiten, die von den zeitgenössischen Quellen ausgehen, lassen eine doppelte Anzahl möglich erscheinen. Allein in Hamburg und seinen dänischen Vororten werden bis 1815 1300 periodische Schriften verlegt, in Leipzig sind es knapp 2500. 64 ~ür das aufgeklärte Jahrhundert seien hier unter den Periodika lediglich dreI Gattungen ~urz angesprochen, die in der bisherigen Forschung nur eine Nebenrolle .gesplelt habe?, für die Herausbildung des modernen Mediensystems und emer alle BereIche der Gesellschaft einschließenden Öffentlichkeit aber von größter Bedeutung waren. Wenig beachtet wurden bisher die Periodika der gemeinnützig-ökonomischen A~~lärung. Blätter wie die ab 1742 zwei Jahrzehnte lang erscheinend~n "LeIpzIger Sammlungen" des Kameralisten Georg Heinrich Zincke oder dIe von dem Sä~hsischen Gutsbesitzer Peter Freiherr von Hohenthai redigierten "OekonomIschen Nachrichten" werden zu Orten des öffentlichen Gesprächs. Ausdrücklich wollen sie Medien gegenseitigen Austausches und "geselligen Beistandes" sein - Vorformen aufklärerischer Gesellschaften. In Jo.achim Kirchner (Hrsg.), Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebiete.s bIS ~900. Bd. 1: .von den Anfängen bis 1830. Bearb. v. Joachim Kirchner. Mit einem TItelregister von EdI~h Chorherr. Bd. 4: Register zur Bibliographie der Zeitschriften des deutsc~en SprachgebIetes von den Anfängen bis 1900. Bearb. v. Edith Chorherr T l' AlphabetIsches Titelregister. Stuttgart 1969/89. . . . ~iese Za?len. ergebe~ sich aus den bisher erschienenen oder in Arbeit befindlichen OrtsbIblIographIen 1m. Pro~ekt "Deutsche Presse", das am Institut für Deutsche Presseforschung a~ der Umversltät Bre~en bearb~itet. wird. Siehe dazu Böning (Hrsg.), Deutsche Presse. (WIe Anm. 12). Selbst fur das TerrItonum Braunschweig, das u. a. die Orte Brauns~hwe~g, Helmstedt, ~olfenbüttel, Hildesheim und Goslar einschließt und für das bereits eme mcht auf AutopSIe ber.uhende Pressebibliographie vorlag, konnte durch die Auswertu~g der. Quell~n selbst, ~nsbesondere der Zeitungen und Intelligenzblätter, aber auch der ZeItschrIften, eme erheblIch höhere Zahl an Periodika nachgewiesen werden als zuvor bekannt war. 63
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ihnen wächst - als Charakteristikum des deutschsprachigen Raumes - die Programmatik einer praktischen Aufklärung, die neue Erkenntnisse insbesondere der Naturwissenschaften nutzen und auf das Alltagsleben übertragen will. Überall werden die Grenzen der scholastischen und humanistischen Gelehrsamkeit gesprengt: die Wissenschaften müssen sich daran messen lassen, was sie zu Verbesserungen im Alltag und im gesellschaftlichen Leben beitragen können. Eine selbstbewußtere, .?ürgerlich denkende S~hi~ht v~n Professoren, Geistlichen, Gutsbesitzern, Arzten und Beamten, dIe 1m DIenste der wachsenden absolutistischen Verwaltungen stehen, will über Verbesserungen nicht nur debattieren. Mehr und mehr fühlt sie die Kompetenz, auch Kritik zu üben und reformerisch tätig zu werden. Schon 1753 ist zu lesen, es sei wirksamer, sich an die Öffentlichkeit zu wenden als an die Regierungen, wolle man zu Verbesserungen beitragen. Engste Verbindungen bestehen zwischen den gemeinnützig-ökonomischen und naturkundlichen Periodika und den kameralistischen Zeitschriften, in denen eine bürgerliche Elite in allen Einzelheiten darüber debattiert, wie die Staatsgeschäfte zu besorgen und Verwaltungen so zu organisieren sind, daß damit dem gemeinen Wohl gedient wird. Will man der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit nachgehen, die sich für die Fortentwicklung der Gesellschaft verantwortlich fühlt, wird man auch die ab 1722 erscheinenden Intelligenzblätter berücksichtigen müssen. Ihnen liegt die genial einfache Idee zugrunde, der Öffentlichkeit ein regelmäßiges Medium zur Verfügung zu stellen, in dem Gegenstände und Dienstleistungen jeder Art angeboten und nachgefragt werden können. Frappierend ist die Ähnlichkeit mit dem Internet. Disparates steht unverbunden nebeneinander, darauf wartend, daß es von Lesern genutzt wird. Schnell erhalten zahlreiche Intelligenzblätter neben den Anzeigen auch einen redaktionellen Teil und übernehmen im Dreigestirn der periodischen Presse ihre spezifischen Aufgaben. Sie bieten in vielerlei Hinsicht praktische Lebenshilfe und erreichen die Leser über Jahrzehnte als einziges lokales Presseerzeugnis noch in der entlegensten Provinz. Vielerorts werden die - anders als in Preußen _ oft aus privater Initiative in etwa 250 Orten entstehenden Intelligenzblätter zum Spiegel und Hilfsmittel des gesamten bürgerlichen Lebens sowie zum Forum einer großen Debatte über Reformen. Sie leisten einenBeitrag, die lokalen, regional begrenzten Öffentlichkeiten zu einer nationalen, die Grenzen der Kleinstaaten vernachlässigenden Öffentlichkeit zu verknüpfen. 65
Der Forschungsstand zu den Intelligenzblättem ist dokumentiert in Sabine Doe~in8. Manteujfel/Josej MancallWolfgang Wüst (Hrsg.), Pressewesen der Aufklärung. PerIOdIsche Schriften im Alten Reich. (Colloquia Augustana, Bd. 15.) Berlin 2001.
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Eine. dritt~, bisher wenig beachtete Gruppe von Periodika sind Zeitungen und Zeltschnften, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts um ein neues Lesepublikum bemühen. Das Zeitungsschreiben ist zu einem einträglichen Geschäft geworden. Ein frühes Beispiel für den Versuch, neue Absatzmärkte zu erschließen, ist der ab 1745 erscheinende "Wandsbecker Mercur". Er unterhält mit respektlos interpretierten Nachrichten - spöttisch-satirische Meldungen "Aus Capadocien" greifen hamburgische Lokalereignisse auf. Senat und Geistlichkeit rufen nach Zensur. "Ein erfolgreiches Unternehmen" rechtfertigt der Verleger sich, sei nur durch eine Zeitung möglich, die nich~ nach "dem Geschmack der Gelehrten und Erfahrenen" geschrieben sei, sondern dem Fassungsvermögen "der Einfältigen und geringen Leuthe" genüge, "welche [... ] den größten Rauffen in der Welt" ausmachten. 66 Es entstehen neben solchen, ihre Entstehung stärker wirtschaftlichen Überlegungen verdankenden Blättern seit den achtziger Jahren aber auch etwa dreihundert Periodika, die vorwiegend aufklärerischem Engagement verpflichtet sind. Titel wie "Das räsonnirende Dorfkonvent", "Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer", "Der bayerische Landbot", "Der Volksfreund" _ dieser Titel erscheint bereits vor dem "L' Ami du peuple" in Frankreich _ oder Aufrichtige Volkszeitung" verraten, daß die ländliche Bevölkerung angespr~chen 67 werden sollte. Mit einer Zeitverzögerung zur Aufklärung für die Gebildeten, wie sie für die Volks aufklärung insgesamt charakteristisch ist, wird nun auch einfachen Lesern die Welt des Politischen erschlossen. Nachrichten sind durch belehrende Erzählungen und praktische Ratschläge ergänzt. Erklärungen geographischer und historischer Art ersetzen das Zeitungslexikon, das dem Gebildeten zur Verfügung steht. In diesen Blättern wie in der Volksaufklärung insgesamt wird erstmals der Gedanke erörtert, daß zur Nation auch ~er ,gemeine Mann' gehöre und Information, Aufklärung und Bildung wichtIgste Voraussetzungen dafür seien, daß aus Untertanen ein Volk von Staatsbürgern werden könne.
66 Zu dieser Zeitu~g Holger Böning, Der "gemeine Zeitungsleser" und die Veränderungen der ~ressestruktur 1m 18. Jahrhundert. Hamburg und die umliegenden Orte als Vorreiter, in: ~stn~ BIome (Hrsg.), Zeitung, Zeitschrift, Intelligenzblatt und Kalender. Beiträge zur hlstonschen Presseforschung. (Presse und Geschichte Neue Beiträge Bd 1) Breme .. n 2000, 177-210. "
~: Daz~ det~il1iert bei Holger Böning (Hrsg.), Französische Revolution und deutsche Offenthchkelt. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. (Deutsche Presseforschung, Bd. 28.) MünchenlLondon/New YorkiParis 1992.
Weltaneignung durch ein neues Publikum
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VIII. Resümee Das aufgeklärte Säkulum vollendet jenen Wandel zur Modeme, der seit dem frühen 17. Jahrhundert in einem mehr als ein J ahrhundert d~uernden Pro~e~ . er regelrechten Welteroberung vorbereitet wurde, indem dIe neuen pubhzIelll . .-1+ • stischen Medien nun in die Breite wirken und zu emem hochdll~erenzlerten Stern der Information und Diskussion fortentwickelt werden. Rler kann tat?Shlich davon gesprochen werden, daß quantitative Entwicklungen qualitasac 00 . d' tive Veränderungen zur Folge haben. Wohl kaum weniger als 100 peno 1che Schriften in den deutschen Territorien verweisen auf die ganz neue Be~eutung des nun in enzyklopädischer Breite verbreiteten zeitgenössischen Wissens und der öffentlichen Debatte. Regelmäßigkeit und Dichte der Kommunikation steigern sich in vorher kaum vorstellbarer Weise. Zeitschriften und Intelligenzblätter, intensiver als in der Forschung b~sher g~sehen a~er auch die Zeitungen werden zum Ort einer großen Debatte, m der SIch WeltbIld d Weltanschauung des Publikums formen. Am Ende des 18. Jahrhunderts es der periodischen Presse gelungen, in alle Winkel des gesellschaftlichen Lebens einzudringen, sie ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. ~b dieser bedeutendste Medienwandel in der Entwicklung zur Modeme dIe Bezeichnung einer zweiten Medienrevolution nach der Erfindung des Buchdruckes verdiente, mag dahingestellt sein. Das Ablaufmodell, nach dem die deutsche Aufklärung sich erst seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts von einer wissenschaftlich-lite~ari schen oder publizistisch-literarischen strukturell zu einer alle ~ebensb~relche umfassenden Reformbewegung wandelt, ist zwar RandbuchwIssen, WIrd den tatsächlichen, in der Presse dokumentierten Debatten jedoch nur sehr bedingt gerecht. Es ist noch einmal besonders hervorzuhe~en, daß sic? ein neues Lesepublikum außerhalb des Privaten liegende BereIche des PolItIschen, der Wissenschaften und des moralisch-ethischen Urteilens bereits im 17. und frühen 18. Jahrhundert erobert. Daraus entsteht noch nicht sogleich eine politisch-räsonierende Öffentlichkeit, wohl aber läßt sich hier der Prozeß verfolgen, in dem sich zum Publikum versammelte Privatleute alle ~ie ".~ra~ss~t zungen aneignen, ohne die ein politisches Räsonnement ~o ~el11g mo~hch l~.t wie eine Öffentlichkeit, die eigene Vorstellungen zu artlkuliere,n begmnt. In der Zunahme der politischen Informationen liegt somit die erste und wichtigste Voraussetzung für die mit der Aufklärung einsetzende, zunächst sehr behutsame und oft nur an Nuancen erkennbare Kritik am absolutistischen Staat und die erste Infragestellung von dessen Legitimität. 68 Nächst dieser
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68 Eine frühe literarische Öffentlichkeit hingegen, die ihre Institut~onen in. ~affeeh~usern, Salons und Tischgesellschaften gefunden hätte und als V~rform emer pobt1s~hen Offen.tlichkeit begriffen werden könnte, ist - beispielsweise für die Hamburger EntWicklung - me
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sind es die moralischen, naturkundlich-praktischen und gemeinnützig-ökonomischen Zeitschriften und die mit ihnen verbundenen Institutionen sowie die Intelligenzblätter und die weiteren Medien einer praktischen Aufklärung, die als Vorform und Instrument der Formierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit zu begreifen sind, als entscheidendes Übungs feld öffentlichen Räsonnements und als Orte der Selbstaufklärung. Für das Entstehen einer politischen Öffentlichkeit im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, mit der sich ein fast zwei Jahrhunderte dauernder Prozeß zunächst voll.~ndet, ist noch einmal beispielhaft auf Hamburg hinzuweisen. Die Presse kann mit Fug als eine Art erstes Parlament der Hansestadt bezeichnet werden. In später niemals mehr wiederkehrender Intensität werden hier die öffentlichen Angelegenheiten in einer Weise beraten, die jeder demokratischen Gesellschaft gut zu Gesicht stehen würde. Zwar wird - charakteristisch für die deutsche Aufklärung insgesamt - der staatliche Monopolanspruch auf öffentliche Angelegenheiten nicht ausdrücklich in Frage gestellt und vermeidet man möglichst Konfrontationen mit der Obrigkeit, doch in der Praxis nimmt sich das neue Publikum aller Bereiche des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Gestaltung in einer Weise an, daß an dem Anspruch auf tatkräftige Mitgestaltung kein Zweifel bestehen kann.
von größerer Bedeutung gewesen. Zwar entstand schon 1677 das erste Kaffeehaus in der Hansestadt, 1700 gab es bereits sechs, 1750 vierzehn und 1810 zweiunddreißig dieser Stätten geselliger Kommunikation, zwar wurde hier zweifellos auch über Oper, Theater und Literatur diskutiert, doch als wirklich gesichert kann eigentlich nur gelten, daß sie ein Hauptort der Zeitungslektüre waren, ein Ort, dessen Besucher "eher ihren Caffee, als die Advisen missen wollen, wenigstens keine Tasse mit Appetit trinken, wenn sie solche nicht mit einigen Raisonnements über den Kulicham oder über den Großvezier hinunterschlürfen können". (So in: Altonaischer Mercurius. Jg. 1742, No. 71.) Paul Jakob Marperger berichtet 1726 über die Bedeutung der Kaffeehäuser als wichtige Nachrichtenumschlags- und Diskussionsorte. Ganz selbstverständlich stellt er sie neben solche Plätze des geselligen Beisammenseins und Räsonnements, die engstens mit dem neuen Medium Zeitung verbunden waren, nämlich die Verkaufs orte der Zeitungen wie Avisenbuden, Zeitungs läden und Zeitungs büros , die nach dem Zeitungskauf "zur Versammlung und Entretien vieler curiosen Leute" geworden seien. Marperger, zitiert nach Elger BlühmlRolf Engelsing (Hrsg.), Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bremen 1967,95.
Teil 2
Kommunikationsraum Dorf und Stadt
Kommunikationsraum Dorf und Stadt Einleitung Von
Gerd Schwerhoff Im Auftrag des Pfarrers soll der neue Mesner ein Osterspiel im Gotteshaus organisieren. Er weist die Magd des Pfaffen an, als Engel am Grab des auferstandenen Christus zu erscheinen, während einige Bauern die Rolle der Frauen am Grab zu übernehmen haben. "Quem queritis? Wen suchet ihr hie?", befragt nun im Spiel der Engel die Frauen auf lateinisch. Einer der Bauern antwortet, wie der Mesner es ihn gelehrt hat: "Wir suchen eine alte einäugige Pfaffenhure. " Die empörte Magd schlägt dem einfältigen Laienspieler ein blaues Auge, dessen Nachbar attackiert den Engel daraufhin so heftig, daß ihm die Flügel abfallen, worauf endlich auch der PfaITer - er sollte den auferstandenen HeITen spielen - seine Siegesfahne fallen läßt und sich mitten ins Getümmel mischt. So mündet das fromme Vorhaben in eine Massenschlägerei in der Dorfkirche. Der Mesner heißt in diesem Fall Till Eulenspiegel, und der falsche Text für die einfältigen Bauern stellt nur einen der zahlreichen Streiche dar, die diese Figur berühmt machten. 1 Für uns ist die Geschichte interessant, weil mit dem Kirchenraum einer jener Ol1e aufscheint, die im Mittelpunkt dieses Teils stehen. Zusammen mit Rathaus, Wirtshaus und Gericht war die Kirche eine der bevorzugten ,Bühnen' für die ,face-to-face'-Kommunikation der Frühen Neuzeit. Wamm lohnt sich eine nähere Beschäftigung mit diesen Kommunikationsräumen? "Wer in das global village einzieht, sollte das alteuropäische Dorfgeschwätz kennen", so behauptet Johannes Burkhardt in seiner Einleitung. Ist das mehr als eine freche Behauptung, ein modischer Tribut an mikrohistorische Moden? Ist nicht das Dorf- und Stadtgeschwätz bereits in der Frühen Neuzeit ein Anachronismus, und liegen die wirklich zukunftsweisenden Entwicklungen nicht auf anderen Ebenen? Tatsächlich läßt sich ja kaum bestreiten, daß in der Frühen Neuzeit durch die neuen Medien und durch die Verbessemngen der Nachrichten- und Verkehrs systeme ein neues Kapitel in der Kommunikationsgeschichte aufgeschlagen wurde, gleich ob man den damit bezeichneten Wandel als plötzliche
1 Wolfgang Lindow (Hrsg.), Ein kurztweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Stuttgart 1966, 13. Historie, 39-41.
138 Revolution oder eher als allmähliche Evolution verstehen möchte. 2 Was damals geschah, könnte man in der klassischen Terminologie des Medienforschers Harry Pross als eine Ergänzung der "primären Medien" des menschlichen "Elementarkontaktes" wie Sprache, Mimik, Gestik etc. (sie benötigen neben den menschlichen Sinnen keinerlei Hilfsmittel zur Produktion, zum Transport und zum Konsum einer Botschaft) durch "sekundäre" (Druck-)Medien, die auf der Produzentenseite technisches Gerät erfordern, verstehen. 3 Durch das Auftreten derartiger Medien konnten Kommunikation und direkte soziale Interaktion auseinanderfallen, wurde der Prozeß der Bedeutungsvermittlung zwischen einem "Sender" und einem "Empfänger" räumlich und zeitlich voneinander entkoppelt. 4 Vor diesem Hintergrund läge es nahe, weniger dem Inhalt der EulenspiegelGeschichte Aufmerksamkeit zu schenken als ihrer medialen Verbreitung schließlich wurde das Volksbuch des Braunschweiger Zollschreibers Hermann Bote zu einem der frühneuzeitlichen Bestseller schlechthin, mit mindestens 26 Auflagen allein in Deutschland und Übersetzungen in viele europäische Sprachen schon im 16. Jahrhundert. 5 Aber diese Erfolgsstory läßt sich kaum vom Inhalt des Buches abtrennen. Der mediale Siegeszug des ,Eulenspiegel' ist sicherlich auch dadurch zu erklären, daß die häufig auf Marktplätzen, in Wirtshäusern und eben in Kirchenräumen angesiedelten Geschichten typische Kommunikationssituationen abbilden. Was sie schildern bzw. verfremden, ist keine versunkene Lebenswelt des Mittelalters, sondern der den meisten Lesern vertraute Alltag. Mit Buch, Flugblatt und (später) Zeitung veränderte und erweiterte sich das Medienuniversum des frühneuzeitlichen Menschen. Dominant blieben aber für die meisten die direkten, leibgebundenen Michael North (Hrsg.), Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. 2. Auft. Köln 2001; für das Nachrichtenwesen exemplarisch Wolfgang Behringer, Veränderungen der Raum-Zeit-Relation. Zur Bedeutung des Zeitungs- und Nachrichtenwesens während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Benigna von KrusenstjernlHans Medick (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Göttingen 1999, 39-81; zuletzt Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002, 16ff. Re1ativierung der Medienrevolution aus der Perspektive eines Mediävisten durch Uwe Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. 2 Teilbde. Wiesbaden 1998, der bereits mit dem Beginn des "Manuskript"-Zeitalters um 1370 eine entscheidende Zäsur ansetzt. 3 Zur Unterscheidung zwischen ,primären' und ,sekundären' Medien klassisch Harry Pross, Medienforschung. Darmstadt 1972, lOff.; vgl. Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 3., aktual. Auft. Wien 1998, 36f. 4 V gl. zum Verhältnis von Kommunikation und Interaktion Burkart, Kommunikationswissenschaft (wie Anm. 3), 20f. Zum Auseinandertreten von Interaktion und Kommunikation auch Rudolf Schlögl in seinem Beitrag auf der Augsburger Tagung, vgl. http://www.unikonstanz.delFuFlPhilo/Geschichte/MMAG/Theorie/TheOlie-Text.htm. 5 Werner Wunderlich, Till Eulenspiegel. München 1984, 86ff. 2
Medien wie Sprache oder Gestik und damit die direkten Ko~munikationsf~rzu Angesicht'. Wer die Frühe Neuzeit verstehen wlll,. men ,von Angesicht . ., muß tatsächlich diese ,traditionale' Komponente der Epoche nchtIg begreIfen. So fern, wie manche holzschnittartigen Periodisi~run.gsschemata sugg~ rieren, ist der Gegenwart dieser ,ferne Spiegel' ohnehm mcht. Auch wenn m der gegenwartsbezogenen Kommunikationswissenschaft mit Vorliebe über die Massenkommunikation diskutiert wird, bleibt die moderne Gesellschaft von kleinräumigen und direkten Austauschbeziehungen bestimmt, von Klatsch und Tratsch, Denunziationen und Gerüchten, Mobbing und infonnell en Netzwerken etc. Auch im Zeitalter der Globalisierung kann in Politik, Wirtschaft und Kultur nur erfolgreich kommunizieren, wer die Regeln der direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht beachtet und beherrscht. Wie sich aber dieser ,direkten' Kommunikation in der Geschichte analytisch nähern? Versteht man unter ,Kommunikation' wirklich "alles, was sozial der Fall ist"6, dann droht Kommunikationsgeschichte auf der Mikroebene zu einem Etikett zu verkommen, das auf alle möglichen kultur- und sozialgeschichtlichen Forschungen geklebt werden kann. Ein~ Möglichkei~: diese Unverbindlichkeit zu verringern, ist die schärfere Profiherung von Raumen, die Kommunikationsprozesse strukturieren. Die Kirche, in der eben typischerweise Messen stattfinden oder Osterspiele aufgeführt werden, aber keine Schlägereien ausbrechen, ist ein solcher Raum, der Kommunikationsakte begrenzt, regelt und bei deren Sinndeutung mitwirkt. Wi~htig sind derlei Räur.ne unter anderem deshalb, weil sie entgegen der theoretIschen "Unwahrschemlichkeit der Kommunikation"7 das Gelingen vieler Kommunikationsakte gewährleisten. In bezug auf den Kirchenraum hebt Werner Freitag gerade auf dessen Strukturierungsleistung für die religiöse Kommunikation ab. Die Eingangs geschichte des Eulenspiegel deutet freilich an, daß dies nicht immer gelingen mußte, daß Kommunikation ihrerseits die typ~sch~ Nutzung d~s Raumes überschreiten oder konterkarieren kann - und mcht Immer war dIe intentionale Bosheit eines Narren dafür verantwortlich. Kommunikationsraum Dorf und Stadt, so heißt unser Themenfeld. Entsprechend könnte man die gesamte Stadt- bzw. Dorfgemeinde als einen solchen Raum verstehen, der durch bestimmte Akte symbolischer Kommunikation'konstituiert wird. So ist die ältere, stark normativ ausgerichtete Verfassungsgeschichte der Stadt in jüngster Zeit durch eine fruchtbare Forschung zur 6 Peter Fuchs, Modeme Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt am Main 1993, 11. 7 Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in.: d~rs., A.ufsätze ~nd Reden. Stuttgart 2001, 76-93, hier 78f. Theoretisch unwahrschem~Ich. seI, daß elI~e Botschaft einen Empfänger erreiche, daß dieser sie verstehe und schlIeßlIch, daß er WIe erwünscht darauf reagiere.
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Kommunikationsraum Dorf und Stadt
Gerd Schwerhoff ..:.---
symbolischen Kommunikation ergänzt worden, die unterstrichen hat, wie fragil die politisch-soziale Einheit des städtischen Raumes war und wie sehr sie immer wieder neu hergestellt werden mußte. Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit, die, den im städtischen Raum angesiedelten symbolischen Akten wie Schwörtagen, Prozessionen oder Herrschereinzügen zuteil geworden ist,s Ratswahlen waren hier weit mehr als ein nüchterner partizipatorischer Mechanismus, sondern stellten ausgefeilte Rituale dar, die den liminalen Zustand von Unsicherheit und Herrschaftslosigkeit bändigen sollten; in Form von Umgängen oder Festmahlen an verschiedenen Orten versuchten sie oft, den gesamten städtischen Raum einzubeziehen und ein sinnfälliges Netz symbolischer Kommunikation zu weben. 9 Gegenüber diesen durchaus fruchtbaren Ansätzen konzentrieren sich die Beiträge in unserem Kontext auf Kommunikationsräume in Stadt und Dorf: Mit Rathaus und Wirtshaus in der Stadt, Kirche und Gericht auf dem Dorf sollen exemplarisch Orte der Kommunikation in den Blick genommen werden, die in der frühneuzeitlichen Gesellschaft von besonderer Bedeutung waren. Diese Auswahl beansprucht keine Vollständigkeit: Das Studium von Marktplätzen und Straßen wäre sicher ebenso aufschlußreich wie dasjenige von Mühlen und Brunnen; und das Haus als zentraler Lebensraum wäre auch in bezug auf sein Kommunikationsprofil näher zu untersuchen. lO Wir denken aber, mit diesen Beispielen zentrale kommunikative Schnittstellen der frühneuzeitlichen Gesellschaft in den Blick zu bekommen, Orte, die für die Konstituierung der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit bedeutsam sind. Die komplexe Diskussion über den Charakter frühmoderner Öffentlichkeit soll hier
8 Zu dieser Forschungsrichtung Gerd Schwerhoff, Das rituelle Leben der mittelalterlichen Stadt. Richard C. Trexlers Florenzstudien als Herausforderung für die deutsche Geschichtsschreibung, in: Geschichte in Köln 35, 1994, 33-60; neuere Beispiele etwa Christop~ Boehm, Die Reic?sstadt A~gsburg und Kaiser Maximilian 1. Untersuchungen zum BezIehungsgeflecht ZWIschen ReIchsstadt und Herrscher an der Wende zur Neuzeit. Si~maringen 1998; Wolf-Henning Petershagen, Schwörpflicht und Volksvergnügen. Ein BeItrag zur Verfassungswirklichkeit und städtischen Festkultur in Ulm. Stuttgart 1999; ~ndr~a.Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obngkeIthche Inszenierung, städtische Einheit. Köln 1999. 9 pietrich W Poeck, Rituale der Ratswahl in westfälischen Städten, in: Barbara StollbergRIlmger (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren. (ZHF, Beih. 25.) Berlin 2001,207-262. 10 Perspektivreich, wenn auch nicht immer mit striktem Orts-Bezug die Beiträge in HeinzGerhard Haupt (Hrsg.), Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. München 1994; exemplarisch zum Haus etwa Olivia Hochstrasser Ein Haus und seine Menschen 1549-1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikrogeschichte und Sozialgeschichte. Tübingen 1993; jetzt Susanne C. Pils, Schreiben über die Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716. Wien 2002; Joachim Eibach, Das Haus: zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Pri vatheit (16.-18. Jahrhundert), in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Norm und Struktur, Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 2l.) KölnlWeimarlWien 2004, 183-205.
. ht erneut entfaltet werden. ll Als ,öffentliche Räume' sollen ganz pragma~lC h lehe Orte gelten, die für Menschen unterschiedlicher regionaler Hert1SC so . . . .. 11 kunft, sozialer Zug~hörigkeit und u~terschIe~hchen Geschlec~ts pnnzipie. .. glI'ch waren Uberdies sollen dIese Orte m besonderer Welse kommumzugan· . . . . rofilI'ert und für die frühneuzeIthchen Gesellschaften relevant sem. kat1v P . .. ff tlichkeit' konstituierte sich dadurch, daß Menschen verschiedenster . h . 0 en ' enienz hier in komplexe soziale Austauschbeziehungen traten, SIC eme Prov . ' . f 12 Meinung bildeten, Ihre KonflIkte austrugen und Entscheidung~n t~a en. Öffentlichkeit in diesem Sinne realisierte sich in bezug auf dIe hIer b~trachn Räume in sehr unterschiedlichen Formen und Abstufungen. Kirchentete . . h "-1+ t .. me und Wirtshäuser erscheinen zunächst als die paradigmatlSC en Ollen rau "h 'bt lichen, weil in hohem Maße zugänglichen Räume. Aber auch mInen ~I es zahlreiche formale oder informelle Barrieren. Der Chorraum kathohsc~~r Kirchen ist das privilegierte Terrain der Geistlichkeit. Trinkstuben patnzlscher Geschlechter ebenso wie diejenigen von Handwerkern ~nd. Ges~.lle~ sind erst recht nicht allgemein zugänglich, obwohl sich hier ;"Ichtlge stadtIsche Teil-Öffentlichkeiten konstituieren. Und auch ,normale Tavernen und Wirtshäuser sind für Vaganten und für Frauen ohne Begleitung oft Sp~rrebiet. 13 Fast könnte man versucht sein, die Hypothese aufzustellen, daß SIch ;ine bedeutende Teil-Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit erst dadurch herstellt, daß Anwesenheit durch den Ausschluß anderer Menschen aufg~~ertet wird. Das Rathaus könnte diese Hypothese bestärken: Dieser Ort pohtIscher Öffentlichkeit in der Stadt par excellence war natürlich periodisch und/od~r partiell unzugänglich für die Allgemeinhe~t: ~eheimni.~wahrun.g stellte em zentrales Kennzeichen auch städtischer PohtIk m der FruhneuzeIt dar. Andererseits war der multifunktionelle Raum ,Rathaus', wie ihn auch Christopher Friedrichs in seinem Beitrag kennzeichnet, von einer oft überraschenden Durchlässigkeit und Zugänglichkeit gekennzeichnet. 14 Das gilt schließlich auch für das Gericht, den Ort des Geheimnisses schlechthin, das - vor allem auf dem Dorf - zugleich jedoch eine Art von Öffentlichkeit konstituierte. ~as gerichtsnotorisch wurde, konnte nicht mehr durch kollektives Beschwelgen 11 Carl A. Hoffmann, ,Öffentlichkeit' und ,Kommunikation' in ~en ~orschunge~ zur Vormodeme. Eine Skizze, in: ders./Rolf Kießling (Hrsg.), KommumkatIon und RegIOn. Kon,...
stanz 2001,69-112. " . d F "h N 't 12 Vgl. dazu Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Offentliche Räume m er, ru ,en euzeI, Überlegungen zu Leitbegriffen und !hemen eines Forschungsfeldes, m: dIes. (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne (WIe Anm. 10), 11-52. , 13 Zur Soziabilität der frühneuzeitlichen Taverne zuletzt exemplansch B. Ann Tlu~ty, Bacchlls and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany. Charlo,ttesvllle 2001; Beat Kiimin, Useflll to Have, but Difficult to ~overn. Inns and Taverns m Early Modem Bern and Vaud, in: Journal ofEarly Modern HIstory 3, 1~99, 153~.175. " 14 Gerd Schwerhoff, Öffentliche Räume und politisch~ Kultur m der fruhneuzelthchen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, m: Rlldolf Schlogl (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004, 113-136,
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Gerd Schwerhoff
ignoriert werden; und schon allein aufgrund der sozialen Nähe, ja Identität zwischen Gerichtspersonen und der übrigen Bevölkerung wußte wohl jedermann über kurz oder lang Bescheid, was vor Gericht verhandelt worden war. Das Beispiel des Gerichts verdeutlicht auch, daß die Topographie nur eine, wenngleich eine wichtige Dimension zur Strukturierung von Kommunikation darstellte. Die Kommunikationsräume, die im folgenden thematisiert werden sind in der Mehrzahl klar profilierte, von Mauern umschlossene Orte, Räum~ also in einem geographischen Sinn. Das von Maria Heidegger exemplarisch untersuchte dörfliche Gericht hatte dagegen kein eigenes Funktionsgebäude, sondern tagte im Wirtshaus. Im Spiegel der überlieferten Zeugenaussagen vor Gericht werden andere Kommunikationsräume erkennbar wie Haus, Fensterbalken oder Dorfbrunnen. Und jenseits der Topographie werden ,soziale Räume' rekonstruierbar, ortsübergreifende Kommunikationszusammenhänge, in die etwa die Frauen eines Dorfes eingebunden waren und die ihre Handlungsspielräume bestimmten und begrenzten. Soziale und topographische Räume standen so in einem Wechselverhältnis. Mit den Worten der Autorin: Räume gestalten Kommunikation - Kommunikation konstruiert (und konstituiert) Räume. 15 Welche Fragen können wir nun an die ausgewählten Räume stellen? Hält man sich an das begriffliche Grundinstrumentarium der Kommunikationswissenschaft, dann geht es um die ,Sender' und ,Empfänger' von Kommunikationsakten, um die Art der zwischen ihnen gewechselten Botschaften und Nachrichten sowie um die dabei verwendeten Medien. Was die Botschaften angeht, so ist einigen der betrachteten Räume ihr hauptsächlicher Kommuni kationszweck gleichsam inhärent. Kirchen bieten vornehmlich den Rahmen für religiöse Kommunikation, in Rathäusern wird zuerst politische Kommunikation betrieben. Beim Wirtshaus mag man als dominante Funktion die gesellige Kommunikation anführen, aber spätestens hier wird sich berechtigter Protest regen. Wirtshäuser dienen zweifellos als Orte der Geselligkeit, des Trinkens, Essens und Spielens, ebenso aber als Bühne für wichtige Feierlichkeiten - etwa Hochzeiten - und für Gerichtsverhandlungen. Ihr multifunktionaler Charakter ist in der neueren Forschung immer wieder hervorgehoben worden.I 6 Und das gilt bis zu einem gewissen Grad eben auch für städtische Rathäuser und dörfliche Kirchengebäude. Man mag diese Multifunktionalität vieler öffentlicher Räume als einen topographischen Reflex des systemtheoretischen Befundes betrachten, daß wir es in der Frühen Neuzeit noch nicht mit funktional ausdifferenzierten Gesellschaften zu tun haben. Viele obrigkeitli15 Die Konstitu.tion v?n Räumen als Ergebnis komplexer sozialer Bedeutungszuweisungen und KonstruktlOnsleIstungen beleuchtet systematisch Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. 16 Vgl. Anm. 13.
che Kampagnen jener Epoche - der post-tridentinische Kampf um die Entprofanisierung der Kirchenräume ist das beste Beispiel-ließen sich demzufolge als Versuche verstehen, eine gewisse Exklusivität von Nutzungen für bestimmte Räume, gleichsam eine neue kommunikative Ordnung, zu etablieren und die bedrohliche Vielzahl von Themen und Sprechern zu marginalisieren Versuche freilich, die mühevoll und keineswegs immer von Erfolg gekrönt waren. Mit einer Exklusivität von Kommunikationszwecken ging im übrigen häufig die asymetrische Strukturierung des Kommunikationsprozesses ein~er. Anders als in den idealtypisch konstruierten Mikroräumen der Kommumkationswissenschaft, wo sich Sender und Empfänger abwechseln, sollten zumindest in Rathaus und Kirche nur bestimmte Personen ihre Botschaften aussenden, die anderen vorwiegend passiv rezipieren. Aber auch hier verlief die tatsächliche Kommunikation - jenseits von kirchlicher Predigt und den öffentlichen Verkündigungen des Rates - nicht in den vorgezeichneten Bahnen, ergriffen Gottesdienstbesucher selbstbewußt das Wort, entzogen sich der Predigt durch sonntäglichen Wirtshausbesuch, oder erstürmten die Bürger im Extremfall sogar das Rathaus. I7 Das Wirtshaus schließlich war der klassische Ort polyphoner und polyzentrischer Kommunikation - eben die Vielzahl der Themen und Sprecher machte es trotz zahlreicher Versuche kaum beherrschbar und ließ es in den Augen kirchlicher und weltlicher Obrigkeit als gefährlich erscheinen. 18 In einem doppelten Sinn wäre nach der Medialität der untersuchten Räume zu fragen. Einmal sind sie durch ihre Bauweise, ihre Zugänglichkeit, ihre Ausstattung und ihre Ausmalung selbst Bedeutungsträger, semiotische Objekte, eben Kommunikationsmedien, die den Besuchern bestimmte Botschaften (zum Beispiel über den Charakter der göttlichen wie weltlichen Gerechtigkeit) vermitteln sollten. Bei den Kirchen und den Rathäusern tritt das deutlicher hervor als etwa bei den Tavernen, aber auch dort existieren in Form von Wirtshaus schildern, Wappen, Fensterscheiben etc. symbolisch besetzte Elemente, die das Gebäude selbst zum Medium von Traditionsvermittlung machen.19 Zweitens wäre dann nach den Kommunikationsmedien zu fragen, 17 Vgl. für ,unerwünschtes' Verhalten im Kirchenraum Norbert Schindler, Skandal in der Kirche, oder: Die Strategien der kleinstädtischen Ehrbarkeit im ausgehenden 17. Jahrhundert, in: Salzburg-Archiv 26, 1999, 53-110; Peter Thaddäus Lang, Visitationsprot~kolle und andere Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Stuttgart 2002, 302-324, hier 316f. 18 Susanne RauiGerd Schwerhoff, Frühneuzeitliche Gasthaus-Geschichte(n) zwischen stigmatisierenden Fremdzuschreibungen und fragmentierte~. Gelt~ngserz~l~ngen, in: Gert MelvillelHans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. Uber dIe StabIlISIerung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln 2002, 181-201, hier 186ff. 19 Beat Kümin, Wirtshaus und Gemeinde. Politisches Profil einer kommunalen Grundinstitution im alten Europa, in: Rau/Schwerhoff (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne
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Kommunikationsraum Dorf und Stadt
die in den jeweiligen Räumen dominierten. Predigt und liturgische Handlun_ gen in der Kirche; politische Beratung und deren öffentliche Verkündigung im Rathaus; das alltägliche Geschwätz und Gerücht als Rückrat der öffentlichen Meinung in der Frühen Neuzeit2o , das sich gelegentlich bis zur Injurie steigern konnte, in der Bier- oder Weinschenke - so könnte in grober Vereinfachung ein Katalog jeweils typischer Kommunikationsmedien aussehen. Orale und leiblich-rituelle Medien scheinen nach wie vor zu dominieren, typisch offenbar für die, vormoderne ' Kommunikationssituation von Angesicht zu Angesicht. Aber Vorsicht: Auf den zweiten Blick wird die Verknüpfung dieser von Mündlichkeit geprägten Welt mit den neuen Medien offenbar. Räte verzichten zwar nicht auf die rituelle Verkündigung ihrer Beschlüsse und auf feierliche Schwurakte, aber sie ergänzen diese doch zunehmend durch gedruckte und öffentlich ausgehängte Edikte. 21 Auch hier kam es im übrigen darauf an, wo diese ausgehängt wurden, und der berühmteste, wenngleich vermutlich fiktive Akt dieser Art, nämlich Luthers Thesenanschlag an die Kirchentüre der Wittenberger Kirche 1517, ist in dieser Hinsicht typisch.22 Auch der Druck brauchte den öffentlichen Raum, um zur Wirkung zu kommen. Und umgekehrt wurde der neue katholische Ritus auf der individuellen Ebene durch Andachtsbücher gefördert, durch die die Gläubigen in der rechten, devoten Haltung unterstützt werden sollten. Auch im Wirtshaus kamen das gedruckte und das gesprochene Wort zusammen. Nach der Untersuchung von Dagmar Freist zeichnete sich in England in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine neue Qualität von Öffentlichkeit gerade im Zusammenspiel des traditionellen ,newsroom' Wirtshaus mit den neuen Printmedien ab. Diese Beobachtung eines Medien-Mixes gilt selbst für das scheinbar so archaische Feld des Ehrdiskurses, wo nicht nur das gesprochene Schmäh-Wort, sondern auch das ge(wie Anm. 10), 75-97; Rau/Schwerhoff, Frühneuzeitliche Gasthausgeschichte(n) (wie Anm. 18), 184f.; Ossip D. Potthoff/Georg Kossenhaschen, Kulturgeschichte der Deutschen Gaststätte. Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1996 73-84 20 Exemplarisch Martin Bauer, Die "gemain sag" im s~äteren' Mittelalter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher Öffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert. Diss. phil. Erlangen-Nürnberg 1981; Regina Schulte, Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Karin HausenIHeide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main 1992, 67-73; Andreas Würgler, Fama und Rumor. Gerücht, Aufstand und Presse im Ancien Regime, in: WerkstattGeschichte 15, 1996,20-32. 21 Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550). Berlin 1998, 86ff. 22 Vgl. Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 2), 30ff. und 208 (Literatur). Zum Ineinandergreifen von Sehen, Hören und (Vor-)Lesen z. B. Robert W Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen?, in: HansJoachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Stuttgart 1981, 65-76, hier 76. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der länd~ichen Gesellschaft zuletzt einige der Beiträge in Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation m der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Modeme. Göttingen 2000.
-, h ete Schand-Bild und der injuriöse Pasquill (auch er öffentlich angezelC n , " dIe versc h n'ftl'IC hten Kon) das Feld bestimmten,23 Daß schlIeßlIch sch1agen . d . akt 11 fiikte der Vergangenheit in Form des Gerichtsbuches ,WIe er~m I~ ue en A inandersetzungen benutzt und zitiert wurden, WIe Mana H~Ideg~er es zeigt, bestätigt die starke Interferenz zwischen MündhchkeIt und Schriftlichkeit. " , D' Frühe Neuzeit ist deshalb für die Modeme mcht nur als ,ferner SpIegel . IeGegenwart von Interesse, die trotz aller Globalisierung partiell von . h u"berewer . bleI'bt. E s h an delt SIC kl . räumiger Kommunikation gekennzeIchnet ewum eine Epoche, die geradezu als Versuchslabor für das Vierh"l' t' dies a tms ,al er
fü~s;irol
und ,neuer' Medien betrachtet werden kann, In ~iese~ Zusa~menh~ng h~t . Althistoriker und Journalist bereits 1913 m semer DIssertatIOn em der Entwicklung des Nachrichtenwesens"fo:;nuliert, das als ,Riepelsches Gesetz' von der "Komplementarit.ät der ~ed~en bIS heute m der kommunikations wissenschaftlichen Debatte emen wIchtIgen Platz b~haup t t 24 Buch und Zeitung wurden durch Radio und Fernsehen ebensowemg verwie das TV durch das Internet. wuchs der der Fernkommunikation in der Frühen NeuzeIt kemeswegs auf Kos~en der duekten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Im Zuge emer eno.rmen Verdichtung und Umschichtung von Kommunikationsprozes~en ~,ehIelten Mündlichkeit und direkte Interaktion ihr herausragendes GeWIcht, anderten jedoch ihren Kontext. Deswegen lohnt ein zwe,iter .und ein d:itter Blick au~h auf den traditionellen Bereich der KommumkatIOnsgeschIchte. Denn dIe Frühe Neuzeit entpuppt sich auch in diesen ,traditionalen' Segmenten als weniger statisch und traditionell als oft angenommen. . , " Zu den Beiträgen: Zunächst beschäftigt sich Werner Frel~ag ~It. dem dorflichen Kirchenraum im Zeitalter der Katholischen Ko~fes~IOnalIsIer~ng, w~ er im doppelten Sinne eine "Tridentinische KommumkatIOnsmodelherung
:~undgesetz
;~ngt
~nts~rechend
Antei~
Ulinka Rublack, Anschläge auf die Ehre. Schmähschriften und -zeichen in der städtischen Kultur des Ancien Regime, in: Klaus Schreiner/Gerd Sch::verhoff (Hr~g.), yerletzte Ehre Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Fruhe~ Neuzelt. K?ln ~995, 381-411; Matthias Lentz, Schmähbriefe un~ Schandbilder als Medien außergen~h~hcher Konfliktbewältigung, Von der sozialen SanktiOn zur Strafe (14.-16. ~ahr~undert), lll. Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichthcher Forschung.. Köln 1999,55-81. . b d R" k . ht 24 Nach Wollgang Riepl, Das Nachrichtenwesen des Altel:tum~. Mit e~on erer uc SIC auf die Römer, Leipzig 1913, Ndr. Hildesheim 1972,5 ergIbt ~Ich "als elll Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten MIttel, ~ormen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar ?efund~n ",:orden sllld, auch von ~en vollkommensten und höchst entwickelten niemals wIed~r ganzhch ~nd dauernd verdrangt u~d ß Gebrauch gesetzt werden können sondern sIch neben dIesen erhalten, nur daß SIe werden, andere Aufgaben und aufzusuchen": gl. Burkart, Kommunikationswissenschaft (wie Anm. 3), 367, SOWIe - als ?egenentwUlf. - das "Dead Media Projekt", das sich der Sammlung, toter' Medien verschneben hat (http://www.deadmedia.org). 23
:~n~~igt
'Verwertungsg~biete
~
ausmach.~. Einmal habe sie die Ausgestaltung des Raumes direkt betroffen, indem Veranderungen der Kirchenausstattung die Wahrnehmung und das Verhalten der Gläubigen im Sinne des rechten, katholischen Glaubens beeinflussen.~ollten. Neben dieser "Neudefinition :von Sakralität" sei es aber auch um Vera?derun~en der rituellen Kommunikation in der Kirche gegangen: Von Klen~er~ ~N1e Gläubigen war "Ritus genauigkeit" gefordert, wobei diese jedoch mdividuelles Verständnis und persönliche Andacht nicht ausgeschlossen habe. Das plurale Medienangebot von Raumstruktur, Ausstattung, Bildern u?d Andachtsbüchern bildete ein eindrucksvolles Fundament für diese religIösen Kommunikationsformen. Für das Rathaus arbeitet Christopher Friedrichs sehr anschaulich sowohl dess~~ m?gliche Variations breite vom prächtigen Repräsentationsgebäude bis ~u.~ armhchen Bürgerhaus heraus; die bereits angesprochene Multifunktionah~at ~nd Medialität zeigt sich jedoch als das übergreifende Charakteristikum. SIgmfikant e~~cheint auch das Spannungsverhältnis zwischen demonstrativ herges~ellter Offent1i~~eit und dem Bemühen um Geheimhaltung von Ratsbeschlussen und pohtIschen Entscheidungsprozessen. Im Extremfall wurde das Rathaus zu einem umkämpften Gebäude, vor dem demonstriert, das belagert und manchmal auch von den Bürgern erobert werden konnte. Kommunikations- und Handlungsräume im Dorf rekonstruiert im An~c~luß daran Maria Heidegger auf der Grundlage von 160 überlieferten InJunenprozessen vor einem Tiroler Landgericht im ausgehenden 16. Jahrhunde~t. Die Strategien der beteiligten Prozeßparteien werden aufgrund der analysIerten Zeugenvernehmungen ebenso sichtbar wie die kommunikativen Netz~erke dörflicher Nachbarschaften. Besonderes Augenmerk wird dabei auf.dIe geschlechtsspezifi.~che Besetzung der jeweiligen topographischen und sozI.alen Räume gelegt. Uberraschend ist schließlich die zentrale Rolle des Genchtsbuches als Speichermedium und Repräsentant der dörflichen Erinnerung zugleich.
.In. den (gro.ß-)städtischen Kontext begibt sich schließlich Dagmar Freist ~It Ihre~ Beitrag über das Wirtshaus im London des 17. Jahrhunderts. In emer Zeit sich verdichtender öffentlicher Meinung und heftiger politischer Kontroversen wur~e. das ~~rtshaus in der englischen Hauptstadt zu einem Brennpunkt der polItIschen Offentlichkeit, wobei seine Funktion als Börse zur Verbreitung von - gedruckten wie mündlichen - Nachrichten ebenso hervorz~heben is~ wie seine Rolle als Zentrum der Debatte und der Meinungsb.Ildung. Se~ne Bedeutung erlangte es als der einzig klar definierte Ort, an dem s~ch verschIed~ne soziale Gruppen, Einheimische und Fremde sowie profesSIOnelle Nachrichtenbroker außerhalb eines obrigkeitlich gesetzten Rahmens begegneten.
Die Kirche im Dorf Von
Werner Freitag Im vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, die zentrale Funktion der Dorfkirche, die religiöse Kommunikation, zu erläutern. Zu diesem Zweck fasse ich religiöse Kommunikation als eine mediengestützte, interpersonale Bedeutungsvermittlung auf. Gott wird als Empfänger gedacht, dargestellt und angesprochen. 1 Ihn anzubeten und zu loben, seine Gegenwart und seine Hilfe herabzuflehen, das sind - religionsphänomenologisch gesprochen - die spezifischen Inhalte religiöser Kommunikation. Für die Vermittlung nutzen Gläubige und Pfarrer (= ,Sender') Sprache, Gesang und zeichenhafte Handlungen (Liturgie). Dieses liturgische Handeln kann mit den Worten von Walter Burkert als "standardisiertes Verhalten in kommunikativer Funktion" aufgefaßt werden. 2 Hinzu kommt die zweite Ausdrucksform religiöser Kommunikation, das individuelle Gebet.3 Religiöse Kommunikation bedarf der Medien: zunächst des Buches, das in der Frühen Neuzeit eine wachsende Bedeutung erhielt, sodann des Kirchengebäudes, das einerseits den Rahmen für Liturgie und Gebet bereitstellt, das andererseits in Bild und Plastik Gottes- und Kirchenlob sowie Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Testaments ist.
1 Die sozialen Beziehungen der Gläubigen untereinander sowie das mitunter spannungsreiche (Herrschafts-)Verhältnis von kirchlichen Amtsvertretern und Gemeinde bleiben in diesem Beitrag unberücksichtigt. Mir geht es um die wesentliche Funktion des Gebäudes Kirche: die Kommunikation mit Gott. Nur durch diese eindeutige Begrenzung kann der Begriff ,mediengestützte religiöse Kommunikation' für unser Thema fruchtbar gemacht werden, ansonsten besteht die Gefahr einer Vermengung verschiedener Kommunikationsebenen. V gl. als Beispiel für einen multiperspektivischen Ansatz Enno Bünz, "Die Kirche im Dorf lassen ... ". Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Kirchenwesen, in: Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Göttingen 2000, 77-167. Auch der weite Kommunikationsbegriff ,Soziales besteht nur aus Kommunikation' erweist sich vor diesem Hintergrund als nicht praktikabel. Vgl. hierzu unten Anm. 19. 2 Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt. 2. Aufl. München 1987, 28 f. 3 Da ich, wie unten ausgeführt, ausschließlich katholische Dorfkirchen beschreibe, fasse ich die Predigt nicht als religiöse Kommunikation auf. Im tridentinischen Katholizismus war die Predigt Auslegung und Belehrung, aber eben nicht, wie von Luther intendiert, göttliche Botschaft, die durch den Mund des Predigers wirkt. Der Katholizismus kommunizierte rituell und im Gebet, das Luthertum durch die Verkündigung des göttlichen Wortes. Vgl. Ernst Troeltsch, Alt. "Kirche, III. Dogmatisch", in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. Tübingen 1912, 1150f.
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Werner Freitag
Dieser Beitrag behandelt Aspekte der Katholischen Konfessionalisierung am Beispiel nordwestdeutscher Landgemeinden4 , insbesondere des Ober- und Niederstifts Münster sowie des Bistums Osnablilck5 . Der uns interessierende Zeitraum von ca. 1600 bis 1770 ist gekennzeichnet durch ein Erstarken der Bischofskirche und ein Reformprogramm, vorgegeben durch das Tridentinum und umgesetzt in den diözesanspezifischen Synodalbeschlüssen. Der neue Klerus machte sich daran, die religiöse Kommunikation in den Gemeinden im Sinne dieser Programmatik zu verändern. 6 Mit dieser, den Klerus und die Gemeinden gleichermaßen betreffenden religiösen Kommunikation wird sich ein Teil meines Beitrages beschäftigen. Ferner gehe ich auf die Medien ein, also auf den Wandel der Kirchengebäude und auf die klerikale und gemeindliche Nutzung der neuen Bücher. Zudem betrachte ich die Antworten der Empfänger von Gebeten und Liturgie, also des dreifaltigen Gottes und, um eine Formulierung Peter Burscheis aufzugreifen, des nachtridentinischen Heiligenhimmels .7 Das Spezifische der Dorfkirche in der Frühen Neuzeit bestand darin, daß a) keine umfangreichen Neubauten wie in der Stadt zu barocker Pracht führten - die betrachteten Dorfkirchen blieben in der Regel kleinere spätgotische Hallen 8 - daß b) der genossenschaftliche Charakter der Dorfgemeinde stark 4 Zum Konzept vgl. Wolfgang ReinhardiHeinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 135.) Münster 1995; vgl. hierzu meine Rezension in: Perform 2, 200 1 (http://www.sfn.uni-muenchen.de/rezensionen/rezp20010513.htm). 5 Ich verweise hier auf meine Dissertation zum Wallfahrtswesen und auf meine Habilitationsschrift zum tridentinischen Klerus: Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster. Paderborn 1991; ders., Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400-1800. Bielefeld 1998. V gl. auch ders., Konfessionelle Kulturen und innere Staatsbildung. Zur Konfessionalisierung in westfälischen Territorien, in: WestF 42, 1992, 75-191. 6 Damit deute ich mein ,konventionelles' Vorgehen an: Ein Reformprogramm wird im Hinblick auf sein kommunikationsgeschichtliches Wandlungspotential vorgestellt. Anschließend richte ich mein Augenmerk auf die Umsetzung in der Region. Der Erfolg (= ,der frühmoderne Wandel') zeigt sich darin, daß auch die Dorfkirehen von der tridentinischen Kommunikationsmodifizierung erfaßt wurden. Diese Argumentation deckt sich zum Teil mit den Überlegungen der ,klassischen' Volkskunde und der religiösen Volkskunde, welche die zeittypischen Wandlungen von Sitte und Brauch (= Norm und Vollzug) immer im Zusammenhang mit "hochkulturellen, hier kirchlichen Aktivitäten" gesehen haben. V g1. Ludwig Lenhart/Ludwig Andreas Veit, Kirche und Volksfrömmigkeit im Zeitalter des Barock. Freiburg 1956; Wolfgang Brückner, Brauchforschung tut not, in: Ib. für Volkskunde 21, 1998, 108-138, Zitat 123. 7 Peter Burschel, Der Himmel und die Disziplin. Die nachtridentinische Heiligengesellschaft und ihre Lebensmodelle in modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hrsg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999,575-595. 8 Franz Mühlen, Baukunst im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Wilhelm Kohl (Hrsg.), Westfälische Geschichte. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Alten Rei-
war - das Kirchengebäude und die Gottesdienste wurden von der Kirchenfabrik, d. h. der gemeindlichen Verwaltung von Gotteshaus und -dienst, unterhalten - und daß c) die Kirche auch in profaner Hinsicht Mittelpunkt des Dorfes war. Gleichwohl änderte sich das Erscheinungsbild auch auf dem Land, und das nicht zuletzt, um geeignete Bedingungen für den religiösen Kommunikationsprozeß und die höheren Ansprüche an ihn herzustellen.
I. Der Wandel der Dorfkirchen im Zeitalter der Katholischen Konfessionalisierung9 Visitatoren und neue Pfarrer kümmerten sich um das Innere der Kirchen und auch um den Kirchhof. Ihnen ging es erstens um die Trennung von profanen und heiligen Dingen und zweitens um eine neue Ästhetik des Kirchenschmucks. Gotteshaus und Kirchhof sollten frei sein von all dem, was nun als profan identifiziert wurde - nur dann schien überhaupt religiöse Kommunikation möglich. Die Visitatoren kritisierten das Aussehen der Kirche. Pauschale Urteile wie "ruiniert" oder "häßlich und einem Schweinestall ähnlich" leiteten zu Beginn des 17. Jahrhunderts die detaillierten Mängellisten der Visitationsprotokolle ein. 10 Die Überzeugung, daß Gott eine reinliche und strahlende Kirche benötige, leitete die Visitatoren und die tridentinischen Pfarrer, während die Gemeinde hierfür anfangs keine Sensibilität zeigte. Die ersten Maßnahmen zur Erzielung tridentinischer Sauberkeit waren Reinigung und Übertünchung der ungepflegten Kirchenwände. Zudem verschwanden Gegenstände des Alltags, etwa Wäsche und Lebensmittel, aus der Kirche. Der Küster, bezahlt von der Gemeinde und der Kirchenfabrik, bekam Besen und Staubtuch in die Hand gedrückt. Ebenfalls ein Stein des Anstoßes war der Kirchhof, einst Angelegenheit der Gemeinde. Die Bestandsaufnahme im Rahmen der Visitationen läßt die Nutzung des Geländes um die Kirche als Ort der Lebenden und der Toten erkennen. An den Rändern des Kirchhofes befanden sich Wohnhäuser und Wirtches. Düsseldorf 1983, 687-728, bes. 718-720. Vgl. auch zum Überleben der Gotik im 1f und frühen 18. Jahrhundert Hans Thümmler, Die Stilbildungen des Barock in der Kirchenbaukunst Westfalens, in: Wilhelm Tack (Hrsg.), Festgabe für Alois Fuchs zum 70. Geburts. . tag am 19. Juni 1947. Paderborn 1950,173-215. 9 Freitag, Pfarrer (wie Anm. 5), 242-252, 275 f.; ders., K?nfesSlOnelle Kulturen (WIe Anm.5), 154-161, 164-166 (mit Beispielen aus dem Fürstbistum Paderbom). Vgl. auch die ähnlichen Argumentationen bei Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800. Paderborn 2000, 237-252. 10 Die Bestandsaufnahme im Dekanat Vechta (1613-1655) findet sich in Freitag, Pfarrer (wie Anm. 5),242-247.
schaften. ll Die Visitatoren beklagten, daß die Hauseingänge zur Kirche gelagert seien, und so die Bewohner den Friedhof für ihre alltäglichen Geschäfte nutzten. Zudem wühlten Schweine und Rindvieh die Gräber auf. Hier versuchte man, allerdings oft vergebens, einzugreifen, um Bewohner, Gastwirte und das Vieh vom Kirchhof zu verdrängen. Bei Kirchweihen und anderen Festen, beim Besuch des Händlers und der Gaststätten nach dem Gottesdienst, mitunter aber auch während der Predigt blieb die profane Kommunikation ebenso erhalten wie beim Kranz des Brauchtums zur Begleitung der Lebenspassagen, etwa Leichenschmaus und Totenbier nach der Beerdigung. Die Neudefinition von Sakralität war ebenfalls das Werk der Visitatoren und neuen Pfarrer. Aus den spätmittelalterlichen Bauwerken wurden Räume, in denen die Blicke und die Gedanken des Betenden auf den Hochaltar gelenkt wurden. Gerügt wurde die Aufstellung hoher Kirchenbänke, denn diese verstellten den Blick und den Weg nach vorn. Wenn der Landadel nicht Patronatsherr der Kirche war, konnte es sogar dazu kommen, daß die Höhe der Sitze des Adels reduziert wurde. Die Visitatoren spürten desolat aussehende Altäre auf. Sie seien künstlerisch anspmchslos, dazu schmutzig und schmucklos, zerstört und nackt, hieß es immer wieder in den Visitationsprotokollen. Auch Bilder und Statuen in Schiff und Chor unterlagen der Kontrolle. Die Synodaldekrete der münsterischen "Constitutio Bernardina" präzisierten 1655 das Bilderdekret des Tridentinums, indem die Autoren für das Bistum Münster "profanes, unehrenhaftes, weltliches, zügelloses, nacktes oder obszönes" Aussehen der Bilder verboten. Es verschwanden die "unförmigen" Statuen und zu deftige spätmittelalterliche Bemalungen. 12 Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts gelangten die neuen Hochaltäre in die Kirchen. Zunächst angeschafft vom Dorfpfarrer, gelegentlich auch vom Landesherrn als Mäzen, im 18. Jahrhundert von der Kirchenfabrik oder aufgrund von Sammlungen der Gemeinde. Die Vorgaben der neuen Ikonographie, wie auch die Abgrenzung von Chor und Schiff setzten sich in allen Dorfkirchen durch. Das aufwendige Bildprogramm zielte auf die Verherrlichung Gottes, seiner triumphierenden Kirche und ganz direkt auf den Tabernakel, den Aufbewahrungsort der konsekrierten Hostien, die jetzt nicht mehr in einem Sakramentshäuschen bzw. in Nischen in der Chorwand aufbewahrt wurden.
11 V gl. Christoph Dautennann, Kirchhöfe und Kirchhofspeicher in Nordwestdeutschland. Zur Stellung von Kleinbauten im dörflich-städtischen Bereich seit dem ausgehenden Mittelalter, in: Günter Wiegelmann/Fred Kaspar (Hrsg.), Beiträge zum städtischen Bauen und Wohnen in Nordwestdeutschland. Münster 1988, 283-306. 12 Die Constitutio Bernardina findet sich in: Hermann Kock (Hrsg.), Series Episcoporum Monasteriensium, eorundumque Vitae ac Gestae in Ecclesia. Pars IV. Münster 1805, 96169, hier 103, 152f. Beispiele für den ,katholischen Bildersturm' in Freitag, Pfarrer (wie Anm. 5), 245.
II. Rituelle Grundlagen religiöser Kommunikation 13 Für das Gelingen des Meßopfers in der Dorfkirche war Ritusgenauigkeit erforderlich. Sie sollte den würdigen Anruf Gottes und seine Antwort sichern. Doch stellte sich auch in der Epoche der Katholischen Konfessionalisierung die in der Geschichte der Kirche seit Augustinus immer wieder gestellte Frage nach dem Verhältnis von rituellem Automatismus, der schon durch den genauen Vollzug wirkt, und subjektiver Gesinnung sowie innerer Anteilnahme. I4 Wichtig ist für unsere Epoche, daß beide Aspekte in spezifischer Weise vom neuen Klems und auch von der Gemeinde eingefordert wurden. Als Vorbereitung der religiösen Kommunikation schrieben Synoden und Missalien dem Klems zunächst das Verlassen der weltlichen Sphäre vor. Hierzu dienten das rituelle Waschen der Hände, bestimmte Gebetsübungen und das Anlegen der Meßgewänder. Die Anschaffung neuer Meßgewänder und Chormäntel stellte für die Kirchenfabrik eine erhebliche Ausgabe dar. An die Dorfkirche fügte sich nun oft eine Sakristei an, die der Meßvorbereitung und der Aufbewahmng der zahlreich gewordenen Gewänder diente. Die Vereinheitlichung des Ritus geschah dann, um - wie es das zunächst im Dekanat Vechta vorgeschriebene Kölner Missale betonte - mit "einer Seele, Stimme und einem Ritus Gott zu verherrlichen" .15 Deshalb sehen wir selbst in der kleinsten Dorfkirche die diözesanspezifischen Ausgaben des römischen Missale von 1570, zunächst eingeführt von den Visitatoren, dann angeschafft von den Dorfpfarrern, später finanziert von der Kirchenfabrik. Der Kleriker hatte jegliche Gott erzürnende Regung während der liturgischen Handlunge? zu unterlassen. Die Osnabrücker Herbstsynode 1651 verurteilte alle "lächerhehen" Zeremonien. Manche Geistliche hätten bisher die "Schönheit der heiligen Handlungen durch ungebräuchliche und überflüssige Gesten und Kniebeugen beeinträchtigt" und würden ferner durch Hin- und Herschwanken auffallen. 16 Bei den Visitationen kontrollierten Generalvikare und Dekane das Aussehen der Kleriker - selbst die Barttracht war vorgeschrieben - und die strengste 13 Vgl. Freitag, Pfarrer (wie Anm. 5), 133-137, 28.6-2?4; d~rs., Liturgische B~che: ~m Dekanat Vechta. Einführung, Verbreitung und FunktIon 1m ZeI.talter de~: K.0nfeSSlO?ah~le rung, in: Benedikt Kranemann/Klemens Richter (H~·sg.),. ZWI~chen ro.~mscher Emheltsliturgie und diözesaner Eigenverantwortung. GottesdIenst 1m BIstum Munster. Altenberge 1997, 102-126. .. .. . 14 Vgl. zu diesem zentralen Aspekt Arnold Angenendt, LIturgIk und Hlstonk. Gab es eme organische Liturgie-Entwicklung. Freiburg 2001: 118-174.. . . .. 15 Missale S. Coloniensis Ecclesiae, iussu Seremss. et ReverendIss. Domml D. Ferdmandl Archiepisc. et Principis Electoris Coloniensis. Antwerpen 15~1, Vorw~rt. . . 16 Johannes Brogberen (Hrsg.), Acta Synodalia Osnabrugensls Eccleslae ab Anno ChnstI MDCXXVIII. Köln 1653,374.
Beachtung der Vorgaben der Missalien. Doch auch das Wissen um das, was am Altar geschah, hatte der Kleriker nachzuweisen. Denn gerade das Meßopfer erforderte höchste Andacht, vorbereitet im täglichen Beten des nun vorhandenen Breviers, dann bei den Gebeten in der Sakristei, die das Missale vor dem Gottesdienst vorschrieb. Das Missal{erinnerte an jeder Station des Meßopfers im lateinischen Gebet, in den Rubriken und in wertvollen Kupferstichen daran, welche Station der Lebens- und Leidensgeschichte Christi der Kleriker am Altar in Gedanken, Gebet und Handlungen nachvollzog. So erwuchs die Empathie mit dem Gekreuzigten zum eigentlichen Kern des Meßopfer~. Die Testamente und Altarstiftungen der Kleriker sind Belege dafür, daß sIch der Zelebrant tatsächlich in das Erlösungswerk Christi einbezog und es ihm dadurch möglich wurde, als ,Sender' tätig zu werden, also Gott zu loben und ihn um Hilfe für sich und die Gemeinde zu bitten. Wenden wir uns den Gläubigen zu. Eine neue, auf das Individuum bezogene Devotion war das Ideal. Sie sollte den spätmittelalterlichen Pluralismus der Heilsangebote und -praktiken, etwa das Küssen, das Ekstatische, das Berühren und die, so Max Weber, "planlos verrichteten guten Werke" ablösen. I7 Es läßt sich eine Konzentration auf Sakramentskult und Meßopfer konstatieren. Matthäus Tympius, einer der lokalen Vordenker der tridentinischen Reform im Fürstbistum Münster, artikulierte in den 1620er Jahren den Zusammenhang von Ritus und Devotion in seinen "Procession-Predigen" folgendermaßen: Um zu "betrachten I betten I andächtig singen I Gott anrufen I und bitten" sei Ordnung und der Verzicht auf "geschwätz und einige eitelkeit" nötig. Jeder solle mit "andächtigem Herzen, das zu Gott gerichtet" ist, am Gottesdienst teilnehmen. 18 Auch wenn wir mitunter voller Sympathie auf volkskulturelle Ehrkonfiikte und ähnliches schauen - wer freut sich nicht, wenn in Visitationen oder Sendgerichts protokollen von Schlägen, Schimpfen und Haarereißen in den Kirchenbänken während des Gottesdienstes die Rede ist -, für unsere Untersuchung ist der Normalfall gewichtiger: der Verzicht auf solche Verhaltensweisen, um voller Andacht der Messe beizuwohnen. 19 Katechismen und An-
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D~s Zitat fi?det sich in deI? ~erühmten.Eir:schub von 1920 zu Max Weber, Die prote-
stantIsche EthIk und der ,GeIst des KapItalIsmus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. T. 1. 7. Aufl. Tübingen 1978, 114. ~~ Z~tiert nach ~reitag, Volks- und. Elit~nfrömmigkeit (wie Anm. 5), 100. . DIe Tend~nz In der kulturgeschIchtlIchen Forschung, Ehrkonflikte und Rituale feinfühl~g-ethnol~gIsch zu en~schlüsseln/kontextualisieren, führt mitunter dazu, daß die eigentlIch~n ~ufg~ben des KIrchengebäudes und des Gottesdienstes - Gotteslob, Andacht, Bitte ~.aWIe dIe Ennner~~g an d~n Kreuzestod Christi - aus dem Blick geraten. V gl. demgegenuber Ho/zem,. RelIgIOn (~Ie Anm. 9), 390-395; ders., Die Konfessionsgesellschaft. Christenleben zWIschen staatlIchem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: ZKiG
dachtsbücher propagierten das von Tympius erwünschte andächtige Herz als Grundtugend der religiösen Kommunikation. Unterstützend wirkte eine bauliche Innovation im Kirchenschiff: die Kniebank. Gleichzeitig ging auch in den kleineren Kirchen die Entwicldung dahin, den Ort des Mysteriums nicht allein durch Chorschranken, sondern auch durch Kommunionbänke, die dem Eucharistieempfang in kniender Haltung dienten, abzuschließen. Wie verhielt sich die Gemeinde in Liturgie und Gebet, wenn man sie als ,Sender' religiöser Nachrichten begreift? Für diese religiöse Kommunikation standen viele neue Andachtsformen, neue Bruderschaften sowie - insbesondere für die ländliche Gemeinde - die aufwendigen eucharistischen Prozessionen sowie die Umtrachten mit Heiligenfiguren bereit. Ich beschränke mich hier auf den Höhepunkt der Woche, das sonntägliche Meßopfer. Daß das tridentinische Meßopfer auf den Kleriker zentriert war, ist einleitend zu bemerken. Gleichwohl blieb die Gemeinde nicht unbeteiligt. Für sie bot sich, wenn auch zeitlich versetzt, in Analogie zum Luthertum der Kirchengesang an. Beginnend mit Bamberg 1575 führte eine Diözese nach der anderen Gesangbücher ein, da - wie es im uns interessierenden münsterischen Gesangbuch von 1677 heißt - das Volk sehr "zum singen fast geneigt" sei und es "Catholische I ungefälschte Gesänge" benötige, damit es nicht durch den Gebrauch der "Sectischen Lieder von der Gemeinschaft der H. Kirche abgeführt würde".2o Die Anschaffung solcher Bücher ist in den Kirchenrechnungen ebenso nachzuweisen wie die von Orgeln. So setzte sich in meinen Untersuchungsregionen schon vor der katholischen Aufklärung eine deutsche Liedbegleitung durch, und zwar mit einer dorfspezifischen Begründung. Im Pastoralbrief von 1652 erlaubte der münsterische Fürstbischof Christoph Bernhard das Singen deutscher Lieder in den Dorfkirchen, da es dort keine Kanoniker für den lateinischen Choral gebe. 21 Auch andere für die Laien bestimmte Druckerzeugnisse, etwa die zahlreichen Handpostillen, an deren Spitze im katholischen Westfalen, der Goffine ' mit seinen Auslegungen der Lesungen und Evangelien des Kirchenjahres stand22 , erlaubten eine Neuformierung religiöser Kommunikation, die auf die Anteilnahme an den heiligen Handlungen und nicht nur auf die überkommene 110, 1999, 53-85, bes. 80ff. mit dem Plädoyer für einen "ergebnisoffen-frömmigkeits~ geschi chtlichen Ansatz". 20 Münsterisch Gesangbuch I Auff alle Fest und Zeiten deß gantzen Jahrs. Münster 1677, Vorrede. 21 V gl. hierzu auch Erika Heitmeyer, "Münsterisch Gesangbuch / Auff alle Fest und Zeiten deß gantzen Jahrs [... ] 1677", in: Kranemann/Richter (Hrsg.), Einheitsliturgie (wie Anm. 13), 79-101. 22 Karl losef Lesch, Ein Seelsorger im Dienste der tridentinischen Reform. Leben, Wirken und Frömmigkeit des Prämonstratensers Leonhard Goffine (1648-1719), in: Johannes Meier (Hrsg.), Clarholtensis Ecclesia. Forschungen zur Geschichte der Prämonstratenser in Clarholz und Lette (1133-1803). Paderbom 1983, 127-146.
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Werner Freitag
Augenkommunion abzielte. Für die Gemeinde war zudem das in die Messe integrierte gemeine Gebet, also die Fürbitten, von Wichtigkeit. Diesem dienten viele Stiftungen.
IH. Die individuelle Andacht23 Setzen wir wieder beim Meßopfer an: Auffallend ist, daß sich ein häufigerer Empfang der Eucharistie und damit die Gelegenheit schlechthin, Dank und Wünsche für Diesseits und Jenseits vorzutragen, einbürgerte. Aus Kirchenrechnungen läßt sich der vier- bis sechsmalige Gang zur Kommunionbank im Laufe des Kirchenjahres pro Jahr errechnen. Andachtsbücher gaben die Gebete vor, die vor und nach dem Empfang zu sprechen waren. Über die Kommunion hinaus waren es der Gekreuzigte in Bild und Tabernakel und die Heiligen, die ansprechbar erschienen. Der Umgang mit den in allen Dorfkirchen vorhandenen Bildern Mariens soll als Beispiel für diese mediengestützte Modellierung religiöser Kommunikation dienen. Die Andachtsbücher gaben dem Leser Gebete an die Hand, die seine Bitten vorformulierten. Vor den Bildern standen zudem Kniebänke für das Gebet bereit. Dem Votant wurde geraten: "werffe dich in tieffer demuth deines Herzens zu den Füssen der HimmelsKönigin, grüße dieseIbige, und begehre [... ] durch ihre Fürsprach Gnad". Die devote Andacht vor dem Bildnis war folglich die adäquate Ausdrucksform religiöser Kommunikation; alles andere werde "dir sonst nicht so sonderlich nützen". Oft empfahlen die Andachtsbücher auch die "reumüthige Beichte", bei der die "Vielheit der Sünden [... ] mit züchtigen Worten" dem Priester bekannt werden sollten. 24 Zum Gebet trat in der Dorfkirche ein weiteres Ausstattungsstück: der Kerzenständer für das Kerzenopfer. Auch für dieses finden sich in den Andachtsbüchern Gebete. Daß tatsächlich Gebete und Andachten aus den neuen Büchern und die devoten Andachtsformen benutzt wurden, ergibt sich aus den Zeugnissen der Mirakelbücher, Votivgaben und aus Bildstöcken in der Flur. 25
23 Freitag, Pfarrer (wie Anm.5), 259-276; ders., Volks- und Elitenfrömmigkeit (wie Anm. 5), 287f., 304-316. 24 Accursio F Evermann, Itinerarium Telgetanum oder Erneute Andachts-Übung eines Frommen Pilgers. Zu der berühmten und wunderthätigen Mutter Gottes Mariam binnen Teigte. Münster 1754, 14-16, 14lf., 154f. 25 Auch in bezug auf Anm. 19 verweise ich auf die Ausführungen zu Wunderheilungen und Bildstöcken in Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit (wie Anm. 5), 275-295.
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Die Kirche im Dorf
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Abb. 1,' Votant und Marienbildnis. Votivgabe aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Marienwal/fahrt TeIgte. . Katholische Kirchengememde St. Clemens, Teigte.
26 " IV. Antworten der E mp f anger
Höhepunkte der Liturgie waren Konsekration und Elevation - Gott antw~r tete: Der Kleriker - im "Catechismus Romanus" als ~olmetsch~r Got~es. ezeichnet _ wußte, daß Christus gegenwärtig war und SIC~ durch Ih~. mItteIlte. Auch der Gemeinde war dieser Gedanke selbstverständlIch. D~r I~~uster hatte im Moment der Wandlung die Kirchenglocken zu läuten, .damIt dIe zu Hause Gebliebenen informiert waren, daß nun der Gottessohn In Gestalt von Brot ..' und Wein ansprechbar war. um die KonsekratIOn In der KIrche anzuGlöckchen wurden angesc hafft , . E . Der Tabernakel selbst regte zum Gebete an und beantwortete dIese. ~. zeIgen. h .. kt sauber zum ' ßbar, illl't SeI' dengardinen versehen, gesc muc . . , . '" _ war versc hlIe Teil drehbar und in den Hochaltar integriert. Auf dIese Welse war eIne wur
. 47 f 255-257 290-295; ders., Volks- und Eliten(WIe Anm. ~~9;. V auch Ulrich Pfister, Geschlosse~e Taber~~el frolllilllgkelt (WIe ~nm. 5), ~90 Refor~ und ländliche Glaubenspraxis m Graubunden, H g/Sabine HoltzlWolfgang Zimmermann (Hrsg.), saubere Paramente. Ka~ohsche l7. und 18. Jahrhundert, m: Norb~rt kaal nd Lebenswelten 1500-1850. Stuttgart Ländliche Frömmigkeit. KonfeSSIOns u turen u 2002, 115-141.
26frei~ag,. Pfar,rer
'1.
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Werner Freitag
dige Aufbewahrung der Eucharistie garantiert sowie diese bildlich und künst~ lerisch in den Mittelpunkt gestellt. Das ewige Licht brannte; eine wertvolle Monstranz gehörte zur Ausstattung jeder Dorfkirche, genutzt für eucharisti~ sche Andachten und Prozessionen. Die Gelder rührten aus Stiftungen der Ge~ meinde her oder stammten aus der Kirchdnfabrik. Auch in Bildern des Gekreuzigten und Mariens zeigte sich die Antwort Gottes auf das individuelle Gebet und die Andachten, denn die Bilder, ins~ besondere die zahlreichen Kopien der Gnadenbilder, wurden geschmückt. Votivgaben zeugten von geschehenen Wunderheilungen, also von Antworten auf Gebet und Meßopfer; Kupferstiche verbreiteten den Ruf von Gottes Ant ~ wort in Gestalt der "Wunderthätigen Bilder".27
Devotes Gebet und andächtige Teilnahme am Gottesdienst sollten ,magischreligiöses ' Heil ausschließen. Doch trotz oder gerade wegen der damit zu konstatierenden "Entzauberung der Welt" (Max Weber) blieben die Empfänger der religiösen Bedeutungsvermittlung nicht stumm. Die tridentinische Kommunikationsmodellierung fußte auf der Heilserwartung der in der Dorfkirche versammelten Christen. Doch über die damit zusammenhängenden frommen Deutungen und Hoffnungen haben die obigen Ausführungen keine Auskünfte geben können. Wir haben uns zwar in der Dorfkirche umgesehen und einige Veränderungen in der mediengestützten religiösen Kommunikation wahrgenommen, doch mit Droysen läßt sich sagen, daß der "Blick der Forschung" in das fromme Herz, in dem die "Persönlich28 keit [... ] mit sich und ihrem Gott allein verkehrt", nicht eindringen kann.
V. Schlußbetrachtung Die Dorfkirche stellte im Zeitalter der Katholischen Konfessionalisierung ein Instrument zur Verhaltensmodellierung der Gläubigen und des Klerus (= ,der Sender') dar; sie lobte aber auch Gott und seine Heiligen mit Hilfe einer neuen Ästhetik und gab zudem die himmlischen Antworten auf eine neue Art und Weise wieder. Für den Klerus in der Dorfkirche war die im Rahmen der Ausbildung am Jesuitenkolleg vermittelte und im Gefolge der Synoden und Visitationen eingeforderte Ritusgenauigkeit nach den Vorgaben der flächendeckend vorhandenen Missalien und Agenden Grundlage ihres Wirkens. Ritusgenauigkeit hieß aber in der Frühen Neuzeit nicht, mit Gott aufgrund ,magischen' Vollzugs in Verbindung zu treten. Religiöse Kommunikation erforderte vom Zelebranten innere Anteilnahme und theologisches Wissen. Veränderungen in der Kirchenausstattung zielten auf das Verhalten der Gläubigen: Kniebänke, Hochaltäre, Tabernakel und neue Bilder, aber auch ,ordentliche und saubere' Verhältnisse in der Kirche und auf dem Kirchhof. Letzterer zeigte aber bei Kirchweihen und in den Häusern des Kirchhofrings, daß die Rahmenbedingungen der Kommunikation auf dem Lande nicht beliebig verschiebbar waren. Die Gläubigen erlebten den Prozeß der Sozialdisziplinierung auf dem Gebiet der religiösen Kommunikation, denn Devotion wurde eingefordert. Die Medienrevolution der Frühen Neuzeit zeigte sich in der Verbreitung von Andachts-, Bruderschafts- und Gesangbüchern sowie vielen Andachts zetteln. 27 Werner Freitag, Sichtbares Heil- Wallfahrtsbilder in Mittelalter und Neuzeit in: Geza Jaszai (Hrsg.), Imagination des Unsichtbaren. 1200 Jahre Bildende Kunst i~ Bistum Münster. Ausstellung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst- und Kulturgeschichte vom 13. 6.-31. 10. 1993. Münster 1993,122-146.
Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. v. Rudolf Hübner. 4. Auf!. München 1960, In. Die Interpretation, § 41c, 340.
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Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive Von
Christopher R. Friedrichs Jede Stadt im Europa der Frühen Neuzeit hatte ein Rathaus - und das Rathaus war fast immer ein wichtiges Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Diese Feststellung ist an sich kaum überraschend, doch ist die kommunikative Funktion des europäischen Rathauses bisher wenig untersucht worden - im Unterschied etwa zur Baugeschichte, zur kunstgeschichtlichen Bedeutung und zur Ikonographie der Figurenprogramme der Rathäuser, die, wenn auch nicht im selben Maß wie bei Kirchen und Schlössern, ziemlich griindlich erforscht worden sind. l Auch der vorliegende Beitrag kann kaum den Anspruch erheben, das Thema Rathaus als Kommunikationsraum erschöpfend darzustellen, doch kann er einige einführende Überlegungen anbieten. Fast jede europäische Stadt hatte ein Rathaus - oder sogar mehrere Rathäuser -, doch waren diese Gebäude in ihrer Größe und Gestaltung äußerst unterschiedlich. Einige Rathäuser gehörten zu den größten städtischen Profanbauten Europas. Das allergrößte Rathaus in Europa - das allerdings auch als Verwaltungssitz für ein ganzes Kolonialreich diente - war sicherlich der Dogenpalast in Venedig, das größte derartige Gebäude in Deutschland war wohl das am Anfang des 17. Jahrhunderts gebaute Rathaus in Augsburg (Abb. 1). Andere waren dagegen winzig klein, wie etwa das hübsche Rathaus der englischen Kleinstadt Titchfield, das jetzt im Weald and Downland Open Air 1 Als Beispiele seien nur einige der wichtigsten Werke erwähnt: Katharine Fremantle, The Baroque Town Hall of Amsterdam. Utrecht 1959; Carotine Barron, The Medieval Guildhall of London. London 1974; Holm Bevers, Das Rathaus von Antwerpen (1561-1565). Architektur und Figurenprogramm. (Studien zur Kunstgeschichte, Bd.28.) Hildesheim 1985; Wolfram Baer/Hanno-Walter Krujt/Bernd Roeck (Hrsg.), Elias Holl und das Augsburger Rathaus. Regensburg 1985; Susan Tipton, Res publica bene ordinata: Regentenspie-;. gel und Bilder vom guten Regiment. Rathausdekorationen in der Frühen Neuzeit. (Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 104.) Hildesheim/Zürich/New York 1996; Maike Haupt, Die Große Ratsstube im Lüneburger Rathaus (1564-1584). Selbstdarstellung einer protestantischen Obrigkeit. (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 26.) Marburg 2000. Grundlegend für den deutschen Raum ist immer noch Karl Gruber, Das deutsche Rathaus. München 1943. VgL auch die Überblicke von Jürgen Paul, Rathaus und Markt, in: Cord Meckseper (Hrsg.), Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650.4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, Bd. 4, 89-118, und Bernd Roeck, Rathaus und Reichsstadt, in: Bemhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hrsg.), Stadt und Repräsentation. 31. Arbeitstagung in Pforzheim 1992. (Stadt in der Geschichte, Bd. 21.) Sigmaringen 1995, 93-114.
Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive
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Museum in Sussex zu besichtigen ist. Einige Städte besaßen mehrere Rathäuser. Der berühmteste Fall war vermutlich die Stadt Braunschweig, wo bis 1671 jedes der fünf Weichbilder - so die Bezeichnung für die Stadtbezirkesein eigenes selbständiges Rathaus besaß; obwohl im Rathaus des Weichbildes Neustadt einige gesamtstädtische Funktionen ausgeführt wurden, galt dieses keineswegs als Rathaus der ganzen Stadt. 2 In vielen Städten existierte aber eine ganz andere Situation: Neben einem städtischen Rathaus als Sitz der städtischen Obrigkeit gab es gleichzeitig auch ein anderes Gebäude oder einen Gebäudekomplex als Sitz eines zweiten Machthabers, etwa des Bischofs oder des Landesherrn, in dem Beamte oder Richter in dessen Namen ihre Funktionen ausübten. Die Konkurrenz zwischen dem Hötel de Ville und dem Chfrtelet in Paris ist besonders bekannt, aber auch in zahllosen anderen Städten in fast jedem europäischem Land gab es Beispiele dieser Art. Nur in den wenigen wirklich souveränen Stadtrepubliken war diese Möglichkeit eigentlich ausgeschlossen. Wichtig ist es auch zu betonen, daß diese Situation in Städten jeder Größe auftreten konnte. In vielen ganz kleinen englischen Städten gab es zum Beispiel eine ernsthafte Konkurrenz zwischen der, town hall' , wo die Ratsherren versuchten, ihre wachsende politische Selbständigkeit auszuüben, und der ,manorial hall', wo etwa der ,bailiff' (Amtmann) oder ein sonstiger Beamter des ,lord of the manor' (Grundherr) versuchte, die traditionellen Rechte des ,lords' zu verteidigen. 3
I. Das multifunktionelle Rathaus Die Multifunktionalität des europäischen Rathauses ist von vielen Autoren wiederholt betont worden. 4 Nur eine Funktion war jedem Rathaus gemein: per definition em war das Rathaus das Gebäude, in dem der städtische Rat oder Magistrat sich versammelte oder tagte. Kein Rathaus war aber auf diese Funktion beschränkt, andererseits gab es auch kein Rathaus, in dem jede mögliche Funktion ausgeübt wurde. Ebensowenig läßt sich im Laufe der Frühen Neuzeit eine einheitliche Tendenz zur Erweiterung oder Verminderung der multiAbb. ,1: Das Augsburger Rathaus ..Ausschnitt aus dem Kupjerschnitt von Heinrich Jonas Oste/tag, 1711. Staats- und StadtbzbliothekAugsburg.
Fritz von Osterhausen, Die Baugeschichte des Neustadtrathauses in Braunschweig. (Braunschweiger Werkstücke, Bd. 51.) Braunschweig 1973, 13-16; Matthias Ohm, Das Braunschweiger Altstadtrathaus. Funktion - Baugeschichte - figürlicher Schmuck. (Braunschweiger Werkstücke, Bd. 106.) Hannover 2002, 15-34, besonders 25 f. 3 Robert Tittler, Architecture and Power: The Town Hall and the English Urban Community, c. 1500-1640. Oxford 1991, 89-97. 4 Auch die Multifunktionalität von Kirchen und Wirtshäusern ist kommentiert worden. Siehe zum Beispiel Beat Kümin, Rathaus, Wirtshaus, Gotteshaus. Von der Zwei- zur Dreidimensionalität in der fIÜhneuzeitlichen Gemeindeforschung, in: Frantisek Smahel (Hrsg.), Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.-16. Jahrhundert. (Colloquia mediaevalia Pragensia, Bd. 1.) Prag 1999,249-262. 2
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Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive
Christopher R. Friedrichs
funktionellen Dimensionen der Rathäuser beobachten. In einigen Fällen wur~ ?en verstreute Aufgaben in einem neuen, größeren Rathaus zusammengefaßt m anderen Fällen verlor ein Rathaus einige Funktionen an neu errichtete Bau~ ten. Um also die kommunikative Funktion des Rathauses bewerten zu kön~ nen, muß man eine ganze Reihe von möglichen Funktionen des Rathauses in den Blick nehmen. 5 Das Rathaus war ja nicht nur der Ort, an dem der Rat der Stadt tagte, dort versammelten sich gleichzeitig eine Reihe von anderen städtischen Gremien und dort wurde auch eine ganze Menge städtischer Verwaltungs aufgaben aus~ ge:ührt. Im Mai 1614, als der große Fettmilch-Aufstand in Frankfurt am Main semen Höhepunkt erreicht hatte, belagerten die aufrührerischen Bürger das Rath~us von Frankfurt, den Römer. Ein zeitgenössischer Bericht gibt eine deutlIche Vorstellung von der Vielfalt der normalen politischen und administrativen Tätigkeiten im Rathaus, die dadurch behindert worden waren' "Diese wochen uber sindt auch die gewöhnliche Bürgermeister verhör: Raths: Gerichts / Schöffenraths / referir, Cantzley / und andere Amptsgeschäffte durch solchen Tumult / einfang und sperrung des Römers gehindert worden / daß auch alle Convocationes und Ministeria durch die Richter und Diener underlassen. Man hat auch mit den bürgern von Abstewern oder Abmahnen nicht wol reden können / wie den tag nichts angestelt / oder verordnet werden mögen."6 Die Funktionen des Rathauses waren aber keineswegs auf politische Versammlungen und Verwaltungs aufgaben beschränkt. Viele Rathäuser hatten zum Beispiel auch Marktfunktionen. In vielen europäischen Rathäusern von England bis nach Polen, fand sich im Erdgeschoß eine große Markthalle' oder ei~e Reihe von Verkaufs buden. Dies ermöglichte es dem Rat, wesentliche wIrtschaftliche Aktivitäten leicht zu kontrollieren. Beim Bau eines kostbaren neuen Rathauses kam auch manchmal der Gedanke auf, die Baukosten weitgehend durch Mieteinnahmen von den Budeninhabern zu decken.? Rathäuser wurden auch für jede Art von festlichen Ereignissen benützt. Nicht nur offensichtlich politische Zusammenkünfte wie etwa der Empfang von Landesherren und anderen hohen Besuchern oder festliche Mahlzeiten der städtischen Machthaber fanden hier statt: Wenn andere geeignete Gebäude nicht vorhanden waren, wurden Rathäuser auch für Tänze oder Hochzeiten der städtischen Elite oder sogar für die Aufführung von Theaterstücken genutzt.8 Rathäuser
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~ B~is.pielha~t au~gelistet be~ Ohm, Altstadtrathaus (wie Anm. 2), 15-84.
..Dl~um Hlstoncum, Dannn~.n. Deß Heyligen R.eichs Sta~t Franckfortt am Mäyn gefährlIcher Uffstandt unnd schwunges Unwesen / WIe dasselbIge die Jahr hero von Tag zu Tag vo~ den U~anhebern unnd Haupt-Räthlinsführern geübet und vortgetrieben worden / ordentlIch verzeIchnet ist. Frankfurt am Main 1615 225. ~ Beispielsw~ise in Antw.~rpen: Be~ers, Rathaus (~ie Anm. 1), 11. ~u theatralIschen Auffuhrungen m Rathäusern vgl. zum Beispiel Tittler, Architecture (WIe Anm. 3), 139-150; Max Geisberg, Die Stadt Münster. Bd. 2: Die Dom-Immunität, die
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hatten auch religiöse Funktionen; vor allem vor der ~efo~ation be:and sich . vielen Städten eine Ratskapelle im Rathaus oder m semer unmittelbaren m .h Nähe. 9 Im Rathaus wurde sowohl gekocht als auch gewohnt -:- und ~war nIC t ur von Hausmeistern und ähnlichen Dienern: Oft, vor allem m Itahen, wohn~en hier die Stadtregenten selbst. Der berühmteste Fall war natürlich Venedig, wo der Doge lebenslang einigermaßen gefangen im Dogenpalast wohnte, aber uch in Florenz nahmen die Mitglieder der ,Signoria' während ihrer zwei~onatigen Amtszeit im Palazzo Vecchio ihren Wohnsitz, genau wie in Ro~ die drei ,conservatori' während ihrer dreimonatigen Amtszeit im Palazzo deI Conservatori, dem eigentlichen Rathaus der Stadt, wohnen mußtenJo Rathäuser wurden auch zur Aufbewahrung von Gegenständen jeder Art benutzt. Vor allem wurden dort Urkunden und Akten untergebracht, allerdings verwahrte man manchmal die wertvollsten Urkunden in einem getrennten Belfried oder Kirchenturm. Aber nicht nur Akten befanden sich in Rathäusern. Zu den anderen Gegenständen, die in vielen Rathäusern aufbewahrt wurden, gehörten Handelswaren, Getreidevorräte, Waffe~, Ratssilber - und auc~ Pe~ sonen, nämlich Gefangene. Eine wichtige FunktIon des Rathauses war Ja d~e Ausübung der Kriminaljustiz wie überhaupt des städtischen Rechts.!1 meisten Rathäuser hatten Gefängnisse, in denen Angeklagte oder VerurteIlte für kürzere oder längere Zeit festgehalten wurden. Auch Untersuchungs- und Befragungsräume waren vorhanden. Normalerweise befanden sich. solche Einrichtungen im Keller des Rathauses, wie etwa in Nürnberg, oder 1m Er~ geschoß, wie in Amsterdam. 12 Das war aber nicht im~er ~er Fall. In VenedIg befanden sich zum Beispiel viele Gefängniszellen SOWIe dIe große Folterkammer ganz oben unter dem Dach. Direkt vor dem Rathaus standen oft der Pranger sowie andere Einrichtungen zur Exekution von Leibesstrafen. In manchen
?Ie
Marktanlage, das Rathaus. (Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Bd. 41/2.) Münster 1933,280. .. . k . Uwe Heckert, Die Ratskapelle als Zentrum bürgerlicher Herrschaft und Fro~g elt: Struktur, Ikonographie und Funktion, in: BlldtL~ 129, 1993, 139-164. Zum SchIcksal der Ratskapelle in London vgl. Barron, Guildhall (WIe Anm. 1),3.5-:-39. ., . 10 Für die Einzelheiten über Rom vgl. Laurie Nussd01fer, ClVIC Pohtlcs m the Rome of
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Urban VIII. Princeton 1992, 60f., 71 f. 11 Zur Verteilung dieser strafrechtlichen Funktionen zwischen dem Rath.~us und ander.e,1J Stätten in Köln sowie zu den Gründen dafür vgl. Gerd SchwerhoJf, Das Kolner Ra~haus .Im Geflecht spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher G~richt~stätt~n, in: Walter Gels/Ulnch Krings (Hrsg.), Köln. Das gotische Rathaus und seme hlstonsche Umgebung. (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 26.) Köln 2000, 499-508 . 12 Zu den berühmten Gefängnissen des Nürnberger Rathauses vgl. Hermann Knapp, Das Lochgefangnis. Tortur und Richtung in Alt-Nürnberg. Nürnberg 190~, 7-~2. Zur Vorgeschichte dieser Zellen, die vermutlich im Vorgängerbau als Laden emgench~et waren, vgl. Walter Haas, Die Lochgefängnisse unter dem a~ten ~athaus ~ls Rest des HeIls?ronner Brothauses in Nürnberg, in: Mitteilungen des Verems fur GeschIchte der Stadt Nurnbe~g 75, 1988, 1-30. Zur Lage der Gefängnisse und der Folterkammer des neuen Rathauses m Amsterdam vgl. Fremantle, The Baroque Town Hall (wie Anm. 1),77 und Abb. 14.
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Christopher R. Friedrichs
Städten wurden auch die Hinrichtungen auf dem Platz vor dem Rathaus vorgenommen. In Deutschland kam das nur selten vor, da dort zumeist ein Richtplatz am Rande der Stadt benutzt wurde. Im Paris des 17. Jahrhunderts wurden aber auf dem Place de Greve direkt vor dem Hötel de Ville im Durchschnitt etwa zwei Personen pro Tag um das Leben gebracht. l3
H. Das Rathaus als Kommunikationsraum Nur wenn man in Betracht zieht, wie viele Funktionen innerhalb des Rathauses oder in seiner unmittelbaren Nähe ausgeübt wurden, kann man die verschiedenen Kommunikationsformen im Rathausbereich wirklich erfassen. Zunächst aber sollte man zwischen zwei Formen der Kommunikation im Rathausbereich unterscheiden, die wir vielleicht als aktuelle und ständige Kommunikation bezeichnen können. Unter aktueller Kommunikation könnte man mündliche und schriftliche Aussprachen und Stellungnahmen zu spezifischen Anlässen verstehen, ein Thema, auf das wir noch zurückkommen werden. Unter ständiger Kommunikation könnte man sämtliche Versuche fassen, durch die äußere Form oder die innere Ausstattung des Gebäudes bestimmte Eindrücke zu erwecken. Zum Beispiel konnte es darum gehen, durch die Größe des Rathauses, die Anordnung der Räume oder die Semiotik der Figuren auf der Fassade oder an den Wänden des Gebäudes die Macht und die Würde der Obrigkeit, aber auch ihre Pflichten gegenüber den Einwohnern bzw. dem Landesherrn zu verdeutlichen. Im Laufe der Frühen Neuzeit wurden Rathäuser überall in Europa um- oder gar neugebaut. Zum Teil passierte das aus rein praktischen Gründen, wenn ein Rathaus zu klein geworden war, um selbst seine wichtigsten Funktionen zu erfüllen. Aber rein praktische Fragen standen nicht immer im Mittelpunkt. Wenn die Ratsherren von Antwerpen um 1560, von Augsburg um 1614 oder von Amsterdam um 1640 entschieden, daß ihre Stadt eines neuen riesengroßen Rathauses bedurfte, dann sollte damit vor allem die wirtschaftliche und politische Macht der Stadt und die Würde ihrer politischen Elite verdeutlicht werden. Aus ähnlichen Motiven wurden die Fassaden einiger Rathäuser erneuert, wie in Bremen um 1610, oder wichtige Innenräume stattlich renoviert. Es fehlt nicht an Versuchen, die Bild- oder Figurenprogramme dieser neuen bzw. erneuerten Rathäuser als spezifischen Ausdruck einer städtischen oder bürgerlichen Ideologie zu interpretieren. Die neuere Forschung tendiert jedoch zu der Auffassung, daß die allegorischen Tugenden, Helden, HeIdinnen 13 Leon Bernard, The Bmerging City. Paris in the Age of Louis XlV. Durharn, North Carolina 1970, 31.
--Gerechtigkeitsszenen, mit denen die Fassaden oder Wän~e der frühneu.. h .. kt worden sind normalerweIse genau den und .t1' hen Rathauser gesc muc ' .. zel IC . . f' tlichen Burgen und Schlossern entspra' hen FIgurenprogrammen 1ll urs h üblIC b . der künstlerischen Ausstattung eines Rat auh 14 Aber auch wenn es el ß d' R' h s ezifischen Themen mangelte, konnten das Ausrna, Ie. eI~ c en. ses ~n s~adtn~ die räumliche Einordnung des Gebäudes eine ko~mumkatIve ha1tIgkelt uh b N h den Worten des großen Kenners der englIschen, town ~el~e~t~;be~ ~~tle:~ konnte ein Rathaus in und an sich als "sem~~isc~es a .s , " wirken 15 Im Zusammenhang mit den anhaltenden Macht amp en Ob~eckht en den s'tädtischen Ratsherren und anderen M.ach~habern konbnte es ZWIS E' . ht SIch 1m Rathaus ef anpolitisch bedeutuniv~ll ~ein, ;:~c~:at::a~~en~n;:nder französischen Stadt den oder welche reIBgn~ss~ I am Anfang des 17. Jahrhunderts der königliN tes versuchte zum eispIe . r ' an / 'd'al' d h das Gericht den Sitz des örtlichen ,tnbunal de po IC~ che '~~;~l ~e Vilie 'in das Palais 'de justice zu verlegen, off~nsic~tlic~. u~ dIe ".. h revöt' zu stärken, doch wehrte SIch dIe stadtische vom 0 Macht der komglIc en ,p . l6 I der kleinen englischen .' rCt dagegen und der Plan scheIterte. n Mumzipa 1 a ..' d B des Herrn sofort in das RatStadt Banbury wurlde das IG~~an::~tvi: J:~e u;~55 die Urkunde bekam, die haus der Stadt ver egt, a s Ie "d b heftige 'hr Selbständigkeit sicherte. 17 In anderen englischen Sta ten ga es d I e d Wahlvorgänge im Rathaus 0 er Kämpfe darüber, ob Gerichtssitzungen 0 e r . . e also die . ial hall' stattfinden sollten. l8 In dIesem Smn konnt . 'k t' die durch die Symbolik des Rathauses oder semer m de~ ,manor ständIge Kommum a IOn, " Bestandteile wirken sollte, zu sehr aktivem Handeln fuhren. in bür erliches Kunstwerk?, in: Rathäuser im Vgl. Stephan Alkrecht, I?as Rathaus.- ~I S osion des Weserrenaissance-Museums Spätmittelalter und 1ll der fruhen ~eu~e~~r s~al Jöxter vom 17. bis zum 20. November Schloß Brake in Zusan:n:enarbeit mit d K lturgeschichte in Nord- und Westdeutsch1994 in Höxter. (Matenahen zu~~~~~t;:u t, ~roße Ratsstube (wie Anm. ~), 192-217, land, Bd. 21.) Marburg 1997,. ' . PA 1) 105f' Bernd Roeck, BIms Holl: Ar225 f.; Roeck, Rath~~s und ReIchsstadt (~I~ 220. FÜ; eine ähnliche Argumentati?n chitekt einer europmschen Stad~. Regens u 19 VI . 'h Meier Vom Mythos der Republik: mit Bezug auf das spätere .~I~telalter ~g . n~hausiko~o raphie in Deutschland und Formen und Funktionen spatffilttelalte~hclNher bRat Schnl'tzle~/Gerd Schwerhoff/Gabriela . . dr L .. th IUlrich MeIer or er . F . B'ld che und Lebenswelten im Mittelalter. estItahen, m: An ea 0 er . . ) M d 'n imagme' I erspra . . A 1~ Signon (Hrsg., un u~ 1 .. h' 1996 345-387. Tipton, Res pubbca (WIe nm. j, schrift für Klaus Schremer. Munc e~ wiederholten Verweise auf kommunale ~orrechte 195-198: be~au~tet dagegen, daß dIe. nen des 16. und 17. Jahrhunderts auf e.me ~eut und Privtlegten ~n de~ Rathausde~or~~~n und der kommunalen Ikonographie" hmweIse~, liche "DichotomIe zWIschen der hO~\ B"ld amme in Rathäusern beweisen, daß dIe allerdings erwähnt sie auch, daß vI.e e. I prOr kratischen Staats- und Tugendbegriff" t Ratsoligarchien sich zunehmend mit emem "ans 0
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identifizierten. . . semiotic ob' ect". 15 Tittler, Architecture (WIe Anm. ~!'l93v: 1"1' ue ~t societe urbaine. Rennes 1996,53. 16 Guy Saupin, Nantes au.XVIIe Siec e. Ie po I Iq 17 Tittler, Architecture (WIe Anm. 3), 125. 18 Bbd. 94-97.
Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive
Aber das Rathaus war vor allem ein Zentrum aktueller Ko 'k'Rathaus oder in seiner unmittelbaren Nähe wurd " . mmum .atwn. Im ~n sta~dlg I~formatlOnen ge~ sammelt und Entscheidungen etroffen u kommunikativen Vorgänge zwi!hen Magi~~a::~~e;i~t. DIe kO~?lizierten stark vereinfacht als ständigen WechseLzw' h . ;,ohner~ konnen wir wohner und, nach der Bearbeitung im R'~th~~~ en ,mpl~t von ~eIten der Ein~ strats charakterisieren Es war üb 11 . d' ,output von selten des Magi~ strats alle kommun' . . . er~ em auerhaftes Anliegen des Magi~
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an .dle Ratsherren oder an die zuständigen Behörde~0e~c a .te.n, ge~Ichtet zWIschen den Parteie h . m elmge DIstanz schriftlicher Form Fürbitten in sonen eingereicht werden. Diese Supplikation erfa~ und durch MIttelsper~ von den zuständigen Ämtern bearbeitet und;n wur en dann vom Rat oder lich eine sch~ift1iche oder mündliche A;twort. Ie Zusteller bekamen schließ~
du~c~u~~t::~e~d::~~~~:~~~~e
normale~weise
zu~::e:;=~~::~::'~~:~~~:~e:ie Einwohner in großer Zahl
sehr seltenen Fällen wurde sogar d' M . d Ob.~IgkeIt zu empfangen. In Ie eI~ung er Burger erfragt oder ihre Zustimmung zu einem Vorschia Fälle aber sollten die Bürger degndEestMhag~dstrats erbeten. In der Mehrzahl der d . n sc el ungen oder Ve d ro~ nun gen es ~ats passIv zuhören. Viele Rathäuser hatten zu diese Laube, einen Erker oder eine Fenste m Zweck emen Balkon, eme dieser Art "b . I rgruppe, von denen aus Verlautbarungen u ermItte t werden kon n t I . I ein Bürgermeister oder der Stadts h e~b' ndvle en norddeutschen Städten las B" . c rel er er zusammeng t rung m regelmäßigen Abständen im Laut . eru .ene.n evolkeneuesten Gesetze oder Dekrete vo' eh ~es Jabres dIe wIchtIgsten oder Straßenfront des Rathauses vor 20 ~ eI:~1 er ohten Stelle auf der Markt- oder . nz osen anderen Städten Europas wur19
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u lesern Thema vgl. Gerd Schwerhoff, D " . Neuzeit. Annäherungen an ein Komm 'k : as K?lner S~pphkenwesen in der Frühen keit,. in: Georg Mölich/Gerd SChwe~:~f;tI:~medlU~ zWIschen Unter~ane? und ObrigSt~dIen zur frühneuzeitlichen StadtgeSChicht~ (D~;'R!
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den in ähnlicher Weise, wenn auch nicht zu regelmäßigen Terminen, wichtige Erlasse und Bekanntmachungen von einer geeigneten Stelle im Rathaus verlesen. 21 Natürlich war aber die menschliche Stimme nicht das einzige Informations- und Kommunikationsmedium des Magistrats. Verordnungen wurden auch in schriftlicher Form an öffentlichen Anschlagsbrettern vor oder im Rathaus bekannt gemacht. 22 Auch die Ratsglocke spielte in vielen Städten eine wichtige kommunikative Rolle. Die Kommunikationspolitik frühneuzeitlicher Stadtregenten wurde vor allem von der dauerhaften Spannung zwischen zwei konkurrierenden Wertesystemen geprägt. Einerseits sollten nicht nur die Entscheidungen der städtischen Machthaber, sondern auch die Vorgänge, die zu den Entscheidungen führten, offenkundig und transparent sein. Andererseits sollte der Inhalt aller Beratungen und Diskussionen innerhalb der obrigkeitlichen Kreise streng geheimgehalten werden. In der Nutzung des Rathauses als kommunikativem Raum kommt diese Spannung deutlich zum Ausdruck. Viele gerichtliche Verfahren wurden zum Beispiel demonstrativ so gestaltet, daß sie dem Publikum völlig zugänglich waren. Im großen Rathaus von Thorn fanden Gerichtssitzungen in einer nach den Seiten hin offenen Laube statt. 23 In Lübeck und Lüneburg war eine offene Arkade auf der Marktfront des Rathauses der Sitz des Niedergerichts. 24 In Siena führten eine ganze Reihe von städtischen Gerichten ihre Verhöre im öffentlichen Hof des Palazzo Pubblico. 25 Gleichzeitig stellte aber in jeder Stadt, die im Besitz der höheren Gerichtsbarkeit war, das Verfahren in ernsten Kriminalfällen eine streng geheime Angelegenheit dar. Auch wenn die Hinrichtungen vor Publikum stattfanden, wurden die vorhergehende Untersuchung, gegebenenfalls auch die Folterung, ebenso wie die gerichtliche Entscheidung geheim in abgesperrten Räumen des Rathauses vorgenommen. Ähnlich verhielt es sich bei den Beratungen und Abstimmungen in den Sitzungen des Rats und fast aller sonstigen Gremien der städtischen Regierung. Überall war es erwünscht, daß der Rat gegenüber der Außenwelt mit einer Stimme sprechen sollte. Also wurde der Zugang zur Ratsstube während der Sitzungen streng kontrolliert, und es sollte durch hohe Strafen verhindert werden, daß Ratsmitglieder die Geheimnisse der Diskussionen oder der Abstim21 Zur Wichtigkeit der "exponierten Stelle zur Bekanntgabe der Ratsbeschlüsse" auch bei kleineren Rathäusern vgl. Irene Spille, Rathäuser im Rhein-Neckar-Raum bis 1800. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 62.) Darmstadt/Marburg 1985, 19, 44,57. 22 Paul, Rathaus und Markt (wie Anm. 1), 103; Ohm, Altstadtrathaus (wie Anm. 2), 29f. 23 Michal Woiniak, Das Rathaus in Toruri/Thorn und sein Ausbau 1602 bis 1605, in: Rathäuser im Spätmittelalter (wie Anm. 14), 145-160, besonders 147. 24 Albrecht, Renaissancearchitektur (wie Anm.20), 35; Paul, Rathaus und Markt (wie Anm. 1), 105. 25 Aldo Cairola/Enzo Carli, The "Palazzo Pubblico" of Siena. Siena/Rom 1964,41.
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mungen verrieten. Doch war es keineswegs immer einfach, solche Bestimmungen durchzusetzen. Zum einen gab es selbstverständlich indiskrete Ratsmitglieder, zum anderen auch rein praktische Schwierigkeiten, die gerade als eine Konsequenz der Multifunktionalität d~.s Rathauses zu verstehen sind. Das multifunktionelle Rathaus einer frühneuzeitlichen Stadt war ja ein außerordentlich vielbesuchtes Gebäude. Im Laufe des Tages strömte ein großes Publikum in das Rathaus hinein, um Geschäfte zu erledigen, Bittschriften einzureichen, Entscheidungen abzuholen, Abgaben zu bezahlen oder seinerseits Zahlungen zu erhalten und so weiter. Im Jahre 1636 kamen einmal Hunderte von Leuten in die Ratsstube der Stadt Aix-en-Provence, um Almosen abzuholen. Beim Verlassen des Saales drängten so viele Leute gleichzeitig in das kurz zuvor neugebaute Treppenhaus, daß die ganze Treppe plötzlich zusammenstürzte. 26 Das war ein Sonderfall, aber alle Rathäuser mußten stets mit einem großen Menschenandrang rechnen. Kunstgeschichtliche Quellen erinnern uns auch daran, daß die größten und wichtigsten Rathäuser nicht nur von Einheimischen, sondern aus touristischen Gründen auch von Fremden besucht wurden. Bilder von J acob Vennekool und Pieter de Hooch aus den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts zeigen nicht nur gut angezogene Männer und Frauen, sondern auch Kinder und Hunde bei der Besichtigung der Innenräume des stattlichen neuen Rathauses in Amsterdam. 27 Bei de Hooch wird die Ratsstube der Amsterdamer Bürgermeister offensichtlich zu einem Zeitpunkt besichtigt, zu dem es keine Sitzung gab (Abb. 2). Erstaunlicher sind zwei zeitgenössische Bilder, aus denen man entnehmen könnte, daß Ratssäle auch während der Sitzungen des Rats sowohl von Frauen wie von Männern besucht werden konnten. Die Abbildung des Audienzsaals des Lübecker Rathauses aus dem Jahr 1625 zeigt eindeutig eine Frau unter den Besuchern (Abb. 3).28 Die Personen, die in der ,Sala deI Collegio' im Dogenpalast zu Venedig während einer Sitzung des ,Collegios' von einem unbekannten Maler abgebildet wurden, enthalten auch einige maskierte Frauen (Abb. 4). Angesichts der Tatsache, daß in der Frühen Neuzeit Frauen mit Ausnahme regierender Fürstinnen grundsätzlich von der Teilnahme an kollektiven politischen Entscheidungsverfahren ausgeschlossen waren, ist die 26 Sharon Kettering, Judicial Politics and Urban Revolt in Seventeenth-Century France. ' The Parlement of Aix, 1629-1659. Princeton 1978,21. 27 Jacob Vennekool, Nordöstliche Galerie des Rathauses zu Amsterdam (1661), in: Fremantle, The Baroque Town Hall (wie Anm. 1), Abb. 38; zu Pieter de Hooch siehe Abb. 2 dieses Beitrags. 28 Das Bild wurde von dem Maler Hans von Hemßen im Zusammenhang mit seiner Bitte, in das Maleramt aufgenommen zu werden, dem Rat übergeben. Seine Bitte wurde zwar abgeschlagen, der Rat kaufte aber das Bild. Die Frau im Vordergrund war vermutlich Margareta Wachtelowen, die Äbtissin des St. Johannis-Jungfrauen-Klosters. Vgl. Paul Hasse, Der Maler Hans von Hemßen und sein Bild vom Audienzsaal des Rathhauses, in: Zs. des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 7, 1894, 312-327.
Das städtische Rathaus als kommunikativer Raum in europäischer Perspektive
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Abb. 2: Pieter de Hooch, Die Ratsstube der Bürgermeister im Rathaus zu Amsterdam, Ölgemälde um 1664/66. © Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid.
abgebildete Anwesenheit von Frauen während solcher Sitzungen ziemlich überraschend. Solche Abbildungen können natürlich nicht als Beweis dafür gelten, daß so eine Szene in der Tat stattfand, aber sie machen offensichtlich, wie schwer das völlige Fernhalten des Publikums während der geheimen Ratssitzungen zu bewerkstelligen war. Eine Reihe von englischen Belegen zeigt, wie ernsthaft die Ratsherren sich mit dem Problem der Geheimhaltung befaßten. In der Guildhall, dem Rathaus von London, entdeckten die Mitglieder des ,Court of Aldermen' im Jahre
Abb. 3: Hans von Hemßen, Der Audienzsaal im Lübecker Rathaus, Ölgemälde, 1625. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck.
1509, daß es Benutzern des neben der Ratsstube gelegenen Archivs möglich war, ihre geheimen Beratungen zu belauschen. Sofort entschlossen sie sich während ihrer Sitzungen den normalen Zugang zum Archiv abzusperren und es nur durch die Ratsstube selbst zugänglich zu machen. 29 In Bridport wurden 1578 vier Männer bestraft, weil sie vom angrenzenden Gebäude aus die Ratssitzungen belauscht hatten, in Southwark wurde eine ,secret chamber' für vertrauliche Diskussionen eingebaut, und in Bedford ordnete der Magistrat 1562 verzweifelt an, allen Unbefugten den Zutritt zum Rathaus zu verbieten. 30 Solche Bemühungen waren aber fast immer vergeblich. Für die meisten Stadteinwohner war das Gebäude nicht nur ein Rathaus, sondern auch ein Bürgerhaus. Sie kamen und gingen ständig, und zu Zeiten erregter politischer Stimmung oder wenn ihre Forderungen abgewiesen wurden, stürmten die Bürger manchmal massenhaft das Rathaus. Sogar der ehrwürdige Dogenpalast von Venedig konnte nicht immer vor einem solchen Ansturm geschützt wer-
Abb. 4: Eine Sitzung des Collegios in der Sala deI Collegio im Dogenpalast zu Venedig gegen Ende des 17. Jahrhunderts, von einem unbekannten Maler. Museo Civico Correr, Venedig.
den. Am Anfang des 16. Jahrhunderts drängten zweimal aufgeregte Galeerenleute in den Palast, und im Jahre 1569 besetzten bewaffnete ,arsenalotti' (Schiffbauer) sogar den Sitzungssaal des, Collegios', bis der Doge persönlich versprach, ihre Forderungen zu prüfen. 31 Und was in Venedig geschah, kam in Zeiten politischer oder sozialer Unruhe auch in zahllosen anderen Städten vor. Wenn die Bürger oder sonstigen Einwohner mit der Politik der städtischen Obrigkeit unzufrieden waren, war es fast unvermeidlich, daß sie ihre Meinungen massenweise vor oder sogar in dem Rathaus zum Ausdruck brachten. 32 Typisch war ein Vorfall in der englischen Stadt Chichester im Jahre 1586: In·' der Hoffnung, die Entscheidung der Ratsherren über die bevorstehende Wahl eines Mitglieds des Parlaments beeinflussen zu können, strömten Bürger in die Ratsstube und kletterten sogar auf des Bürgermeisters großen Amtstisch. Dem Bürgermeister gelang es in diesem Fall, die Aufrührer zu vertreiben und das Robert Finlay, Politics in Renaissance Venice. New Brunswick, New Jersey 1980,48. Zum allgemeinen Verhältnis zwischen Obrigkeit und Bürgertum in der frühneuzeitlichen Stadt vgL Christopher R. Friedrichs, Urban Politics in Early Modern Europe. London 2000. 31
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Barron, Guildhall (wie Anm. 1),31. Tittler, Architecture (wie Anm. 3), 117f.
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Wahl verfahren hinter geschlossenen Türen fortzusetzen. 33 Die Ratsherren behielten aber keineswegs immer die Oberhand. In Deutschland kam es Zum Beispiel im 17. Jahrhundert wiederholt vor, daß Ratsherren in ihrer eigenen Ratsstube oder sonstwo im Rathaus von aufrührerischen Bürgern eingesperrt wurden, bis sie bereit waren, abzudanken; oder mindestens den Forderungen der Bürger entgegenzukommen. 34 In Hamburg wurde im Juni 1684 der Bürgermeister Hinrich Meurer eine Woche lang im Rathaus gefangen gehalten, bis er bereit war, zurückzutreten. Zufällig wurde er in einer Stube mit allegorischen Gemälden zum Thema des Rads der Fortuna festgehalten. Während seines Arrests fing er an, den bürgerlichen Wächtern die Ikonographie der Gemälde zu erklären, und stritt sogar mit ihnen über die Deutung der Bilder35 ein bemerkenswertes Beispiel für die Benutzung der Symbolik der Rathausdekorationen als Mittel der aktuellen Kommunikation inmitten einer politischen Konfrontation. Manchmal wurde das Rathaus sogar zum Mittelpunkt wirklich kämpferischer Handlungen. In der französischen Stadt Toulouse kam es im Mai 1562 zu einem offenen Bürgerkrieg zwischen den kalvinistischen und den katholischen Einwohnern der Stadt, wobei die Protestanten das Hötel de Ville einnahmen und es als eine richtige Festung benutzten, bis sie nach einigen Tagen der katholischen Übermacht weichen mußten. 36 In solchen Fällen kann man kaum mehr vom Rathaus als kommunikativem Raum reden. Aber immerhin fand sich oft auch inmitten intensivster Streitigkeiten ein Widerhall der traditionellen kommunikativen Funktion des Rathauses. Denken wir zum Beispiel an die Vorgänge in Paris gegen Ende der Fronde, des großen französischen Bürgerkriegs in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Sobald der Prinz von Conde im Juli 1652 in die Hauptstadt gelangt war, eilte er zum Hötel de Ville, um Hilfe von der städtischen Elite zu erzwingen. Als die ,notables' sich weigerten, ihn zu unterstützen, trat der Prinz auf die Vortreppe des Rathauses und sprach das auf dem Platz versammelte Volk direkt an, um es gegen die ,notables' aufzuhetzen. 37 Der Versuch scheiterte und ging bald in Blutvergießen über, aber der Vorfall zeigt, wie unbefangen auch diese fürstliche Persönlich-
Tittler, Architecture (wie Anm. 3), 116, 119. Einige Beispiele sind aufgelistet bei Christopher R. Friedrichs, German Town Revolts and the Seventeenth-Century Crisis, in: Renaissance and Modern Studies 27,1982,27-51, bes.40-49. 35 Tipton, Res publica (wie Anm. 1),80-82,327-330. In der Admiralitätsstube abgebildet war die Legende von Perillus, der für einen Tyrann ein Folterwerkzeug hergestellt hatte, mit dem er schließlich selbst getötet wurde, sowie die Geschichte der vier besiegten Könige, die den Triumphwagen ihres Eroberers ziehen mußten. 36 Mark Greengrass, The Anatomy of a Religious Riot in Toulouse in May 1562, in: JEcc1H 34, 1983,367-391. 37 Orest Ranum, Paris in the Age of Absolutism. New York 1968, 226-228. 33
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keit auf den Gedanken kam, die traditionellen kommunikativen Funktionen des Rathauses zu nutzen. . Oder denken wir an die Vorgänge im Frankfurter FettmIlch-Aufstand. 38 Das Frankfurter Rathaus, der Römer, stand wiederholt im Mittelpunkt der Ereignisse, vor allem im Mai 1614, als die Bürger die patrizischen Mitglieder des Stadtrats tagelang in der Ratsstube einsperrten. Der Frankfurter Maler Peter Müller beschrieb den Ausgang dieser Episode in seinem Tagebuch: "Anno 1614 den 9. Tag May hat sich der alte Rath willig ihres Amts ledig und ab zu seyn, auch gegen der Burgerschaft uf dem Römer einen ~evers vo.r~elesen, welchen ich auch selbsten persönlich gehört hab. "39 Für dIesen polItisch engagierten Bürger war es offensichtlich wichtig,. d~ die Abdankung des alten Rates durch die mündliche Verlesung der schrIftlIchen Abdankungsurkunde bestätigt wurde und daß er selbst als Mitglied der auf dem Platz vor dem Rathaus versammelten Masse diese Verlesung persönlich gehört hatte. Hier spüren wir einmal mehr die elementare Bedeut~~g des Rathauses al.~ kommunikativer Raum im politischen Leben der europaIschen Stadt der Fruhen Neuzeit.
III. Resümee Das Rathaus der frühneuzeitlichen Stadt war fast immer ein wichtiges Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation. Im Rathaus oder in seiner unmittelbaren Nähe wurden ständig Informationen gesammelt und Entscheidungen getroffen und mitgeteilt. Nur wenn man aber in Betracht zieht, wie viele Funktionen innerhalb des Rathauses oder in seiner unmittelbaren Nähe ausgeübt wurden, kann man die verschiedenen Kommunikationsformen im Rathausbereich wirklich erfassen. Die Kommunikationspolitik frühneuzeitlicher Stadtregenten wurde vor allem durch die dauerhafte Spannung zwischen zwei konkurrierenden Wertesystemen geprägt: Einerseits sol!ten die Entscheidungen der städtischen Machthaber sowie die Vorgänge, dIe zu den Entscheidungen führten, offenkundig und transparent sein, andererseits sollte der Inhalt aller Beratungen und Diskussionen innerhalb der obrigkeitlichen Kreise streng geheimgehalten werden. In der Nutzung des Rat..:;· hauses als kommunikativer Raum kommt diese Spannung deutlich zum Ausdruck. Die Ratsherren befaßten sich ständig mit dem Problem der GeEine kurze Zusammenfassung der Ereignisse sowie eine Bewe~ng der. ~iter.atur findet sich bei Christopher R. Friedrichs, Politics or Pogrom? The FettmIlch Upnsmg m German and Jewish History, in: CEH 19, 1986, 186-228. 39 Kar! Christian Becker (Hrsg.), Peter Müllers, hiesigen Bürgers und Mahlers, handschriftliche Chronik aus den Jahren 1573 bis Juny 1633, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst NP. 2,1862,1-165, Zitat 22.
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heimbaltung, aber ihre Bemühungen waren oft umsonst D l'f ~ 11 R h ' . as mu tI unktlO ne e at aus emer frühneuzeitlichen Stadt war ein außerordentlich . Ib sucht~s Gebäude, und für die m~isten Stadteinwohner war das Gebäud:l~ic~~ nur em Rathaus, sondern auch em Bürgerhaus. Unter diesen Umständ der Wun~c~ der städtischen Eliten, die Kbmmunikativen Funktionen d:;:a~ hauses volhg zu kontrollieren, kaum zu erfüllen. -
Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols Überlegungen in geschlechtergeschichtlicher Perspektive Von
Maria Heidegger Im April 1592 wandte sich Michael Wolf aus dem Kaunertal in Tirol an das Gericht und klagte gegen seine Frau Margretha. 1 Erst wenige Wochen zuvor war zwischen den Ehepartnern ein gerichtlicher Vergleich ausgehandelt worden. Nun aber hatte er gehört, daß ihn seine Frau unmittelbar im Anschluß an die vorangegangene Gerichtsverhandlung erneut beleidigt hatte. Sie hatte in der Küche jenes Wirtshauses, in dem das Gericht zusammentrat, den dort versammelten "Weibspersonen" triumphierend Bericht erstattet und auf diese Weise das soeben erst ausgehandelte fragile Gleichgewicht "sozialer Ehrkapitalien" erneut zu Ungunsten ihres Mannes verschoben. 2 Er, der "Schelm", hätte mehr Grund als sie, darüber froh zu sein, daß die Kundschaften nicht gehört wurden. 3
1 Tiroler Landesarchiv Innsbruck [im folgenden: TLA], Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/3, 23.4. 1592, fol. 32rff. Ausführlich wird dieser Gerichtsfall dargestellt in Maria Heidegger, Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf. Das Gericht Laudegg in der frühen Neuzeit eine historische Ethnographie. InnsbrucklWien 1999, 149-156. 2 Zum Begriff von Ehre als "symbolisches Kapital" vg1. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1979, 335-377. Ralf-Peter Fuchs unterzieht die gegensätzlichen Interpretationsangebote von Pierre Bourdieu (Ehre als "symbolisches Kapital") und Rainer Walz (binäre Struktur der Ehre) für frühneuzeitliche Ehrenhändel einer kritischen Prüfung: RalfPeter Fuchs, Ehrkämpfe. Injurienprozesse in der Frühen Neuzeit und ihre Interpretationsmöglichkeiten, in: Rheinisch-westfälische Zs. für Volkskunde 42, 1997,29-50. Vgl. auch ders., Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskarnmergericht (1525-1805). Paderbom 1999. Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zum Thema Ehre in der Frühen Neuzeit seien folgende Sammelbände angeführt: Klaus SchreinerlGerd Schwerhoff(Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonfiikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1995; sowie Sybille BackmanniHans-Jörg Künastl Sabine UllmannlB. Ann Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. (Colloquia Augustana, Bd. 8.) Berlin 1998. 3 Zur Art und Weise wie Männer und Frauen gegenseitig Ehre in Worten und Taten herstellten und verletzten, mit welchen Schimpfworten sie sich beleidigten vgl. Martin Dinges, Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, in: Backmann/Künast/UllmannITlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte (wie Anm. 2), 123-147.
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I. Kommunikative Rahmenbedingungen Als Austragungsort der Gerichtsverhandlung diente das Wirtshaus, selten fanden Gerichtsversammlungen unter freiell1:~ Himmel statt. Ein eigenes Amtsgebäu~e als ~er~chtsort gab es im Tiroler LandgeriChtsbezirk Laudegg nicht. Allerdmgs eXIstIerten dort seit Beginn des 16. Jahrhunderts, an der Handelsroute von Augsburg über den Fern- und Reschenpaß durch das Etschtal nach Venedig gelegen, unzählige Gaststätten mitsamt einer florierenden Wirtshauskultur. 4 Der historische Landgerichtsbezirk Laudegg, benannt nach einer gleichnamigen Burg bei Ladis, lag im Westen Nordtirols im oberen Inntal. 5 Er umfaßte im Untersuchungs zeitraum elf Gemeinden, Dörfer oder Nachbarschaften und kann als mehrdimensionaler Interaktions- und Kommunikations~au~l aufgefaßt werden. Zum ersten bezeichnet der historische Begriff den terrItonalen Sprengel einer Verwaltungs- und Justizbehörde erster Instanz ein~ obrigkeitlich dominierte Gebietsherrschaft, zum zweiten gleichzeitig de~ SOZIalen und ökonomischen Verband der Gerichtsinsassen, der freien, ,wehrhaften', männlichen Haus- und Hofbesitzer. 6 Drittens ist mit ,Gericht' aber auc~ der konkrete Ort und die Praxis der Gerichtsverhandlung selbst gemeint. ~em Aufs~~z befaßt sich vorrangig mit dieser engeren Bedeutung von Gencht, wobeI Jedoch stets die enge Verflechtung mit den oben genannten sozia~en, herrschaftlichen und ökonomischen Dimensionen mit zu berücksichtigen 1St. Frauen waren aus dem vorwiegend von männlichen Akteuren besetzten Interaktionsraum Gericht ausgeschlossen7, solange sie nicht selbst Klägerinnen oder Angeklagte waren oder als Zeuginnen über kommunikative Vorgänge im 4 AI~
der Do~nikanermönch Beda Weber in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts das zu dIesem Z.eItpunkt 786 Einwohner/innen zählende Dorf Ried bereiste, bemerkte er inmitten von "illltunter ärmlichen Hütten" immerhin sieben zum Teil stattliche Wirtshäuser Beda y'veber,. Das Land .Tirol. ~in Handbuch für Reisende. Bd. l. Innsbruck 1837, 826: Gasts~atten sllld nach WI~ vor elll Randthema in der Tiroler Landesgeschichte, sieht man von ~lllze~nen retrospektIv verklärenden Schilderungen vergangener Tiroler Wirtshaush~rrhchkelt ab. Vgl. Hans He iss, Zentralraum Wirtshaus. Gaststätten im vormodernen Tlr~l 1600-1850, in: Geschichte und RegionJStoria e regione 10,2001, H. 2: Reisen im sozI.alen Ra~m: 11-:-38. Zum Kommunikationsraum Gasthaus siehe auch den Beitrag von Dagmar FreIst m dIesem Band. S Vgl. Hermann Waleh, Die alten Gerichte im Gebiete des Bezirks Landeck, in: Landecker Buch .. Bd. 1. (Schl~rn-Schriften, ~d. 133.) Innsbruck 1956, 131-138, sowie Otto Stolz, G~sc~uchte der GerIchte Deutschtlrols. (Abhandlungen zum historischen Atlas der öster~eIchischen Alpenländer, Landgerichtskarte von Deutschtirol.) Wien 1913. ': gl. zu Gemeinden, di~ nicht auf d~r Ebene des Dorfes, sondern an der GerichtsorganisatlOn ansetzt.en Peter B!erbrauer, DIe ländliche Gemeinde im oberdeutsch-schweizeris~hen Raum, m: Peter BlIckle (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa Em struktureller Vergleich. München 1991, 169-190. . 7 Vgl. hierz.u. auch Beatrix Beneder, Männerort Gasthaus? Öffentlichkeit als sexualisierter Raum. (PolItIk der Geschlechterverhältnisse, Bd. 9.) Frankfurt am MainlNew York 1997.
vorgerichtlichen Umfeld aussagen sollten.8 Ihre Aussagen vor dem Gericht im Wirtshaus wurden - in unserem Fall- durch den Gerichtsschreiber Jacob Gigeie in indirekter Rede zusammengefaßt, ins Hochdeutsche übersetzt und im gerichtlichen Bezugsrahmen interpretiert. 9 Als Kundschafterinnen wurden sie durch den Fronboten vorgeladen, um mehr oder weniger freiwillig auszusagen, und warteten wie im eingangs zitierten Quellenbeispiel in der Küche auf ihren Auftritt in der angrenzenden Wirtsstube. Dort besprachen sie die Konflikthandlung untereinander, mit der sie im wesentlichen alle vertraut waren, sahen mit Spannung der Verhandlung entgegen und sorgten in diesem oben zitierten Fall durch ihr Gerede auch für eine weitere Fortsetzung des sozialen Dramas.
H. Problemlage Das Quellenbeispiel eines Ehrenhandels zwischen den bei den Kaunertaler Ehepartnern, das hier als Einstieg in die Thematik dient, weist auf die zentrale Problemlage hin. Dieser Aufsatz behandelt auf empirischer Grundlage sowohl die zwischenmenschliche Kommunikation vor dem ländlichen Gericht als auch kommunikative Prozesse im vorgerichtlichen Umfeld. Kommunikationsprozesse fanden innerhalb geschlechtsspezifisch unterschiedlich besetzter Interaktionsräume mit je eigenen Strukturen statt. Die Kommunikations8 Siehe zur geschlechtsspezifischen Nutzung der Gerichtsöffentlichkeit u. a.: Susanna Burghartz, Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter, in: Bea Lundt (Hrsg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. München 1991,49-64; Michaela Hohkamp, Frauen vor Gericht, in: Mireille Othenin-Girard/Anna Gossenreiter/Sabine Trautweiler (Hrsg.), Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung. Zürich 1991, 115-124; fenny KermodeiGarthine Walker (Eds.), Women, Crime, and the Courts in Early Modern England. London 1994; fan P ete rs, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. J ahrhunderts), in: Otto Ulbricht (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. KölnlWeimar/Wien 1995, 231-258; Katharina Simon-Muscheid, Frauen vor Gericht. Erfahrungen, Strategien und Wissen, in: Paul Münch (Hrsg.), "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. (HZ, Beihefte, NP. 31.) München 2001, 389-399. 9 Vgl. zur Aussagekraft von Zeugenverhören u. a. Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bitt~' stellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahmehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2.) Berlin 1996, 207-226. Wichtige quellenkritische Anmerkungen in bezug auf Rechtsvorstellungen der Zeugen bei Ralf-Peter Fuchs, Recht und Unrecht im Verfahren Lackum - Ein Kriminalfall mit Widerhall, in: Andrea Gliesebner/Martin Scheutz/Herwig Weig1 (Hrsg.), Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge. (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 1.) Innsbruck/Wien/MünchenJ Bozen 2002, 149-168. Zur generellen Problematik sprachlichen Handeins vor Gericht siehe Ludger Hoffinann, Kommunikation vor Gericht. Tübingen 1983.
forschung ist für die Frühe Neuzeit in besonderem Maße auf die Analyse von sozialen Räumen angewiesen. ,Raum' wird zu einer zentralen Kategorie einer mikrohistorisch ausgerichteten Kommunikationsgeschichte. lO Im Hinblick auf vorwiegend oral geprägte alltägliche Kommunikationssituationen in frühneuzeitlichen Dorfgemeinden ist zunächstvon einem sehr umfassenden Kommunikationsverständnis auszugehen, das vielfältige Formen sozialer Interaktionen enthält.!1 Je alltäglicher und komplexer etwas ist, desto schwerer fällt es aber, einen Begriff davon zu bekommen. 12 In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, inwiefern die Kommunikation vor Gericht einen integrativen Bestandteil des sozialen Alltags im Dorf darstellte. Eine von obrigkeitlicher Instanz arrangierte und kontrollierte Gerichtsverhandlung wurde von den einzelnen Betroffenen gewiß nicht als ganz alltägliche Kommunikationssituation erfahren. 13 Der tatsächliche oder auch nur angekündigte Gang zum Gerichtsherrn und die persönliche Klage fungierten dagegen sehr wohl als alltägliche kommunikative Strategien und waren ,selbstverständliche' Bestandteile der Konfliktlösung. 14 Eine Analyse des Kommunikationsraums Gericht auf der Grundlage der überlieferten Gerichtsakten muß außerdem all jene vorgerichtlichen und ganz alltäglichen Kommunikationssituationen und -prozesse miteinbeziehen, die für die Konflikthandlung relevant waren: non-
10 Vgl. in diesem Sinne etwa Georg Mölich/Gerd Schwerhoff, Die Stadt Köln in der Frühen ~euzeit. Kommunikationszentrum - Kommunikationsraum - politische Öffentlichkeit, in: dIes. (Hrsg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. (Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche, Bd. 4.) Köln 2000 11-38. ' 11 Eine allgemeingültige Definition von Kommunikation ist angesichts des Formenreichtums von Kommunikationsakten nicht möglich; Heinrich Rombach, Die Grundstruktur der menschlichen Kommunikation, in: Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.), Mensch, Welt, Verständnis. Perspektiven der Phänomenologie der Kommunikation. FreiburglMünchen 1977, 19-23. Vgl. 160 (!) verschiedene Definitionen von Kommunikation bei Klaus Merten Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozeßanalyse. Opladen 1977. ' 12 Vgl. dazu die Beiträge des 8. internationalen Kongresses des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aus dem Jahre 1990 in Krems an der Donau. Diese w~rfen in unterschiedlicher Weise die Frage auf, "in weIchem Ausmaß der komplexe BereIch der Kommunikation Einfluß auf die Gestaltung des ,Alltags' ausgeübt hat oder die Kommunikation selbst als integrativer Bestandteil von ,Alltag' betrachtet werden kann" _ so lautet die einleitende FOllliulierung von Harry Kühnei, Einführung, in: Helmut Hundsbichler (Red.), Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit ' Bd. 15.) Wien 1992,5-8, hier 6. 13 Vgl. zu d~eser Frage nach alltäglichen Gerichtserfahrungen Stefan Brakensiek, Erfahrungen lllit der hessischen Policey- und Niedergerichtsbarkeit des 18. Jahrhunderts. Zugleich ein Plädoyer für eine Geschichte des Gerichtspersonals, in: Münch (Hrsg.), "Erfahrung" (wie Anm. 8), 349-367. 14 Barbara Krug-Richter, Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der westfälischen Gerichtshenschaft Canstein 1718119, in: HA 5,1997,212-228.
verb ale Gesten und Informationen, Gespräche, Gerede auf der Gasse oder in der Küche, spontane Zusammenkünfte. Diese Aspekte von Kommunikation sind keineswegs als triviale Phänomene abzutun, sondern als kulturell wie historisch relevante und sozial bedeutsame Erscheinungen aufzufassen. 15 Durch ihre Flüchtigkeit entziehen sie sich aber der historischen Analyse. Um dennoch soziale Räume der Kommunikation im Dorf rekonstruieren zu können, akzentuiere ich im folgenden die kOIDillunikative Funktion der Kundschaftsperson auf der Basis niedergerichtlicher Akten über Ehrkonflikte. Dagegen werden die Rollen der übrigen Akteure des Sozialraums Gericht nicht näher erörtert. Mit einer Ausnahm~: Dem Fronboten gebührt besondere Erwähnung, da dieser kommunikationshistorisch betrachtet wichtige und bisher noch viel zu wenig beachtete Aufgaben erfüllte. 16 Der Fronbote war nicht nur Gerichtsdiener und Urteilsvollstrecker, er übermittelte im Auftrag des Richters oder Gerichtsherrn Nachrichten und lud Zeugen und die gegnerische Streitpartei vor. Die vielfältigen Funktionen des Fronboten im Rahmen der frühneuzeitlichen Rechtskommunikation werden beispielsweise in seinen schriftlichen Vollzugsmeldungen zu Beginn einer Gerichtsverhandlung angesprochen: "Ich Gilg Tächl, fronpoth zw Pruz, Bekhenn, das Ich aus Vergonnstnus des fürnemen, weisen Pettern Payrs, Richters zw Laudegg, vnd Rosina Wöhrlin vnd Ihres Sons vnd anweisers anrieffen nachbenannte Kundtschafftpersonen als Cristan Geiger, Victorn Hausenwirt, Carln Schneider vnd sein hausfraw Margretha Tairgglerin, Toman Gratschen, Gregoriusen Wagger, Balthausern Fluri, Cristan Klainhainzen, Hanns Heelin, Abraham Köly, Hannsen Schlichtigs Hausfraw, Conrad Pögger, Leonhardten Krapacher vnnd Cristan Hausenwirt zw Ainem Kundtschafftrechstag, so ernennter Richter Ir Wöhrlin gegen vnd wider Toman Gäbele zw Füss sachenhalben wie im Anzug zuvernemen sein wirdt, auf heut heer Per 8 Vhr Vor mitentag in Casparn Kölis Innhabennden Bestanndtswirtsbehausung zu erhalten angesezt vnd ernennt auf obengedeiten Kundtschafftrechtstag, Stund vnd Orth zuerscheinen vnd Ihres Wissens Kundtschafft zegeben fürgebotten. Auch dem Gäbele als Gegentail disen Kundtschafftrechtstag Stund vnd Orth wie sich gebürt wissenhafft gemacht vnd darumben mein besöldung emphanngen habe." 17 Zeugenaussagen sind - obige Aufzählung der vorgeladenen zwölf Männer'und zwei Frauen durch den Fronboten weist darauf hin - in großer Zahl erhal15 Vgl. dazu die Konzeption der Tagung "Austauschbeziehungen. Interpersonale KOI?munikation im 19. und 20. Jahrhundert" (Göttingen, 28.2.-2.3.2002): http://www.geschichteund-theorie.de/TagungenI12_Tagung/12_tagung.htm (Abfragedatum 16. 09. 02). 16 Vgl. Werner Peters, Der Fronbote als Nachrichter. Überlegungen zu seiner Darstellung in den Codices picturali des Sachsenspiegels, in: Ruth Schmidt-Wiegand/Dagmar Hüpper (Hrsg.), Der Sachsenspiegel als Buch. Frankfurt am Main 1991,295-314. 17 TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/3, 11. 10. 1593, fol. 217v f.
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ten. Zeugen und Zeuginnen spielten als Wissende und Vermittler sozialen Wissens, als ,Medien' erinnerter Geschehnisse im gerichtlichen Wahrheitsfindungsprozeß, sowie als Rezipienten und Publikum der VOf- und außergerichtlich inszenierten sozialen Dramen ,verschiedene und wechselnde kommunikative Rollen. Anband von Kundschaftsaussagen gelingt zumindest über den Umweg der Interpretation desjenigen, der die Verhöre protokollierte, eine Annäherung an dörfliche Kommunikationsräume. Ein etwas längeres Quellenbeispiel über einen Diebstahlverdacht dient dazu, in diesem Kontext ,Öffentlichkeit' und ,Geheimhaltung' als soziale Praktiken und Teil von Kommunikationsstrategien zu thematisieren. Am Ende meiner Ausführungen werde ich schließlich die Frage nach der Funktion der dörflichen Gerichtsquellen für eine schriftlich fixierte Erinnerung an Konflikte und deren Lösung aufwerfen. Welche Rolle spielte das Gerichtsbuch im Rahmen der dörflichen Kommunikations- und in einer wesentlich vom Prinzip Ehre dominierten frühneuzeitlichen Streitkultur? Die Annäherung an dörfliche Kommunikationsräume wird somit um die Frage nach der kommunikativen Funktion des gerichtlichen Protokollbuches als Medium in Schrift gefaßter, "verfachter" dörflicher Auseinandersetzungen erweitert. Daran knüpft die, wie mir scheint, sehr bedeutende Frage nach der sozialen Zugänglichkeit dieses obrigkeitlichen Gerichtsortes ganz anderer Art an. Derzeit erlauben die Quellen und mein bisheriger Wissensstand hierzu lediglich Vermutungen. Ich werde daher zum Abschluß in gebotener Kürze vorläufige Überlegungen skizzieren.
IH. Kundschaften und Kundschaftstage Meine Argumentationsbasis bilden 160 Streitfälle um die Ehre im Tiroler Landgericht Laudegg im ausgehenden 16. Jahrhundert. Überliefert sind diese niedergerichtlich ausgehandelten Injurienprozesse in den ältesten drei der erhaltenen Verfach- bzw. Gerichtsbüchern des Landgerichtes Laudegg von 1581 bis 1595. 18 Die mikrohistorische Konzentration auf diesen Zeitraum von nur fünfzehn Jahren erlaubt eine Annäherung an überschaubare historische Beziehungsgeflechte. Kommunikationsereignisse und Akteure lassen sich zu Netzen vielfältiger sozialer Interaktionen verknüpfen und kontextualisieren. 19 18 Zit. als Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1 bis Bd. 10/3. "Gerichtsbuch" wird hier als Überbegriff verwendet, es handelt sich um jenes Buch eines Gerichtes oder einer Grundherrschaft, das deren umfassende jurisdiktionelle Tätigkeit widerspiegelt; Wilfried Beimrohl; Mit Brief und Siegel. Die Gerichte Tirols und ihr älteres Schriftgut im Tiroler Landesarchiv. Innsbruck 1994, 98. 19 Zur detaillierten Rekonstruktion sozialer Beziehungsgeflechte mit Hilfe von Zeugenverhören siehe David Warren Sabean, Gute Haushaltung und schlechtes Gewissen. Ein ländlicher Tatort (1733-43), in: ders., Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1990, 169-202.
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Streitsachen der niederen Gerichtsbarkeit behandeln alltägliche Konfliktsituationen und Praktiken, sie gewähren daher einen tieferen Einblick in dörfliche Kommunikationsprozesse und deren Wahrnehmung und Verarbeitung als die zumeist besser zugänglichen, wenn auch seltener überlieferten Quellen der Bochgerichtsbarkeit. 20 Im allgemeinen wurde zunächst versucht, einen Konflikt im vorgerichtlichen Umfeld zu lösen. Zu den vor- und außergerichtlichen Praktiken der Konfliktregulierung der nicht nur in hohem Maße konfliktträchtigen, sondern auch versöhnungs- und ausgleichsfähigen frühneuzeitlichen Gesellschaft21 zählte unter anderem die "Beschickung". Dabei handelte es sich um den ritualisierten Versuch, trotz eines virulent gewordenen Konflikts durch Einschaltung Dritter kommunikationsfähig zu bleiben. Im Rahmen der "Beschickung" wurde eine Art Frage- und Antwortspiel über Mittelspersonen inszeniert, um auf diese Weise gegenseitige Standpunkte auszutauschen und Sachverhalte zu klären. 22 N achbarschaftlich organisierte und zum Teil weitgehend ritualisierte Formen der Konfliktregelung wurden allerdings im Untersuchungszeitraum verstärkt zur strafbaren Handlung umgedeutet. Streitparteien waren dazu angehalten, sich auf jeden Fall an das Gericht zu wenden, um sich ausschließlich an diesem exklusiven Ort vergleichen zu lassen: "Es solle sich auch kainer on Vorwissen, willen und beisein der oberkait, es sey umb was sachen es welle, vergleichen lassen, wo Er aber das tete, der solle umb 20 fl straff verfallen sein, Gleichsfals die Jenigen, so solliche und dergleichen Winckhlvertrag machen helffen."23 20 Vgl. hierzu die Kritik von Heide Wunder: Durch eine Konzentration auf Schwerverbrechen werde verhindert, "daß die fundamentalen Konflikte der ländlichen Gesellschaft und ihre Regulierung überhaupt in den Blick kommen"; Heide Wunder, Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ulbricht (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 8), 39-62, hier 50. Niedergerichtliche Quellen werden u. a. ausgewertet von Thomas Schwark, "Damit nachbarliche Eynichkeit mochte erhalten werden." Nachbarschaftskonflikte und gerichtliche Quellen zum Nachbarschaftsrecht der Stadt Lemgo zwischen 1590 und 1620, in: Heinz MohnhauptlDieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie. Bd.2. Frankfurt am Main 1993, 131-146; Claudia Ulbrich, Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Ulbricht (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern (wie Anm. 8),281-311. Siehe auch meine eigene Studie: Heidegger, Soziale Dramen'· und Beziehungen (wie Anm. 1). 21 Zur Konfliktlösungskompetenz frühneuzeitlicher Gesellschaften vgl. Lieselott Enders, Nichts als Ehr', Lieb's und Gut's. Soziale Konflikt- und Ausgleichspotenzen in der Frühneuzeit, in: Axel Lubinski/Thomas Rudert/Martina Schattkowsky (Hrsg.), Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag. Weimar 1997, 141-161. 22 Ausführlich dazu: Krug-Richter, Konfliktregulierung (wie Anm. 14),221 f. 23 TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1,5.6.1582, fol. 104r. Vgl. zu Edikten über "heimliche Vergleiche", ebenfalls im österreichischen Raum: Thomas Winkelbauer, "Und sollen sich die Parteien gütlich miteinander vertragen". Zur Behandlung von Streitigkeiten und "Injurien" vor den Patrimonialgerichten in Ober- und Niederösterreich in der flühen Neuzeit, in: ZRG GA 109, 1992, 129-158.
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Der enorme Aktenumfang spiegelt die zunehmende Bedeutung des Gerichts für die kommunikative Aushandlung dörflicher Konflikte wider. Waren die vor- und außergerichtlichen Bemühungen gescheitert, zielte man darauf die Auseinandersetzung möglichst ressour~enschonend durch eine einfach~ gerichtliche Gegenüberstellung zu beenderl. Die obrigkeitliche Instanz ,Gericht' kontrollierte die Verbalisierung des Konflikts in Form von "Klag" und "Antwort". Erst wenn auch dieser Versuch fehlschlug, wollte man die "Kundtschafften gegeneinander erwegen"24 und durch den Richter einen recht kostspieligen Kundschaftstag ansetzen lassen. In den zumeist sehr umfangreichen Kundschaftstagsprotokollen "gerinnt" das öffentlich "ausgegossene" (im Sinn von ausgespieene) beleidigende Gerede in der gerichtlichen Kommunikationssituation zum offiziellen Tat- und schriftlichen Aktenbestand. 25 Die Rolle der Zeugen nicht nur vor Gericht, sondern auch im gerichtlichen Vorfeld innerhalb dörflicher Kommunikationsräume und -wege gilt es noch intensiver als bisher zu untersuchen. Wegen der Alltäglichkeit und Allgegenwart von Konfliktsituationen war es hilfreich, im Bedarfsfall stets über eine entsprechend große Anzahl von bestenfalls nicht "befreundten" und "beschwägerten" Kundschaftspersonen verfügen zu können. 26 Für deren Engagement und Bereitschaft, vor Gericht auszusagen, war eine beständige Beziehungspflege auf der Basis von Gegenseitigkeit unentbehrlich; sie bezog sich auf fast alle Belange bäuerlich-nachbarschaftlichen Wirtschaftens und sozialen Interagierens. 27 Notfalls bewirkten auch gezielt eingesetztes Geschrei (beispielsweise in der Nacht) oder entsprechend lautstarke Appelle an die Umstehenden das Zusammenlaufen und das Interesse eines größeren Publikums. 28 Nicht alle Zeuginnen und Zeugen gaben dann aber erschöpfend ~undsch~t. Manche mochten sich aus den unterschiedlichsten Gründen gar mcht an dIe betreffende Auseinandersetzung erinnern und behaupteten beiTLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1,25.5. 1582, fol. 103. Albert. Müll~r bevorzugt im Zusammenhang mit Gerichtsakten die Bezeichnung "metakommum~at~nsc~e Q~ellen" und erhebt gegen die Möglichkeit, über solche Quellen reale Kommu.mkatlOnssituatlOnen zu ermitteln, große Vorbehalte; Albert Müller Mobilität Int~r~tlon - Kommu~~a~ion. Sozi.al- und alltagsgeschichtliche ~emerkunge~ anband von BeIspIelen aus dem ~pat~ttelalterlIchen und frühneuzeitlichen Osterreich, in: Hundsbich;~r (Red.), KommumkatIon und Alltag (wie An?l' 12), 21?-249, hier 244. . Zur 1?escha~ung. von Zeugen bzw. allgemem zur gezIehen Herstellung einer formalisierte.n Offenth~hkelt als vorinstanzliche rechtliche Handlung vgl. Krug-Richter, KonfliktregulIerung (wIe Anm. 1.4), 222. Familienangehörige waren im Untersuchungsraum als Zeugen zugelassen, etwaige Pro~este gegen die Zulassung bestimmter Zeugen wurden ins Protokoll aufgeno~~n, waren Jedoch äußerst selten erfolgreich. Vgl. zur sozi~len Okonomie Tiroler Gemeinden und Nachbarschaften Heidegger, SozIale Dramen (WIe Anm. 1), 66-81; ausführlich Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Modeme. München 1993. 28 Siehe Krug-Richter, Konfliktregulierung (wie Anm. 14), 225. 24
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spielsweise, nichts gehört zu haben, "da der Brunnen zu laut plätscherte".29 Während einige Zeugen allem Anschein nach durchaus bereitwillig, beflissen und ausführlich alles, was ihnen "in frischer gedechtnus und wa(h)rs wissen" war30, über einen Konflikt und seine Protagonisten zu Protokoll brachten, verhielten sich andere sehr reserviert. Sie erschienen auf Grund des obrigkeitlichen Befehls, zu festgesetzter Stunde - jeweils an Vormittagen - in diesem oder jenen Wirtshaus pünktlich anzutreten, vor Gericht und äußerten sich nach ihrer Vereidigung nur wortkarg zu den Ereignissen. 31 Gerichtsquellen bekommen naturgemäß Regelverletzungen in den Blick und geben solcherart über handlungsorientierende Normen und Bedeutungszusammenhänge Auskunft. Vor Gericht getroffene Aussagen reflektieren dieses soziale Wissen, reproduzieren und deuten es. 32 Die darin enthaltenen narrativen Elemente bieten unter der Voraussetzung eines quellenkritischen Zugangs durchaus die Chance, "Lebens wirklichkeiten" von Frauen und Männern zu rekonstruieren und die "obrigkeitlichen Filter zumindest ein Stück Weit zu dekonstruieren".33 Eine Regelverletzung wie beispielsweise eine Ehrenbeleidigung stellte eine Form von Kommunikation dar. Die Ehre selbst funktionierte als Code zwischen Sender und Empfänger und war zugleich Kommunikationsinhalt. 34 Über die Ehre konnte man sich verständigen, ihr 29 "Aber Sy Kundtschaffterin habe Sy [... ] vorm Rauschen des Wassers nit vers teen können, was si fir Reden gebraucht." TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1, 24. 1. 1583, fol. 163v. 30 Diese standardisierte Fonnulierung wird beispielsweise verwendet für die Aussage der Anna, Hannsen Wielanndts zu Serfaus hausend eheliche Hausfrau: TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1,24.1. 1583, fol. 161v. 31 Zum Schweigen und Verschweigen als besondere Strategie oder Taktik vor Gericht vgl. Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen (wie Anm. 9), 218. Siehe auch zur "Sprache des Ungesagten" Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848-1910. Hamburg 1989,29-30, sowie Katharina Simon-Muscheid, Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozessverlauf, in: Mark Häberlein (Hrsg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert). (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, Bd. 2.) Konstanz 1999, 35-52. 32 V gl. dazu die resümierenden Überlegungen von Claudia Ulbrich über Zeugenaussagen als Ego-Dokumente: dies., Zeuginnen und Bittstellerinnen (wie Anm. 9), 223. 33 Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert. (Frühneuzeit-Studien, NP., Bd. 3.) Wien/KölnlWeimar 2000, 12-13. Wichtige textkritische Überlegungen bezüglich Strafprozeßakten auch bei Helga Schnabel-Schüle, Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, in: Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente (wie Anm. 9), 295-317, und bei Martin Scheutz, Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert. WienlMünchen 2001,80-86. 34 Einen guten Forschungsüberblick zur historischen Konzeption von "Ehre" bietet Martin Dinges, Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptionalisierung, in: SchreinerlSchwerhoff (Hrsg.), Verletzte Ehre (wie Anm. 2), 29-62.
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wurde von beiden Kommunikationspartnern dieselbe Bedeutung zugeschrie_ ben. 35 Gerichtliche Kundschaftsaussagen beleuchteten die vorausgegangene ehrverletzende Konflikthandlung und den Kontext des Kommunikations_ ereignisses von verschiedenen Perspektiven aus. Im Dorf herrschte offenbar ein unablässiger Diskurs über Rechtsansprüche und Besitzverhältnisse, über Abhängigkeits- und Schuldbeziehungen und Unregelmäßigkeiten irgendwel_ cher Art. Kundschaftsaussagen geben deutliche Hinweise auf diesen dörflichen Diskurs. Sie lassen Rückschlüsse auf Kommunikationsnetzwerke und -orte sowie auf Handlungs- und Kommunikationsstrategien der historischen Akteure und Akteurinnen zu. Zuweilen reflektieren sie stufenförmige, sich verdichtende Kommunikationsprozesse, in deren Verlauf aus einem Geschwätz oder Gerede ein Gerücht und schließlich ein "geschray" wurde. Grundsätzlich ist jedoch zu berücksichtigen, daß das Risiko der Zeugen, sich selbst zu kompromittieren, beträchtlich war. Daß Zeugenaussagen jeweils in einer hierarchisch geprägten Gerichtssituation zu Protokoll gebracht wurden, in einem Kontext, in dem Reden Silber und Schweigen Gold bedeuten konnte, tut dem erstaunlich hohen Aussagegehalt von Kundschaftsprotokollen jedoch kaum Abbruch. Kommunikation in frühneuzeitlichen ,face-to-face'-Gesellschaften ist bekanntlich in hohem Maße gekennzeichnet von Sozialpraktiken, die als Gerücht, Gerede und "geschray" charakterisiert werden. Diese Erscheinungen mit Hilfe. theoretischer Kategorien zu analysieren, die einer an technischen ,Medien' orientierten modernen Kommunikationsforschung entlehnt sind, ist nicht unproblematisch. 36 Meines Erachtens lohnt aber der Versuch, funktionale Termini der vorwiegend sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten modernen Kommunikationstheorien für die wechselnden Rollen frühneuzeitlicher Akteure und Akteurinnen anzuwenden. 37 Mit diesen Begriffen werden Sender, 3S Vgl. hierzu die fundamentale theoretische Perspektive des Symbolischen Interaktionismus: Danach kann Verständigung nur dann zustande kommen, wenn beide Kommunikationspartner den verwendeten Zeichen bzw. Symbolen dieselbe Bedeutung zuschreiben. Andernfalls mißlingt Verständigung und damit Kommunikation. Dies ist deshalb sehr oft der Fall, weil die Bedeutung der "Dinge" veränderbar ist und wir im Rahmen von Interaktionsprozessen den "Dingen" unserer Umgebung bestimmte Bedeutungen erst zuschreiben. Vgl. Roland BurkartlWalter Hömberg, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung. Wien 1992, 11-15. Darin der Beitrag von Herbert Blumer, Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus, 23-39 (zuerst veröffentlicht in: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Hrsg. v. einer Arbeitsgruppe Bie1efelder Soziologen. Reinbek 1973). 36 Zu dieser Problematik pointiert: Müller, Mobilität - Interaktion - Kommunikation (wie Anm.12). 37 Vgl. zu diesen Begriffen Heinz Pürer, Grundbegriffe der Kommunikationswissenschaft. Konstanz 2001. Für weiterführende Literatur siehe auch die Verweise in Hans Pohl, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Stuttgart 1989,7-18.
edien und Empfänger von Kommunikationsprozes~en bezeichnet sowie ~formationSkanäle und Kommunikati~nshandlungen ~m Dorf zur Spra~he ebracht. Im günstigsten Fall vermag em solcher Zugnff ~ewohnte Begn~ ~chkeiten in einem produktiven Sinn aufzuweich~n.38 SpeZIfische Kommumkations situationen in frühneuzeitlichen Dorfgememden geraten .so gen~uer als bisher in den Blick und ihre jeweils kon~eten Ausformungen m bestimmten Kommunikationsräumen können gründlIcher untersucht werden.
IV. Dörfliche Interaktions- und Kommunikationsräume Wie kann es gelingen, Kommunikation im frühneuz~itlichen Dor: zu behreiben? Meinem Versuch liegt das Konzept des ,SOZIalen Raumes , zutr~f ;~nder der ,sozialen Räume' zugrunde. Dieses Konzept zeigt die Notwen~Ig't einer Analyse sozialer und kultureller Handlungsfelder auf. SOZIale kel . d d .d R" me werden verstanden als Beziehungs- und AktlOnsfel er, ort Wlf vor d:; Hintergrund historischer und kultureller Interpretations- und ~~eh mungsmuster interagiert und kommuniziert. Zunächst ist , R~um' 1m Smne eines geographischen "Ortes" zu begreifen, als Ort menschlIch~r Handlungen, der eingrenzen oder sich erweitern kann und ,Erfahrungen von Machbarkeit oder Beschränkung prägt. 39 Raumnutzungen, Raumstr~kt~ren und Raumverfügungen sind Resultate gesellschaftlicher Macht,:,erhaltmsse und sozialer Beziehungen40 , in anderen Worten: "Kontrolle, Anelgnung und Ver. " 41 SOZI'ale fügung sind die politischen Aspekte der BezIehung zum R aum. Vgl. in diesem Sinne Rudolf Schlögls Resümee zu d~r v?m 25.-27. 10. 2001 .an der Universität Konstanz stattgefundenen Tagung "Kon~mum~~tlO.n und Henschaf~sblldung. Politische Kulturen in der frühneuzeitlichen Stadt". Em ausfuhrhcher Tagungsbencht findet sich unter: http://www.uni_konstanz.delFuP/sfb485IProtokolle/protokolL b4tagun g .htm . ' h D' h (Abfrage datum 06.10.02). 39 V gl. zur Diskussion des Erfahrungsbegriffs Kath!e~n.. C~nnmg, ProblematlSC e i~~tomien, Erfahrung zwischen Nanativität und Matenahtat, m: H~ 1O~ 200~, .~63~182.: fur die Frühneuzeit-Geschichtsforschung von besonderer Relevanz smd die Beitrage m Munch (Hrsg.), "Erfahrung" (wie Anm. 8). . . .' . .' S "d40 Darauf weisen insbesondere femimstlsche SozlOlogmnen, SozIalge~gI aphmne.n, t.a._ teplanerinnen und Architektinnen hin. Vgl. u. a. KerstiJ~ I!ö.rhöjer, Emleitung:. m: die~. (H ) Stadt _ Land - Frau. Soziologische Analyse, femimstlsche Planungsa?satze. F~eirs~.1m'B' space-relationships" urg reisgau 1990,9-30 . Zur Bedeutung von " . , .für die Orgamsa.' b tion und Zuschreibung bestimmter Positionen vgl. etwa: Jo ~lftle, Femmlst PerspectlVes m Rural Geography: an Introduction, in: Journal ofRural ~tudies 2/1,1986,1-8.. . 41 Edith Saurer, Straße, Schmuggel, Lottospiel. Matenelle Kultur und St~a~ m Niederösteneich Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert;. G.ottm?en ~989, 17. Mit Hilfe dieser politischen Konzeption von Raum legt Saurer dar, Wie Sich die Prasenz des Staates in einem "kleiner" werdenden, überschauba:er~n. ~aum aus~ehnen konnte. Vgl. zum Zusammenhang von Raum mit M.~cht .und Dlszlphmerung N!lchel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefangmsses. Frankfurt am Mam 1989.
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Räume .sind das "Spielfeld" sozialer Austauschbeziehungen, es kann _ so die
F?rmuhe~~ng von Pierre Bourdieu - "in jedem dieser Spiel-Räume sowohl dIe D~fimtIOn ~essen, worum gespielt wird, als auch der Trümpfe, die stechen, Immer wIeder aufs Spiel gesetzt werden".42 Aus soziologischer P er. . spek tIve..1St Raum fernerhin als mehrdimensionaler Raum von Beziehungen un.dPOSItIonen zu verstehen, als Handlungsort, an dem bestimmte Kommuni_ katIOnsregeln herrschen, verschiedene Kommunikations- und Interaktions_ chan~en existieren und es Möglichkeiten sozialer Kontrolle gibt. Jeder ~chntt, .der außerhalb des als ,normal' empfundenen Handlungsspielraumes lIegt, WIrd gen au registriert und kommentiert. Jede Handlung, die einer Verhalt~nsregel unterliegt, und in noch größerem Maße jede Regelverletzung ist, Ervmg Goffman zufolge, Kommunikation. 43 Das Gerede, desgleichen disziplinierend wirkende Witze oder strafende Blicke definieren Aktionsräume und bewirken ein sozial integratives Wissen übereinander.44 Verkürzt formuliert: Kommunikation konstruiert Räume. "Auch das zwischen Menschen ausgetauschte Wissen", stellt Karin Hausen fest, "kann ausreichen, um Räume auszumessen und zuzuweisen. "45 Gleichzeitig wirken die räumlichen Arrangem~nts der ~andlungsorte auf die Gestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlIchen Beziehungen. 46 Umgekehrt gilt demnach: Räume gestalten Kommunikation. Die Regulierung eines außergerichtlich nicht lösbaren Ehrkonflikts mit Hilfe der obrigkeitlichen Instanz ,Gericht' und mit Hilfe der Zeugenaussagen von Kundschaftspersonen aus der Nachbarschaft stellte bekanntlich eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit dar, innerhalb frühneuzeitlicher Aktionsräume kommunikationsfähig zu bleiben. Das beständige nachbarliche Beobachten und Kommentieren bedeutete nicht nur soziale Kontrolle, es bot im 42 Pierre Bourdieu, Sozi~ler Raum und "Klassen". Le<;:on sur la le<;:on. Zwei Vorlesungen. 2. Auf!. Fr~n~urt am Mam 1991,27. Bourdieu bricht mit der tendenziellen Privilegierung von quantItatIv ~bgren.zbaren Gruppen oder Klassen, von definierbaren "Einheiten" auf Koste~ der RelatIOnen m der marxistischen Theorie. Demgegenüber wird "sozialer Raum" als Kraftefeld verstanden, in dem Akteure handeln und reagieren. 43 Erving Goffinan, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 2. Auf!. Frankfurt am Main 1991, 58 f. 44 Vgl. z~r L?gik des Geredes unter anderem Regina Schulte, Bevor das Gerede zum Trats~h WIrd, m: K~in Hausen/Heide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte _ Geschlechtergeschichte. (Geschichte und Geschlechter, Bd. 1.) Frankfurt am MainlNew York 1992 67-73; Ulinka Rublack, Magd, Metz' oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerich~ ten. Frankfurt am Main 1998,32-34. 45 Karin Hausen, Frauenräume, in: Hausen/Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte _ Geschlechtergeschichte (wie Anm. 44), 21-24, hier 21. 46 Ulfert Herlyn unterscheidet im Verhältnis des Individuums zur erlebten Umwelt zwischen Rau.m als H~ndlungsort und Raum als Orientierungsort. Diese beiden Aspekte führt ~r sodann 1m Be.gnff der "Aneignung" wieder zusammen: ders., Zur Aneignung von Raum 1m Lebenslauf, m: Lothar BertelslUlfert Herlyn (Hrsg.), Lebenslauf und Raumerfahrung. Opladen 1990,7-34.
187 Konfiiktfall auch Schutz vor Unterstellungen und Unters~üt~un~ durch ~e~naussagen. Kundschaftspersonen gaben zu Protokoll, WIe SIe SIch neugieng ge .dem Fenster beugten, einem Geschrei nachliefen, zufällig Passanten waaus im kleineren Kreis die Ereignisse debattierten oder sich aktiv in einen ren, . a1 S h . kt Streit einmischten. Das vorgerichtliche Urnfe.ld ers~heI~t s. c mttpun ~on kau m noch überschaubaren sozialen InteraktIOnen m emer VIelzahl .von dorf. h · hen Mikroräumen. Kundschaftsaussagen in Injurienprozessen bIeten SIC 1IC . . b d' auS diesem Grund geradezu an, frühneuzeitliche KommumkatIOns . e mgungen im Dorf näher zu fassen ~nd Einblicke in dörfliche InteraktlOns- und Kommunikationsräume zu gewmnen. " . Um diese Räume genauer vermessen zu können, wud von mIr 1m folgendendie Dimension ,Geschlecht' privilegiert. Konflikte zwischen Frauen ~e1an gten seltener vor Gericht als Streitfälle unter Männern. 47 GrundsätzlIch . . war der unmittelbare Zugang von Frauen zum Gericht durch das RechtsmstItut der Geschlechtsvormundschaft eingeschränkt. Ulrike Gleixner mein~, daß Frauen ohne dörfliche, männliche Unterstützung nur schwer Rechte emfordem konnten. 48 Michaela Hohkamp beschreibt das Gericht als geschlechtsspezifisch unterschiedlich genutzte "Öffentli~hkeit": Die .~es~tzung ..des Gerichts - Richter, Geschworene, GerichtsschreIber - war mannhch, Klager und Angeklagte teilten mit diesen Personen denselben Alltag: ,,sie arbeiteten zusammen, besuchten gemeinsam das Wirtshaus, stritten miteinander und waren nicht selten sogar miteinander verwandt." Diese Vertrautheit der M~nne.r hä~te Frauen dazu veranlaßt, ihre Konflikte nach Möglichkeit außergenchtlIch 1m eigenen Kommunikationsumfeld zu regeln. 49 Soziales ~issen ~urde, so. Monika Mommertz, über geschlechtsspezifische Informabonskanale vermIttelt, Frauen und Männer beschritten zum Teil andere Wege der "Sage".50
Die Frage nach Frauen vor Gericht in ländlichen Untersuchungs gebieten . stellen beispielsweise Ulrike Gleixner, Das Gesamtgericht der Herrs~haft Sc~u.lenburg 1m 18. Jahrhundert. Funktionsweise und Zugang von Frauen und Mannern, m. Jan Peter~ (Hrs~.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur FunktIOnsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften. München 1995, 301-326; Hohkamp, Frauen vor Gericht (wie Anm. 8); Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen au~ der ~as ler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellsc~aft aus illlkrohI~to~, rischer Perspektive - Bretzwil und das obere Walde~b.urger Amt. LIestal 1992; Ramer Walz, Schimpfende Weiber. Frauen in lippischen B~leldlgungsprozessen de.s 17. ~ahrhun derts, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.), WeIber, Menscher, Fraue~ZImmeI. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800. Göttingen 1996, 175-198. SIe. kon,unen ..zum Ergebnis, daß Klagen unter Männem gegenüber solchen unter Frauen. bel we.ltem ube~ wiegen, Frauen hauptsächlich vermittelt über Vormun?scha~t und dann In Ver?Indung ~t ihren Haushaltspositionen oder im Rahmen von ArbeitsbezIehungen vor Gencht erschIenen, daß jedoch Ehemänner häufig im Namen ihrer Frauen klagten. 48 Gleixner, Gesamtgericht (wie Anm. 47), 325. 49 Hohkamp, Frauen vor Gericht (wie Anm. 8), 1~6: .. . .," . 50 Monika Mommertz, Relationalität oder NormatIvltat? "ModI der RechtlIchkeIt am Bel47
Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols
Auf der empirischen Grundlage von weiblichen Kundschaften richtet sich nachfolgend das Augenmerk auf geschlechtsspezifisch eventuell unterschied_ lich genutzte Kommunikationsräume. Prinzipiell differente Formen kommu_ nikativen Austauschs von Frauen und Männern geraten indessen nicht in das Blickfeld. Dagegen stellt Lyndal Roper die generelle Frage nach der "gendered nature of communication in the early modem period" und erörtert zwei sehr unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten mitsamt den damit verknüpften Problemen. 51 Der erste Weg begreife Kultur und Sprache als übergreifendes System, als geteilten Diskurs, an dem beide Geschlechter teilhaben. Die Problematik dieses Ansatzes bestehe darin, daß Kommunikation vorwiegend als männliche Aktion in den Blick gerate und Frauen eher als "Medien" des Austauschs denn als Akteurinnen erscheinen. 52 Konträr dazu beruhe der zweite Weg auf dem Versuch, eigene subkulturelle Kommunikationsformen von Frauen im Rahmen weiblicher Kommunikationsnetzwerke _ "the female world of gossip and spinning circle" - auszumachen. 53 Das Problem dieses Interpretationsrasters liege vor allem in der Suggestion einer gleichgewichtigen weiblichen Gegenwelt parallel zu den von Männern besetzten Kommunikationsräumen. Doch, so lautet das zentrale Gegenargument: "Even when women's lines of communication seem to run from woman to woman, their male-female context was important. "54 Diese grundsätzlichen Bedenken sind für eine Analyse geschlechtsspezifischer Kommunikationsräume zu berücksichtigen. Sie gelten prinzipiellbeiden Geschlechtern, deren Sozialräume jeweils miteinander verschränkt und mit dem übergeordneten kulturellen Bezugsrahmen verknüpft sind. Dennoch lohnt meines Erachtens der Versuch, weibliche Zeugenaussagen im männlich dominierten Kommunikationsraum ,Gericht' auch (doch nicht ausschließlich) als Zugang zu vornehmlich weiblichen Kommunikationszirkeln zu interpretieren, denn gerade hier gibt es noch viel zu entdecken. Im Gericht Laudegg wurden Nachbarschaftsstreitigkeiten keineswegs primär von Männern als Einzelpersonen gerichtlich ausgehandelt. Meist agierte das Ehepaar als Handlungseinheit und vertrat vor Gericht seine Positionen und ökonomisch begründete Interessen gemeinsam gegenüber benachbmien Ehepaaren. Diese häufige Konstellation der streitenden Ehepaare trat auch dann in Erscheinung, wenn die Auseinandersetzung im vorgerichtlichen Umfeld hauptsächlich zwischen den Frauen stattgefunden hatte. Da sich Konspiel der ländlichen Mark Brandenburg in der Frühen Neuzeit, in: Griesebner/Scheutz/ Weigl (Hrsg.), Justiz und Gerechtigkeit (wie Anm. 9), 75-93, hier 83. 51 Lyndal f!.0per, Gen?ered Exchanges: Women and Communication in Sixteenth-Century Germany, m: HundsbIchler (Red.) Kommunikation und Alltag (wie Anm. 12) 199-217. 52 Ebd. 201. ' 53 Ebd. 204. 54 Ebd. 208.
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ffkte verheirateter Frauen vorwiegend innerhalb der sozialen Räume und lrbeitsbeziehungen der Nachbarschaft ereigneten, sagten vor Gericht folgerichtig viele Nachbarinnen aus. 55 Diese Aussagen ermöglichen Zugänge zu einigen weiblichen Kommunikationsräumen: das Haus, die Küche, der Gemüsegarten, die Gasse, der Platz vor dem Haus. Ein häufig genannte~ Ort :V~ der Fensterbalken, eine gute Sitzgelegenheit zum..Ausruhen und gleIchzeItig eeignet, Kleinkinder zu beaufsichtigen und den Uberblick über das Gesche~en rund ums Haus zu bewahren. Häufig angeführt wird auch der Dorfbrunnen, ein für frühneuzeitliche Gemeinden geradezu idealtypisch charakteristischer Ort. Im Gerichtsbezirk Laudegg handelte es sich um riesige ~olz bottiche, sogenannte "Schaffelbrunnen". Zugänglich von mehreren Selten, trafen sich Frauen dort zum Wäschewaschen, Wasserholen oder um das Vieh zur Tränke zu führen. In den Kundschaftsaussagen traten viele Frauen in Erscheinung, die sich anscheinend einfach nur ausruhten oder sich zu einem abendlichen Schwatz auf der BaJ1k vor dem Haus zusammenfanden. Das Plauderstündchen' am Feierabend oder zwischendurch zum Austausch von Neuigkeiten und wichtigen Informationen wurde von den Frauen selbst keineswegs als Müßiggang, Zeitverschwendung oder als unproduktive Tätigkeit gewertet. 56 ... . Das Gerede erzeugte Transparenz und war Tell emer eIgenen SOZIalen Praxis. Aus der Sicht der Frauen gehörte es zu den Handlungsformen, die unter anderem an der Sorge um den Haushalt orientiert waren. Diese Kommunikationspraxis wurde allerdings, so Heide Wunder, kaum je als soziale, den Haushalt absichernde Strategie anerkannt, sondern vielmehr von seiten der Männer und männlichen Obrigkeiten als typisch weibliches Fehlverhalten disqualifiziert und lächerlich gemacht. 57 Ungeachtet dessen - dies belegen zahlreiche Kundschaftsaussagen vor Gericht58 - kam den Ansichten und Meinungen verheirateter Frauen insbesondere im Hinblick auf Zauberei- und Magiever55 Vgl. zum Sozialraum Nachbarschaft Pas~ale Sutt~r, Von .?~ten u~~ bösen Nachbarn. Nachbarschaft als Beziehungsform im spätilllttelalterlIchen Zunch. Z~nch 20?2. 56 Dies änderte sich erst mit dem Vordringen eines bürgerlichen ArbeItseth~s 1m 18. ~ahr hundert. V gl. Pia HolensteinINorbert Schindler, Gesch~ätzgeschicht~(n) ..Em kulturhIs~? risches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrolherten Rede, m: RIchard van Duk men (Hrsg.), Dynamik der Tradition. (Studien zur historischen Kulturforschung, Bd. 4.) Frankfurt am Main 1992,41-108, hier 44. . 57 Vgl. Heide Wunder, Er ist die Sonn', sie ist der Mond. Frauen in der Frühen NeuzeIt. München 1992, 227. . . 58 Die Zeugenaussagen der annähernd 160 Injurienprozesse 1m Untersu~hu~gszeItraum wurden zwar nicht nach Geschlecht statistisch ausgewertet, doch dürften dIe hIer v~rwen deten Archivalien weit über 100 weibliche Stimmen enthalten. Hingegen zählte ~I~haela Hohkamp anhand der Akten der niederen Gerichts.barkeit de~ ~order~sterreichIs.chen Kameralherrschaft und Obervogtei Triberg von 1740 bIS 1780 ledIglIch dr~I Fraue.n, die als Zeuginnen aussagten, wobei in einem Fall sofort festgestellt w~rde, d~ß die Zeugm wegen "ohnwissenheit" entschuldigt wäre: Hohkamp, Frauen vor Gencht (WIe Anm. 8), 119.
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dacht eine bedeutende Rolle Das in weiblichen Kommunikationsräumen hergestellte und behütete Wissen wurde in solchen Fällen oftmals als bedroh_ lich empfunden, manchmal wurde es auch tatsächlich zur Bedrohung. Obwohl Männer ebenso wie Frauen am Gerede teilhatten und "in der GerÜChte_ küche genauso gute Menus" zubereiteten6o , wurde das Gerede der "schwat_ zenden" Nachbarinnen daher besonders bereitwillig als Weibertratsch und Klatsch abgewertet oder als "Kindswerk" verniedlicht61 . Die Pflicht der Ehemänner bestünde nach Ansicht von einigen durchaus neugierigen Ohrenzeu_ gen weiblichen Geredes darin, ihren Frauen rechtzeitig "auf das Maul zu schlagen", damit andere Frauen und Männer unbehelligt neben ihnen leben 62 könnten. Frauen genossen keine eigenen Freiräume für ein besonders offensives Kommunikationsverhalten aufgnmd minderer Strafmündigkeit: In Tirol wurden sie im Rahmen von Injurienprozessen ebenso wie Männer mit Geldstrafen und öffentlichen Abbitten belegt. Frauen schienen allerdings, so Monika Mommertz, im Interesse ihres Haushalts eine Repräsentantinnenfunktion zu übernehmen, für die sie aus der Perspektive des Dorfes mit besonderer Autorität ausgestattet waren. 63 Einerseits wurde also von seiten der Dorfgemeinde, der Familie und Verwandtschaft ganz selbstverständlich erwartet daß Frauen sich als Akteurinnen und Publikum in den alltäglichen und teilweise aggressiven Kommunikationsprozessen engagierten, andererseits wurde ein solches Verhalten aber als zänkisches und bösartiges ,Kriegführen ' hingestellt. 64
59 Siehe zu Zauberei- u~d Hexereiverdacht vor allem die Arbeiten von Rainer Walz, Der Hexenwahn vor dem Hmtergrund dörflicher Kommunikation, in: Zs. für Volkskunde 82 1986, 1-18; ders., Der Hexenwahn im Alltag. Der Umgang mit verdächtigen Frauen, in: GWU 43, 1992, 157-168, sowie ders., Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frü?en Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe. Paderbom 1993. 60 Walz, SchImpfende Weiber (wie Anm. 47), 181. 6.1 Vgl. zu~ Sp~nnungsverhältnis zwischen "Weibergeschwätz" und der Bedeutung weiblIchen InsIderwIssens für den gerichtlichen Wahrheitstindungsprozeß sowie auch zur Bewertung weiblicher Rede vor Gericht zuletzt Simon-Muscheid, Frauen vor Gericht (wie Anm. 8), 396-399.
62 So beklagte beispielsweise im Fall eines Hexereiverdachts gegen etliche Frauen aus Tösens Oswald Tschöpperl im Dezember 1591 stereotyp das angeblich frauenspezitische Laster des boshaften Klatsches und vermutete Frauen hinter den ehrverletzenden Verdächtigungen, obwohl sämtlichen Zeugenaussagen zu folge vorwiegend Männer am Zustandekommen dieser Bezichtigung beteiligt waren: "und wann es ennckhem Weibern zuzeiten das Maul erschlieget, so mechten Anndere Weiber vor oder neben Inen hinkomen. " TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 1012,4. 12. 1591, fol. 363v ff. 6~. A1.0nika ~ommertz, "Hat ermeldetes Waib mich angefallen." Gerichtsherrschaft und dorfhch~ Sozialkontroll~ in ~echtshilfeanfragen an den Brandenburger Schöppenstuhl um I?OO. Em Werkstattbencht, m: Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft (wie Anm.47), 343-358, hIer 351.
64 Das Negativstereotyp ,Weibergeschwätz' wird aufgezeigt in Holenstein/Schindler, Geschwätzgeschichte(n) (wie Anm. 56).
Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols
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'Das sogenannte ,Geschwätz' der Nachbarinnen auf einer Bank oder einem Stein vor dem Haus diente gleichermaßen der Inf?rmation,. der Meinungsbildung, der Sozialisation und der Unterhaltung. In dI~se~ sozIal~n Raum wu~de also - verhaltenstheoretisch gesprochen - allen vIe~ IdealtypIschen ~UnktlOvon Kommunikation Rechnung getragen. Allerdmgs kam den Memungen nen . S. . zelner Kundschafterinnen mehr Gewicht als der Memung anderer zu. Ie elll A ... rfügten in diesem Kommunikationszirkel über genügend utontat, um es leisten zu können, eine andere Frau zurechtzuweisen, ohne selbst Ziel einer verbalen Beleidigungsattacke zu werden. Ermächtigt von den anderen Kommunikationspartnerinnen vertraten sie dabei die sozialen ~ orm?n der Dorfgemeinschaft, kontrollierten die Situation und sorgt~n auch. 1m eIgenen Interesse dafür, daß Auseinandersetzungen unter Frauen nIcht gleIch den Weg vor das Gericht fanden. Sie agierten wirksam im Rahmen eines von Frauen besetzten und in sich hierarchisch nach sozialem Status gegliederten S~zial raums, der allerdings keine ,Gegenöffentlichkeit' zu männlichen AktlOnsräumen darstellte, sondern mit diesen in vielfältiger Weise verschränkt war. Hier suchten und beanspruchten die jeweiligen Akteurinnen im Konfliktfall Zuhörerschaft, Anteil- und Parteinahrne. "Du muest mich hierinnen sehen, wann dir das herz im Leib zerbräch", spottet beispielsweise die eine über ihre zu spät kommende Gegnerin, nachdem sie den selbsterwählte~ K?mmu~ika tionsraum, die Küche der Nachbarin, als erste besetzt hatte. 65 SIe nutzte dIeses Kommunikationsumfeld zur Befriedigung ihrer zunächst intrapersonal entwickelten Bedürfnisse, indem sie versuchte, durch Austausch Spannungen abzuführen, Entscheidungen zu treffen und sich und ihre Position darzustellen. Ein derart wichtiger Raum mußte im Konfliktfall entsprechend vehement verteidigt werden - im übrigen nicht unähnlich zum bekannt h?ftigen S?zialverhalten der Männer, die schlagkräftig in Wirtshausraufereien verWIckelt waren. Ausgehend von Kundschaftsaussagen lassen sich im Zusan:me~an~ mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung für Frauen und Männer JeweIls ?Igene Orte der Kommunikation feststellen. 66 Männer kamen vor allem m der Schmiede oder im Wirtshaus, ihrem bevorzugten Ort für geschäftliche Transaktionen und Verhandlungen sowie für Trinkrituale, Spiele und Wettbewerbe, zusammen. 67 Beide Geschlechter kommunizierten in der Mühle, in der Kirche
:i~h
TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/1, 18.8. 1581, fo~. 5~v. .. Geschlechtsspezitisch detinierte ländliche Kommum~atIOns.raume ,:.urden eben~al.ls herausgearbeitet von Barbara Krug-Richter, AgrargeschlC?te m der fruhen ~euzeIt .1~ geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu eme~ Forsch~n.gsdesiderat, m. Wemer TroßbachiClemens Zimmermann (Hrsg.), Agrargeschichte. POSItIOnen und Perspektiven. (Quellen und Forschungen zur Agrargeschich~e~ Bd .. 44.) Stuttgart 1998, 33-?5. 67 Grenzüberschreitungen im Wirtshaus werden thematisIert m: B. Ann T!usty, Crossmg Gender Boundaries. Women as Drunkards in Early Modem Augsburg, m: BackmannJ Künast/Ullmann/Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte (wie Anm. 2), 185-198. 65 66
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oder auf dem Friedhof. Frauen und Männer sammelten Informationen auf den Gassen und insbesondere auf den Straßen zwischen den Dörfern, auf Wegen, die man lieber in Gesellschaft machte. Wiederholt wurden Schuhmacher, Weber, Schneider und Näherinnen als Kundschaftspersonen einvernommen, da sie in vielen Häusern aus- und eingingen und sich dort auch lange genug aufhielten, um komplexe Zusammenhänge wahrnehmen zu können. Sie fungierten innerhalb der dörflichen Kommunikationsnetzwerke als Informationsträger/innen, die Wissens daten empfingen, verarbeiteten und abgaben. Über großes soziales Wissen und vielfältige soziale und ökonomische Kompetenzen als autoritative Honoratioren vor und außer Gericht verfügten im allgemeinen die Wirte68 sowie auch Krämer und Krämerin und einige Dorfhandwerker, da in ihren Läden, Werkstätten und Wirtsstuben "die Fäden der Information"69 zusammenliefen und die jeweiligen Kontrahenten diese sozialen Räume als Bühne für verbale Konfrontationen nutzten. In diesen sozialen Räumen kamen - funktional gesprochen - besonders viele Daten-Inputs zusammen, hier wurden sie aber auch im wechselseitigen Gespräch geprüft, verarbeitet und mittels bestimmter Rituale wie des gemeinsamen Umtrunks im Wirtshaus im Gedächtnis gespeichert.
V. "Es sey nit gueth zesagen" aber: "es ist gueth, daß mans weiß" In gebotener Kürze möchte ich im folgenden einige dörfliche Kommunikationsräume und -prozesse an einem Quellenbeispiel demonstrieren. Der Fall thematisiert unter anderem die Entstehung eines Gerüchts und einer Diebstahlbezichtigung, wobei der Respekt vor einer mächtigen Verwandtschaft Geheimhaltung gebot, die Tat - ein Diebstahl im nachbarlichen Obstgarten jedoch höchste Transparenz erforderte. Die Grenzen des Öffentlichen und somit des Geheimen und Diskreten wurden situationsabhängig kommunikativ ausgehandelt und waren fest mit dem Faktor Sozialprestige und mit der Praxis tragfähiger Beziehungspflege verknüpft. Dank umfangreicher Kundschaftsprotokolle ermöglicht die Quelle einen einmaligen Blick auf Orte und Momente von Bezichtigungen und Verdächtigungen. Zunächst kam ein Gerede im Sinne eines kollektiven Informationsprozesses in Umlauf, das die Wahrscheinlichkeit des abweichenden Verhaltens eine~
Vgl. Heiss, Zentralraum WiIishaus (wie Anm. 4), 28-30. Vgl. Sabine Kienitz, Sexualität, Macht und Moral. Prostitution und Geschlechterbeziehungen Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte. Berlin 1995, 163. 68
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Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols
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. . 70C' person auslotete und weit davon entfernt war, unkontrolh~rt zu sem. nstan rman sowie Joseph Rederer und dessen Frau klagten 1m September 1590 Pee . . ' . 71 C . gegen die beiden Frauen Cnstma Stockherm ~nd Torothee Waldhartm. n· a war mit Geörg Prunner und Torothee mIt dessen Bruder Hanns Pnmner SIll ., h t verheiratet. Nachdem jemand in den frühen Morgenstunden m emem nac barlichen Obstgarten Äpfel von den Bäumen geschüttelt und gestohlen ~a~te, kamen Peerman und das Ehepaar Rederer als Diebe ins Gerede, denn .Cns~ma Prunnerin hatte sie dieser Tat beschuldigt und Torothee Prunnenn dIese Bezichtigung bereits als allgemeines soziales Wissen, al.s "Gmim~l" oder verdichtetes Gerücht, hingestellt. Beide Frauen beteuerten Jedoch, memals selbst Beleidigendes über die klagende Partei "ausgossen" zu haben. Es wären nur "Reden, bey denen kain grundt, wie es dann z~ mermaln beschehe, daß der Ain das, der Annder dies sage und doch nur kmdswerch were, herumganggen".7 2 .. ., Befragt nach dem näheren Verlauf eines solchen Geredes, erzahlte Cr~stma, daß sie an einem Sonntag vor etwa drei Wochen bei ihren Nachbarmnen, der Müllerin Baldburga und der Frau des Hanns Höllrigl, "am haingarten vor Höllrigls Behausung" gesessen habe: Die Rede kam .dab~i un~er. anderem auf den Diebstahl der Äpfel, die Täter seien aber noch mcht IdentIfiZIert, noch sei "nichts sonnders davon geredt" worden. Später ging die Müllerin jedoc~ noch einmal zu Cristina hinüber - Peermann und Rederer vermuteten, "SI werde es aus Jemandts Anraizung gethan haben"73 - u~d befragte sie: ."e y liebe, sag mir Jez im Vertrauen, wer ist der, der die Opffl soll geschIdtlt haben?" Cristina antwortete, im Dorf werde in diesem Zusammenhang der ., Peerman genannt. Zur selben Zeit ging Torothee zur Mühle hinauf und traf dort den Mullerknecht Matheis Math an. Dieser war gerade damit beschäftigt, das Mehl des Peennan in einen Sack zu schöpfen. Torothee fragte, wem das schöne Mehl gehöre, er antwortete ihr mit einem spöttischen Wortspiel: Das Mehl..sei "des Öpfflmans, des Peermans", worüber Torothee herzhaft lachte. Spater ver-
Rublack, Magd, Metz' oder Mörderin (wie Anm. 44), 33. TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/2,26.9.1590, fo1. ~O~v. . Die Ehefrauen der Brüder Geörg und Ranns Prunner, Cnst1~a und Torothee, sahen SIch eine Woche später dazu veranlaßt, selbst den Gang vor das Geneht zu unternehmen, um g~ richtlich klarzustellen, daß "Sy Prunnerische Weiber geda~ht.en Peerman, Rederer ,~nd sem hausfrau nicht unerbers bezigen, noch Sy an Im Eern Imur:ert. oder bescholdten hatte~. Sie verwahrten sich dagegen, verleumderischer Reden beZIchtIgt zu werden, ~bwohl SIe sich dazu bereits gerichtlich verantwortet hätten. Peerman und Reder verharrten Jedoch auf ihrer Anklage. TLA, Verfachbuch Laudegg, ~d. 10/2,4. 10. 1590, fol. 305v ff. . 73 Ebd. fol. 306v: Die Millerin sollte, so dIe Forderung Peermans un? Reder~I~, "auch durch Ain Ersambs Gericht (dem Gegentail kain Ordnung gibt) ~lles FleIß exammIe~ werden, ob sy solliche Frag aus Jemanndts Anraizung oder durch SIch selbst than habe.
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übelte ihr Peermann dieses Gelächter als zusätzliche beleidigende Tathandlung: "soll denn der Peerman auch in dieser hanndlung befieckht sein". In der Folge wurden unter anderem die Müllerin und der Knecht als Zeugen einvernommen und befragt, "durch wemb oder wie diese sachen Aufkomen" wären. Baldburga, die Müllerin, berichtete vom Inhalt der Gespräche beim sonntäglichen Haingarten der Frauen auf einer Bank vor dem Haus. Die Prunnerin deutete an, "Man wiss jetzt, wer die Öpffl, so der Pregizer verlorn, hin hat." Die Müllerin fragte: "wers dann hin habe". Cristina antwortete: "Sy sag es nit, dann solliche sachen wem nit guet zesagn." Daraufhin meinte die Höllriglin: "es ist gueth, daß mans weiß, denn Ich bin Ain Armer Teuffi und daß Ich nit weit darvon bin, mechte mans gleich so bald mich oder Ain annders unschuldigs bezeihen." Die Zeugin, die sich allein aufgrund ihrer Armut und ihrer Nachbarschaft zum Tatort bedroht fühlte, forderte Transparenz ein, um nicht selbst ins Gerede zu kommen. Doch Cristina Prunnerin sagte, daß es nicht vorteilhaft wäre, die Täter öffentlich zu benennen. Die Zeugin Baldburga konnte sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben, blieb hartnäckig und begleitete ihre Nachbarin im Anschluß an dieses Gespräch heim. Dort setzte sie sich erneut zu ihr auf einen Stein vor dem Haus. Cristina weihte sie diesmal im vertrauten Gespräch zu zweit ohne weiteres "Anraizen" ein: "Jetzt will ich dir sagen, wer die Öpffi hinhat." Die Müllerin: "Wer?", Christina: "der Peerman ist Ainer und sein noch Ire Zway." Die beiden anderen wollte sie jedoch immer noch nicht nennen, denn: "es sey nit gueth zesagen, dann dieselben haben viI Geschwistrigeth und Freundt". Als nächstes wurde der Müllerknecht Matheis einvernommen: Er hatte von Baldburga gehört, daß Peerman und noch ein anderer Mann, den man wegen seiner großen Verwandtschaft im Dorf nicht nennen wolle, die Äpfel gestohlen hätten. Es scheint, als hätten alle Skrupel gehabt, den mächtigen Rederer und seine Frau mit ihren weitverzweigten "Freundtschaften" direkt zu verdächtigen. Dennoch war es bald kein Geheimnis mehr, wer in diesen Apfeldiebstahl verwikkelt war. Ein derart brisanter Diebstahlsverdacht gegen Mitglieder einer sozial geachteten und großen Verwandtschaft sowie das unvermeidliche Gerede im Dorf mußten möglichst schnell entschärft werden. Noch am selben Tag wurde der Streit zwischen den Frauen der Gebrüder Prunner und den mutmaßlichen Apfeldieben beigelegt und gerichtlich befriedet: Die Prunnerischen Frauen mußten Abbitte leisten. Möglicherweise wären die Vorfälle auch niemals aktenkundig geworden, hätte Peerman, der ohne derartige Skrupel Ziel des Geredes worden war, nicht von sich aus den Gang vor das Gericht gewählt und damit die dörfliche Nachbarschaft herausgefordert, die Grenzen des Sagbaren und des Öffentlichen in diesem Fall erneut auszuhandeln.
VI. ,Wahrheitsfindung' und Kriminalisierung als kommunikative Prozesse Der dörfliche Weg der, Täterermittlung' war ~in k?mmunikativer Prozeß ~~r Täterproduktion. Monika Mommertz beschreI~t dIesen Vorgang als Defi~~tIozeß in dem eine Handlung als Tat und eme handelnde Person als Tateonspr , dl" P rin oder Täter erst nach und nach definiert wurde, ein selten gera Imger rozeß mit unberechenbarem Ausgang. 74 Zeugenaussa~en und Verhandlun~en "sentieren das Dorf übereinstimmend als InteraktIOns- und Kommumkapra . d G tionsraum, in dem sich Frauen und Männer rasch um streIten ~ ruppen n das Geschehene belauschten, beobachteten und kommentIerten. Auf scharte , . kl . diese Weise entstand soziales Wissen, eine "permane~te. Fort~ntwIc. ung e.Ines bestimmten Themas, ein Abwägen der WahrschemhchkeIten,. eme stetIg sich verändernde Beurteilung",75 Das Gerede im Dorf konnte sIch sod~nn rasch verselbständigen. Wer an einer Aufklärung interessiert war, mußte vIele Zeugen aufbieten, um einen solchen Kommunikationsprozeß"noch nachvollziehen und das ,ausgestreute' Gerede zu seinem Ursprung zuruckverfolgen zu können. hl . ht f"l Als beispielsweise Margretha Riedlin ausgerechnet, aber wo mc zu a lig, zu dem Zeitpunkt, als sie gemeins~m mit ihr~n Schw.estern. das Hoferb.e der Eltern antrat - das obere Inntal Tlrols war eme RegIOn mIt R~alerbtel lung _, mit dem Vorwurf belastet wurde, sie hätte als Dienstmädc.hen 1m Ets~h tal "Ain Kind getragen, erzeugt und dasselbig verthan", s~tzte SIe all~ verfugbaren Kundschaftspersonen ein, um herauszufinden, WIe das Gerucht von Mund zu Mund und von Ohr zu Ohr ging,76 Und als viele Jahre zuvor auf Grund eines "verlorenen" Schmalzes im Dorf "ain Geschray" entstan.den w~r, schickte der zum üblichen Kreis der Verdächtigen z~hlende ~ans HeIserer Jemanden mit der Bitte um Aufklärung des Falles zu emem weIt entfernt lebenden Wahrsager über den Arlberg, "damit Er ausm Wunder kombe, ~er doch der Tätter seye".77 Die Konsultation eines Wahrsagers galt als .keI~eswe~s ungewöhnliche Ermittlungsmöglichkeit, eine Form der Kommum.~atIO~ ZWIschen _ in diesem Fall- männlichen Akteuren,78 Ungeklärte Vorfälle nährten nicht nur das Gerede, sie waren ein geradezu unerträglicher Zustand. So lan~~ Mommertz, "Hat enneldetes Waib mich angefallen" (~ie ~n~. 63), 355. . David Warren Sabean, Die Sünden des Glaubens. Elll dorfhches Rezept gegen VIehseuchen, in: ders., Das zweischneidige Schwert (wie Anm. 19),226. 76 TLA, Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/2,3. 12. 1585, fol. 29r ff. 77 TLA Verfachbuch Laudegg, Bd. 10/2, 16.6. 1591, fol. 338r.f.. .. . 78 Zur kommunikativen Praxis des Ratsuchens bei Wahrsager/lllnen, elll durchau~ gang.Ies Finde"- und Entscheidungsinstrument, siehe Ingrid Ahrendt-Schu.lte, Zaub.~nnnen III ~er Stadt Horn (1554-1603). Magische Kultur und Hexenverfolgung III der Fruhen Neuzeit. Frankfurt am Main/New York 1997,77-87.
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nicht feststand, wer das Schmalz gestohlen oder weggezaubert hatte, konnte jeder verdächtigt werden. Die soziale Ordnung des Dorfes erforderte Transparenz, das Gerede - der permanente Austausch von Vermutungen, Verdächtigungen und Beobachtungen - hielt die sozialen Netzwerke innerhalb der Gemeinde zusammen. Daher fühlten sich die Nachbarn bis zu einem bestimmten Grad auch dazu berechtigt, über andere zu reden und deren Taten zu kommentieren. Nicht nur die Nachbarn lauschten und beobachteten und redeten darüber. Das außereheliche Verhältnis der Kunigunde Grinin ist deshalb in den Gerichtsprotokollen so detailliert überliefert, weil ihr die eigene Tochter hartnäckig und ohne Skrupel nachspionierte. Sie stand dann im Ehrenstreit gegen den Ehebrecher für ihren Stiefvater und ihre Mutter als Zeugin zur VerfügungJ9 Das unpersönliche Gerede war eine Instanz und galt als Bestandteil des dörflichen Wissens, auf das jeder, der am Gerede teilhatte, ein Anrecht zu haben vermeinte. Im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen läßt sich dieses Gerede gleich in mehrfacher Hinsicht thematisieren. Es erscheint als Sprechen über Kriminalität80, als Reflexion sozialen Wissens durch die Kundschaftspersonen oder auch als boshaftes und bedrohliches Gerücht, gegen das man sich mit Hilfe einer Injurienklage entschlossen, rechtzeitig und effektiv zur Wehr setzen mußte - koste es, was es wolle. 8i
VII. Das Gerichtsbuch als Kommunikatians- und Speichermedium Die dörfliche Gerichtsversammlung mit den bäuerlichen Schöffen, dem Richter und Gerichtsschreiber repräsentierte die landesfürstliche Ordnung, die letztlich auch für die Menschen im Gerichtsbezirk Laudegg mit Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit verknüpft war.8 2 Die Pfleger des Gerichtsbezir79 :zu diesem. Fall ausführlich: Maria Heidegger, Wissbegier und verborgen-verbotene LeIdenschaft 1m Dorf. Das Fallbeispiel eines "unzüchtigen Verhältnisses" im frühneuzeitlichen Serfaus, in: "Natur bin ich, erinnere daher oft an Kunst". Körper, Sexualität, Erotik. Versuch einer Dekonstruktion. (Arunda Kulturzeitschrift, Bd. 54.) Schlanders 2001, 54-65. 80 .v~l. a~~h ~ilke G~ttsc~, "Nachdem das Gerücht überall gegangen ... " Sprechen über Krimmahtat m der landhchen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Burkhardt Pött1er (Hrsg.), Innovation und Wandel. Festschrift für askar Moser zum 80. Geburtstag. Graz 1994, 159-164. 81 Vgl. auch ~a.lf-Pete: Fuchs, Der Vorwurf der Zauberei in der Rechtspraxis des Injurien~erfahrens. Emige Reichskammergerichtsprozesse westfälischer Herkunft im Vergleich, m: ZNR 17, ~995, 1-29; Gudrun Gersmann, "Gehe hin und verthedige dich!" Injurien~~gen. als MIt~~1 zur ~bwehr von Hexereiverdächtigungen - ein Fallbeispiel aus dem Furstbistum Munster, m: BackmannlKünast/Ullmann/Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte (wie Anm. 2), 237-269; Heidegger, Soziale Dramen (wie Anm. 1),213-227. 82 Zu Gerechtigkeit bzw. Gerechtigkeitsvorstellungen in historischer Perspektive siehe die
kes 83 leiteten als Vertreter der Landesfürsten deren Herrschaftsinteressen weiter und setzten sie in beständiger Auseinandersetzung mit den örtlichen Machtverhältnissen und Beziehungsketten durch. Die Gerichtsprotokolle belegen, daß die normative Grundlage der Tiroler Landesordnung vor Ort sehr wohl präsent und vertraut war, rechtskundige oder gut beratene bäuerliche Streitparteien argumentierten auf dieser Basis und zitierten die entsprechenden Abschnitte und Bestimmungen. Der Gerichtsschreiber protokollierte im Gerichtsbuch in chronologischer Reihenfolge nicht nur Klagen und Kundschaften, sondern auch Erbregelungen, Kauf- und Tauschverhandlungen, Eheverträge oder Schuldbriefe. 84 Er hatte laut der Tiroler Landesordnung von 1573 dafür Sorge zu tragen, daß die "prothocol- und verfachbücher, darein sy die kundtschafften, verträg, inventari, gerhabschafften und anndere briefliche gerechtigkaiten und urkunden verfahen und concepieren sambt anndern acten und gerichtshändln" an einem sicheren Ort aufbewahrt wurden, "damit man dieselben in künfftigen zuetragenden notdurfften deren orten yeder zeit funden und gehaben möge".85 Das an diesem Ort schriftlich Festgehaltene, das "Verfachte" , war keineswegs ausschließlich Herrschaftsquelle, sondern spiegelte kollektives Alltagswissen und "kommunikatives Gedächtnis"86. Für die interessierten und betroffenen Frauen und Männer galten vermutlich geringere Zugangsbeschränkungen als bisher angenommen. Das Protokollierte war kein Geheimnis, sondern stellte geradezu einen bedeutenden Faktor der sozialen Erinnerung dar. 87 Als zahlreichen Frühneuzeit-Beiträge in: Griesebner/Scheutz/Weigl (Hrsg.), Justiz und Gerechtigkeit (wie Anm. 9). 83 Das Gericht war fast durchgehend verpfändet. Lange Zeit hatten die Grafen von Spaur die Pflegschaft über das Gericht Laudegg inne. Die Richter hatten die niedere und höhere Gerichtsbarkeit auszuüben und fungierten bei Abwesenheit des Pflegers auch als Pflegsverwalter. Die Richter gehörten meist dem geadelten Dorfpatriziat an. Im Untersuchungszeitraum hatte Christoph von Knüllenberg die Pflegschaft inne, nachdem er die einzige Tochter des Hans von Wähingen geehelicht hatte. Das Geschlecht der Wähingen hatte im 16. Jahrhundert seit Veit von Wähingen, der Laudegg als Belohnung für Kriegsdienste erhalten hatte, über drei Generationen die Pflegschaft inne. Vgl. Heidegger, Soziale Dramen (wie Anm. 1),57. . 84 Die unterschiedlichen Inhalte der Verfach- und Gerichtsbücher entsprechen der mhaltlich "kunterbunten Mischung" der Tiroler Landesordnungen des 16. Jahrhunderts, die als umfassende Gesetzeswerke anzusehen sind, da sie aus heutiger Sicht Staats- und Ve~ fassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht, Strafrecht, Gewerberecht, Zivilreclit, Handelsrecht und Arbeitsrecht enthalten: Beimrohr, Brief und Siegel (wie Anm. 18), 50. 85 25. Titel, 2. Buch, zit. nach Beimrohr, Brief und Siegel (wie Anm. 18),98. 86 Siehe dazu fan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2. Aufl. München 1997,50. Zur rechtlichen Erinnerungskultur vgl. Klaus Graf, Das leckt die Kuh nicht ab. "Zufällige Gedanken" zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit, in: Andreas BlauertiGerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000, 245-288. 87 Grundlegend dazu David Warren Sabean, Village Court Protocolls and Memory, in: Heinrich R. Schmidt/Andre Holenstein/Andreas Würgler (Hrsg.), Gemeinde, Refor-
grobe Beleidigung bei Auseinandersetzungen im Wirtshaus oder auf der Gasse galt beispielsweise der Verweis auf einen Vorfall in der Vergangenheit, als der Gegner im Gerichtsbuch "verzeichnet" worden war. Der schriftlichen Beweiskraft einer solchen Aussage kam besondere Bedeutung zu, mehr als etwa dem "Geschwätz", dem "Gerede" oder dem "geschray". Das Gerichtsbuch wurde gewissermaßen als Waffe in Verbalauseinandersetzungen eingesetzt, erstaunlicherweise konnte der Aggressor zuweilen sogar die betreffende Seite zitieren. Auseinandersetzungen vor Gericht endeten gewöhnlich damit, daß die betroffene Partei die Rechtfertigung des Gegners und die ergangenen Kundschaften im Gerichtsbuch festzuhalten begehrte und dafür einen gewissen Obolus, drei Kreuzer, entrichtete. Warf der Kläger oder die Klägerin diesen "Dreier" mit einer nachdrücklichen Geste und entsprechenden Worten auf den Tisch, wurde damit signalisiert, daß diese öffentliche Satisfaktion durch das Gericht ein für alle Mal für die Zukunft im Gedächtnis einzuprägen war. Zwar stellte für die Menschen im Dorf der ,face-to-face'-Kontakt unter Anwesenden die dominante Kommunikationssituation dar und Mündlichkeit war die Norm. Schriftlichkeit war jedoch angesichts der wachsenden Bedeutung einer im wesentlichen darauf beruhenden Rechtskultur mehr als nur ein wichtiges Hilfsmittel. 88 "Mündlichkeit und Schriftlichkeit gehören als zwei inund miteinanderlaufende Kommunikationsformen zusammen. "89 In diesem Sinne spielte das Gerichtsbuch, die historische Quelle, eine kommunikationsgeschichtlich noch unzureichend erforschte Rolle als Kommunikations- und Tradierungsmedium. Darüber hinaus stellte dieses Buch aber auch die konkrete, sinnlich faßbare Schnittstelle zwischen Gedächtnis- und Schriftkultur dar, an der sich durch gesprochene Worte, Körpersprache und Rituale auf der einen Seite, durch das Niederschreiben und schriftliche ,Festhalten ' auf der anderen Seite die verschiedensten Kommunikationsformen, -situationen und -strategien in durchaus effektiver Weise bündelten.
VIII. Resümee Das Gerichtsritual garantierte gewissermaßen einen geregelten Kommunikationsablauf. Die angesichts der Kosten einer Gerichtsverhandlung sowie des Risikos, das mit der Einschaltung der Obrigkeit stets verbunden war, erstaunmation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag. Tübingen 1998 3-24. ' 88 Zum Verhältnis Schriftlichkeit - Mündlichkeit vgl. auch Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen (wie Anm. 9), 209. 89 Robert Scribner, Mündliche Kommunikation und Strategien der Macht in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Hundsbichler (Red.), Kommunikation und Alltag (wie Anm. 12), 183-197, hier 186.
lich große Bedeutung des Gerichts als Konfliktlösungs- und Vermittlungsinstanz ist unter anderem auf diesen Faktor zurückzuführen. Innerhalb dieses Sozialraums hofften die Kontrahenten, eine problematische Kommunikationssituation ,entstören' zu können. Dieser Aufsatz interpretiert die zugrundeliegenden Quellentexte, hier im besonderen Protokolle über Zeugenaussagen, als Ausdruck kommunikativer Strategien von historischen Akteurinnen und Akteuren. 90 Zu diesen Strategien zählte das Vor-Gericht-Zitieren von Kundschaftspersonen, um die, Wahrheit' des eigenen Standpunktes zu untermauern, ebenso wie die Herbeirufung der Öffentlichkeit, des Publikums im vor- und außergerichtlichen Konfliktfall. Die Quellen belegen in diesem Zusammenhang die große Bedeutung der kommunikativen Instanz ,Nachbarschaft' innerhalb der face-to-face'-Gesellschaft der Frühen Neuzeit91 , insbesondere im Hinblick ~uf Interaktionen in vorwiegend weiblichen Sozialräumen. Die Nachbarschaft als kommunikativer Sozialraum scheint in diesem Kontext die Wichtigkeit anderer Kommunikationszirkel wie beispielsweise Verwandtschaft bei weitem übertroffen zu haben. Der Beschreibung solcher frühneuzeitlicher dörflicher Netzwerke alltäglicher Interaktionen unter geschlechtergeschichtlicher Perspektive wurde das Konzept der sozialen Räume zugrunde gelegt. Auch die abschließenden Überlegungen zu den kommunikativen Funktionen des Gerichtsbuches an der Schnittstelle zwischen Gedächtnis und Schriftkultur sind innerhalb dieses interpretatorischen Rahmens angestellt worden. Die Nutzbarkeit eines derartigen Konzepts soll sich im besonderen hinsichtlich der Vielfältigkeit zwischenmenschlicher Interaktionen vor und außerhalb des dörflichen Gerichts erweisen. Der von historischen Akteuren und Akteurinnen benutzte und gestaltete ,soziale Raum' fungiert in diesem Zusammenhang als eine denk-und faßbare historische Zentralkategorie für eine Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit. Helga Schnabel-Schüle plädiert für die Nutzbarmachung einer historischen Sp~ac~ handlungstheorie, in deren Rahmen sich "Motive der Sprachhandlungen.' KommumkatIonssituationen, Schemata von Sprachhandlungen, welche den Kommumkanten als Verfahren der Textkonstitution vorgegeben sind und als Verfahren des Textverstehens in de~ Produktion vorausgesetzt waren", definieren ließen. Helga Schnabel-Schüfe, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen als Mittel der Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen in: Heinz DuchhardtiGert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. So;iale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. KölnlWeimarlWien 1997,173-186, hier 175. 91 Der Beziehungstyp Nachbarschaft überschneidet sich mit anderen Interaktionsfeldern (beispielsweise Verwandtschaft) und wird häufig allzu ausschließlich in ei~e~ enge~ rechtshistorischen Sinn thematisiert. V gl. zum sozialen Umfeld Nachbarschaft m emer Illlt dem Untersuchungsraum in vielerlei Hinsicht sehr ähnlichen alpinen Region fon Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500-1800. Zürich 1992, 296-303. 90
Wirtshäuser als Zentren frühneuzeitlicher Öffentlichkeit London im 17 . Jahrhundert Von
Dagmar Freist "The world is ruled and governed by opinion [... ] cause one Opinion many doth devise And propagate till infinite they bee [... ] Opinions found in everie house and streete."l
Der aus modernitätstheoretischer Perspektive geringe Grad an Institutionalisierung des öffentlichen Meinungsaustauschs in England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hat auch noch die jüngere Forschung trotz Kritik an Jürgen Habermas' wegweisender Studie bewogen, den Beginn einer räsonierenden Öffentlichkeit erst mit der Entstehung von Salons und Debattierklubs an der Schwelle zum 18. Jahrhundert festzusetzen. 2 Daneben hat sich vor allem in Deutschland eine breite Forschungslandschaft etabliert, die ,Öffentlichkeiten' seit der Erfindung des Buchdrucks in unterschiedlichsten Ausprägungen - dörfliche Öffentlichkeit, städtische Öffentlichkeit, reformatorische Öffentlichkeit, Öffentlichkeit zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, um nur einige Beispiele zu benennen - aufgespürt und analysiert hat, ohne dabei dezidiert
1 Henry Peacham, The World is Ruled and Governed by Opinion (1641). Radierung Parthey's Wen Hollar. British Museum, Department of Prints and Drawings [im folgenden: BM], 272. Siehe Abb. 1. 2 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1962; zur HabennasRezeption in England Craig Calhmm (Ed.), Habennas and the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1992; Bendix, Parsons und Wuthnow datieren den Beginn von Öffentlichkeit ebenfalls zu Beginn des 18. Jahrhunderts, allerdings ohne besondere Gewichtung des Bürgertums: Reinhard Bendix, Nation-Building and Citizenship: Studies of our Changing Social. Order. Berkeley 1964; Talcott Parsans, The Evolution of Societies. Englewood Cliffs, N. 1. 1977; Robert Wuthnow, Communities of Discourse: Ideology and Social Structure in the Reformation, the Enlightenment, and European Socialism. Cambridge, Mass. 1989; Tim Harris, London Crowds in the Reign of Charles II: Propaganda and Politics from the Restoration until the Exclusion Crisis. Cambridge 1987; James van Horn Meiton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe. Cambridge 2001; für Deutschland vgl. Gestrich und Würgler, die trotz kritischer Auseinandersetzung mit Habermas die Entstehung von Öffentlichkeit vornehmlich im 18. Jahrhundert untersuchen: Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, und Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995.
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die Frage nach einem Wandel von Öffentlichkeit im Verlauf der Frühen Neuzeit zu stellen. 3 Eine Auseinandersetzung mit sich qualitativ verändernden Kommunikationsprozessen, mit Medien, den Produzenten und Rezipienten von N achrichten, vor allem aber mit der Entstehung und zeitgenössischen Wahrnehmung von, opinion' im 17. Jahrhundert verdeutlicht, daß sich in England ein "Strukturwandel der Öffentlichkeit" bereits seit den 1620er Jahren abzeichnete. 4 Kennzeichen dieses Strukturwandels - im Unterschied zu , Öffentlichkeiten , im England des 16. Jahrhunderts S - sind eine Verdichtung öffentlicher Meinungsbildung und politischer Polarisierung sowie öffentliche Herrschaftskritik auf der Grundlage kommerzieller Verbreitung von Nachrichten und deren Rezeption durch breite Bevölkerungskreise. Wirtshäuser nicht nur als Orte sozialer Interaktion, sondern dezidiert auch als Orte politischer Kommunikation und als Nachrichtenbörse spielten dabei eine wichtige Rolle. Ich werde in diesem Beitrag nicht auf die unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Funktionen eingehen, die das Wirtshausleben prägten und einen Rahmen auch für den Austausch von Neuigkeiten boten, sondern mich auf das allgemeine Phänomen politischer Kommunikation konzentrieren. Auf einen entscheidenden Unterschied zum Rathaus und zur Kirche als kommuni3 Exemplarisch Rainer Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation. Stuttgart 1984,41-54; Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Cambridge 1981,2., verm. Aufl. 1994; Hans-loachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/ Dieter Stievermann (Hrsg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit. Stuttgart 1986,244-281; Michael Schilling, Bildpublizistik der Frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990; Norbert Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens. Predigt und Publikum in der Frühen Neuzeit, in: HA 1, 1993, 359-393; Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550). Berlin 1998; Georg Mölich/Gerd Schwerhoff(Hrsg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur ffÜhneuzeitlichen Stadtgeschichte. Köln 2000; zuletzt lohannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002. 4 Für Hinweise auf eine Verschärfung politischer Konflikte mit dem Erscheinen erster Zeitungen vgl. Peter Zagorin, The Court and the Country. London 1969, und Lawrence Stone, The Causes of the English Revolution, 1529-1642. London 1972; ausführlicher: David Zaret, Petitions and the "Invention" of Public Opinion in the English Revolution, in: AJSoc 101, 1996, 1497-1555; Dagmar Freist, Governed by Opinion: Politics and the Dynamies of Communication in Stuart London 1637-1645. London 1997. 5 Vgl. Matthias A. Shaaber, Some Forerunners of the Newspaper in England, 1476-1622. Philadelphia 1929; Bernard Capp, Astrology and the Popular Press: English Almanacs, 1500-1800. London 1979; Fred lacob Levy, How Information Spread among the Gentry, 1550-1640, in: Journal of British Studies 21/2, 1982, 11-34; Natascha Wurzbach, The Rise of the English Street Ballad, 1550-1650. Cambridge 1990; Adam Fox, Rumour, News and Popular Political Opinion in Elizabethan and Early Stuart England, in: HJ 40, 1997, 597-620.
kative Orte sei hier bereits verwiesen: Das Wirtshaus war der Ort, an dem politische Meinungsbildung außerhalb eines obrigkeitlich gesetzten Rahmens stattfinden konnte und auch stattfand. Der erste Teil meines Aufsatzes beschäftigt sich mit den sich verändernden Rahmenbedingungen politischer Kommunikation; im zweiten Teil wird die besondere Bedeutung von Wirtshäusern in diesem Zusammenhang thematisiert werden. Der geographische Schwerpunkt liegt aufgrund der Dichte von Wirtshäusern und der räumlichen Nähe von Produzenten und Rezipienten von Neuigkeiten auf London, auch wenn politische Kommunikationsprozesse außerhalb der Hauptstadt intensiver waren als bislang angenommen. 6
I. Kommunikationsstrukturen und die Verdichtung von ,public opinion' Im Jahre 1637 publizierte John Taylor, einer der bekanntesten Verfasser von Flugblättern und Flugschriften der 1630er und 1640er Jahre, ein Verzeichnis der "Innes, Ordinaries, Hosteries and other lodgings" in London und Umgebung, die regelmäßig von Boten aus ganz England aufgesucht wurden. 7 Das Verzeichnis, das sich gleichermaßen an Frauen und Männer richtete, nannte den Namen und die Adresse der Herberge und gab die Wochentage an, an denen Boten und Fuhrleute aus verschiedenen Städten Englands, Wales', Schottlands und Irlands eintrafen und zurückreisten. Die Einträge waren alphabetisch geordnet und entsprachen dem folgenden Muster: "The Carriers of Bathe doe lodge at the three cups in breadstreet they come on fridaies and goe on saturdaies. "8 Taylor rechtfertigte sein Projekt damit, daß es bislang keine vergleichbaren Listen gebe, die Privatpersonen den schnellen Versand oder Empfang von Briefen ermöglichten. 9 "Then this booke will give instructions where the Carriers doe lodge that may convey the said letter, which could not easily be done without it: for there are not many that by hart or Richard Cust, News and Politics in Early Seventeenth Century England, in: P & P 112, 1986,60-90; Adam Fox, Oral and Literate Culture in England 1500-1700. Oxford 2000 (bes. Kapitel 6 und 7). . 7 lohn TaylOl; The Caniers Cosmographie, or A Briefe Relation of The Innes, Ordinaries, Hosteries, and other lodgings in, and neere London, where the Caniers, Waggons, Footeposts and Higglers, doe usually come, from any parts [... ] of the Kingdomes of England, the Principality of Wales, as also from the Kingdomes of Scotland and Ireland. London 1637. 8 Taylor, The Caniers Cosmographie (wie Anm. 7), ohne Seitenzählung. 9 Taylors Verzeichnis war allerdings nicht das erste seiner Art; Straßenverzeichnisse wurden bereits im 16. Jahrhundert angelegt. V gl. Michael Frearson, The Mobility and Descent of Dissenters in the Chiltern Hundreds. Communications and the Continuity of Dissent in the Chiltern Hundreds during the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Margaret Spufford (Ed.), The World of Rural Dissenters 1520-1725. Cambridge 1995,273-287.
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memory can tell suddenly where and when every carrier is to be found,"l0 Die zentrale Rolle, die ,Carrier'll bei der Vermittlung von Nachrichten spielten, war schon den Zeitgenossen vor Augen. John Earle beschrieb 1627 seinen Boten mit den Worten "He is the vault in Gloster church, that converses whispers at a distance: for he takes the sound out of your Mouth at Yorke & makes it be heard as far as London".12 In der sich zuspitzenden politischen Lage seit 1637 wuchs das Bedürfnis der Bevölkerung, Informationen mit Angehörigen oder Bekannten in anderen Teilen Englands auszutauschen. Darüber hinaus wurden die, Carrier' genutzt, um Briefe politischen Inhalts, vor allem jedoch auch Flugblätter, Flugschriften oder ,Bücher'13 zu versenden, die mit scharfzüngigen Kommentaren über Machtträger in Staat und Kirche zu Gericht zogen und nach der Abschaffung des Star Chamber und High Commission Court am L August 1641 durch das Parlament und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der Zensur durch Krone und Kirche den Londoner Markt regelrecht überfluteten. Im August 1640 übergab ein wohlgekleideter junger Mann einem ,Carrier' vor dem Wirtshaus "The Bell" in der Saint John's Street, London, der gerade seinen Karren für den wöchentlichen Weg nach Hatfield belud, ein verhülltes Buch, adressiert an einen Mr. Tooke in Hatfield. 14 Tooke war über die Sendung nicht erfreut und reichte das als "pemicious" bewertete Buch an seinen Nachbarn William Salisbury weiter. Offenbar in amtlicher Funktion wies dieser den, Carrier' an, "at his next going to London to use his best means to find hirn, and should the youth come to inquire after the delivery of the letter to cause hirn to [be] apprehended",15 Powell, ,Carrier' zwischen London und Cambridge, erhielt während seines Aufenthalts in London im "Black Bull" in Bishopsgate sechs kleine Bücher, "from whom he knows not", mit dem Titel "The Intention of the Scotch Army"J6 Empfänger der Bücher war Robert Ibbot, ein Krämer aus Cambridge. Ibbot allerdings erinnerte sich an eine Proklamation des Königs vom 13. März 1640, in der die Bücher als "seditious pamphlets sent from Scotland" verboten worden waren, und übergab sie dem Friedensrichter, der die Bücher mit dem nächsten ,Carrier' nach London an
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Abb. 1: Henry Peacham, The World ls Ruled & Governed by Opinion. Radierung Parthey s Wen Hollar, 1741. Zeitgenössisches Flugblatt, das sich in Wort und Bild kritisch zum Wahrheitsgehalt und zur Verbreitung öffentlicher Meinung äußert. British Museum, Department oJ Prints and Drawings, 272.
Tay/or, The Carriers Cosmographie (wie Anm. 7). Bote und Fuhrmann. 12 lohn Earle, Autograph Manuscript (1627), zit nach Frearson, The Mobility and Descent of Dissenters (wie Anm. 9), 283. 13 Die Begriffe ,pamphlet' oder ,book' wurden oft synonym verwandt, wenn es sich um ungebundene mehrseitige Traktate handelte. Zum vergleichbaren Sprachgebrauch in Deutschland - Flugschriften wurden im 16. Jahrhundert als ,Büchlein' bezeichnet - vgl. lohannes Schwitalla, Flugschrift Tübingen 1999,3. 14 Public Record Office London. State Papers [im folgenden: PRO SP), 16/463.90. Die Adresse des Wirtshauses wurde über Taylors Verzeichnis rekonstruiert. 15 Ebd. 16 PRO SP, 16/464.57. Die Adresse des Wirtshauses ist mit Hilfe von Taylors Verzeichnis rekonstruiert worden. 10 11
Staatssekretär Sir Francis Windebank schicken ließ. Ein Informant beschrieb in seinem Bericht an Erzbischof William Laud einen der, Carrier', der unter anderem verbotene Drucke aus Schottland verbreitete: "And this is he that dispersed the Scotch pamphlets which this relator told Sir John Lambe of and lurks about Gray's Inn in a satin doublet, with his man Primacombe following hirn with a c10ak bag full of books and has his c10ak with a great broad gold lace."17 Die Gefahr, die in dieser Form der Meinungsverbreitung lag, wurde von der Krone erkannt. Mehrere Versuche in den 1630er Jahren, ein Postwesen aufzubauen, das auch Privatpersonen zugänglich war, scheiterten an der sich zuspitzenden politischen Lage zwischen England und Schottland. 18 Alles, was die Verbreitung möglicherweise aufrührerischer Meinungen fördern konnte, wurde verboten. Privatleute mußten ihre Briefe nach wie vor durch Privatpersonen, Boten oder wandernde Kaufleute verschicken, die wiederum von bezahlten Informanten auf der Suche nach verbotenen Drucken und Briefen kontrolliert wurden. 19 Ein Privatmann, Thomas Baker aus Mayfield, Sussex, der unter großer Geheimhaltung gebeten wurde, einen Brief nach London mitzunehmen, versuchte sich im Vorfeld abzusichern. Im Verhör beteuerte Baker, vor Annahme des Briefes habe er gefragt, "if it did concerne the king, or the state", was vom Briefschreiber verneint worden sei. 2o Die Dimension, die die Verteilung von Flugblättern auf informellen Wegen angenommen hatte, verdeutlicht eine Verordnung des Londoner Stadtrats aus dem Jahr 1643. 21 Die Verordnung richtete sich gegen "a multitude of vagrant persons, men, women and children", denen vorgeworfen wurde, wie wandernde Kaufleute und Boten die neuesten Schmähschriften und Druckwerke in den Straßen Londons auszurufen und zu verkaufen. Auch wenn dieses Verbot von wirtschaftlichen Interessen der Londoner Druckergilde motiviert war, so verweist der Wortlaut auch auf die politische Dimension der Verteilung von Medien: "and under colour thereof [unter dem Deckmantel eines Krämers, D. F.] are found to disperse all sorts of dangerous Libels, to the intolerable dishonour of the King's Majesty, and of the high Court of Parliament, and the whole Government of this Realrne, and this City in particular. "22
PRO SP, 16/467.9. Howard Robinson, The British Post Office. A History. Princeton 1948, 33. 19 Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 4), 27-65. 20 PRO SP, 16/357.328-29. 21 Act of Common Council for the prohibiting of all persons whatsoever, from crying or putting to sale about the streets within this City, and Liberties, any Pamphlets, Bookes, or Papers whatsoever, by way of Hawking, to be sold, and for the punishment of the offenders therein, according to the Custome and Law ofthis City, British Library [im folgenden: BL], 669 J. 7.49. 22 Ebd. 17 18
Abb. 2: Zeitungsverkäuferin in London, Flugblatt Ende des 17. Jahrhunderts. Bodleian Library, Oxford, Douce Collection Portfolio 139, n. 250.
Befürworter eines privaten Postwesens dagegen kritisierten das Postmonopol des Königs und forderten, daß eine Gemeinschaft freier Männer eines Commonwealth das Recht und die Freiheit haben müßten, "to communicate their intents and mindes, by all lawful ways To restrain all ways of free Communication is downright to destroy Sotiety".23 Die Auseinandersetzung über Kommunikationsstrukturen und die Verbreitung von Nachrichten entzündete sich jedoch nicht allein am Postwesen, sondern begann in England bereits in den 1620er Jahren durch eine intensivere Beschäftigung mit den politischen und kulturellen Auswirkungen des wachsenden Druckereiwesens. Auslöser dieser Debatte war die Entstehung erster, Zeitungen', zunächst in Form sogenannter, corantoes " ,separates' und ,newsletters', die zunehmend professionelle Verbreitung von Druckmedien und vor allem die Befürchtung, daß die breite Bevölkerung an dem öffentlichen Meinungsaustausch partizipieren könnte. ,Corantoes' veröffentlichten nur außenpolitische Nachrichten und versuchten, kritische Themen zu vermeiden, um nicht mit der Zensur in Konflikt zu geraten. Kontroverse Themen wurden dennoch zirkuliert, entweder als sogenannte, separates', Manuskripte, anonym, in ,newsletters' oder in Drucken, die vor allem in den Niederlanden hergestellt wurden. Seit den 1620er Jahren verbreiteten die ,newsletters' zunehmend auch Parlamentsverhandlungen. 24 Zu den öffentlich geführten Kontroversen gehörten in den 1620er Jahren der Dreißigjährige Krieg, die Einberufung des englischen Parlaments oder auch finanzpolitische Fragen wie ungeliebte Steuererhebungen. Brisante Projekte wie die Heiratspolitik des Königshauses, die sogenannte "Spanish match", fanden ihren Weg über Flugschriften in die Öffentlichkeit. 25 Darüber hinaus wurden Flugblätter und Flugschriften eingesetzt, um politische Gegner öffentlich zu schmähen. 26 Populäre, an die Volkskultur angelehnte Medien wie Balladen oder Trinklieder bildeten zunehmend ein Echo der Ereignisse am Hof und wurden eingesetzt, The Case of the Undertakers For reducing Postage of inland Letters to just and moderat rates, Stated. And therein, the Liberty of a Commonwealth [... ] and the birthright of every free-man vindicated from Monopolizing restraints, and mercenary Farming of Publicke Offices (1646), Bodleian Library Oxford. HarI. MS 5954.617. 24 loseph Frank, The Beginnings of the English Newspaper, 1620-1660. Cambridge, Mass. 1961, 5-7, 14; Frank S. Siebert, Freedom of the Press in England 1476-1776. Urbana 1952; Michael Frearson, The English Corantoes of the 1620s. Unveröffentlichte Dissertation. Cambridge University 1993. 25 Cust, News and Politics (wie Anm. 6), 73; Thomas Cogswell, England and the Spanish Match, in: Richard CustiAnn Hughes (Eds.), Conftict in Early Stuart England. Studies in Religion and Politics 1603-1642. London 1989, 107-133. 26 V gI. Alastair Bellany, "Raylinge Rymes and Vaunting Verse": Libellous Politics in Early Stuart England, 1603-1628, in: Kevin Sharpe/Peter Lake (Eds.), Culture and Politics in Early Stuart England. London 1994, 285-310; Pauline CroJt, The Reputation of Robert Cecil: Libels, Political Opinion and Popular Awareness in the Early Seventeenth-Century, in: TRHS, 6th Sero 1, 1991,43-69. 23
um gezielt unliebsame religiöse oder politische Personen des öffentlichen Lebens anzugreifen. 27 Der englische Dichter Ben Jonson sah in den neuen Druckmedien einen Ausdruck von Massenignoranz, da die Neugier der Menschen kommerziell ausgenutzt werde, und sie mit Gerüchten, Klatsch und Lügen überhäuft, statt in Moral und Tugenden unterwiesen würden. 28 In den 1640er und 1650er Jahren wurde zunehmend öffentlich kritisiert, daß sich jedes einfache Gemüt mit politischen Fragen und dem Zustand der Regierung befasse. 29 Thomas Hobbes argumentierte, daß aufrührerische Stimmen das Volk in dem Glauben angestachelt hätten, es hätte das von Gott gegebene Recht, über gut und schlecht zu befinden und zu glauben, es könnte selbständig urteilen und Gesetze und Anordnungen des Commonwealth hinterfragen. Hobbes und andere Zeitgenossen verglichen den Zustand freier Meinungsäußerung und politischer Kontroverse mit dem Turm von Babel, "when by the hand of God, every man was stricken for his rebellion, with an oblivion of his former language".3o Dieses Bild einer ungebildeten Masse, die zunehmend unkontrolliert Neuigkeiten rezipiert und, ohne deren Wahrheitsgehalt beurteilen zu können, weiter kommuniziert - mündlich, in Briefen oder durch die Weitergabe von Drucken - war ein wiederkehrender Topos in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 31 Gleichzeitig gab es wortstarke Befürworter freier Meinungsäußerung, von denen hier stellvertretend nur John Lilburne, John Milton und Samuel Hartlib genannt werden sollen. 32 Selbst Opfer der Zensur, warf Milton der Obrigkeit 1644 vor, der Bevölkerung keinen kritischen Umgang mit Informationen zuzutrauen: "nor is it to the common people lesse then a
Freist, Govemed by Opinion (wie Anm. 4), 125-176. Ben lonson, Newes from the New World (1620), in: Stephen Orgel (Ed.), The Complete Masques. New HavenlLondon 1969, 292-305, und ders., The Staple of News (1625). Ed. by Anthony Parr. ManchesterlNew York 1988. Vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Don F. McKenzie, "The Staple of News" and the Late Plays of Ben Jonson, in: William BlissettlJulian PatrickIRichard W. van Fossen (Eds.), ACelebration of Ben Jonson. Papers Presented at the University of Toronto in October 1962. Toronto 1973, 83-128; lohn E. CroJts, Packhorse, Waggon and Post. Land Caniage and Communications under the Tudors and Stuarts. London 1967; Frearson, English Corantoes (wie Anm. 24). 29 Kevin Shmpe, Reading Revolutions: The Politics of Reading in Early Modem England. New Haven 2000,335. 30 Thomas Hobbes, Of Speech, in: ders., Leviathan (1651). Ed. by Crawford B. Macpherson. Harmondsworth 1951 (Ndr. 1984), 101. VgL auch Sharon Achinstein, The Politics of Babel in the English Revolution, in: James Holstun (Ed.), Pamphlet Wars. Prose in the English Revolution. London 1992, 14-44. 31 Ausführlich in Freist, Govemed by Opinion (wie Anm. 4); Cust, News and Politics (wie Anm.6). 32 lohn Milton, Areopagitica. London 1644; John Lilburne, England's Birth-Right. London 1645; Samuel Hartlib, ABriefe Discourse Conceming the Accomplishment of our Reformation. London 1647. 27
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Wirtshäuser als Zentren Jrühneuzeitlicher Öffentlichkeit
reproach [... ] that we dare not trust them with an English pamphlet, what doe we censure them for a giddy, vitious, and ungrounded people. "33 Zeitgenössische Kritiker der Verbreitung von ,newsletters' und anderer Drucke, die zunehmend auch innenpolitis~he Ereignisse kommentierten, befürchteten durch die Verbreitung von , opinions', so der zeitgenössische Begriff, eine Untergrabung staatlicher Autorität. In den 1660er Jahren wurde rückblickend die zersetzende Wirkung der öffentlichen Meinungsbildung für die Zuspitzung der politischen Situation seit 1637, die mit dem Bürgerkrieg und der Himichtung Karls 1. ihren Höhepunkt erlebte, verantwortlich gemacht. Begründet wurde diese Schuldzuweisung damit, daß "the brains of the people with so many contrary opinions" überhäuft worden wären. 34 Abgesehen von der traditionellen Form populärer politischer Meinungsäußerung in Form von ,grievances' (Suppliken), die in den l640er Jahren in England einen enormen Aufschwung nahmen35 , war die politische Partizipation der Bevölkerung im 17. Jahrhundert noch weitgehend auf die Rezeption symbolischer Legitimation von Herrschaft beschränkt. Die Norm des politischen Geheimnisses und die Gottesnähe des Herrschers untersagten jegliche öffentliche Auseinandersetzung mit Parlamentsdebatten oder Anhörungen im Privy Council und verboten eine nichtautorisierte Veröffentlichung. 36 Dennoch stellte die Weitergabe politischer Interna an Londoner Verleger und Drucker offensichtlich einen lukrativen Nebenverdienst für Parlaments diener und Boten dar. 37 Im Gegensatz zu autorisierten Bekanntmachungen von Krone und Parlament wurde, opinion' - vereinzelt auch in bildlichen Darstellungen - verglichen mit dem Klatsch und der Zügellosigkeit von Frauen, die sich der Kontrolle des Hausvaters und dem Gebot, zu schweigen, entzogen: gefährlich, voller Laster, schwer zu kontrollieren, verführerisch und aufrührerisch. Autoren und Verleger, die politische Tagesereignisse in satirischer Form in Bild und Wort verbreiteten und kommentierten, sahen sich ebenfalls Vergleichen mit geschwätzigen lasterhaften Frauen ausgesetzt. Diese auf geschlechtsspezifischen Normvorstellungen und den Folgen von Normverletzungen - Verlust von Ehre und Ordnung - fußende politische Symbolik findet sich nicht nur in der Debatte um die Verbreitung von , opinions " sondern ist auch Bestandteil politischer Kontroversen und alltäglicher sozialer Konflikte in Form übler Nachrede, die als ,defamation-cases' in wachsender Zahl engMilton, Areopagitica (wie Anm. 32). Sharpe, Reading Revolutions (wie Anm. 29), 336. . .. Zaret, Petitions (wie Anm. 4); Anthony Fletcher, The Outbreak of the Enghsh ClvIl War. London 1981, Kapitel 6. 36 Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffs geschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994. 37 Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 4), 101-110. 33
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lische Gerichte im 17. Jahrhundert lahmzulegen drohten. 38 Auf diese Argumentationsmuster in Konflikten wird im Zusammenhang mit der Rolle von Wirtshäusern in Kommunikationsprozessen und dem ,öffentlichen Ruf' insbesondere von , alehouses' noch zurückzukommen sein. Entscheidend ist das Bedürfnis nach politischer und sozialer Ordnung, die durch die Entstehung von ,public opinion' untergraben zu werden drohte. Die negative und gender-spezifisch besetzte Symbolik von ,opinion' verweist auf das Bemühen, der sich zunehmend artikulierenden öffentlichen Meinung in England in den 1630er und 1640er Jahren jegliche politische Autorität abzusprechen. Karl 1. und seit 1640 durch die Einsetzung spezieller Kommissionen auch das Parlament reagierten angesichts der Zuspitzung der politischen Lage mit einer Verschärfung der Zensur, der Erstellung teilweise konkurrierender Listen verbotener und rehabilitierter Druckwerke und schließlich mit Versuchen, auch den mündlichen Meinungsaustausch mit Hilfe von Informanten zu kontrollieren. 39 Auch wenn Zensurmaßnahmen aufgrund unklarer Machtverhältnisse und mangelnder Infrastruktur nach der Abschaffung des Star Chamber und High Commission Court 1641 nur punktuell erfolgreich waren, so ermöglicht diese obrigkeitliche und soziale Kontrolle des mündlichen Meinungsaustauschs Historikern und Historikerinnen heute, anhand der so entstandenen Überlieferung Personen, Orte, Inhalte und Verlauf von Kommunikationsprozessen und vor allem Kommunikationspraktiken über die Analyse von Druckmedien und Bildern hinaus zumindest ansatzweise zu rekonstruie40 ren. In seinen Forschungen zur deutschen Reformation hatte Bob Scribner bereits in den 1980er Jahren auf die methodischen Probleme verwiesen, von Medieninhalten allein auf Denkweisen der Bevölkerung Rückschlüsse ziehen zu wollen: "indeed, study of printed sources may even tell us very little about how the literate received their information about the Reformation, telling us more about their authors than about the response of their readers. "41 Konse-
38 V gl. lohn A. Sharpe, Defamation and Sexual Slander in Early Modern England: The Church Courts at York. York 1980; David Underdown, The Taming of the Scold: the Enfo~cement ofPatriarchal Authority in Early Modern England, in: Anthony Fletcher/John Momll ~Eds.), Order and. Disorder in Early Modern England. Cambridge 1985, 116-136; Steve l!zn~le, The Shammg of Margaret Knowsley: Gossip, Gender and Experience of Authonty In Early Modern England, in: Continuity and Change 9, 1994,391-419. 3~ Zensurmaßnahmen gegenüber Bildern, Worten, Manuskripten, später auch Drucken, die s~ch ~t dem König, seiner Familie und ,staatlichen' Angelegenheiten befaßten, lassen sI~h bIS in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl. 3 Edw. I Statute of Westminster, pnm. c. 34 A.D. 1275. 40 Darüber hinaus geben Zensurmaßnahmen Aufschluß über die unterschiedlichen Bewe:tungen von, seditious' aus Sicht von Krone und Parlament, ein Aspekt, der hier nicht weIter behandelt werden kann. 41 Robert W Scribner, Oral Culture and the Diffusion of Reformation Ideas, in: ders.,
quent erweiterte Scribner den Forschungsrahmen und untersuchte die Rezeption reformatorischer Ideen. 42 Daß Informantenberichte und Gerichtsakten die Interpretationen von Ereignissen durch verschiedene Personen sowie durch die Obrigkeit darstellen, deren Sichtweise durch Machtstrukturen und geschlechtsspezifische RollenerwartungeN geprägt war, ist in der Frühneuzeitforschung breit diskutiert worden und stellt besondere Anforderungen an die Interpretation dieses Materials. Wer diese Quellen allerdings ausschließlich auf eine obrigkeitliche Deutung von Konflikten reduziert, übersieht die Einbindung der, Obrigkeit' in das soziale Geflecht des Ortes und bestehende Loyalitäten und Klientelverhältnisse. 43 Informantenberichte und Gerichtsakten lassen sich zwar nicht als authentische Protokolle mündlicher Rede lesen, sie geben jedoch Einblicke in die soziale Zusammensetzung von Diskutanten sowie in die Art und Weise, wie politische und religiöse Themen rezipiert, bewertet und weitergegeben wurden. Vor allem bei einer weitgehend nichtlesefähigen Gesellschaft ist die Untersuchung von Öffentlichkeit an den Schnittstellen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit von entscheidender Bedeutung. 44 Die oft bildhafte Umschreibung von Sachverhalten unter Einbeziehung von Sprichwörtern und die Anwendung von Schmähreden aus der Alltagspraxis auf Personen in Staat und Kirche lenken den Blick auf die deutlich von der Volkskultur geprägte Verbalisierung und Konzeptualisierung abstrakter Sachverhalte. 45 Ebenso wie die wachsende Mediendichte zeugt auch die überlieferte mündliche politische Meinungsbildung von einer lebendigen Streitkultur, die auch vor Herrschaftskritik nicht zurückschreckte und die rhetorische Beschwörung einer auf Konsens ausgerichteten frühneuzeitlichen Gesellschaft konterkarierte. 46 In diesen Kommunikationsprozessen spielten ,alehouses', ,taverns', ,inns' und ,lodgings'47 eine wichtige Rolle, und zwar nicht nur, wie oben angedeuPopular Culture and Popular Movements in Reformation Germany. London 1987,49-69, hier 50. 42 Exemplarisch Robert W Scribner, Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu refonnatorischen Ideen?, in: Hans-Joachim Köhler (Hrsg.), Flugschriften als Massenmedium der Refonnationszeit. Stuttgart 1981, 65-76. 43 Vgl. Michaela Hohkamp, Vom Wirtshaus zum Amtshaus, in: Werkstatt Geschichte 16, 1997,8-18. 44 Zur Lesefähigkeit der englischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. David Cressy, Literacy and the Social Order. Reading and Writing in Tudor and Stuart England. Cambridge 1980; Keith Thomas, The Meaning of Literacy in Early Modern England, in: Gerd Baumann (Ed.), The Written Word. Literacy in Transition. Oxford 1986, 97-13l. 45 Vgl. Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 4), 177-238; zuletzt Fox, Oral and Literate Culture (wie Anm. 6). 46 Cust, News and Politics (wie Anm. 6), 74f. 47 Die englischen Begriffe stehen für verschiedene Formen des Wirtshauses: ,alehouse' war in der Regel ausschließlich ein Ort, an dem Getränke angeboten wurden, ,taverne'
tet, als Orte, an denen Boten verkehrten, die Briefe und Druckwerke transportierten, sondern auch als Orte, an denen Frauen und Männer unterschiedlichen sozialen Standes verkehrten und Neuigkeiten austauschten. Zu fragen wird sein, wie weit sich die politische Kommunikation in Wirtshäusern unter dem Einfluß neuer Medien und öffentlicher Meinungsbildung im 17. Jahrhundert ,institutionalisierte' und damit von früherem eher informellem Austausch - in England mit der Standardbegrüßungsformel "whats the news" eingeleitet48 unterschied.
H. Das Wirtshaus - Nachrichtenbörse und Zentrum politischer Kommunikation Im folgenden geht es um die Funktion und die Wahrnehmung von, Wirtshäusern' als "staple of news"49 (Markt der Neuigkeiten), um eine Formulierung Ben Jonsons aufzugreifen, als öffentlicher Raum, in dem Personen unterschiedlichen Standes und Geschlechts Zugang zu Neuigkeiten in Wort und Druck erhalten konnten oder selbst als Träger von Neuigkeiten auftraten, vor allem aber auch als Raum, in dem sich ,Öffentlichkeit' durch die Entstehung und Verbreitung von Meinungen im Prozeß politischer Auseinandersetzung formierte. Auf die Bindung von, Öffentlichkeit' nicht nur an Medien, sondern auch an Orte, hatte Bob Scribner bereits in seinen frühen Arbeiten zu Beginn der Flugschriftenforschung in Deutschland hingewiesen und später in einem 1992 erschienenen Aufsatz folgende Systematik für die frühneuzeitliche Stadt vorgeschlagen: die offizielle öffentliche und proklamierte Meinung des Stadtrats, die ritualisierte öffentliche Meinung unter anderem bei öffentlichen Gemeindeversammlungen oder Huldigungen, die partielle öffentliche Meinung verschiedener Körperschaften wie Zünfte und Pfarrgemeinden, die öffentliehe Meinung der Geselligkeit in Wirtshäusern oder Weinstuben, die öffentliche Meinung des menschlichen Handlungsraumes auf den Straßen und Märkten und eine private öffentliche Meinung im Haus, in der Familie oder am Arbeitsplatz, wobei hier vorausgesetzt wird, daß es noch keine klare Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum gab. 50 Entscheidend ist das hielt Getränke, manchmal auch Speisen bereit, ein ,inn' bot neben Speise und Trank die Möglichkeit zur Übernachtung, ein 'lodging' bot in erster Linie eine Übernachtungsmöglichkeit auch für einen längeren Zeitraum, verfügte aber auch häufig über einen gemeinsamen Aufenthaltsraum. 48 Für Beispiele vgl. Fox, Oral and Literate Culture (wie Anm. 6), 348 f. 49 Die historische Bedeutung von ,staple' ist Markt. 50 Robert W Scribner, Mündliche Kommunikation und Strategien der Macht in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Helmut Hundsbichler (Hrsg.), Kommunikation und Alltag in Spätrnittelalter und Früher Neuzeit. (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Klasse, Bd. 596.) Wien 1992, 183-197, hier 184.
Zusammenspiel dieser verschiedenen Meinungen im Beziehungsgeflecht unterschiedlicher sozialer Gruppen und gender in einer weitgehend einheitlichen Region und die Herausbildung einer "hegemonialen, normativen Gesamtmeinung", auch wenn abweichende Meinungen fortbestanden. 51 In diesem Zusammenspiel bildete das Wirtshaus den einzigen klar definierten Ort, an dem sich unterschiedliche soziale Gruppen sowie Fremde und professionelle Nachrichtenübermittler außerhalb eines obrigkeitlich gesetzten Rahmens begegneten. 52 Mehr noch, infolge von Sozialregulierung und Sittenzucht, der Abschaffung von Kirchenfesten in England sowie der Verdrängung des Profanen aus dem Kirchenraum und dem Kirchhof boten Wirtshäuser trotz der obrigkeitlichen Verpflichtung von Wirten, Normverletzungen zu melden, einen Raum, in dem kulturelle Bräuche, Spiele und Feste weiterlebten. 53 Der Red Bull in der. Saint John's Street, Clerkenwell, war berüchtigt für seine turbulenten Gäste. 1638 kam das Wirtshaus in Verruf, weil dort ein Theaterstück aufgeführt worden war, das einen der meistgehaßten Monopolisten der Stadt, den Ratsherrn William Abel, verspottete. 54 In ähnlicher Weise kamen kleinere Theaterstücke oder gedruckte fiktive Dialoge bekannter Personen des öffentlichen Lebens, oft mit satirischen Anspielungen auf die politische Lage, nach der Schließung der Theater in London durch ein puritanisch dominiertes Parlament im August 1642 in Wirtshäusern weiter zur Aufführung. 55 Ebd. Über die verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Funktionen von Wirtshäusern, Formen der Geselligkeit, rechtliche Rahmenbedingungen und Verändernngen in der Frühen Neuzeit sowie den sozialen Status von Wirtsleuten, Frauen und Männern, liegen für England bereits einige aufschlußreiche ältere Studien vor. Allen voran ist die Monographie von Peter Clark, The English Alehouse 1200-1830. LondonlNew York 1983, zu nennen; vgl. auch Alan Everitt, The English Urban Inn 1560-1760, in: ders. (Ed.), Perspectives in English Urban History. LondonlBasingstoke 1973, 91-137; Keith Wrightson, Alehouses, Order and Reformation in Rural England 1590-1660, in: Stephen YeolEileen Yeo (Eds.), Popular Culture and Class Conflict 1590-1914. Explorations in the History of Labour and Leisure. Breighton, N. J. 1981, 1-27; lohn A. Chartres, The English Inn and Road Transport before 1700, in: Hans Conrad Peyer (Hrsg.), Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. MünchenIWien 1983, 153-176; und jüngst in vergleichender Perspektive mit aktuellen Literaturhinweisen Beat Kümin, Rathaus, Wirtshaus, Gotteshaus. Von der Zwei- zur Dreidimensionalität in der frühneuzeitlichen Gemeindeforschung, in: Frantisek Smahel (Hrsg.), Geist, Gesellschaft, Kirche im 13.-16. Jahrhundert. Prag 1999,249-262. 53 Zur wachsenden Bedeutung des ,alehouses' für die ,popular culture' vgl. Wrightson, Alehouses (wie Anm. 52), 9-11. 54 Valery Pearl, London and the Outbreak of the Puritan Revolution. City Governance and National Politics, 1625-1643. Oxford 1961,41. 55 William C. Hazlitt (Ed.), The English Drama and Stage under the Tudor and Stuart Princes 1543-1664. Illustrated by aSeries of Documents, Treatises and Poems. London 1869,64-67; Martin Butler, Theatre and Crisis 1632-1642. Cambridge 1984; für die enge Verbindung zwischen Flugblättern oder Flugschriften und Theater vgl. Eric Sirluck, Shakespeare and Jonson among the Pamphleteers of the Civil War, in: Modem Philology 53, 1955/56, 38-99. 51
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Auch wenn bislang die Begriffe ,alehouse', ,tavern', ,inn' und ,lodging' additiv verwandt wurden, so gibt es - abgesehen von anderen Funktionen auch angesichts von Kommunikationsprozessen und Meinungsbildung entscheidende Unterschiede, die mit der Verfügbarkeit abgeschiedener Räume, der Aufenthaltsdauer von Gästen sowie der sozialen Zusammensetzung der Besucher zu tun haben. In ,lodgings' (Herberge, Nachtquartier) oder ,inns' (Gastronomie mit Übernachtungsmöglichkeit) beispielsweise belegen die Quellen die Entwicklung von kontroversen Gesprächen über mehrere Tage unter den dort wohnenden Frauen und Männem und gelegentlichen Besuchern, während Kommunikation in ,alehouses' und ,taverns' (beides Schankstuben, gelegentlich mit Gastronomie) in der Regel zeitlich beschränkt und unter Einbeziehung einer größeren Gruppe stattfanden. Weiterhin genossen ,inns' als oft repräsentative Einrichtungen mit entsprechendem Publikum ein höheres Ansehen als, alehouses' oder, taverns " die im Verdacht standen, Orte des Sittenverfalls zu sein. ,Lodgings' waren eher private Nachtquartiere, die von sehr unterschiedlicher Qualität und Größe sein konnten. Wenn eine Differenzierung nicht zwingend erforderlich ist, spreche ich im folgenden weiter von Wirtshäusern. Für die verschiedenen Orte der Gastlichkeit läßt sich belegen, daß der Prozeß der Meinungsbildung durch den Austausch von mündlichen und gedruckten Neuigkeiten und deren Beurteilung durch die Anwesenden provoziert wurde. Auch auf dieser Ebene politischer Kommunikation reproduzierte sich die zunehmende Kluft zwischen Anhängern der Puritaner, die von ihren Gegnern der politischen Unruhe stiftung und mangelnder Loyalität gegen den König bezichtigt wurden, und Anhängern der Anglikaner, die sich in der aufgeheizten Stimmung wiederholt dem Vorwurf von ,popery' ausgesetzt sahen. Während Ende der 1630er Jahre die härtere Gangart gegenüber den Puritanern mit Aufsehen erregenden Prozessen im Star Chamber Court die Öffentlichkeit beschäftigte, waren dies um 1640 vor allem die Frage der Auflösung des nach elf Jahren erstmals wieder einberufenen Parlaments, die allerdings unterschiedlich bewertet wurde - für manche waren die Parlamentarier nichts als "a Company ofRobin Hoods and Little Jacks"56 -, und der englisch-schottische Krieg von 1637 bis 1640, der durch Versuche der englischen Krone, Schottland durch die Einführung des Common Prayer Book kirchenpolitischzu bevormunden, ausgelöst worden war. 57 Darüber hinaus wurden immer wieder Auseinandersetzungen um hochstehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens entfacht, darunter vor allem Erzbischof William Laud, Thomas Wentworth, Earl of Strafford, aber auch Karl I. und seine katholische Ehefrau Commons Journal [im folgenden: CJ], IU.17 (1643). Zur englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts vgl. einführend Kaspar von Greyerz, England im Jahrhundert der Revolutionen 1603-1714. Stuttgart 1994.
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Henrietta Maria. Ein weiterer zentraler Bestandteil des öffentlichen Meinungsaustauschs in Wort, Bild und Drucken waren Gerüchte über eine Verschwörung der Katholiken in England sowie harsche Kritik an der Bischofskirche. 58 In Wirtshaus gesprächen schlugen sich diese Themen unterschiedlich nieder. In der Castle Tavern an der Saint Clement Kirche in London fragte 1637 ein Gast einen anderen, ob er dem Vollzug der öffentlichen Körperstrafe an Prynne, Burton und Bastwick, drei führenden Puritanern, beigewohnt habe. Der Angesprochene verneinte, und als der erste Redner die Strafe rechtfertigte, verteidigte der zweite die Puritaner als gute und loyale Untertanen, die zu Unrecht zu leiden hätten, und beschimpfte sein Gegenüber als Hurensohn. 59 Das Verlesen und die Kommentierung einer politischen Ballade im Haus von Mrs. Black in London im Jahre 1640 entfachte unter den anwesenden Kartenspielern einschließlich der Wirtin einen hitzigen Wortwechsel über Ursachen und Verlauf des englisch-schottischen Krieges. Spielkarten, die einen Buben abbildeten, wurden zum Anlaß genommen, das Gespräch auf Erzbischof William Laud zu lenken und ihn als eben solchen Buben zu schmähen. 60 Wortwechsel eskalierten nicht selten zu Handgreiflichkeiten, besonders wenn überzeugte Anhänger der verfeindeten politisch-religiösen Fraktionen aufeinander trafen. Im Speiseraum des Green Dragon Inn in der Bishopsgate Street, London, saßen im September 1640 die bei den Tuchhändler Cole und Crosse, beide regelmäßige Gäste aus Essex, mit der Wirtin, einem Knecht sowie zwei weiteren Gästen beim Abendessen. 61 An einem langen Nebentisch befanden sich zwei schwarz gekleidete Geistliche, ein Tuchhändler aus Lougharn sowie weitere Personen, die ebenfalls speisten. Zu dieser Gesellschaft stieß ein Hauptmann namens Watt und setzte sich an den Tisch der beiden Tuchhändler. Auf die Frage von Cole bestätigte Watt, daß der König in den Krieg gegen die Schotten gezogen sei, er habe ihn selbst gesehen. Gleichzeitig schimpfte Watt über die Puritaner, die keine finanzielle Hilfe leisteten. Als Cole und Crosse den Feldzug kritisierten und die Schotten als loyale ehrliche Leute verteidigten, die eher nützen als schaden würden, warf Watt den Tuchhändlern vor, sie seien selber Puritaner, worauf diese erwiderten, ob er überhaupt wisse, was ein Puritaner sei. Der Wortwechsel wurde hitziger, und Watt 58 Zur verbreiteten Angst vor einer katholischen Verschwörung vgl. Carol Z. Wiener, The Beleaguered Isle: A Study of Elizabethan and Early Jacobean Anti-Catholicism, in: P & P 51, 1971, 27-62; Robin Clifton, The Popular Fear of Catholics during the English Revolution, in: P & P 52, 1971,23-55. 59 PRO SP, 16/378.7i (1637). 60 PRO SP, 16/469.95 (1640). Zu den im 17. Jahrhundert üblichen Schmähreden gegen Männer gehörte die Bezeichnung als ,knave' oder ,rogue', während Frauen in der Regel als , whore' beschimpft wurden. 61 PRO SP, 16/464.57; 16/466.93, 112, 113, 114; 16/467.14, 15 (September 1640).
attackierte Cole mit einem Schneidebrett, einem Brecher und schließlich seinem Schwert. Auf die Anzeige von Watt wurden Cole und Crosse im Gatehouse inhaftiert. Vor Gericht warf Watt den beiden Tuchhändlern "censorious and abusive speeches of the King's acts in his proceedings against the Scots" vor. 62 Der Wirtshausknecht sowie die Wirtin versuchten, die beiden Tuchhändler zu entlasten, und ein Geistlicher aus Essex sandte ein Leumundszeugnis und beschied den beiden einen unbescholtenen Lebenswandel. Auf Anweisung des Privy Council sollten Cole und Cross dennoch erst freigelassen werden, nachdem sie ihr Vergehen zugegeben hatten. 63 Durch das Verlesen von Nachrichten oder Briefen konnten mehrere Personen in den mündlichen Meinungsaustausch einbezogen werden und auch Leseunkundige partizipieren und Gehörtes, selbst wenn sie nicht aktiv an dem Meinungsaustausch beteiligt waren, weitergeben. So entspann sich im September 1640, ebenfalls unter dem Eindruck des Kriegs gegen Schottland, ein Gespräch in einem Londoner Warenhaus in der Bartholomew Lane über die Rechtmäßigkeit der Politik der Krone. In dem Gebäude hielten sich Richard Bateman, der Sohn von Robert Bateman, dem Stadtkämmerer und Schatzmeister der East India Company, Robert Bowles, Kirchendiener in Breadstreet Ward sowie der Besitzer, Robert Stone, auf, als Anthony Dyett, Sohn von Sir Robert Dyett, eintrat. Nach der Begrüßung durch den Warenhausinhaber zog Dyett einen Brief, den er von seinem Vater erhalten hatte, aus der Tasche. Er forderte auch Bateman auf, zuzuhören, da er offensichtlich ein Mann sei, "that looked with an honest face and one that seemed to wish well to His Majesty's design".64 Der Brief enthielt eine Passage, in der beschrieben wurde, wie dem König eine Petition überreicht wurde. Gemeint war damit eine Petition, die Karl I. am 28. August 1640 von zwölf englischen ,peers' überreicht worden war mit der Aufforderung, den Krieg gegen Schottland zu beenden. 65 Dyett kommentierte diesen Absatz mit der Feststellung, wer den König dazu bewegen wolle, mit den Schotten Frieden zu schließen, entehre ("dishonour") seine Majestät. Nach Aussage von Bowles erwiderte Bateman darauf, daß eher diejenigen, die den Konflikt zwischen England und Schottland verursacht hatten, den König entehrten. Andere meinten, Bateman habe gesagt, "that the King was gone upon a dishonourable action against the Scots" und daß er wünschte, "those were hanged that were the plotters to set the kingdomes Qf England and Scotland together by the ears".66 Bowles und Bateman hatten Ebd. Public Record Office London. Privy Council [im folgenden: PRO PC], 2.52. 725 (11. September 1640). 64 PRO SP, 16/466.285 (September 1640). 65 Peter Donald, An Uncounselled King. Charles 1. and the Scottish Troubles, 1637-1641. Cambridge 1990,248. 66 PRO SP, 16/466.286 und 16/466.250. 62 63
beide behauptet, der Brief, den Dyett verlas, sei von einem Jesuiten oder Papisten verfaßt worden. 67 Auf welchem Weg auch Neuigkeiten durch Drucke, Manuskripte oder mündlich in das Wirtshaus gelangten, so konnten dort geführte Auseinandersetzungen in gedruckter Form, häufiger jedoch als Gerüchte oder ,flying speeches' einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Spektakulärstes Beispiel ist die Veröffentlichung eines Gesprächs zwischen der Irin Ann Hussey und einem Philip Bainbridge, beide Gäste in einer Herberge in Drury Lane in London. Durch Vermittlung der Wirtin vertraute Ann Hussey Bainbridge Pläne einer irischen Verschwörung an, über die sie durch den Beichtvater der Königin, William O'Conner, unterrichtet worden war. 68 Der Fall kam vor den Privy Council des Königs, und Ann Hussey wurde zu ihrem eigenen Schutz in Gewahrsam genommen. 69 Offensichtlich zur weiteren Nahrung der florierenden Gerüchte über eine katholische Verschwörung, die auch Parlaments abgeordnete um den Puritaner John "King" Pym bereitwillig streuten 70, wurde das Gespräch zwischen Hussey und dem Priester über die bevorstehende Erhebung in verschiedenen Fassungen, teilweise mit Holzschnitten, gedruckt und vertrieben.7 1 Quantitative Angaben über das Verhältnis von politischer Meinungsbildung in Wirtshäusern im Unterschied zu anderen Räumen - oben wurde ein Gespräch in einem Warenhaus angeführt -läßt die Quellenlage nicht zu, allerdings fällt auf, daß auch Gespräche in tendenziell eher ,privaten' Räumen überliefert sind, die entweder in Form von Gerüchten oder durch die Anzeige einzelner Gesprächsteilnehmer nach außen drangen und die in dieser Zeit fließenden Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum noch einmal auf eindrückliche Weise dokumentieren. So wurden beim Abendessen im Haus eines Drogisten in der Lombard Street, an dem ein Apotheker und ein mit dem Gastgeber verwandter Kaufmann teilnahmen, von letzterem im Vertrauen Neuigkeiten aus Irland, die er selbst gerade erfahren hatte, verbreitet: Das Haus von Thomas Wentworth, Lord Strafford, der als enger Vertrauter Karls 1. 1633 bis 1640 Statthalter von Irland war, sei nach dessen Abreise verwüstet worden; weiter hatte der Kaufmann gehört, daß die Iren eine Rebellion gegen PRO SP, 16/466.248 und 16/466.250. PRO SP, 16/464.31 (18. August 1640). 69 PRO PC, 2.52.725 (11. September 1640). Erneuerung der Inhaftierung zum Schutz von Ann Hussey vor Übergriffen von Katholiken wegen Verrats PRO PC, 2.53. 15 (4. Oktober 1640). 70 Fletche!; Outbreak (wie Anm. 35), 4. 71 A Discovery To the prayse of God [... ] of a late intended plot by the Papists to subdue the Protestants. Being a true Copie of a Discourse between William O'Conner a Priest and Ann Hussey an Irish Gent1ewoman. Printed Anno 1641, William C1ark Collection BB.I.14 (28). Weitere Editionen: William Clark Collection BB.W.4. (28) und British Library E.158.4.
England vorbereiten würden.7 2 Falls Strafford je vorhaben sollte, nach Irland zurückzukehren, müßte er damit rechnen, "to be torne in pieces, or to have his throat cut, or to be slaine".73 Die Heterogenität der Wirtshausbesucher ermöglichte die Multiplikation von Neuigkeiten und Meinungen in verschiedene soziale und räumliche Zusammenhänge. Am 7. April 1640 wurde Samuel Plumley, Diener eines Kanzleischreibers in Chancery Lane, mit schwerwiegenden Äußerungen gegen Erzbischof William Laud belastet. Ihm wurde vorgeworfen, gegenüber zwei Geistlichen aus Warwickshire und Northamptonshire, denen er in einem Londoner Inn Auskunft über "diverse matters concerning the present parliament" gab, das Gerücht verbreitet zu haben, daß im Falle einer Auflösung des Parlaments der Sitz des Erzbischofs - der bei Puritanern und Nonkonformisten wegen seiner Kirchenpolitik verhaßt war - angezündet werden sollte. Die Rädelsführer "would keep his Lordship in until he should be burnt, and that thousands would say as much as he sayd who spoke these words".7 4 Nachdem Plumley zunächst versucht hatte, zu verbergen, "of whom these words were spoken or in whose company besides himself"75, gab er dem Druck vor Gericht schließlich nach und packte aus.7 6 Ungefähr sechs oder sieben Tage vor der Auflösung des Parlaments, so seine Aussage, habe er sich in Symons Inn aufgehalten, wo er in einem Kellerraum ein Gespräch zwischen einigen Kanzleischreibern sowie dem Kürschner Samuel Day, dem Schneider Edward Symons und William Hicks, Kanzleischreiber im ,Court of Common Pleas', mitgehört habe. 77 Einer der Herren, ein Kanzlist im ,Supreme Office' namens William Knight, habe gegenüber der versammelten Runde über die bevorstehende Auflösung des Parlaments gesprochen und über Pläne, den Sitz des Erzbischofs, dem die Schuld für die Parlamentsaufhebung in die Schuhe geschoben wurde, zu stürmen. Im Verhör stritt Knight ab, über die Verbrennung des höchsten Geistlichen gesprochen zu haben, gab aber die anderen Anklagepunkte zu. 78 Er selber sei allerdings nicht Urheber dieser Äußerungen, sondern habe sie als "flying speech" aufgeschnappt, von wem, könne er nicht mehr sagen. Die Rolle von Frauen bei politischen Gesprächen in Wirtshäusern läßt sich quantitativ nicht bestimmen. 79 Als Inhaberinnen von Wirtshäusern 80 nahmen
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Im Herbst 1641 brach die ,Irish Rebellion' gegen die englische Kolonialherrschaft aus. PRO SP, 16/452.122 (Mai 1640). PRO SP, 16/451.182 (7. Apri11640 und 1. Mai 1640) und 16/458.212. 75 PRO SP, 16/451.182 (1. Mai 1640). 76 PRO SP, 16/451.182ii (5. Juni 1640). 77 PRO SP, 16/451.182ii (5. Juni 1640). 78 PRO SP, 16/451.183 (5. Juni 1640). 79 Ausführlicher Dagmar Freist, "The King's Crown is the Whore of BabyIon": Folitics, Gender and Communication in Mid-Seventeenth-Century England, in: Amy L. Ericksonl
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sie allein, gelegentlich gemeinsam mit weiblichen Gästen, an der Nachrichtenübermittlung und am Meinungsaustausch aktiv teil, während Mägde eher als passive Beobachterinnen und Zuhörerinnen in Protokollen auftauchen. Zumindest wurden sie zur Verantwortung gezogen, wenn in ihrem Wirtshaus "seditious words" fielen. Dorothy Crowch beispielsweise mußte sich im September 1644 vor dem Friedensrichter in Middlesex gegen den Vorwurf eines Dr. Symon Digby verantworten, "for scandalizeinge hirn and keepinge a disorderly taverne and sufferinge her sonne and others to singe reproachfull songs in her housse against the parliament".8 1 In Herbergen waren Frauen sowohl als Vermieterinnen als auch als Gäste an politisch-religiösen Gesprächen beteiligt, so wie die Katholikin Elisabeth Thorowgood, die sich über mehrere Tage mit dem Nonkonformisten Alexander West in ihrem gemeinsamen Quartier über die religiöse Überzeugung des Königs und seine Religionspolitik stritt.8 2 Die Heterogenität von Wirtshausbesuchern, vor allem der Standesunterschied, barg jedoch auch ein soziales Konfliktpotential, das sich in Meinungsverschiedenheiten über die religiös-politischen Spannungen der Zeit entladen konnte. Verbalinjurien in Wirtshäusern gegen hochrangige Würdenträger aus Staat und Kirche beispielsweise, die politisch oder religiös als Gegner angesehen wurden, verletzten Standes- und Ehrvorstellungen. Wurden die Wortführer entsprechend zurechtgewiesen, demonstrierten sie nicht selten ihre Indifferenz, und der Wortwechsel konnte in Gewaltanwendung eskalieren. Trinkrituale wurden zur Diffamierung politisch-religiöser Gegner unabhängig ihrer Standes zugehörigkeit genutzt, und Wirtshausbesucher des Three Cranes in Chancery Lane, London, konnten gezwungen werden, an einem böswilligen Umtrunk selbst gegen den Erzbischof von Canterbury, William Laud, teilzunehmen, der mit den Worten gereicht wurde: "Her's a Health to the Confusion and destruction of my Lords Grace of Canterbury. "83 Wie unterschieden sich diese Kommunikationsprozesse in Wirtshäusern von dem üblichen Austausch von Neuigkeiten, der auch aus früheren Jahrhunderten überliefert ist? Bei dem Versuch, politische Meinungsbildung und Ross Balzaretti (Eds.), Presentations of the Self in Early Modern England. (Gender and History, Special Issue 7/3.) 1999, 457-48l. 80 In ihrer Fallstudie zur Rolle von Frauen im Wirtschaftsleben von Oxford konnte Mary Prior eine große Zahl von Wirtinnen, vor allem Witwen, in der Frühen Neuzeit nachweisen. Für London fehlt eine vergleichbare Studie, eine ähnliche Struktur kann allerdings angenommen werden: Mary Prior, Women and the Urban Economy: Oxford 1500-1800, in: dies. (Ed.), Women in English Society. London 1985, 93-118; ludith Bennet, Ale, Beer, and Brewsters in England. Women's Work in aChanging World, 1300-1600. Oxford 1996. 81 MJ/SPR (3. September 1644), in: John Cordy Jeaffreson (Ed.), Midd1esex County Records. 4 Vols. (Middlesex County Record Society.) London 1886-1992, hier VoL 3: 1622-1667. London 1974, 178. 82 PRO SP, 16/457.3i-4i (1640). 83 PRO SP, 16/460.32 (1640).
kommunikative Prozesse in Londoner Wirtshäusern zu systematisieren, ergibt sich folgendes Bild, das auf eine zunehmende Institutionalisierung politischer Meinungsbildung in Wirtshäusern in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hindeutet. Wirtshäuser, hier vor allem Herbergen, dienten als Anlaufstationen eines auch informellen Postwesens und waren als solche an entsprechenden Ausfallstraßen plaziert, bekannt und frequentiert. Bestimmte Wirtshäuser, hier vor allem ,taverns ' und ,inns', waren öffentlich ausgewiesene Orte, an denen Wortführer der verschiedenen religiösen und religiös-politischen Gruppierungen anzutreffen und zu hören waren. 84 Wirtshäuser wurden als Treffpunkt angegeben für die Sammlung von Unterschriften auf Petitionen. Wirtshäuser, hier vor allem ,inns', verfügten über Nebenräume, die zu politischen und religiösen Versammlungen genutzt wurden. Wirtshäuser verfügten über abgeschiedene Räume, in denen ,geheime' Nachrichten an einen vorerst ausgewählten Kreis übermittelt wurden. Wirtshäuser verfügten regelmäßig über eine heterogene Zuhörerschaft für Neuigkeiten, die auch bereit war, sich mitunter kontrovers zu dem Gehörten zu äußern. Stichproben zeigen, daß bestimmte Wirtshäuser regelmäßig von den gleichen Persönlichkeiten des politischen und wirtschaftlichen Lebens aufgesucht wurden.8 5 In bezug auf die soziale Zugehörigkeit der Wirtshausbesucher, die sich zu gezieltem Meinungsaustausch trafen, ist zwar aufgrund der Quellenlage kein endgültiges Urteil möglich, es zeichnet sich aber folgendes Bild ab: Im Kern zählten zu der Klientel Angehörige einer gewissen Bildungsschicht, die sogenannten ,middling sorts', Kaufleute und Handwerker, Apotheker, Angehörige von Schreib- und Gerichtsstuben sowie Geistliche, die je nach religiöser Überzeugung und Interesse die politisch-religiösen Konflikte der 1630er und 1640er Jahre intensiv verfolgten und unterschiedlich bewerteten.8 6 In ihrem Umfeld verbreiteten Laufburschen, Knechte und Mägde Gehörtes in andere soziale Räume. Eine weitere Klientel und wichtige Informationsquelle waren Beispiel eines Treffens von Royalisten in einem Wirtshaus in London: The Malignants Conventicle (1643), BL E.80.5; Nag Head Tavern in Coleman Street, London, als Versammlungsort von Nonkonformisten. VgL Lucifer's Lacky, or the Devils New Creature (1641), BL E.180.3; New Preachers New (1641), BL 180.26; The Sermon and Prophecie of Mr James Hunt of Kent (1641), BL E.172.26; BuH and Mouth Inn in Aldersgate als Treffpunkt der Quaker seit 1655. Vgl. Frearson, The Mobility and Descent of Dissenters._ (wie Anm. 9), 286. . 85 Die Castle Tavern in Pater Noster Row, London, beispielsweise war ein regelmäßIger Treffpunkt von Mitgliedern der Weingilde und von Juristen, die diesen in Fragen des Weinmonopols beratend zur Seite standen. V gl. The Vintners Answer to some scandalous Pamphlets. London 1642, Guildhall, London, Bay H.5.1 no 31. _ 86 Für die politische Bedeutung der ,middling sort' im englischen Bürgerkrieg vgl. Christopher Bill, The World Turned Upside Down: Radical Ideas during the English ~e volution. London 1972; Brian Manning, The English People and the English RevolutIOn. Harmondsworth 1976; lack Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World. Berkeley, Cal. 1991; Christopher Brooks (Ed.), The Middling Sort of People: Culture, Society and Politics in England, 1550-1800. Basingstoke 1994.
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Reisende, aber auch Bedienstete des Parlaments, der Botschaften, Adliger und schließlich des Hofes. Nur noch erwähnt werden können Lehrlinge, die sich häufig an Unruhen in London beteiligten und auch Wirtshäuser als Treffpunkt zur Planung weiterer Aktionen nutzten,.87 Entscheidendes Merkmal der politischen Meinungsbildung in Wirtshäusern ist allerdings die Durchlässigkeit der sozialen Gruppen. Lohnend wäre der Versuch, über das Verzeichnis Taylors hinaus eine Topographie von Wirtshäusern in London mit Blick auf zentrale Gebäude wie Gericht, Parlament, Kirchen, Zünfte und Handelshäuser, aber auch mit Blick auf das jeweilige berufliche und religiöse Umfeld, das soziale Milieu, die Druckereien und Theater zu erstellen und in Bezug zur Wirtshausklientel zu setzen. Sogenanntes ,newsgathering' fand beispielsweise regelmäßig auf der Route von der Royal Exchange entlang Cheapside nach Saint Pauls Churchyard und weiter entlang die Fleet Street und Strand, gesäumt mit zahlreichen, taverns ' und ,inns', bis Westminster Hall statt. 88 Ein Besucher kommentierte im Jahre 1631: "Men will tell you more than the warld, betwixt the Exchange, Pauls and Westminster. "89 Vor allem im Umkreis der Royal Exchange, Saint Pauls Churchyard, Westminster und Fleet Street gab es zahlreiche Druckereien und Verleger. 90 Die "Nag's-Head Tavern", in welcher der radikale Prediger Samuel How angeblich regelmäßig auftrat, befand sich in der Coleman Street, wo geheime Druckereien entdeckt wurden, die anti-royalistische Pamphlete druckten. Ungeachtet der zunehmenden Etablierung von Wirtshäusern nicht nur als Orte informeller Kommunikation, sondern auch als Versammlungsort und Nachrichtenbörse, wurde das negative Bild von Wirtshäusern als Herde von Unruhe und Sittenverfall herangezogen, um Zusammenkünfte politischer oder religiöser Gegner zu diskreditieren. Nonkonformistische Prediger beispielsweise wurden als "tub preachers" bezeichnet, als Geistliche, die in Wirtshäusern auf Fässern stehend ihre Predigten hielten. 91 Politische Satiren der Zeit bildeten auf der ,title page' häufig holzschnittartig die Innenräume von Wirtshäusern mit Wirtshausschildern ab, um die Orte subversiver Versammlungen, vor allem religiöser Nonkonformisten, zu kennzeichnen. Übermäßiger Alkoholkonsum und sexuelle Freizügigkeit wurden in einigen dieser Drucke bildlich dargestellt, um die Gegenpartei herabzuwürdigen. 87 Zum Flugblattaufruf an die Lehrlinge, einen Tag nach Auflösung des Parlaments "William the Fox (Erzbischof William Laud) zu jagen", vgl. Pearl, London (wie Anm. 54), 107-108. 88 Als Beispiel für eine zeitgenössische Beschr~ibung vgl. The Downfall of Temporizing Poets, unlicenst Printers, upstart Booksellers, trotting Mercuries, and bawling Hawkers (1641), BL E.165.5. 89 Zit. nach Fox, Oral and Literate Culture (wie Anm. 6), 346. 90 Freist, Governed by Opinion (wie Anm. 4), 95 f. 91 Vgl. oben Nag's-Head Tavern und lohn Taylor, A Tale in a Tub; or, A Tub Lecture [... ] in a meeting house near Bedlam (1642), BL E.141.19.
Abb. 3: lohn Taylor, A. Swarme ojSectaries and Schismatiqves, 1641 (Titelblatt). Die Abb. zeigt ein Wirtshaus, in dem ein "tub preacher" vor seinen Zuhörern, Frauen und Männern, predigt. British Library Londol1, BL E. 758.1.
III. Resümee Die Verdichtung öffentlicher Meinung in der ersten Hälfte des 17. J ahrhunderts wurde von Zeitgenossen als eine neue .,ßntwicklung mit spürbaren Auswirkungen auf die politische Kultur wahrgen·ommen. Die sich zuspitzende politische und religiöse Polarisierung zwischen dem König, seinen Räten und dem Parlament in den späten 1630er und 1640er Jahren setzte sich fort in einer Spaltung der Gesellschaft, die durch neu entstandene royalistische oder parlamentarische, newsletters', Flugblätter und Balladen sowie anonyme Veröffentlichungen von Parlaments debatten über die Forderungen und gegenseitigen Vorwürfe der Kontrahenten informiert und beeinflußt wurde. Während auf der einen Seite das Bild vom Konsens zwischen König und Untertanen transportiert wurde, vermittelten Zeitungen und Flugschriften auf der anderen Seite überwiegend ein Bild von politischen und religiösen Konflikten, die Spuren in der öffentlichen Haltung zu Herrschaft hinterlassen mußten. Vor Ort wurden Amtsträger mit konkurrierenden Erlassen von König oder Parlament konfrontiert, die Legitimation und Durchsetzung von Herrschaft war angewiesen auf die aktive Zustimmung der Untertanen. Einen wichtigen Ort politischer und religiöser Meinungsbildung und Kontroversen bildete dabei in zunehmend institutionalisierter Form das Wirtshaus. Ein zeitgenössisches Urteil, im Jahre 1641 in einem Flugblatt in London gedruckt und verbreitet, bewertete die neue Entwicklung so: "Religion is now become the common discourse and Tabletalke in every Taverne and Ale-house, where a man shall hardly find five together in one minde, and yet one presumes he is in the right. "92
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lohn Taylor, Religions Enemies (1641), BL E.176.7.
Teil 3 Kommunikationsraum Region und Reich
Kommunikationsraum Region und Reich Einleitung Von
Maximilian Lanzinner Das Thema "Region und Reich" ist unerschöpflich, begreift man Kommunikation nicht nur eng medienbezogen, sondern allgemein als Verständigungsprozeß, der sich über Medien als Träger entfaltet. 1 Die Liste von Themen zur Interaktion von Reich und Territorien, zur Bewältigung der Entfernungen im Reich, zu den Wechselwirkungen von Territorial- und Reichsorganen oder zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austauschprozessen ließe sich stetig erweitern. Es geht hier nur um einen Ausschnitt. Insbesondere die Kommunikationsvorgänge in den Regionen erfreuten sich in letzter Zeit regen Interesses. 2 Die übergeordnete Institution ,Reich' zieht jedoch durchaus nach, wie insbesondere die Beiträge dieser Sektion zeigen, wenngleich hier beide Ebenen - Region und Reich - Berücksichtigung finden sollen. Während Michael North das Reich als "Kommunikations- und Wertegemeinschaft" beschreibt und verschiedene Integrationsprozesse im Reich nachzeichnet, konzentriert sich Dietmar Heil in seiner Fallstudie auf das kommunikative Geschehen im Zentrum des Reiches, am Reichstag. Christine Werkstetter untersucht dagegen das Kommunikationssystem des Reiches am Krisenfall der Pest, der das Zusammenwirken von Region und Reich sichtbar werden läßt. Einleitend möchte ich am Beispiel des Reichstags die Chancen abwägen, die eine kommunikationsgeschichtliche Analyse des Bezugsfelds von Region und Reich bietet. Der periodische Reichstag zwischen 1486 und 1654 hat Historikerinnen und Historiker fortgesetzt beschäftigt.3 Dabei fragte man nach 1 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, Kapitel 4: Kommunikation und Handlung; Hajo Diekmannshenke (Hrsg.), Politische Kommunikation im historischen Wandel. Tübingen 2001; Otto Depenheuer (Hrsg.), Öffentlichkeit und Vertraulichkeit. Theorie und Praxis der politischen Kommunikation. Wiesbaden 2001; Gerd Althoff(Hrsg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. Stuttgart 2001. 2 Zur Thematik mit dem Schwerpunkt auf Region jetzt earl A. HoffinanniRolf Kießling (Hrsg.), Kommunikation und Region. Konstanz 2001. 3 Die neueren Forschungen sind repräsentiert in: Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd.42.) München 1997; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit. München 1999; Wolfgang Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495-1806. Reichsreform und Reformation 1495-1555. (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd.9.) Stuttgart 2001; Maximilian LanzinnerlGerhard Schormann, Das konfessionelle
Religion und Konfession, nach Recht und Verfassung, nach dem Reagieren auf äußere Bedrohungen, nach der Friedenssicherung im Innern, also im wesentlichen nach Ereignissen, dem Handeln der Akteure und den Institutionen. Im Gegensatz dazu wurde der Immerwährende Reichstag erst in jüngster Zeit überhaupt als Forschungsgegenstand ernst genommen4 , weil er als politisch bedeutungslos galt und weil seine Aktenmassen sich als schwer zu überwindende Barriere erwiesen. Ob periodischer oder Immerwährender Reichstag, untersucht wurden hauptsächlich die Verhandlungen, die Abläufe der Reichstage und, das Handeln einzelner Teilnehmer. Die Edition der Reichstagsakten bahnte diesen Forschungen den Weg, indem sie ebenso den Verhandlungsgang und die politischen Aktionen in den Mittelpunkt stellte. Das ist heute nicht mehr auf ein einseitiges, für manche unzeitgemäßes Interesse an Politikgeschichte zurückzuführen. Der Umfang der überlieferten Dokumente zwingt zur Reduktion. Es läßt sich nicht alles, was in deutschen und europäischen Archiven zum Reichstag gefunden wird, für die Forschung aufgearbeitet im Druck bereitstellen. Wenn der Editor auswählen muß, hat der Kern der Verhandlungen Vorrang. Ihr Gang und ihre Ergebnisse bestimmten den historischen Prozeß, der Benutzer muß sie im Wortlaut auswerten können. Damit werden die zentralen Texte zum Gegenstand geboten, und nur so läßt sich nachvollziehbar begründen, was in die Edition genommen wird und was nicht. Die Edition der Reichstagsakten ist unterschiedlich weit gediehen, auch enthalten die Bände natürlich mehr als nur die Verhandlungsakten. 5 So greifen die Bände der "Mittleren Reihe" weit ins Umfeld6 , beschränken sich nicht eng auf den Reichstag und auf Politik, während für die "Jüngere Reihe" nur Zeitalter/Der Dreißigjährige Krieg. (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufi., Bd. 10.) Stuttgart 2001; lohannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung. Stuttgart 2002. 4 Anfon Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991; lohannes Burkhardt, Verfassungsprofil und Leistungsbilanz des Immerwährenden Reichstags. Zur Evaluierung einer frühmodernen Institution, in: Heinz DuchhardtIMatthias Schnettger (Hrsg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beih. 48.) Mainz 1999, 151-184; lohann loseph Pachner von EggenstorJf, Vollständige Sammlung aller von Anfang des noch fürwährenden Teutschen Reichs-Tags de Anno 1663 biß anhero abgefaßten Reichs-Schlüsse. Ndr. der Ausgabe Regensburg 1740. Mit einem Vorw. hrsg. v. Karl Otmar Freiherr von Aretin u. Johannes Burkhardt. T. 1-4. HildesheimlZürichlNew York 1996. 5 Theodor Schieder, Organisation und Organisationen der Geschichtswissenschaft. 125 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: Georg Kalmer (Bearb.), Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858-1983. München 1984,22-44, besonders 27f. 6 Heinz Angermeier/Erich MeutheniEike Wolgast, Die Reichstagsakten-Edition. Zum Stand des Forschungsunternehmens der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: JbHistF 1997, 15-19.
noch Verhandlungsdokumente "strictissimo sensu" im Ganztext gedruckt werden7 . Ähnlich strikt auf die eigentlichen Beratungen zugeschnitten ist das Textkorpus der "Reichsversammlungen".s Alle Reihen haben in letzter Zeit Bände herausbringen können. Die "Mittlere Reihe" (1486-1518) legte zuletzt die Editionen zu den Reichstagen von 1486 und 1487 vor. 9 In der "Jüngeren Reihe" (1519-1555) erschien 1992 der Band zum Reichstag zu Regensburg 1532, der erste Band seit der Publikation von Wolfgang Steglich 10, sodann (2001) der Band zum Wormser Reichstag von 1544 11 und nun die Bände zu den Reichstagen 1542 und 1545. 12 Innerhalb der "Reichs versammlungen" (1556-1662) wurden zuletzt der Reichsdeputationstag zu Worms 1586 13 , der Kurfürstentag zu Frankfurt sowie die Augsburger Reichstage von 1559 14 und 1566 15 ediert. Damit verfügen wir trotz größerer Lücken über verwertbare Grundlagen für das Jahrhundert von 1486 bis 1586. Die bisherige Optik der Forschung vernachlässigte infolge der Konzentration auf den Aktionskern der Reichsversammlungen jene Bereiche, auf die die kommunikationsgeschichtliche Thematik zielt. Ich grenze mein Beispiel ein auf die beginnende Neuzeit, in der sich die neue Druck-, Schrift- und Medienkultur entfaltete (die aber auch durch Editionen einigermaßen erschlossen ist). Heinrich LutziAlfred Kohler (Hrsg.), Aus der Arbeit an den Reichstagen unter Kaiser Karl V. Sieben Beiträge zu Fragen der Forschung und Edition. Göttingen 1986. Zu den Editionsgrundsätzen vgl. die Einleitung von Heinrich Lutz. 8 Heinz Angenneier, Deutsche Reichstagsakten - Reichsversammlungen von 1556-1662. Eine neue Abteilung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: JbHistF 1985,39-45. 9 Heinz Angermeier/Reinhard Seyboth (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian 1. Bd. 1: Der Reichstag zu Frankfurt 1486. Göttingen 1989; Reinhard Seyboth (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian 1. Bd. 2: Der Reichstag zu Nürnberg 1487. Göttingen 2001. 10 Wolfgang Steglich (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kar] V. Bd. 8: Vom Ende des Speyrer Reichstages bis zum Beginn des Augsburger Reichstages 1530. Göttingen 1970/71; Rosemarie Aulinger (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 10: Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532. Göttingen 1992. 11 Erwein Eltz (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 15: Der Speyrer Reichstag von 1544. Stuttgart 2001. 12 Silvia Schweinzer-Burian (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Bd. 12: Der Reichstag zu Speyer 1542. München 2003; Rosemarie Aulinger (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Kar! V. Bd. 16: Der Reichstag zu Worms 1543. München 2003. 13 Maximilian Lanzirtner (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662: Der Reichstag zu Speyer 1570. 2 Teilbde. Göttingen 1988; Thomas Fröschl (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662: Der Reichsdeputationstag zu Worms 1586. Göttingen 1994. 14 lose! Leeb (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662: Der Kurfürstentag zu Frankfurt 1558 und der Reichstag zu Augsburg 1559. 3 Teilbde. Göttingen 1999. 15 Maximilian Lanzinner/Dietmar Heil (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662: Der Reichstag zu Augsburg 1566.2 Teilbde. München 2002. 7
Wie wurde der Reichstag in "Region und Reich" wahrgenommen? Der Begriff Region wird hier nicht nur eng als geographisch-politische Homogenität verstanden, sondern erweitert auf soziale und kommunikationsbezogene Aspekte. Wie weit reichte der Reichstag in die Peripherie, welche Gruppen im Reich nahmen das Geschehen und die Entscheidungen des Reichstags zur Kenntnis und wie? Diese Fragen schließen die Beschäftigung mit der vormodernen Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts ein, die durch die Außen wirkung des Reichstags selbst in ihrer Entwicklungsdynamik beschleunigt und geformt wurde. So gesehen, würde der Reichstag anders als bisher primär von seiner Wahrnehmung und Außenwirkung her erschlossen. Der Blick richtet sich zuerst auf die Rezipienten, nimmt man die einfachste Form eines Kommunikationsmodells, dann erst auf die Medien/Kodierungen und die Kommunikatoren. Über die Kommunikatoren und deren Verhandeln wissen wir aufgrund der Forschungen und der Editionen am meisten, aber die Annäherung gleichsam von außen ist eine Methode, um schärfer als bisher das Selbstbild, die Wahrnehmungs- und Gestaltungsziele der Akteure, auch die Reichweite ihres Handelns zu erfassen. Das läßt sich an einem geläufigen Gegenstand konkretisieren. Die rechtli che Norm der Reichstagsbeschlüsse hatte in vielen Fällen keine oder wenig Realisierungschancen in den "Regionen", wie wir aufgrund von Einzelbefunden neuerer Arbeiten wissen. Aber das wußten auch die Zeitgenossen schon, und dennoch setzten sie diese Normen. Wenn wir nach dem Sinn fragen, müssen wir nicht zuletzt die Wahrnehmung der Normsetzung beobachten. Die nur auf Politik und Verfassung bezogene Forschung jedoch setzte oftmals kurzschlüssig die Normen für die Durchsetzung, weil sie nur den Reichstag, nicht das gesamte Wirkungs geschehen beachtete. Erst die Wechselwirkungen von Reichstag und "Regionen" ergeben ein Gesamtbild. So verstanden, müßte man auch kommunikationstheoretische Fluß- und Funktionsmodelle bemühen, um das Zusammenspiel von Reichstag und Reichstagswahrnehmung zu beschreiben. Die Bemerkung sei gestattet, daß derartige Modelle zur Fragenund Hypothesenbildung ohne Zweifel nützlich sind, daß die Quellen jedoch rasch in eine andere Welt führen. Im langen 16. Jahrhundert verfestigten sich die periodischen Reichstage parallel zur Ausformung neuartiger Kommunikationsräume, die durch Druck und Schriftlichkeit geprägt waren. Es bezeichnet den Beginn dieser Parallelität, daß 1486 die ersten Druckschriften vom Reichstagsgeschehen berichteten. 16 Das herkömmliche Medium der Reichstagsakten und der Berichte, die an die Kanzleien der Reichsstände gerichtet waren, wurde im Zuge des Anwachsens der Druckerzeugnisse und der Schriftlichkeit generell nicht nur 16
Angermeier/Seyboth, Reichstag zu Frankfurt 1486 (wie Anm. 9), Nr. 910, 911, 917.
erweitert, sondern auch grundlegend verändert. Die Zahl der beim Reichstag produzierten Schriftstücke wuchs sprunghaft an, was mit der Formalisierung des Verfahrens zusammenhing. Protokolle des Kurfürstenrats wurden seit den 1540er Jahren geschrieben, seitdem sich die Gesandten der Kurfürsten in allen wichtigen Materien zur Beratung zurückzogen und streng auf die Abgeschlossenheit ihrer Kurie achteten. Dabei wirkten sich der allgemeine Trend zur Schriftlichkeit, ferner die zunehmende Professionalisierung und Verrechtlichung der Verwaltung und Politik aus. Ebenso beobachten wir eine Ritualisierung der symbolischen und visuellen Formen, die in Präzedenz- und Ses sionsproblemen sowie im Zeremoniell ihren Ausdruck fand. Formalisierung und Ritualisierung werteten jede Abweichung zum erstrangigen Politikum auf. 17 Dies alles, einschließlich der Mandate, Policey- und Münzordnungen 18 bis hin zu den Reichsabschieden wurde auch im Druck nach außen getragen: in Flugblättern 19 , Flugschriften2o , Ein- und Mehrblattdrucken, Berichten, Relationen 21 bis zu den großen Sammlungen der "Recessus Imperii"22, die im 16. Jahrhundert in rascher Abfolge neu aufgelegt wurden. Bei allen Umwälzungen der Kommunikationskultur veränderte sich offenbar die Post-und Verkehrsinfrastruktur noch wenig. Immer noch waren die Postwege lang und wurden, wenn es schnell gehen sollte, eigene Boten abgefertigt. Bis Reichstagsgesandte in Regensburg von ihren Kanzleien in Lübeck, Schwerin oder Berlin-Cölln Antworten erhielten, vergingen drei Wochen. Der Begriff repräsentativer und vor allem bürgerlicher Öffentlichkeit, wie ihn Jürgen Habermas für die "zum Publikum versammelten Privatleute" definierte23 , wird selbst für das 18. Jahrhundert nicht mehr uneingeschränkt aner17 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. (ZHF, Beih. 19.) Berlin 1997,91-132. 18 Matthias Weber, Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 146.) Frankfurt am Main 2002. 19 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1998; Wolfgang Harms (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und. 17. Jahrhunderts. 7 Bde. Tübingen 1980-2002. . 20 Hans-Joachim Köhler, Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. 3 Bde. Tübingen 1991-1996. 21 Juliane Glüer, Meßrelationen um 1600 - ein neues Medium zwischen aktueller Presse und Geschichtsschreibung. Eine textsortengeschichtliche Untersuchung. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 676.) Göppingen 2000. 22 Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7.) Göttingen 1966. 23 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 6. Aufi. Frankfurt am Main 1999 [1. Aufi. 1961].
kannt24 . Für das 16. Jahrhundert paßt er ohnehin nicht25 , vor allem dann nicht, wenn man Öffentlichkeit wie üblich als das allen zugängliche Forum eines gesamtgesellschaftlichen Informations-, Kontroll- und Entscheidungsprozesses definiert. Indessen existierten im 16. Jahrhundert - auf der Basis der neuen Schriftkultur - durchaus einzelne, schwach vernetzte Foren des Informationsaustauschs, die jeweils bestimmte sozial homogene Sphären vereinigten; damit verbunden waren auch Kontroll- und Entscheidungsprozesse. Esther Beate Körber, die bei ihren Forschungen auf solche "Teilöffentlichkeiten" des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts stieß, trennte die Sphären "Macht", "Bildung" und "Informationen".26 Vielleicht sollte man nicht von Teil-Öffentlichkeiten, sondern modifiziert von einer segmentierten Öffentlichkeit der beginnenden Neuzeit sprechen, um begrifflich zu signalisieren, daß die Teile eben doch miteinander verbunden waren und ein Ganzes bildeten. Gewiß aber wäre es von Vorteil, die Unterteilung nicht auf schwer faßbare Abstrakta wie "Macht", "Bildung" oder "Informationen" zu beziehen, sondern auf kulturell und sozial definierte Sphären, ähnlich, wie das Andreas Gestrich für das ausgehende 17. Jahrhundert versucht hat. 27 Segmente der Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts sind demnach: Höfe und Regierungen; Kirche und Theologen; Städte und Bürger; Universitäten und Gelehrte. Inwieweit auch die (politisch verfaßten) Stände, der Adel und die ländliche Welt der segmentierten Öffentlichkeit angehören, ist nicht so eindeutig zu bestimmen; man dürfte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen je nach Epoche und Region. Zumindest der Adel und stadtnahe dörfliche Regionen waren schon während der aufstrebenden Schriftkultur in den 1520er Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere. 5th Ed. Cambridge, Mass. 1997; Rarold Mah, Phantasies of the Public Sphere. Rethinking the Habermas of Historians, in: JModH 72, 2000, 153-182; Brigitte Scherbacher-Pose, Die Entstehung einer weiblichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Sophie von La Roche als "Journalistin", in: Jb. für Kommunikationsgeschichte 2, 2000, 24-51; Martin Scheutz, Öffentlichkeit und politische Partizipation in einem grundherrschaftlichen Markt des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Scheibbser Taidinge und die Strategie der Ämtervergabe, in: MIÖG 109, 2001,382-422. 2S Karen Lambrecht, Kommunikationsstrukturen und Öffentlichkeiten in ostmitteleuropäischen Zentren um 1500 - Forschungsstand und Perspektive, in: Jb. für Kommunikationsgeschichte 2, 2000, 1-23, hier 2-4; Gert MelvilleiPeter von Moos (Hrsg.), Das Öffentliche l:I.nd Private in der Vonnodeme. KölnlWeimarlWien 1998; Werner Faulstich (Hrsg.), Offentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung. Bardowick 2000. 26 Esther Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618. Berlin/New York 1998; vgl. auch weitere Konzepte von ,Öffentlichkeit' bei Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätrnittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550). Berlin 1998, hier die theoretischen Überlegungen 13-41, und Jörg Requate, Offentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: GG 25, 1999, 5-32. 27 "Hof und Diplomatie", "Adel", "Gelehrte", "Pöbel"; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, 96-100. 24
Jahren nicht so strikt vom allgemeinen Informationsfluß abgeschnitten, wie es oft scheint. Nähere Festlegungen scheitern unter anderem daran, daß wir zu wenig über die nicht selbst Lesenden wissen. 28 Die einzelnen Segmente von Öffentlichkeit hatten jeweils andere Schwerpunkte des Interesses (Politik, Theologie, Handel, Wissen usw.), auch unterschiedliche kommunikative Formen und Zielsetzungen, die hier nicht weiter zu beschreiben sind. Die HöfelRegierungen, Kirchen/Theologen, StädtelBürger und Universitäten/Gelehrten fügten sich aber insofern zu einem Ganzen, als sie untereinander in einem ständigen Austausch der Personen und Informationen standen. Vor allem wuchs im Lauf des 16. Jahrhunderts die Bedeutung der Höfe, die ja zunehmend auch Theologen und Gelehrte versammelten und die von Städten und Bürgern Waren, Kredite, aber auch Informationen bezogen. Die Teilhabe an Öffentlichkeit war am Beginn der Neuzeit stark hierarchisch abgestuft. Der Wiener Hof und sein Umfeld ragten nach 1530 heraus, dann folgte der kursächsische Hof als Zentrum von Wissen und Kommunikation; weit entfernt von deren Bedeutung waren kleinere Höfe weltlicher und geistlicher Fürsten. Ein ähnlich großes Gefälle erkennen wir bei den Städten. Der Reichstag wurde in dem Maß Gegenstand der segmentierten Öffentlichkeit, in dem er als herausgehobenes politisches Ereignis im Reich beachtet wurde. Das war schon 1486 so und gewiß 1495. Unter Maximilian 1. standen Reichsreform, also Verfassungs- und Friedenspolitik, unter Karl V. Religion und Konfession, seit 1555 Frieden und Türkengefahr im Vordergrund des Außen- und Rezipienteninteresses. Immer spielten Fragen der Repräsentation und Integration des Reichs eine Rolle, nicht nur bei den politisch Handelnden. Kaum untersucht sind die Korrespondenzen der scheinbar abseits stehenden Gelehrten, in denen vielfach die Klage über die Zersplitterung des Reichsganzen begegnet. Dagegen wurden die Reaktionen der Theologen auf Fragen der Kirchen- und Konfessionseinheit genauer registriert. Was im Druck auf den Markt kam, hatte - religiöse und politische Kampfschriften ausgenommen - nur selten direkte Auswirkung auf die Reichstage. Reichstage wurden etwa keineswegs infolge von Forderungen von außen einberufen, sondern dann, wenn der Kaiser es für nötig hielt, meist wenn er Hilfe (Steuern) benötigte und die Kurfürsten zustimmten. Aber die sich intensivie...: rende Außenwahrnehmung hatte trotzdem vielfältige Rückwirkungen auf den Reichstag. Das begann bei der Anreise eines Fürsten, die hohe Symbolbedeutung hatte. Pracht und Zahl des Gefolges stuften sich nach Rang ab. Der Kurfürst von Sachsen kam 1566 mit 700 Pferden, danach folgten mit Abstand
Roger Chartier (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt am Main 1999.
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(250 Reiter bis etwa 100) andere Fürsten. 29 Es gab Druckschriften, die davon berichteten. 30 Das Thema kann hier nicht weiter entfaltet werden. Um über Wirkung, Rezeption und "Bild"31 (im Sinn von Verständnis des Reichstags) mehr zu erfahren, auch um den Reichstag im politischerl!System Reich überhaupt zutreffend zu erfassen, öffnet der kommunikations geschichtliche Ansatz einen vielversprechenden Weg, der jedoch hier im Rahmen des Themenfelds "Region und Reich", zu dem er gehört, nur angedeutet werden konnte. Ebenso auf Teilaspekte des Themenfelds müssen sich die drei Beiträge der Sektion beziehen. Aber es ist zu hoffen, daß die Anregungen weiterwirken. 32 Michael North greift den Aspekt der kommunikativen Einheit des Reichs auf. Er versteht das Reich als umfassendes Kommunikationssystem mit deutlichen Grenzen nach außen und integrierenden Faktoren im Innem. Als solche integrierenden Elemente beschreibt er die Kommunikation zwischen Prozeßparteien und Assessoren an den Reichsgerichten, die Gutachten der Juristenfakultäten zum Reichsrecht, die Reichstagsgesandten und ihre soziale Rolle in den Territorien, den Diskurs über das Reich in der Reichspublizistik. Der Beitrag vermittelt einen Überblick über die Vielfalt der Kommunikationsfelder, bereits verfolgte Forschungsperspektiven und die sich stellenden Aufgaben. Dietmar Heil behandelt den Reichstag als politisches Kommunikationszentrum anhand zweier synchroner Schnitte. Der Vergleich des Reichstags um 1500 und des Reichstags von 1566 erweist die Pragmatik, mit der die Verfahrensweisen den Problemlösungen angepaßt wurden, aber auch den enormen Modemisierungsschub bei Verfahren und Schriftlichkeit. Die kommunikative Offenheit der Situation um 1500 ist 1566 ersetzt durch eine Normierung, die einer neuartigen politischen Kontinuität und Stabilisierung der Verfassungsbeziehungen entspricht. Auch wenn gegenüber dem Begriff ,Kommunikationsrevolution ' Vorsicht geboten ist, ist doch eine modeme Kommunikationsstruktur am Reichstag unverkennbar. Lanzinner/Heil, Reichstag zu Augsburg (wie Anm. 15), 1483-1497 ("Reichstags-Chronik der Stadt Augsburg"). 30 Etwa in den Druckschriften des Nikolaus Mameranus (Kurtze und eigentliche Verzeychnus der Teilnemer am Reichstag zu Augsburg 1566. Eingel. durch Hans Jäger Sustenau. Neustadt an der Aisch 1985). 31 V gl. Wolfgang Weber, Potestas et Potentia Imperii. Bemerkungen zum Bild des Reiches in der deutschen Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Bilder des Reiches. Sigmaringen 1997,97-122; Roger Dufraisse, Das Reich aus der Sicht der Encyclopedie methodique, in: ebd. 123-153. Zu Abbildungen und Symbolen des ReichsIReichstags vgl. ebenfalls Müller (Hrsg.), Bilder des Reiches; Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980. ' 32 Vom 25.-27.9.2003 fand in Bann eine Tagung zum Thema "DerReichstag 1486-1613: Kommunikation - Wahrnehmung - Öffentlichkeiten" statt. Eine Publikation ist für 2006 vorgesehen. 29
Christine Werkstetter bezieht sich auf die Pest von 1713/14, die aus Osteuropa kommend die Kaiserstadt Wien erfaßt hatte und schließlich auch die Reichstagsstadt Regensburg erreichte, so daß sich der Reichstag genötigt sah, zur Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit nach Augsburg umzuziehen. Präventiv- und Quarantänemaßnahmen erfolgten in "Nachbarlicher Communication" der Landesstaaten und der Reichsstädte; die ,Gesundheitspolicey' der Reichskreise und ein dichtes supraterritoriales Informationsnetz trugen schließlich zur Eindämmung der Seuche bei. Die regionalen und reichischen Beziehungsstrukturen lassen sich in diesem Krisenfall deutlich fassen und verweisen eindrücklich auf das in der neueren Reichsgeschichtsforschung besondere Beachtung findende hohe Maß kommunikativer Vemetzung.
Das Reich als kommunikative Einheit* Von
Michael North Die oft zitierte Äußerung Catharina Elisabeth Goethes: "Gestern wurde zum ersten mahl Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelassen"l, zeigt, daß im öffentlichen Bewußtsein dem Diskurs über das Reich mindestens ebensolche Bedeutung zukam wie dem Reich selbst. Wahrscheinlich schmerzte das tatsächliche Ende des Reiches weniger als der Verzicht auf dessen Erwähnung und Symbolik. Allein im Diskurs wurde sein Verlust schmerzhaft bewußt. Diese Beobachtung gibt Anlaß, das Reich nicht nur als politisches System, sondern auch als Kommunikationssystem zu verstehen, in dem sich die sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen verdichteten. In meinem Beitrag möchte ich daher einige allgemeine Überlegungen formulieren und damit Wege zu einer kulturgeschichtlichen Interpretation des Alten Reiches aufzeigen. Diese könnte die Reichsforschung bereichern, die sich bislang vor allem verfassungshistorisch auf das Reich als politisches System2 , aber auch sozialhistorisch auf seine Akteure und Träger, wie zum Beispiel die habsburgisch-kaiserliche Patronagebildung, konzentriert hat3 . * Für inhaltliche Anregungen danke ich den Diskutanten der Augsburger Sektion und Herrn Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber, Herrn PD Dr. Martin Krieger sowie Herrn Dr. Nils JÖrn. 1 Brief vom 19. August 1806, zitiert nach Johal111 Caspar (Hrsg.), Cornelia und Catharina Elisabeth Goethe. Briefe aus dem Elternhaus. ZürichJStuttgart 1960, 842. 2 Grundlegend Peter MorawNolker Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13.-18. Jahrhundert), in: ZHF 2, 1975, 95-108; Volker Press, Das Römisch-deutsche Reich - ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: Grete Klingenstein/Heinrich Lutz (Hrsg.), Spezialforschung und "Gesamtgeschichte". Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der Frühen Neuzeit. München 1982, 221-242; ferner Georg Schmidt, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich. Stuttgart 1989, 1-16; sowie Volker Press (Hrsg.), Alternativen zur Reichsver-.. fassung in der frühen Neuzeit? München 1995. Einen Überblick über den Forschungsstand' bietet Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd.42.) München 1997. Gesamtdarstellungen liegen vor von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648-1806.3 Bde. Stuttgart 1993-1997, und Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, 1495-1806. München 1999. 3 Vgl. auch Volker Press/Hans Maier, Vorderösterreich in der frühen Neuzeit. Sigmaringen 1989; Volker Press, Bayern, Österreich und das Reich in der frühen Neuzeit, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 120, 1980,493-519; ders., Franken und das Reich in der Frühen Neuzeit, in: Jb. für Fränkische Landesforschung 52, 1992, 329-347; ders., Österreichische Großmachtbildung und Reichsverfassung. Zur
Für Georg Schmidt ist das Reich ein Friedens-, Rechts- und Steuerbereich: "Wer sich an den neuen Organisationen nicht beteiligte und keine Leistungen für die Außenverteidigung oder zu deren Finanzierung erbrachte, gehörte nicht dazu."4 Wir können ergänzen: Das Reich ist ebenso eine Kommunikations- und Wertegemeinschaft, und dies fällt"hesonders bei Integrationsprozessen im Reich auf. So wurde in Greifswald in einem Projekt der VolkswagenStiftung die Integration des angeblich reichsfernen Nordens in das Reich untersucht und festgestellt, daß die kommunikative Integration eine erhebliche Rolle spielte. Integration äußert sich vor allem: 1. in der Zunahme politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen, 2. in der Ausbildung gemeinsamer Strukturen, Institutionen und Werte, sowie 3. in deren Wahrnehmung, d. h. in der publizistischen Debatte über Integration. 5 Daß alle Formen der Integration das Ergebnis kommunikativer Prozesse waren, ist offenkundig und stellt neue Aufgaben sowohl an die historische Kommunikationsforschung als auch an die Reichsgeschichte. So müssen 1. die medialen Voraussetzungen der Kommunikation, 2. die kommunizierten Inhalte und Werte und 3. die Kommunikationsprozesse selbst rekonstruiert werden. Alle drei Komplexe kann man sowohl für das Kommunikationssystem Reich als auch für regionale Kommunikationssysterne, d. h. für die Konstitution von Regionen durch Kommunikation, behandeln. 6
kaiserlichen Stellung nach 1648, in: MIÖG 98, 1990, 131-154; ders., Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neuinterpretation, in: Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft (wie Anm.2), 163-194; Heinz DuchhardtlMatthias Schnettger (Hrsg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum. Mainz 1999. Nicht eingehen kann ich in diesem Beitrag auf diejenigen Prozesse, die von außen her die Kommunikation im Reich bzw. des Reiches beeinflußten. 4 Georg Schmidt, Deutschland am Beginn der Neuzeit: Reichs-Staat und Kulturnation?, in: Christine Roll (Hrsg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe. Frankfurt am Main 1996, 1-30, hier 17. 5 Michael North, Integration im Ostseeraum und im Heiligen Römischen Reich, in: Nils JörnJMichael North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich. KölnlWeimarlWien 2000, 1-11, hier 2f.; vgl. auch Hartmut Kaelble, Die soziale Integration Europas. Annäherungen und Verflechtungen westeuropäischer Gesellschaften seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Eckart Schremmer (Hrsg.), Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht. (VSWG, Beih. 128.) Stuttgart 1996, 304-344, hier 304ff. 6 Hierzu jetzt grundlegend Carl A. HoffinanniRolf Kießling (Hrsg.), Kommunikation und Region. Konstanz 2001. Einschlägig hierin sind die Beiträge von Rolf Kießling, Kommunikation und Region in der Vormoderne. Eine Einführung, 11-39, und Wolfgang E. J. Weber, Die Bildung von Regionen durch Kommunikation. Aspekte einer neuen historischen Perspektive, 43-67. VgL auch Michael North, Kommunikation und Raumbildung, in: Rainer C. Schwinges (Hrsg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250-1550). Berlin 2002,507-525.
1. Mediale Voraussetzungen der Kommunikation Als mediale Voraussetzungen der Kommunikation sind zunächst die neuen typographischen Medien des 16. Jahrhunderts zu nennen, die ebenso wie das Medium der Reichspost eine Verdichtung der Kommunikation und damit die Entstehung eines neuen Kommunikationssystems erst ermöglichten. In diesem übernahmen die neuen Medien unterschiedliche Aufgaben. Das Buch diente der räumlich und zeitlich unbegrenzten Speicherung und dem Transport von Infonnation mit dem Ziel der Wissensvermittlung und Bele~ng. Das Pamphlet diente dem politischen Diskurs, indem es die öffentlIche Meinung beeinflußte und ein öffentliches Nachdenken über Religion und Gesellschaft in Gang setzte, im 17. Jahrhundert aber auch zum Instrument der Außenpolitik bzw. zur Abgrenzung nach außen wurde. Die Zeitung schließlich erschloß aktuell und informativ die Welt, von der sie erstmals die Entwicklung eines Gesamtbildes ermöglichte. 7 Als weiteres neues Medium hat Wolfgang Behringer in den letzten Jahren die Taxis-Post bzw. die Reichspost qualifiziert. Dabei waren es zu Anfang politische (Kommunikations-)Bedürfnisse des durch das Burgundische Erbe expandierenden Habsburgerreiches, die Maximilian 1. 1490 veranlaßten, eine kaiserliche Post unter der unternehmerischen Führung des Hauses Taxis zu gründen. Jedoch blieb die Kommunikation nicht lange auf die Habsburger und die anfängliche Strecke Innsbruck-Brüssel beschränkt. Die chronische Unterfinanzierung der Post zwang die Taxis dazu, auch Postdienstleistungen für Privatleute, zum Beispiel für die Augsburger Handelshäuser, aber auch für Fürsten und Städte anzubieten. Aus der dynastischen Kommunikationsverbindungentstand so im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts eine quasi öffentliche Einrichtung mit regelmäßigem Verkehr und geordnetem Tarifsystem, für das sich bald die Bezeichnung ,Ordinari-Post' durchsetzte. Den Kern der Postverbindung bildete die kontinentale Route Antwerpen - Brüssel-Augsburg - Innsbruck -Venedig - Rom - Neapel. Jedoch wurde Deutschland von dieser Hauptstrecke zunächst nur am Rande berührt. Während in Italien 1563 alle großen Städte an das Postnetz angebunden waren und in Spanien Frankreich und in den Niederlanden die Postkurse durch die Städte führten, ~ffnete sich in Deutschland zunächst nur Augsburg der Taxis-Post. Statt dessen führte der Weg meist über Dörfer und Gasthäuser, während Reichsstädte wie Speyer, Ulm oder Esslingen das neue Medium boykottierten. Die Stadtferne der Post war charakteristisch für das 16. Jahrhundert. Dabei verÜberblicke bei Michael North (Hrsg.), Kommunikationsrevolutionen: Die neuen Medien des 16. und des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. KölnlWienlWeimar 2001, IX-XIX; ders. Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 59.) München 2000, 5 f., 45-52.
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weigerten sich die Reichsstädte nicht aus Borniertheit der Reichspost, sondern sie hatten handfeste organisatorische und finanzielle Gründe. Die meisten Städte verfügten nämlich über effiziente, wirtschaftlich einträgliche Botennetze, die darüber hinaus aufeinander abgestimmt waren. Das Nürnberger Netz reichte zum Beispiel im Westen bis Ahtwerpen, im Osten nach Breslau, im Süden bis nach Venedig und war über Frankfurt und Leipzig mit dem Hamburger Botennetz verbunden. So gelang es den Taxis erst 1615, in Nürnberg ein Postamt zu errichten, das aber weiterhin im Schatten des Nürnberger Kommunikationsnetzes stand. 8 Es ist also jeweils nach der kommunikativen Durchdringung von Reich und Region zu fragen: In welcher Form verdichtete sich dadurch die innere Kommunikation, und in welchem Maße fand eine Abgrenzung nach außen statt? Wie viele Leute machten wann und wie oft und seit welcher Zeit von dem neuen Medium Gebrauch? Diese Intensivierung genauer zu ermessen, wäre eine Aufgabe für die Reichsposthistoriker. 9 Mit den neuen Medien ging die Herausbildung einer Standardsprache einher, denn die mit den Bibelübersetzungen Luthers auf der Basis des oberdeutsch-sächsischen Kanzleistils bewirkte Sprachangleichung verdrängte das Niederdeutsche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich. Ohne diese Entwicklung wäre die Ausbildung einer Kommunikations-, Denk-, Wissens- und Werte gemeinschaft im 17. Jahrhundert nicht möglich gewesen; von einer Identitätsstiftung ganz zu schweigen. Letztere war das Ziel der Sprachgesellschaften, wie der 1617 anläßlich des Reformationsjubiläums gegründeten "Fruchtbringenden Gesellschaft", die durch Förderung der deutschen Sprache und der Tugenden die Sprachgemeinschaft stärken wollte. lO Diese Gesellschaft avancierte in der Folgezeit zum Vorbild für weitere regionale Vereinigungen, die sich der Pflege und ,Reinhaltung' der deutschen Sprache widmeten. Es ist sicherlich kein Zufall, daß derartige Gesellschaften schwerpunktmäßig in einem Kommunikationszentrum wie Hamburg gegrün-
det wurden, das durch seine Medienlandschaft (frühe Presse) eine herausragende Rolle in Nordwestdeutschland spielte. Zu nennen wären hier die 1643 gegründete "Teutsch gesinnte Genossenschaft" oder die "Teutsch-übende Gesellschaft" von 1715, die gleichsam das Substrat für die Verbreitung frühaufklärerischer Moral- und Tugendvorstellungen im Alten Reich seit dem Zeitalter der Frühaufklärung bildeten. Hieraus entwickelte sich schließlich auch der spezifisch frühaufklärerische Patriotismus-Diskurs, der Reichsidentität mit regionaler Identität verband. II Eine weitere Voraussetzung der kommunikativen Integration war ein gemeinsamer Symbolvorrat oder emblematischer Vorrat, der kommuniziert werden konnte. So war das Reich über Bildprogramme in den reichsstädtischen Rathäusern präsent und stiftete über das Medium Rathaus Reichsidentität, die aber mit anderen lokalen oder allgemein städtischen Identitäten und Bezugspunkten ("gutes Regiment") konkurrierte. Ähnliches trifft auf die Kaisersäle zu, die uns nicht nur in Rathäusern, sondern auch auf Adelsschlössern begegnen. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören die Darstellungen der Reichsinstitutionen, zum Beispiel des Reichstages, die über vielerlei graphische Medien verbreitet wurden. 12 Diese Bilder- und Medienwelt erfuhr im 18. Jahrhundert eine neue Qualität, als sich einerseits die Zeitungen zu Informationsbörsen entwickelten und andererseits die Meinungsbildung durch Zeitschriften im Zuge der Aufklärung bisher unbekannte Ausmaße erreichte. Insbesondere durch die Journale mit ihrer aktiven Leserbeteiligung (Leserbriefe) entstand - trotz eines gewissen Nord-Süd-Gefälles - ein einheitlicher Kommunikationsraum im Reich, der auch als potentieller Absatzmarkt durch die Annoncen sowie durch die Streuung der Subskribenten greifbar ist. 13
8 Wolfgang BehringeJ; Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München 1990; ders., "Die Welt in einen anderen Model gegossen". Der Strukturwandel des fruhneuzeitlichen Kommunikationswesens am Beispiel der Reichspost. Habilitationsschrift Bonn ] 996; ders., Der Fahrplan der Welt. Anmerkungen zu den Anfängen der europäischen Verkehrsrevolution, .in: Helmuth Trischler/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Frankfurt am Main 1996,40-57; Michael North, Nachrichtenübermittlung und Kommunikation in norddeutschen Hansestädten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1991, H. 2, 8-16. 9 Beispielhaft für eine solche Untersuchung im außereuropäisch-europäischen Kontext ist Renate Pieper, Die Vermittlung einer neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums 1493-1598. Mainz 2000. 10 Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm.2), 146-]49. Siehe auch Martin Bircher/Klaus Conermann (Hrsg.), Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Rh. 2, Abt. A, Bd. 1. Tübingen 1992.
11 V gl. hierzu die grundlegend neue Untersuchung von Martin Krieger, Patriotismus-Diskurs und die Konstruktion kollektiver Identitäten in Hamburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Habilitationsschrift Greifswald 200l. 12 Den besten Überblick bietet Rainer A. Müller (Hrsg.), Bilder des Reiches. Sigmaringen 1997. Siehe auch Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980. Zur Funktion von Kunst im städtischen Umfeld siehe außerdem Bernd Roeck, Kunstpatronage in der Frühen Neuzeit. Studien zu Kunstmarkt, Künstlern und ihren Auftraggebern in Italien und im Heiligen Römischen Reich (15.-17. Jahrhundert). Göttingen 1999; ders.! Wolfgang Behringer (Hrsg.), Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400-1800. München 1999; Michael North, Kunst und Bürgerliche Repräsentation in der Frühen Neuzeit, in: HZ 267, 1998, 29-56. 13 Vgl. Ernst Fischer (Hrsg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. München 1999.
11. Kommunizierte Inhalte und Werte Damit kommen wir zum zweiten Punkt, zu den transportierten Inhalten, d. h. zur Ausbildung gemeinsamer Strukturen, II)..stitutionen und Werte. Eine dieser Institutionen oder Werte ist die Rechtsidentität. Nicht nur Bernhard Diestelkamp hat in der Reichsgerichtsbarkeit neben dem Lehnsrecht die wichtigste Klammer der Reichszugehörigkeit gesehen. Auch für Georg Schmidt diente das Reichskammergericht der Rechtsvereinheitlichung und vermittelte gleichzeitig ein Zusammengehörigkeitsgefühl über die Grenzen reichsständischer Herrschaftssysteme hinweg. 14 Dieser Impuls der Rechtsvereinheitlichung durch das Reichskammergericht machte sich dann in so unterschiedlichen Erscheinungen wie in der Erosion des Lübecker Oberhofs (für das lübische Recht) im 16. Jahrhundert und der Etablierung des Wismarer Tribunals durch Schweden nach 1653 deutlich bemerkbar. Das Vorbild des Reichskammergerichts wurde beispielsweise bis Wismar kommuniziert, in der Privilegienverleihung sogar explizit als Muster genannt. Da diese Privilegien "zu ewigen Zeiten" galten, entstand Tradition, und es eröffnete sich den Ständen eine Argumentationslinie bis zum Ende des Alten Reiches, die immer wieder genutzt wurde. So erinnerten das Tribunal wie auch die Stände immer, wenn die schwedische Krone Neuerungen einzuführen versuchte, diese an das Vorbild des Reichskammergerichts. 15 In Kontakt mit dem Reichskammergericht stand das Wismarer Tribunal unter anderem durch die Visitationen, zu denen beispielsweise auch aus Pommern Abgeordnete berufen wurden, die dort ihre Erkenntnisse verbreiteten. Das Wissen hierüber war in bedeutenden Privat- und öffentlichen Bibliotheken zugänglich. So fand sich im Nachlaß des Wismarer Vizepräsidenten Samue1 von Palthen 1750 ein Band "Excerpta ex actis Visitationum Wetzlar", der in die Dienstbibliothek des Tribunals als Doublette eingestellt wurde. Darüber hinaus nahmen von Fall zu Fall einzelne Tribunalbedienstete Kontakt mit ihren Kollegen am Reichskammergericht auf und argumentierten mit deren Auskünften vor den Landständen, der Landesregierung und der Krone. 16
14 Bernhard Diestelkamp, Königsferne Regionen und Königsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert, in: Gerhard Köb1erlHermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag. München 1997, 151-162, hier 162; Schmidt, Reichs-Staat und Kulturnation? (wie Anm. 4), 14. 15 Vgl. Nils Jörn, Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Geschichte des Wismarer Tribunals, in: ders.lNorth (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes (wie Anm. 5),235-273. 16 Freundlicher Hinweis von Dr. Nils Jörn, dem Bearbeiter des Greifswalder Forschungsprojekts "Das Wismarer Tribunal. Politische Wirksamkeit und personelle Strukturen des Oberappellationsgerichtes in den schwedischen Reichsterritorien 1653 bis 1815", gefördert von der Fritz Thyssen-Stiftung.
Vergleichbare Kommunikationsstrukturen müssen auch für die Prozeßparteien existiert haben. Ob man im konkreten Fall Reichskammergericht oder Reichshofsrat wählte, hing von seinem Image ab, wofür vor allem die Schnelligkeit des Gerichts, die Kompetenz der Richter und die Exekution der Urteile den Ausschlag gaben. Im Falle des südlichen Ostseeraums sprach alles für das Reichskammergericht, dessen Inanspruchnahme insgesamt deutlich über der des Reichshofrats lag. Bei weiterreichenden politischen Entscheidungen bevorzugte man dagegen den Reichshofrat ebenso wie in Fragen staatlichhoheitlicher Rechte. Das gleiche traf auch in Perioden der, Überlastung' oder Blockade des Reichskammergerichts zu, über die man im Norden ebenso gut wie im Süden informiert war. Die Prozeßgegenstände zeigen einen ,modernen' Charakter: Nicht Fragen der Grund- und Bodenwirtschaft, sondern Prozesse auf den Gebieten der Geldwirtschaft, des Handels und des Gewerbes dominierten. Dabei klagten oder appellierten in der Regel vermögende Bürger oder der landsässige Adel am bzw. an das Reichskammergericht. Die von der Forschung in den letzten Jahren besonders in den Blick genommenen Bauern oder bäuerlichen Gemeinden, die Prozesse gegen ihre Herrschaft führten (Untertanenprozesse), scheinen dagegen statistisch nicht ins Gewicht gefallen zu sein. Außerdem stammten Kläger und Beklagte zumeist aus demselben Territorium. Daneben standen sich aber auch in nennenswertem Umfang Parteien aus weit entfernten Territorien gegenüber, was einmal mehr die große Bedeutung von überregionalem Waren- und Geldverkehr, d. h. von Kaufleute-Bankiers, für Kommunikation und Integration im Reich bestätigt. Durch Kommunikation entstand eine Vertrauenskultur, ohne die zum Beispiel die wirtschaftliche Erholung des Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht möglich gewesen wäre.1 7 Neben den Rechtstraditionen wurden auch viele andere Werte kommuniziert. Als wesentlich sei hier die Identitätsstiftung mittels Abgrenzung nach außen genannt. Dabei wurden mit Hilfe der Pamphletistik die Einheit des Vaterlandes ebenso wie die vermeintliche deutsche Freiheit gegenüber Türken und Franzosen beschworen. 18 Diffusion und Wirkung der Pamphletistik bleiben aber oft im Dunkeln. Hier wäre zum Beispiel die kommunikative Integration zu rekonstruieren und zu fragen, ob auch weiter entfernte Gebiete an der Propaganda teilhatten oder sich (im Norden) andere Feindbilder, bei17 North, Kommunikation, Handel (wie Anm. 7), 85 f.; ders., Institutionelle Faktoren in der Wirtschaftsgeschichte des frühneuzeitlichen Deutschlands, in: Karl-Peter Ellerbrockl Clemens Wischermann (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics. Dortmund 2004, 81-91. Diesen Fragestellungen geht zur Zeit das Projekt "Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht. Zwei Handelszentren im Vergleich" der Deutschen Forschungsgemeinschaft an meinem Lehrstuhl genauer nach. 18 Schmidt, Geschichte des Alten Reiches (wie Anm. 2), 219.
spielsweise in Form von Dänen und Schweden, zur Integration anboten. Aus der Kommunikationsgemeinschaft wurde so vor allem in Krisenzeiten eine Erlebnis- und Denkgemeinschaft. Zugleich entstand aus Kommunikationsprozessen und Prozessen der Wissensspeicherung ein generationsübergreifendes kulturelles Gedächtnis. Dieses lieferte dicht nur Argumente für die politische Praxis, zum Beispiel für die habsburgische oder französische Diplomatie, sondern auch die ideologischen Grundlagen des Reiches. 19 In diesem Kontext müssen auch die aus den Niederlanden und England übermittelten und an deutschen Universitäten weiterverarbeiteten politischen Ideen, zum Beispiel das Naturrechtsdenken, genannt werden, die in Reich und Territorien von der (Reichs-)Publizistik rezipiert wurden. 2o Ein Beispiel für das 18. Jahrhundert wäre neben vielen anderen die Staatsrechts lehre eines Johann Stephan Pütter, der die Reichsverfassung historisch ableitete und durch gelehrte spezifische Auslegungen aktuellen Erfordernissen anpaßte.
III. Kommunikationsprozesse Den dritten Komplex stellen die Kommunikationsprozesse dar, die häufig schwer zu rekonstruieren sind. Ein Kommunikationsprozeß war beispielsweise das Studium der Staatsrechtslehre. Hier bildete die Universität Göttingen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Zentrum der Wissensakkumulation, in dem die Reichsvorstellungen an die Handlungsträger kommuniziert wurden. 23 von 24 Reichstagsgesandten des ausgehenden Alten Reiches hatten bei Pütter studiert. 21 Ähnliche Kommunikations-, Zentral- wie Gedächtnisorte des Reiches waren Regensburg, Wetzlar und Frankfurt. 22 Entsprechend bietet auch der Diskurs über das Reich Aufschlüsse über die Kommunikationsprozesse. Wolfgang Weber hat dies für den südlichen Ostseeraum in der Reichspublizistik untersucht. Diese Publizistik war mentali19 Johannes Burkhardt, Geschichte als Argument in der habsburgisch-französischen Diplomatie. Der Wandel des frühneuzeitlichen Geschichtsbewußtseins in seiner Bedeutung für die Diplomatische Revolution von 1756, in: Rainer Babel (Hrsg.), Frankreich im europäischen Staatensystem in der frühen Neuzeit. (Francia, Beih. 35.) Sigmaringen 1995, 191-217. 20 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800. München 1988, und Wolfgang E. J. Webe1; Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992. 21 Freundlicher Hinweis von Dr. Wolfgang Burgdorf, München. 22 Diese finden aber in der neuen Sammlung von Etienne Franr;;ois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2000-2001, allenfalls indirekt Erwähnung. Wesentliche Erkenntnisse werden wir aber in Kürze durch die bei Johannes Burkhardt angefertigte Dissertation von Susanne Friedrich, Der Immerwährende Reichstag zu Regensburg als Informationszentrum, erhalten.
tätsprägend und verhaltensbeeinfiussend, zumindest für die literaten Eliten des Alten Reiches. Auch vergleichsweise kleine Universitäten wie Rostock und Greifswald standen im Kommunikationsprozeß der öffentlich-rechtlichen Bildung, mit der Folge des Aufbaus entsprechender Bücherbestände und Studienangebote sowie reichspublizistischer Publikationstätigkeit zahlreicher Angehöriger. "Alle diese Texte lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß die jeweils diskutierten regionalen Rechte als dem Reichsrecht zu- oder gegebenenfalls sogar untergeordnet angesehen werden und die Region damit als integraler Bestandteil des Reiches gilt. "23 Entsprechend waren die Universitäten Rostock und Greifswald schon im 17. Jahrhundert an den politikwissenschaftlichen Diskurs der näher an den Reichszentren gelegenen Universitäten angeschlossen. Die einschlägigen Kommunikationswege und -prozesse harren aber noch der Untersuchung, insbesondere die Diffusion des Verwaltungswissens von dessen Generierung bis hin zur Umsetzung bei der Entscheidungsfindung durch Herrscher und Bürokratie. 24 Ähnliches gilt auch für das 18. Jahrhundert, als eine derartige publizistische Tätigkeit eine neue Qualität erfuhr. Hatten im 16. und 17. Jahrhundert mindermächtige Territorien und Reichsstädte, die nur selten über ein eigenes dynastisches Identitätsangebot verfügten, den Diskurs über das Reich getragen, so versuchten im 18. Jahrhundert die Großmächte Österreich und Brandenburg-Preußen, durch gelehrte, reichspatriotische Abhandlungen ihre unterschiedlichen Vorstellungen vom Reich zu lancieren, und setzten dazu neue Kommunikationsprozesse in Gang. 25 Dennoch hatte dieser von den Großmächten gelenkte Diskurs nach Wolfgang Burgdorf einen stabilisierenden Effekt: "Denn jedesmal, wenn das Reich in eine Krise geriet oder gar seine Existenz zur Disposition stand und öffentlich erörtert wurde, intensivierte sich die Reformdiskussion und bildete ein Gegengewicht zu den reichszersetzenden Tendenzen. "26 Nicht unterschätzt werden dürfen für die symbolische Einheit des Reiches auch die symbolisch vermittelten Kommunikationsprozesse, die auf dem Reichstag neben Informationsvermittlung und sozialer Interaktion großen 23 Wolfgang E. J. Weber, Der südliche Ostseeraum im Spiegel der Reichspublizistik: Ein kulturhistorischer Versuch, in: Jörn/North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostsee~ . . raumes (wie Anm. 5),473-536. 24 Immerhin findet die Rolle der Universitäten im Kommunikationsprozeß jetzt stärkere Beachtung bei Wolfgang E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universitäten. Stuttgart 2002. 25 Es wäre interessant, in diesem Kontext auch auf die Kommunikationswege und Kommunikationsprozesse in der Reichskirche einzugehen und zu fragen, in welchem Maße diese produktiv bzw. unproduktiv für die Kommunikationseinheit des Heiligen Römischen Reiches waren. Letzteres müßte aber einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. 26 Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich deutscher Nation im politischen Schrifttum vom 1648 bis 1806. Mainz 1998,507.
Raum einnahmen. So boten die frühneuzeitlichen Reichstage den Zeitgenossen ein "theatrum majestatis", das beginnend beim Einzug in die Stadt über die Messe zur Eröffnung und die Verhandlungen das Reich als handelndes Ganzes gleichermaßen symbolisierte und dokumentierte. 27 Darüber hinaus konstituierten Zeremoniell und Rangfolge":die politisch-soziale Identität der Reichsstände innerhalb einer hierarchisch gegliederten Gesamtordnung. 28 Ebenfalls stabilisierende Effekte zeitigten die von Reisenden und Reisen ausgelösten Kommunikationsprozesse. Neben den Gesandtenreisen (unter anderem zum Reichstag) mit ihren Rückwirkungen auf die Heimatterritorien und die Bildungs- und Erziehungseffekte der Kavalierstouren erlebte das Reisen im 18. Jahrhundert eine neue Bewertung. Es war nicht länger Privileg bestimmter Gruppen, sondern eine Angelegenheit ,aller' Menschen mit einem bestimmten Bildungsanspruch; das Reisen war oder sollte nicht nur ein reines Vergnügen sein, sondern ganz im Sinne der Aufklärung der Bildung des Herzens, der Schärfung des Verstandes, der Vermehrung der Erkenntnis dienen. Daneben sollten in einer Zeit wachsender regionaler und nationaler Identität die Vaterlandsliebe und die Fähigkeit, die eigene Kraft und eigenes Können in den Dienst des Vaterlands zu stellen, gestärkt bzw. gefördert werden. Entsprechend sah das Zeitalter der Aufklärung eine Intensivierung bürgerlicher Reisetätigkeit. Beamte reisten, wenn sie ein neues Dienstverhältnis antraten oder ihre Fachkenntnisse erweitern wollten. Professoren, Pastoren und Schriftsteller unternahmen Besuchsreisen, um Kontakte zu pflegen oder neue Bekanntschaften zu machen. Mit der Intensivierung der Reisetätigkeit veränderte sich auch die Art des Reisens. Ein neuer Reisetyp entstand, die Inlandsreise, bzw. die Reise in die deutsche ,Provinz'. Sie trug nicht nur einem wachsenden Bewußtsein für die Individualität regionaler Kulturlandschaften Rechnung - wie sie zum Beispiel in Justus Mösers "Geschichte Osnabrücks" zum Ausdruck kommt -, sondern auch einem wissenschaftlichen Interesse an der Region und ihren wichtigsten Plätzen. Ihre wachsende Beliebtheit erklärt sich nicht nur aus den geringeren Kosten, sondern auch aus einer zunehmenden regionalen Identität. Hieraus ergab sich eine Vielzahl an Reisezielen, die in der Pluralität der Reisemotive ihre Entsprechung fand. 29
27 Albrecht P. Luttenberger, Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag, in: Alfred Kohler/Heinrich Lutz (Hrsg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten. München 1987, 290-326; vgl. auch Aulinger, Das Bild des Reichstages (wie Anm. 12). 28 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: ZHF 19, 1997, 91-132. 29 Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottjried Korjf(Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modemen Tourismus. München 1991; Michael Maurer (Hrsg.), Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999.
Ein aussagefähiges Beispiel stellt zweifellos die Europareise des norddeutschen Erziehers und Privatgelehrten Johann Georg Keyßler dar, die er in den 1730er Jahren mit seinen Zöglingen Andreas Gottlieb und Johann Hartwig Ernst von Bernstorff unternahm. Was diesen der Bildung und der Vorbereitung der eigenen Karriere diente, transzendierte Keyßler in seiner 1740/41 erschienenen Reisebeschreibung zu einem Kosmos abendländischer Bildung wie zu einem Integrationsangebot an den Leser, welches dem Daheimgebliebenen landschaftliche Schönheiten ebenso wie Fürstenhöfe und Institutionen im Alten Reich anschaulich vor Augen führte. Reichspatriotismus avancierte zu einem literarischen Programm. 30 Entsprechend war das Reich in seiner Endphase in aller Munde. Nicht ohne Grund hat daher Friedrich Schiller in seinem Gedichtentwurf "Deutsche Größe" die Bedeutung dieser Diskurse für das von Napoleon gebeutelte Alte Reich hervorgehoben: "Der Deutsche wohnt in einem alten sturzdrohenden Hauß aber er selbst ist ein edler Bewohner, und indem das politische Reich wankt hat sich das Geistige immer fester und vollkommener gebildet. "31
30 Johann Georg Keyßler, Neueste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien, und Lothringen, worin der Zustand und das merckwürdigste dieser Län~ der beschrieben und vermittelst der Natürl.=Gelehrten, und Politischen Geschichte, der Mechanick, Mahler= Bau= und Bildhauer=Kunst, Müntzen, und Alterthümer erläutert wird, mit Kupffern. Hannover 1740; ders., Fortsetzung Neuester Reisen, durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen, worinn der Zustand und das merckwürdigste dieser Länder beschrieben wird, mit Kupffern. Hannover 1741 (Bd. 2 ~er Reisebeschreibung); Martin Krieger, "Ein scharfsinniger Gelehrter und dabey ein redhcher Mann ... ". Zur Biographie Johann Georg Keyßlers, Privatgelehrter und Erzieher bei den Grafen Bernstorff (1689-1743), in: Zs. der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 125,2000, 63-89. 31 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers. Bd. 2, T. 1. Weimar 1983, 431.
Der Reichstag des 16. Jahrhunderts als politisches Kommunikationszentrum Von
Dietmar Heil Der Augsburger Reichstag von 1566 zeigt sich im Licht der Akten als funktionierende zentrale politische und legislative Institution eines komplexen und eigentümlichen, aber insgesamt geordneten Staatswesens. Der Interessenausgleich zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen geschah weithin problemlos. Der Reichstag verfügte über eine eingespielte Geschäftsordnung und ein flexibles Instrumentarium gegenüber Störfaktoren, waren dies nun die notorischen Sessionsstreitigkeiten, die destruktive Haltung einzelner reichsfeindlicher Stände oder die grundsätzliche Unlösbarkeit einer Reihe von reichs- und verfassungspolitischen Problemen, allen voran natürlich der konfessionelle Dissens. Wenden wir den Blick von diesen wohlgeordneten Verhältnissen zurück zum beginnenden 16. Jahrhundeli. Nach einhelliger Meinung von Zeitgenossen und Forschung leitete der Kölner Reichstag von 1505 den Höhepunkt der Regierung Kaiser Maximilians 1. ein - von geordneten Verhältnissen allerdings keine Spur. Die Position des Reichsoberhaupts war ungesichert. Maximilian verfügte über keinen zuverlässigen Rückhalt für seine Reichspolitik, ihm unterstanden keine funktionierenden Institutionen für die Ausübung seiner königlichen Friedens- und Gerichtsgewalt. Der Reichstag - eher konturlos in seinen Kommunikationsstrukturen - war im Gegensatz zu 1566 noch nicht vom Willen zu konstruktiver, einvernehmlicher Gestaltung gekennzeichnet, sondern stand wie alle Reichstage des ersten Maximilian im Zeichen von Konfrontation zwischen Reichsoberhaupt und Ständen. Insbesondere am Beispiel dieser beiden Reichstage von 1505 und 1566 1 sollen einige wesentliche Fortschritte in der Kommunikationsstruktur zwi1 Maximilian LanzinnerlDietmar Heil (Bearb.), Der Reichstag zu Augsburg 1566. (Deuf:' sche Reichstagsakten - Reichsversammlungen 1556-1662. Hrsg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.) München 2002 [im folgenden: RTA-RV 1566]; lose! Leeb (Bearb.), Der Kurfürstentag zu Frankfurt 1558 und der Reichstag zu Augsburg 1559. Göttingen 1999 [im folgenden: RTA-RV 1558/59]; Maximilian Lanzinner (Bearb.), Der Reichstag zu Speyer 1570. Göttingen 1988 [im folgenden: RTA-RV 1570]; Thomas Fröschl (Bearb.), Der Reichsdeputationstag zu Worms 1586. Göttingen 1994 [im folgenden: RTA-RV 1586]. Die Edition "Der Reichstag zu Köln 1505" wird derzeit vom Verfasser vorbereitet. Aus der Zeit der Alleinregierung Kaiser Maximilians I. (1493-15] 9) liegen folgende Bände vor: Heinz Angermeier (Bearb.), Reichstag von Worms 1495. (Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe, Deutsche Reichstagsakten
schen den Reichstagen der Wormser Ordnung von 1495 und der Augsburger Ordnung von 1555 und deren Modernisierung als höchst pragmatische und funktionierende Lösung für die inneren Kommunikationsprobleme des Reichstags 2 dargestellt werden. Auf damit korrespondierende Veränderungen und Fortschritte in der äußeren Kommunikation des Reichstags ist wenigstens kurz einzugehen.
I. Symbolische Kommunikation des Reichstags: Zeremoniell und Herrschaftssymbolik Jedes politische und gesellschaftliche Ereignis der Frühen Neuzeit - und ganz besonders der Reichstag als "Selbstdemonstration und Konzentration des Reichs"3 - fungierte zugleich als Inszenierung der politisch-sozialen Hierarchie. Die Notwendigkeit der Betonung sozialer Distanz durch das Zeremoniell ist heute bekannt. Der feierliche Rahmen der Reichstage bestätigte die herausgehobene rechtliche und soziale Position, damit auch die politische Macht des Reichsoberhaupts. Gemeinsam begangene Zeremonien und Feierlichkeiten festigten den Zusammenhalt der frühneuzeitlichen Adelsgesellschaft und dienten ihrer öffentlichen Darstellung als Element von Herrschaftsstabilisierung. 4 Vereinzelt schon während der Regierung Maximilians 1. 5 , regelmäßig ab Karl V. dienten gedruckte Teilnehmerverzeichnisse und unter Maximilian 1. Hrsg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5.) Göttingen 1981 [im folgenden: RTA-MR 5]; Heinz Gollwitzer (Bearb.), Reichstage von Lindau, Worms und Freiburg 1496 bis 1498. Göttingen 1979 [im folgenden: RTA-MR 6]. 2 Zu den hier nicht berücksichtigten Formen von Reichsversammlungen, besonders Reichsdeputations- und Reichskreistagen, vgl. Helmut Neuhaus, Zwänge und Entwicklungsmöglichkeiten reichsständischer Beratungsformen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: ZHF 10, 1983, 279-298. Gegenüber dem von Neuhaus hervorgehobenen Konkurrenzverhältnis dieser bei den reichsständischen Versammlungen zum Reichstag sollte meines Erachtens mehr die pragmatische Anpassung des Reichstags an die vorgegebenen politischen und geographischen Gegebenheiten des Reichsverbandes durch Subdelegation seiner Aufgaben betont werden. 3 Heinz Angermeier (Bearb.), Reichstag zu Frankfurt 1486. Unt. Mitarb. v. Reinhard Seyboth [im folgenden: RTA-MR 1]. Göttingen 1989, 33. 4 V gl. Albrecht Pius Luttenberger, Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag, in: Alfred Kohler/Heinrich Lutz (Hrsg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten. (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 14.) München 1987, 291-326; Barbara StollbergRilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. (ZHF, Beih. 19.) Berlin 1997,91-132. 5 Verzeichnis der Teilnehmer am Wormser Reichstag von 1495, Speyer 1495 (RTA-MR 5, Nr. 1594); Bericht über den Wormser Reichstag 1495 (ebd. Nr. 1855); Beschreibungen des Kölner Reichstags 1505 von Martin Fucker (Staatsbibliothek Berlin Preuß. Kulturbesitz,
Berichte über den äußeren Ablauf von Reichsversammlungen - den Einzug des Reichsoberhaupts, die Eröffnung des Reichstags, Feste und Feierlichkeiten, Reichsbelehnungen, Reden, schließlich das Auftreten ausländischer Gesandtschaften - der Selbstdarstellung gegenüber einer wachsenden Öffentlichkeit. In der Zeit Maximilians 1. übernahmen meist die im Umfeld des Kaisers stehenden Humanisten diese Aufgabe - auch als Element habsburgischer Propaganda -, danach traten besonders die Reichsherolde in Erscheinung, "deren Aufgabe es war, für die geordnete Inszenierung der Adelsgesellschaft ganz allgemein zu sorgen".6 Die Kommunikationsstruktur Reichstag erforderte organisatorisch jedoch auch eine Verfeinerung des im Spätmittelalter nur grob strukturierten Gefüges der gesellschaftlichen Spitze Deutschlands. Betroffen war davon in erster Linie der sehr heterogene Reichsfürstenstand. Als problematisch erwies sich die verfahrenstechnische Notwendigkeit, die votierenden Fürsten in zwei Sitzreihen anzuordnen. Für die damit verbundene Abstufung im Rang bestanden keine verbindlichen Entscheidungskriterien. Mehr noch als auf der geistlichen Fürstenbank behinderten diese Sessionsstreitigkeiten die Sachverhandlungen der weltlichen Fürsten. Sich buchstäblich zurückgesetzt fühlende Fürsten blieben unter Protest den Verhandlungen fern. Die Herzöge Albrecht von Sachsen und Georg von Niederbayern absolvierten den Nürnberger Reichstag von 1491 angeblich stehend, weil keine Einigung über den Vorrang möglich war. 7 Doch waren dies um 1500 spektakuläre Einzelfälle. Für die Reichstage von 1505 und 1507 etwa sind überhaupt keine Sessionsstreitigkeiten belegt. Die insgesamt festzustellende Marginalität der Problematik reichsfürstlicher Session auf den Reichsversammlungen Maximilians 1. läßt vermuten, daß die Organisierung jedenfalls des Fürstenrats noch nicht den Stand erreicht hatte, wie sie aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt ist. Bis gegen Ende der Regierung Maximilians 1. gingen die Rangstreitigkeiten im Grunde um die Positionienmg einzelner Fürsten im Reichsganzen, weniger um die Klärung der Session im Fürstenrat. Der 1500 ausbrechende Streit zwischen Österreich, Salzburg und Magdeburg drehte sich nicht so sehr um den ersten
Flugschriften 1505-1 bis ) und Jörg von Brandenburg (Heinrich Christian von Senckenberg,_ Sammlung von ungedruckten und raren Schriften, zu Erläuterung des Staats-, des gemei: nen burgerlichen und Kirchen-Rechts, wie auch der Geschichten von Teutschland. Bd. 1, T. 1. Frankfurt am Main 1745, 157-212); Verzeichnisse der Teilnehmer an den Reichstagen von 1507 und 1510, Berichte Riccardo Bartholinis und Jakob Mennels über den Reichstag von 1518, vgl. Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7.) Göttingen 1966, 191-201. 6 Stollberg-Rilinger, Zeremoniell (wie Anm. 4),97. 7 Gutachten Wiguleus Hundts über den Sessionsstreit zwischen Bayern und Sachsen, undatierte Kopie; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [im folgenden: HStAM], Kasten schwarz 9400, fol. 113-114'.
Sitz in dieser Kurie, schon gar nicht um ein fürstliches Direktorium8 , sondern betraf zuerst ihre Stellung zu den Kurfürsten: Nachdem die Bemühungen Maximilians um einen Platz auf der Kurfürstenbank gescheitert waren, strebte er auf dem Augsburger Reichstag 1500 "für das Haus Österreich den Platz im rechten Winkel zu den Kurfürsten, d. h. den~ersten Platz auf der geistlichen Fürstenbank an".9 Auch Erzbischof Ernst von Magdeburg versuchte, seinem Anspruch als Primas von Germanien auf Vorsitz vor den Kurfürsten Geltung zu verschaffen, klammerte bei Verhandlungen mit Kursachsen im Jahre 1504 den Reichstag jedoch bereits aus.1 0 Während - in gewisser Weise auch infolge - der Regierung Karls V. nahmen die Sessions streitigkeiten an Zahl und Intensität zu. Verschiedentlich kam es sogar zu Handgreiflichkeiten.!1 Da die involvierten Reichsstände ungeachtet dieser sozial bedingten Konflikte nicht dauerhaft auf ihr Stimmrecht verzichten wollten und konnten, wurden für das frühneuzeitliche Reich typische Lösungen gefunden, welche die Streitigkeiten nicht entschieden, aber als reichstagspolitisches Problem einigermaßen neutralisierten: Man einigte sich in bilateralen Abkommen auf einen tageweise abwechselnden Vorsitz oder auch auf den Vorsitz des Älteren; häufig protestierte der benachteiligte Stand mündlich oder schriftlich über den Vorbehalt seiner Rechte - und die Sachverhandlungen konnten fortgesetzt werden. Die Sessionsstreitigkeiten auf dem Augsburger Reichstag 1566, der über zwei Monate dauerte, beanspruchten in allen Kurien sicher nicht mehr als einige Stunden. In der Tendenz nahm die Bedeutung der Sessions streitigkeiten mit der Vertretung der Fürsten durch juristisch gebildete, bürgerliche Räte ab. Reichstagspolitisch spielten sie auch infolge der unten skizzierten Ausbildung der inneren politischen Kommunikationsstruktur ab 1555 so gut wie keine Rolle mehr, wenn nicht als allseits akzeptierter Vorwand, um wie die herzoglich-sächsischen Gesandten 1566 unangenehmen Verhandlungen fernbleiben zu können. Die Aktionsfähigkeit des Reichstags wurde dadurch nicht behindert.
Rosemarie Aulinger konstatiert zwar eine Führung des Fürstenrats-Direktoriums durch Österreich und Salzburg "schon vor 1521", kann jedoch den Übergang des Umfragerechts vom Reichsmarschall auf den Vorsitzenden nur spekulativ auf 1512 datieren; Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18.) Göttingen 1980, 127, 353 Anm. 20. Dies wäre jedenfalls der frühestmögliche Zeitpunkt. 9 Thomas Willich, Der Rangstreit zwischen den Erzbischöfen von Magdeburg und Salzburg sowie den Erzherzogen von Österreich, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 134, 1994, 7-166, hier 55. 10 Aufzeichnung kursächsischer Gesandter über Verhandlungen mit Erzbischof Ernst am 9. 12. 1504; Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar [im folgenden: HStAWJ, Reg. B, Nr. 509, fol. 9-12. 11 Nachweise bei Luttenberger, Pracht (wie Anm. 4),311 Anm. 87. 8
Die Sessionsproblematik belegt: Für das Verständnis der Kommunikationsstruktur Reichstag sind seine beiden Funktionen als Inszenierung der Adelsgesellschaft und als Gremium für Sachverhandlungen von beinahe gleichrangiger Bedeutung. Der Reichstag war als zeremonielle Veranstaltung monozentrisch auf die kaiserliche Reichsspitze ausgerichtet und - als seit 1486/95 maßgebliche Konsensstruktur des Reichsverbands 12 - zugleich polyzentrisch. Der Blick auf die Rangstreitigkeiten läßt bereits ahnen, daß seine Organisierung als Kommunikationssystem - die Ausbildung einer Geschäftsordnung als Signum des frühneuzeitlichen nichtperpetuierlichen Reichstags - zwar während der Regierung Maximilians 1. einsetzte, jedoch noch keineswegs abgeschlossen war.
11. Innere Kommunikation: Kommunikationsstrukturen des Reichstags Wie sah das Verfahren zur Behandlung der Sachfragen, wie sah die freilich nie schriftlich fixierte Geschäftsordnung des Reichstags aus?13 Das Recht zur Einberufung eines Reichstags lag grundsätzlich beim Reichsoberhaupt; die Kaiser waren allerdings gemäß ihren Wahlkapitulationen seit Karl V. auf die Zustimmung der Kurfürsten angewiesen. Lag diese vor, erging das Reichstags-Ausschreiben, das die Adressaten auf den Reichstag lud und zugleich über die einzelnen Verhandlungspunkte informierte. Maximilian 1. deutete den Ständen lediglich die Materie an. Im Ausschreiben zum Wormser Reichstag 1495 wünschte er Beratungen "etlicher sachen halben in Ytalia", 1505 in Köln sollte "des Heiligen Reichs notturft" erörtert werden. 14 Ferdinand 1. und sein Sohn Maximilian H. dagegen ergriffen die Möglichkeit, über Vorabverhandlungen mit wichtigen Reichsständen, nicht nur den Kurfürsten, Konsens über zentrale Fragen herzustellen und den übrigen Reichstagsteilnehmern
12 Heinz Angermeier, Die ReichsrefonTI 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984, 154f.; Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250-149~. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3.) Berlin 1985, 4.l8f. . .. . . 13 Eine differenzierte Darstellung des formalen Ablaufs emes (nachmaxumhanelschen) Reichstags bietet Aulinger, Bild (wie Anm. 8), 167-262. Der von Karl Rauch edierte "Ausführliche Bericht, wie es uff reichstägen pflegt gehalten zu werden" (1569), ist geradezu eine Beschreibung des Augsburger Reichstags von 1566: Karl Rauch, Tr~ktat über de~ Reichstag im 16. Jahrhundert. Eine offiziöse Darstellung aus de~ Kur~am~er KanzleI. (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen ReIches m Mlttelalter und Neuzeit, Bd. 1.) Weimar 1905. 14 RTA-MR 5, Nr. 27, 124-129. Ladung König Maximilians an die Reichsstadt Augsburg, Or. WeißenburglElsaß, 14.4. 1505; Stadtarchiv Augsburg, Literalien 1505-1507, Fasz. [7], unfol.
mittels eines vergleichsweise differenzierten Ausschreibens 15 interne Vorbereitungen auf die kommenden Verhandlungen zu ermöglichen. Auf dem Reichstag selbst versuchte besonders Maximilian 11. durch Mitteilung von "Zeitungen", meist Auszügen aus Berichten seiner auswärtigen Residenten und Agenten, Einfluß auf die Stände zu nehmen - infolge seines hohen Vertrauenskredits insgesamt erfolgreich. Diese "Zeitungen" blieben ungedruckt, um den Empfängern Authentizität und Exklusivität zu signalisieren. Das europaweite habsburgische Beziehungsnetz garantierte dem Kaiser so ein gewisses Informationsmonopol im Sinne seiner Politik. Bereits für die Spätphase der Regierung Kaiser Friedrichs In. wird allgemein das Vorhandensein von Reichstagskurien konstatiert: Kurfürstenrat, Fürstenrat (mit geistlichen und weltlichen Reichsfürsten, Reichsprälaten, -grafen und -herren) und Städterat. Für die Arbeit des Reichstags wichtiger noch war allerdings das Zusammenspiel von gesamtständischem Ausschuß und Reichsrat, also der Gesamtheit der anwesenden Stände. Zudem durchbrach Maximilian 1. die vom Mainzer Erzkanzler Berthold von Henneberg durchgesetzte Geschäftsordnung immer wieder mittels hoftags ähnlicher Szenarien, so 1495. 16 Die für die Zeit nach 1486 behauptete Abschließung des Reichstags gegenüber dem Reichsoberhaupt existiert nur als Idealtypus.!7 Der Tod Bertholds 1504 stellte mit Hinblick auf die Reichstagsorganisation eine Zäsur dar. Auf den folgenden Reichstagen in Köln 1505 und Konstanz 1507 ist eine förmliche Kurienbildung kaum erkennbar. Für ein kontinuierliches Zusammentreten des Fürstenrats gibt es keine Belege. 18 Auch dessen Vgl. RTA-RV 1558/59, 249f.; RTA-RV 1566, 135-139; RTA-RV 1570, 128f. Für den Wormser Reichstag von 1495 konstatiert von Paul-Joachim Heinig, Reichstag und Reichstagsakten am Ende des Mittelalters, in: ZHF 17, 1990, 419-429, hier 420. Angermeier, Reichstag von Worms 1495 (wie Anm. 1),58, betont, daß dieser Reichstag in vielem noch mittelalterlich verlaufen sei. Seine Feststellung: "Er [der König] erschien offensichtlich ohne Voranmeldung auf den Sitzungen, und auch seine Räte hatten zu den einzelnen Beratungen der Stände wie auch zu den Ausschußsitzungen freien Zutritt" (66), darf für die gesamte Regierungszeit Maximilians 1. Geltung beanspruchen. 17 Von Peter Moraw, Art. "Reichstag, ältere Zeit", in: Adalbert ErlerlEkkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd.4. Berlin 1990, 781-786, hier 784, als einer der Wesenszüge des Reichstags kurz vor 1500 bezeichnet; ders., Verfassung (wie Anm. 12),418. 18 Eine getrennte Beratung von Kurfürsten, Fürsten und Städten ist lediglich nach dem Eröffnungsvortrag Maximilians 1. ersichtlich, danach nicht mehr. Sogenannte reichsstädtische Registratur; Historisches Archiv der Stadt Köln, Köln und das Reich 217, fol. 212' -214. V gl. das städtische Reichstagsprotokoll von 1505 bei Johannes Janssen (Hrsg.), Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1376-1519. Bd. 2. Freiburg im Breisgau 1872, Nr. 877, 878, 882. Die Feststellung für den Konstanzer Reichstag 1507 basiert auf der Durchsicht der kurmainzischen (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien [im folgenden: HHStAWien], Mainzer Erzkanzlerarchiv [im folgenden: MEA], Reichstagsakten 3a, fol. 391-591), kursächsischen (HStAW, Registrande E, Nr. 54), herzoglich-sächsischen (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, GA Loc. 10180 Reichs-Tag zu Costnitz 1507) und bayerischen (HStAM, Kurbayern Äußeres Archiv 3136, 15
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Verhandlungsmodus liegt für die gesamte Zeit Maximilians 1. im Dunkeln. Angesichts der Heterogenität seines Teilnehmerkreises scheint die Annahme lediglich informeller Beratungen und gelegentlicher Beschlußfassung nach dem Konsensprinzip plausibler als eine Rückprojektion des später üblichen förmlichen Umfragemodus.1 9 Für die Reichstage der Spätzeit Maximilians (1509-1518) ist die Frage nach der Gewichtung von Kurien und gesamtständischem AusschußlReichsrat bislang nicht zu beantworten. Man wird die Ergebnisse der Reichstagsaktenedition abwarten müssen. Doch ist noch für den Augsburger Reichstag von 1518 zwar eine klare, auch für die Verhandlungen relevante Kurienbildung bekannt, mit den zentralen Problemen war gleichwohl einmal mehr ein gesamtständischer Ausschuß betraut. 2o Wer war in den Reichstagskurien vertreten? Theoretisch setzte sich der Reichsverband im 16. Jahrhundert aus mehr als 400 Reichs-, also reichstagsfähigen Ständen zusammen. 21 Der aktive Handlungskem des Reichstags war fol. 153-301 ') Reichstagsakten. Demnach wurde gleich zu Beginn des Reichstags ein Großer Ausschuß gebildet, der alle Sachverhandlungen übernahm. Ansonsten sind nur Verhandlungen im Reichsrat nachweisbar, zum Beispiel über die AntwOli des Ausschusses an König Maximilian wegen eines Vorschlags zur Romzugshilfe, "solichs an die gemeynen stende gelangen zu lassen, mit irem samptlichen rate darin der notdurft betrachtung zu tun und antwort zu geben"; HHStAWien, MEA RTA 3a, fol. 416-416'. Vgl. Gertra~d Ibl~r, König Maximilian 1. und der Konstanzer Reichstag von 1507. Ungedruckte DISS. phll. Graz 1961, 78f. 19 Die Feststellung Klaus Schlaichs: "Es ist gar keine Frage: zu Beginn des 16. Jahrhunderts - wohl seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts - gab es in den Reichskollegien Beschlußfassungen nach der Mehrheit", meint nicht ein Auszählen der Mehrheit, sondern die Formulierung einer mehrheitlichen Meinung aufgrund der abgegebenen Voten durch die Direktoren der Kurien; Klaus Schlaich, Maioritas - protestatio - itio in partes corpus Evangelicorum. Das Verfahren im Reichstag des Hl. Rö~ischen R~iches Deutsc~er Nat~on nach der Reformation, in: ZRG KA 63, 1977,264-299, hIer 282, ZItat 279. Schlmch datIert die Anfänge des Mehrheitsverfahrens auf den Wormser Reichstag von 1495 und ko~statiert auch für den Fürstenrat "eine gewisse Gleichheit der Abstimmenden", äußert zugleIch aber - berechtigte - Zweifel an der Existenz eines numerischen Mehrheitsprinzips; Klaus Schlaich, Die Mehrheitsabstimmung im Reichstag zwischen 1495 und 1613, in: ZHF 10, 1983,299-340, hier 299,300-306. . . 20 Der auf dem Reichstag anwesende, für gewöhnlich gut informierte Riccardo Barthohm hielt fest: "Cum aliquid in consultationem uenit Caesaris Imperiiue nomine triplex consilium habent. Primum enim consilium electorum Imperii. Secundum principum, praelatorum, comitum et baronum. Tercium oratorum ciuitatum. Haec tres consilii c1asses diuisi~ consulunt et cum simul coeunt, singillatim sententiae expostulantur. Quamquam et m secunda quoque classe diuisio facta est, ut principes scilicet cum praelatis, comit~s ~ero ac Barones caeterique profani in subselliis inuicem discretis sederent." L~ut Barthohm wur~e "in negotio autem legatorum" - über die zentralen Fragen des ReIchstags also! - em gesamtständischer Ausschuß gebildet; Riccardi Bmiholini uiri eruditissima de conuentu Augusten. concinna descriptio rebus etiam externarum gentium quae interim gestae sunt, cum elegantia intersertis. Augsburg 1518: De modo consultandi in Dieta. . 21 Alois GerUch, Art. "Reichsstände, Reichsstandschaft", in: Handwörterbuch (WIe Anm. 17), 760-773, hier 764, veranschlagt für Ende des 15. Jahrhunderts "rund 420" Reichsstände. Eine Liste der Reichsstände unter Berücksichtigung der Teilnahme an den Reichstagen von 1521 bis 1582 findet sich bei Aulinger, Bild (wie Anm. 8),358-374.
jedoch viel kleiner. Sechs von sieben Kurfürsten waren regelmäßig persönlich anwesend oder durch Gesandte vertreten. Böhmen nahm sein Sessionsrecht im ganzen 16. Jahrhundert - mit Ausnahme von 1530 - nicht wahr. 22 Im Fürstenrat unterlag die Teilnehmerzahl starken Schwankungen. Durchschnittlich etwa fünfzehn geistliche und zehn weltliche Fürsten zählte man auf den Reichstagen Maximilians I. 23, unter Ferdinand I. und Maximilian H. waren es mehr als doppelt so viele. Den ,mindermächtigen' Ständen im Fürstenrat standen seit der Zeit Karls V. lediglich Kuriatstimmen zu; dennoch wuchs besonders die Zahl der persönlich anwesenden Prälaten, Grafen und Herren zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hin an. Insgesamt werden für die Fürstenkurie (des nachmaximilianeischen Reichstags) circa 85 Stimmen veranschlagt. 24 Gesandte von durchschnittlich gut einem Dutzend Reichsstädten am Beginn des Jahrhunderts und mindestens zwei bis drei Dutzend Städten in der zweiten Hälfte bildeten die dritte Reichstagskurie, wobei die Gesandten häufig zugleich für ferngebliebene Kommunen bevollmächtigt waren. 25 Ein verbindlicher Anspruch, auf den Reichstag eingeladen zu werden, entstand erst nach der Zeit Maximilians I. Zwar hatte sich unter dem Druck seines Widersachers Berthold von Henneberg der Teilnehmerkreis verfestigt, nach dessen Tod handhabte der Habsburger die Ladungskompetenz jedoch wieder nach eigenem Gutdünken. Zum Kölner Reichstag 1505 waren lediglich sieben Reichsstädte beschieden, mit stillschweigender Billigung von Kurfürsten und Fürsten. Dennoch veranlaßte die politische Notwendigkeit einer möglichst breiten Zustimmung zu den Reichsbeschlüssen Maximilian in der Folge, auf eine Selektion des Teilnehmerkreises weitgehend zu verzichten. Der Reichsverband war unter Ferdinand I. und Maximilian 11. zu einem beträchtlichen Teil und in seiner ganzen geographischen Ausdehnung repräsentiert. Seit den Reichstagen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, also ebenfalls erst nach der Regierung Maximilians 1., wurden die Sachverhandlungen durch eine förmliche Proposition eröffnet, welche die Beratungspunkte in dem Anspruch nach verbindlicher Reihenfolge auflistete und die Forderungen und Vorschläge des Reichsoberhaupts formulierte. Während der Alleinregie22 Gerhard Oestreich, Zur par~amentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl v., in: Mitteilungen des Osteneichischen Staatsarchivs 25, 1972,217-243, hier 223. 23 Die mit Abstand zahlreichste Vertretung fürstmäßiger Stände ist für den Wormser Reichstag 1495 festzustellen: je 22 geistliche und weltliche Fürsten (RTA-MR 5, Nr. 1595), wohingegen auf dem Freiburger Reichstag 1498 nur elf geistliche und acht weltliche Fürsten (RTA-MR 6, Nr. 119), auf dem Nürnberger Reichsregimentstag 1501 dreizehn geistliche und sechs weltliche Fürsten (Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, welche von den Zeiten Kayser Conrads des Zweiten bis jetzo [... ] abgefasset worden. Bd. 2. Frankfurt am Main 1747, 100f.) anwesend oder vertreten waren. 24 Oestreich, Arbeitsweise (wie Anm. 22), 226. 25 Die Anwesenheit der Reichsstände auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts analysiert Aulinger, Bild (wie Anm. 8),117-124.
rung Ferdinands I. entstand beinahe ein Kanon von Verhandlungspunkten, der für jeden Teilnehmer am Reichstag etwas Interessantes enthielt: Religion, Landfriede, Türkenhilfe, Justizwesen, Rekuperation (Rückgewinnung an das Ausland verlorener Reichsgebiete), Reichsmatrikel, Münzwesen, Session und Policey. Zu jedem dieser Hauptartikel erstellten die Stände eine Antwort. In der ersten Kurie kamen die Kurfürsten selbst lediglich zu Beratungen über grundsätzliche oder politisch heikle Fragen zusammen, alles übrige wurde kurfürstlichen Räten überlassen. Die beiden anderen Kurien ließen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Entschlüsse meist durch Ausschüsse26 vorbereiten. Für die Bildung gesamtständischer Ausschüsse hatte sich seit Mitte der 1480er Jahre erfolgreich Kurfürst Berthold von Mainz eingesetzt - im Sinne besserer Kontrolle der Verhandlungen durch ihn selbst und quasi als Vorlauf für sein Reichsregimentsprojekt. Nach dem Tod Bertholds griff Maximilian I. ebenfalls auf das Instrument gesamtständischer Ausschüsse zurück, um die Verhandlungen zu beschleunigen. Karl V. verfolgte mit ihnen eine ständepolitische Zielsetzung: die Einbindung der auf ihre Präeminenz pochenden Kurfürsten. Letztlich sollten die Mitglieder der , Großen Ausschüsse' nicht mehr einzelnen Ständen verpflichtet sein, sondern - im Sinne des Kaisers - Gesamtverantwortung für das Reich übernehmen. 27 Die kommunikativen Nachfolger Karls V. verzichteten unter dem Eindruck kurfürstlicher Ablehnung auf solche Ambitionen. Die - mit Ausnahme des Supplikationsrats - beinahe ausschließlich innerkurialen Ausschüsse dienten als Mittel zur Rationalisierung und Beschleunigung der Reichstagsverhandlungen. Sachverständige Räte bereiteten die Beschlüsse der Kurien vor. Wie später im Plenum kamen die Resolutionskonzepte durch Umfrage unter den Deputierten nach der Reihenfolge ihrer Session möglichst durch Konsens, andernfalls durch Mehrheitsbeschluß zustande. Dank der zunehmenden Verschriftlichung der Kommunikationsstruktur Reichstag im 16. Jahrhundert28 standen Akten früherer Verhand26 Die zunehmende Erledigung der Reichsangelegenheiten durch rechtsgelehrte Räte blieb von fürstlicher Seite nicht ohne Kritik. Pfalzgraf Georg Hans von Veldenz äußerte auf dem Wormser Reichsdeputationstag 1586: "Ob es nun im Reich besser stehe, das den langen mänteln das regiment gegeben werde, das gebe die erfarung, ja dardurch sei schier ~9-S dritte theil des Reichs verlohrn." RTA-RV 1586, Nr. 19b, hier 781. 27 Vgl. Helmut Neuhaus, Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. (ZHF, Beih. 3.) Berlin 1987, 113-140, bes. 118-129; Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. Teilbd. 1. (Historische Studien, 457/1.) Husum 1999, 40f. 28 Vgl. Christina Göbel, Der Wormser Reichstag von 1495 zwischen Wandel und Beharrung. Eine verfassungs- und institutionengeschichtliche Ortsbestimmung. Marburg 1992, 338-346, wobei allerdings der Schlußfolgerung eines "weitgehend verschriftlichte(n) Verfahren(s) des Reichstags im 16. Jahrhundert" (345) nicht uneingeschränkt zugestimmt werden kann.
lungen als Beratungsgrundlage zur Verfügung 29 , was die Arbeit im Ausschuß erheblich vereinfachte. In der Regel wurden die Beratungsvorlagen der Fürsten- und Städteratsausschüsse unverändert als Beschlüsse der jeweiligen Kurien ratifiziert. Die Bedeutung der Ausschüsse innerhalb der Kommunikationsstruktur Reichstag ist somit evident. Nach erfolgter interner Beschlußfassung glichen zuerst die bei den höheren Kurien ihre Ergebnisse möglichst bis zur Herstellung eines einhelligen Votums in mehreren mündlichen Relationen und Korrelationen ab. Die kurfürstliche Präeminenz äußerte sich in einer vom Fürstenrat meist akzeptierten größeren reichspolitischen Kompetenz der höheren Kurie. Der Städterat stimmte den beiden höheren Kurien im allgemeinen zu. Während unverglichene Voten zwischen Kurfürstenrat und Fürstenrat in der gesamtständischen Resolution kenntlich gemacht wurden, mußten die Reichsstädte bei Dissens auf das Mittel von Sonderresolutionen an den Kaiser zurückgreifen. Dieser nahm zu den Beratungsergebnissen der Stände in einer Replik Stellung und leitete bezüglich der noch offenen Punkte ein weiteres Beratungs- und Einigungsverfahren der Kurien zur Duplik ein, und so ging es bis zur Beschlußfassung des Reichstags weiter. Konkretisieren wir dieses umständlich erscheinende Verfahren am Beispiel der Türkenhilfeverhandlungen des Reichstags von 1566: Der Kaiser forderte am 23. März in seiner Proposition eine Hilfe in der unerhörten Höhe von weit über elf Millionen Gulden (nominal 88 Römermonate). Die Kurien nahmen nach einigen Geschäftsordnungsdebatten am 28. (Städterat), 29. (Kurfürstenrat) und 30. März (Fürstenrat) die Sachverhandlungen auf. Fünf Relationen zwischen KurfÜfstenrat und Fürstenrat fanden am 5., 9., 10. und 11. April statt, drei Relationen im Reichsrat, also der Plenarversammlung der beiden 29 Dies belegt exemplarisch ein Verzeichnis der Kurmainzer Kanzlei über die zum Augsburger Reichstag 1566 mitgenommenen Akten: Für die Zeit vor 1500 handelt es sich nur um vereinzelte Stücke (Reichslandfriede von 1442, Reichsanschläge von 1442 und 1486, Akten der Reichstage von 1471, 1495 und 1497). Die Regierungszeit Maximilians I. ist danach nur noch mit Akten und dem Reichsabschied von 1512, Akten des Schwäbischen Bundestags von 1516 und des Mainzer Tages von 1517 vertreten. Der erste Reichstag Karls V. zu Worms 1521 stellt eine Zäsur dar. Ab diesem Jahr lagen offenkundig Akten der meisten Reichstage sowie des Reichsregiments vor. Ab 1541 ist die Überlieferung lückenlos. Das Verzeichnis listet auch Akten der Passauer Versammlung von 1552, des Speyerer Deputationstags von 1557 oder des Frankfurter Wahltags von 1558 auf. Erstmals für den Reichstag von Speyer 1542 und danach regelmäßig sind Protokolle nachgewiesen. Mitgenommene Unterlagen zu Reichssteuersachen datieren ab 1543, zu den auf Reichstagen eingegangenen Supplikationen einzelner Stände ab 1545. Zur Aufbewahrung der Akten dienten die "Reichskisten" I und II, die "Ringerungskiste" und die "Deputationskiste". Die "Visitations- und Revisionskiste" verwahrte der Mainzer Kanzler. Die 1566 entstandenen Akten (zwei Bände Supplikationen, ein Band Verhandlungsakten und ein Band mit dem Kurmainzer Protokoll) wurden in der Reichskiste II abgelegt. Weitere Gegenstände, wie die Gothaische Exekutionshandlung oder die Klagen gegen Kurpfalz, gelangten in die Deputationskiste; Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Regierungsarchiv, L 122, unfol.
höheren Kurien mit dem Städterat, am 11. und 13. April, bis die Antwort zur Türkenhilfe am Morgen des 15. April dem Kaiser übergeben werden konnte. Dieser replizierte am 18. April. Weiter: fünf Relationen zur Duplik der Stände zwischen Kurfürstenrat und Fürstenrat vom 24. bis 26.4., drei im Reichsrat am 25. und 26.4.; Übergabe der Duplik am 27.4., der kaiserlichen Triplik am 30.4.; drei Relationen von Kurfürstenrat und Fürstenrat zur Quadruplik am 5., 8. und 14. 5., drei Relationen im Reichsrat am 5., 10. und 17.5.; Übergabe der Quadruplik an Maximilian H. am 19. 5., der Quintuplik des Kaisers an die Stände am Morgen des 24.5.; zwei Relationen von Kurfürstenrat und Fürstenrat zur Sextuplik und zwei Relationen im Reichsrat am 26. und 27.5.; Übergabe der Sextuplik am 27. 5., mündliche Zustimmung des Kaisers (also Septuplik) am 30.5., schließlich Verlesung des Reichsabschieds mit dem Türkenhilfebeschluß am gleichen Tag; Relation von Kurfürstenrat und Fürstenrat sowie im Reichsrat zu einigen ergänzenden Punkten am 31. Mai und Übergabe der ständischen Oktoplik am 1. Juni. Insgesamt achtundzwanzig Relationen für den Konsens zwischen den Kurien und acht Resolutionen für den Interessenausgleich zwischen Kaiser Maximilian Ir. und den Reichsständen waren erforderlich, um eine Türkenhilfe zu beschließen! Die Gesamtdauer der Beratungen betrug dabei gut zwei Monate. Doch nur bei oberflächlicher Betrachtung belegt dieses Beispiel die geltende Auffassung von der Schwerfälligkeit und Umständlichkeit der zentralen Kommunikationsstruktur des Reichs. Die angegebenen Daten zeigen vielmehr, wie schnell sich die höchst heterogenen Teilnehmerkreise von Kurfürstenrat, Fürstenrat und Städterat - insgesamt weit über 200 anwesende oder vertretene Stände! - einigten. Dies ist um so beachtlicher, wenn man bedenkt, daß die schließlich bewilligte Türkenhilfe von 48 Römermonaten - real etwa 3,5 Millionen Gulden - alle früheren Reichshilfen bei weitem übertraf. 3o Anders als zu Beginn des 16. Jahrhunderts konnten zahlungsunfähige oder -unwillige Stände auch nicht mehr davon ausgehen, daß der Reichsbeschluß für sie folgenlos blieb. Darüber hinaus verabschiedeten die Stände in parallelen Beratungen wegweisende Beschlüsse zum Exekutionsproblem und zum Münzwesen und bauten die Justizverfassung des Reiches aus. Die Stände einigten sich, die nicht zu lösenden Konfessionskonflikte aus den offiziellen Verhandlungen auszuklammern und den seit 1543/55 ausgebildeten Konfessionsräten zu überlassen - den eigentlich außerhalb der Reichstagsverfassung stehenden Beratungsgremien der beiden im Reich zugelassenen Bekenntnisse. Dadurch wurde das Religionsproblem auf der Ebene der Reichsver-
V gl. die Analyse zur Entwicklung der zwischen 1548 und 1576 bewilligten Reichshilfen bei Maximilian Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576). (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 45.) Göttingen 1993,464-473.
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sammlungen für die nächsten zehn Jahre neutralisiert. 31 Politisch-rechtlichen Entscheidungsinstanzen jedes komplexen Staatswesens würde solche Leistungsfähigkeit gut anstehen. Diese Effektivität gründete abgesehen von der spätestens Ende der fünfziger Jahre gewohnheitsrechtlich eingespielten Geschäftsordnung auf einer dahinter verborgenen vergleichsweise stabilen politischen Struktur. Gehen wir noch einmal zurück zur Jahrhundertwende. Wie schon gesagt, Konfrontation war das Grundprinzip der Maximilianeischen Reichstage. Der Kaiser stand tatsächlich dem Reich gegenüber. Persönliche Loyalitätsverhältnisse einzelner Reichsfürsten änderten daran prinzipiell nichts, da diese im Reichsrat wieder dem vorn geschäftsführenden Mainzer Erzkanzler Berthold von Henneberg aufgebauten Gruppendruck ausgesetzt waren. Dieser grundsätzliche Antagonismus blieb auch nach dessen Tod bestehen. Desinteresse und Ablehnung der habsburgischen Politik kennzeichneten die ständische Haltung. Die überwältigende Mehrzahl der Fürsten betrachtete den Reichstag in erster Linie als Rahmen für bilaterale Verhandlungen mit dem kaiserlichen Hof über haus- und territorialpolitische Angelegenheiten. Daran konnte auch die seit Maximilian I. in Flugblättern verbreitete Propaganda32 nichts ändern. Auf die gesamte Regierungszeit dieses Kaisers hin bis 1519 gesehen, blieb die Wormser Reichsordnung von 1495 mit ihren nachfolgenden Modifikationen als reichspolitische Handlungsbasis bedeutungslos. Um wieviel eleganter und effektiver stellt sich das Kommunikationssystem der eigentlich friedenspolitisch entmachteten Zentralgewalt im Reich der Augsburger Ordnung von 1555 darP3 Ferdinand I. und mehr noch Maxirnilian Ir. waren nicht mehr mit kaum übersehbarer ständischer Interessenvielfalt konfrontiert. Der Reichsverband organisierte sich nach den Spielregeln des konfessionellen Zeitalters in zwei Glaubensparteien, die der Politik der jeweils einflußreichsten, zugleich konservativen und reichstreuen Territorialherren folgten. Der Religionsfriede regelte dieses System in für beide Parteien akzeptabler Weise, als reichsrechtliche Existenzgrundlage für die protestantische, als politische Überlebensgarantie für die katholische Seite. Nach dem
31 Vgl. zu den Ergebnissen des Augsburger Reichstags und deren Bedeutung für die deutsche Geschichte Maximilian LanzinnerlDietmar Heil, Der Reichstag zu Augsburg 1566. Ergebnisse einer Edition, in: HZ 274,2002,603-632. 32 Zu den umfangreichen Druckschriften, die Maxi mi li an 1. auf den Reichstagen in Konstanz 1507 und Worms 1509 zur Rechtfertigung seiner Regierung und Beeinflussung der Stände vorlegte, vgl. Schubert, Reichstage (wie Anm. 5), 190f. 33 Vgl. zur Bewertung der Augsburger Ordnung Angermeier, Reichsreform (wie ~nm.. 12), 3~8-329; Lanzinner, Friedenssicherung (wie Anm. 30),511-513; und bezüghch Ihrer WIrkung auf die reichsständische Reichspolitik am Beispiel Bayerns Dietmar Heil, pie R~ichspolit.ik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550-1579). (Schnftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 61.) Göttingen 1998, 114-119.
Scheitern Karls V. ergab sich für dessen Nachfolger die Notwendigkeit und zugleich Möglichkeit, zwischen den Konfessionsparteien eine übergeordnete position zu finden. Sie wurden die - beinahe - überparteilichen Garanten des Religionsfriedens. Ihre reichspolitischen Ansprechpartner waren die auf Bewahrung der bestehenden Ordnung bedachten und somit auf Kooperation ausgerichteten Führungspersönlichkeiten beider Seiten: in erster Linie der Kurfürst von Sachsen und der Herzog von Bayern. Mit Dresden und München, aber auch mit anderen reichstreuen Fürsten stand die Reichsregierung in ständigem Inforrnationsaustausch. Häufige kaiserliche Gesandtschaften koordinierten eine Reichspolitik auf der Basis von 1555. Auch die kaiserliche Reichstagspolitik wurde so vorbereitet, ihre Erfolgsaussichten beträchtlich gesteigert. Auf den Reichstagen von 1556 bis 1582 vertrat Sachsen im Kurfürstenrat zugleich mit den eigenen die Interessen des Reichsoberhaupts; Kurbrandenburg zog meist mit. Die wenig zahlungsfreudigen, weilleistungsschwachen, und auch friedenspolitisch eher passiven geistlichen Kurfürsten lenkten ein, um die katholische Sache nicht gegenüber dem Reichsoberhaupt zu kompromittieren. Die konfessionelle Spaltung des Kmfürstenrats blieb reichstagspolitisch gleichwohl von untergeordneter Bedeutung. Statt dessen darf das durch konfessionelle Parität garantierte Gleichgewicht als strukturelle Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der ersten Kurie angesehen werden. Im Fürstenrat bedingte bereits die meist zuverlässige Teilnahme der vornehmsten Stände Österreich, Salzburg und Bayern an den Ausschüssen eine Vorentscheidung im Sinne kaiserlicher, aber auch reichstreuer Politik. Nicht nur die geistlichen, auch protestantische Stände schlossen sich häufig dem Votum dieser Phalanx an. Herzog Albrecht von Bayern etwa stellte mit einern in seiner Anwesenheit vorgetragenen umfangreichen Votum im Ausschuß die Weichen für den außerordentlich hohen Türkenhilfebeschluß von 1566. 34 Im Plenum des Fürstenrats wollte sich kaum ein Reichsstand - vor allem kein schutzbedürftiger geistlicher - unter den wachsamen Augen österreichischer Räte der Politik des Reichsoberhaupts in den Weg stellen. 35 Der Kaiser karn dafür dem Wunsch einer ständischen Mehrheit nach Ergänzung, Verfeinerung und Umsetzung der Augsburger Landfriedensordnung und nach Sicherung des Reichsfriedens entgegen. Stellungnahme Herzog Albrechts von Bayern zur Türkenhilfe; RTA-RV 1566, Nr. 225. Die Gesandten Bischof Friedrichs von Würzburg beabsichtigten eigentlich, sich auf dem Augsburger Reichstag 1566 der voraussichtlich niedrigeren Türkenhilfebewilligung des Kurfürstenrats anzuschließen, jedoch: "Sie derfften aber widder die ksl. Mt. in diesem vhal nit wol votieren, dan von wegen Ostereich sitzen vier kheiserliche rhete [... ] und schreiben alle vota auff. Soltte nun Wirzpurg sich widder ir Mt. publice legen, so derfft unß hingegen auch wol in der Grumbachischen execution sach gesagt werden, alles ungluk soltt unß an stat ir Mt. helffen etc"; Fürstenratsprotokoll, 27.3. 1566, RTA-RV 1566, Nr. 71, App. rn-rn. 34 35
Die verläßliche Umsetzung von Reichsbeschlüssen durch die Stände stellte noch zu Beginn des Jahrhunderts ein unlösbares Problem dar. Dem von Berthold von Henneberg, nach dessen Tod 1504 von Maximilian aufgebauten Gruppendruck auf dem Reichstag war der ohnehin gemessen am Reichsganzen relativ kleine Teilnehmerkreis nach der 'Rückkehr in die Territorien wieder entzogen. Die Beschlüsse, sofern sie nicht der Politik der Landesherren dienlich waren, wurden weitgehend ignoriert, insbesondere die Zahlungsmoral darf als miserabel bezeichnet werden. Der oft zitierte Reichsabschied von 1512 mit der Verpflichtung Abwesender auf Mehrheitsbeschlüsse des Reichstags 36 konstatierte eher die gegenteilige Verfassungs wirklichkeit, als daß er Abhilfe geschaffen hätte. Ein halbes Jahrhundert später war die Umsetzung der auf breitem politischen Konsens basierenden Reichstagsbeschlüsse weit weniger problematisch. Es bestand - abgesehen von Fragen der Religion - eine hohe Akzeptanz hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit auch für Dissentierende und Abwesende. Wo die von den einflußreichsten und zugleich reichstreuen Fürsten geführten Reichskreise funktionierten, trugen sie wesentlich zur Realisierung der Reichsgesetzgebung sowie auch zu deren Anpassung an regionale Gegebenheiten bei.
UI. Äußere Kommunikation des Reichstags Die insgesamt harmonisch verlaufenden Reichstage insbesondere in der Phase von 1559 bis 1570 blieben nicht ohne Folgen für das Reichsgefüge. Die Kommunikation auf Reichstagsebene überwand bis zu einern gewissen Grad das Regionalitätsprinzip und schuf mittel- und langfristige Bindungen zwische.~ über das ganze Reich verstreuten Herrschaftsträgern.3 7 Überhaupt war die Uberwindung des Raumes ein grundlegendes Problem des ausgedehnten frühneuzeitlichen Reichsverbandes und somit seiner zentralen Kommunikations- und Konsensstruktur. Auch die äußere Kommunikation des Reichstags ist um die bei den Begriffe Herrschaftssymbolik - auf die Selbstdarstellung des Reichstags in Druckerzeugnissen wurde bereits hingewiesen - und Information gelagert. Erneut ist eine Modernisierung vorn Beginn zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hin offensichtlich. Das Medium Druck diente - vereinzelt unter Maximilian 1. (1495 ein reichs städtisches Aktenprotokoll, die Reichsordnung von 1495, die Freiburger Weinordnung von 1498, die Reichsabschiede von 150038, 1501 36
Neue Sammlung (wie Anm. 23), Bd. 2, 137f. (Art. 7).
~7 Winfried Becker, Die Hanse und das Reich aus dem Blickwinkel der Kommunikation, m: Hans Pohl (Hrsg.), Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. (VSWG, Beih. 87.) Stuttgart 1989,90-115, hier 113f. 38 Laut freundlichem Hinweis von Herrn Prof. Peter Schmid (Regensburg), dem Bearbei-
und 1512, der Kölner Spruch von 1505, zunehmend auch Mandate an die Reichsstände)39, regelmäßig seit Karl v. 40 - der Verbreitung von Reichstagsschriftgut zu Informationszwecken. Allerdings setzte die Notwendigkeit der Geheimhaltung der Außenkommunikation Grenzen. Im ganzen 16. Jahrhundert blieben die Reichstagsakten ungedruckt. In den publizierten Reichsabschieden fehlen Zahlenangaben über die bewilligten Hilfen, da die äußeren Feinde über die Stärke der Reichskontingente im Unklaren bleiben sollten. Grundsätzlich erhöhte freilich die Möglichkeit der Verbreitung von Schriftgut in gedruckter Form die Effektivität des Reichstags im Hinblick auf die Umsetzung seiner Ergebnisse. Entschuldigten Reichsstände ihre Untätigkeit noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit dem Hinweis auf die Unkenntnis von Reichsbeschlüssen, so war dies fünfzig Jahre später nicht mehr möglich. Erst der Druck schuf die Voraussetzung für die jedenfalls im Grundsatz hergestellte Verpflichtung Abwesender auf die Gesetzgebung der Reichstage. Unter dem Aspekt der Modernisierung ist in einer weiteren Hinsicht eine Verändenmg der Außenkommunikation des Reichstags zu konstatieren. Das beinahe schlagartige Anschwellen der Korrespondenzen zu Beginn der zwanziger Jahre ist signifikant. Die Weisungen und Berichte nahmen nicht nur quantitativ zu, sondern wiesen auch einen erheblich höheren Informationsgehalt auf. Dies hing mit der Frage der öffentlichen Sicherheit zusammen. Im Reich der Wormser Ordnung von 1495 mußte eine Vielzahl umständlicher Strategien entwickelt werden, um die Ankunft wichtiger Schreiben beim Adressaten einigermaßen zu gewährleisten. Briefboten der Stadt Nürnberg nähten vertrauliche Berichte von Reichstagsgesandten in ihre Kleidung ein und führten lediglich Scheinbriefe offen mit sich. 41 Wichtige Schreiben wurden doppelt ausgefertigt und auf zwei verschiedenen Routen zum Bestimmungsort gebracht. Die Codierung von Briefinhalten reichte von der einfachen Ersetzung einzelner Begriffe, meist Personennamen, durch Symbole ter der Augsburger Reichstagsakten von 1500 (RTA-MR 7), sind die erhaltenen Drucke nicht einheitlich. Vermutlich wurden sie nicht vom König oder dem Mainzer Kanzler, sondern von einzelnen Ständen in Auftrag gegeben. 39 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das "Corpus recessuum Imperii", worin in mehreren Auflagen und Ausgaben seit 1501 Reichsgesetze und -abschiede im Druck publiziert wurden. Vgl. Schubert, Reichstage (wie Anm.5), 135f. Aulinger, Bild (w~e Anm. 8), 348, vermutet, daß die Drucklegung der Reichsabschiede als Grundlage für dIe Rechtsprechung der Reichsstände nach 1512 geregelt wurde. 40 Für die 19 Reichstage unter Karl V. sind 14 gedruckte Abschiede nachweisbar: 1521, 1526 (Speyer), 1529, 1530, 1532, 1541, 1542 (Nümberg und Speyer), 1?44, 154~, 1546, 1548, 1551 und 1555. Vgl. Verzeichnis der im deutschen SprachbereIch erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. Abt. 1, Bd. 17. Stuttgart 1991, 19-24 passim. Es fehlen 1522, 1524, 1526 (Augsburg), 1527 und 1543. Erst ab 1544 wurden alle Reichsabschiede von einer autorisierten Druckerei herausgebracht. 41 Bürgermeister und Rat der Stadt Nürnberg an Anton Tetzel und Willibald Pirckheimer, Kop. Nümberg, 10. 7. 1505; Staatsarchiv Nümberg, Reichsstadt Nümberg Briefbücher 54, fol. 446-449.
oder Decknamen42 bis zur Verschlüsselung des gesamten Textes mittels Geheimschriften. Gleichwohl wurde mit dem Verlust von Korrespondenz und dem Bekanntwerden vertraulicher Informationen gerechnet. 43 Der Hinweis auf das Datum des letzten empfangenen, mitunter auch des letzten eigenen Schreibens diente dazu, wenigstens KenntIiis von Verlusten zu erlangen. Insgesamt waren brisante Informationen - wie es zeitgenössisch hieß - "der Feder nicht zu vertrauen". Dieser Umstand erschwerte grundsätzlich die Koordination zwischen den Reichstagsgesandten und den schlecht informierten Obrigkeiten zu Hause. Für die Fürsten war es abgesehen von der Reputation deshalb oft genug aus Gründen politischer Effektivität unumgänglich, persönlich auf Reichstagen zu erscheinen. Die Städtegesandten nahmen Beschlüsse wohl auch wegen dieser Kommunikationsprobleme häufig auf "Hintersichbringen" , also auf mündliche Berichterstattung an ihre Magistrate an. Die wachsende innere Sicherheit in den Territorien und das Funktionieren der Reichsfriedensordnung von 1555 bedingten das Ende dieser Mißstände. Verluste von Korrespondenzen waren jetzt eher der Unzuverlässigkeit einzelner Boten zuzuschreiben. Die Geschwindigkeit der Informationsübertragung zwischen Reichstag und Reichsständen nahm durch die allmähliche Einführung von Stafetten und teilweise auch schon durch die Einrichtung wenigstens temporärer Postlinien (etwa des Landsberger Bundes 44 ) zu. Umfang und Informationsgehalt von Weisungen und Berichten stiegen erheblich an. Erforderte die Verrechtlichung des Staatswesens "Heiliges Römisches Reich" den Einsatz juristisch gebildeter Räte bei den Reichstagsverhandlungen, so schuf die verbesserte Außenkommunikation eine wesentliche Voraussetzung für das Fernbleiben der Fürsten und die Entwicklung zum professionellen Gesandtenreichstag .
In der Korrespondenz des Nürnberger Magistrats mit seinen Gesandten zum Kölner Reichstag 1505 beispielsweise ist ein Teil der Personennamen durch Vogelnamen ersetzt: "Pfau" steht für Markgraf Friedrich von Brandenburg-Ansbach, "Blaufuß" für Kurfürst Philipp von der Pfalz usw.; Emil Reicke, Ein Schlüssel zur diplomatischen Geheimsprache des Nürnberger Rats, in: Jahresberichte des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 51, 1928,333-341, hier 336. Dieses System war bis weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein in der städtischen Korrespondenz üblich. 43 In Kriegszeiten wurde verschiedentlich die erhöhte Unsicherheit der Verkehrsverbindungen sogar genutzt, um gezielt Falschmeldungen abzusetzen (zum Beispiel Schreiben Kurfürst Philipps von der Pfalz an seinen Sohn Rupprecht vom 24. Mai 1504 mit der unzutreffenden Ankündigung einer Verstärkung der kurpfälzischen Truppen durch 3000 eidgenössische Söldner, während des Landshuter Erbfolgekriegs von Gefolgsleuten Herzog Albrechts IV. von Bayern-München abgefangen; HStAM, Kurbayern Äußeres Archiv 1226, nach fo1. 161, 162-162', 170-170'). 44 Winfried Mogge, Nürnberg und der Landsberger Bund (1556-1598). Ein Beitrag zur Geschichte des konfessionellen Zeitalters. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 18.) Nürnberg 1976,400-414. 42
IV. Resümee Ohne die Bedeutung der Phase zwischen 1486 und 1495 für die Ausprägung des Reichstags relativieren zu wollen, was seine Effizienz als Kommunikations- und Konsensstruktur des Reiches angeht, bestätigt sich der erste Eindruck von der noch ausgeprägten "Mittelalterlichkeit" der Reichstage Maximilians 1. und der frühneuzeitlichen "Modernität" der Reichstage seiner Nachfolger, allerdings mit Einschränkung für die Zeit Karls V. Die inneren Kommunikationsstrukturen wurden mit der gewohnheitsrechtlichen Einübung und dem Ausbau der Geschäftsordnung wesentlich verfeinert und an die sozialen Gegebenheiten und politischen Erfordernisse des Reichsverbands angepaßt. Infolge der Anordnung der Stände in zwei konfessions-, nicht aber notwendig reichspolitisch getrennte Lager entwickelte sich ausgehend von der Augsburger Ordnung von 1555 auf den Reichstagen bis 1582 eine politische Kommunikationsstruktur, die Voraussetzung war für die Effektivität des Reichstags als Konsensstruktur. Anders als noch zu Zeiten Maximilians 1. erfaßte der Reichstag in seiner personellen Zusammensetzung wie in seiner Wirkung das gesamte Reich. Eine Voraussetzung war die seit Karl V. auch nachhaltig genutzte Möglichkeit zur Verbreitung von Reichstagsschriftgut im Druck. Die Kommunikationsstruktur Reichstag selbst verharrte allerdings notwendigerweise in Mü~dlichkeit und Handschriftlichkeit bei Tendenz zur Verschriftlichung. Diese wurde mit Hinblick auf die innere Kommunikation des Reichstags notwendig infolge der Verrechtlichung der Reichsordnung und mit Hinblick auf seine Außenkommunikation möglich durch die sicherer und auch schneller gewordene Informationsübermittlung über weite Strecken. Eine Kommunikationsrevolution ist für den Reichstag des 16. Jahrhunderts sicher nicht zu konstatieren, seine Modernisierung als Kommunikationsstruktur ist zugleich aber unbestreitbar.
Die Pest in der Stadt des Reichstags Die Regensburger "Contagion" von 1713/14 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive Von
Christine Werkstetter I. "eine ansteckende, der Pest nicht ungleiche Kranckheit" Am 3. August 1713 sah sich der Regensburger Magistrat genötigt, die Reichstagsgesandtschaften offiziell über in der Stadt aufgetretene Krankheitsfälle zu informieren, bei denen sich "an eines und andern Leibern bubones geeußert". Er erklärte, daß man seit vier Wochen von derartigen Erkrankungen wisse und daß man die Kranken sofort separiert und in das Lazarett außerhalb der Stadt gebracht habe. Von 42 erkrankten Personen waren zu diesem Zeitpunkt bereits 27 verstorben. Die Einschätzung, daß "der Zeit keine Gefahr obhanden, wie dann in der Stadt bey Gott lob! frischer und gesunder Lufft so wenig unter vornehmen Persohnen noch der Burgerschafft oder anderen Inwohneren an diesem malo iemand erkranket, und unter der Sorte derer geringsten Leuthe seithero auch kein weiterer umbgriff geschehen"l, sollte sich jedoch als Fehleinschätzung erweisen: die 27 Toten waren erst der Anfang. Die Zahl der Todesopfer stieg bis Ende September langsam an, erreichte im OktoberlNovember mit wöchentlich mehreren hundert Todesfällen einen dramatischen Höhepunkt und sank dann bis Januar 1714 wieder gegen Null. Insgesamt starben fast 8000 Menschen - und damit mehr als ein Drittel der Einwohner der Stadt - an dieser Epidemie 2 , die Mitte August 1713 auch den Reichstag veranlaßte, seine Verlegung nach Augsburg zu beschließen. Nach der Abreise der Gesandtschaften wurde über die bereits teilweise ,bannisierte' Stadt eine völlige 1 Stadtarchiv Augsburg [im folgenden: StadtAA], Reichstagsakten, Nr. 392, Pro memori~ loco einer affentlichen Uhrkund der Stadt Regensburg ddto. 3. Aug. 1713 die grassierende Contagion betr. 2 Zu den Sterblichkeitsverhältnissen vgl. Heinrich Schöppler, Die Geschichte der Pest zu Regensburg. München 1914, 171-178. Schöppler, Stabsarzt der bayerischen Armee, dessen Studie wohl bislang die umfassendste Arbeit über die Regensburger Pest ist und die auch - im Gegensatz zu manch anderen Beiträgen - nie ins Anekdotische abrutscht, vergleicht hier nicht nur kritisch die Angaben unterschiedlicher Chronisten, sondern überprüft diese auch an den Quellen. Zu den Einwohnerzahlen vgl. Alois Schmid, Regensburg. Reichsstadt - Fürstbischof - Reichsstift - Herzogshof. (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, H. 60.) München 1995, 122.
Sperre verhängt, die bis Anfang Mai 1714 andauerte. Der Reichstag kehrte erst im folgenden September wieder zurück. In den Quellen zu dieser ,Pest' der Jahre 1713/14, die keineswegs Regensburg allein heimsuchte und daher auch zu kontextualisieren sein wird, begegnen uns verschiedene Begliffe für die hih thematisierten "verdächtigen Krankheiten", wie etwa "ansteckende Seuchen und Krankheiten", "gefährliche contagiose Zeiten und Läufte" , "pestilenzische Seuche", "Contagion", "Pest". Diese Begriffsvielfalt hatte einerseits wohl mit der Schwierigkeit von klaren Diagnosen zu tun3 , andererseits aber auch mit den einer solchen Diagnose folgenden Konsequenzen. Die Angst vor der Seuche schürte Gerüchte, die Sorge vor wirtschaftlichem Niedergang führte zu Verheimlichungsversuchen. Eine planvolle und offene Kommunikation über das Auftreten der Pest scheint meist nur so lange stattgefunden zu haben, bis man selbst betroffen war und dazu überging, nun ebenfalls zu verschleiern und zu verharmlosen. Pestprävention und Pestbekämpfung waren ein gemeinsames und überlebensnotwendiges Anliegen aller Menschen, die Bedrohung löste - wie sichtbar werden wird - Interessenkonflikte aber nicht zwangsläufig auf. Die Pest wurde - wie Kriege, Mißernten und Viehseuchen· - auch im 18. Jahrhundert noch als ,gestus dei' wahrgenommen, als Eingriff Gottes, als Strafgelicht über die sündhafte Welt. 4 Dieses göttliche Eingreifen bewies den Zeitgenossen - so eine Interpretation Hermann Wellenreuthers -, "daß Gott
3 Die Diskussion, die die ,Identität' der Pest als Krankheit in Frage stellt, kann hier nicht geführt werden. Vgl. hierzu zum Beispiel Annemarie Kinzelbach, Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500-1700. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beih. 8.) Stuttgart 1995,134-165. Kinzelbach zeigt an Überlinger und Ulmer Quellen, daß der Begriff "Contagion" erst ab 1680 Verwendung fand und dies in obrigkeitlichen Quellen (ebd. 158). Die "Vorstellung, daß Krankheiten durch Personen und Dinge übertragen werden konnten, [dagegen existierte] bereits lange bevor der Ausdruck ,Contagion' verwendet wurde" (ebd. 165). 4 Wenn hier auch nur auf Kriege, Mißernten und Viehseuchen bezogen, bringt die folgende, ein Kreispatent des Schwäbischen Kreises einleitende Passage diese Wahrnehmung besonders drastisch zum Ausdruck: "NAchdeme durch deß großen GOttes gerechten Gericht I und um die im argen ligende Welt I wegen der im Schwang gehenden greulichen Sünden=Menge I und überhäufften Lastern I zu straffen I nebst denen bereits verhengten schweren Straff=Gerichten deß Land=verderblichen Kriegs=Wesen und leidigen Mißwachses I nunmehro auch die dritte Land=Plage der ansteckenden Vieh=Seuche hin und wieder mit hefftiger Wuth außgebrochen I also auß allen diesen schwehren Straffen handgreifflich vorleuchtet I daß der I ab denen greulichen Sünden erbrannte Zorn GOttes mit schwehrer Hand die Boßheit dieser Welt unterdrücken und straffen wolle." StadtAA, Kreisakten des Schwäbischen Kreises [im folgenden: Kreisakten], Nr. 159, Kreispatent des Schwäbischen Kreises vom 9;11. 1712. Zu dieser Thematik vgl. auch Matthias Asche! Anton Schindling (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Beiträge aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit". Münster 2001.
noch nicht aufgehört hatte, mit den Menschen zu kommunizieren".5 Ein Teil des vielschichtigen ,Kommunikationsprogrammes der Pest' richtete sich daher an den Himmel, um göttliche Gnade zu erwirken, andere Teile dagegen konzentrierten sich auf die irdische Ebene. 6 Ausschließlich letztere sollen hier thematisiert werden. Anders als Malia Barbara Rößner-Richarz, die am Beispiel Kölns Krankheit in der innerstädtischen Kommunikation untersucht hat7, und breiter als Carolin Porzelt, die in ihrer Studie über die Pest in Nürnberg auch erstmals die diesbezügliche Zusammenarbeit der Stadt mit dem Fränkischen Reichskreis einbezogen hat8 , möchte ich im vorliegenden Beitrag versuchen, die auf die Seuche und deren Bekämpfung ausgerichtete Kommunikation zwischen der Reichstagsstadt Regensburg, dem Reichstag, den Nachbarständen und den Reichskreisen nachzuvollziehen und deren jeweilige Intentionen zu eruieren. Ziel ist es, über diese - im landläufigen Begriffssinn lokalen, regionalen und überregionalen - Verständigungsprozesse den, Kommunikationsraum Region und Reich' nachzuzeichnen und die Aktivitäten von Reichsinstitutionen in einem solchen Krisenfall sowie eine eventuelle Arbeitsteilung zwischen diesen zu erschließen. Die überwiegende Benutzung von Augsburger Quellen, seien es die Reichstagsakten, die Akten des Schwäbischen Kreises oder die Städtekorrespondenz, hat keineswegs nur arbeits ökonomische Gründe, sondern zielt auch darauf, die aus verschiedenen Kommunikationszusammenhängen an einem Ort einlaufenden und für diesen Ort gedachten Informationen
Hermann Wellenreuther, Einführung: Gedanken zum Zusammenhang von Kommunikation und Wissen im 17. Jahrhundert, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hrsg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 152.) Göttingen 1999, 311-318, hier 314f. In diesem Kontext ist auch auf den Prodigienglauben zu verweisen, vgl. hierzu Benigna von Krusenstjern, Prodigienglaube und Dreißigjähriger Krieg, in: Lehmann/Trepp (Hrsg.), Im Zeichen der Krise (wie Anm. 5), 53-78. 6 Zu ersterem vgl. Otto Ulbricht, Gelebter Glaube in Pestwellen 1580-1720, in: Lehmannl Trepp (Hrsg.), Im Zeichen der Krise (wie Anm. 5), 159-188, sowie Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800. Frankfurt am MainiBerlin 1992,462. 7 Vgl. Maria Barbara Rößner-Richarz, Krankheit in der Kommunikation einer frühneuzeitlichen Stadt am Beispiel Kölns, in: Georg Mölich/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Köln als. Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. (Der Riss im Himmel, Bd. 4.) Köln 2000, 337-364. Auch der Beitrag von Volker Gaul, Kommunikation zur Zeit der Pest. Das Herzogtum Holstein-Gottorf in den Jahren 1709-1713, in: Otto Ulbricht (Hrsg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit. KölnlWeimar/Wien 2004, 258-294, beschäftigt sich mit der "Krisenkommunikation zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen" (258), nicht dagegen mit der nach außen gerichteten Kommunikation. Der jüngst erschienene Sammelband Ulbrichts kann im ganzen leider nur noch angeführt, nicht mehr rezipiert werden. 8 Vgl. Carolin Porzelt, Die Pest in Nümberg. Leben und Herrschen in Pestzeiten in der Reichsstadt Nümberg (1562-1713). (Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte, Bd. 7.) St. Ottilien 2000.
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vergleichen zu können. Der zeitliche Rahmen meiner Untersuchung erfaßt deshalb auch im wesentlichen die Anfangsphase der Pest bis zur Verlegung des Reichstags nach Augsburg Ende August 1713.
H. Angst vor Verruf und Bannisierung contra Sorge um institutionelle Funktionsfähigkeit: Reichsstadt und Reichstag Nachdem die 1690er Jahre relativ, epidemiefrei ' gewesen waren, breitete sich die ,Pest' nach der Jahrhundertwende und besonders ab 1709 wieder stark aus: in Polen, in der Ukraine, in Litauen, in Böhmen und in Ungarn, aber auch in zahlreichen norddeutschen Städten, wie Bremen und Hamburg, in Schleswig und Holstein, in Dänemark, in Preußen und der Mark Brandenburg.9 Lange bevor über das Auftreten der Pest in Regensburg selbst gesprochen wurde, war sie bereits Thema in der Stadt, am Reichstag und in den Reichstagskorrespondenzen, und ab Anfang April 1713 verdichteten sich die Gerüchte, "als ob zu Wien die Leute häuffig sterben und deswegen daselbsten die Schulen ge sperret auch die Fastenpredigten verbotten worden".1 0 Die Logik der in der Folgezeit praktizierten Informationspolitik erschließt sich erst, wenn die spezifischen Rollen und Funktionen der Beteiligten genau betrachtet werden: Wien mußte - wie kurze Zeit später Regensburg - zwar daran gelegen sein, die auftretende Pest zu bekämpfen, zugleich aber auch den Ruf der eigenen ,Reinheit' aufrechtzuerhalten. Im Falle Wiens war dies insofern von besonderer Bedeutung, als sich das Reich im Krieg befand und Karl VI. die in Utrecht stattfindenden Friedensverhandlungen ablehnte und nicht geschwächt wirken durfte. Den Reichstagsgesandten ihrerseits mußte an einem nicht pestgefährdeten Sitzungsort gelegen sein, was wiederum den Regensburger Magistrat veranlaßte, die Pestgefahr kleinzureden, weil die Verlegung des Reichstags enorme wirtschaftliche Einbußen befürchten ließ und zudem die Lage der Stadt offenbart hätte. Wie war die Lage in Wien, und welche Nachrichten erreichten Regensburg? Johann Hellwig Elenbrecht, ein vom evangelischen Ratsteil Augsburgs beauftragter Gesandtschaftskanzlist, berichtete am 25. April 1713 aus Regensburg nach Augsburg, daß in Wien das "Geschrey von der Contagion [... ] 9 V gl. hierzu zum Beispiel Manfred Vasold, Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991, 166-171. 10 StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 4. 4. 1713. Zur Pest in Wien vgl. aus der Fülle der Literatur HUde Schmölzer, Die Pest in Wien. "Deß wütenden Todts Ein umbständig Beschreibung ... ". Wien 1985. Wie viele Opfer die Wiener Epidemie forderte, ist umstritten, neuere Berechnungen gehen jedoch von ca. 2500 Toten aus. Vgl. hierzu ebd. 179.
aufs neue wieder an[fänget]" und zahlreiche Personen "ohnerachtet alles besorgenden aufenthalts und Contumaz in Mähren, Böhmen und Schle~ien" abreisen würden. Der Kaiser wolle sich in den nächsten Tagen von WIen nach Laxenburg begeben, der kaiserliche Hofmarschall habe aber "denen fremden Ministris zu Wien zuerkennen gegeben, Ihre Kay. May. hoffeten dieselben wurden continuiren vor wie nach den Hoff zu frequentiren, schienen aber gerne zusehen, wenn Sie nicht in der Stadt blieben, sondern ihrer eigenen Bequemlichkeit Halber sich auf dem Lande zu denen benachbarten o~then .auf eine Zeitlang logirten und wann Sie nach Laxenburg kämen, keme vIel~ Bediente mitbrächten".l1 Das nächste Schreiben Elenbrechts vom 2. Mar 1713 suggerierte jedoch bereits wieder eine gewisse Entspannung der Lage: Laut denen Wiener Brieffen, soll das sterben immer mehr und mehr abneh~en", weshalb die fremden Gesandten auch in der Stadt wohnen bleiben sollten. Das Bemühen, auf der politischen Bühne ,Normalität' zu zeigen, spiegelt sich darin, daß die Sitzungen des Reichshofrates und der Hofkammer - so Elenbrechts Bericht - weiterhin in Wien stattfinden und der Reichsvizekanzler sowie der Kammerpräsident zweimal wöchentlich in die Stadt kommen sollten, um die Gutachten der politischen Gremien abzuholen und dem Kaiser zu überbringen. Auch von wirtschaftlichen Konsequenzen des Seuchenverdachtes war die Rede: "Unterdeßen empfinden I. Kay. May. billig in höchsten ungnaden, daß durch gewiße interessirte Personen das geschr~y ~on der. Contagion ohne Grund dergestallten vergrößert, folgI. ihren AerarlO em unwIed~r bringlicher schaden zugefügt worden wie dann insonderheit solcher Welss dem WechselHandel ein nicht geringer anstoß gegeben, indem die Kauffleuthe in den entfernten vornehmsten Handels=Städten sich scheuen große Wechsel dahin zu übermachen, ehe Sie nicht wißen ob Ihre dasige Correspondenten noch im Leben, oder nicht aus Furcht vor der Pest, davon gelauffen sind."12 Im Bericht vom 9. Mai stellte sich die Lage dann wieder dramatischer dar: der gesamte kaiserliche Hofstaat habe nunmehr Wien verlassen, und es sei zu befürchten, daß das Collegium Sanitatis die Stadt ganz sperren würde. 13 Am 16. Mai wurde wiederum Gegenteiliges gemeldet, nämlich daß in Wien die "Contagion [... ] je länger je mehr" abnehme und kein Zweifel sei, "daß von anfang biß jetzt matic und interesse /: wo nicht gar intriguen umb die Kay.
11 StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 25. 4. ~ 71~. ~ie Identifizierung Elenbrechts als Verfasser der Korrespondenz gelang Susa~ne Fnednch 1m Kontext ihrer Forschungen zum Immerwährenden Reichstag als InformatlOnszentrum. Elenb:echt war an sich Kanzlist von Braunschweig-Celle; im November 1713 wurde e: als Legat~o~s sekretär Braunschweig-Calenbergs und Grubenhagens bezeichnet. Für ?lese und em~ge weitere wichtige Hinweise sowie für die kritische Lektüre djeses Beitrags danke Ich Susanne Friedrich. 12 StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 2.5. 1713. 13 Ebd., Relationsschreiben vom 9.5. 1713.
Financen zu ruiniren, wie ein vornehmer Kay. Minister diesen argwohn zu haben bezeiget :/ dabey mit unterlauffen".14 Am Reichstag, wo diese sicher nicht leicht zu bewertenden wechselnden Informationen eingelaufen waren und von dort über die Reichstagskorrespondenten weitergegeben wurden, reagierte man recht zögerlich. Zwar wurde schon am 4. April darüber gesprochen, den Regensburger Magistrat wegen der von Wien kommenden Fremden zu Vorsichtsmaßnahmen zu ermahnen, man wollte sich dann aber doch zuerst mit dem Prinzipalkommissar, dem Vertreter des Kaisers, besprechen. 15 Auch der am 22. Mai von der kurmainzisehen Kanzlei eingebrachte Vorschlag, einen Reichsschluß zu fassen, der für den Einlaß von Fremden in die Stadt ein Gesundheitszeugnis oder die Quarantäne fordern, fremden Juden einen längeren Aufenthalt verbieten und die Einfuhr von Wolle und Federn untersagen sollte, lief zunächst ins Leere. 16 Am 13. Juni gab Elenbrecht die Nachricht nach Augsburg weiter, daß das Wiener Collegium Sanitatis bei einer vom Kaiser angeordneten Visitation festgestellt hätte, daß von den insgesamt 150 untersuchten Kranken viele mit "ordinairen Kranckheiten behafftet, jedoch gleichwohl einige sich darunter befunden, welche würcklich Bubones und eine ansteckende der Pest nicht ungleiche Kranckheit gehabt hätten".17 Dennoch dauerte es noch bis zum 25. Juli, also noch fast sechs Wochen, bis der Regensburger Magistrat "von seiten des Reichs-Convents" aufgefordert wurde, strenge Paßkontrollen durchzuführen, die Gassen zu kontrollieren und Bettler auszuweisen. Der gleichzeitige Beschluß, einige Zeit keine Sitzungen abzuhalten, "weilen vorietzo keine nothwendige und wichtige materie alhier vorhanden", scheint darauf hinzuweisen, daß es bei den Gesandten erste Zweifel an der eigenen Sicherheit gab. 18 War es aber tatsächlich notwendig, beim Magistrat Vorsichtsmaßnahmen anzumahnen? Offenbar ja. Der zur im August eingesetzten vereidigten Visitationsdeputation gehörende Regensburger Johann ChristofBuzinger jedenfalls beklagte in seinen Aufzeichnungen, daß der Magistrat keine Vorsichtsmaßnahmen gegen die mit den Schiffen aus Wien kommende Pestgefahr ergriffen habe, so daß die Krankheit "gleich anfangs July hie und da" in Regensburg ausgebrochen sei. 19 Entsprechend fand Heinrich Schöppler im Rahmen seiner medizingeEbd., Relationsschreiben vom 16. 5.1713. Vgl. ebd., Relationsschreiben vom 4.4. 1713. Vgl. ebd., Relationsschreiben vom 23.5. 1713. Ebd., Relationsschreiben vom 13. 6. 1713. Ebd., Relationsschreiben vom 25.7.1713. Zitiert nach Schöppler, Geschichte der Pest (wie Anm. 2), 32. Seine Zugehörigkeit zur Deputation wird in den Visitationsprotokollen, die er neben anderen unterschrieb, sichtbar. Vgl. zum Beispiel StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Beilage 2 zum Relationsschreiben vom 15. 8. 1713. Zum Linienschiffsverkehr zwischen Wien und Regensburg seit 1696 und schließlich Wien und Ulm seit 1712 vgl. Michael North, Kommunikation, Handel, Geld 14
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schichtlichen Forschungen in den reichsstädtischen Quellen auch "keinerlei Beschlüsse in dieser Hinsicht, während dieselben in den Jahren der vorhergehenden Jahrhunderte [... ] recht zahlreich waren".20 Dagegen traten nach Gumpelzhaimer in Regensburg bereits Anfang Januar "ansteckende Krankheiten" auf, deretwegen "öffentliche Gebethe in den Kirchen beider Confessionen angestellt und von dem Magistrat die besten Anordnungen getroffen [wurden], um die Verbreitung zu steuern"; ihm zufolge beschloß der Magistrat am 27. April, den Prinzipalkommissar und das Reichsdirektorium sowie Linz, Passau und Innsbruck und weitere Städte zu informieren. 21 In der Reichstagskorrespondenz finden sich weder Hinweise auf einen so frühen Zeitpunkt des Auftretens der Pest noch auf von der Stadt getroffene Vorsichtsmaßnahmen, wie dies später der Fall war. Als es in Regensburg keineswegs mehr um bloße Seuchenprävention ging, unterschied sich die reichs städtische Informationspolitik kaum von der Wiens. Zwar informierte der Magistrat, wie einleitend zitiert, am 3. August den Reichstag darüber, daß seit vier Wochen - also etwa seit Anfang Juli Kranke, die "Bubones" aufwiesen, im Lazarett außerhalb der Stadt versorgt würden und daß bereits 27 Menschen verstorben seien, fügte aber verharmlosend an, daß man vom "malheur der ohnverschuldeten blamirung und falschen ausgesprengs einer hiesig allgemeinen infection schmertzlichst affligiret" sei, und bat, "solchem Ungrund keinen glauben zuzustellen". Von der Krankheit betroffen seien einige arme Leute, "die nicht allein ein unsauberlieh Haußwesen geführet, sondern auch wenig zu leben und über das [... ] mit dem jenigen juden volk so kurtz vorhero zu Waßer von Wien anhero gekommen, jedoch nicht eingelaßen worden, einigen umbgang gehabt".22 Ob manwie hier dargestellt - den Juden, wie dies zahlreiche Pestordnungen quer durch die Jahrhunderte forderten, tatsächlich den Zugang zur Stadt verweigert oder - wie Buzinger kritisierte und der Befund Schöpplers vermuten läßt keinerlei Maßnahmen getroffen hatte, muß offenbleiben. Von der die vorhandene Gefahr nahezu negierenden Berichterstattung des Magistrates bis zum Beschluß der Reichstagsverlegung vergingen dann lediglich 15 Tage. Am 6. August faßte die Reichsversammlung einen Reichsschluß, der insbesondere hinsichtlich der Reichweite einer gesundheitspolitischen Maßnahme des Reichstags interessant ist: Zwar enthält die einleitende" Passage eine breite Zweckbestimmung - Schutz der benachbarten Reichsund Banken in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 59.) München 2000,9. 20 Schöppler, Geschichte der Pest (wie Anm. 2), 45. 21 Christian Gottlieb Gumpelzhaimer, Regensburg's Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten. Abt. 3 (1618 bis 1790). Regensburg 1838, 1527. 22 StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Anlage zum Relationsschreiben vom 8. 8. 1713.
kreise und Lande, Verhütung einer Gefährdung des Reichskriegs mit Frankreich durch eine mögliche Seuche unter den Soldaten, Sicherung der Winterquartiere etc. 23 -, wirklich umfassende und großräumige, der Verbreitung der "Contagion" zu dieser Zeit entsprechende .Maßnahmen wurden jedoch nicht getroffen. Die im Reichsschluß verordneten'Maßnahmen reichten keineswegs über die üblicherweise von betroffenen Territorien ergriffenen hinaus. So sollten von verdächtigen oder infizierten Orten kommende Personen und Waren nur nach einer streng kontrollierten sechswöchigen Quarantäne in die Stadt gelassen werden; eine vereidigte Deputation sollte in ausnahmslos allen Häusern Visitationen durchführen und die Separierung und Pflege der verdächtigen Kranken organisieren sowie dem Reichstag täglich Bericht erstatten. Selbst der Passus, daß man die kaiserliche Administration in Bayern bitten wolle, seine Grenzen zur Eindämmung der Krankheiten ebenfalls zu schützen, reicht nicht wirklich über die üblichen Maßnahmen hinaus. 24 Die Intention der Reichsversammlung nach dem Auftreten der , verdächtigen' Krankheiten am eigenen Sitzungsort ging einerseits deutlich in Richtung Selbstschutz - was sich in der Anordnung und Kontrolle von örtlichen Schutzmaßnahmen zeigt -, beinhaltete andererseits aber auch einen Akt der Distanzierung von der ,erkrankten Stadt' - ,wir erinnern euch zu tun' -, wie überhaupt die Reichsstadt als Befehlsempfängerin erscheint. Letzteres wird insbesondere in der Antwort des Magistrates auf ein neuerliches, zehn Punkte umfassendes "Pro memoria" des Reichstags an die Stadt - das wiederum nur lokale Maßnahmen forderte - sichtbar, in der an einigen Stellen eine gewisse Ungehaltenheit und auch die Zurückweisung einiger ,Ratschläge' unübersehbar ist. 25 In dieser Phase begann nun eine regelmäßige Kommunikation zwischen der Stadt und dem Reichstag, die auch dann nicht abbrach, als der Reichstag Regensburg verlassen hatte und in Augsburg tagte. Am 14. August, also eine Woche nachdem erstmals konkrete Maßnahmen angeordnet worden waren, meldete der erste, auf umfangreichen, schriftlich vorgelegten Berichten über Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Wachten beruhende Visitations-
Johann Joseph Pachner von Eggenstorff, Vollständige Sammlung aller von Anfang des noch fürwährenden Teutschen Reichs-Tags de Anno 1663 biß anhero abgefaßten ReichsSchlüsse. Ndr. der Ausgabe Regensburg 1740. Mit einem Vorw. hrsg. v. Karl Otmar Freiherr von Aretin u. Johannes Burkhardt. T. 1-4. Hildesheim/Zürich/New York 1996, hier T. 3, Nr. 186,551. 24 Vgl. ebd. Nr. 398, 551 f. 25 Zum Memorial, das zum Beispiel forderte, daß der Magistrat die Preise so zu steuern habe, daß die Bedürftigen sich mit Lebensmitteln versorgen könnten, oder daß ein Arzt benannt werden sollte, der nur gewöhnlich Erkrankte versorgen würde, vgl. StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Beilage 6 zum Relationsschreiben vom 22.8. 1713. Zur Antwort des Magistrates siehe ebd., Beilage 7 zum Relationsschreiben vom 22. 8. 1713, verfaßt arn 17. 8. 1713. 23
bericht, der an die Reichsversammlung gerichtet war und auf offiziellem Weg an die Reichstagskorrespondenten weitergegeben wurde, insgesamt 66 Todesfälle. 26 Schon vier Tage später einigten sich die drei Reichskollegien darauf, "so lang bis ob gedachte Krankheiten aufgehöret zu haben die Sicherheit seye" den Reichstag nach Augsburg zu verlegen, wofür sie nach nur zwei Tagen am 20. August die Zustimmung des Kaisers erhielten. 27 Während ein Teil der Gesandten mit der Abreise noch warten wollte, drängten andere auf eine schnelle Verlegung. Am 23. August wurde den Gesandten die Abreise freigestellt und zugleich darauf verwiesen, daß bei längerem Warten zu befürchten sei, "von hier nicht mehr abreisen zu können, noch anderwärts mehr eingelassen zu werden".28 Man war sich also der Zumutung bewußt, die die Niederlassung einer so großen, aus einer , inficirten' Stadt kommenden Gruppe bedeutete. Wie stellte sich Augsburg diesem Ansinnen, wann und wie wurde die Stadt informiert? "Wegen noch anhaltender gefährlichen Zeiten, so wohl deß Kriegs: alß contagion halben" hatte der Augsburger Magistrat am 12. August 1713 Sicherheitsmaßnahmen veranlaßt, die sich sowohl auf das soziale Leben in der Stadt als auch auf die Einreise in die Stadt bezogen. Das "Tanzen und Spielleüt halten" wurde ausschließlich auf Hochzeiten beschränkt, und den Torwachen wurde aufgetragen, "niemand frembden, wer derselbe auch seyn möchte, in die Statt herein zulaßßen, Er habe dann vorhero eine beglaubte authentische Fede und attestation under dem Thor aufgelegt, daß Er innerhalb 6. Wochen sich an keinem von contagiosen Seüchen verdächtigen Ort aufgehalten". Jegliche Zweifelsfälle sollten dem Collegium Sanitatis gemeldet werden. 29 Da "man sichere nachricht erhalten" hatte, daß in Wien "eine ansteckende Seuche starck grassiere" und "auch in deß Heyl. Reichs Statt Regenspurg es nicht mehr allerdings rein seye", ordnete der Magistrat zehn Tage später, am 22. August, an, daß niemand aus diesen beiden Städten, "weß Stands und Condition Er auch seyn mag", in die Stadt dürfe, "Sie hätten dann vorhero außßer derselben, 14. taglang contumaciam gemacht" und dafür auch 26 Vgl. ebd., Beilage 1 zum Relationsschreiben vom 15.8. 1713, Communicatum per Mogantinum den 14. 8. 1713. Regensburg war - ursprünglich zu Verteidigungszwecken in acht Viertel, sogenannte Wachten, eingeteilt, die jeweils über ein eigenes Wachtamt ver-. fügten. Innerhalb der Wachten übten Rottmeister die Kontrolle über jeweils etwa 10 Häuser, eine sogenannte Rotte, aus. V gl. hierzu Nikolaus Braun/Jürgen Nemitz, Zwischen Fürsorge und Kontrolle. Rat und öffentliche Ordnung, in: Lothar KolmerlFritz Wiedemann (Hrsg.), Regensburg. Historische Bilder einer Reichsstadt. Regensburg 1994, 172-191, hier 173, 185. Diese Organisationsstruktur wurde auch für die Visitationen während der Pest genutzt, indem die Wachten jeweils bestimmten Mitgliedern der vereidigten Deputation zugeteilt wurden. 27 Vgl. Pachner von Eggenstorff, Sammlung (wie Anm. 23), T. 3, Nr. 400, 552f. 28 Ebd. Nr. 402, 553 f. V gl. auch StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Beilage 1 zum Relationsschreiben vom 29.8.1713. 29 StadtAA, Reichsstadt, Ratsbücher, Nr. 90, 1234-1235, 12. 8. 1713.
einen Beleg. Diese Bestimmung galt auch für jedwede Güter aus Wien und Regensburg. 30 Obgleich schon am nächsten Tag, dem 23. August, in Regensburg den Reichstagsgesandtschaften die Abreise nach Augsburg freigestellt wurde, wußte man in Augsburg zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der bereits beschlossenen Reichstagsverlegung. Der wöchentliche Bericht des Kanzlisten Elenbrecht wurde erst am 29. August abgeschickt. Gleichwohl erfahren wir aus diesem Bericht das weitere Procedere. Nachdem am Mittwoch, dem 23. August, die Interimsverlegung definitiv festgesetzt worden war, entsandte der Prinzipalkommissar einen Kurier nach Augsburg, dessen Nachricht man zwar am Stadttor entgegennahm, der selbst jedoch nicht in die Stadt hineingelassen wurde. Am folgenden Tag verfaßte der Magistrat seine Antwort, die derselbe Bote bereits am Morgen des 25. August dem Prinzipalkommissar vorlegte. 31 Eingebettet in die üblichen Höflichkeits- und Untergebenheitsbezeugungen stellte der Augsburger Magistrat es zunächst in das "selbsteigene Höchsterleüchte ermeßen" des Prinzipalkommissars, ob eine Aufnahme "ohne vorherig in solchen fällen übliche Contumacia der von dort herkommenden Personen, sie seyn was Stands und condition Sie wollen," zu gestatten sei, weil diesem Vorgehen zweifellos die "Bannisierung" Augsburgs folgen würde, was zu "deß Hochlöblichen ReichsConvents eigenem grösten incommodo und unterbrechung dero intents" führen würde. Im weiteren verwies der Magistrat auf das in Abschrift beigelegte Rats dekret , das "zu inhaeriren Uns Krafft gegen der Uns anvertrauten hiesigen Stadt und Gemein obhabenden schweren Pflichten allerdings obligirt befinden, nicht zweiffiend, es werde an seiten Höchstlöblicher Kayserlichen Principal Commission der Höchlöblichen Gesandschafften schon ort und Gelegenheit ausserhalb und in der Nachbarschafft zu nötiger accomodation bis zu endigung der 14. tägigen contumacia ohnschwer ersehen können".32 Obwohl weder in diesem Schreiben noch im genannten Dekret von einer vierwöchigen Quarantäne für das Gefolge der Gesandten sowie für alle mitgeführten Gepäckstücke außerhalb der Stadt die Rede war, findet sich in den Augsburger Ratsbüchem unter dem 29. August ein Vermerk, man solle auf das Schreiben des Prinzipalkommissars vom vorhergehenden Tag antworten, daß man diese vier Wochen auf zwei reduzieren könne, daß dafür aber alles Gepäck ausgepackt und gelüftet werden müsse. 33 ,,[I]n regard der Gnädigst und Gnädig beschehenen Vorstellung verschiedener trifftigen considerationen und motiven" verzichtete man dann aber doch auf diese Maßnahmen und ließ
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Ebd. 1249-1250,22.8. 1713. V gl. StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 29. 8. 1713. / Ebd., Beilage 2 zum Relationsschreiben vom 29.8. 1713. StadtAA, Reichsstadt, Ratsbücher, Nr. 90,1256-1257,29.8.1713.
dem Prinzipalkommissar und der kurmainzischen Gesandtschaft mitteilen, daß alle "sobald sie ankommen eingelassen werden sollen".34 Ohne wirkliche Sicherheitsvorkehrungen zuzulassen, zogen die Gesandtschaften mitsamt ihrem Gefolge in Augsburg ein. Von der Sicherheit des für den Reichskrieg wichtigen Schwäbischen Kreises, zu dem Augsburg gehörte, war bei diesem Vorgehen keine Rede mehr. Kaum war aber die Mehrzahl der Gesandtschaften in Augsburg angelangt, beschlossen sie in ihrer ersten Sitzung am 22. September, daß "die jenige so anjetzo noch von Regensburg anhero kommen, ohne unterschied der Personen, die völlige quarantaine halten, und nicht eher in hiesige Stadt gelaßen werden sollen".35 Beide Reichsstädte hielten im weiteren intensiven Kontakt mit dem Reichstag. Während aus Regensburg regelmäßige Berichte über das Krankheitsgeschehen und die Schwierigkeiten der Versorgung der Stadt sowie Unterstützungsgesuche gegen als allzu massiv empfundene Abschottungsmaßnahmen der Nachbartenitorien einliefen, verhandelte man auf Augsburger Seite noch länger über zu treffende Vorsorgemaßnahmen einerseits - insbesondere über die zu fordernde Quarantäne -, andererseits über mit der Anwesenheit der Reichstagsgesandtschaften verknüpfte wirtschaftliche und steuerliche Probleme. 36 Die in der Anfangsphase der Regensburger Pest zunächst eher auf Verschleierung der Gefahr ausgerichtete Informationspolitik des dortigen Magistrates wandelte sich unter dem Druck des Reichstages in eine relativ offene Kommunikation. Wenngleich dem Reichstag in dieser Phase der aktivere Part bescheinigt werden muß - Maßnahmen zur Pestbekämpfung in der Stadt wurden per Reichsschluß angeordnet -, kann von einer weiterreichenden, überregionalen oder gar reichischen Interessen dienenden Gesundheitspolitik von seiten des Reichstags nicht die Rede sein. War aber das Insistieren auf Schutzmaßnahmen in Regensburg und später die Verlegung des Reichstags nach Augsburg, bei der die Sicherheitsinteressen der dortigen Einwohnerschaft gleichsam mit Füßen getreten wurden, lediglich ein egoistisches ,Rette sich, wer kann~Gebahren'? Eine im Januar 1680 im Kontext der großen Pestwelle Ende der 1670er Jahre, die 1679 insbesondere Wien schwer traf und auch Regensburg bedrohte, von kaiserlicher Seite initiierte Diskussion, "wohin, auf den Fall der·' einreissenden Contagion, der Reichs=Convent zu verlegen seye", und die abwägende Stellungnahme der Kurfürsten verweist auf eine völlig andere Intention, nämlich darauf, durch die Transferierung des Reichstags die Funktionsfähigkeit des obersten Verfassungs gremiums des Reiches zu gewährleisten: 34 35
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Ebd. 1264-1265,4.9. 1713. StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 393, Relationsschreiben vom 25.9. 1713. Vgl. StadtAA, Reichstagsakten, NI'. 393, passim.
Wie es im kaiserlichen Kommissionsdekret heißt, war "vor einiger Zeit die Sorge entstanden, es würden Churfürsten, Fürsten und Stände in Regenspurg anwesende Räthe, Bottschafften und Gesandte, wegen damahls erschollenen Gerüchts der einreis senden Contagion, gähling von einander gehen, mithin der so lang gewährte Reichs=Tag ohne fotmlichen Abschied sich fruchtlos zerschlagen mögen". Zwar sei die Gefahr derzeit vorbei, er schlage aber für zukünftige derartige Fälle "aus treu=Vätterlicher Sorgfalt" vor, die Reichsversammlung nach Augsburg "als einen vor andern wohl=gelegenen Ort" zu verlegen. 37 Dem kurfürstlichen Kollegialgutachten ist zu entnehmen, daß man "die Intention nicht habe, ohne Aufrichtung eines förmlichen Reichs= Abschieds von einander zu gehen, sondern ist man vielmehr der Meynung, daß annoch die bereits in Proposition gebrachte Münz=Sachen, und der Punctus Securitatis publicae vorderist auszumachen". Sollte dies wegen einer erneuten Seuche nicht möglich sein, wolle man "zu des Reichs gemeiner Wohlfahrt" umziehen. Bedenken trug man allerdings gegen den Ausweichort: "Weilen aber nicht ohne Urs ach gezweiffelt wird, ob des Heiligen Reichs Stadt Augspurg, dafern die leydige Seuche in dieser Gegend überhand nehmen sollte, der Gefahr weit genug entlegen seye; Als wollte man dafür halten, daß auf einen mehr entfernten, und weiter im Reich gelegenen Ort zu gedencken seyn werde. "38 Diese Diskussion wurde nicht weitergeführt, 1713 fiel die Wahl aber ohne lange Debatten auf das nicht sehr weit entfernte Augsburg. Die relative Nähe und die gute Erreichbarkeit der Stadt hatten unübersehbare Vorteile, denn die anstehenden Themen hätten es weder 1679/80 noch 1713/14, als es um die vom Kaiser gewünschte Fortführung des Reichskrieges gegen Frankreich ging, erlaubt, die Arbeit des Reichstags länger zu unterbrechen. Die "Leistungsbilanz" des Immerwährenden Reichstags, die Johannes Burkhardt anhand der von Johann Joseph Pachner von Eggenstorff gesammelten und edierten Reichsschlüsse erstellt hat, weist entsprechend - und obwohl diese Sammlung Pachners nicht vollständig ist - keine gravierenden Einbrüche in Pestzeiten auf. 39 Die Funktionsfähigkeit der Institution wurde von seiten ihrer Träger nicht gefährdet und rangierte höher als die Sicherheit der Reichsstadt Augsburg, die sich nach anfänglichem Widerstand schließlich pflichtbewußt fügte. Pachner von Eggenstorff, Sammlung (wie Anm. 23), T. 2, Nr. 186,242. Ebd. Nr. 191,249. Vgl. hierzu Johannes Burkhardt, Verfassungsprofil und Leistungsbilanz des Immerwährenden Reichstags. Zur Evaluierung einer frühmodernen Einrichtung, in: Heinz Duchhardtl Matthias Schnettger (Hrsg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum. (Ve~öffentli~hungen de.s Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. UniversalgeschIchte, Belh. 48.) Mamz 1999,151-183, hier 166,168. Der Analyse der Aktenverteilung zufolge muß Pest und Pestgefahr demnach aus dem Katalog der "episodischen Umstände" gestrichen werden, die Burkhardt als Ursachen für "Ausschläge nach unten" benennt. V gl. ebd.170.
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IH. Politische Rücksichtnahme contra rigide Pestprävention: die "Nachbahrliche Communication" zwischen Bayern und Pfalz-Neuburg Selbstverständlich waren von der Pest nicht nur die Einwohner Regensburgs und die Reichstagsgesandtschaften bedroht, sondern auch das benachbarte Umland. Die Reichsstadt hatte abgesehen vom hochstiftischen Besitz innerhalb .der eigenen Stadtmauern zwei Nachbarn: Bayern umfing die Stadt praktIsch vollständig, trennte si~ aber nördlich der Donau nur durch einen schm~len Gebietsstreifen vom Fürstentum Pfalz-Neuburg. Aufgrund seiner Partemahme für die französische Seite im Spanischen Erbfolgekrieg und seiner militärischen Niederlage gegen Österreich befand sich der bayerische Kurfürst Max Emanuel in den hier relevanten Jahren im Exil, und Bayern stand unter kaiserlicher Administration, deren Leitung Maximilian Karl Fürst von Löwenstein-Wertheim oblag, der zugleich das Amt des Prinzipalkommissa:s, also das Amt des kaiserlichen Vertreters am Reichstag, innehatte. Bayern Wie Pfalz-Neuburg sannen auf die Abhaltung der Pest, ihr Kommunikationsverhalten und ihr praktisches Vorgehen unterschieden sich jedoch deutlich. Wiederum kann die in Wien grassierende Pest nicht aus der Darstellung ausgeblendet werden. Wie den jeweiligen Antwortschreiben zu entnehmen ist, baten Ende März 1713 die kaiserlichen Administrationsräte in München sowohl den Erzbischof von Salzburg als auch die kurfürstlich-pfälzischen Räte u~ Nachricht, "waß gegen Under OsterReich oder Vill mehr ersagte Statt WIenn für anstallten diss orthß gemacht werden, oder annoch zu veranstalten ~m Werckh seyn.'.'.40 Der Erzbischof teilte mit, daß er zunächst erwogen habe, dIe Grenze nach Osterreich zu sperren, "da man aber nach der Hand bess~re Kundschafften erhalten" habe, habe er befohlen, vorerst lediglich beglaubIgte Feden, also Gesundheitspässe, zu verlangen. 41 Wie Salzburg dankten auch die Pfälzer für die "Nachbahrliche Communication" und erklärten, daß man derzeit wegen der positiven Nachrichten aus Wien keine Maßnahmen für erforderlich hielte. 42 Nur zwei Tage später lagen der kurpfälzischen Regierung zu Heidelberg gegenteilige Informationen vor, die ohne zu zögern an Württemberg - und damit an einen der beiden kreisausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Kreises - weitergegeben wurden: Kurfürst Johann Wil-' helm, Bruder Kaiserin Eleonores, der Witwe Kaiser Leopolds I., sei "glaubhafft berichtet worden", daß sich die "Contagion" in den Wiener Vorstädten Diese Formulierung findet sich im Schreiben der kurpfälzischen Räte, vgl. Bayerisches München [im folgenden: BayHStA], Kasten schwarz, Nr. 8288, 157, SchreIben vom 8. 4. 1713. 41 Ebd. 154, Schreiben vom 6. 4. 1713. 42 Ebd. 157, Schreiben vom 8. 4.1713. 40
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erneut ausbreite. Dem Schreiben der kutiürstlichen Räte wurde die Abschrift eines Maßnahmenkataloges beigelegt, den das Herzogtum Schlesien zum eigenen Schutz vor der 1708 in Polen helTschenden Pest aufgestellt und umgesetzt hatte. Württemberg wurde nun gebeten, "ohne Zeitverlust dero vernünfftige Gedancken ob und was Sie etwa nach dem Exempel und Anleitung obangezogner Beylaage so viel selbige auf hiesig und benachbarte Lande quadrieren mögen, für heilsame Veranstaltungen zu machen gemeint, zu eröffnen belieben wollten". Die Abstimmung der Vorgehensweisen zielte darauf, "der Gefahr mit desto hinlänglicherem Nachtruck begegnen zu können".43 Die Informationspolitik auf seiten Bayerns verlief anders. Obwohl die kaiserliche Administration zunächst die Initiative ergriffen und selbst um Nachrichten gebeten hatte, hielt sie kurze Zeit später wider besseres Wissen erbetene Informationen zurück. Während die Reichsstadt Augsburg aus Quellen, auf die noch einzugehen sein wird, darüber informiert war, daß Venedig wegen der Wiener Seuche bereits im April den Handel mit Zürich gesperrt hatte44 , antworteten die Administrationsräte auf eine Anfrage des Augsburger Magistrates vom 28. April nach der Lage in Wien mit einem auf den 12. Mai datierten Schreiben abwehrend, daß es "ein lehr ob schon beses gedicht gewesen, daß eine Pestilenzische Kranckheit in Wien angesezet haben solte".45 Drei Tag bevor man in München diesen Brief verfaßte, am 9. Mai, schrieb der Augsburger ReichstagskolTespondent seinen Auftraggebern, daß der kaiserliche Hofstaat Wien wegen der Pestfälle verlassen habe und daß man dort nun fürchte, das Collegium Sanitatis würde die Stadt spelTen. 46 Aber selbst als die Seuche bereits in Regensburg Fuß gefaßt hatte, stellte man in München die Situation noch als harmlos dar. Am 28. Juli schickte Pfalz-Neuburg per Boten einen Brief an die kaiserliche Administration in Bayern und teilte mit, daß man "zuverlässige Berichte erhalten" habe, denen zufolge "die laidige sucht der Pest" nicht nur in Wien "sehr stark grassiere", sondern daß "auch an dieser höchst gefehrlichen contagion in Regensburg beraiths ainige Persohnen verstorben" seien. Man bat Bayern nun mitzuteilen, "waß dieselbe dissentweegen in Specie gegen Österreich, Und der Statt Regenspurg für eine vorsorgliche Verordnung verfieget haben".47 Obwohl sich der Regensburger Magistrat nur drei Tage nach Pfalz-Neuburg, am 31. Juli, in einem persönlichen Schreiben an den kaiserlichen Administrator Bayerns und Prinzipalkommissar gewandt und selbst von den in
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StadtAA, Kreisakten, Nr. 193, Schreiben vom 10.4.1713 [Dict. 9. 5.1713]. StadtAA, Collegium Medicum, Officium Sanitatis, Tom. IX, 20. 4. 1713. Ebd., 12.5.1713. StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 9. 5. 1713. BayHStA, Kasten schwarz, Nr. 8288,221, Schreiben vom 28.7.1713.
der Stadt aufgetretenen Krankheiten - wenn auch verharmlosend - berichtet hatte48 , wiegelten die Administrationsräte in ihrer am 5. August verfaßten Antwort an Pfalz-Neuburg weiter ab: Man lasse zwar keine wandernden Handwerksgesellen aus UnteröstelTeich mehr ein und habe ein Ratsmitglied zur Erkundung nach Passau und Linz geschickt. Des weiteren teilte man jedoch mit, daß zweifellos OberöstelTeich und Passau wie auch Salzburg entsprechende Vorsorgemaßnahmen getroffen hätten, so daß Bayern "allein gegen Böhamb das mehrere zu besorgen" hätte. Schließlich heißt es, es werde sich sowohl für Regensburg als auch für ÖstelTeich finden, daß die "Gerücht [... ] vill gresser, als die sach selbsten" seien. 49 So viel Gelassenheit brachte Pfalz-Neuburg nicht auf: Dem bereits genannten Regensburger Schreiben vom 31. Juli ist zu entnehmen, daß Pfalz-Neuburg prompt auf die neue Bedrohung reagiert und seinerseits bereits eine SpelTe gegen Regensburg verhängt hatte. 50 Jegliches Drängen der Regensburger, diese SpelTe zu "relaxiren", blieb bis zur allgemeinen Aufhebung der SpelTen Anfang Mai 1714 erfolglos. 51 Bayern - oder kOlTekter: die kaiserliche Administration in Gestalt des Prinzipalkommissars - verhielt sich sehr viel abwartender: Erst nachdem die Reichstagsgesandtschaften Regensburg in der letzten Augustwoche verlassen hatten, wurde die Stadt auch von seiner Seite gespelTt52 - nun aber so rigoros, daß der Magistrat immer wieder protestierte und auch den Reichstag um Unterstützung bat53 .
Vgl. ebd. 212, Schreiben vom 31. 7. 1713. Ebd. 220, Schreiben vom 5.8. 1713. Vgl. ebd. 212, Schreiben vom 31. 7. 1713. So entsandte der Regensburger Magistrat den Konsulenten Kranöst erfolglos nach Neuburg mit dem Auftrag, über die Lockerung der Sperre zu verhandeln. Vgl. StadtAA, Reichstags akten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 8. 8. 1713. Auch die in der Antwort vom 17.8. auf das zehn Punkte umfassende Memorial des Reichstags zur Bekämpfung der "Contagion" enthaltene Bitte an den Reichstag, Einfluß auf die kurpfälzische Gesandtschaft hinsichtlich einer Lockerung der Sperre zu nehmen, blieb offenbar ohne Erfolg. Vgl. ebd., Beilage 7 zum Relationsschreiben vom 22. 8. 1713. 52 Vgl. ebd., Beilage 3 zum Relationsschreiben vom 29.8. 1713: "Abrede der Kay. Administration und der Stadt Regensburg, wegen Sperrung der Stadt ddto. 23. Aug. 1713". Bayerischen Untertanen wurde das Betreten der Stadt bei Todesstrafe untersagt; das Ver~. lassen der Stadt war nur Personen mit Gesundheitspässen erlaubt und nur denjenigen, die für die Regensburger auf die nach Kumpfmühl verlegten Wochenmärkte zum Einkauf entsandt wurden. Des weiteren wurden Kumpfmühl und Rheinhausen als die Orte vereinbart, in denen sich Vertreter der Regensburger Gewerbe niederlassen konnten, um "das Commercium" aufrechtzuerhalten. Der Stadt wurde versprochen, sie so gut wie möglich und zu fairen Preisen zu versorgen. Ende September 1713 rechtfertigte die kaiserliche Administration die Verlegung der zunächst außerhalb des Burgfriedens postierten Miliz sehr viel näher an die Stadt heran mit eigenen Sicherheitsinteressen. Vgl. StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 393, Beilage 1 zum Relationsschreiben vom 9.10.1713. 53 V gl. zum Beispiel StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 393, Beilage 5 zum Relationsschreiben vom 23. 10. 1713. 48
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Warum kam es zu diesen unterschiedlichen Reaktionen der ja in gleicher Weise von der Pest bedrohten Regensburger Nachbarterritorien? Wenngleich Kurfürst Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg eng mit dem Kaiserhaus verwandt war54 , konnte er ganz offenbar ,rücksichtslos' die Sicherung des eigenen Landes vorantreiben, während der als Administrator Bayerns eingesetzte Prinzipalkommissar, Fürst von Löwenstein-Wertheim, die kaiserlichen Interessen nicht aus den Augen verlieren durfte. Dazu gehörte es offensichtlich, Wien selbst und die Stadt des Reichstags möglichst lange, pestfrei zu reden'. Ein zentrales Problem wurde im Antwortschreiben an Pfalz-Neuburg zum Ausdruck gebracht, wenn es dort heißt, daß "Ihr K.M. in hehster Persohn mit dero Kay. Frau Gemahlin, Frauen Muetter und dem ganzen durchleichtigsten Erzhaus sich in der Statt Wien finden, destwegen eben die schärffere Veranstaltungen mit der contumace seiner Bedenckhlichkeit underworffen sein".55 Erst nachdem "Ihre Kaiserliche Majestät dem Land Bayrn die Sperr gegen Unter-Österreich [... ] gnädigst bewilliget" und der Reichstag Regensburg verlassen hatte, konnten strenge Schutzmaßnahmen getroffen werden, die dann auch den Nachbarständen mitgeteilt wurden. 56 Wäre Bayern zu dieser Zeit nicht österreichisch besetzt gewesen, hätten sich die Pfalz-Neuburger und die bayerischen Maßnahmen wohl von Anfang an kaum unterschieden. Durch die Besetzung Bayerns und die kaiserliche Administration während der Jahre 1705 bis 1714 war der Bayerische Reichs-
54 Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen vgl. Franz Feldmeier, Die Ächtung des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern und die Übertragung der Oberpfalz mit der fünften Kur an Kurpfalz (1702-1708). München 1914, 156f. 55 BayHStA, Kasten schwarz, Nr. 8288,220, Schreiben vom 5.8. 1713. Vieles spricht dafür, daß die Anwesenheit des Kaiserpaares in Wien von der realen Pestgefahr ablenken sollte. Als die Kaiserin Anfang Juni von einer Reise zurückkehren sollte, wollte Karl VI.so der Augsburger Reichstagskorrespondent - sie in Innsbruck abholen, von wo aus sie gemeinsam auf dem Inn und der Donau nach Wien reisen wollten; aufgrund einer Erkrankung der Kaiserin trafen sie dort erst am 18. Juli ein und besuchten in einem großen Umzugalso Öffentlichkeit suchend - den Stephansdom. Ende Juli riet das Collegium Sanitatis dem Kaiserpaar, Wien zu verlassen, was der Kaiser wohl nicht wollte. Allerdings war kurz darauf von einer geplanten Wallfahrt nach Maria Zell die Rede. Als Anfang Oktober das Mädchen einer Kammerfrau der Kaisermutter Eleonore plötzlich verstarb, platzte die Geburtstagsfeier für den Kaiser; Eleonore zog sich in ein Kloster zurück, Amalie, die Witwe Josephs 1., ging nach Erberstorf, die Erzherzoginnen zogen in die Favorite, nur das Kaiserpaar blieb in Wien. V gl. hierzu StadtAA, Reichstagsakten, Nr. 392, Relationsschreiben vom 6. 6.,18.7. und 1. 8. 1713 sowie Reichstagsakten, Nr. 393, Relationsschreiben vom 9.10.1713. 56 StadtAA, Kreisakten, Nr. 194, Schreiben der kaiserlichen Administration in Bayern an das Hochfürstliche Kreisausschreibamt des Schwäbischen Kreises vom 26. 8. 1713. Folgende Maßnahmen wurden getroffen: Aus Unterösterreich durfte niemand nach Bayern einreisen, auch nicht mit Gesundheitspässen; Überfahrten über Donau und Inn waren untersagt; aus Böhmen und Oberösterreich durften nur Personen mit Feden eingelassen werden, die aus amtlich gedruckten Formularen bestanden; wer keine Fede vorweisen konnte, mußte sich der Quarantäne unterziehen oder sollte abgewiesen werden.
kreis, dem neben Regensburg auch Pfalz-Neuburg und natürlich Bayern angehörten, praktisch außer Kraft gesetzt. 57 Die Auswirkungen dieser, Suspendierung' werden noch deutlicher hervortreten, wenn im folgenden die Rolle der Reichskreise bei der Seuchenbekämpfung thematisiert wird.
IV. Gesundheitspolicey im Reichskreis und städtische Handelsinteressen: die supraterritoriale Pestprävention Der bisher sichtbar gewordene Umgang mit der Wiener wie der Regensburger "Contagion" - verspätete und verschleiernde Information sowie verzögerte Maßnahmen durch und in den infizierten Orten, unzureichende Zusammenarbeit der benachbarten Territorien - läßt nahezu den Eindruck entstehen, es habe kaum eine rasche, gründlich abgestimmte und sachlich wie räumlich umfassende Pestprävention gegeben. Dieses Bild ändert sich jedoch, wenn man die Tätigkeit der Reichskreise auf dem Feld der, Gesundheitspolicey' betrachtet. Daß "Gesundheits schutz und Sozialprobleme bis hin zu Feiertagsregelungen, Wirtshausaufsicht, Straßen- und Zuchthausbau" zur Agenda zumindest der vielherrigen Reichskreise gehörten, ist unbestritten58 , wenn auch - zumindest was den Bereich des Gesundheitsschutzes betrifft - noch kaum erforscht59 . Im folgenden soll exemplarisch für diese überterritoriale Ebene die Seuchenprävention des Schwäbischen Kreises, wie sie sich in den die Pest betreffenden Kreispatenten, den Kreisrezessen und den Relationen der Augs-
57 Vgl. hierzu Peter Claus Hartmann, Der Bayerische Reichskreis (1500 bis 1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches. (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 52.) Berlin 1997,444-454. 58 Johannes BurkhardtlWolfgang Wüst, Einleitung: Forschungen, Fakten und Fragen zu süddeutschen Reichskreisen. Eine landes- und reichshistorische Perspektive, in: Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Tenitorium. Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise. (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 7.) Stuttgart 2000, 1-23, hier 4. Zu den Kreis-Themen vgl. auch Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition. Stuttgart 1998" 44. Die Beobachtung, daß der "gesundheitspolitische Handlungsbereich der Kreise [... ] einen wesentlichen Bestandteil der vielfältigen sozialpolitischen Aktivitäten des Schwäbischen Kreises [bildete]", machte Sabine Ullmann, Zwischen Pragmatismus und Ideologie - Entwicklungslinien der Judenpolitik des Schwäbischen Reichskreises, in: Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium (wie Anm. 58), 211-231, hier 223f. 59 Die Seuchenpolitik des Fränkischen Kreises berücksichtigt, wie oben bereits kurz angesprochen, Porzelt, Die Pest in Nürnberg (wie Anm. 8),131,135,138, 143f. Vgl. in dieser Hinsicht auf den Ergebnissen von Porzelt aufbauend Alois Schmid, Der Fränkische Reichskreis. Grundzüge seiner Geschichte - Struktur - Aspekte seiner Tätigkeit, in: Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium (wie Anm. 58), 235-250, hier 243-245.
burger Kreisdeputierten im zeitlichen Umfeld der Regensburger Pest spiegelt, dargestellt werden. 60 Der Schwäbische Kreis war schon in den Jahren vor dem Ausbruch der Wiener und der Regensburger "Contagion" mit, verdächtigen Krankheiten' konfrontiert. "DEmnach von zerschiedenen Orthen die leidige aber doch gewisse Nachrichten continuiren / daß in dem Königreich Pohlen und andem demselben angräntzenden Landen die Pestilentzialische Seuche noch immerfort grassire", sahen sich die kreisausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Kreises veranlaßt, am 12. Januar 1709 ein Kreispatent zu erlassen, mit dem die übrigen Kreisstände aufgefordert wurden, Reisende aus infizierten und diesen benachbarten Gebieten nur bei Vorlage glaubwürdiger Gesundheitspässe in den Reichskreis einreisen zu lassen, mitgeführte Waren aber zurückzuweisen. Insbesondere die an den Grenzen des Kreises sitzenden Stände wurden aufgefordert, ihre Beamten auf die strikte Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen zu verpflichten. Diese Maßnahmen wurden, so das Patent, "nach dem Exempel anderer inn= und ausser deß H. Röm. Reichs=Gräntzen gelegenen Potenzien" verordnet. 61 Zu diesen Exempeln gehört wohl auch das - wie Carolin Porzelt eruierte - "erste überlieferte seuchenpolizeiliche Kreisrnandat" des Fränkischen Reichskreises vom 12. Oktober 1708, das sich ebenfalls auf die Seuche in Polen bezog. 62 Ein als öffentlicher Anschlag publiziertes und der Stadtgarde wie den übrigen Wachbediensteten zur strengsten Einhaltung anbefohlenes Augsburger Ratsdekret vom 17. Oktober 1709 verweist ebenfalls auf die übelTegionale Zusammenarbeit im Fall der "in dem Königreich Pohlen und der Stadt Dantzig grassierenden leydigen Contagion", in deren Rahmen "sowolen in denen Oberen Chur=Pfältzischen / als auch in denen Hertzoglich=Bayrischen / so dann in der be eden Löbl. Fränck= und 60 Heinz Villinger, Die Tätigkeit des Schwäbischen Reichskreises auf dem Gebiet des Polizeiwesens (16. Jahrhundert). Diss. jur. Mannheim 1950, thematisiert den Bereich Gesundheitspolitik nicht. Dagegen wird in der Studie von Andreas Erdel, Die Pest und andere ansteckende Krankheiten in der Freien Reichsstadt Ulm im 18. Jahrhundert. Diss. med. Ulm 1985, zwar ein Zusammenwirken der Reichsstadt Ulm mit dem Schwäbischen Kreis sichtbar, da sich Erdel aber die Funktion der Institution ,Reichskreis', ihre Zusammensetzung und ihre Arbeitsweise nicht wirklich erschloß, verschenkt die Studie gewissermaßen Erkenntnischancen im Hinblick auf die gesundheitspoliceyliche Bedeutung des Reichskreises. Gleichwohl bietet sie Einblicke in die Art und Weise der Implementierung einzelner Kreispatente in Ulm. Vgl. ebd. 13,22, 25f., 28f., 4lf., 58 und 64, sowie hierzu, aber auch insgesamt zur Gesundheitspolitik des Reichskreises Christine Werkstetter, " ... auß Wohlmeinender Vorsorg vor deß gesamten Creises Wohlfahrt". Gesundheitspoliceyliche Maßnahmen des Schwäbischen Reichskreises in Zeiten der Pest, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hrsg.), Das Reich in der Region. (Forum Suevicum.) [im Druck]. 61 StadtAA, Kreisakten, Nr. 159, 133: Kreispatent vom 12. 1. 1709. 62 Porzelt, Die Pest in Nümberg (wie Anm. 8), 143. Daß es sich bei diesem Kreismandat wie Schmid, Der Fränkische Reichskreis (wie Anm. 59),243, korrigiert - nicht um das "erste überlieferte", sondern lediglich um ein weiteres seuchenpoliceyliches Mandat handelt, tut obigem Befund keinen Abbruch.
Schwäbischen Craise / Land=Gräntzen und Orten die Veranstaltungen dahin gemachet worden / daß sowolen die aus Pohlen und Dantzig / als auch zu mehrerer Praecaution und Vigilantz / die aus Ungarn / Preussen / Brandenburg / Sachsen / Schlesien / und anderen angräntzenden Orten kommende Personen und Waaren / ohne gnugsam beglaubte Gesundheits=Pässe und Obrigkeitlicher Gezeugnusse / daß sie in nächsten 4. biß 5. Wochen an verdächtigen Orten sich nicht mehr befunden noch aufgehalten haben / nicht passiert / sondern fürnemlich aber die fremden Juden und Bettler / sogleich zuruck gewiesen / und bey Leib= und Lebens=Straffnicht gedultet werden".63 Eine eindringliche Mahnung, die Kreisverordnungen "auf das genaueste zu halten / und zu solchem Ende dieses Patent in ihren Landen und HelTschafften zu publiciren und gewöhnlicher Orten zu jedermanns Nachricht zu affigiren; mit gleichmässigen wiederholten gesinnen / bey / leyder! von Tag zu Tag / auch von Franckreich her zunehmender Pest=Gefahr / die sorgfältge Auffsicht zu veranlassen", enthielt ein neuerliches Kreispatent vom 5. Dezember 1709, das wiederum auf ein nur wenige Wochen vorher, am 9. November, erlassenes Patent, das "ernstlich zu halten" angemahnt wurde, verwies. 64 Wie den Augsburger Kreisakten zu entnehmen ist, wurden weitere ,PestO-Patente am 17. März und 28. Oktober 1710 verfaßt und publiziert. 65 Unmittelbar mit , verdächtigen Kranken' konfrontiert wurde man im Schwäbischen Kreis, als vom Herbst 1712 bis in das Frühjahr 1713 zahlreiche, erst wenige Monate vorher nach Ungarn ausgewanderte Schwaben in ihre alte Heimat zurückkamen. Am Umgang mit diesen Menschen, die ja als vormalige Kreisuntertanen nicht einfach weggeschickt werden konnten, läßt sich die praktische Seuchenpolitik des Kreises gut ablesen. In seiner Funktion als kreisausschreibender Fürst teilte der Herzog von Württemberg der Reichsstadt Donauwörth im Oktober 1712 mit, daß man "sichere Nachricht" erhalten habe, daß die Rückkehrer "in Zimmlicher Anzahl und zwar die meiste deren so mit allerhand Seuchen und Kranckheiten behafftet zu Wasser auf der Donau in Schiffen die um etwas noch gesund sich befindende aber zu Land herauf gehen, und hiernegst bey Euch ankommen werden". Die Stadt wurde nun StadtAA, Collegium Medicum, Verzeichnis der öffentlichen Anschläge und Verordnungen die Sanitaet betreffend 1563 bis 1797, Dekret vom 17. 10. 1709. Ullmann, Zwischen· Pragmatismus und Ideologie (wie Anm. 58), 223 f., stellt dar, daß die Judenpolitik des Schwäbischen Kreises hinsichtlich der Seuchenbekämpfung von der in anderen Bereichen eher pragmatischen, ohne Sonderbehandlung auskommenden Politik abweicht. In den Mandaten "wird vor Juden jeweils als besonderer Trägergruppe von Infektionskrankheiten gewarnt". Nach Schmid, Der Fränkische Reichskreis (wie Anm. 59), 244, nutzte der Bischof von Bamberg ein Kreismandat von 1713 dazu, "die Juden gleich zu Hunderten aus seinem Hochstift zu vertreiben". 64 StadtAA, Kreisakten, Nr. 159,5: Kreispatent vom 5. 12. 1709. 65 Ebd. 22: Kreispatent vom 28. 10. 1710. Dieses Patent verweist auf das in den Akten nicht vorhandene Patent vom 17. 3.1710.
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Die Pest in der Stadt des Reichstags
angewiesen, die Heimkehrer nicht weiter in den Kreis ziehen zu lassen, sondern sie "allesamt bey Ihrer Ankunfft bey Euch alß dem aussersten Gräntz Orth dieses Löbl. Creises" anzuhalten, sie ärztlich untersuchen zu lassen, die Gesunden mit einem Gesundheitspaß in ihre Herkunftsorte zu verweisen, die Kranken aber in außerhalb der Stadt eigen,s zu errichtenden Hütten sowohl medizinisch als auch mit Nahrungsmitteln zu versorgen und die Genesenen dann ebenfalls in ihre Heimat zu weisen. Die Kosten für alle diese Maßnahmen sollten - so das Schreiben weiter - aus der Kreiskasse bestritten werden. Des weiteren wurde eine ausführliche Berichterstattung während des für den November angesetzten Kreistages angeordnet. 66 Als Donauwörth und ein bei Leipheim gelegenes Lazarett überlastet waren, wurde Marquard Fugger "alß dieses Creises aussersten Confinen gegen Baym" im Februar 1713 angewiesen, die immer noch Neuankommenden in seinem Territorium in gleicher Weise zu versorgen und sich mit Donauwörth entsprechend abzustimmen. Donauwörth hatte sich bereit erklärt, Marquard Fugger in allen Punkten zu unterstützen. 67 Die im Kontext der beiden Kreistage vom NovemberlDezember 1712 und vom AprillMai 1713 verfaßten Kreisrezesse samt deren Beilagen verweisen auf die dichte Kommunikation zwischen dem Kreisausschreibamt und den involvierten Kreisständen sowie mit benachbarten Reichsständen außerhalb des Kreises und geben Einblick in die konkreten Strategien des Kreises zur Abwendung einer allgemeinen Gesundheitsgefährdung durch die Heimkehrer einerseits, aber auch in die soziale Problematik der Rückkehrer andererseits. 68 Mit ,Nichtkreisangehörigen ' verfuhr man anders. Als während des Kreistages vom AprillMai 1713 Nachrichten über die "Contagion" in Wien eingi~gen69, veranlaßten diese die Kreisstände zur gemeinsamen Verordnung, "memand durch den Creys passieren zu lassen, es seye dann, daß die durch passierende Persohn mit einem unverdächtigen Gesundheits attestato, worauf jedes Orth obrigkeit eine sorgsame Einsicht zu veranstalten hat, versehen seyn wäre". Zudem sollte jede verdächtige Krankheit "ohnverweilt" gemeldet werden. 7o Der nächste Kreistag begann am 15. September 1713 und endete nach einer Unterbrechung vom 4. Oktober bis zum 6. November am 24. November mit 66 StadtAA, Kreisakten, Nr. 192, Schreiben des Herzogs von Württemberg an die Reichsstadt Donauwörth vom 15. 10. 1712. 67 StadtAA, Kreisakten, Nr. 193, Schreiben des Herzogs von Württemberg an Marquard Fugger vom 2. 2. 17 ~ 3. Erdei, Die Pest (wie Anm. 60), 17, geht dagegen davon aus, daß die Maßnahmen der ReIchsstadt DIrn in Leipheim so erfolgreich gewesen seien, daß "gegen Ende Jan.u ar, ~nfang Februar 1713 [... ] das Lazarett wieder abgerissen" werden konnte. 68 Vgl. hIerzu Insgesamt StadtAA, Kreisakten, Nr. 192 und 1 9 3 . ' 69 Vgl. StadtAA, Kreisakten, Nr. 193, Schreiben der kurpfälzischen Regierung zu Heidelberg vom 10.4.1713. 70 Ebd., Conc1usum Xv., Mai 1713, dict. 22. 5.1713.
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einem Kreisabschied. Der Punkt "das Leidige Pestwesen" findet sich in der Proposition fast ganz am Schluß unter den "Incident=Puncten"71, was darauf verweist, daß das Pestproblem nicht als vorrangig eingestuft wurde. Gleichwohl wurde mit Datum vom 30. September 1713 ein "Creis-Patent in puncto Contagionis" beschlossen, das sehr rigide Abgrenzungs- und Kontrollrnaßnahmen vorsah. So wurde mit der Todesstrafe gedroht, falls jemand "von inficirten Orten sich in diesem Schwäbischen Crayß einzuschleichen vermessen" würde; gegen sich den Wachen widersetzende Personen sollte "Gegen=Gewalt / auch mit Todschiessen / gebraucht werden". 72 Während im Schwäbischen Kreis im ganzen - die angeführte Vorgehensweise zeigt dies - zügig, umfassend und sehr konkret auf, verdächtige Krankheiten' reagiert wurde und sich der entsprechende Nachrichtenfluß in bezug auf die Ungarnrückkehrer in den Kreisrezessen gut nachvollziehen läßt, wird im Kreisrezeß des Herbstes 1713 die Frühphase der Seuche in Regensburg nicht sichtbar.?3 Erst das dem Kreisrezeß beiliegende Schreiben der kaiserlichen Administration in Bayern vom 26. August berichtete von der Regensburger "Contagion" und den gegen sie getroffenen Maßnahmen.?4 Zu diesem Zeitpunkt waren die Reichstagsgesandtschaften aber bereits nach Augsburg abgereist. Daß der Reichstag nach Augsburg umgezogen war, wird sogar nur in einer einzigen Anmerkung in einem nicht zum offiziellen Kreisrezeß gehörenden Schreiben sichtbar, nämlich als die beiden Augsburger Kreisdeputierten Johann Jacob Holzapffel von Herxheim und Kötz sowie Johann Andreas Scheidlin aufgrund der Kritik ihrer Kollegen - man habe ihnen "zu verstehen gegeben, alß wann zu Augspurg wegen der aus Österreich, Regenspurg und anderen verdächtigen orthen ankommende Persohnen nicht genugsame vigilanz gebraucht wurde" - ihren Magistrat am 2l. September zu umfassenderen Vorsichtsmaßnahmen drängten, "weilen zumahlen bey jetzigen Reichs=Tag viel unbekante frembde sich einschleichen können".75 Nur in einem weiteren - von insgesamt immerhin dreizehn - Schreiben der Augsburger Deputierten an den Magistrat ist noch einmal von der "Contagion" die Rede: Am 29. September verwiesen sie auf eine in den Akten nicht vorhandene Beilage, der zu entnehmen sei, "was wegen der Contagion für praecautiones gemacht worStadtAA, Kreisakten, Nr. 194, Proposition, 19.9. 1713. Vgl. ebd., Kreispatent vom 30.9.1713, sowie StadtAA, Kreisakten, Nr. 159,35: Kreispatent vom 30. 9. 1713. Dieses Patent verweist auch auf ein in den Akten nicht enthaltenes Patent, das am 30. 8. 1713 publiziert wurde. 73 Möglicherweise würde die Sichtung der im Hauptstaatsarchiv Stuttgart liegenden Akten des Kreisarchivs, die für den vorliegenden Beitrag nicht vorgenommen werden konnte, einen insgesamt doch weitergehenden Informationsfluß offenbaren. 74 V gl. StadtAA, Kreisakten, Nr. 194, Schreiben der kaiserlichen Administration in Bayern an das Kreisausschreibamt vom 26.8. 1713. 75 Ebd., Schreiben der Augsburger Kreisdeputierten an den Magistrat der Stadt Augsburg vom 21. 9. 1713. 71
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den".?6 Vermutlich handelte es sich dabei um das am 30. September publizierte Kreispatent. Auch dem Kreisrezeß vom Mai 1713 liegen die während des Kreiskonvents nach Augsburg gesandten Berichte der Kreisdeputierten bei. In diesen Schreiben wird die Pest - mit welchem Terminus auch immer - nicht erwähnt. Der Wert der Nachricht der kurpfälzischen Regierung vom 10. April, daß in Wien die "Contagion" stark zunehme, scheint für die Kreisstände im einzelnen ebenfalls nicht besonders groß gewesen zu sein: die Augsburger Abgesandten hielten es jedenfalls nicht für elforderlich, diese Information schnellstens nach Hause zu melden.?7 Wurde diese Nachricht nicht weitergegeben, weil die bereits erlassenen Kreispatente ausreichend schienen und Wien und später Regensburg nur noch weitere Orte in einer Reihe anderer waren, auf die nicht mehr eigens reagiert werden mußte? Gab es noch andere Informationskanäle, über die man brisante ,Neuigkeiten' elfuhr? Im Register des Augsburger Ratsbuches von 1713 findet sich unter den Stichworten "Contagion", "Collegium Medicum" und "Officium Sanitatis" eine ganze Reihe von Einträgen, die auf eine relativ dichte Briefkommunikation zwischen Augsburg und anderen Reichsstädten des Schwäbischen Kreises (Lindau, Ulm, Dinkelsbühl, Biberach), aber auch mit einigen Ständen des Fränkischen Kreises (Nürnberg, Eichstätt, Würzburg), des Bayerischen Kreises (Neuburg, Bayern) und des Österreichischen Kreises (Innsbruck) sowie mit einigen eidgenössischen Städten (Basel, Chur, Zürich, St. Gallen, Schaffhausen) und einer italienischen Stadt (Mailand) verweisen. 78 Die in Augsburg eingehenden Schreiben beziehen sich in aller Regel mitteilend oder nachfragend auf den Stand der "Contagion" an verdächtigen Orten, auf getroffene oder zu treffende Maßnahmen und - meist besonders betont - auf die Konsequenzen für das "Commercium". Entsprechend finden sich auf diesen Briefen nicht nur Vermerke des Rates, die Schreiben dem Collegium Sanitatis zur Prüfung und Berichterstattung weiterzugeben, sondern oft auch der Vermerk: "solle denen alhieigen Kauff und Handelsleuthen vorgehalten werden".?9 Ebd., Schreiben der Augsburger Kreisdeputierten an den Magistrat der Stadt Augsburg vom 29.9. 1713. 77 Zwar war das kurpfälzische Schreiben an die Fürstlich Württembergischen Geheimen Räte gerichtet, es wurde aber am 9. 5. 1713 in Ulm zur Diktatur gegeben und spätestens am 22.5. am Kreistag diskutiert. Der Konvent endete am 23.5., die Übergabe der "Allgemeinen Creyß=Convents Acta", die eine Abschrift des kurpfälzischen Berichts beinhalten, durch die Kreisdeputierten Holzapffel und Scheidlin an den Augsburger Rat erfolgte sogar erst am 17.6.1713. Vgl. StadtAA, Kreisakten, Nr. 193. 78 Zu reichsstädtischen Nachrichtennetzen schon im Spätmittelalter vgl. Wolfgang Wüst, Reichsstädtische Kommunikation in Franken und Schwaben. Nachrichtennetze für Bürger, Räte und Kaufleute im Spätmittelalter, in: ZBLG 62, 1999,681-707. 79 V gl. zum Beispiel StadtAA, Reichsstadt, Ratsbücher, NI'. 90, 998: Schreiben der Stadt Chur vom 29. 1. 1713 (angelangt am 4.2. 1713). 76
Wenngleich im Rahmen des vorliegenden Beitrages keine detaillierte Analyse dieses Nachrichtennetzes zwischen den genannten Städten geleistet werden kann, sei darauf hingewiesen, daß viele Schreiben von ihren Empfängern abschriftlich oder deren Inhalt referierend mit eigenen Anfragen an andere Städte weitergereicht wurden, so daß einerseits eine relativ weite Verbreitung der Informationen zum Stand der "Contagion" und den getroffenen Maßnahmen erreicht wurde, andererseits aber auch die Herkunft bzw. die Wege der Nachrichten erkennbar wurden. Ein Beispiel: Einem Schreiben der Reichsstadt Ulm an Augsburg vom 25. Januar 1713 ist zu entnehmen, daß Augsburg wenige Tage vorher Ulm mitgeteilt hatte, "waß die Löbliche Statt Lindaw an dieselbe [also Augsburg, Ch. W.] wegen der in Ungarn und einigen Orthen Österreichs grassiren sollenden Leydigen Contagion, und daher von denen Löblichen Hauptern gemeiner 3. Pündten zu Chur auf den deßhalben von der Durchlauchten Republique Venedig ergangenen Bando, gemachten Anstalten gelangen lassen". Die ursprüngliche Nachricht aus Venedig an Chur ging also über Lindau weiter nach Augsburg und von dort nach Ulm. Die Ulmer berichteten ihrerseits von einem von der Stadt Basel erhaltenen Schreiben mit der Information, Mailand habe Basel mitgeteilt, daß Venedig "wegen ersorgender Contagion" ein Handelsverbot publiziert hätte. Basel schrieb nun an Ulm, man habe Mailand geantwortet, daß man von solchen Krankheiten nichts wisse, gleichwohl wolle man Ulm darüber informieren und bitten, "alle nöthige Vorsorg zu veranstalten" und Basel wiederum zu benachrichtigen. 80 Merkwürdig mutet an, daß das Auftreten der "Contagion" in Regensburg in diesen Korrespondenzen kaum angesprochen wurde. Obwohl Regensburg Ende Juli gegenüber der kaiserlichen Administration in Bayern entsprechende Krankheitsfälle eingestanden hatte und von Pfalz-Neuburg bereits gesperrt worden war, ist etwa in einem Schreiben Ulms an Augsburg vom 16. August ausschließlich von der Seuche in Wien die Rede. 81 Es scheint, als hätte die verharmlosende Darstellung von seiten des Regensburger Magistrates wie der kaiserlichen Administration in München doch eine gewisse Wirkung gehabtzumindest bis dann innerhalb weniger Tage die Verlegung des Reichstags beschlossen wurde,s2 Gleichwohl bestand eine gute Chance, daß solche Infor-
StadtAA, Collegium Medicum, Officium Sanitatis, Tom. IX, Schreiben der Stadt DIrn vom 25.1. 1713 und Kopie des Schreibens der Stadt Basel an Ulm vom 10. 1. 1713. Aus der Perspektive der Reichsstadt DIrn reflektiert Erdel, Die Pest (wie Anm. 60), 19, die Bedeutung des "DImer Korrespondenz- und Nachrichtenwesen[s]" als "Teil eines großen Informationsnetzes, welches zwischen den Reichs- und Handelsstädten in Deutschland, der Schweiz, Italien und Österreich bestand". 81 V gl. StadtAA, Collegium Medicum, Officium Sanitatis, Tom. IX, Schreiben der Stadt DIrn vom ]6. 8.1713. 82 V gl. hierzu das vorausgehende Kapitel.
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Die Pest in der Stadt des Reichstags
mationslücken durch andere Nachrichtennetze - in diesem Fall die Reicl}stagskorrespondenz - geschlossen wurden. Der insgesamt umfassende und tendenziell weiträumige Nachrichtenaustausch beruhte im wesentlichen auf den Handelsinteressen der Städte. Die "begründte nachricht" war - wie es Lindatfformulierte - erforderlich, "umb allenfalls die fernere nöthige praecautiones zu Beybehaltung deß gemein Nuzlichen commercii vorkehren [... ] zu können"83 oder - so Chur - "damit andurch der Liberum Commercium ohnunderbrochen erhalten [... ] bleiben möge"84. Dieser Nachrichtenfluß funktionierte relativ schnell und offenbar so gut, daß über politische Kanäle laufende Nachrichten nicht immer wirklich Neuigkeitswert hatten. Gleichwohl machte die eine Ebene die andere nicht überflüssig, denn die von den Kreisständen beschlossenen und kreisweit und darüber hinaus publizierten Kreismandate ,die Contagion betreffend' sowie die konkrete Organisation der Seuchenbekämpfung, sobald die Gesundheitsgefährdung die Kreisgrenze erreicht hatte, taten das ihre, die Seuchengefahr einzudämmen und das "Commercium" tatsächlich aufrechtzuerhalten. Das feste Eingebundensein der Reichsstadt Augsburg in zwei sich teilweise sowohl geographisch als auch inhaltlich überschneidende und dennoch grundverschieden angelegte Nachrichtennetze macht den Nutzen der ll;t der Reichsstruktur angelegten Vielfalt sichtbar. Augsburg gehörte als Kreisstand des Schwäbischen Reichskreises einerseits zu dieser politisch-verfassungsrechtlich definierten ,Region '85, andererseits als Handelsstadt aber auch zu einer ,Wirtschaftsregion " die nicht nur die Kreisgrenze, sondern auch die Reichsgrenze überschritt und damit - um am Fallbeispiel zu bleiben - die Möglichkeiten der Zusammenarbeit in der Pestbekämpfung noch deutlich ausdehnte. 86
83 StadtAA, Collegium Medicum, Officium Sanitatis, Tom. IX, Schreiben der Stadt Lindau vom 18. 4. 1713. 84 Ebd., Schreiben der Häupter der drei Bünde zu Chur vom 4./15.4. 1713 (Abschrift). 85 Diese Definition von ,Region' findet sich bei Peter Claus Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit - Modell für ein Europa der Regionen? Einführung in die Thematik und Problematik des Kolloquiums, in: ders. (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung. (ZHF, Beih. 17.) Berlin 1994,9-20. 86 Diese ,Doppelmitgliedschaft' verweist auf die Notwendigkeit, den Begriff der ,Region , über die staatlich-territoriale Ebene hinaus auszudifferenzieren. Vgl. hierzu Rolf Kießling, Kommunikation und Region in der Vormoderne. Eine Einführung, in: Carl A. Hoffmannl Rolf Kießling (Hrsg.), Kommunikation und Region. (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen, Bd.4.) Konstanz 2001, 11-39, bes.21.
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V. Die Informationsleistung komplexer Nachrichtensysteme und das Krisenmanagement der Institutionen des ,komplementären Reichs-Staats': Die Säulen einer effektiven Pestbekämpfung - Resümee In der Pestforschung wurde bereits vielfach auf die Versuche der betroffenen Orte und Städte hingewiesen, das Auftreten von, verdächtigen Krankheiten' zunächst zu verheimlichen und dann zu verharmlosen, um zu verhindern, daß man vom politischen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen würde. 87 Diese, verweigerte Kommunikation', wie sie hier sowohl im Falle der Wiener als auch der Regensburger Pest sichtbar wurde, ließ der Seuche Zeit, sich auszubreiten, bevor - nach Verruf und Bannisierung - alles getan wurde, um sie in den Griff zu bekommen und einzudämmen. Der Unterschied zwischen dem Kommunikationsverhalten der Betroffenen und derjenigen, die sich von der Seuche mittelbar oder unmittelbar bedroht fühlten, erwies sich als eklatant: Die Informationen, die die einen aus Angst vor den wirtschaftlichen Konsequenzen - Regensburg - und/oder politischen Interessen - Wien und die kaiserliche Administration in Bayern - nicht geben wollten, benötigten die anderen dringend, um ihre Interessen - Gesundheit, freien Handel etc. - zu schützen. Schauen wir noch einmal resümierend auf die mit der Pest in Regensburg bzw. deren Vorläufern konfrontierten Akteure, ihre Intentionen und ihre Handlungsweisen: Die aktive Rolle, die der Reichstag im Fall der Regensburger Pest spielte, indem er der Stadt, die den Ausbruch der Pest zu verharmlosen suchte, umfangreiche Maßnahmenkataloge oktroyierte, erwies sich eindeutig als Reaktion auf die eigene Gefährdung vor Ort. Die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des obersten Verfassungsgremiums des Reiches - zumal mitten im Reichskrieg - zu sichern, hatte erste Priorität und erzwang gleichsam die eigene Evakuierung, als das Risiko in Regensburg unkalkulierbar wurde. Wenngleich - wie sichtbar wurde - die Zuständigkeit für die, Gesundheitspolicey' nicht auf der höchsten Reichsebene angesiedelt war, lag diese dennoch nicht allein bei den einzelnen Reichsständen, sondern auf der supraterritorialen Ebene der Reichskreise, wie am Beispiel des Schwäbischen Kreises aufgezeigt werden konnte. Die Kreise agierten zum Schutz ihres jeweiligen Kreisterritoriums, wobei sie keineswegs nur Abschottungsma~ nahmen ergriffen, sondern eine aktive Gesundheitspolitik pflegten, die dIe 87 Für den Untersuchungsraum Westfalen und Niederrhein finden sich ~tw.a Beispiele ~ei Neithard Bulst Krankheit und Gesellschaft in der Vormoderne. Das BeIspIel der Pest, m: ders.lRobert D~lort (Eds.), Maladies et societe (XIILXVIIIe sü~cles). Paris 198~, 17~7, hier 32f.; zu Nümberg vgl. Porzelt, Die Pest in Nürnberg (wie Anm. 8), 125 f. HIerzu heBen sich viele weitere Beispiele anführen.
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Christine Werkstetter
Verbreitung von Seuchen verhindern sollte und gemeinschaftlich organisiert und finanziert wurde. Trotz dieser Zuständigkeit der Reichskreise waren gesundheitspoliceyliche Maßnahmen zur Seuchenabwehr aber auch auf landesherrlicher Ebene üblich, wie an Pfalz-Neuburg sichtbar wurde, das als unmittelbarer Nachbar Regensburgs schnell und rigide im Alleingang handelte, weil der Bayerische Reichskreis zu dieser Zeit nicht intakt war und der kaiserliche Administrator Bayerns zu sehr die Belange Wiens berücksichtigte. Wir sehen hier also eine zwar sehr klare, aber durchaus auch flexible Zuständigkeit in der Seuchenpolitik des "komplementären Reichs-Staates"88, die nicht konkurrierend, sondern ebenfalls komplementär angelegt war. Woher aber erfuhr man von einer gegebenen Bedrohung? Der von den ,Pestorten ' nicht gestillte Nachrichtenbedarf führte - wie die Fallstudie erhellt nicht nur zu Mutmaßungen und Gerüchten, sondern auch zur intensiven Nutzung vorhandener Nachrichtennetze. Der Augsburger Magistrat etwa bezog seine Informationen aus der Reichstagskorrespondenz, aus einer dichten, meist mehrschichtigen Briefkorrespondenz mit diversen Städten und Landesherren und den Kreisrezessen, wenn auch bei letzteren die Regensburger Pest kaum in Erscheinung trat, weil aus der Kreisperspektive aufgrund der früher eingetretenen Gefährdung durch andere Orte nicht wirklich neue Maßnahmen erforderlich waren. Wenn man mit Martin Dinges unter effektiver Pestbekämpfung Maßnahmen versteht, "die auch nach heutigem Verständnis gesundheitspolizeilich wirksam waren", und "Effektivität" als Haltung definiert, "die Fatalismus überwindet, eine gewisse Organisiertheit erkennen läßt und auch die Umsetzung ernsthaft betreibt", und damit "die Fähigkeit einer Gesellschaft [... ] zeigt, auf eine wahrgenommene Bedrohung zu reagieren:'89, müssen die systematischen Informationsleistungen der sichtbar gewordenen komplexen Nachrichtensysteme und das auf verschiedenen Ebenen des Reiches angesiedelte, miteinander kommunizierende, sich gegenseitig ergänzende Krisenmanagement als Säulen einer effektiven Pestbekämpfung beschrieben werden.
88 Zur Beschreibung des Reiches als "komplementären Reichs-Staat" vgl. Georg Schmidt, Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichs-Staats, in: Klaus BußmannJHeinz Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. Bd. 2: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft. Münster/Osnabrück 1998, 447-454, sowie ders., Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806. München 1999,40-44. 89 Martin Dinges, Süd-Nord-Gefalle in der Pestbekämpfung. Italien, Deutschland und England im Vergleich, in: Wolfgang U. EckartiRobert lütte (Hrsg.), Das europäische Gesundheitssystem. Stuttgart 1994, 19-51, hier 20 f.
Teil 4
Kommunikationsraum Europa und Welt
Kommunikationsraum Europa und Welt Einleitung Von
Mark Häberlein Eine Gesamtdarstellung interkultureller und globaler Kommunikation in der Vormoderne steht bislang aus. Zwar existieren bereits eine Reihe von Bausteinen zu einer solchen Geschichte - erwähnt seien nur die zahlreichen Arbeiten zur Geschichte des Reisens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit1, zu transatlantischen Migrations- und Kommunikationsnetzwerken2 und zur interkulturellen Diplomatie in der Vormoderne 3 -, doch bedürfen diese noch einer inhaltlichen wie konzeptionellen Synthese. Niemand wird ernsthaft erwarten, daß der "Kommunikationsraum Europa und Welt" hier erschöpfend behandelt werden kann, doch lassen sich durchaus Einblicke in bestimmte Erscheinungsformen europaweiter und globaler Kommunikation in der Vormoderne 1 Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist besonders umfangreich. V gl. exemplarisch: Peter 1. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1989; Mary Louise PraU, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. New York/London 1992; Walter DemeI, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte. München 1992; Antoni Maczak, Travel in Early Modern Europe. Cambridge 1995; lürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998; Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter. Stuttgart 2001; lustin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800. Wien 2002. 2 Ian K. Steele, The English Atlantic, 1675-1740. An Exploration of Communication and Community. New York 1986; David Cressy, Corning Over. Migration and Communication between England and New England in the Seventeenth Century. Cambridge 1987; Richard D. Brown, Knowledge is Power. The Diffusion of Information in Early America, 17001865. New York 1989; Claudia Schnurmann, Atlantische Welten. Engländer und Niederländer im amerikanisch-atlantischen Raum, 1648-1713. (Wirtschafts- und sozialhistori sche Studien, Bd. 9.) Köln 1998; Ida L. Altman, Transatlantic Ties in the Spanish Empire. Brihuega, Spain, and Puebla, Mexico, 1560-1620. Stanford 2000; Renate Pieper, Die Vgrrnittlung einer neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums 1493-1598. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 163.) Mainz 2000; Renate Wilson, Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America. University Park, Pa. 2001. 3 Richard White, The Middle Ground. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650-1815. Cambridge 1991; Christian Windler, Tribut und Gabe. Eine Anthropologie des Schenkens in der mediterranen Diplomatie, in: Saeculum 51, 2000, 24-56; ders., La diplomatie comme experience de l' autre. Consuls fran<;ais au Maghreb (17001840). (Bibliotheque des lumieres, Vol. 60.) Genf 2002.
geben. Die folgenden Beiträge nähern sich von spezifischen empirischen Fallstudien her dem Thema. Einleitend werden an dieser Stelle zwei neuere geschichtswissenschaftliche Angebote zur Konzeptionalisierung europäischer und überseeischer Kommunikationsräume vorgestellt, die sich im Hinblick auf eine künftige Synthesebildung als hilfreich erweisen könnten: die Auffassung des frühneuzeitlichen Europa als kulturelles System und das Konzept der kulturellen Grenzen. Winfried Schulze hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sich im frühneuzeitlichen Europa "ein kulturelles System entwickelt hatte, das sehr viel stärker als im Zeitalter der Nationalstaaten als einheitliches System verstanden werden muß". Am Beispiel der Karrieren von Gelehrten, der europaweiten Rezeption wissenschaftlicher Werke und der Dichte und Reichweite von Korrespondenznetzwerken charakterisierte Schulze das frühneuzeitliche Europa als "ein erstaunlich eng verbundenes System wissenschaftlicher und kultureller Weltdeutung". Merkmale dieses kulturellen Systems waren unter anderem eine einheitliche Zeitrechnung, eine gemeinsame Sprache der geistigen, sozialen und politischen Eliten sowie eine relativ homogene Sozialisation der europäischen Adeligen, etwa in Form der "Kavalierstour". Die von Schulze gewählten Beispiele der Sprache, der gelehrten Korrespondenz und des Reisens machen deutlich, daß dieses kulturelle System letztlich auf Kommunikation beruhte und als Raum intensiver kommunikativer Vernetzung aufgefaßt werden kann. 4 Die folgenden Beiträge von Christl Karnehm und Martin Stuber werfen am Beispiel des vielseitig interessierten Augsburger Patriziers, Handelsherrn und Mäzens Hans Fugger (1531-1598) im 16. und des Berner Arztes, Wissenschaftlers, Ratsherrn und "Kommunikationsgenies" Albrecht von Haller (1708-1777) im 18. Jahrhundert markante Schlaglichter auf dieses kulturelle System Europas. Da beide Beiträge aus großen Erschließungsprojekten hervorgehen, können die Autoren sowohl statistische Befunde zur Reichweite frühneuzeitlicher Korrespondenznetze als auch quellennahe Einblicke in kommunikative Praktiken präsentieren. Karnehm führt aus, daß der Fuggersche Briefwechsel, der in über 4700 Briefkopien überliefert ist, dem Austausch von Informationen, Waren und Dienstleistungen zwischen Personen diente, die sich in durchaus heterogenen ständischen Positionen befanden und unterschiedlichste Interessen verfolgten. Darüber hinaus gewährt die Korrespondenz aufschlußreiche Einblicke in das Innenleben der Fuggerschen Firma und erhellt die Arbeitsteilung zwischen den Brüdern Hans und Marx Fugger. Stuber zeigt am Beispiel Hallers, von dem rund 17000 Briefe mit etwa 1200 KorWinfried Schulze, Die Entstehung des nationalen Vorurteils. Zur Kultur der Wahrnehmung fremder Nationen in der europäischen Frühen Neuzeit, in: Wolfgang SchmalelReinhard Stauber (Hrsg.), Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit. (Innovationen, Bd. 2.) Berlin 1998,23-49, Zitate 29f. 4
respondenzpartnern überliefert sind, die Zusammenhänge zwischen brieflicher Kommunikation und geographischer Mobilität - sowohl Hallers eigener als auch derjenigen seiner Korrespondenzpartner - auf. Die europäische Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, dies unterstreicht Stubers Fallstudie, konstituierte sich aus dem Zusammenspiel von wissenschaftlichen Institutionen, Medien, Briefwechseln und spezifischen Formen der "Gelehrtenmobilität" . Briefwechsel wie diejenigen Albrecht von Hallers konnten sowohl Auslöser als auch Begleiterscheinung und Folge räumlicher Mobilität sein. Unter dem Leitbegriff der kulturellen Grenzen unternahm Jürgen Osterhammel vor einigen Jahren den Versuch, interkulturelle Konstellationen im Prozeß der europäischen Expansion zu systematisieren und den Expansionsvorgang selbst als "umfassendes Phänomen interkultureller Begegnung" zu konzeptionalisieren. 5 In einem dreidimensionalen Modell, das er in Auseinandersetzung mit den Arbeiten Urs Bitterlis entwickelte6 , unterschied Osterhammel erstens die Abgrenzungspraktiken zwischen den Kulturen, zweitens die Kontaktsituationen im Prozeß der europäschen Expansion und drittens die Reflexionsformen kultureller Abgrenzung, also die Diskurse über die europäisch-überseeische Begegnung. Im Bereich der Abgrenzungspraktiken stellte er ein "Grundrepertoire des Umgangs mit dem Fremden" fest, das von weitgehender Integration über Akkommodation und Assimilierung bis hin zu Exklusion und Segregation, im extremsten Fall sogar zur physischen Vernichtung des Anderen reichte. Als typische Kontaktsituationen der europäischen Expansion identifizierte Osterhammel erstens die Begegnung mit geschlossenen Reichen (vor allem in Asien), wo Europäer auf klar gezogene kulturelle Grenzen stießen; zweitens die Begegnung mit "semi-permeablen außereuropäischen Ländern" (etwa im islamischen Kulturraum), die die Europäer mit "von Fall zu Fall virulent werdenden kulturellen Distanzen" konfrontierten; drittens koloniale Herrschaftsverhältnisse, in denen vor allem die Beherrschten zu Assimilation und Akkommodation gezwungen waren; viertens schließlich Kontaktsituationen an der europäischen Erschließungsgrenze oder Frontier, an welcher nach Osterhammel die "weiteste Amplitude von Abgrenzungspraktiken" zu beobachten ist. Der Bereich der Reflexionsformen schließlich läßt sich in die juristischen, theologischen, historischen und anthropologischen Diskurse über die europäische Expansion und die außereuro::päischen Völker untergliedern. 7 ]ürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46, 1995, 101-138. 6 Urs Bitterli, Die "Wilden" und die "Zivilisierten". Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. 2. Aufi. München 1991; ders., Alte Welt - neue Welt. FOI1llen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986. 7 Osterhammel, Grenzen (wie Anm. 5),103,120, 123f., 127.
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Unter dem Kommunikationsaspekt erweist sich Osterhammels Modell ,in zweifacher Hinsicht als hilfreich. Zum einen lenkt sein Konzept der kulturellen Grenzen die Aufmerksamkeit nicht nur auf feste Demarkationslinien, sondern auch auf mehr oder minder offene Zonen der Interaktion, Verstät;.digung und gegenseitigen Adaption unterschiedlieher Kulturen - auf Grenzräume also, in denen interkulturelle Kommunikation eine zentrale Herausforderung darstellte. Zum anderen weist Osterhammel darauf hin, daß die Abgrenzung zwischen Europäern und Nicht-Europäern keineswegs als selbstverständliche Gegebenheit anzusehen ist. "Differenzen und Distanzen zwischen Kulturen", schreibt er, "sind historisch variable Größen, Konstrukte wechselnder Selbstund Fremdzuschreibungen Kulturelle Grenzziehungen bis hin zur Ausgrenzung fremder Völker waren in Europa selbst keineswegs unbekannt, wie die Beispiele der gälischen Völker auf den britischen Inseln, der Lappen und Samen in Skandinavien oder der Krimtataren im Zarenreich zeigen. Die neuere Literatur bietet eine Reihe weiterer Beispiele für ganz unterschiedliche kulturelle Grenzziehungen und Grenzräume innerhalb Europas. 9 In der nordamerikanischen kolonialgeschichtlichen Forschung, die Formen interkultureller Kommunikation in Grenzräumen bereits seit längerem große Beachtung schenkt, ist in den letzten Jahren der Typus des "kulturellen Vermittlers" zwischen indianischen Ureinwohnern und europäischen Kolonisten verstärkt thematisiert worden. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen könnte, wie mein abschließender Beitrag zu zeigen versucht, auch für die Erforschung anderer interkultureller Konstellationen fruchtbar gemacht werden. In Kontaktsituationen zwischen Europäern in Übersee und Angehörigen außereuropäischer Völker waren beide Seiten auf Dolmetscher angewiesen, die nicht nur zwischen unterschiedlichen Sprachen, sondern auch zwischen fundamental divergierenden Weltbildern und Wertsystemen zu vermitteln vermochten. Wie das nordamerikanische Beispiel zeigt, bildete die simultane Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Netzwerken oft eine wesentliche Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Vermittlertätigkeit. Nicht wenige dieser kulturellen Grenzgänger fanden sich jedoch auch zwischen allen Stühlen wieder, weil ihnen letztlich keine der an der interkulturellen Konstellation beteiligten Parteien wirklich vertraute. Gemeinsam ist den hier vorgelegten Beiträgen die "Auffassung von Kommunikation als sozialer Interaktion", worunter nach Michael North "der wechselseitig stattfindende Prozeß der Bedeutungsvermittlung" zu verstehen
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Ebd. 107. Schmale/Stauber (Hrsg.), Menschen und Grenzen (wie Anm. 4); Paul Deisalle (Ed.), Les enc1aves territoriales aux Temps Modernes (XVI-XVIII si<~c1es). Actes du colloque de Besan<;on. Paris 2000; Christian Windler, Grenzen vor Ort, in: Rechtsgeschichte 1,2002 122-145. ' 8
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ist. lO Es geht also primär um Kommunikationsprozesse innerhalb personaler Netzwerke, während die Verknüpfung solcher Netzwerke mit politischen, ökonomischen und kulturellen Institutionen (Regierungsorganen, Börsen, Messen, Universitäten, Akademien) und Medien (Buchdruck, Zeitung), wie sie im Beitrag Stubers anklingt, hier nur ansatzweise thematisiert wird. Damit ist zugleich ein wichtiges Desiderat der Forschung zum europäischen und globalen Kommunikationsraum der Frühen Neuzeit angesprochen. Schließlich ist es gerade für die großen europäischen Kommunikationszentren wie Antwerpen, Venedig, Amsterdam und London charakteristisch, daß sie zugleich kommerzielle Knotenpunkte, Standorte bedeutend~r politischer und kultureller Institutionen und Medienmetropolen waren. ll Eine künftige europäische und globale Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit wird daher diesem Zusammenspiel von Netzwerken, Institutionen und Medien besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. 12
10 Michael North, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 59.) München 2000, 45 f. 11 Renate Pieper, Informationszentren im Vergleich. Die Stellung Venedigs und Antwerpens im 16. Jahrhundert, in: Michael North (Hrsg.), Kommunikationsrevolutionen. Die' neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. (Wirtschafts- und sozialhistorische Studien, Bd. 3.) Köln 1995, 45-60; Patrick O'Brien/Derek Keene/Marjolein 't Hart/Herman van der Wee (Eds.), Urban Achievement in Early Modern Europe. Golden Ages in Antwerp, Amsterdam and London. Cambridge 2000. 12 Ähnlich konstatiert Pieper, Vermittlung (wie Anm. 2),4, daß "Aufbau und Struktur von Kommunikationsnetzen, die Beziehungen zwischen Netzen und Medien sowie ihre zeitliche Veränderung in der Historiographie bislang nicht als mögliche Untersuchungs gegenstände erkannt worden" seien. Piepers Arbeit über die Verbreitung von Nachrichten aus Amerika im habsburgischen Imperium des 16. Jahrhunderts stellt unter Einbeziehung kommunikationstheoretischer Ansätze selbst einen wichtigen Beitrag zur Integration von Netzwerken und Medien in der historischen Analyse dar.
Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531-1598) Von
Christl Karnehm Das auf der Basis von Briefen europaweit agierende Kommunikationsnetz Hans Fuggers gehörte seinem Umfang nach zu den bedeutendsten im 16. Jahrhundert, dessen zweite Hälfte hier Gegenstand der Betrachtung sein soll. Die Überlieferung der Kopierbücher dieses bislang kaum beachteten Mitglieds der Augsburger Handelsdynastie mit einem Bestand von mehr als 4700 Kopien seiner ausgehenden Briefe könnte reiner Zufall sein - oder aber auch ein Indiz dafür, daß ihnen schon immer eine gewisse Bedeutung beigemessen wurde und man diesen Archivbestand im Hause Fugger deshalb besonders gehütet hat. Sie dokumentieren Geschehnisse über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren, in dem Hans Fugger mit Adressaten innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reiches zum großen Teil regelmäßig korrespondierte. Dabei stellt das überlieferte Quellenmaterial im Vergleich zu den von Hans Fugger tatsächlich versandten Schreiben nur die sichtbare Spitze eines beträchtlich größeren Eisberges dar, denn erhalten sind fast nur die von Kontorschreibern kopierten Briefe, nicht die eigenhändig verfaßten, die kaum weniger zahlreich gewesen sein dürften. Im Rahmen eines großen, von mehreren Institutionen getragenen Forschungsprojektes 1 habe ich diese Briefkopien möglichst umfassend erschlossen: Es wurden alle Briefe gelesen, ausführliche Regesten angefertigt sowie ein Indexsystem zu allen in den Briefen vorkommenden Namen, Orten und Sachbegriffen erstellt. Außerdem ging es darum, den verschiedenen historischen Disziplinen durch biographische und bibliographische Fußnoten einen Ansatz für die Identifikation von Personen und Sachverhalten und damit für weitere Forschungen zu liefern. Das abgeschlossene Werk liegt seit 2003 in Form einer Regestenedition mit wörtlichen Zitaten und Kommentaren vor;. Wie sah das Korrespondentennetz, das hinter dieser eindrucksvollen Brief-
1 Das Projekt wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Fuggersehen Stiftungen, der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft. Christi Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv. Bd. 1: (unter Mitarb. v. Maria Gräfin von Preysing) 1566-1573. Bd.211: 1574-1581. Bd. 2/2: 1582-1594. (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns, Abt. 3: Privatkorrespondenzen.) München 2003.
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Christl Kamehm
serie steht, in seinen Grundzügen aus? Welche Bedeutung hatte es für Firma und Haus Fugger? Das Handelshaus Fugger erlangte Berühmtheit durch seinen legendären Reichtum, der noch bis heute jedem Schulwnd irgendwann einmal zu Ohren kommt. Hinter diesem Reichtum stand über mehrere Generationen eine hohe Risikobereitschaft, sich in einer prosperierenden Stadt wie Augsburg nicht allein ökonomisch, sondern auch politisch auf eine Art der Verflechtung einzulassen, wie sie logistisch überhaupt nur ein kleiner Kreis europäischer Handeisfamilien zu handhaben vermochte. Die Zeiten waren turbulent: Einerseits wagten die europäischen Großmächte in alle Himmelsrichtungen neue Entdeckungen und suchten politisch wie ökonomisch zu expandieren, andererseits galt es, die osmanische Bedrohung oft an mehreren Stellen gleichzeitig abzuwehren und die vielerorts aufflammenden konfessionellen Konflikte mit ihren politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu bewältigen. Die Fugger waren gezwungen, mit Flexibilität und Umsicht auf mehrerlei Entwicklungen zu reagieren: Sie hatten gigantische Außenstände bei mächtigen Gläubigern, allen· voran dem Haus Habsburg in Madrid und Wien, während der ungarische Handel aufgrund der Türkenbedrohung gänzlich und der Bergsegen in den Tiroler Silberbergwerken fast ganz zum Erliegen gekommen war. Als auch noch die Erben der Linien von Georg und Hans Jakob Fugger auf ihrer Auszahlung bestanden, kostete dies das Stammhaus Fugger erneut beträchtliche Summen. 2 Das Kerngeschäft, einst Metallgewinnung und -handel, verlagerte sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts fast ausschließlich auf den Bank- und Kreditsektor. Hätten Anton Fugger und sein ihm nachfolgender Sohn Marx, der älteste Bruder Hans Fuggers, nicht erkannt, daß die europaweit bestehenden Kontakte in dieser komplexen Gesamtsituation ihr vielleicht größter Aktivposten waren, den es intensiv weiterzupflegen galt, wäre das ökonomische Überleben der Firma nicht zu sichern gewesen. Statt dessen war es das Verdienst dieser beiden Generationen vor dem Dreißigjährigen Krieg, das bewährt zuverlässige, effiziente Netzwerk für die geschäftliche und politische Kommunikation nach ihren aktuellen Bedürfnissen zu modifizieren und auszubauen. Bevor nun die spezifische Rolle und die Qualitäten Hans Fuggers für dieses firmeneigene Netzwerk thematisiert werden, gilt es zunächst, ihn selbst sowie den engeren familiären Kontext kennenzulernen. Hans Fugger war der zweitgeborene Sohn von insgesamt zehn Kindern des bereits genannten Anton Fugger (1493-1560) und seiner Frau Anna, einer geborenen Rehlinger (1505-1548). Anton war seinem kinderlosen Onkel- dem Vgl. hierzu vor allem Reinhard Hildebrandt, Die "Georg Fuggerischen Erben". Kaufmännische Tätigkeit und sozialer Status 1555-1600. (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6.) Berlin 1966. 2
noch berühmteren Jakob Fugger "dem Reichen" - als Regierer des Fuggerschen Handelsimperiums nachgefolgt und leitete dieses von 1525 bis zu seinem Tod. Antons Söhne verbrachten nur einen kleinen Teil ihrer Kindheit in Augsburg; mit elf Jahren nahmen Hans und zwei seiner Brüder,. der ä1~ere r:r.~rx (1529-1597) und der jüngere Hieronimus (1533-1573), Ihr U~lversltats studium auf. Erklärter Wille ihres Vaters war dabei der Umgang mIt gelehrten Männern und ein breit gefachertes Studium in Italien, Frankreich, Burgund und Spanien, damit sie "auch frembde Sprachen und Gepreuch erfaren und lernen") Diese sehr modern anmutende, internationale Ausbildungstour an Universitäten in politisch, gesellschaftlich und ökonomisch bedeutsamen Teilen Europas ermöglichte erste wichtige Begegnungen mit unterschiedlichen Ständen und Nationalitäten. Und die von Anton Fugger getroffene testamentarische Anordnung, es sollten sich seine Söhne im Anschluß an ihre Studien an den habsburgischen Höfen "zue Emptern unnd eerlichen Diensten" begeben4 , entsprach für Mitglieder der deutschen Kaufmannschaft keineswegs der zeitgenössischen Norm. Wenn sein Testament weiterhin ermahnt, daß nach seinem väterlichen Willen neben den kaiserlichen und königlichen Geboten auch jene der römisch-katholischen Kirche "gechorsamlich" zu ~alt~n seie~, so lagen hierfür handfeste Gründe vor: Seine umfangreichen KredIth~lfen: mIt denen er über Jahre hinweg, in Kriegs- und Friedenszeiten, sowohl dIe kaIserliche wie auch die königlich spanische Finanzkammer ausgestattet hatte, begründeten eine zwangsläufige Ausrichtung auf das Haus H~bsburg. Verbindliche Kontakte nach Wien, später nach Prag und nach Madnd, brachten zwar einerseits den positiven Effekt eines gesellschaftlichen Status gewinns , waren aber auch existentielle Notwendigkeit, wollte man die Rückführung der enormen Schulden der Habsburger gegenüber der Handelsgesellschaft Fugger nicht abschreiben, was deren schnellen Ruin bedeutet hätte. Anton Fugger hatte die gegenseitige Abhängigkeit klar erfaßt und wollte daher wed~r. den Bestand des katholischen Glaubens noch die politische Ordnung des HellIgen Römischen Reiches gefährdet sehen. Enge persönliche Beziehungen seiner Familie zu den Vertretern der sich formierenden katholischen Konfession wie auch zum österreichischen und spanischen Haus Habsburg, zum Kaisertum und zu seinen hochrangigen Räten und Beamten waren also ein Gebot des ökonomischen Überlebens. Als Hans Fugger sich dann um 1555 eine Zeitlang am Hof zu Wien aufhiel~, wohnte er im Hause des Schwiegervaters seiner Schwester Susanna, dem kaIZitiert nach Maria Gräfin von Preysing, Die Fuggertestamen~e des 16. Jahrh~.n~erts. Bd. 2: Edition der Testamente. Mit einer Einführung v. Georg Slmnacher. (?chwablsche Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische LandesgeschIchte, Rh. 4, Bd. 25; Studien zur Fuggergeschichte, Bd. 34.) Weißenhorn 1992, 118. 4 Ebd. 118.
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304 serlichen Geheimen Rat Hans Trautson von Matrei. 5 Das Haus dieses treuen habsburgischen Vasallen Trautson war zweifellos ein ausgezeichneter Ort, um genau jene hochrangigen Bekanntschaften zu schließen, die sein Vater für so wichtig hielt. Hans Fuggers regelmäßige, über lange Jahre gepflegte Briefverbindungen gingen zweifellos auf seine Zeit in Wien zurück. Es waren Verbindungen zu Mitgliedern der böhmischen und östeneichischen Adelsfamilien, darunter beispielsweise die Kinsky, Auersperg und Lobkowitz, zum kaiserlichen Botschafter in Spanien, Hans Khevenhüller, und zu dem in Konstantinopel, David Ungnad von Sonneck sowie dessen Bruder Ludwig, dem kaiserlichen Hofmarschall; zu Mitgliedern der Familien Lodron, Madrutz, Bräuner, Welsperg, Molart, Stubenberg, zu Wratislaw von Pernstein, der später zu einem der mächtigsten Mitglieder im kaiserlichen Geheimen Rat und Oberstkanzler des Königreichs Böhmen aufstieg, zu Don Juan Manrique de Lara, damals kaiserlicher Kämmerer, später unter anderem auch von den Fuggern finanzierter Kriegsherr gegen die Türken. Etliche dieser Namen gaben sich dann beim Augsburger Reichstag 15666 und erneut 1582 ein Stelldichein, diesmal im Augsburger Domizil der Familie Fugger. Dem Aufenthalt bei Hofe in Wien schloß sich für Hans Fugger noch eine gut zweijährige Tätigkeit in der Fugger-Filiale von Antwerpen an, wo er sowohl niederländische wie auch spanische Kontakte knüpfen konnte. Kurz nach seiner Rückkehr von dort heiratete er 1560 die aus altem oberpfälzischen Turniergeschlecht stammende Elisabeth Nothafft von Weißen stein (15391582), sein Bruder Marx Sybilla Gräfin von Eberstein. Für die fünf Schwestern wurden durchwegs Heiraten in gräfliche und freihenliche Häuser Tirols, Mährens und der Steiermark, allesamt habsburgisch regierte Länder, anangiert. So vollzog sich in dieser Generation der soziale Aufstieg vom städtischen Patriziat in den Reichsadel, wie es dem testamentarischen Wunsch Antons entsprochen hatte. Der in der Erziehung sowohl der Generation von Hans Fugger als auch der seiner eigenen Kinder zutage tretende Akzent auf Internationalität, Weltgewandtheit und Hoffähigkeit ermöglichte genau die wertvollen Begegnungen, welche zur Ausbildung eines Kontaktnetzes jenseits der eigenen Standesgrenzen nötig waren. Diese faktisch zu verlassen war natürlich zu keiner Zeit möglich, dennoch gelang es aufgrund der ökonomisch machtvollen Situation, der guten persönlichen Beziehungen und des damit verbundenen gesellschaftlichen Umgangsfelds, sie in ihrem Erscheinungsbild nach außen sichtbar aufzuweichen.
Franz Hadriga, Die Trautson. Paladine Habsburgs. GrazlWienlKöln 1992. Vgl. Nikolaus Mameranus, "Kurtze und eigentliche Verzeychnus [... ]" der Teilnehmer am Reichstag zu Augsburg 1566, wiederveröffentlicht durch Hanns Jäger-Sunstenau. Neustadt a. d. Aisch 1985.
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Die bisherige Literatur beurteilte den zweitgeborenen Sohn Antons, Hans Fugger, vorwiegend als Schöngeist und Sammler von Kunstwerken7 , erwähnte ihn jedoch nie im Zusammenhang mit der Fuggerschen Handelsgesellschaft. Nach Auswertung seiner Kopierbücher ist inzwischen allerdings klar, daß eine solche Einschränkung nicht länger haltbar ist. Er war über die Geschäftsgänge nicht nur bestens informiert, sondern soweit eingearbeitet, daß er seinen Bruder Marx während dessen zahlreichen, auch länger währenden Reisen und Abwesenheiten jederzeit kompetent zu vertreten wußte. Auch sonst scheint das Brüderpaar, das mit seinen jeweiligen Familien auch in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander wohnte, in regem Austausch über die Geschäftsgänge gestanden zu haben. Die umfangreiche Überlieferung der Konespondenz offenbart Hans Fugger eindeutig als Kommunikationstalent. So spricht einiges dafür, daß seine frühen, am Kaiserhof in Wien und im Geschäftsleben Antwerpens geknüpften Kontakte auf eine von Anfang an beabsichtigte, langfristig angelegte Arbeitsteilung zwischen den beiden Brüdern Marx und Hans Fugger zielten. Marx leitete als Regierer der Firma die Tagesgeschäfte, währenddessen sich Hans gegenüber den standesmäßig und ökonomisch interessanten Kreisen um den Austausch von Nachrichten kümmerte und - ein nicht zu unterschätzender Punkt - mit Gefälligkeiten und Besorgungen zu Diensten war. Ein heutiger Konzern würde Hans Fugger als seinen Mann für ,Public Relations' präsentieren. In jüngster Zeit kümmert sich die historische Forschung wieder verstärkt um die sogenannten Fuggerzeitungen.8 In handschriftlich vervielfältigter Form leiteten darin Marx und Hans Fuggers jüngere Vettern aus der GeorgLinie, nämlich Octavian Secundus und Philipp Eduard Fugger, die sich nach ihrer Auszahlung übrigens selbständig im Pfefferhandel engagierten, N achrichten, die sie aus dem europäischen Handel, von höfischen Beamten und Heerführern der ungarischen Grenzgebiete bekamen, an interessierte Kreise Die bislang einzige Monographie stammt von Georg Lill, Hans Fugger und die Kunst. Ein Beitrag zur Geschichte der Spätrenaissance in Süddeutschland. (Studien zur Fuggergeschichte, Bd.2.) Leipzig 1908. Neuere Arbeiten würdigen Einze1aspekte der Kunstsammlung wie Dorothea Diemer, Hans Fuggers Samm1ungskabinette, in: Renate Eikel" mann (Hrsg.), "lautenschlagen lernen und ieben". Die Fugger und die Musik. Anton Fugger zum 500. Geburtstag. Augsburg 1993, 13-40; Georg Lutz, Gegenreformation und Kunst in Schwaben und in Oberitalien: der Bilderzyklus des Vincenzo Campi im Fuggerschloß Kirchheim, in: Bernd Roeck/Klaus BergdoltiAndrew J. Martin (Hrsg.), Venedig und Oberdeutschland in der Renaissance. Beziehungen zwischen Kunst und Wirtschaft. (Studi - Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig, Bd. 9.) Sigmaringen 1993, 131-154. 8 V gl. hierzu Michael Schilling, Zwischen Mündlichkeit und Druck: Die Fuggerzeitungen, in: Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. T. 2. (Chloe: Beihefte zum Daphnis, Bd. 25.) Amsterdam/Atlanta 1997,717-727.
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weiter. 27 Bände in der Wiener Nationalbibliothek dokumentieren diesen brieflich gefühlten Austausch von Neuigkeiten zwischen 1568 und 1605. Dabei muß allerdings betont werden, daß diese Zeitungen keineswegs eine Erfindung der beiden Vettern, sondern vielmeh~ traditioneller Fuggerbrauch waren, für die es schon zwei Generationen vorher schriftlich und sogar bildlich überlieferte Belege gibt. 9 Damals wie heute griff das politische und militärische Geschehen unmittelbar in die nationalen und internationalen Handelsbeziehungen ein, so daß es für die Fugger schon seit jeher aus rein praktischen Gründen notwendig war, möglichst umfassend darüber Bescheid zu erhalten und - wie wir noch sehen werden - dieses Wissen auch weiterzugeben. Zu Anfang mag dies im Kreise der eigenen Faktoreien und Bergwerke genügt haben. Die Verflechtungen des Fuggerschen Kapitals mit der großen Politik erforderten jedoch einen entsprechend weiter ausgreifenden und auch möglichst eiligen Nachrichtenaustausch. Erkennbar wird die Infrastruktur des Fuggerschen Kommunikationsnetzes in Hans Fuggers Korrespondenz gespiegelt, auch allmähliche Verändenmgen im geschäftlichen und gesellschaftlichen Bereich; dabei ist es Marx Fugger und seinem rührigen Bruder Hans als Verdienst anzurechnen, solche Notwendigkeiten erkannt und immer wieder flexibel darauf reagiert zu haben. Als Vorsteher des Fuggerschen Stammhauses waren sie berufen und wohl ungleich besser als ihre Vettern gerüstet, ,Zeitungen' - was im damaligen Sprachgebrauch ,Botschaft, Nachricht oder Meldung' hieß - auszutauschen und weiterzuleiten. Der Unterschied zwischen Hans Fuggers Korrespondenz und den sogenannten Fuggerzeitungen liegt vor allem in einer anderen und vielleicht weniger griffigen Überlieferungs struktur. Die Briefe Hans Fuggers sind zunächst einmal eine Fundgrube für das tägliche Geschehen im eigenen Hause - Familie wie Handelsfirma -, in der Stadt, im näheren und weiteren Umland, in den Ländern Europas. Es finden sich darin Mitteilungen über Selbsterlebtes ebenso wie Gehörtes und Gelesenes aus erster oder zweiter Hand; diese können privater, politischer, ökonomischer oder anderer Natur sein. Sie spiegeln die Interessen des jeweiligen Adressaten wie auch Hans Fuggers eigene wider, und die höchst unterschiedliche Adressatenschicht reicht vom Reichsvizekanzler bis zum Reitknecht; kurz, die Struktur der Briefkopien Hans Fuggers nach Adressaten ist vollkommen heterogen und damit nach ihren Inhalten entsprechend individuell. Darüber hinaus versandte Hans Fugger aber auch standardisiertes, für vielfältige Empfängerkreise gedachtes Nachrichtenmaterial, das er in seinen Briefen als "Beilagen" oder "Mitgesandtes" erwähnte. Hier allerdings liegt - zuDas berühmte "Kostümbuch" des Fuggerschen Buchhalters Matthäus Schwarz aus der Zeit Jakob Fuggers des Reichen zeigt eine Art Briefschrank mit etikettierten Fächern, wel~ che die verschiedenen Korrespondenzorte kennzeichnen; siehe hierzu die Abbildung bel Götz Freiherr von Pölnitz, Die Fugger. 5. Anfl. Tübingen 1990, gegenüber S. 81. 9
mindest vorerst - ein Dilemma für die historische Forschung. Wir haben in diesen Fällen nur die Begleitbriefe überliefert, während die gleichzeitig verschickten Beilagen keinen Eingang in die Kopierbücher fanden. Was wir in den Briefkopien finden können, sind unter Umständen Fuggers begleitende Kommentare dazu. So muß die weitere Erforschung dieses Themenkreises zutage fördern, ob diese standardisierten Beilagen sich hauptsächlich, was anzunehmen ist, auf bis heute bekannte und überlieferte Fakten beziehen und ob sie ganz oder teilweise mit den Fuggerzeitungen von Octavian Secundus und Philipp Eduard Fugger übereinstimmen, womöglich sogar identisch sind, so daß man diesen Bereich auf solche Weise rekonstruieren könnte. Kommen wir noch einmal auf die personelle Vielfalt des Adressatennetzes zurück, das Hans Fugger aktiviert hatte. Durch die bereits genannten persönlichen Kontakte und die parallel dazu geführte Korrespondenz mit hohen Rangträgem erschließt sich auch eine Vielzahl indirekter Beziehungen, beispielsweise zu fast allen österreichischen Erzherzögen, zum spanischen König Philipp II., zu König Johann von Schweden, zum Vizekönig von Neapel, zum Herzog von Savoyen und nicht zuletzt zur international zusammengesetzten geistlichen und weltlichen Entourage der jeweils regierenden Päpste. Zweifellos konnten dort wertvolle Nachrichten aus erster Hand gewonnen werden. Und sie waren für die eigene Geschäftspolitik ebenso willkommen, wie es auch von Nutzen war, sie - möglichst umgehend - an andere Personenkreise, die ebenfalls auf authentische, zuverlässige Nachrichten angewiesen waren, weiterzugeben. Zwar gab es damals bereits auch professionelle Nachrichtenagenten, die sogenannten Novellanten, doch hatten diese in hochrangigen Kreisen nicht den besten Ruf. Ganz im Gegensatz zu den Fuggern fehlte es jenen häufig an Insiderkenntnissen, an Authentizität, an Schnelligkeit in der Weiterleitung. Und keinem Novellanten-Blatt wäre es möglich gewesen, so differenziert wie Hans Fuggers Briefe auf die ganz spezifische Interessenlage eines hochrangigen Adressaten einzugehen. Nicht umsonst mokierte er sich 1580 gegenüber dem kaiserlichen Hofrat Tonner über die Novellanten, "daß man von Venedig schreibt, was alhie [in Augsburg] te glich geschieht". 10 Hans Fuggers Korrespondenz beschränkte sich aber nicht allein auf das politische und militärische Nachrichtenwesen, die Vermittlung von Krediten und innereuropäischen Geldtransfers; ihre kulturgeschichtliche Relevanz ist viel,. umfassender. Die Besorgung von Luxusgütern aus aller Herren Länder dürfte ihm weit mehr Prestige eingebracht haben als die endlos schlechten Nachrichten von der Türkenfront. Nur ansatzweise sei die Vielfalt von Hans Fuggers europaweiten Besorgungen illustriert: Kunst und Kunstgewerbe, Juwelen und Kleinodien, fertige Möbel und kompliziertes Handwerksgerät, Brokatstoffe aus Italien, kostbares Glas aus Venedig, Seide und damaszenische Klingen 10
Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers (wie Anm. 1), Bd. 2/1, Nr. 1752.
aus Spanien. Aus den Niederlanden kamen sowohl Gobelins wie auch singende Knaben für die Hofmusik, aus Übersee exotische Tiere, zum Beispiel molukkische Papageien für die Voliere im Zimmer oder Meerkatzen für den höfischen Tiergarten, eine im eigenen Lande schwer erhältliche Medizin ebenso wie kostbare Gewürze, Räucherwerk, Fäßchen mit eingelegtem Ingwer aus Indien oder mediterrane Palmwedel für die von den Jesuiten gestaltete und vom bayerischen Herzog Wilhelm V. engagiert begleitete Fronleichnamsprozession in München. Für eine Reihe überseeischer Gewächse, wie beispielsweise Kartoffeln und Sonnenblumen, für Nutztiere wie Truthühner und vieles andere mehr, können wir Hans Fugger als einen der frühesten Importeure überhaupt nachweisen. Herzogin Renata von Lothringen etwa wandte sich mehrmals an Hans Fugger um seltene Pflanzen - ein Steckenpferd, dem er auch selbst frönte. Dazu gehörten Tulpenzwiebeln ebenso wie Blumenkohl- oder Artischockensamen für die höfischen Blumen- oder Gemüsegärten, und selbst die Besorgung ausgefallener Nikolausgeschenke für den herzoglichen Gemahl oder Sohn war einer bayerischen Herzogin ohne die Hilfe Hans Fuggers offenbar nicht möglich. Für diese Aufträge und Wünsche konnte er sich des europaweit verzweigten Fuggerschen Filialnetzes, der sogenannten Faktoreien, bedienen, deren Aktionsradius bzw. Geschäftsbeziehungen weit über die jeweilige Stadt hinausgingen. Viele der Orte, an denen Hans Fuggers Adressaten lebten, gehörten bereits seit früheren Generationen zum Netzwerk des Handelshauses. Zu Zeiten seiner größten Ausdehnung unter Anton Fugger reichte es im Norden bis nach Hamburg und berührte entlang der Ostseeküste zahlreiche Hansestädte. Waren auch die Bergwerksgeschäfte im Osten 1546/47 wegen der Türkengefahr eingestellt und die Niederlassungen in Breslau und Krakau aufgelöst worden, so erfolgten zu Hans Fuggers Zeiten doch noch alle Besorgungen aus Nord- und Osteuropa sowie den Hansestädten von Nürnberg aus, dessen Faktor zudem die halbjährlich stattfindenden großen Handelsmessen in Leipzig und Frankfurt am Main konsultierte. Der Fugger-Faktor in Wien organisierte sowohl die Schreiben an kaiserliche Hofbedienstete als auch die regelmäßige Korrespondenz von und zu den in den ungarischen und kroatischen Grenzgebieten stationierten Militärs, was das offizielle Nachrichtenwesen an Schnelligkeit bei weitem übertraf und aufgrund der persönlichen Kontakte offenbar auch inhaltlich zuverlässiger war. Nachdem Hans Fuggers Interesse einem der wichtigsten Prestigeobjekte jener Zeit, dem Erwerb hochwertiger Pferde aus diesen Regionen, galt, zu denen vor allem die militärischen Kreise leichter Zugang hatten, konnte man sie um Gefälligkeiten solcher Art bemühen. Mit diesen ansonsten schwer zu erhaltenden Pferden erlangte Hans Fugger seinerseits wieder Prestige und Ansehen, wenn er sie zum Geschenk machte. Als häufig erbetene Gegenleistung kümmerte er sich für die Hauptleute um ausstehende Schuldforderungen und
Pensionsansprüche gegenüber den habsburgischen Finanzkammern. Mit zusätzlicher Hilfe eines Agenten in Prag, der unter dem vorzugsweise dort residierenden Kaiser Rudolf Ir. notwendig wurde, reichten die geschäftlichen Aktivitäten dieser bei den Filialen weit nach Böhmen und Mähren sowie in die heutige Slowakei hinein und deckten auch die von Habsburg gehaltenen ungarischen und kroatischen Gebiete ab. Auch die Fuggersche Faktorei in Antwerpen war seit den sechziger Jahren angewiesen, wöchentlich die neuesten Nachrichten über die Ereignisse in den spanisch besetzten Niederlanden zu übermitteln. Auch sie besorgte briefliche Kontakte wie Finanztransfers zu und von dort eingesetzten hohen Militärs. Diese lieferten ihrerseits an Hans Fugger Neuigkeiten der niederländischen Erhebung gegen die Spanier. Die Authentizität der Schilderungen dieses zunehmend heftiger wütenden Konfliktes, der auch dem Handel im ganzen westlichen Europa schwer zusetzte, stellte übrigens Hans Fuggers von Haus aus prohabsburgische Gesinnung manchmal auf eine harte Probe. In seinen Kommentaren erhielt mehr und mehr seine von christlichem Ethos getragene humanitäre GrundeinsteIlung Vorrang gegenüber der spanischen Politik der Härte. Da ein großer Teil des Handelsgutes überseeischer Territorien aus Spanien und Portugal über die Biskaya nach Antwerpen verschifft wurde, war es Aufgabe des jeweils dort wirkenden Faktors, über das eintreffende Warenangebot zu berichten und Käufe zu tätigen. Auch das niederländische Handwerk und die Edelsteinschleifereien Antwerpens wurden von Hans Fugger für sich selbst oder im Auftrag anderer in Anspruch genommen. Über die Faktorei in Madrid pflegte man die Kontakte zum spanischen Hof, zu den Maestrazgos und nach Lissabon. Gestaltete sich die Hauptaufgabe der Madrider Fugger-Faktorei, die Administration und Verringerung der Schulden der spanischen Finanzkammer gegenüber dem Augsburger Stammhaus, auch äußerst schwierig, war von dort doch Wichtiges über die Pläne der Armada, zum Stand der Türkenbedrohung innerhalb der gesamten Levante sowie zum Geschehen in Übersee zu erfahren. Zu diesem firmeneigenen Netzwerk, von dem in der Regel mindestens einmal wöchentlich Berichterstattung gefordert war, kamen noch einige Handelsagenturen in Italien hinzu. Die weitaus bedeutendste war hierbei jene der Familie Ott, die ihren Sitz im ,Fondaco dei Tedeschi' in Venedig hatte und zu, der ebenfalls wöchentlicher Kontakt bestand. David Ott und später seine Söhne Christoph und Hieronimus organisierten von Venedig aus die Weiterleitung aller Post- sowie auch Bankgeschäfte innerhalb Italiens, insbesondere zu Bankhäusern in Rom, Mailand und Neapel. Sie knüpften daneben auch Kontakte zum örtlichen Kunstmarkt und besorgten vor allem in Hans Fuggers jüngeren Jahren die Einrichtungs- und Kunstgegenstände, mit denen er sein Wohnhaus in Augsburg, später sein Schloß in Kirchheim an der Mindel ausstattete. Durch einen separaten Friedensvertrag mit den Türken (1573) hatte
Venedig mehr als andere Länder Zugang zu orientalischen Waren und solchen von den besetzten Mittelmeerinseln. Eine Vielzahl von Besorgungen wurde insbesondere für den bayerischen Herzog Wilhelm V. getätigt 11 , wohingegen dessen Vater Albrecht V. noch eigene Agenten in Venedig beschäftigt hatte. Für das Nachrichtenwesen wie auch für cije Besorgung von Kunstgewerbe, hier vor allem der hochbegehrten Korallen, spielten zeitweise noch verschiedene deutsche Agenten in Genua eine gewisse Rolle. Aufgrund der geopolitisch günstigen Lage konnte man von dort aus Spanien per Schiff gut erreichen, wichtig vor allem zur Zeit der in Aquitanien und Südfrankreich schwelenden Hugenottenkriege, die immer wieder negative Auswirkungen auf das Botenwesen zwischen Rhönetal und Pyrenäen hatten. Die Nord-Süd-Verbindungswege, die nicht über den Brennerpaß liefen, sondern vom Bodensee aus über die Schweiz nach Süden führten, lagen ebenfalls günstiger zu Genua als zu Venedig. In Rom unterhielten die Fugger seit dem Sacco di Roma 1527 keine eigene Faktorei mehr, sondern pflegten bei Bedarf Geschäfte über den dortigen Bankier Olgiati, solche in Neapel über den dort ansässigen Bankier Francesco Bonaventura abzuwickeln, welche beide wiederum ihre Anweisungen und Briefe über das Fondaco-Büro in Venedig erhielten. Als wichtige Kommunikanten Hans Fuggers sind schließlich noch verschiedene Mitglieder der Familie Montfort 12 zu erwähnen. Seine älteste Schwester Katharina (1532-1585) hatte 1553 den steirischen Grafen Jakob von Montfort geheiratet, der bereits 1562 verstarb. Ihre fünf Söhne studierten aufgrund eines großzügigen Legats seitens ihres Großvaters Anton Fugger in Dillingen, Ingolstadt, Burgund und Italien, teilweise zusammen mit Hans Fuggers eigenen Söhnen. Seine Briefe spiegeln ein enges Verhältnis zu diesen Neffen, insbesondere zu Jörg, Hans und Anton. Nach ihrem jeweiligen Studienabschluß vermittelte er sie mit Hilfe seiner guten Beziehungen, als handelte es sich um seine eigenen Kinder, äußerst geschickt in verschiedene hohe Ämter. Mit Hilfe seines alten Lehrers Dr. J ohann Tonner von Truppach, inzwischen Reichshofrat in Prag, brachte Fugger den ältesten der Brüder, Jörg, als kaiserlichen Mundschenk bei Hof unter; dem zweiten, Hans, verhalf er in das Amt des Präsidenten des Reichskammergerichts in Speyer. Nachdem Graf 11 Herzog Wilhelm V. war innerhalb des gesamten Überlieferungs zeitraums der Korrespondenz Hans Fuggers mit 332 Briefkopien der am häufigsten frequentierte Adressat; dabei ist no.ch zu be~ücksichtigen, daß es üblich war, an so ranghohe Adressaten eigenhändig zu schreIben. WIe aufgrund der Bestände im Geheimen Hausarchiv und Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München, nachzuweisen ist, gibt es weitere 109 eigenhändige Schreiben Hans Fuggers an den Bayernherzog. Davon wurden nur 35 in der Edition erfaßt (siehe Anm. 1). Die Auswertung der übrigen erfolgt neuerdings bei Regina Dauser (vgl. Anm.14). 12 Vgl. Detlev Schwennicke (Hrsg.), Europäische Stammtafeln. Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten. Neue Folge, Bd. 12: Schwaben. Marburg 1992, Tafel 54.
Anton sich für eine geistliche Laufbahn entschieden hatte, vermittelte ihn Hans Fugger an den Hof Kardinal Ludwigs von Madrutz nach Rom, später zu Kardinal Andreas von Österreich, einem Sohn Erzherzog Ferdinands von Tirol. 13 Der jüngste, Wolf, wurde nach etlichen Reisen und Studien Landeshauptmann der Steiermark in Graz. So hatte Hans Fugger am kaiserlichen Hof in Prag, am Gericht in Speyer sowie beim hohen Klerus in Rom nahe Verwandte untergebracht, die jederzeit Nachrichten aus erster Hand zu liefern gewillt waren. Kaum einer anderen Gruppe von Personen schrieb Hans Fugger so häufig wie seinen Neffen Montfort, und er hielt sie beständig an, aus ihrem jeweiligen Wirkungskreis zu berichten, wie er auch ihnen stets behilflich war, in ihren Karrieren voranzukommen. So war dieses Fuggersche Netzwerk, dessen Wirkungsweise hier nur ansatzweise aufgezeigt werden konnte, ein klug eingefädeltes und immer wieder veränderten Notwendigkeiten angepaßtes System von Geben und Nehmen, Hören und Weitersagen, der Pflege und Förderung gemeinsamer Interessen zwischen dem Hause Fugger und seinen Adressaten. Nicht alle, aber viele der geschilderten ,Dienstleistungen' gegenüber hochrangigen Kreisen erfolgten unentgeltlich, uneigennützig waren sie keineswegs. Die jeweiligen Anteile von privatem und geschäftlichem Nutzen, die aus diesem Netzwerk gezogen werden konnten, sind kaum voneinander zu trennen, auch wandelten und verlagerten sich die inhaltlichen Schwerpunkte der Korrespondenz im Laufe der dreißig Jahre, die wir nun überblicken können. Man wird die Briefkopien Hans Fuggers im Laufe der Zeit noch unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten zu analysieren haben, nicht zuletzt gerade unter kommunikations geschichtlichen. 14 Diese weiteren Arbeiten werden mit Sicherheit noch mehr und Genaueres über das direkt wie auch indirekt erschließbare Beziehungsgeflecht zum Vorschein bringen. Unsere bisherigen Kenntnisse der Kommunikationswege, über die sich Hans Fuggers privates Leben, das seiner Familie und das der Firma Fugger bewegte, und darüber, welche Berührungspunkte es zum engeren und weiteren gesellschaftlichen Umfeld seiner Epoche gab, werden erweitert und neu abgesteckt werden können. Und manches deutet darauf hin, daß das Kommunikationstalent Hans Fugger schon so etwas wie ein ,global player' der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war.
~.3 Er~t 1592 erh~el.t Anton Graf Montfort eine Pfründe bei St. Moritz in Augsburg und ubersIedelte damIt m die unmittelbare Nachbarschaft seines Onkels. 14 In diesem ~usamJ?enhang sei .bereits auf die an der Universität Augsburg jüngst abgeschlossene DIssertatIOn von Regma Dauser zum Thema "Informationskultur und Beziehungs,:issen.- das Konoespondenznetz Hans Fuggers (1531-1598)" hingewiesen, die auf den Bnefkoplen Hans Fuggers und weiteren Quellen basiert.
Brief und Mobilität bei Albrecht von Haller Zur Geographie einer europäischen Gelehrtenkorrespondenz Von
Martin Stuber Während die linke Hand einen entfalteten Brief präsentiert, liegt die rechte auf dem Globus: In der Pose des Prinzen Wilhelm August von Holstein-Gottorp aus dem Jahr 1769 sind die Bezüge zwischen brieflicher Kommunikation und räumlicher Mobilität buchstäblich mit den Händen zu greifen (Abb. 1, S. 314). Öffnet sich dem Prinzen im Medium Brief die weite Welt? Sind es umgekehrt seine realen räumlichen Veränderungen, die über den halben Globus hinweg zu Briefgesprächen mit den Daheimgebliebenen führen? Verschafft er sich unterwegs jene Kontakte, aus denen sich später raumübergreifende KOlTespondenzen entwickeln? Tatsache ist, daß der Prinz sich zu jener Zeit in Begleitung seines Bruders und eines Hofmeisters auf einer mehrjährigen Bildungsreise durch Europa befindet, ebenso, daß alle drei in brieflichem Austausch mit dem Universalgelehrten Albrecht von Haller (1708-1777) stehen, dessen KOlTespondenz die Quellengrundlage der folgenden Untersuchungen darstellt. 1 Briefliche Kommunikation kann definiert werden als ,schriftliches Gespräch zwischen räumlich getrennten Partnern'. Wegen ihres dialogischen Charakters ist sie verwandt mit der mündlichen Rede, unterscheidet sich aber von dieser durch den brieftypischen Phasenverzug (Schreiben, Übermitteln, Lesen). Damit einher gehen Verluste an Unmittelbarkeit, denn erstens können die Worte vor dem Absenden beliebig oft umformuliert werden und zweitens fehlen an physische Präsenz gebundene Ausdrucksmittel wie Gestik, Ge-
1 Das Forschungsprojekt Albrecht von Haller (www.haller.unibe.ch) unter der Leitung von Prof. Urs Boschung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Medizinhistorischen Instituts der.. Universität Bem und der Burgerbibliothek Bem. Es erschließt und erforscht mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds und der Albrecht von Haller-Stiftung der Burgergemeinde Bem den Nachlaß und das Werk Albrecht von Hallers. Bereits erschienen: Urs
BoschunglBarbara Braun-BucherlStefan HächlerlAnne Kathrin OttlHubert Steinkel Martin Stuber (Hrsg.), Repertorium zu Albrecht von Hallers KOlTespondenz 1724-1777. 2 Bde. Basel 2002. Im Druck: Martin StuberiStefan HächlerlLuc Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. - Alle im Original zitierten Briefe ohne Standortangabe liegen in der Burgerbibliothek Bem. Ich danke Richard Stuber für die Erstellung der Karten sowie Urs Boschung, Stefan Hächler, Franz Mauelshagen, Anne Kathrin Ott und Hubert Steinke für das Gegenlesen und anregende Kommentare.
Abb. 1: Wilhelm August von Holstein-Gottorp (1753-1774), in grauem ]ustaucorps mit Goldbordüren und -knöpfen über roter Weste, Seraphinenorden auf der linken Hüfte, den rechten Unterarm über einen Globus gelegt; die Linke einen entfalteten, doppelseitigen, A son Alt[esseJ gerichteten Brief mit rotem Siegel haltend [Emanuel Handmann 1769, Schloß Hindelbank).
(14000), Formey (18000), Garampi (15000), Lavater (20000), Leibniz (20000), Melanchthon (10000) und Voltaire (21000) zu den umfangreichsten der gesamten Frühen Neuzeit. Hallers Netz erstreckt sich von Dublin bis Moskau und von Stockholm bis Malaga, und es besitzt auch in den Sprachen Deutsch, Französisch, Englisch, Lateinisch, Italienisch - europäische Dimensionen. Seine räumliche Ausdehnung entspricht der europäischen Gelehrtenrepublik, die man verstehen kann als das frühneuzeitliche Kommunikationssystem des gelehrten Standes und die sich konstituiert durch das vielfältige Zusammenspiel von Institutionen (Universitäten, Akademien, Bibliotheken, Sozietäten), Druckmedien (Bücher, Zeitschriften), Gelehrtenmobilität (Studium, akademische Reise, Forschungsreise, Berufung, Exil) und Gelehrtenbriefwechseln. 4 Diese übergeordnete Raumebene bildet den Bezugsrahmen, um drei Konstellationen zu skizzieren: Briefliche Kommunikation kann sich aus Mobilität entwickeln (1), briefliche Kommunikation kann Mobilität begleiten (Il), und briefliche Kommunikation kann Mobilität in Gang bringen (IIl).
I. Briefliche Kommunikation entwickelt sich aus Mobilität
sichtsausdruck und Stimmodulation. Gleichzeitig liegt aber in diesem Phasenverzug die große Stärke, nämlich die Überwindung von Raum und Zeit mit relativ einfachen Mitteln. 2 Funktional kommt der Brief somit in die Nähe der raumübergreifenden Mobilität zu stehen, die er substituiert, begleitet, rapportiert oder reflektiert, beziehungsweise durch die er im umgekehrten Fall erst initiiert wird. Obschon derartige Zusammenhänge auch für die Frühe Neuzeit naheliegend sind, existieren erstaunlicherweise noch keine systematischen einschlägigen Untersuchungen. Im vorgegebenen Rahmen kann dies auch der ~orliege~de Beitrag nicht leisten. Vielmehr wird es darum gehen, mit möglIcherweIse exemplarischem empirischem Material einige Wechselwirkungen zwischen Brief und Mobilität zu skizzieren und damit die Fragestellung schärfer zu fassen. Die Korrespondenz Albrecht von Hallers gehört mit ihren rund 17000 überlieferten Briefen3 wie diejenigen von Bullinger (12000), Fabri de Peiresc 2
Peter Bürgel, De~: Privatb~ef. .Entwurf eines heuristischen Modells, in: DVjs 50, 1976,
281~297;. Peter Burgel, Bnef, m: Werner Faulstich (Hrsg.), Kritische Stichwörter zur ~edlenwlssenschaft. München 1979,26-47; Reinhard M. G. Nickiseh, Brief. (Realien zur LIteratur.) Stuttgar~ ]991,4-11; Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im
18. Jahrhundert. Wlen/KölnlWeirnar 2000,26-32. Dab~i stehe.n den 13 30.0 Briefen an Haller bloß 3700 Briefe von Haller gegenüber. Das Ungle!chgewlcht hat allem überlieferungstechnische Gründe, denn Haller bleibt in der Regel keme Antwort schuldig. Für statistische Aussagen stellen daher nur die Briefe an Haller 3
"Je n'ai pas eu le bonheur de vous connoitre de vue", schreibt Jean Pierre de Crousaz 1740 in seinem ersten Brief an Haller, ehe er ausführlich die unglücklichen Umstände erörtert, die anläßlich des Aufenthalts von Haller in Lausanne eine Direktbegegnung verhindert haben. 5 Crousaz ist eine der rund 1200 Personen, die mit Haller in brieflichen Kontakt treten. Und er ist offensichtlich einer derjenigen, bei denen dem Briefwechsel keine Begegnung von Angesicht zu Angesicht vorausgegangen ist, was ihn, wie noch zu zeigen sein wird, für diese frühe Phase im Hallemetz zum Angehörigen einer Minderheit macht. In der erst in Ansätzen vorhandenen Forschungsliteratur zur Herausbildung von Korrespondenznetzen geht man summarisch davon aus, daß - neben der eine brauchbare Basis dar, und diese allein sollen in den folgenden Mengenangaben berücksichtigt werden. .4 Hans Erich Bödeker, Aufklärung als Kornmunikationsprozeß, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Aufklärung als Prozeß. Harnburg 1988, 89-111; Willem Frijhoff, La circulation des hommes de savoir: poles, institutions, fiux, volumes, in: Hans BotslFran<;oise Waquet (Eds.), Commerciurn Litterarium. Fonns of Communication in the Republic of Letters 1~00-:-1750. Amsterdam-Maarssen 1?94, 229-258; Heinrich Bosse, Die Gelehrte RepublIk, m: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), ,Offentlichkeit' im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, 51-76; Hans Bots/Fram;oise Waquet, La Republique des Lettres. Paris 1997; Peter Burke, A Social History ofKnowledge. From Gutenberg to Diderot. Cambridge 2000. [Dt. Übers.: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001.] 5 Crousaz an Haller, 29.1. 1740.
Vermittlungstätigkeit von gemeinsamen Bekannten - solchen persönlichen Begegnungen, die meist im Zusammenhang mit Ortswechseln eines oder beider Korrespondenten erfolgen, entscheidende Bedeutung zukommt. 6 Auch im Hallernetz ist bei mehr als 60 Prozent aller Briefgespräche in irgendeiner Art räumliche Mobilität vorausgegangen, stimmt doch bei rund 9000 von insgesamt 13 300 Briefen an Haller der Absendeort nicht mit dem Geburtsort des Briefverfassers überein. Um aber zu differenzierteren Aussagen zu gelangen, müssen die Anfänge des Netzes genauer betrachtet werden. Diese fallen in Hallers Lehr- und Wanderjahre (Karte 1, S. 317), welche ihn 1723 zum Medizinstudium nach Tübingen und Leiden sowie zur anschließenden akademischen Reise nach London, Paris und Basel führen, wobei er auf das ebenfalls eingeplante Italien7 aus gesundheitlichen Gründen verzichten muß. 1729 kehrt er in seine Heimatstadt Bern zurück, wo er eine Arztpraxis führt und der Stadtbibliothek vorsteht, bis er 1736 als Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie an die Universität Göttingen berufen wird. In der Vor-Göttingerzeit erhält Haller 420 Briefe von insgesamt 44 Korrespondenten (Graphik 1, S. 318). Mit nicht weniger als der Hälfte von ihnen ist er vorgängig auf seinen Studienreisen in Beziehung getreten 8, mit 20 Prozent ist er bereits aus seiner Heimatstadt bekannt, und mit 30 Prozent erfolgt die erste Kontaktaufnahme im Brief, wobei der Bezug in der Regel entweder über die Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten oder aber über eine Publikation Hallers hergestellt wird. In der frühen Göttingerzeit 1736 bis 1741 erhält 6 V gl. das Forschungsdesiderat schon bei Hans Erich Bödeker, Lessings Briefwechsel, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen, Medien. Göttingen 1987, 113-138, hier 135; vgl. die Bemerkungen bei M onika Ammermann, Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, in: Bemhard FabianIPaul Raabe (Hrsg.), Gelehrte Bücher vorn Humanismus bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1983,81-96, hier 83; Daniel Roche, Les republicains des lettres. Gens de culture et Lumieres au XVIIIe siede. Paris 1988,264-266; Fram;oise Waquet, L'espace de la Republique des Lettres, in: BotslWaquet (Eds.), Commercium Litterarium (wie Anm. 4), 175-189; Hans Bots, De la transmission du savoir ala communication entre les hommes de lettres: universit6s et acad6mies en europe du XVIe au XVIIIe siede, in: ebd. 101-117, hier 112; Holger Jacob Friesen, Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai - Isaak Iselin. Briefwechsel (1767-1782). BernlStuttgartlWien 1997, 42f.; Laurence W. B. Brackliss, Calvet's Web. Enlightenment and the Republic of Letters in Eighteenth-Century France. Oxford 2002, 26 f., 71; Franz Mauelshagen, Networks of Friendship. Scholarly Correspondence and Scientific Exchange in Early Modern Europe, in: Medieval History Journal Vol. 6, No.I, 1-32. 7 Johann Georg Zimmermann, Das Leben des Herrn von Haller. Zürich 1755,47. 8 Datengrundlage: Zimmermann, Leben (wie Anm. 7); Ludwig Hirzel (Hrsg.), Albrecht von Hallers Gedichte. Frauenfeld 1882; Erich Hintzsche (Hrsg.), Albrecht Hallers Tagebuch seiner Studienreise nach London, Paris, Straßburg und Basel, 1727-1728. 2., verb. Aufl. BernlStuttgart 1968; Erich Hintzsche (Hrsg.), Albrecht Hallers Tagebücher seiner Reisen nach Deutschland, Holland und England 1723-1727. Verb. Aufl. BernlStuttgartl Wien 1971; Urs Boschung (Hrsg.), Johannes Gessners Pariser Tagebuch. BernlStuttgartl Toronto 1985.
Karte 1: Hallers Lehr- und Wanderjahre (1723-1728) ~
-
Aufenthaltsort Reiseroute
Kartografie: Richard Stuber, Sem
Haller 1134 Briefe von insgesamt 93 Korrespondenten, von denen allerdings nur die 75 Neukorrespondenten in die Statistik einfließen. Unter diesen stellen mit nahezu 40 Prozent die Freunde und Verwandten aus seiner Heimatstadt Bern die größte Gruppe dar, aber auch Hallers neues Göttinger Umfeld, das wegen der Universitätsadministration zusätzlich Hannover umfaßt, ist mit etwas über 20 Prozent gut vertreten. Ebenfalls an Bedeutung gewonnen hat die Kontaktaufnahme per Brief mit rund 35 Prozent. Zur Restmenge gewor-
319
Vor-Göttingerzeit 1724-1736, 44 Korrespondenten, 420 Briefe
9
Frühe Göttingerzeit 1736-1741,75 NeuKorrespondenten, 1134 Briefe
0%
20%
40%
60%
80%
100%
Graphik 1: Hallersfrüher Briefwechsel 1724-1741: Orte der Kontaktaufnahme
den ist dagegen die in der Vor-Göttingerzeit dominante Kategorie, sind doch bloß fünf Neukorrespondenten festzustellen, deren Beziehungen zu Haller auf Studienkontakte zurückgehen. Immerhin ist es ein bemerkenswertes Phänomen, daß sich aus Hallers persönlichen Begegnungen seiner Lehr- und Wanderjahre noch in dieser ersten Göttingerzeit und sogar noch Jahrzehnte später Briefwechsel entwickeln können, so mit den Leidener Studienkollegen Adrian van Royen (Korrespondenzbeginn 1738), Johann Ammann (1740), Hieronymus David Gaubius (1743) und Gerard van Swieten (1748), mit dem in London besuchten Hans Sloane (1739) sowie mit seinen Basler Bekannten Johann Rudolf Iselin (1739), Claude Passavant (1754) und Frederic Moula (1753). Sprechend ist, wie dieser letzte den Briefwechsel einleitet: er erinnert an den gemeinsamen Mathematikunterricht bei Johann Bernoulli, der nahezu 25 Jahre zurückliegt. 9 Abgesehen von zwei Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, sind sämtliche der hier erwähnten Korrespondenten, die aus Begegnungen in der Fremde hervorgegangen sind, angehende oder bereits promovierte Ärzte, was bemerkenswerterweise auch für die Vor-Göttingerzeit bei 20 von 22 Korrespondenten dieser Kategorie zutrifft. Diese spezifische Homogenität, die im 9
Moula an Haller, 30. 4. 1753.
Gesamtnetz keineswegs so anzutreffen ist, entspricht Hallers zielgerichtetem Reisen, wie es schon sein zeitgenössischer Biograph festgehalten hat: "Er reisete nunmehr als ein Medicus, und suchte hauptsächlich mit Männern in Bekanntschaft zu kommen, die in ihrem Leben mit ihm den gleichen Hauptvorwurf hatten. Er besuchte damahls keine Poeten, keine Geschichtsschreiber' keine Philosophen, in so fern man die Aerzte nicht vor solche ansehen will. "10 Zweifellos der wichtigste ,Medicus', den Haller zu dieser Zeit besucht, ist sein späterer Doktorvater Herman Boerhaave, Medizin- und Botanikprofessor in Leiden (Abb. 2, S. 320), der als Pionier des klinischen Unterrichts Studenten aus ganz Europa anzieht und nicht nur auf Haller, sondern auf die Medizin zur Zeit der Aufklärung generell einen nachhaltigen Einfluß ausübt. ll "Sein Hörsal war die Pflanzschule der Europäischen Aerzten, der neuangekommene Herr Haller zählte in demselben über hundert und zwanzig Zuhörer, vierzig waren Engländer, zwanzig Deutsche, die übrigen Holländer, Nordländer, auch wohl Griechen", so wiederum Hallers Biograph.1 2 Zwischen 1701 und 1738 studieren bei Boerhaave etwas über 1900 Studenten, die beispielsweise zu fast 40 Prozent aus den englischsprachigen Ländern sowie zu rund drei Prozent aus der Schweiz stammen. Nicht weniger als 50 der Boerhaave-Schüler werden auch zu Briefpartnern Hallers, und er erhält von ihnen etwas über 1300 Briefe aus nahezu 60 Absendeorten zwischen Edinburgh, Uppsala, Moskau und Genf (Karte 2, S. 321). Die geographische Verteilung erklärt sich jedoch nur teilweise aus der Herkunft dieser Studenten, denn nicht alle sind seßhaft wie Adrian van Royen, der sämtliche 20 Briefe an Haller in seiner Geburtsstadt Leiden verfaßt, wie Peter Giller mit sämtlichen 49 Briefen aus seiner Geburtsstadt St. Gallen oder wie Johannes Gessner mit 652 von insgesamt 660 Briefen aus seiner Geburtsstadt Zürich. Im Gegenteil sind die Korrespondenten nicht selten mobil wie Johann Friedrich von Herrenschwand, der aus Greng, Leukerbad, Genf, Murten und Paris schreibt, wie Nils Rosen von Rosenstein mit Briefen aus Drottningholm, Genf, Stockholm und Uppsala oder wie Johann Friedrich Schreiber mit Briefen aus Leiden, Leipzig, Moskau, Riga und St. Petersburg.
Zimmermann, Leben (wie Anm. 7), 41. G[errit] A[rie] Lindeboom, Herman Boerhaave. The Man and his Work. London 1968, 335-374; E. Ashworth Underwood, Boerhaave's Men at Leyden and after. Edinburgh 1977; Urs Boschung, Medizinstudium im Zeitalter der Aufklärung, in: Praxis. Schweizerische Rundschau für Medizin 72, 1983, 1607-1615; Sabine Heller, Boerhaaves Schweizer Studenten. Ein Beitrag zur Geschichte des Medizinstudiums. (Zürcher Medizingeschichtliche Abhandlungen, Neue Reihe, Bd. 169.) Zürich 1984; Hilde de Ridder-Symoens, Mobilität, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 2. München 1996,335-359. 12 Zimmermann, Leben (wie Anm. 7), 26. 10
11
Karte 2: Hallers Briefwechsel mit Boerhaave Schülern (1725-1777) 1'317 Briefe von 50 Korrespondenten aus 59 Absendeorten Anzahl Briefe pro Absendeort: •
1- 2
., 3-5
@
6-20
~
21-100
I) > 100
Kartografie: Richard Stuber, Bem
Abb. 2: Herman Boerhaave bei einer Rektoratsrede im großen Auditorium der Universität Leiden [Sermo Academicus De Comparando Certo in Physicis, 1715].
Die letzten Beispiele verweisen auf das allgemeine Phänomen der ,Sekundärmobilität', mit der räumliche Verschiebungen von Korrespondenten bezeichnet werden sollen, die im Unterschied zur ,Primärrnobilität' in keinem Zusammenhang zu physischen Begegnungen mit Haller stehen, die Geographie des Hallernetzes aber wesentlich prägen. Das Phänomen tritt ganz besonders in dessen Peripherie auf. So stammen die 102 Briefe, welche Haller aus St. Petersburg erhält, von insgesamt zwölf Korrespondenten mit den Geburts-
orten Berlin, Den Haag, Järvakandi, Königsberg, Korfu, Naumburg an der Saale, Penamacor, Schaffhausen, Schorndorf, St. Petersburg und Tübingen. Dabei sind nur gerade sechs Briefe von gebürtigen Petersburgern verfaßt, 28 dagegen von einem Tübinger Studienfreund und 49 von einem Leidener Mitstudenten aus Königsberg, der ebenso bei Bberhaave studiert hat wie zwei von besonders weit her zugereiste Petersburger Korrespondenten, ein Schweizer und ein Portugiese. 13 Ähnlich liegen die Verhältnisse in Wien, wo Haller keinen einzigen der 164 Briefe von einem eigentlichen Wiener erhält. Die 14 unterschiedlichen Geburtsorte der Wiener Korrespondenten, unter denen sich auch die bei den bekannten Boerhaave-Schüler Anton de Haen und Gerard van Swieten befinden, sind nach heutigen Grenzen in nicht weniger als sechs verschiedenen Staaten zu suchen. Die ,Sekundärrnobilität' manifestiert sich nicht nur an den Rändern des Hallernetzes, sondern beispielsweise auch in Paris, einem der Hauptzentren der europäischen Gelehrtenrepublik und mit 352 Briefen auch einer der häufigsten Absendeorte. Obschon sich Haller während seiner Lehr- und Wanderjahre selbst in dieser Stadt aufgehalten hat, entwickelt sich sein Briefwechsel völlig unabhängig davon. Es ist bezeichnend, daß Haller die drei ersten Briefe aus Paris von einem Basler, einem Arlesrieder und einem Breslauer erhält, die sich alle dort zur medizinischen Weiterbildung befinden und die mit Haller bereits aus Bern oder aus Göttingen bekannt sind. Auch als Hallers Pariser Korrespondenz ein größeres Volumen annimmt - von 1748 bis 1777 erhält er aus Paris durchschnittlich jeden Monat einen Brief -, stammen die allerwenigsten von gebürtigen Parisern, genauer nur 19 Briefe von vier Korrespondenten. Die Geburtsorte der restlichen 88 Pariser Korrespondenten verteilen sich über einen großen Teil Europas zwischen den Pyrenäen und der Oder, mit vereinzelten Ausläufern bis nach St. Petersburg, Skandinavien und auf die britischen Inseln (Karte 3, S. 323). Und die Mehrheit unter ihnen (54) hält sich nur vorübergehend in Paris auf, so wie der Lausanner Horace-Benedict de Saussure, dessen Briefwechsel in dieser Hinsicht typisch sein könnte. "Je pars demain, je vais droit aParis Olt j' attends vos ordres, si vous voules bien m' en donner, & quelques recommandations si vous y aves des connoissances", schreibt er vor der Abreise. 14 Haller schickt ihm die gewünschten Empfehlungsbriefe und bittet ihn um einen Bericht aus Paris zum aktuellen Stand der Naturwissenschaften, den Saussure denn auch liefern wird und dabei auch die 13 Vgl. Stefan Hächler, Albrecht von Hallers wissenschaftliche Beziehungen zu Rußland, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd.6: Mittel-, Nord- und Osteuropa. KölnIWeimarlWien 2002, 997-1004, hier 1000. 14 Saussure au Haller, 2. 2. 1768, in: Otto Sonntag (Ed.), The Correspondence between Albrecht von Haller and Horace-Benedict de Saussure. BernlStuttgartiToronto 1990,402.
Karte 3: Hallers Briefwechsel mit Paris (1736-1777) 352 Briefe von 92 Korrespondenten mit 61 Geburtsorten " Geburtsort von Pariser Korrespondent Kartografie: Richard Stuber, Sern
Wirkung der brieflichen Empfehlungen rapportiert: "Je vous suis extremement oblige de votre Lettre pour Mr De Mairan [... ] Graces a la Lettre que vous m' avies donnee pour lui, il m' a re<;u fort honnetement. "15 Kehren wir zurück zur Frage nach der Bedeutung von Hallers eigener Studienrnobilität für sein Korrespondenznetz, so fällt die Antwort jetzt differen15
Saussure an Haller, 24. 4. 1768, in: ebd. 404 f.
324
Martin Stuber
zierter aus. In der Vor-Göttingerzeit ist der Einfluß absolut bestimmend, verfassen doch in dieser Periode die erwähnten 22 Reisebekanntschaften insgesamt drei Viertel der Briefe. Betrachtet man das Netz in seiner ganzen Lebensdauer von 1724 bis 1777, so gehen rund~in Zehntel aller Briefe direkt auf Hallers Kontakte der Lehr- und Wanderjahre zurück, wobei die Absendeorte weniger durch Hallers eigene Reisestationen bestimmt sind als durch die beschriebene ,Sekundärrnobilität' der insgesamt 36 Korrespondenten dieser Kategorie. Deren Einfluß äußert sich zudem indirekt. Erstens kommen nicht wenige Kontaktnahmen im Brief durch die Vermittlung dieser Korrespondenten zustande. Beispielsweise erhält Hallers Studienfreund Gessner von dessen Zürcher Mitbürger Johann Jakob Bodmer die Bitte, einen Briefwechsel zwischen ihm und Haller einzuleiten, was er denn auch umgehend und erfolgreich tut. 16 Zudem haben einzelne Briefwechsel mit Studienbekannten weitreichende Folgen. So erreicht Haller als jungen Gelehrten in Bern von einem Nürnberger Arzt, der mit Haller in Paris und Basel studiert hatte, die Anfrage, ob er am Commercium Litterarium mitarbeiten wolle. Haller nimmt das Angebot an, und in der Folge werden es die Publikationen in dieser naturwissenschaftlich-medizinischen Zeitschrift sein, die zu Hallers Berufung nach Göttingen führen, wobei mit August Johann von Hugo wiederum ein ehemaliger Boerhaave-Student eine wichtige Rolle spielt. 17 Als Haller in Göttingen etabliert ist, zieht er seinerseits Studenten aus ganz Europa an. Es kann nach dem bisher Gesagten nicht erstaunen, daß sich auch aus dieser Studienrnobilität Korrespondenzen entwickeln (Karte 4, S. 325). Insgesamt erhält Haller von 66 ehemaligen Schülern 18 1045 Briefe aus 69 Orten, deren räumliche Verteilung derjenigen der Boerhaave-Schüler nicht unähnlich ist. Und wie bei jenen ist auch hier die ursprüngliche Herkunft der Studenten zwar in einer Minderheit der Fälle identisch mit späteren Briefabsendeorten, namentlich bei 208 Briefen des Bruggers Johann Georg Zimmermann, bei 38 Briefen des Baslers Jakob Christoph Ramspeck und bei 35 Briefen des Berliners Johann Adrian Theodor Sprögel. Bestimmender ist aber auch bei den Haller-Schülern die ,Sekundärrnobilität' . So ist für die meisten Briefe
Karte 4: Hallers Briefwechsel mit seinen Schülern (1732-1777) 1'045 Briefe von 66 Korrespondenten aus 69 Absendeorten Anzahl Briefe pro Absendeort: • 1- 2
Hirzel (Hrsg.), Gedichte (wie Anm. 8), CXIX. 17 Hubert Steinke (Hrsg.), Der nützliche Brief. Die Korrespondenz zwischen Albrecht von Haller und Christoph Jakob Trew 1733-1763. Basel 1999,20-24,61-63; vgl. allgemein zur Wechselwirkung zwischen Zeitschrift und Brief im Haller-Netz: Martin Stuber, Joumal and Letter. The Interaction between two Communication Media in the Correspondence of Albrecht von Haller, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Jeremy D. Popkin (Eds.), Enlightenment, Revolution and the Periodical Press. (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Vol. 6.) Oxford 2004, 114-141. 18 Vgl. Renato G. Mazzolini, Le dissertationi degli allievi di Albrecht von Haller a Göttingen (1736-1753): Una indagine bio-bibliographica, in: Nuntius 2, 1987, 125-194: Von den hier als Korrespondenten gezählten Haller-Schülem sind bei Mazzolini, der von einer engeren Definition ausgeht und auf eine Gesamtzahl von 67 Haller-Schülem kommt, nur 35 verzeichnet. 16
" 3-5
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Kartografie: Richard Stuber, Sem
aus Göttingen der aus Schwabach stammende Johann Gottfried Zinn verantwortlich, für die meisten aus Berlin Johann Friedrich Meckel aus Wetzlar und für die meisten aus Kopenhagen Georg Christian Oeder aus Ansbach. Zudem schreiben Haller-Schüler gerade auch während ihrer akademischen Reise, was etwa bei Georg Thomas von Asch zu Briefen aus Paris, Leiden, London und St. Petersburg führt oder bei Adolph Bernhard Winkler zu solchen aus Leipzig, London, Paris, Moskau und Straßburg. Gar über Europa hinaus führt der Weg
von Johann Christoph Bornemann, der in seiner Heimatstadt Göttingen unter anderem bei Haller studiert, später nach Nordamerika auswandert und Haller von New Göttingen aus schreibt. Seine vier Briefe sind im gesamten Hallernetz die einzigen aus Übersee.
II. Briefliche Kommunikation begleitet Mobilität Daß die Netzgeographie nicht nur von Hallers früher Gelehrtenmobilität, sondern auch von seinen späteren Ortswechseln bestimmt ist, wird sofort deutlich, wenn man das Netz in einer nach Lebensabschnitten gegliederten Kartenfolge betrachtet. 19 So läßt sich in der Göttingerzeit (1736 bis 1753) ein von Göttingen, Hannover, Berlin und Leipzig umgrenzter Raum identifizieren, der sowohl die größten Konzentrationen als auch die feinmaschigste Netzstruktur aufweist. Als Hauptschwerpunkt wird er in Hallers Zeit als Berner Magistrat (1753 bis 1777) abgelöst vom schweizerischen Mittelland zwischen Zürich und Genfersee, wobei die größte Dichte an Absendeorten auf dem Gebiet der bernischen Stadtrepublik festzustellen ist, was sich aus den Strukturen ihrer Territorialverwaltung erklärt. Alle höheren Verwaltungsämter der Stadtrepublik werden von Burgern der Hauptstadt ausgeübt, die während ihrer Amtszeiten den Wohnsitz in die Berner Landschaft verlegen. Diese temporäre Mobilität wird begleitet von einem intensiven Briefverkehr mit der Hauptstadt, der sich nicht nur bei seinen zahlreichen Berner Korrespondenten, sondern auch bei Haller selbst feststellen läßt, als er sich als Direktor der Salinen für sechs Jahre in dem im Rhonetal oberhalb des Genfersees gelegenen Roche aufhält. Dabei sind die Briefe das Medium, um auch aus der Ferne hautnah an den politischen Interna, gesellschaftlichen Ereignissen und Gerüchten der Hauptstadt teilzuhaben und darauf reagieren zu können. 2o In beiden Lebensperioden Hallers behält aber der je andere Schwerpunktraum eine große Bedeutung bei. So finden sich auch während seiner Zeit als Berner Magistrat sowohl Göttingen wie Hannover unter den allerhäufigsten Absendeorten, was Hallers nach wie vor enge Beziehungen zu den Institutionen im Umfeld der Universität Göttingen abbildet. Umgekehrt stellt Bern 19 Martin StuberiStefan HächlerlHubert Steinke, Hallers europäisches Netz. Raum, Zeit, Themen, in: Boschung u. a. (Hrsg.), Repertorium (wie Anm. 1), Bd. 1, XXII-XXXV; Urs Boschung, Göttingen, Hannover and Europe. Haller's Correspondence, in: Nicolaas Rupke (Ed.), Göttingen and the Development of the Natural Sciences. Göttingen 2002, 33-49; Martin Stuber, Binnenverkehr in der europäischen Gelehrtenrepublik. Zum wissenschaftlichen Austausch zwischen ,Deutschland' und der ,Schweiz' im Korrespondenznetz Albrecht von Hallers, in: Das achtzehnte Jahrhundert 26/2,2002, 193-207. 20 Martin StuberiStefan Hächler, Ancien Regime vernetzt. Albrecht von Hallers bernisehe Korrespondenz, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 62, 2000, 125-190.
Abb. 3: Der ideale Göttinger Student in Hausmantel, Mütze und Pantoffeln, die Pfeife rauchend mit einem heiteren Lächeln in ein Buch blickend. Sein Zimmer ist hell und aufgeräumt '~md ausschließlich mit ,nützlichen' Gegenständen wie Bücher,n und reichlich Schreibzeug ausgestattet; Schuldenregister, Waffen, Flaschen und Splelkar~en fe~:len [Georg Daniel Heumann, Göttinger Studenten-Stube, Kupferstich um 1750. Nzedersachsisches Staatsarchiv].
während der Göttingerzeit den zweithäufigsten Briefabsendeort dar. Die 462 Briefe von 43 Verwandten, Freunden und Bekannten ermöglichen es Haller, in Bern seine familienstrategischen Ziele - Heiraten, Wahlen - zu erreichen. 21 Und sie helfen ihm über die sogenannte ,Schweizer Krankheit' hinweg, sein heftiges Heimweh. 22 Gegenüber den Abwesenden beschreibt sich. Haller in Göttingen als vereinsamt und ohne jegliche Freunde vor Ort, als em Fremd. ling unter Fremden, dessen einzige Gespräche per Brief stattfinden. 23 Auf der anderen Seite ist Haller auf seinem Göttinger Lehrstuhl natürlIch mit vielfältigsten Ansprüchen vor Ort konfrontiert. Mit Blick auf das Zusam~,. Ebd. Vgl. Urs Boschung, Heimweh, die ,Schweizer Krankheit', in: Inselbote 22,1988, Nr. 2, 23-29. . 23 Urs Boschung (Hrsg.), Albrecht von Haller in Göttingen 1736~ 1~53. Bnefe und Selbstzeugnisse. BernlStuttgartiToronto/Seattle 1994, 26-36: zum BeIspIel Haller an Gessn,er, 14.12.1736; Haller an Sinner, 26, 5.1737; Haller an Gessner, 12.9.1737; Haller an .~m ner, 7.6. 1738. Haller an Sinner, 11. 2. 1742, in: Eduard Bodemann (Hrsg.), Von und ~ber Albrecht von Haller: ungedruckte Briefe und Gedichte Hallers sowie ungedruckte Bnefe und Notizen über denselben. Hannover 1885, 112-115.
21
22
menspiel von Mobilität und brieflicher Kommunikation interessieren dabei insbesondere die zugereisten Studenten (Abb. 3, S. 327). Für diese erreichen Haller unzählige Empfehlungsbriefe von besorgten Vätern, Verwandten und Vermittlern, neben vielen anderen von einem Berliner Botanikprofessor für seinen 21jährigen Stiefsohn, von einem Kopenhagener Arzt für seinen 19jährigen Neffen und von einem Londoner Arzt für den Neffen eines Bekannten. 24 Umgekehrt erhält Haller für die Fürsorge, die er seinen Studenten angedeihen läßt, Dank, so von einem Zofinger Arzt für seinen 22jährigen, von einem Berner rvlagistraten für seinen 20jährigen und von Charles Calvert, 5th Baron of Baltimore in London, für seinen 19jährigen Sohn. 25 Das letztgenannte Beispiel zeigt, daß Hallers Einsatz diesbezüglich nicht immer ganz aus freien Stücken geschieht. Wenn man weiß, daß Vater Calvert enge Beziehungen zum englischen Königshaus pflegt, dem eigentlichen Oberhaupt der Universität Göttingen, dann sprechen die Worte des Vermittlers Philipp Adolph von Münchhausen für sich: "Es wird dieses ein Sohn des Lord Baltimore welcher sich Mr. Calvert nennet, einlieffern, welchen ich auf besonderes Verlangen seines Vaters und Befehl S. könig!. Hoheit des Prinzen von Wallis Ew. Wohlgeb. und dero Vorsorge bestens empfehlen soll [... ] dass Ew: Wohlgeb. Dero ohnehin schon in diesen Landen etablierten guten Credit durch eine geneigte und genaue Vorsorge auf diesen jungen Menschen willig zu bestätigen [... ] Gelegenheit haben werden. "26 Hintergrund für all diese Bemühungen sind verschiedenste Gefahren, welche den Vätern der Studenten bedrohlich erscheinen27 und die auch im Hallernetz Resonanz finden. Ein Eisenindustrieller aus St. Petersburg zeigt sich besorgt wegen seiner drei studierenden Söhne, denn ihr Hofmeister habe sich als ausschweifend und als Lehrer ungeeignet erwiesen. 28 Ein hannoveranischer Hofrat macht deutlich, daß er wegen des Verstoßes seines 22jährigen Sohnes gegen das Göttinger Universitätsgesetz zwar keine bevorzugte Behandlung, wohl aber einen diskreten Umgang mit dem Vorfall erwartet hätte. 29 Ein Berliner Anatomieprofessor dankt Haller dafür, daß er seinen 22jährigen Sohn in sein Haus aufgenommen hat; er sieht darin die einzige Möglichkeit, den Studenten wieder auf die rechte Bahn zu bringen, und bittet Haller, dessen GeldLudolff an Haller, 1. 9. 1745; Wichmand an Haller, 20. 9.1752; Shaw an Haller, 17.6. 1750. 25 Seelmatter an Haller, 13.8. 1747; May an Haller, 10.4. 1753; Calvert an Haller, 13.3. 1750. 26 Münchhausen an Haller, 23. 9. 1749; vgl. auch Schrader an Haller, 27.3. 1750 u. 8.5. 1750. 27 V gl. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert. Göttingen 1990; Rainer A. Müller, Studentenkultur und akademischer Alltag, in: Rüegg (Hrsg.), Geschichte (wie Anm. 11),263-286. 28 Demidov an Haller, 15. 12. 1752. 29 Hugo an Haller, 11. 6.1742.
ausgaben genau zu überprüfen und ihm alles zu verbieten, was ein eifriges Studium verhindere. 30 Über einen 21jährigen Zürcher schreibt Haller seinem Freund Gessner, einem Vertrauten von dessen Familie, der Student vernachlässige die Vorlesungen, und "auch in anderen Punkten seines Lebenswandels läßt er zu wünschen übrig, und er vertut dabei sein Geld".31 Die hier beschriebene briefliche Kommunikation versucht auf eine Situation zu reagieren, die Haller während seiner Studienjahre selbst erlebt und schon als 19jähriger in Vers form gefaßt hat: "Entfernt vom Land, wo ich begann zu leben, Von Eltem bloss, und fremd für jedermann, Dem blinden Rath der Jugend übergeben, Gefährlich frey, eh ich mich führen kann. "32
Dieser ,gefährlichen Freiheit' begegnet Haller bei seinen eigenen Söhnen ebenfalls auf brieflichem Weg, beispielsweise als der 15jährige Rudolf Emanuel in ein Handelshaus in Genf eintritt und Haller sich von seinen dortigen Briefpartnern laufend über die Zufriedenheit des Lehrmeisters, über Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung des Sohnes sowie über dessen dortiges Beziehungsnetz informieren läßt. 33 Oder auch, als sich bei seinem 14jährigen Sohn Johann Kar! der Eintritt in französische Dienste abzeichnet und Haller seinen Genfer Freund Charles Bonnet im ersten von über 40 Briefen zu diesem Thema fragt: "Y auroit-il dans le regim[en]t quelqu 'un qui vouloit avoir l'oeil sur le jeune homme?"34 Hier ist ein Hauptanliegen der Briefe dieser Themengruppe formuliert: Die Beobachtung der jungen Abwesenden durch ein stellvertretendes Auge vor Ort.
UI. Briefliche Kommunikation bringt Mobilität in Gang Hallers Korrespondenznetz interagiert mit Mobilität nicht nur reaktiv, sondern auch initiierend. Erstens ist dies der Fall bei der Planung von Forschungsreisen, die sich entsprechend der wissenschaftlichen Ziele Hallers größtenteils auf die Schweiz beschränken, während die gescheiterte Nor~ amerikareise von Christlob Mylius, für die Haller als Präsident der zuständl-
24
Sprögel an Haller, 27.10.1750; vgl. auch 10.11. 1750; 17. 8. 1751; 16.5.1752; 24.10. 1752; 20. 3.1753; 25.9.1753; Meckel an Haller, 24. 6.1752. 31 Haller an Gessner, 1. 7. 1750, in: Boschung (Hrsg.), Göttingen (wie Anm. 23), 79f. 32 Albrecht von Haller, Sehnsucht nach dem Vaterlande (1726), hier nach: Albrecht von Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte. Elfte vermehrte und verbesserte Auf!. Bem bey ., der Typographischen Gesellschaft 1777, 5-7. 33 Martin Stuber, Vatergespräche. Söhne und Töchter 1m Bnefwechsel Albrecht von Hallers, in: SZG 52, 2002, 414-429. 34 Haller an Bonnet, 11. 3. 1763, in: Otto Sonntag (Ed.), The Correspondence between Albrecht von Haller and Charles Bonnet. Bem/StuttgartlWien 1983, 317.
30
gen Reisegesellschaft von 1751 bis 1755 über 130 Briefe wechselt, die große Ausnahme darstellt. 35 Zu erwähnen sind zweitens Hallers Berufungen nach Berlin, Göttingen, Halle, Kopenhagen, St. Petersburg und Utrecht, die zwar abgesehen von der ersten Göttinger Berufung alle ohne Folgen bleiben, aber in insgesamt 64 Fällen ein Hauptthema eines Briefwechsels bilden. Drittens geht es um Hallers Bemühungen um die Vermittlung von Stellen für seine Korrespondenten oder für Drittpersonen. Nur dieser letzte Bereich soll hier ausgeführt werden. Hallers Stellenvermittlungen treten insgesamt 95 mal als Hauptthema eines Briefwechsels auf (Karte 5, S. 331). Zählt man alle Nennungen sowohl der Briefabsendeorte wie der Anstellungsorte, so kommt Göttingen (29) vor Lausanne (10), Bern (9), Berlin (9), Basel (6) und London (6) zu stehen. Am häufigsten geht es um Stellen für Universitätsprofessoren (37), gefolgt von solchen für Ärzte (21), Hofmeister (13), Schulmänner (6) und Chirurgen (4). Darunter finden sich sowohl Anfragen der Stellenanbieter als auch solche der Stellensuchenden, und beide gelangen sie entweder direkt oder aber über eine Drittperson an Haller. Eine direkte Anfrage an Haller als Stellenvermittler erfolgt beispielsweise durch den Generalgouverneur der österreichischen Lombardei, der möchte, daß Haller einen seiner Schüler für den medizinischen Lehrstuhl der Universität Pavia vorschlägt; indirekt ist dagegen diejenige jenes Tübinger Universitätsprofessors, der Haller im Moskauer Auftrag ersucht, Mediziner für die dort geplante Universität vorzuschlagen, sowie - in einem etwas anderen Sinn - auch diejenige des Geheimrats des Prinzen von Oranien, der Haller bittet, bei seinem Mitbürger Johann Friedrich Stapfer anzufragen, ob dieser die Berufung auf den theologischen Lehrstuhl der Universität Herborn annehmen würde. 36 Als Drittperson schreibt auch Henri Petitpierre, der die vorliegenden Bewerbungen für die offene StadtarztsteIle von Neuenburg als ungeeignet beurteilt und deshalb wünscht, daß Haller einen seiner Schüler vorschlägt. 37 Für dieselbe Stelle, die ein paar Jahre später wieder vakant wird, bittet ein Haller-Schüler aus Biel um ein Empfehlungsschreiben. Er wird sich ein paar Wochen später schon aus Neuenburg bei Haller für die Unterstützung bedanken, die ihm nicht nur die gewünschte Stelle, sondern auch eine Pension verschafft habe, die gegenüber derjenigen seines Amtsvorgängers beträchtlich erhöht worden sei. 38
Boschung u. a. (Hrsg.), Repertorium (wie Anm. 1), Dick (Nr. 245), Gagnebin (Nr. 330), Saussure (Nr. 921); vgl. Luc Lienhard, Haller et la decouverte botanique des Alpes, in: Jean-Claude Pont/Jan Lacki (Eds.), Une cordee Oliginale. Histoire des relations entre science et montagne. Genf 2000, 120-138. 36 Firmian an Haller, 29.9. 1777; Lohenschiold an Haller, 4.3. 1756; Eyben an Haller, 25.5.1753. 37 Petitpierre an Haller, 10. 12. 1753, 13. 12. 1753,24. 12. 1753. 38 Neuhaus an Haller, 17. 1. 1757, 14.5. 1757. 35
Karte 5: Haller als Vermittler von Stellen 95 Stellenvermittlungen in 89 Korrespondenzen, 34 Stellenorte, 59 Briefabsendeorte @
Absendeort
AStellenort
"Absende- und Stellenort Kartografie: Richard Stuber, Bem .
Ebenfalls zu einem guten Teil der brieflichen Einflußnahme Hallers zu verdanken sind die Berufungen des Berners Johann Samuel König zum Professor für Philosophie an die Universität Franeker39 , von Horace-Benedict de Saussure zum Professor für Philosophie und Naturgeschichte an die Gen-
39
König an Haller, 18.4. 1744.
fer Academie40 und von Johann Friedrich Herrenschwand, oben erwähnt als Boerhaave-Schüler, zum Leibarzt des Erbprinzen von Sachsen-Gotha. Vorgängig hatte der zuständige Hofmeister Haller gebeten, einen Arzt zu empfehlen, der den Prinzen auf seiner Kavali,yrstour durch Europa begleiten könnte. 41 Haller schlägt offenbar den in Murten als Stadtarzt amtierenden Herrenschwand vor, denn kurze Zeit später antwortet dieser Haller und nennt mit Hinweis auf seine bisherige Laufbahn und die florierende Praxis seine Bedingungen für die Annahme der Stelle. 42 Ein paar Monate später schreibt der Aarauer Arzt Samuel Ernst enttäuscht, er sei vom Basler Medizinprofessor Emanuel König informiert worden, daß Herrenschwand die Stelle beim Erbprinzen erhalten habe, um deren Vermittlung er selbst Haller indirekt über seinen Lehrer König gebeten habe. 43 Und der glückliche Herrenschwand kann sich aus Genf, einer der ersten Reisestationen, bei Haller bedanken: "n y a six semaines que j'ai quite Morat pour me rendre au poste, que je vous dois."44 Auch andere Stellenvermittlungen hinterlassen Spuren, die über einen einzelnen Briefwechsel hinaus ins Netz verweisen, so die sich über mehrere Jahre hinziehenden Bemühungen um Paul Batigne, Arzt aus Montpellier. 1762 wird er von einem Medizinprofessor der Universität Montpellier an Haller empfohlen, worauf ihm dieser eine Anstellung als Arzt in Aigle in Aussicht stellt45 ; 1765 erhält Haller von Bonnet die Bitte, für Batigne eine Stelle zu vermitteln: "Vos relations sont si etendues que nous avons presume facilement que vous pourries nous indiquer ce que nous cherchons. "46 Haller winkt ab, da er Batigne nicht persönlich kennt: "Si je le connoissois personnellement, peutetre pouroit-on trouver quelque ouverture a la Cour de Varsovie, qui cherche un Suisse Protestant. Peutetre y auroit-il quelque ouverture a Soleure. Mais comment recommander avec une certaine eficac[it]e un hornrne, que je ne connois pas moi meme, et sur lequelle Patron avenir me demanderoit inutilement des details!"47 Als Bonnet nicht locker läßt, schlägt Haller die StadtarztsteIle von Moudon vor und leitet die Stellensuche in diesem bescheidenen Rahmen auch an einen Lausanner Freund weiter. 48 1768 ersucht Saussure an Haller, 23.10. 1762,3.11. 1762; 2. Hälfte Dez. 1762, in: Sonntag (Ed.), Saussure (wie Anm.14), 109-115. Bonnet an Haller, 5.11. 1762,9.11. 1762; Haller an Bonnet, 11.11. 1762; Bonnet an Haller, 26.11. 1762, in: Sonntag (Ed.), Bonnet (wie Anm. 34), 300-308. 41 Thun an Haller, 4. 7.1744. 42 Herrenschwand an Haller, 11. 8.1744. 43 Ernst an Haller, 1. 5. 1745. 44 Herrenschwand an Haller, 6. 1. 1746; vgl. Hans lenzer, Johann Friedrich Herrenschwand. Ein Berner Arzt im 18. Jahrhundert. Bern 1967, 132f. 45 Boschung u. a. (Hrsg.), Repertorium (wie Anm. 1), Sauvages de la Croix (Nr. 923). 46 Bonnet an Haller, 8. 6.1765, in: Sonntag (Ed.), Bonnet (wie Anm. 34),429. 47 Haller an Bonnet, 11. 6. 1765, in: ebd. 430. 48 Haller an Bonnet, 12. 7. 1765, in: ebd. 432f.; Haller an Tissot, 20.8. 1765: ,,11 y a un M. Batigne a Geneve, qui conviendroit pour un sous-poste." Zitiert nach Erich Hintzsche 40
Batigne, inzwischen Armenarzt der französischen Gemeinde in Berlin, Haller direkt um die Vermittlung einer Stelle an einer Universität oder an einem Hof. 1770 lehnt er eine offenbar durch Haller vermittelte Anstellung als Stadtarzt in Payerne mit der Begründung ab, er sei größere Städte gewohnt. 49
IV. Resümee Wenn nun ansatzweise versucht wird, die skizzierten Konstellationen im Gesamtkontext zu situieren, so kann festgehalten werden, daß sich ein großer Teil von Hallers brieflicher Kommunikation aus Begegnungen von Angesicht zu Angesicht entwickelt, denen Ortswechsel vorausgehen oder nachfolgen. Diese Kontakte haben zusätzlich eine große indirekte Wirkung, denn es sind nicht selten die Korrespondenten dieser Kategorie, über die weitere Briefwechsel vermittelt werden. Zudem ist bei der Mobilität selber zwischen direkten und indirekten Phänomenen zu unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich entweder um Hallers Beziehungen zu seinen Berner Mitbürgern, Freunden und Verwandten, die sich dann brieflich manifestieren, wenn sich Haller oder seine Korrespondenten von der Heimatstadt fortbewegen, oder um Reisebekanntschaften, Lehrer-, Schüler- und Kollegenbeziehungen innerhalb der Gelehrtenrepublik, denen räumliche Bewegungen vorausgehen und die nach der Rückkehr in die Heimat brieflich aufrechterhalten werden. Die Geographie von Hallers Korrespondenznetz ist aber ebenso geprägt von der ,Sekundärmobilität' , also von räumlichen Verschiebungen der Korrespondenten, die unabhängig von physischen Begegnungen mit Haller stattfinden. Erst Primär- und Sekundärrnobilität' zusammen machen Hallers Briefwechsel zu jenem europäischen Netz, das sich zwischen London und Moskau manifestiert in Hallers Stellenvermittlungen oder auch in den Bemühungen der Väter um ihre studierenden Söhne in der Fremde. Die Reichweite von Hallers Netz weitet sich aus in das südliche Europa und sogar über Europa hinaus bis nach Sibirien und in die Südsee5o , wenn man auch die mobilitäts-substituierende Funktion der Briefe einbezieht. Diese wurde hier keineswegs deshalb ausgespart, weil ihre Bedeutung im Hallernetz marginal wäre, sondern weil sie i~ (Hrsg.), Albrecht von Hallers Briefe an Augus~e Tissot 1754-1777. BernlSt,uttgartlWien 1977,211; vgl. Bonnet an Haller, 15.8. 1765, m: Sonntag (Ed.), Bonnet (WIe Anm. 34), 433-435. 49 Boschung u. a. (Hrsg.), Repertorium (wie Anm. 1), Batigne (Nr. 62): 50 V gl. Stefan Hächler, Die delegierte Reise: Reisen aus und ~ach ItalIen ~on K?rrespondenten Albrecht von Hallers (1707-1777) und ihre Bedeutung m dessen Wu'ken, m: 11 confronto letterario, supplemento al numero 25, 1998, 106-1~6; Martin St~~er, F~rschungs reisen im Studierzimmer. Zur Rezeption der Großen NordIschen ExpedItIOn bel Albrecht von Haller und Samuel Engel, in: Donnert (Hrsg.), Europa (wie Anm. 13),983-995; Otto Sonntag (Ed.), John Pringle's Correspondence with Albrecht von Haller. Basel 1999.
Martin Stuber
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Gegenteil derart umfassend ist, daß es kaum Briefe gibt, die nicht unter diesem Aspekt betrachtet werden könnten. Ebe~falls eine E~eiterung ergibt sich, wenn wir zum Ausgangspunkt dieses BeItrages, zu WIlhelm August von Hol~tein-Gottorp, zurückkehren. Es ist gesagt wor~en, ~aß. die Bildungsreise der Prinzen mit dem Hallemetz verflochten ~st, beIspIelsweise indem sich Haller für die Prinzen nach den Lebenskosten m der nächsten Reisestation Bologna erkundigt, indem Haller s' Ie B b . . von. ern aus el Ihren finanziellen Schwierigkeiten in Bologna unterstützt und I.ndem Haller seinen entfernten Freunden von ihnen erzählt. 51 Die Prinzen un~ Ihre Begleiter sind in ihrer überlokalen Kommunikation aber natürlich kemeswegs ausschließlich auf das Hallernetz angewiesen, sondern sie unterhalten auch davon unabhängig einen regen Briefwechsel, etwa mit den Erziehu~gsv~rantwortlichen in Holstein und ebenso zwischen Bern und Bologna. 52 WeIterfuhrende Untersuchungen zur Beziehung von Brief und Mobilität müßten also quellenmäßig über ein einzelnes Korrespondenznetz hinausgehen u~d e~enfalls. die vom Hauptkorrespondenten unabhängigen Briefwechsel em~ezlehe~: m denen nicht. selten ~uch inhaltlich komplementäre Briefgesprache. gefuhrt werden. In dIesem Smn gebührt das letzte Wort Charlotte von Sta.al, dIe al~ .~~efrau ~es Hofm~isters der Prinzen die Schattenseiten europaweIter MobIhtat ausdruckt, als SIe nach vielen Jahren des Wartens aus Järvakandi ?ei Riga ihrem ~hemann nach Bologna schreibt: "So lange ich lebe, werde Ich den Augenbhck verwünschen, da man Dich zum Führer der Prinzen gewäh~t hat, es mag uns so Glücksgüter schaffen wie es will, so ersetzt es mir doch memals den Verlust Deines liebreichen Umganges. "53
B aSSI. an H aller, 26. 1. 1768; Haller an Staal, 19. 12. 1772, 5. 1. 1773, 28. 3. 1773, in: und Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg, m. Berner ZeItschnft fur Geschichte und Heimatkunde 20 1958 115-149 h' 131-135; 'Yilhelm August Haller, 30. 6. 1773; Haller an Gemnringen,'7. 11. ~ermann Flsch~r (Hrsg): ~nef~echsel zwischen Albrecht von Haller und Eberhard Fried~~ch von Gemmmgen. KOll1gsteI~ 1~99, ~dr. KönigsteinlTs. 1979,39-41. Wolfga~g Kehn, Idee .und. WirklIchkeIt aufgeklärter Prinzenerziehung. Christian Cay Lo~enz HIrSchfeld und dIe BIldungsreise der Gottorfer Prinzen in die Schweiz in' Nordelbmgen 54, 1985,91-128. ' . 53 Z·It1ert . nach ~erd fa~sen, Au~ den Jugendjahren des Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg, m: Jb. fur GeschIchte des Herzogtums Oldenburg 15, 1906, 1-140. 51
Beren~ ~trahlmann, .Albr~cht ~on Hall~r
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17h, ~~~
Kulturelle Vermittler und interkulturelle Kommunikation im kolonialen Nordamerika Von
Mark Häberlein Am 15. August 1750 brach Comad Weiser (1696-1760), ein gebürtiger Württemberger, der 1710 mit seiner Familie nach Nordamerika ausgewandert war, von seiner Farm im Tulpehocken-Tal von Pennsylvania zu einer Reise nach Onondaga, dem etwa 200 Meilen nördlich gelegenen Ratssitz der Irokesenkonföderation, im heutigen Bundesstaat New York auf. Weiser sollte im Auftrag von Kolonialpolitikern Virginias und Pennsylvanias Vertreter des Irokesenbundes zu Verhandlungen nach Fredericksburg (Virginia) einladen. Virginia beabsichtigte auf dieser Konferenz, die Irokesen zu einem Friedensschluß mit den im Hinterland von North Carolina lebenden Catawba-Indianern zu bewegen, mit denen der Irokesenbund bereits seit Jahrzehnten im Kriegszustand lebte. 1 Für den damals 54jährigen Weiser waren Reisen ins Irokesengebiet längst zur Routineangelegenheit geworden: er hatte als Jugendlicher mehrere Monate in einem Dorf der Mohawk-Indianer gelebt und deren Sprache erlernt. Durch seine Sprachkenntnisse und seine Vertrautheit mit Lebensweise und Gepflogenheiten der Mohawks hatte er seit den frühen dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts als Dolmetscher und Unterhändler unschätzbare Dienste für die Kolonie Pennsylvania geleistet, in deren Indianerpolitik die Allianz mit dem Irokesenbund eine zentrale Rolle spielte. 2 Unter Weisers Begleitern befand sich ein weiterer gebürtiger Württemberger, der damals 23jährige und erst vor kurzem eingewanderte Christian Daniel Claus, den Weiser vor Antritt seiner Reise in Philadelphia kennengelernt hatte. Die Erfahrung der Reise nach Onondaga und die Freundschaft mit Weiser bildeten den Ausgangspunkt für eine lange Karriere als Dolmetscher und Indianeragent, in der 3 Claus gewissermaßen in die Fußstapfen seines Mentors trat.
Helga DoblinlWilliam A. Starna (Eds.), The Journals of Christian Daniel Claus and Conrad Weiser. A Journey to Onondaga, 1750. (Transactions of the American Philosophical Society, Vol. 84/2.) Philadelphia 1994. 2 Zu Weisers Biographie vgl. Dictionary of American Biography. Vol. 10/1. New York 1936, 614f.; Paul A. W Wallace, Conrad Weiser (1696-1760). Friend of Colonist and Mohawk. Philadelphia 1945. Seine Rolle in der Indianerpolitik Pennsylvanias beleuchtet ausführlich fames H. Me1Tell, Into the American Woods. Negotiators on the Pennsylvania Frontier. New York ] 999. 3 DoblinlStarna (Eds.), Journals (wie Anm. 1), 2f.; vgl. Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 72, 138.
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Die Reise nach Onondaga im Jahre 1750 erwies sich indessen als Fehlschlag. Unterwegs erfuhr Weiser, daß die Gouverneure von South Carolina und New York eine eigene Initiative zur Beilegung des Konflikts zwischen den Irokesen und den Catawbas gestartet und einen entsprechenden Vermittlungsauftrag an den New Yorker Indianeragenten Sir William Johnson erteilt hatten. Die Franzosen in Kanada versuchten ihrerseits, ihren Einfluß unter den Irokesen durch großzügige Geschenke zu stärken, und ein hochrangiges Mitglied von Nikolaus von Zinzendorfs Herrnhuter Brüdergemeine, Bischof Johann Christian Friedrich Cammerhoff, hatte ihnen kurz zuvor ebenfalls einen Besuch abgestattet. Soweit Weiser in Erfahrung bringen konnte, bemühten sich die Herrnhuter offenbar um eine Mittlerrolle zwischen den Irokesen und den englischen Kolonien, möglicherweise um ihre missionarischen Bemühungen unter den nordamerikanischen Indianern politisch abzusichern. 4 Den Hintergrund des hier zutage tretenden komplizierten Geflechts diplomatischer Beziehungen und Initiativen bildete die angespannte politische Lage im Nordosten Nordamerikas um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Mit dem Aachener Frieden von 1748 war erst kurz zuvor eine weitere Runde im Ringen zwischen Frankreich und Großbritannien um die Vorherrschaft auf dem Kontinent zu Ende gegangen, und mehr noch als in Europa hatte dieser Frieden in Nordamerika lediglich den Charakter eines fragilen Waffenstillstands. Landspekulanten und Siedler aus mehreren englischen Kolonien drängten in das von Verbündeten der Irokesen bewohnte fruchtbare Ohiotal, auf das auch die Franzosen Anspruch erhoben. Nicht zufällig fielen 1754 im Ohiotal die ersten Schüsse in einem Krieg, der sich in der Folgezeit zum globalen Konflikt ausweiten sollte und in Europa als Siebenjähriger Krieg bekannt ist (in Nordamerika wird er gewöhnlich als French and Indian War bezeichnet).5 Der Krieg zwischen Irokesen und Catawbas bedeutete eine empfindliche Störung der englischen Expansionspläne und sollte daher beigelegt werden. 6 Bereits im 17. Jahrhundert hatte sich die Irokesenkonföderation zu einem wichtigen Machtfaktor im Nordosten Nordamerikas entwickelt. Sie kontrolDoblinlStarna (Eds.), Journals (wie Anm. 1), 1 f., 23, 30f., 36f., 42-44. Zu den Hintergründen vgl. Francis Jennings, Empire ofFortune. Crowns, Colonies, and Tribes in the Seven Years' War in America. New York 1988; Herrnann Wellenreuther, Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775. MünsterlHamburg/London 2001, 265-298, 351-365. Die Atmosphäre der Unsicherheit in den europäisch-indianischen Beziehungen um 1750 beleuchtet exemplarisch Gregory Evans Dowd, The Panic of 1751: The Significance of Rumors on the South Carolina-Cherokee Frontier, in: William and Mary Quarterly 3rd Ser., 53, 1996, 527-560. 6 Zu den Catawba-Indianern vgl. Jarnes H. Me rrell, The Indians' New World. Catawbas and their Neighbors from European Contact through the Era of Removal. Chapel Hill/London 1989, hier bes. 134-166. 4
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lierte einen großen Teil des Pelzhandels zwischen New York und den Indianern im Gebiet der Großen Seen und hatte in den englisch-französischen Kolonialkriegen des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts die englischen Kolonien unterstützt, ehe sie unter dem Eindruck militärischer Rückschläge und verheerender Epidemien nach 1710 auf einen Neutralitätskurs einschwenkte. Welches Gewicht die europäischen Kolonien dem Irokesenbund beimaßen, verdeutlicht der Umstand, daß für die 70 Jahre zwischen 1663 und 1733 rund 400 Konferenzen der Irokesen mit Niederländern, Engländern und Franzosen dokumentiert sind. 7 Ausgehend von Weisers und Claus' Onondaga-Reise werden im folgenden drei zentrale Aspekte der interkulturellen Kommunikation im kolonialen Nordamerika thematisiert: erstens die Formen der europäisch-indianischen Kommunikation, die in starkem Maße von indianischen Ritualen und Traditionen bestimmt wurden; zweitens die Charakteristika und Funktionen von kulturellen Vermittlern zwischen europäischen und indianischen Lebenswelten, Normen und Interessen; drittens schließlich die vielfältigen Schwierigkeiten, die interkulturelle Vermittlungs- und Kommunikationsprozesse behinderten oder auf Dauer unmöglich machten. In Übereinstimmung mit der neueren ethnohistorischen Forschung zum kolonialen Nordamerika8 geht dieser Beitrag von der Prämisse aus, daß die Indianer nicht nur Opfer des europäischen Landnahme- und Kolonisationsprozesses waren, sondern die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse an der europäischen Siedlungsgrenze aktiv mitgestalteten. Die Siedlungsgrenze wird dabei nicht im Sinne von Prederick J ackson Turners klassischer Prontier-These als kulturelle Scheidelinie zwischen europäischer "Zivilisation" und indianischer "Barbarei" verstanden9 , sondern als Raum der Überschneidung und dynamischen InFrancis Jennings, The Ambiguous Iroquois Empire. The Covenant Chain Confederation of Indian Tribes and English Colonies from its Beginnings to the Lancaster Treaty of 1744. New York 1984; Daniel K. Richter, The Ordeal of the Longhouse. The Peoples of the Iroquois League in the Era of European Colonization. Chapel Hill/London 1992 (Zahlenangabe S. 6). . . 8 Zur Entwicklung des Feldes vgl. James AxteIl, The European and the IndIan. Essays m the Ethnohistory of Colonial North America. New York 1981, 3.-1~; ders., ~he Eth~o his tory of Native North America, in: Donald L. Fixico (Ed.), Rethmking Amenca~ IndIan History. Albuquerque 1997, 11-27. Kritis~he.Be.merkungen z.ur Forschungsentwlc~un~: die vor allem die anhaltende Isolierung der llldiamschen GeschIchte von ~er "allgemelll~n Kolonialgeschichte Nordamerikas monieren und deren Gründe analysle~en, fin~en sl.ch u. a. in James H. Merrell, Some Thoughts on Colonial Historians and Amencan IndIans, .lll: William and Mary Quarterly 3rd Ser., 46, 1989,94-119; Daniel K. Richter, Whose IndIan . . . History?, in: William and Mary Quarterly yd Ser., 50, 199.3, ~79-393: 9 Frederick Jackson Turner, The Significance of the FrontIer m Amencan Hl~tory, lll. Annual Report of the American Historical Association for the. Year 1893. Washmgton 1894, 199-227. Turners Essay wurde häufig nachgedruckt, u.a. m/oh~ Mack Faragh~r (Ed.), Rereading Frederick Jackson Turner. Ne:v York 1~94, und III Rlchard W Etulam (Ed.), Does the Frolltier Experiellce Make Amenca ExceptlO11al? Bostoll/New York 1999, 18-43.
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Mark Häberlein
teraktion von europäischen und indianischen Interessen, Machtansprüchen und Lebensformen lO . In einer großen Untersuchung der französisch-indianischen Beziehungen im Gebiet der Großen Seen hat Richard White den Begriff des "middle ground" geprägt. White verstel;!t darunter einen kulturellen "Zwischenraum", in dem Europäer und Indianer als Handels- und Allianzpartner aufeinander angewiesen waren und sich diese gegenseitige Abhängigkeit auch in zahlreichen interkulturellen Familien- und Sexualbeziehungen niederschlug. Unter den Bedingungen eines prekären kommerziellen und diplomatischen Gleichgewichts im 17. und 18. Jahrhundert bemühten sich Franzosen wie Algonkin-Indianer White zufolge, die Normen und Praktiken der jeweils anderen Seite zu verstehen und zu einem Modus vivendi zu finden. Aus diesen Verständigungs- und Kooperationsbemühungen resultierten "new meanings and through them new practices - the shared meanings and practices of the middle ground".l1 Die Formen interkultureller Kommunikation in den Kontaktzonen, in denen sich europäische und indianische Einflußsphären überschnitten, die Träger der Kommunikationsprozesse sowie die Frage nach der Reichweite und Stabilität des von White postulierten "middle ground" stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags.
I. Formen europäisch-indianischer Kommunikation Die Aufzeichnungen von Weiser und Claus lassen keinen Zweifel daran, daß es die Irokesen waren, die die wesentlichen Aspekte des Kommunikationsprozesses bestimmten: Ort, Zeitpunkt, Ablauf, Dauer und Ergebnis. Auf dem Weg nach Onondaga erhielten Weiser und Claus die Nachricht, daß der einflußreiche Häuptling Canasatego 12 gerade gestorben war. Dies hätte eigentZur Rezeptionsgeschichte der Turner-These vgl. die Beiträ~e i~ letztgenannten Sa~el band sowie Matthias Waechter, Die Erfindung des amenkamschen Westens. DIe Geschichte der Frontier-Debatte. Freiburg im Breisgau 1996. 10 Diese Sichtweise bestimmt u. a. die neuere Überblicks darstellung von Gregory H. Nobles, American Frontiers. Cultural Encounters and Continental Conquest. New York 1~97, sowie den Sammelband von Andrew L. Cayton/Fredrika I. Teute (Ed.), Contact Pomts. American Frontiers from the Mohawk Valley to the Mississippi, 1750-1830. Chapel Hill/ London 1998. Vgl. ferner Iames Axtell, The Invasion Within. The C?ntest of Cultur~s in Colonial North America. New York 1985; William Cronon, Changes m the Land. IndIans, Co1onists, and the Ecology ofNew England. New York 1983; Daniel H. Usner Ir., Indians, Settlers and Slaves in a Frontier Exchange Economy. The Lower Mississippi Valley before 1783. Chapel Hill 1992; Eric Hinderaker, Elusive Empires. Constructing Colonialism in the Ohio Valley, 1673-1800. Cambridge/New York/Melbourne 1997. 11 Richard White, The Middle Ground. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650-1815. Cambridge 1991, Zitat x. . 12 Zu seiner Person und seinen Beziehungen zu Conrad Weiser vgl. die Angaben bel Wallace, Conrad Weiser (wie Anm. 2), passim; Iennings, Ambiguous Empire (wie Anm. 7),
lich zum Abbruch der Vermittlungsmission führen müssen, da die Trauer um den toten Häuptling die Einberufung des Großen Rates von Onondaga traditionell verboten hätte. Da sich Weiser jedoch fast am Ziel seiner Reise befand, hielten es die Irokesen für unvernünftig, ihn nicht anzuhören, und entschieden daher, ihn entgegen ihrer Tradition zu empfangen. In Onondaga bezog Weiser dasselbe Haus, in dem er während jedes seiner Besuche wohnte, und er erwähnte, daß die Abgesandten der Herrnhuter Brüdergemeine die Irokesen vor den Kopf gestoßen hätten, indem sie nicht das Haus bezogen, das für Besucher aus Pennsylvania reserviert war. 13 Zentraler Bestandteil der Beratungen war der Austausch von Geschenken in Form von Schnüren und Gürteln aus Muschelperlen (Wampum); Weiser hielt akribisch fest, daß er 4697 Perlen mit sich führte. Die Irokesen versäumten es jedoch nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß die Engländer ihre Bundesgenossen in jüngster Zeit vernachlässigt hätten, während die Franzosen ihnen große Geschenke machten und sie großzügig mit Kleidung ausstatteten. Auch der Herrnhuter Bischof Cammerhoff war mit wertvollen Präsenten - Armreifen, Ringen und anderem Silberschmuck - nach Onondaga gekommen. Er zog sich aber die Kritik der Irokesen zu, weil er diese Güter einem einzelnen Häuptling im Wald übergeben hatte, statt sie dem gesamten Rat vorzulegen - in den Augen der Irokesen eine weitere Verletzung indianischer Etikette durch die Herrnhuter. Der Austausch von Geschenken hatte aus indianischer Perspektive zunächst nichts mit Gewinnstreben oder gar mit Bestechung zu tun, sondern war Ausdruck der Reziprozität und gegenseitigen Achtung der Verhandlungspartner. Außerdem trugen Geschenke zu einer spirituellen Atmosphäre des Friedens und guten Willens bei, die für die Indianer untrennbar war vom tatsächlichen Inhalt der Verhandlungen. 14 Aufgrund der Trauerfeierlichkeiten für den Onondaga-Häuptling Canasatego warteten Weiser und seine Begleiter tagelang auf die Zusammenkunft des Großen Rates. Als dieser schließlich zusammentrat, mußte Weiser zunächst die Trauerreden von Sprechern der anderen Irokesenstämme auf den verstorbenen Häuptling abwarten. Metaphorisch wischten die Redner die Tränen der Trauernden weg, befreiten ihre Kehle, so daß sie wieder sprechen konnten, und reinigten die Hütte, in der die Ratsversammlung abgehalten wurde. Dann kam Weiser zwar zum Zuge, doch sprach er durch einen indiani:schen Redner, der seine wichtigsten Aussagen durch die Übergabe von Wampumschnüren unterstrich. Claus berichtete, daß jeder Punkt dieses Vortrags mit Bekundungen der Zustimmung aufgenommen worden sei. Daraufhin zogen sich die Irokesen zur Beratung zurück, und Weiser mußte wiederum 344f., 356-361, 363f.; Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 14,33,71,73, 172-175,177,185,217,270. 13 Doblin/Starna (Eds.), Journals (wie Anm. 1), 12-14, 42f. 14 Ebd. 12-16.
längere Zeit auf ihre Antwort warten. Schließlich teilten die Indianer ihm mit, daß sie die Einladung nicht annehmen könnten und statt dessen eine Verlegung des Ratsfeuers nach Albany (New York) wünschten. 15 Die hier angesprochenen Elemente interkultureller Kommunikation - spezifische Begrüßungs-, Schenk- und Trauerzeremonien, ein ritualisierter und auf Konsens ausgerichteter Beratungs- und Verhandlungsstil, ein gemessener, metaphernreicher Sprechduktus - waren feste Bestandteile der irokesischen Diplomatie. 16 Europäer, die unter den Irokesen etwas erreichen wollten, versuchten folglich, diese Formen zu beachten, auch wenn die Verhandlungen für europäische Diplomaten dadurch sehr anstrengend und ermüdend werden konnten. Zwischen dem ausgehenden 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden allerdings auch eine Reihe von europäischen Elementen - Salutschüsse, Toasts, europäische Handelswaren - in das Zeremoniell integriert. 17 Einer der ersten Europäer, der die Regeln der irokesischen Diplomatie internalisiert hatte, war Arent van Curler, der Ende der 1630er Jahre als Gutsverwalter seines Großonkels Kilian van Rensselaer in die damals niederländische Kolonie am Hudson-Fluß gekommen war und durch regelmäßige Besuche bei den Mohawk-Indianern binnen kurzer Zeit eine herausragende Stellung im Pelzhandel und der Indianerpolitik des Hudson- und MohawkTals einnahm. Während van Rensselaer sich beklagte, daß sich sein Großneffe nicht genügend um die Verwaltung seiner Ländereien kümmern würde, wurde "Corlear", wie die Mohawks van Curler nannten, für die Irokesen gleichsam zum Inbegriff des europäischen Freundes und Verbündeten. Nach van Curlers Tod im Jahre 1667 ging der Ehrenname "Corlear" sukzessive auf jeden neuen Gouverneur von New York über und wurde damit symbolisch wiederbelebt. 18 Der New Yorker Gouverneur Edmund Andros zeigte wie van Curler vor ihm ein beträchtliches Maß an Sensibilität gegenüber indianischen Zeremonien und Reziprozitätsvorstellungen, als er 1674 mit den Irokesen die sogeEbd. 13, 17-20, 43 f. William N. Fenton, Structure, Continuity, and Change in the Process of Iroquois Treaty Making, in: Francis Jennings/William N. FentoniMary A. DrukelDavid R. Miller (Eds.), The History and Culture of Iroquois Diplomacy. An Interdisciplinary Guide to the Treaties of the Six Nations and their League. Syracuse, N. Y. 1985, 3-36; Richter, Ordeal (wie Anm. 7), 41--49; Jane T Merritt, Metaphor, Meaning, and Misunderstanding: Language and Power on the Pennsylvania Frontier, in: Cayton/Teute (Eds.), Contact Points (wie Anm. 10), 60-87, bes. 71-76; Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 19-22, 186-193,261-276 und passim. 17 Nancy L. Hagedorn, "A Friend To Go Between Them": The Interpreter as Cultural Broker during Anglo-Iroquois Councils, 1740-1770, in: Ethnohistory 35, 1988, 60-80; dies., Brokers of Understanding: Interpreters as Agents of Cultural Exchange in Colonial New York, in: New York History 76, 1995,379--408. 18 Richter, Ordeal (wie Anm. 7), 93-98, 146; Donna Merwick, Possessing Albany, 16301710. The Dutch and English Experiences, 1630-1710. Cambridge/New YorkIMelbourne 1990,29-31,45--47,54-63. 15
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nannte ,Covenant Chain' begründete - ein Bündnissystem, das die Irokesen zunächst vorwiegend als eine symbolische Allianz in Analogie zu ihrer eigenen ,Great League of Peace and Power' betrachteten, das im späten 17. und 18. Jahrhundert aber zeitweise zu einem bemerkenswert effektiven politischen Instrument der Engländer wie der Irokesen wurde. Um die Konferenzen der ,Covenant Chain' entwickelte sich ein elaboriertes diplomatisches Zeremoniell, das weitgehend an irokesische Traditionen anknüpfte und dem die Engländer und die Indianer jeweils eigene Bedeutungen zuschrieben. Diese unterschiedlichen Formen der Aneignung zeigen sich besonders deutlich im Bereich der Erinnerungskultur: Während die Engländer die Bündnisverhandlungen und Verträge in kalligraphisch sorgfältig gestaltete Texte faßten, dokumentierten die Irokesen die Geschichte der, Covenant Chain' auf nicht minder aufwendig gearbeiteten Wampumgürteln. 19 Conrad Weisers Aufzeichnungen von einer Konferenz mit einer Gruppe von Wyandots im Ohiotal aus dem Jahre 1748 vermitteln einen plastischen Eindruck von der Funktion dieser Gürtel im kollektiven Gedächtnis der Indianer. Die Wyandots berichteten Weiser, "That above fifty Years ago they made a Treaty of Friendship with the Governor of New York at Albany, & shewed me a large Belt of Wampum they received there from the said Governor as from the King of Great Britain; the Belt was 25 Grains wide & 265 long, very Curiously wrought, there were seven Images of Men holding one another by the Hand, the 1st signifying the Governor of N ew York (or rather, as they said, the King of Great Britain), the 2d the Mohawks, the 3d the Oneidos, the 4th the Cajugas, the 5th the Onondagers, the 6th the Senekas, the 7th the Owandaets [Wyandots], the two Rows of black Wampum nnder their feet thro' the whole length of the Belt to signify the Road from Albany thro' the 5 Nations to the Owendaets; That 6 Years ago, they had sent Deputies with the same Belt to Albany to renew the Friendship."20
Das Band der Freundschaft, das die Engländer in New York über die fünf Stämme des Irokesenbundes mit den Wyandots im Gebiet der Großen Seen verknüpfte, wurde also durch einen aufwendig gestalteten Gürtel symbolisiert, den diese Indianergruppe über ein halbes Jahrhundert lang aufbewahrt hatte. Indem er die Beschreibung und Interpretation des Wampumgürtels in den offiziellen Bericht an die Kolonialregierung von Pennsylvania einfügte, trug Weiser zugleich zur Bewahrung der Geschichte der Beziehungen zwischen Kolonisten, Irokesen und Wyandots in der kolonialen Erinnerungskul-. tur bei. Der Kontrast zwischen europäischer Schriftlichkeit und indianischer Mündlichkeit darf freilich nicht überbetont werden, denn mit der Zeit lernten auch Indianer, Feder, Tinte und Papier zu benutzen. Das Resultat ihrer Aneignung der Schriftlichkeit der Kolonisten waren hybride europäisch-indianische 19 Richter, Ordeal (wie Anm. 7), 136-161. 20 Zitiert nach Reuben Gold Thwaites (Ed.), Early Western Travels 1748-1846. Vol. 1. Cleveland 1904,30.
Dokumente, ab dem 18. Jahrhundert aber auch Texte aus der Feder christianisierter Indianer in Neuengland, New York und Pennsylvania. 21
II. Kulturelle Vermittler Die ethnologisch ausgerichtete amerikanische Kolonialgeschichtsforschung hat sich seit Mitte der 1980er Jahre verstärkt mit dem Kreis von Personen beschäftigt, der zwischen europäischer und indianischer Lebenswelt vermittelte und die interkulturelle Kommunikation erleichterte bzw. überhaupt erst ermöglichte. In einem grundlegenden Aufsatz bezeichnete Daniel K. Richter diese Personen unter Rückgriff auf die soziale Netzwerktheorie als "cultural brokers". Über solche "kulturellen Vermittler", die in lokale soziale und politische Netzwerke eingebunden waren, liefen die Beziehungen zwischen lokalen Gemeinschaften und größeren regionalen und internationalen Systemen über kulturelle Grenzen hinweg. "Without brokers' communication skills and abilities to please diverse interest groups", so Richter, "peoples with vastly differing political structures, economic systems, and cultural beliefs could hardly talk to each other, much less work together." Richter illustrierte die interkulturellen Beziehungsnetze und Kommunikationskanäle am Beispiel des Dreiecksverhältnisses, das sich Ende des 17. Jahrhunderts zwischen der englischen Kolonialregierung in New York, der niederländisch stämmigen Händlerelite in Albany, dem Pelzhandelszentrum am Hudson-Fluß, und der "anglophilen" Fraktion der Irokesenkonföderation eingespielt hatte, während des englisch-französischen Kolonialkriegs in den 1690er Jahren aber wieder zusammenbrach. 22 Wichtigste Voraussetzung für eine Vermittlertätigkeit zwischen europäischer und indianischer Kultur war zweifellos die Sprachbeherrschung. Der Kreis der Personen in Nordamerika, die genuin mehrsprachig waren, blieb jedoch das gesamte 17. und 18. Jahrhundert hindurch relativ klein. Für die meisten englischen Kolonisten etwa stand außer Frage, daß ihre Sprache als Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 193-197 (vgl. aber auch 215-22~ zum anhaltenden Mißtrauen der Indianer gegenüber der Macht des geschriebenen Wortes m der Hand der Kolonisten); Hilary E. Wyss, Writing Indians. Literacy, Christianity, and Native Comrnunity in Early America. Amherst, Mass. 2000. . 22 Daniel K. Richter, Cultural Brokers and Intercultural Politics: New York-IroquOls Relations, 1664-1701, in: JAmH 75,1988,40-67. Zur Entwicklung des Konzepts vgl. aus ethnohistorischer Perspektive Margaret Connell Szasz, Introduction, in: dies. (Ed.), Between Indian and White Worlds: The Cultural Broker. Norman, Okla.lLondon 1994, 3-20. Zu kulturellen Vermittlern in der frühen amerikanischen Republik vgl. Alan Taylor, Captain Hendrick Aupaumut: The Dilemmas of an Intercultural Broker, in: Ethnohistory 43; 199?, 431-457; Mark Häberlein, Contesting the "Middle Ground": Indian-White RelatlOns m the Early American Republic, in: Udo Hebel (Ed.), The Construction and Contestation of American Cultures and Identities in the Early National Period. Heidelberg 1999, 1-23. 21
Ausdruck englischer Religion und Zivilisation den "barbarischen" Sprachen der Indianer unendlich überlegen war. Aber auch die Indianer waren nicht weniger davon überzeugt, daß die europäischen Kolonisten sich ihren eigenen Traditionen und Gebräuchen anzupassen hatten. Indianische Sprachen waren aus der Sicht der Kolonisten schwer erlernbar, und einige Europäer wie der reformierte Geistliche Jonas Michaelius - der erste ordinierte Seelsorger, der im 17. Jahrhundert in die Kolonie Neu-Niederland kam - waren sogar der Meinung, daß die Indianer sich bewußt dem kulturellen Einfluß der Kolonisten entzögen, indem sie die wahre Komplexität ihrer Sprache verschleierten und mit den Europäern in einer Art Pidgin-Dialekt kommunizierten. Selbst die besten europäischen Kenner der Indianersprachen, so Michaelius, würden kaum ein Wort verstehen, wenn die "Wilden" miteinander sprächen. Die Indianer, schrieb Michaelius, "rather design to conceal their language from us than to properly communicate it, except in things which happen in daily trade; saying that is sufficient; and then they speak only in half sentences, shortened words, [... ] and all things which have only a rude resemblance to each other, they frequently call by the same name. In truth it is a made-up childish language; so that even those who can best of all speak with the savages, and get along well in trade, are nevertheless wholly in the dark and bewildered when they hear the savages talking among themselves."23 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts beobachtete der Herrnhuter Missionar Johann Heckeweider, der unter den Indianern des Ohiotals lebte, daß sogar Indianer, die die englische Sprache beherrschten, bevorzugt über einen Dolmetscher mit Weißen kommunizierten. 24 Der Jesuitenmissionar Sebastien Rasles, der von 1694 an drei Jahrzehnte unter den Abenaki-Indianern im nördlichen Neuengland lebte und ein Wörterbuch ihrer Sprache hinterließ, berichtete 1723 in einem Brief an seinen Bruder von den Schwierigkeiten des Erwerbs einer Sprache, in der eine Reihe von Lauten nur mit dem Kehlkopf erzeugt wurde. Zunächst habe er mehrere Monate lang einen Teil des Tages in den Hütten der Indianer verbracht und ihnen lediglich zugehört: "I was obliged to give the utmost attention, in order to connect what they said, and to conjecture its meaning. Sometimes I caught it exactly, but more often I was deceived because, not being accustomed to the . trick of their guttural sounds, I repeated only half the word, and thereby gave' 23 Zitiert nach Karen O. Kuppe rman , Indians and English. Facing Off in Early America. Ithaca NYlLondon 2000, 86f. Vgl. auch fames H. Merrell, "The Customes of Our Countrey": Indians and Colonists in Early America, in: Bernar~ Baily~~hilip D: Morgan (Eds), Strangers within the Realm. Cultural Margins of the Fmt B~It1sh EmpIre. Chapel ~Ill 1991,117-156, hier 128f.; ders., Into the American Woods (WIe Anm. 2), 183f.; Merrztt, Metaphor (wie Anm. 16), 67-69; Edward G. Gray, New World Babel. Languages and . Nations in Early America. Princeton 1999, 10-55. 24 CoUn G. Calloway, New Worlds for All. Indians, Europeans, and the Remaking ofEarly America. BaltimorelLondon 1997, 123 f.
them cause for laughter." Aber auch als er in der Lage gewesen sei, alle Begriffe der Abenaki-Sprache zu verstehen, habe er sich immer noch nicht zur Zufriedenheit seiner Zuhörer ausdrücken können: "I still had much progress to make before catching the form of express,ion and the spirit of the language, which are entirely different from the spirit and form of our European languages." Er wählte daher mehrere Indianer aus, deren Redestil ihn am meisten beeindruckte, und unterzog sich unter ihrer Anleitung einem intensiven Sprachtraining, das ihn schließlich in die Lage versetzte, ein Wörterbuch und einen Katechismus zu verfassen. 25 Über die Sprachbeherrschung hinaus erforderte die Vermittlertätigkeit aber auch die Fähigkeit, höchst unterschiedliche rituelle Formen, politische und soziale Konzepte, Weltbilder und Sinnsysteme verständlich zu machen. "To convey accurately the full sense and nuances of an Indian speaker's sentiments", schreibt der Historiker Colin Calloway, "interpreters had to have an intimate understanding of Indian concepts, customs, and concerns. They had to understand Indian and European worldviews as weIl as words. They had to explain rituals and actions and speeches; they had to show Indians and Europeans how to do business in the other's terms; and they sometimes had to show them with whom to do it. "26 Ungeachtet der hohen Anforderungen, die diese interkulturelle Kommunikation an die Übersetzer stellte, bildete sich seit dem frühen 17. Jahrhundert eine heterogene Gruppe von Personen aus, die über das Verständigungsniveau von Zeichen- und Pidgin-Sprachen hinaus gelangten und als bilinguale Vermittler zwischen den Kulturen fungierten. Im besten Fall, so Jane T. Merritt in einer Studie über Kulturkontakte im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts, konnten Indianer und Europäer an der Siedlungsgrenze in einem Prozeß wechselseitiger, kreativer linguistischer Adaption sogar zu einer gemeinsamen Sprache finden. 27 Einige der frühen europäischen Entdecker setzten auf die Dolmetscherdienste von Indianern, die freiwillig oder gezwungenermaßen nach Europa gebracht wurden, um dort die Sprache der Kolonisatoren zu erlernen. So nahm Jacques Cartier 1534 zwei Söhne des Huronen-Häuptlings Donnacona von der Bucht von Gaspe an der kanadischen Atlantikküste mit nach Frankreich; bei seiner nächsten Expedition entführte er 1536 gleich zehn Huronen. 28 Die englischen Expeditionen, die unter der Ägide Sir Walter Raleighs Colin G. Calloway (Ed.), Dawnland Encounters. Indians and Europeans in Northern New England. Hanover, N.H. 1991, 79f.; Gray, New World Babel (wie Anm. 23), 35. Zu den Problemen der Jesuitenmissionare beim Erlernen indianischer Sprachen vgl. Axtell, Invasion Within (wie Anm. 10),81-83. 26 Calloway (Ed.), Dawnland Encounters (wie Anm. 25), 124. Ähnlich Hagedorn, Friend (wie Anm. 17),61; dies., Brokers ofUnderstanding (wie Anm. 17),380. 27 MelTitt, Metaphor (wie Anm. 16), 68f.; dies., At the Crossroads. Indians and Empires on a Mid-Atlantic Frontier, 1700-1763. Chapel Hill/London 2003, 213-218. 28 Bruce G. Trigger, Natives and Newcomers. Canada's "Heroic Age" Reconsidered. 25
1584 die kurzlebige Roanoke-Kolonie auf einer Insel vor der Küste North Carolinas gründeten, transportierten vor 1590 wenigstens vier nordamerikanische Indianer nach England. Einer von ihnen, der Croatoan-Indianer Manteo, machte die Reise über den Atlantik zweimal, wurde in Waltel' Raleighs Haus in London von dem Humanisten Thomas Hariot in der englischen Sprache unterrichtet und vermittelte seinerseits Hariot die Grundlagen der AlgonkinSprache. Auf Roanoke ließ Manteo sich taufen und leistete den Engländern wichtige Dolmetscher- und Vermittlerdienste - ohne freilich die Eskalation der Konflikte zwischen Engländern und Algonkin-Indianern verhindern zu können. 29 Die ,Pilgrim Fathers', die 1620 auf der ,Mayflower' den Atlantik überquerten und die Kolonie Plymouth in Neuengland gründeten, profitierten bekanntermaßen von der linguistischen und praktischen Hilfe des PatuxetIndianers Squanto, der 1605 von dem Entdecker George Weymouth nach England mitgenommen und 1614 von einer anderen englischen Expedition erneut nach Europa verschleppt worden war. 30 Einige dieser Indianer allerdings verstarben bereits in Europa, andere entwickelten sich nach ihrer Rückkehr zu besonders erbitterten Gegnern der Kolonisten. 31 Im frühen 17. Jahrhundert gingen koloniale Führer wie Samuel de Champlain in Neufrankreich und John Smith in Virginia dazu über, Knaben und junge Männer in indianischen Dörfern zu lassen, die dort einige Jahre lebten, die Sprache erlernten und durch die Adoption in Clangemeinschaften oft auch wichtige Sozialbeziehungen ausbildeten. Im besten Fall leisteten diese Männer nach ihrer Rückkehr in die europäische Siedlergesellschaft den Kolonialregierungen und Pelzhandelsgesellschaften wertvolle Vermittlerdienste. 32 Kingston, Ont./MontreaI1985, 130f.; Urs Bitterli, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. 3. Aufi. München 1992, 185-187; Horst Gründer, Indianer in Europa - Marginalien zum Exotismus, in: Jürgen BellerslHorst Gründer (Hrsg.), Europäisch-indianischer Kulturkontakt in Nordamerika. (Geschichte und Kulturen, Bd. 8.) Münster 1999, 102-118, hier 106f. 29 Michael Leroy Oberg, Between ,Savage Man' and ,Most Faithful Englishman'. Manteo and the Early Anglo-Indian Exchange, in: Itinerario 24/2, 2000, 146-169; Aiden T. Vaughan, Sir Walter Ralegh's Indian Interpreters, 1584-1618, in: William and Mary Quarterly 3rd Ser., 59, 2002, 341-376; vgl. auch Kupperman, Indians and English (wie Anm. 23), 79-82. 30 Neal Salisbury, Manitou and Providence: Indians, Europeans, and the Making of Ne\\[ England, 1500-1643. New York 1982,107,114-117; Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts. MünsterlHamburg 2000, 304f.; Kupperman, Indians and English (wie Anm. 23),185; Gründer, Indianer in Europa (wie Anm. 28),110; Calloway, New Worlds for All (wie Anm. 24), 124 (dort auch weitere Beispiele). 31 Beispiele für Indianer, die sich nach ihrer Rückkehr aus Europa gegen die Kolonisten wandten, finden sich u. a. bei Trigger, Natives and Newcomers (wie Anm. 28), 125, 131; Oberg, ,Savage Man' (wie Anm. 29), 154f., 163. 32 J. Frederick Fausz, Middlemen in Peace and War: Virginia's Earliest Indian Interpreters, 1608-1632, in: Virginia, Magazine of History and Biography 95, 1987, 41-64; Sven Kuttner, Handel, Religion und HelTschaft. Kulturkontakt und Ureinwohnerpolitik in
Nicht wenige wurden jedoch auch zu "kulturellen Überläufern", die sich in ihrer Lebensweise, Kleidung und Sozialbeziehungen so stark an ihre indianische Umgebung anglichen, daß sie von anderen Europäern nur noch als "weiße Indianer" wahrgenommen wurden., Besonders markante Beispiele für diesen Typus des kulturellen Überläufers finden sich unter den französischen Waldläufern (coureurs de bois) in Kanada. 33 Andere Gruppen, aus denen sich die - überwiegend männlichen34 - kulturellen Vermittler rekrutierten, waren europäische Kriegsgefangene, die in indianische Stammes gemeinschaften adoptiert worden waren, Pelzhändler und die aus europäisch-indianischen Sexualbeziehungen hervorgegangenen Metis, bei denen es sich meist um die Nachfahren von europäischen Pelzhändlem und Indianerinnen handelte. 35 Harmen Meyndertsz van den Bogaert, der die Pelzhandelsinteressen der niederländischen Westindienkompanie gegenüber den Irokesen vertrat, berichtete bereits 1634 von einem "Englishman coming from the Minquas [Susquehannocks] in order to learn their language for the fur trade".36 Um 1700 spielte die aus einer niederländisch-irokesischen Beziehung hervorgegangene Hilletie van Olinda eine zentrale Rolle als Dolmetscherin und Vermittlerin zwischen der Elite des Pelzhandelszentrums Albany in New York und dem Irokesenbund, im frühen 18. Jahrhundert nahmen dann Lawrence Claessen van der Volgen und Jan Baptist van Eps, die 1690 bei Neufrankreich im frühen 17. Jahrhundert. Frankfurt am MainlBernlParis/New York 1998, 86-97. 33 Zum Phänomen des "kulturellen Überläufers" im kolonialen Nordamerika vgl. James Axtell, The White Indians of Colonial America, in: William and Mary Quarterly 3rd Ser., 32, 1975, 55-88; ders., Invasion Within (wie Anm. 10), 302-327; James Clifton (Ed.), Being and Becoming Indian. Biographical Studies of North American Frontiers. Chicago 1989; Marin Trenk, Die weißen Indianer Kanadas. Zur Geschichte der "Frans;ois Sauvages", in: Jb. für Europäische Überseegeschichte 1, 2001, 61-86. Hingegen haben Bruce Trigger und Sven Kuttner argumentiert, daß es den meisten Waldläufern in Neufrankreich nicht um Integration in die indianische Gesellschaft, sondern um sozialen Aufstieg in der europäischen Kolonialgesellschaft ging. Kuttner schlägt daher vor, in ihrem Fall eher von kulturellen Vermittlern als von Überläufern zu sprechen; Trigger, Natives and Newcomers (wie Anm. 28), 194-197; Kuttner, Handel (wie Anm. 32), 86-97. 34 Das weitgehende Fehlen von Frauen bei offiziellen diplomatischen Gesandtschaften und Konferenzen konstatiert Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2),68-71. Nancy Hagedorn und Jane Merritt verweisen jedoch auf die Rolle von Frauen im interkulturellen Handel und bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen in Haushalt und Familie sowie auf ihren Einfluß hinter den Kulissen der offiziellen Diplomatie; Hagedorn, Brokers of Understanding (wie Anm. 17), 388; Merritt, Metaphor (wie Anm. 16),64-66. Auch Hermann Wellenreuther geht von einer beträchtlichen Zahl weiblicher ",cultural brokers' als Bindeglieder in dem ökonomischen Netzwerk" aus, "das indianische und koloniale Gesellschaften verband"; Wellenreuther, Ausbildung (wie Anm. 5), 378f., Zitat 379. 35 Vgl. Richter, Ordeal (wie Anm. 7), 198,203-205, 219f., 231 f.; Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 68-95. 36 Charles T. GehringlWilliam A. Starna (Eds.), A Journey into the Mohawk and Oneida Country, 1634-1635. The Journal of Harmen Meyndertsz van den Bogaert. Syracuse, N.Y. 1988,7.
einem französisch-indianischen Angriff auf die Gemeinde Schenectady gefangengenommen worden waren, diese Rolle ein. 37 In South Carolina übernahmen im 18. Jahrhundert schottische und irische Pelzhändler zentrale Vermittlerfunktionen, da sich die Kolonie nicht auf indianische Dolmetscher verlassen wollte 38 , und in Pennsylvania fungierte Peter Chartier, Sohn eines französischen Pelzhändlers und einer Shawnee-Indianerin, in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts als Dolmetscher bei Verhandlungen zwischen der Kolonie und den Shawnees 39 . Um die Mitte des 18. Jahrhunderts exemplifizierte Andrew Montour den "kulturell hybriden" Vermittler: Der Sohn eines ~neida-Häupt1ings und der ihrerseits aus einer französisch-indianischen Verbmdung hervorgegangenen Dolmetscherin "Madame Montour" war zunächst unter den zum Irokesenbund gehörenden Oneidas in New York, dann unter den Delawares und Shawnees in Pennsylvania aufgewachsen. Dieser multiethnische Hintergru~d ~r möglichte ihm den Erwerb der französischen, englischen und mehrerer mdIanischer Sprachen. Montour arbeitete seit den 1740er Jahren als Dolmetsch~r für Conrad Weiser, der nur die Sprache der Mohawk beherrschte, und begleItete 1742 Graf Nikolaus von Zinzendorf auf dessen Reise zu den Irokesen. Seit etwa 1750 war er auch ein unverzichtbarer Mittler zwischen der Kolonie Pennsylvania und den Indianern des Ohiogebiets, und während des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika arbeitete er für den britischen India~erbe auftragten Sir William Johnson. Durch seine aufeinanderfolgenden Henaten mit der Enkeltochter eines Delaware-Häuptlings und einer Oneida-Frau stärkte Montour seine indianischen Beziehungsnetze. Seine Stellung zwischen den Kulturen wird auch aus zeitgenössischen Beschreibungen seines Äußeren deutlich. Zinzendorf und anderen europäischen Beobachtern zufolge waren seine Kleidung und seine Gesichtszüge "europäisch", sein Schmuck und seine Gesichtsbemalung aber "indianisch". Die Repräsentanten der englischen Kolonien bezeichneten ihn bisweilen als Weißen, manchmal aber auch als Indianer. Wie Montour selbst seine ethnische Identität definierte, ist angesichts fehlender Selbstzeugnisse schwer zu entscheiden und in der Forschung umstritten. 4o 37 Richter, Cultural Brokers (wie Anm. 22), 52f.; ders., Ordeal (wie Anm. 7), 178,220; Hagedorn, Brokers ofUnderstanding (wie Anm. 17),381-386. 38 Dowd, Panic (wie Anm. 5), 542. . 39 Jennings, Ambiguous Empire (wie Anm.7), 199, 269f.; Me rrell, Into the Amencan Woods (wie Anm. 2), 74f. ' . 40 Montour hat in jüngster Zeit verstärkt die Aufme~ksamkelt der For~chung auf SIch gezogen. Nancy Hagedorn ist der Auffassung, daß SIch Mo~tou~ zuml~dest un~erbe.wußt stark mit der indianischen Seite identifizierte: "he probably Identlfied hi~self pnmanly. as Indian in his values and beliefs but found it necessary to adopt many Eng~Ish ways to mm~~ tain his position as an interpreter"; Nancy L. Hagedorn, "Fmthful, .Knowmg, and Prudent . Andrew Montour as Interpreter and Cultural Broker, 1740-1770, m: Szasz (Ed.), Between
Missionare, die in indianischen Dörfern lebten, erlernten zwar häufig indianische Sprachen und betrieben mitunter intensive linguistische und ethnographische Studien41 , können aber nur im Ausnahmefall tatsächlich als kulturelle Vermittler angesehen werden, da sie häufig nur an einer einseitigen Kommunikation - der Übermittlung der christlichen.ßotschaft - und einem "gelenkten Kulturwandel" der indianischen Gemeinschaften interessiert waren42 . Insbesondere die puritanischen Missionare im Neuengland des 17. Jahrhunderts strebten eine vollständige Bekehrung der Indianer zum christlichen Glauben an, die mit einer umfassenden kulturellen Neuorientierung einhergehen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden die zu missionierenden Indianer in festen Dörfern, den sogenannten ,Praying Towns', sowohl von der englischen Siedlergesellschaft als auch von anderen indianischen Gruppen isoliert und dort einem weitreichenden Umerziehungs programm unterzogen. Das Christianisierungs- und Zivilisierungsprogramm der Puritaner ließ keinen Platz für religiöse Synkretismen und hybride kulturelle Formen. 43 Ebenso waren die vergleichsweise wenigen englischen protestantischen Indianermissionare des 18. Jahrhunderts, die sich nicht selten mehr für das Land der Indianer als für ihre Seelen interessierten, "in indianischen Augen miserable Vermittler".44 Indian and White Worlds (wie Anm. 22), 44-60. Die tiefgreifende Ambivalenz der Identität Montours und seinen enigmatischen Charakter betont hingegen fames H. Merrell, "The Cast of his Countenance": Reading Andrew Montour, in: Ronald HoffmanlMechal Sobel/ Fredr~ka J. Teute (E?s.), Through a Glass Darkly: Reflections on Personal Identity in Early Amenca. Chapel HIlI 1997, 13-39; ders., Into the American Woods (wie Anm. 2), 54f., 75-77, 101. William B. Hart hat vorgeschlagen, für kulturelle Grenzgänger an der nordamerikanischen Siedlungs grenze, deren ethnische Zu schreibung in den Quellen wechselt, den anthropologischen Terminus der "situativen Ethnizität" zu verwenden: William B. Hart, Black "Go-Betweens" and the Mutability of "Race", Status and Ethnicity on New York's Pr~-Revolutionary Frontier, in: Cayton/Teute (Eds.), Contact Points (wie Anm. 10), 88-113, hIer bes. 92, 112. 41 Vgl. allgemein Wolfgang Reinhard, Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen. (Historische Forschungen, Bd.60.) Berlin 1997, 40]-433; Reinhard Wendt (Hrsg.), Wege durch Babyion. Missionare, Sprachstudien und interkulturelle Kommunikation. Tübingen 1998; ders. (Hrsg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht. Tübingen 2001. 42 Wolfgang Reinhard, Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen (wie Anm. 41), 347-399. 43 Vgl. Neal Salisbury, Red Puritans. The ,Praying Indians' ofMassachusetts Bay and John Eliot, in: William and Mary Quarterly yd Ser., 31, 1974, 27-54; Axtell, Invasion Within (wie Anm. 10), 131-178,218-241; Dane Morrison, A Praying People. Massachusett Accu~turation and the Failure of the Puritan Mission. New York 1995; Wyss, Writing Indians (WIe Anm. 21), 19-30; Frank Kelleter, Puritan Missionaries and the Colonization of the New World: A Reading of John Eliot's ,Indian Dialogues' (1671), in: Klaus H. Schmidtl Frit~ Fleischmann (Eds.), Ear1y America Re-Explored. New Readings in Colonial, Early NatIOnal and Antebellum Culture. New York/Frankfurt am MainiBem/Paris 2000 71-106 hier bes. 76-78. ' , 44 Wellenreuther, Ausbildung (wie Anm. 5), 378.
Auch der Herrnhuter Brüdergemeine Nikolaus von Zinzendorfs, die seit den l740er Jahren unter den Mahicans in New York sowie den Delaware in Pennsylvania und später im Ohiogebiet missionierte, ging es um die "Zivilisierung" der Indianer und eine weitreichende Umgestaltung ihrer Lebenswelt. Der Missionar David Zeisberger schrieb Ende 1776 in seinem Tagebuch, die Indianer in den Missionssiedlungen im Ohiogebiet würden "aus ihrem wilden und schlechten Leben heraus kommen wie es sich die kurze Zeit seitdem wir hier sind schon ein merkliches unter ihnen geändert hat. Denn wo das Evangelium geprediget wird, da werden die Leute zahm."45 Die emotionale Religiosität der Herrnhuter und ihre Bereitschaft zur selektiven Adaption indigener Lebensformen in den Missionsorten scheinen den Indianern zwar stärker entgegengekommen zu sein als Theologie und Ordnungsvorstellungen der Puritaner und bescherten der Brüdergemeine beachtliche Bekehrungserfolge, aber auch die Herrnhuter beharrten auf dem Absolutheitsanspruch der christlichen Religion. Sie maßen Arbeit, Ordnung und Disziplin in ihren Missionssiedlungen zentrale Bedeutung bei, versuchten deren Außenkontakte zu kontrollieren und die christianisierten Indianer von "schädlichen" äußeren Einflüssen abzuschirmen. Zudem behielten sie sich stets die letzte Entscheidungsgewalt vor und akzeptierten in der Regel keine Kritik an ihrer Autorität. Eine neuere Studie über die Herrnhuter in Pennsylvania kommt daher zu dem Schluß, "daß der Kulturkontakt in den Missionssiedlungen lediglich als Einbahnstraße von den Missionaren zu den Indianern verlief".46 In indianischen Gemeinschaften, in denen sie keine Kontrolle ausüben konnten, wie in dem multiethnischen Handelsknotenpunkt Shamokin am Susquehanna-Fluß in Pennsylvania, stießen die Herrnhuter auf große Widerstände und gaben die Missionsversuche nach wenigen Jahren wieder auf. 47 Dennoch wurden einzelne Herrnhuter Missionare aufgrund ihrer interkulturellen Kompetenz auch als Grenzgänger in säkularen Angelegenheiten tätig: Der zweimal mit IndiaHermanll WellenreutheriCarola Wessel (Hrsg.), Helmhuter Indianerrnission in der Amerikanischen Revolution. Die Tagebücher des David Zeisberger 1772-1781. Berlin 1995,351. 46 Stefan Hertrampf, "Unsere Indianer-Geschwister waren lichte und vergnügt". Die Herrnhuter als Missionare bei den Indianern Pennsylvanias 1745-1765. Frankfurt am Main/BernlParislNew York 1997, passim, Zitat 249; vgl. auch WellenreutherlWessd (Hrsg.), Herrnhuter Indianermission (wie Anm. 45), bes. 46-76; Carola Wessel, DelawareIndianer und Herrnhuter Missionare im Upper Ohio Valley, 1772-1781. Tübingen 1999. Mit indianischen Reaktionen auf die Herrnhuter Mission und ihren spezifischen Aneignungsstrategien befaßt sich iaHe T. Merritt, Drearning of the Savior's Blood: Moravians rd and the Indian Great Awakening in Pennsylvania, in: William and Mary Quarterly 3 Ser., 54, 1997,723-746; dies., At the Crossroads (wie Anm. 27), 89-128. 47 Hertrampf, Indianer-Geschwister (wie Anm. 46),308-318; James H. Merrell, Shamokin the very seat of the Prince of Darkness": Unsettling the Early American Frontier, in: Ca;;~n/Teute (Eds.), Contact Points (wie Anm. 10), 16-59, bes. 44-49; ders., Into the American Woods (wie Anm. 2), 86f.
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Kulturelle Vermittler und interkulturelle Kommunikation
nerinnen verheiratete Christian Friedrich Post reiste im Auftrag der Kolonie Pennsylvania auf dem Höhepunkt des Siebenjährigen Kriegs 1758 mehrmals zu Friedensgesprächen in .indianische Dörfer an den Flüssen Susquehanna und Ohi048 , und David Zeisberger, der unter den Delaware missionierte, aber auch enge Beziehungen zu den Irokesen in:>-Onondaga unterhielt und mehrere indianische Sprachen beherrschte, wurde während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges wiederholt als Dolmetscher und Übersetzer zu Verhandlungen herangezogen49 . . Französische Jesuitenmissionare unter den Huronen und Irokesen respektIerten zwar die traditionelle Lebensweise ihrer indianischen Konvertiten in höherem Maße als ihre protestantischen Gegenspieler in den englischen Kolonien, doch auch sie strebten letztlich eine grundlegende Transformation der indig~nen Spiritualität und Kultur an. 50 Auch aus ihren Reihen gingen einige Vermittler hervor, die in der interkulturellen Diplomatie des nordöstlichen Nordan:.erika eine wichtige Rolle spielten. Pierre Millet etwa, der 1689 bei einem Uberfall auf das französische Fort Frontenac von Irokesen gefangengenommen worden war, wurde von den Oneidas nicht nur adoptiert, sondern auch zum Häuptling (Sachem) ernannt und nutzte das damit verbundene Prestige, ~m in einer kritischen Phase der französisch-irokesischen Beziehungen den Emfluß der frankophilen Fraktion im Irokesenbund zu stärken. 51 S6bastien Rasles sah in seiner Missionarstätigkeit den wesentlichen Grund dafür daß die Abenaki-Indianer im Norden Neuenglands mit den Franzosen alliie~ blieben, obwohl die Siedlungsgebiete der Abenaki wesentlich näher an englischen Siedlungen lagen und Handelsbeziehungen zu den Engländern leicht anzuknüpfen gewesen wären. Englische Milizen unternahmen mehrere Versuche, Rasles zu vertreiben, und töteten ihn schließlich bei einem Angriff im Jahre 1724. 52
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Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 84f.
4: WellenreutherlWessel (Hrsg.), Herrnhuter Indianermission (wie Anm. 45), 77 und pasS1l1l.
50 Die Literatur zur Mission der französischen Jesuiten unter den nordamerikanischen In?ia?ern .ist recht umfangreich. Eine Orientierung ermöglichen u. a. AxteIl, Invasion WI~m (WIe Anm. 10); Urs Bitterli, Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeIschen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1986 97-122' Lucien Campeau, Roman Catholic Missions in New France, in: Wilcomb E. Washbur~ (Ed.),. Handbook of North American Indians. Vol. 4: History of Indian-White Relations. Washmgton, D.C. 1988,464-471; Wolfgang Reinhard, Rothäute und Schwarzröcke - Kulturkontakt in der kanadischen Jesuitenmission des 17. Jahrhunderts, in: Geschichte und Kulturen~, 1992,25-39; Horst Gründer, WeIteroberung und Christentum. Ein Handbuch zu: ~eschlchte der Neuzeit. Gütersloh 1992, 161-174; Franz-foseph Post, Schamanen und MISSIOnare. Katholische Mission und indigene Spiritualität in Nouvelle-France Münster 1997. . 51 Richter, Ordeal (wie Anm. 7), 175f. 52 Calloway (Ed.), Dawnland Encounters (wie Anm. 25), 75-79,81-83.
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Insbesondere im 18. Jahrhundert spielten als "cultural brokers" auch "assimilierte" Indianer eine wichtige Rolle. Mit diesem Begriff sind Indianer gemeint, die als Farmer, Handwerker und Tagelöhner in festen Siedlungen inmitten der europäischen Kolonien lebten, die englische Sprache sprachen und häufig das Christentum angenommen hatten. 53 Zu dieser Gruppe gehörte etwa der Mohegan Samson Occom (1723-1792), der in einer traditionellen indianischen Gemeinschaft in Connecticut aufwuchs, nach einem Bekehrungserlebnis während der Erweckungsbewegung des "Great Awakening" als Jugendlicher aber den christlichen Glauben annahm, bei dem kongregationalistischen Geistlichen Eleazar Wheelock jahrelang Unterricht nahm und schließlich im Jahre 1759 als presbyterianischer Geistlicher ordiniert wurde. Occom wirkte als Prediger und Schulmeister in indianischen Gemeinden auf Long Island und in Connecticut und unternahm mehrere Missionsreisen zu den Irokesen, predigte aber auch in den Kirchen der europäischen Kolonisten. Als er sich 1761 in New York aufhielt, schrieb er an seinen Mentor Wheelock: "I am Invited to the City every Day to Dine with Some gentleman or other. Some times Two or three Invitations at once." Von 1766 bis 1768 reiste er sogar nach England und Schottland, wo er mehrere hundert Predigten hielt und überaus erfolgreich Geld für eine Schulgründung seines Mentors Wheelockdas heutige Dartmouth College - sammelte. 54 In seinem Bericht über die Reise nach Onondaga 1750 schildert auch Christian Daniel Claus einen Besuch bei einem solchen "assimilierten" Indianer, dem Mohawk-Häuptling Brant. Claus stellte erstaunt fest, daß Brant in einem zweistöckigen, mit europäischen Einrichtungsgegenständen möblierten Haus wohnte, in dem es an nichts fehlte. 55 Neuere Forschungen haben gezeigt, daß Indianer wie Occom und Brant keineswegs vollständig in der Kultur der Europäer aufgegangen waren, sondern vielmehr europäische und indianische Lebensformen kreativ miteinander verknüpften und aus ihrer Stellung zwischen den Kulturen Prestige und Einfluß schöpften. So zog auch Samson Occom mit seiner Familie in den 1760er Jahren in ein zweistöckiges, in europäischer Bauweise errichtetes Wohnhaus, und er veröffentlichte eine Predigt Vgl. zu dieser Gruppe u.a. Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2),88-92; VVYss, Writing Indians (wie Anm. 21); Robert Grumet (Ed.), Northeastern Indian Lives. Amberst, Mass. 1996. 54 Harold Blodgett, Samson Occom. Hanover, N.H. 1935, passim, Zitat 58f.; Leon Burr Richardson, An Indian Preacher in England. Hanover, N.H. 1933; Margaret Connell Szasz, Samson Occom: Mohegan as Spiritual Intermediary, in: dies. (Ed.), Between Indian and White Worlds (wie Anm. 22), 61-78. 55 DoblinlStarna (Eds.), Journals (wie Anm. 1), 35. Hierbei handelte es sich wohl um Nickus Brant (Aroghyiadecker), den Vater des Mohawk-Häuptlings Joseph Brant, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine wichtige diplomatische und militärische Rolle auf seiten der Briten spielte. Vgl. fames O'Donnell, Joseph Brant, in: R. David Edmunds (Ed.), American Indian Leaders: Studies in Diversity. Lincoln, Nebr.lLondon 1980,21-40, bes.22. 53
(1772) und ein Hymnenbuch (1774) in englischer Sprache. Doch der Mohegan blieb sich auch stets seines Status als von vielen verachteter und stets unterbezahlter Helfer paternalistischer weißer Geistlicher bewußt und überWarf sich schließlich mit seinem Mentor Wheel~ck, als dieser das von Occom in Europa gesammelte Geld nicht für die Erziehung indianischer Schüler, sondern primär für die Ausbildung der Söhne englischer Kolonisten verwandte. Nach dem Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs verließen Occom und seine Verwandten ihre Siedlungen in Neuengland und gründeten auf dem Land der Oneidas im Staat New York die neue Siedlung Brothertown. Damit vollzog Occom eine bewußte Abkehr von den Weißen, mit denen er jahrelang zusammengearbeitet hatte, die aber letztlich das Vertrauen, das er in sie gesetzt hatte, weitgehend enttäuschten. 56
IIr. Die Ambivalenz der Vermittlerrolle In Regionen, in denen ein Kräftegleichgewicht zwischen europäischen Kolonisten und Indianern bestand, wie im Gebiet westlich des Michigansees im s.päten 17. u~d 18. Jahrhundert, bildete sich infolge der wechselseitigen kreatIven AdaptIOn europäischer und indianischer Lebensformen ein kultureller Zwischenraum aus, der von reziproken kommerziellen und diplomatischen Beziehungen geprägt war. Ein solcher "middle ground" blieb im kolonialen Nordamerika aber stets ein fragiles Gebilde. 57 Die Dezimierung der Indianer durch von den Europäern eingeschleppte Epidemien und interkulturelle Gewalt, der Landhunger vor allem der englischen Kolonisten und das Überlegenheits~efühl der Europäer, die interkulturelle Verständigung in der Regel nur als eme Zwischenstufe in einem als unvermeidlich angesehenen Assimilati~nsproz.eß der Indianer akzeptierten, untergruben beständig dieses prekäre GleIchgewIcht. In der 1607 gegründeten Kolonie Virginia etwa waren gewaltsame Auseinandersetzungen der Engländer mit der mächtigen PowhatanKonföderation bereits nach wenigen Jahren an ~er Tagesordnung, und nach 56
Szasz, Samson Occom (wie Anm. 54), 61, 68, 71-78. Als einer der frühesten indiani-
s~hen Aut?ren hat Occom in jüngster Zeit auch verstärkt die Aufmerksamkeit der amerika~Isch~n Llteraturwiss~nschaft auf sich gezogen, und einige seiner Texte haben Eingang in
hteransche AnthologIen gefunden. V gl. Michael Elliott, "This Indian Bait": Samson Occom a?? the ~oice of Liminality, in: Early American Literature 29, 1994, 233-253; YVYss, Wnt1~g IndIans (wie Anm. 21), 123-126, 130-153, 159-161; Carla Mulford (Ed.), ~arly ~mer~can Writings. N~w York/Oxford ~002, 8~7-882. W~~~e, :rvt:Id~le ~round (WIe Anm. 11). Damel K. Richter hat davor gewarnt, die Formen europrusch-mdlamscher Koo~eration ~berzubetonen, die stets präsenten Konflikte hingegen auszublende~: "Clearly, m most. bmes. and places of early American history, Indians an? Europeans falled to create a lastmg lll1ddle ground." Richter, Whose Indian History? (WIe Anm. 8), 390.
zwei großen Indianerüberfällen 1622 und 1644 steigerten sich diese Konflikte zu einem regelrechten Vernichtungskrieg. 58 Im Jahre 1734 entließ die Kolonialregierung ihre offiziellen Indianerdolmetscher aus dem Dienst, da die wenigen Indianer, die noch auf dem Territorium Virginias lebten, ausreichend Englisch sprachen. 59 Pläne für ein friedliches Zusammenleben von Europäern und Indianern, wie sie der aus Zittau in Sachsen stammende Jurist und radikale utopische Denker Christian Gottlieb Priber um 1740 unter den Cherokees im Südosten Nordamerikas und möglicherweise auch Andrew Montour einige Jahre später am Juniata-Fluß in Pennsylvania verfolgten, hatten schon deshalb keine Chance auf Realisierung, weil sie den Herrschafts- und Landinteressen der kolonialen Autoritäten diametral zuwiderliefen. 60 Bis die europäischen Kolonisten ihre Kontrolle über den größten Teil des östlichen Nordamerika gesichert hatten, waren Übersetzer und Dolmetscher zwar unentbehrlich, aber Europäer wie Indianer begegneten ihnen auch mit beständigem Mißtrauen. Kulturelle Vermittler standen häufig im Verdacht, ihre Maklerrolle zu manipulieren, um Einfluß und Prestige zu gewinnen. In den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kolonisten und Indianern gerieten sie vielfach zwischen die Fronten. 61 Henry Spelman etwa, einer der wichtigsten Indianerdolmetscher im frühen Virginia, wurde 1619 wegen Verrats angeklagt, nachdem ihn ein anderer Übersetzer beschuldigt hatte, sich gegenüber den Powhatan-Indianern abschätzig über die Kolonialregierung geäußert zu haben. Vier Jahre später kam Spelman 28jährig bei einem Indianerüberfall ums Leben. 62 Ähnlich erging es Etienne Brüle, dem prototypischen kanadischen Waldläufer, der seit 1610 unter den Huronen lebte und dort zum wichtigsten Verbindungsmann der Franzosen avancierte. Durch seine 58 AIden T. Vaughan, "Expulsion of the Savages": English Policy and the Virginia Massacre of 1622, in: William and Mary Quarterly yd Ser., 35, 1978,57-84; Iames Axtell, The Rise and Fall of the Powhatan Empire, in: ders., After Columbus. Essays in the Ethnohistory of Colonial North America. New York 1988, 182-221; fan K. Steele, Warpaths: Invasions of North America. New York 1994, 37-58. 59 Merrell, "The Customes" (wie Anm. 23), 130. 60 Zu Pribers utopischen Plänen für das Zusammenleben von Europäern, Indianern und Schwarzen in einer "Königreich Paradies" genannten idealen Gesellschaft vgl. Knox Mellon Ir., Christian Priber's Cherokee ,Kingdom of Paradise', in: Georgia Historical Quarterly 57, 1973, 319-331; Marin Trenk, Königreich Paradies. Christian Gottlieb Pribet; ein Utopist aus Sachsen bei den Cherokee, in: HA 9, 2001, 195-213; Ursula Naumann, Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis. Frankfurt am Main 2001. Zu Andrew Montours Plänen für eine multikulturelle Siedlung in Zentralpennsylvania vgl. Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 298-300. 61 Beispiele: Fausz, Middlemen (wie Anm. 32), 42f., 54, 59; Kupperman, Indians and English (wie Anm. 23), 192f.; Dowd, Panic (wie Anm. 5), 542-544; Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 32, 56, 75, 85f., 91; Iill Lepore, The Name ofWar. King Philip's War and the Origins of American Identity. New York 1998,23-26,28-43. 62 Fausz, Middlemen (wie Anm. 32), 4lf., 45-51, 53, 58; Kupperman, Indians and English (wie Anm. 23), 208-210.
Tätigkeit für private Pelzhandelsunternehmen zog sich Brüle den Zorn des Führers der jungen Kolonie Neufrankreich, Samuel de Champlain, zu, und 1626 wurde er nach Frankreich zurückgeschickt, nachdem sich FranziskanerRekollektenmönche über seine angeblich sündhafte und "verwilderte" Lebensweise beschwert hatten. Brüle kehrte später wieder nach Kanada zurück und kooperierte während der vorübergehenden englischen Besetzung Quebecs (1629-1632) mit den Invasoren, wodurch er für die Franzosen endgültig zum Verräter wurde. 1633 wurde er unter ungeklärten Umständen ermordet. 63 Wie Spelman und Brfile starben viele kulturelle Vermittler eines gewaltsamen Todes, wurden des Verrats bezichtigt, unehrenhaft aus dem Dienst entlassen oder verfielen dem Alkohol. Hilletie van Olinda etwa, zeitweilig eine unentbehrliche Übersetzerin zwischen Kolonisten und Irokesen in N ew York, wurde um 1700 von Gouverneur Bellomont aus dem Dienst der Kolonie entlassen, weil er sie für die damalige Krise der Indianerdiplomatie New Yorks persönlich verantwortlich machte. 64 Andrew Montour wurde nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges von seinen ehemaligen Arbeitgebern weitgehend ignoriert, da sie seine Vermittlerdienste nun nicht mehr benötigten. Die gravierenden Finanz-, Ehe- und Alkoholprobleme Montours deuten an, daß er Schwierigkeiten hatte, sich mit diesem Status- und Prestigeverlust wie überhaupt mit seiner prekären Identität an der Schnittstelle von indianischer und weißer Kultur abzufinden. "Trying to be both Indian and Europe an " , stellt J ames Merrell fest, "Montour ended up being neither. The life that he made for hirns elf, the path he traveled, turned out to be a dead end, [... ] There was no place in between, there were no words to describe the sort of person he was, and precious few people like hirn in early America. "65 Die Analyse der Karrieren von Grenzgängern zwischen englischer und indianischer Kultur im frühen 17. Jahrhundert wie Squanto, Henry Spelman und der legendären Pocahontas führt Karen Kupperman zu einem ähnlichen Schluß: "The stress of life in the intersection ofEnglish and native cultures must have been crushing. [... ] [L]iving in and between two cultures was impossible."66 Zudem wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß Dolmetscher die Stereotype und Vorurteile ihrer eigenen Kultur überwunden hätten. So betont Merrell in seiner Studie über Vermittler im kolonialen Pennsylvania, daß fast alle kulturellen Grenzgänger letztlich fest in einer Kultur verankert blieben, an ethnozentrischen VorurteiTrigger, Natives and Newcomers (wie Anm. 28), 175-181; Bitterli, Entdeckung Amerikas (wie Anm. 28), 359-361; Trenk, Die weißen Indianer (wie Anm. 33), 71-78. 64 Richter, Cultural Brokers (wie Anm. 22), 64. 65 Hagedorn, Andrew Montour (wie Anm. 40), 58f.; Merrell, Into the American Woods (wie Anm. 2), 99f., 205, 294 (Zitat), 300f. 66 Kupperman, Indians and English (wie Anm.23), 195-203. Zu Pocahontas vgl. auch Susanna Burghartz, Der "große Wilde" und die "Unvergleichliche" - Figuren kolonialer Annäherung. John Smiths Geschichtsschreibung zu den Anfängen Virginias, in: HA 8, 2000, 163-189.
len festhielten und Verhandlungen mit Vertretern der jeweils anderen Kultur primär als notwendiges Übel und Mittel zum Zweck ansahe~. In vielen Fällen scheint der intensive Kontakt mit der anderen Kultur eher dIe Wahrnehmung der Unterschiede als das Bewußtsein für Gemeinsamkeiten verstärkt zu haben. 67 Aus einer langfristigen Perspektive mag die Tätigkeit dieser "cultural brokers" nur als Etappe auf dem Weg der unvermeidbaren Assimi1~tion, e rdrängung und Vernichtung der indianischen Ureinwohner erschemen: EI~e zentrale Herausforderung der Historiographie besteht aber gerade dann, dIe Geschichte des europäisch-indianischen Kulturkontakts nicht vom bekannten Ende her zu schreiben, sondern die Offenheit, Komplexität und Ambivalenz der interkulturellen Konstellation herauszuarbeiten. Die nordamerikanische ethnohistorische Forschung stellt sich dieser Aufgabe seit einigen Jahrzehnten auf hohem methodologischen Niveau und mit beträchtlichem Ertrag. Die Forschungen zur europäisch-indianischen Kommunikation im kolonialen Nordamerika thematisieren exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens und der Verständigung in frühneuzeitlichen Kontaktsituationen. Daher könnten sie im deutschsprachigen Raum nicht nur für die wenigen an amerikanischer Kolonialgeschichte oder den nordamerikanischen Indianern Interessierten relevant sein, sondern auch für die Untersuchung anderer interkultureller Konstellationen fruchtbar gemacht werden - in Asien, Afrika, im Pazifischen Ozean und nicht zuletzt im frühneuzeitlichen Europa selbst.
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Merrell, Into the American Woods (wie Anm.2), 37, 101-105, 149, 154-156, 256, 290-294, 296.
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Teil 5 Informations strategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze
Informations strategien: Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze Einleitung Von
Sabine Doering-Manteuffel Strategische Überlegungen zur Reichweite von Informationen gehören nicht erst seit gestern zum politischen Geschäft, sondern haben die europäische Geschichte seit der Antike immer wieder beeinflußt. Moderne Gesellschaften widmen ihnen viel Aufmerksamkeit. Je engmaschiger das Netz der Überträger, je schneller und durchlässiger die Kanäle, um so mehr ist die Reaktionsfähigkeit von Sendern und Empfängern gefordert. Allein schon die rasche Folge, mit der heute Meldung auf Meldung in die Öffentlichkeit dringt, kann den Inhalt und die Form der Informationen entstellen. Das Nachrichtenwesen verändert sich auch durch Globalisierungseffekte. Informationen werden weltweit reproduziert, in andere Sprachen und in Bilder übertragen, verfälscht, zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgestreut, in abgewandelter Form wiederholt oder dementiert. Sie schlagen Wellen unterschiedlicher Reichweite und lösen unvorhersehbare (Ketten-)Reaktionen aus. Das machen sich etwa terroristische Netzwerke zunutze. In der modemen Terrorismusforschung spricht man geradezu davon, daß die Kommunikation mit den Medien das eigentliche Ziel der Terrorgruppen sei und nicht nur ein Mittel zur Durchsetzung von Forderungen. 1 Allerdings wird man Geschehnisse wie die Terrorakte nach der Wende zum 21. Jahrhundert vor der Weltöffentlichkeit kaum geheimhalten können, einmal abgesehen von der Frage, ob das wirklich sinnvoll wäre. Diese Entwicklungen stellen besondere Anforderungen an die Diplomatie und diejenigen Entscheidungsträger, die in brisanten Situationen informationspolitisch handeln müssen. Nicht nur beim Krisenmanagement von Konfliktherden, sondern auch bei ganz routinemäßigen Abläufen des politischen Alltags zwischen Bündnissystemen, Staaten,Administrationen, Parteien und Interessengruppen werden heute hohe Anforderungen an den Umgang mit Information und Öffentlichkeit gestellt. Am Beispiel politischer Skandale der Gegenwart läßt sich zeigen, welche besondere Rolle der Nachrichtenpolitik in medial stark vernetzten Ge1 Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht. München 1998; Steffen Sommer, The Medium is the Missile. Münster 2003; William A. Hachten, The World News Prism: Global Media in an Era of Terrorism. 6. Auft. Ames 2003.
seIlschaften zukommt. US-amerikanische Regierungsaffären vom Typ des "Watergate-Skandals" oder der "Lewinsky-Clinton-Affäre" sind trotz weltweiter Medienpräsenz und großer öffentlicher Aufmerksamkeit taktisch so geschickt verschleiert worden, daß die Lüge von der Wahrheit kaum zu trennen war. So ist die "Lewinsky-Clinton-Affä.Ee" auch heute noch, sechs Jahre nach dem Abschluß der Verhandlungen, in den Medien präsent. Durch eine Indiskretion hätte der Fall im Jahre 1998 beinahe zum Sturz Clintons geführt. Doch auch dem leitenden Staatsanwalt Kenneth Starr sollte es nicht gelingen, die Vorgänge im Oval Office und in den präsidialen Privaträumen des Weißen Hauses vollständig zu erhellen. 2 Mehr oder minder glaubwürdige Augenzeugen, manipulierbare digitale Speichermedien sowie ein starker öffentlicher und parteipolitischer Druck erschwerten das Verfahren. Clinton blieb im Amt, während Monica Lewinsky aus der pikanten Angelegenheit mehrfach weiteres Kapital schlug. Die Vermarktung von Lüge und Wahrheit als Waren hat in der globalisierten Mediengesellschaft ihren festen Platz. Sie ist ein Teil der New Economy mit ihrer Tendenz, alles zu ökonomisieren, auch Informationen, die dann als Bedeutungsträger hohe Renditen abwerfen können. Je weiter die Digitalisierung der Kommunikation fortschreitet, um so mehr sorgen neuartige Bild-Textsysteme und Speichermedien für einen Zuwachs an Daten, aber auch an Datenmanipulationen. Anrufbeantworter, SMS-Nachrichten auf Mobiltelefonen, Internetseiten oder verborgene Emails auf Datenträgern, gefälschte Fernsehbilder: die Wahrheit hat im Spiegel der Medien viele Gesichter und oftmals ein verzerrtes. Doch trotz dieses modemen Erscheinungsbildes basiert der manipulative Umgang mit Wahrheit und Lüge, Authentizität und Täuschung, Öffentlichkeit und Geheimhaltung zum Teil auf Techniken, die bereits vor der zweiten - digitalen - Medienrevolution genutzt werden konnten. Persuasive Kommunikation war und ist eng an die Standards epochaler Medien gekoppelt. Jede Zeit verfügt über ein spezielles Arsenal von Nachrichtensystemen, Kommunikationsnetzen und Organen, welche die Reichweite von Informationen bestimmen. 3 Kenneth Starr, The Starr Report: The Official Report of the Independent Counsel' s In vestigation of the President. Washington 1998. Während der Befragung gab Lewinsky unter der Rubrik "Narrative: The Nature of President Clinton's Relationship with Monica Lewinsky, Conversations and Phone Messages" folgendes zu Protokoll: ,,1 was always giving hirn my stupid ideas about what I thought should be done in the administration, .. " Die Wortwahl "Administration" anstelle von "Office" zeigt, wie wenig eindeutig der Text an manchen Stellen ist. Zur Reaktion der Medien auf das Ereignis vgl. http://www.washingtonpost.com (Special Report: Clinton Accused, 17. Januar bis 2. September 1998). 3 Vom 27. November 1998 bis zum 28. Februar 1999 zeigte die "Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik" in Bonn die Ausstellung "Bilder, die lügen", die "Grundmuster der Manipulation von Bildern" behandelte. Die Ausstellung war dann bis zum 1. Februar 2004 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Redaktion des gleichnamigen Katalogs hatte Hans Walter Hütter. Der Katalog ist 2003 in Bonn in 3. Auflage erschienen. 2
Während der beiden Weltkriege des vorigen Jahrhunderts etwa wurden von allen kriegführenden Staaten persuasive Kommunikationsformen zur Täuschung des Gegners genutzt. Neben den Kriegshandlungen entwarf man Strategiepläne für die Informationslenkung. Das Diktum von der "Propagandaschlacht" kann nur grob umreißen, welch hoher apparativer Aufwand für informationspolitische Einflußnahme betrieben wurde. Spezialisten verfügten über modeme Methoden der Bildfälschung und der Inszenierungen, über Slogans und Parolen unter Zuhilfenahme pseudowissenschaftlicher Bürgschaften. Ein Teil der manipulativen Techniken wurde aus der Werbung bezogen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen immer stärkeren Einfluß auf die Gestaltung von Informationen nahm. Die Geschichte der Kommunikationsformen gleicht einem Wechselspiel zwischen innovativen Bild- und Textmedien, die zunehmend stärker ineinandergreifen. Auf Text- und Bildebene gleichermaßen wurden Mittel der Suggestion und symbolischen Politik erprobt. Nicht nur durch Parlamentsreden, Ansprachen und Umzüge, sondern auch durch viel subtilere Formen der Durchsetzung partikularer Interessen, entstanden in der Bevölkerung trügerische Erwartungen, wie die vom siegreichen Ausgang des Ersten Weltkriegs im August 1914. 4 Kurzfristige Effekte, etwa der Euphorisierung der Massen, wurden durch langfristige ideologische Planungen unterstützt. Das läßt sich zeigen an der zwischen 1890 und 1914 in manipulativer Absicht agierenden völkischen Sprach- und Schriftbewegung. Sie wurde getragen von radikal verdeutschenden Sprachvereinen und Publizisten. Der Berliner Historiker Uwe Puschner ist in seiner Untersuchung der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich sehr ausführlich auf diese Sammlungsbewegung radikaler Nationalisten und völkischer Sprachregulierer eingegangen. 5 Deren strategisches Netzwerk setzte dabei auf eine Erneuerung des Alphabets unter Tilgung "undeutscher", lateinischer Buchstaben (Antiqua), auf eine Festlegung auf "deutsche" Schrifttypen (Fraktur) für die Druck- und Maschinenschrift sowie auf eine Eindeutschung von Fremdwörtern. Die vermeintlich "deutsche" Schrift wurde in Bezug gesetzt zur germanischen Rasse und, im Rückgriff auf die Romantik, zur urdeutschen Formbildung aus dem Volke selbst. Letztlich setzte sich aber doch die Antiqua durch, und 1941 wurde die Fraktur, nun abgewel1et zu "Schwabacher Judenlettern", abgeschafft. 6 Fremde Einflüsse auf Schrift und Brigitte Hamann, Der Erste Weltkrieg: Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten. München 2004; Wolfgang 1. Mommsen, Der Erste Weltkrieg: Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 2004; Reiner Rother, Der Weltkrieg 1914-1918: Ereignis und Erinnerung [Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Berlin, 13. Mai bis 16. August 2004]. Wolfratshausen 2004. 5 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache Rasse - Religion. Darmstadt 2001. Darin vor allem das Kapitel "Sprache", S. 27-42. 6 V gl. hierzu Heribert Sturm, Unsere Schrift. Eine Einführung in die Schriftkunde. Unveränderter Ndr. Neustadt an der Aisch 1998, 134-137.
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Sprache wurden zu Feindbildern umgedeutet, wie abwegig diese Theorien im Einzelfall auch immer waren. Folgt man Cornelia Schmitz-Bernings Handbuch zum "Vokabular des Nationalsozialismus", waren diese Schrift- und Wortschöpfer sehr einflußreich. Unter den Stichworten "Blut und Boden" und "Bluts gemeinschaft" oder dem unverfänglicheren Terminus "Arbeitsmaid" lassen sich die Wirkungsfelder der völkischen Propaganda der Jahrhundertwende während der NS-Herrschaft nun als Handlungsanweisungen für eine haßgeladene, restriktive Rassenpolitik ausmachen. Propaganda und Nachrichtenpolitik wirkten über mindestens ein halbes Jahrhundert erkennbar nach,7 Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze: das sind drei Facetten strategischer Kommunikationsformen, die eine sehr lange mediale und technische Vorgeschichte haben. Man könnte zwar in der Antike ansetzen, wo bereits ausgefeilte Methoden der Imagepolitik bekannt waren. 8 Auch im Mittelalter gäbe es genügend Ansatzpunkte. Flüsterpropaganda, Gerüchte, das Botenwesen, die Reduktion von Sprache auf leichter zu vermittelnde Zeichen und Symbole, das Ausstreuen von Greuelnachrichten, das öffentliche Ausrufen und Aushängen von Gesetzen, Sensationsmeldungen oder Kontroversen waren Techniken der Informationsübertragung, die politische Kräfte lange vor dem 15. Jahrhundert und der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern zu nutzen wußten. 9 Aber erst in der Frühen Neuzeit entwickelten sich durch die von Gutenberg ausgelöste Medienrevolution neuartige persuasive Kommunikationsformen. Die Drucktechnik bewirkte einen qualitativen Sprung in der Herstellung seriell reproduzierbarer Daten und zuverlässiger Datenträger. Allerdings hätte dieses Faktum allein für einen ebenso sprunghaften Anstieg der Datenmanipulation nicht ausgereicht. Neben die neuen Kommunikationsformen traten zunehmend bessere Verkehrsanbindungen, der Analphabetismus wurde langsam überwunden und die Bildung entlatinisiert. Über ganz Europa verteilten sich kaufmännische Netzwerke mit ihren ausgefeilten Nachrichtensystemen. Politische Partikularinteressen erwuchsen bei der Einrichtung frühmoderner Staatswesen und Administrationen. Ausrufer, Zeitungs sänger und Kanzelprediger schufen einen Übergang von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit. lO Die Konfessionalisierung 7 C:0rne.li~
Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 1998, 50 ("Ar), 110-112 ("Blut und Boden"), 122-124 ("Blutsgemeinschaft"). SIehe dazu etwa Gregor WeberlMartin Zimmermann (Hrsg.), Propaganda - Selbstdarstellung - Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n. ehr. Stuttgart 2003. 9 ,:gl: etwa Hans-Joachim Neubauer, Fama: eine Geschichte des Gerüchts. Berlin 1998. Bel dIesem Werk handelt es sich um eine kursorische Übersicht über die Rolle des Gerüchtes in der europäischen Geschichte mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Krieg und Gerücht. 10 ?ies~r Übergang ,:,ar auch noch i.~ 20. Jahrhundert beobachtbar. Vgl. etwa Alfred Höck, Leiermanner und Zeltungssänger. Altere hessische Notizen über Straßenmusikanten in: Jb. für Volksliedforschung 13, 1968,59-70. ' ~el~sma1d
bot zudem ein breites Betätigungsfeld für Autoren von Flugblättern, Streitund Programmschriften. Diese Gattungen weisen, wie serielle Briefe und Geschäftskorrespondenzen, den Weg in die periodische Publizistik. 11 Franz Mauelshagen macht in seinem Beitrag über "Netzwerke des Nachrichtenaustauschs" allerdings deutlich, daß man den Blick von der Korrespondenz als Vorgeschichte der Zeitung auf die Bedeutung der dahinter agierenden Netzwerke wenden sollte. Diese entschieden über die Partizipationschance an politischen oder ökonomischen Nachrichten und somit über steuernde Einflüsse auf frühneuzeitliche Gesellschaften. Denn durch die Übermittlung von Nachrichten in privaten Korrespondentennetzwerken hatten ausschließlich bestimmte Kreise Zugang zu wichtigen Datensätzen. Diskretion bedeutete schließlich nicht nur soziales Kapitel für die Herausbildung von Eliten, sondern auch Vorteile auf den Handelsmärkten. Für die Wirtschaft, aber auch für konfessionelle Interessengruppen, konnte die Geheimhaltung und Unterschlagung von Botschaften eine genauso große Rolle spielen wie deren Veröffentlichung. Regina Pärtner stellt eine ganze Reihe von Techniken der Verstellungskunst vor, die von protestantischen Minderheiten in katholischen Gebieten wie der Steiermark zum Zweck des Überlebens entwickelt wurden. Zwei wichtige Voraussetzungen ließen Religionsgemeinschaften in andersgläubigen Territorien erstarken: zum einen waren es enge verwandtschaftliche bzw. dörfliche Bindungen, die von dem festen Willen zusammengehalten wurden, ihre in Wahrheit geübte Religionspraxis gegenüber der Obrigkeit zu verschleiern, und zum anderen erwies sich eine doppelte Glaubenserziehung der Nachkommen als äußerst nützlich. Man lehrte Kinder und Jugendliche unter Vorbehalten, was die katholischen Verfolger im Zweifelsfalle hören wollten, und hielt sie zugleich unzweideutig zur protestantischen Lehre an, die im Hause und in der Gemeinde die verbindliche Glaubensgrundlage darstellte. Ohne Bücher und Schriften wäre dieses Vorhaben wesentlich schwerer durchzuhalten gewesen. Wie sich noch für die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nachweisen läßt, gab es gerade in religiösen Fragen vor allem unter der Landbevölkerung eine Magie des Buches, die dem durch göttliche Eingebung geschriebenen Wort mehr Gewicht verlieh als dem gesprochenen Wort. 12 Allein der Besitz einer Bibel, eines Katechismus oder einer erbaulichen Lektüre konnte schon ein Garant für das Innehaben des rechten Glaubens sein, den man nicht aus der Hand gab. Doch bei Pörtners Überlegungen handelt es sich 11 Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002; Ernst Fischer, Von Almanach bis Zeitung: Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. München 1999. 12 Matthias Zender, Buch, Schule und Volkserzählung, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 20, H. 1-3, 1979,265-276, hier 276.
über diesen spirituellen Aspekt hinaus um einen weiteren Anhaltspunkt für die Textorientierung des Protestantismus im Zuge der Konfessionalisierung. Katechismus und Erbauungsschriften, aus denen man einerseits Kraft für den Glauben gegen die Außenwelt schöpfte und andererseits im Wortsinn Lehren bezog, hatten für die protestantischen Enklaven eine stark glaubensfördernde Wirkung, obwohl die katholische Obrigkeit mit ihren Verboten und Einschränkungen das Gegenteil hatte erreichen wollen. Die Mechanismen der Verschleierung und Vertuschung festigten das Gefühl, einer auserwählten Gemeinschaft anzugehören und das Wort um so entschiedener verteidigen zu müssen, je mehr es von außen in Bedrängnis kam. Die Lektüre von Bekenntnisschriften, die im 17. und 18. Jahrhundert auf der katholischen Seite etwa durch die jesuitische Mission befördert wurde, sorgte aber auch dafür, daß sich paradoxerweise vor allem auf dem Lande während des 18. Jahrhunderts Bildungsstandards älterer Zeitstufen überhaupt erst etablieren konnten. i3 In den südlichen Provinzen Frankreichs drangen auch nach 1700 Schriften in die Pfarrgemeinden ein, deren Entstehungszeitraum rund einhundert Jahre zurücklag. Insofern ist, wie Emmanuel Le Roy Ladurie betont, die Alphabetisierung nicht unbedingt gleichzusetzen mit einem "l'indicateur-mirac1e d'une acculturation moderniste".i4 Lesen und Schreiben als Kulturtechniken unterstützen aber den sozialen Aspekt, sei er nun konfessionell gefärbt, mit elitären Interessen aufgeladen oder auf Randgruppen bezogen. Verwandtschaftsnetze, Dorfschaften, Pfarrgemeinden oder das städtische Bürgertum bildeten stets einen wichtigen Faktor für die Verbreitung von Nachrichten und Informationen. Deshalb sollte auch der Hinweis nicht fehlen, daß mit dem Übergang von der Frühen Neuzeit in das Industriezeitalter nach der Französischen Revolution aufnahmebereite Massen als Empfänger politischer Agitation entstanden. 15 Die Versorgung der Bevölkerung mit Informationen konnte erst dann politische Schlagkraft entfalten, als Massenbewegungen infolge stetig voranschreitender Differenzierung der Interessen in staatlichen Ordnungssystemen für die Politik ausschlaggebend wurden. Verdichtungsräume und städtische Agglomerationen des anbrechenden Industriezeitalters in Europa gaben dieser Entwicklung Vorschub. Neue Kommunikationsformen wie die Telegraphie, oder neue Techniken wie die Rotationspresse, beschleunigten die Übermittlung und steigerten die Reproduktion von Daten. Es folgten neue Begriffe von Öffentlich13 Luce GianilLouis de Vaucelles, Les jesuites et la civilisation du baroque (1540-1640). Paris 1996; Jean-Franc;ois Gilmont, La Reforme et le livre. Paris 1990. 14 Emmanuel Le Roy Ladurie, Culture et Religions Campagnardes, in: Hugues Neveuxl Jean Jacquart/Emmanuel Le Roy Ladurie (Eds.), Histoire de la France rurale. Vol. 2: L' äge classique des paysans de 1340 a 1789. Paris 1975,504-545, hier 506. 15 Ute DaniellWolfram Siemann (Hrsg.), Propaganda: Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789-1989. Frankfurt am Main 1994.
keit und Privatheit, von "Volk", "Menge" und "Masse", und es entstanden Ideologien. Europa wuchs verkehrstechnisch und informationeIl zusammen. Netzwerke, wie sie von Pörtner und Mauelshagen für die Frühe Neuzeit als wichtige Träger persuasiver Kommunikation genannt werden, korrespondierten auf vielen Ebenen, auch im Untergrund, und stellten nicht nur ein Kennzeichen elitärer Strategien dar. Propaganda, Geheimhaltung, Nachrichtennetze: Diese medialen, politischen, ökonomischen, sozialen und konfessionellen Spielarten neuzeitlicher Kommunikationsformen bilden das Informationsgerüst differenzierter Gesellschaften und steuern in Krieg und Frieden, in Krisenkonstellationen und Konflikten, in multilateralen Beziehungen und innenpolitischen Interessenfeldern die Grundlagen des Diskurses. Eine präzise Bestimmung ihres Anteils am europäischen Geschichtsverlauf steht noch aus. Neben diplomatiegeschichtlichen und wirtschafts- und sozialhistorischen Ansätzen bieten Netzwerkanalysen und gattungsgeschichtliche bzw. medien- und technikhistorische Untersuchungen neue Möglichkeiten, ihrer Bedeutung auf die Spur zu kommen. Eine umfassende Faktorenanalyse würde zeigen können, wann und unter welchen Umständen der Einsatz persuasiver Kommunikationsmittel die Richtung auch weitreichender Entscheidungen nachhaltig beeinflußt hat. Der Frühen Neuzeit kommt als Epoche für die Geschichte der Propaganda und Geheimhaltung jedenfalls eine Schlüsselstellung zu. Die Medienrevolution, die Wissensakkumulation, der Ausbau kirchlicher und staatlicher Administrationen und Apparate, der Druck, der von der Glaubensspaltung und deren Überwindung ausging, die Globalisierungseffekte durch Handel und Verkehr sowie die Verschriftlichung vieler Kommunikationsfelder: zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert kam es zu einer erkennbaren Verdichtung qualitativ neuer Entwicklungen. Hingewiesen sei vor allem auf den wirkungsvollen Zusammenhang zwischen konfessionellen Gegensätzen, Printmedien, Propaganda, Netzwerken und Geheimhaltung. Seit der Erfindung des Buchdrucks, so Jean Paul, "ist auf der Erde nicht mehr Brennspiegellicht, sondern Tageslicht". Und die Kompaßnadel habe zudem "eine ganz neue Welt an die alte genäht".1 6 Propaganda und Geheimhaltungen sind wichtige Begleitinstrumente dieses epochalen Wandels in ganz Europa.
16 Jean Paul, Gesammelte Werke. Abt. 1, Bd. 5: Dämmerungen für Deutschland. Hrsg. v. Norbert Mil1er. Darmstadt 2000, 1006.
Jesuiten-Fabeln des 16. und 17. Jahrhunderts Leistungen und Grenzen von Propaganda in der Frühen Neuzeit Von
Sabine Doering-Manteuffel Es ist hinreichend bekannt, daß die Jesuiten seit Mitte des 16. Jahrhunderts eine entscheidende Kraft in den laufenden religionspolitischen Auseinandersetzungen darstellten. Als der baskische Adlige Ignatius von Loyola 1540 vom Papst in Rom die Erlaubnis zur Gründung seiner "Gesellschaft Jesu" erhielt, da zielte er hauptsächlich auf eine Erneuerung des Apostolats ab. Von ihrem Beginn an als Reformbewegung für die gesamte Christenheit gedacht, entfalteten die Jesuiten bald eine weitreichende Missionstätigkeit und gründeten Universitäten, Schulen und Kollegien, zunächst vornehmlich in Süddeutschland. Frühe Niederlassungen der Jesuiten findet man etwa in Ingolstadt, München, Augsburg oder Dillingen. Bis zum Dreißigjährigen Krieg, in dessen Folge viele Jesuitensozietäten aufgelöst oder zeitweise geschlossen wurden, hatten sie einen maßgeblichen Einfluß auf das katholische Bildungswesen. Wegen ihrer starken Position als gegenreformatorische Kraft und Erneuerungsbewegung wurden sie von protestantischer Seite heftig bekämpft. Deshalb verwundert es auch um so mehr, daß die Gattung der "JesuitenFabeln", die bereits in dieser Zeit aufkam und weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkte, in der Forschung bisher nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfuhr. Denn selbst heute noch sind sie etwa in der rechtsradikalen Szene ein beliebtes Argument, um völkisch-nationale Ideologien zu rechtfertigen. Dies allerdings in eigentümlicher Verschiebung: Die etablierten Nationalsozialisten erscheinen darin als getarnte Jesuiten, die das eigentliche Anliegen, ein germanozentrisches Weltbild mit seinen rassenideologischen Ursprungsmythen, zerstören wollten. Damit macht man sie indirekt verantwortlich für. die Greueltaten des Naziregimes. Der Gehalt der Lehren wird hingegen nicht angetastet. Jesuiten-Fabeln sind in ihrer Entstehungszeit, dem 16. Jahrhundert, zunächst einzuordnen unter die theologischen Streitschriften mit Gelegenheitscharakter. Fabeln werden sie in der Literatur deshalb genannt, weil es sich um lehrhafte Beispielerzählungen handelt, in denen in polemischer Weise das Wirken der Jesuiten einer Moralkritik unterzogen wird. Betrachtet man sie unter einem mediengeschichtlichen Aspekt, so handelt es sich um den geziel-
ten Einsatz persuasiver Rhetorik im Kampf gegen eine bestimmte Glaubens~ richtung. Eine Analyse dieser Pamphlete und Predigten fördert Erkenntnisse über den Gebrauch von Propaganda in der Frühen Neuzeit. N~n ließe sich fragen, ob das Wort ,Propaganda' überhaupt eine richtige BezeIchnung für den gezielten Einsatzantijesuitischer Gerüchte und Ver~ unglimpfungen darstellt. Denn schließlich verstehen wir heute unter ,Propa~ ganda' mehr als die Verleugnung eines politischen oder religiösen Gegners. Moderne Propagandatheorien betonen hingegen den strategischen Gesamtvorgang, der die kommunikativen und technischen Möglichkeiten der Informationsgesellschaft für eine umfassende Bekämpfung weltanschaulicher Positionen in Dienst stellt. Die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts verfügten über entsprechende Apparate und nutzten weitläufige Kommunikationswege, um gezielt Fehlinformationen in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie überwachten Nachrichtensysteme, mobilisierten die Affekte der Massen und kontrollierten die Wirkung ihrer organisierten Informationspolitik durch strategische Planung. Unter diesen Vorzeichen können die Jesuiten-Fabeln des 16. und 17. Jahrhunderts freilich nur als ein Ansatz zur propagandistischen Durchsetzung von religionspolitischen Partikularinteressen betrachtet werden. Gerade deshalb eignen sie sich besonders gut für eine Analyse der Formen, Inhalte und Stilmittel frühneuzeitlicher Kommunikationsstrategien. Der folgende Beitrag setzt sich vor allem mit Revocationspredigten, Pamphleten und Traktaten auseinander, die in großer Zahl überliefert sind. Die Predigten wurden, nachdem der Prediger zum Luthertum konvertiert war, einem kirchen offiziellen Auditorium vorgetragen und anschließend zum Druck gegeben. Nicht alle stammen aus der Feder ehemaliger Jesuiten, aber viele verweisen dennoch auf die Bedeutung, welche die "Gesellschaft Jesu" für die Gegenreformation hatte und weshalb man sie bekämpfen zu müssen glaubte. Hier werden besonders ausführlich die Gründe dargestellt, die den Revocanden zum Austritt aus der römisch-katholischen Kirche bewogen haben. Das mündet zumeist in eine drastische Schilderung der Verhältnisse vor allem in jesuitischen Lebensgemeinschaften, aus denen der Prediger nach eigenen Auskünften nur unter Lebensgefahr hatte fliehen können. Schuldzuweisungen und Warnungen vor dem Umgang mit Jesuiten werden ausführlich behandelt. Man wird sehen, daß es sich zunehmend um standardisierte Argumente handelt, die auf gemeinsame Wurzeln zurückgehen. Dieser Vorgang wurde zur Routine. Gedruckt wurden sie vor allem in Leipzig, aber auch in Wittenberg und Dresden, in Chemnitz und Hannover, in Magdeburg und Nürnberg. Und stets erfüllen sie einen kalkulierten Proporz aus theologischen, persönlichen und religionspolitischen Bezügen. Vor allem den Texten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unterliegt ein bitterer Ton, bitter deshalb, weil das lebensgeschichtliche Element, zumeist die an Härten und Widersprüchen reiche
Ordens erfahrung , hier stärker hervortritt als in älteren Predigten. Schließlich stellt das persönlich vorgetragene Leid das entscheidende Argument für die Flucht aus den Fängen der "Papisten" dar. Der Leser kann also mitfühlen, wie es einem jungen Mönch in seiner Klosterzelle ergangen ist, in welche Zweifel er durch das Ordensleben geriet, ja geraten mußte. Er hat teil an den Gewissensfragen und dem langen Weg, den es zu überwinden galt, um ans Licht der Erkenntnis, das mit dem Luthertum gleichgesetzt wird, zu gelangen. Eine massive Gegnerschaft gegen die Jesuiten und ihr Missionswerk sowie gegen eine Reihe anderer Orden, aus denen man vorgab, entflohen zu sein, wohnt einer jeden solchen Predigt inne. Überschwengliche Dankesbekundungen an die Befreier, die Fürsten und Landesherren Augsburger Konfession, die den Religionsflüchtling aufgenommen und umsorgt hatten und ihm ihren landesväterlichen Schutz vor Verfolgung gewährten, bilden ebenso einen festen Bestandteil eines jeden Textes. Nach der Wende um das Jahr 1700 verlieren diese Revocationsschriften mehr und mehr an Schärfe. Man bediente sich zunehmend bekenntniskonformer Textbausteine.
I. Zwischen Lebensbericht und Fabulei-
Fallbeispiele zur Illustration Ein besonders ausführliches und anschauliches Bild vermittelt der folgende Text eines ehemaligen Augustiners. Im Fürsten-Collegium zu Leipzig wurde im Jahr 1663 in lateinischer Sprache eine Bekenntnispredigt zum Luthertum verlesen, deren Autor, Johannes Hieronymus Aureus, kurze Zeit zuvor unter abenteuerlichen Umständen aus einem Prager Kloster geflohen war. Nun tat er einer "volkreichen Versammlung" kund, welche Motive ihn zu diesem Schritt getrieben hatten. Damit aber eine größere Öffentlichkeit am Schicksal des Revocanten teilhaben konnte - und da sich der Kirchenmann in der Zwischenzeit als glaubensfester Lutheraner bewährt zu haben schien -, wurde der Text schließlich 1677 in Chemnitz in deutscher Sprache gedruckt. l Seine Schilderungen mußten jeden bewegen, der sie zu hören bekam, da er von unhaltbaren Zuständen in katholischen Klöstern zu berichten wußte. Dem Vernehmen nach war er sechzehn Jahre alt gewesen, als er das härene Mönchs~ gewand übergezogen hatte und "sich zu casteyen" begann. Um den Leib hatten er und seine Mitbrüder sich Stricke gewunden, die sich in das rohe Fleisch gefressen hatten. Ungeziefer war in die Wunden eingedrungen. Eiserne Ketten
1 Kurtzer / iedoch Schrifftmässiger Sermon / welcher Johannes Hieronymus Aureus / sonst Zlaty genannt [... ] / zu Leipzig in dem Fürsten-Collegia Anno 1663 in lateinischer Sprache [... ] öffentlich verlesen [... ] verdeutscht und in Druck gegeben. Chemnitz 1667.
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------------------------------------------------------------hatte er mit sich herumtragen müssen, "iedes Gliedlein mit zwey spitzigen Häklein auff der biossen Haut", so daß man vor Schmerzen ohnmächtig geworden war. Von anderen Dingen mehr, so Aureus vor der lutheranischen Theologenversammlung in Leipzig, wolle.:er lieber schweigen. Dies alles aber sei geschehen im Dienste des Glaubens. Als in dem Jungen der Wunsch nach einer Gefährtin erwachte und er sich seinem Beichtvater mit der Frage anvertraute, ob es nicht besser sei, "so er in das Luthertumb gienge / und ihm ein weib liesse anvertrauen", bekam er von diesem die harsche Antwort, er solle sich doch "der bösen Brunst enthalten". Aber da er vom Luthertum zu sprechen angefangen habe, sei er von nun ab ein "Kind der Verdamnuß" gewesen. Aureus mußte wegen seiner unbedachten Äußerungen über ein Vierteljahr hinweg jeden Sonnabend fasten und sich während dieser Zeit von einem Generalvisitator eine ganze Stunde lang verfluchen lassen. Da seien in ihm die Zweifel gewachsen, ob sein Dasein im Kloster noch dem richtigen Ziel der Gottesfürchtigkeit diene. Denn nicht nur die Behandlung der jungen Klosterbrüder habe einer Fron geglichen, sondern auch der Verfall der Sitten machte dem eifrigen Mönch schwer zu schaffen. Die Spielleidenschaft, die Hurerei, die Abgötterei in Form der Heiligenverehrung sowie der Alkoholismus hatten seiner Schilderung nach im Kloster um sich gegriffen und brachten Aureus die Gewißheit, die Ordensbrüder, allen voran der Prior, gäben zwar "große Heiligkeit vor", in Wahrheit aber hätten sie "nichts anderes als ein Pharisäisches Wesen". Und so argumentierte er dann in seiner Predigt: "Aber was ist das vor eine Heiligkeit im wachen und fasten / wenn man die ganzte Nächte bey einander in den Cellen verschleust / die Cutten außzeucht / und die Fenster und die Thüren damit vermacht / daß kein Schein des Liechts soll gesehen werden." Durch Prager Bitterbier und Wein berauscht, so hatte es Aureus beobachtet und so tat er es in der Leipziger Versammlung kund, spielte man exzessiv Karten oder Würfel um Geld, um in diesem lädierten Zustand am nächsten Morgen mit der rasch übergestreiften Kutte in die Hora zu laufen. Mit gewissen Damen pflegten die Klosterbrüder nach Aureus' Auskunft regelmäßigen Umgang. Das war ganz einfach. Man verschaffte sich beim Prior die Erlaubnis, sich ein wenig in den umliegenden Feldern zu ergehen, schlich sich alsdann an der Schildwache mit der Begründung vorbei, man müsse zu einem Kranken, doch in Wahrheit "kreucht man zu wunderseltzamen Löchern" und "verdächtigsten Oertern". Dort warteten bereits die bestellten "gewissen Personen". Die Zweifel in des jungen Mönches Gemüt begannen sich zu der Gewißheit zu steigern, daß er fliehen müsse, um "auf den rechten Weg zum Luthertumb" zu gelangen. Er sprang eines Nachts kurzerhand zum Fenster hinaus, versteckte sich wegen des Vollmondes im Kreuzgang, häufte in der späten Nacht, als er seine Mitbrüder schlafend wähnte, Steine vor die Mauer und kletterte schließlich darüber in die Freiheit. Im Dorf verfolgten ihn dann zwar die Kettenhunde der Bauern, aber binnen
vierzehn Tagen hatte er es geschafft, aus dem Böhmischen zu entkommen und sich bis nach Leipzig durchzuschlagen. Das Schicksal des Johannes Aureus war kein Einzelfall. Man könnte so?,ar von einem geradezu musterhaften Lebenslauf sprechen, der hier vor der Offentlichkeit ausgebreitet wurde. Aufsehen erregte beispielsweise Jahrzehnte ,zuvor die 1601 vor der Wittenberger Theologischen Fakultät gehaltene Revocationspredigt von Gottfried Rabe 2, die im selben Jahr mit geringen Abweichungen noch in Lauingen, Leipzig, Magdeburg, Mühlhausen, München und Nürnberg im Druck erschien. Sie zog eine streitbare Antwort nach sich, die der katholische Frankfurter Prediger Valentin Leucht in Mainz im Jahr darauf aus aktuellem Anlaß gleich in drei aufeinanderfolgenden Auflagen zum Druck brachte. Noch im selben Jahr reagierte Rabe aus Wittenberg mit einer scharfen Replik, die von Leucht umgehend mit einem Mainzer Druck erwidert wurde. Der Gegenstand der Streitschriften, nämlich die Vorwürfe des ehemaligen Augustiners Rabe wegen der Zustände im Klosterwesen, in den Orden und in den hohen Kirchenämtern, wurde dabei nicht beigelegt. Schließlich äußerte sich der Kölner Augustiner Richard Prumbaum 1602 in einer Mainzer Streitschrift abermals gegen die Vorwürfe in der Rabeschen Wittenberger Defensionsschrift. 3
2 Christliche Revocation Predigt. Des Ehrwirdigen Godefridi Raben / Gewesenen Augustiner Münchs / und Predigers zu Prage bey S. Thomas auff der kleinen Seiten. In welcher er dem Römischen Bapstumb urlaub gegeben / desselben Abgöttereyen und Antichristischen greweln / darin er zuvor gesteckt / fre~willig und öff~ntlichen widerruffen / und. sich zu den Evangelischen Kirchen der Augspurglschen ConfesslOn bekandt hat; Gehalten m der Pfarrkirchen zu Witternberg / Am Sontage Misericordias Domini, Anno 1601. 3 Kurtzer doch Gründtlicher Gegenbericht / auff deß Gottfried Raben / eines außgesprungenen Augustiner Münchs Revocation Predigt. Mit welchem die Wittemberg~sche Theologi so hoch prangen / alß ob sie einen vortrefflichen Vogel gefangen / und herrhchen Mann bekommen hetten; In welchem so wol deß Raben / als der Witternbergischen Theologen grewel unnd bawfellige sachen fur die Augen gestelt werden. Jetzo [... ] in offentlichen Druck verfertiget. Mayntz 1602; Replica Oder Beweißliche Ableinung der Nichtwerdigen Defension Schrifft / wegen der schlimmen Lügen Revocation Predigt / mit welcher die Wittenbergische Theologi sampt ihrem fantastischen Raben abermals brangent daher gedrolt kommen. Darinnen erstlich irer der Wittenbergischen Theologen unzüchtige Bosserey und Lügenwerck / dann auch gemeltes Raben döllpische Antwort mit gleichmessig~n / doch gewiesern Historien / Exempeln und Argumenten / eins umbs ander / gründthch' abgefertigt werden; Sampt eigentlicher Erklerung / was / wo / wie u~d wer der recht Antichlist sey. Durch Theodorum Cygneum. Mayntz 1602; Nohtwendlge Antwort und Defensionschrifft. Der Christlichen Revocation Predigt des Ehrwirdigen Godefridi Raben, Weiland Augustiner Münchs / und gewesenen Predigers zu Prag etc. Wider die anzügige und lesterliche Famoßschrifft / eines Bepstischen / Antichristisehen Scriptorculi, der sich Theodorum Cygneum nennet. Sampt einem km1zen Bericht / was man von der Münch stand / vermeinter Religion / auch verbübten Gottlosen Leben / mitten im Bapsthumb gehalten. Mayntz 1602; Eigentliche Urs ach und Bericht, Warumb Godfried ab den süssen Joch deß Herrn, und den Orden deß heiligen Augustini verlassen, und sich gen Witternberg begeben: Mit sampt der Widerlegung der Witternbergischen Vorred, so die Theologische
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Die Gattung der theologischen Gelegenheitsschriften mit persuasivem Ge~ halt, unter welche solche Predigten zu rechnen sind, hatte also bereits zu Au~ reus' Zeiten ein hohes Maß an Standardisierungen erreicht. Aber kann man sie deshalb bereits als Propagandamaterial betrachten? Brachte diese Schrift~ form der Kontroverstheologie, die sich ausdrucksstark und formelreich an eine größere Öffentlichkeit wandte, Wirkungen hervor, wie wir sie für die Massenliteratur der neueren Zeit kennen? Immerhin wurden die Texte verle~ sen und gedruckt, man konnte also mit einer geschickten Diktion ein aufmerk~ sames Auditorium, das im modemen Sinne zumeist aus kirchenpolitischen Multiplikatoren bestand, und zugleich einen begrenzten laientheologischen Empfängerkreis über die Verbreitung der Druckschrift erreichen. Wie weit konnten sich die Argumente, Bilder und Redefiguren zu Gewißheiten verdichten, welchen Beitrag leisteten sie zur konfessions politischen Stereotypenbil_ dung über den Gegner? Auf den ersten Blick kann gar kein Zweifel über die Schärfe der Ausein~ andersetzung bestehen. Denn krasser kann man es kaum sagen und in die Welt hinaus drucken: Die "Papisten", so der ehemalige Franziskaner Johannes Balthasar Pernstainer in seinem Leipziger "Apostolicum Consilium", seien verblendet und abgöttisch, verbreiteten ein "ungewisses / finsteres / tunckles Wort" und zählten wie die Juden und Türken unter die irrigen und falschen Sekten. Erst der Besitz des Schlüssels zur Bibliothek hatte den Prediger auf den rechten Weg gebracht, denn dort hatte er Schriften evangelischer Kirchenlehrer zu Gesicht bekommen und erkennen müssen, daß "die Papistische Chimera aber / und deroselben verdamte scripta und dicta" ihn in seiner bis~ herigen Meinung betrogen hätten. Durch das Lesen also und die Einsicht war dieser Mönch zum Luthertum gelangt, obwohl er kurz zuvor noch gemeint hatte, Gott einen großen Wohlgefallen zu tun, "wenn durch mich alle Lutheraner in einem Tröpflein Wasser hätten mögen ersäuffet werden".4 Der ehemalige Kartäuser Otto Daniel Schindeier nennt die Schriften der Jesuiten "unverschämte Chartequen", spricht offen von einer "Jesuitischen Wahnsinnigkeit" , ja sie seien nichts anderes als Verführer im Dienste des Papstes, die ihre "gifftigen Zähne an mich setzen". Und schließlich entschloß sich auch Schindeier zur Flucht, denn er hätte nicht länger verbergen können, "daß ich in meinem Closter offte gedacht / wil man die Lücken der Kirchen
Facultät daselbsten, deß meineydigen Raabens Predig vorgestelt, [... ] gestelt, durch Fratrem Ricardum Prumbaum. Mayntz 1602. 4 Apostolicum Consilium, das ist Apostolischer Rath-Schlag auß der Epistel des H. Pauli, Rom. XVI, V. 17, dessen sich zum Heil der Seelen bestens bedient hat und in einer Revocation-Predigt [... ] dec1amiret und vorgetragen [... ] Joannes Balthasar Pemstainer von Pemstein. Leipzig 1670.
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erst mit solchem Sau-Dreck zuschmieren / so wirds auß sein".5 Dies richtet sich vor allem gegen die Volksmission der Jesuiten. Auch Thomas Strobel aus Pötmes bei Augsburg wußte in seiner Leipziger Predigt von 1647 über die "Brunst der Papistischen Jesuitischen Pfaffen" zu berichten und vermerkte, daß im Papsttum die Christen mit äußerlichen Zeremonien abgespeist würden. Sie müßten Totenbeine, Wachs und Holz anbeten, sich öffentlich geißeln, das Kreuz herumschleppen und auf Wallfahrten gehen. Im Papsttum, so Strobele, "da müssen sie gläuben, was man ihnen sagt". Es gelte, die Bauern dumm zu halten, ihnen das Lesen zu verbieten und sie mit lateinischen Predigten zu beeindrucken. In Eichstätt und auch anderswo in Franken sei es deshalb passiert, daß etliche hundert Kinder "in des Teuffels Namen seynd getaufft worden / welche hernach anders haben müssen getaufft werden". Auch er sah das Problem im pharisäischen Wesen der Jesuiten, das solche Zustände hervorbringe, denn "inwendig seynd sie reißsende Wölffe / haben geschorne Köpfe [... ] aber im Hertzen haben sie den Teuffel stecken voller Hurerey".6 Und der ehemalige Franziskaner Balthasar Daumann setzt noch eins darauf mit der Bemerkung, er habe in Tachaw in Böhmen genug solchen "Narrenwerkes" gesehen, er habe die Leute beobachtet, wie sie bei den Wallfahrten nicht nur geschnitzte Götzen in Tierform anbeteten, sondern "auff bloßen Knien / umb den Altar herumkriechend" den Heiligen opferten: "Und so viel kan ich in Warheit sagen / daß mir im Jahre 1653 desselbigen Ortes Obrigkeit selbst erzehlet / daß die Weibsbilder begehret haben / nackend und bloß [... ] umb den Altar herumb zu gehen." Beinahe schienen ihm die Worte zu fehlen, doch sie waren in Wahrheit wohlgesetzt: ,,0 Teufflische Abgötterey und verfluchter Gottesdienst / herauß mit diesem Unkraut auß dem Acker meines Hertzens."7 Und auch der Augustiner Petrus Conradus wollte 1671 das "Reich des Antichristen" so schnell als möglich verlassen, seine eigenen Irrtümer bekennen, die er zuvor sechs Jahre lang von der Kanzel gepredigt habe, und aus dem "Schoß der babylonischen Hure" fliehen,s Das Entdeckte Falschheit der Römischen Kirchen und ihres Gottesdienstes, welche in einer öffentlichen Wiederruffs- und Bekäntniß-Predigt [... ] vorgestellet Otto Daniel Schindeier [... ] sonst bey-genannt Pater Josephus. Hannover 1702. 6 Thomae Strobels [... ] Wiederkunfft aus Egypten und Heimkunfft zum Kripplin Jesu, da man die unverfälschte Augspurgische Confession predigt in einer offentlichen Revocation- . Predigt angezeigt, [... ] am 7. Tage Januarii dieses [... ] 1647. Jahres in der Kirchen zu S. Thomas in Leipzig. Leipzig 1647; Aegyptischer Fleischhafen. Das ist, Gründtliche, warhaffte ursachen, warumben Thomas Strobel geweBter Pfarrer zu Ehkirchen, von der wahren Catholischen, allein Seeligmachenden Religion, Kirchen und Priesterstand abgefallen [... ]. Leipzig 1647. 7 Stella Dei Gratiosa, das ist Göttlicher Gnadenstern, und Revocations-Predigt, nach dem der Autor M. Balthasar Daumann, Franciscaner der Böhmischen Provintz [... ] zur alleinseligmachenden Augspurgischen Lehre und Evangelischen Glauben begleitet und geführet worden. Leipzig 1656. 8 Emsig und eifrig gesuchter und durch sonderbahre gnädige Erleuchtung des barmhertzi5
mag mit Beifall aufgenommen worden sein, denn eindrücklicher hätte es kaum gesagt werden können. Die "Papisten" waren nicht mehr als eine verdammungswürdige Sekte, die sich der Abgötterei, der Hurerei und Völlerei, einer mehr oder weniger gelinden Form von Folter, im Ganzen der Dekadenz, verschrieben hatte. Zeugen, die es wissen: mußten, gab es genug, denn Wer konnte glaubwürdiger urteilen als jemand, der einst zu den überzeugten Befürwortem einer Glaubensrichtung gezählt hatte, dann aber durch die Brutalität der Tatsachen auf einen besseren Weg geleitet worden war? Und so konnte Bemhard Hoffmann resümierend ausrufen: "Das Papistische Raub-Schiff ist ein Schiff ohne Ruder / ein Schiff ohne Mastbaum / ein Schiff ohne Segel/ein Schiff ohne Proviant / ein Schiff ohne Munition / ein Schiff ohne Steuermann. "9 Was hieß das anderes, als daß das "heidnische Rom" dem Untergang geweiht war?
II. Propaganda - Dimensionen und Wirkungen Wen wundert es, daß sich die katholische Gegenseite mit derselben wortreichen Munition auf ihre Widersacher einschoß? Zahlreich sind die Antworten und nicht minder harsch im Ton. Doch hier soll es nicht primär um kirchenpolitische Fragen gehen, sondern um kommunikative Steuerung von Interessen und deren Leistungen. Denn die deutliche Sprache der Revocationen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr Wirkungsgrad notwendigerweise beschränkt bleiben mußte, weil es in der Frühen Neuzeit nur ein begrenztes Entfaltungspotential für persuasives Schrifttum gab. Zunächst einmal fällt auf, daß das Wort ,Propaganda' in den Predigten so gut wie nie verwendet wird. Das verwundert nicht, denn erst am 22. Juni 1622 legitimierte Papst Gregor Xv. in Rom die ,Congregatio de Propaganda Fide' , das sogenannte "Missionsministerium der katholischen Kirche" und führte Wort und Begriff in die kirchenpolitische Debatte ein. Hier entstand eine zentrale Produktions stätte für die Standardisierung von Glaubensinhalten und deren Verbreitung. Eine ganze Reihe anderer Termini aber, die in diese Richtung deuten, prägten schon länger die gedruckten Predigten beider Kongen Gottes in der Zeit der Gnaden gefundener Weg zur wahren ~rc?en/ zu welcher. sich durch mitwirckende Krafft deß H. Geistes gewendet und öffentlIch m emer RevocatlOnsPredigt bey volckreicher Versamlung in der Haupt-Kirchen deß Wittenbergischen Jerusalems bekennet M. Petrus Conradus von Fischbach von Solothum aus Schweitz. Wittenberg 1671. 9 Flucht aus Babel eines durch die Gnade des H. Geistes erleuchteten, und von dem Schlaff des Ewigen Todes zu dem Ewigen Leben aufferweckten Menschens: gezogen aus dem geistreichen Propheten Jeremia am 51. Cap.; in einer Revocation-Predigt [... ] in der Haupt-Kirchen S. Nicolai der weitberühmten Handels-Stadt Leipzig den 5. Juli gehalten [... ] in öffentlichen Druck gegeben von Bemardo Hoffmann. Leipzig 1669.
:t sionen in deutscher Sprache: "Meinung" und "Öffentlichkeit" gehören zum f::ten Vokabular der Texte, ebenso das "Argument", die "Erklärung", die Widerlegung", die "Ursache" und das "Pro und Contra". Gruppen und Instan~en werden als "Versammlung", "Volk", "gemeiner Pöbel", "leichtgläubi~er, unbeständiger Pöbel" oder auch als "Laien" bezeichnet. Die Druckerzeugmsse der Gegner nennt man "Chartequen", "Pamphlete", "altvettelsche Fabeln" oder auch "Aesopi Fabeln". Sie heißen auch "Nauentand", "Sage", "GeschreI'" , "Mährlein" , " grausame Holhipperei", "lesterliche Famoßschrifft", bawfellige Sachen", "unzüchtige Bosserey", "döllpische Antwort", "Lügen~erck", "Schmachschrifft" oder "Nauation auf Pelzärmeln". Die gegnerischen Prediger werden veuufen als "Sekten", "ketzerisches Gesindel", "Gaukler", "Fabel schreier", "Marktschreier", "Verführer", "Aufrührer", "antichristischer Scriptorculi" oder "Aufwiegler der teutschen Jugend". Despektierlicher noch sind die Bezeichnungen "Bibelschänder", "Lotterbub", Zottenreißer" Weinschlauch", "geiler Geilbrunner", "Dorfochse", "Non~enschänder", ',;reufelshure" oder "Bauemwürger", "Lumpenmann", "Klappermaul", "stinkende Wanzen", "Schalknarr" oder "Nattemgeschlecht". Man bezichtigt den Gegner, "Rumor", "Lärm", "Zank", "Tumult", "Grewel" oder Aufruhr" verursacht zu haben. " Diese gedankliche Ebene wird allerdings nicht überhöht. Die Texte selbst spiegeln also Vorstufen eines theoretischen Bewußtsein~ über die Ve~breitu~g von Schriftgut als Mittel der Massenbeeinflussung WIder. Ihnen hegen Inhärente Strategien zugrunde, die sich bekannter rhetorischer Techniken der Predigtkultur bedienen, wie etwa eines dialektischen Aufbaus. Die Hauptl~i stungen bestehen hingegen in der Eindeutschung lateinischer Vorla~en und I.n der Auflagenhöhe, respektive der ge zielten Wahl der Druckorte. DIe Entlatlnisierung brachte den größten informations politischen Zu~ewinn. Die protestantische Seite arbeitete wesentlich nachdrücklicher an Ubersetzungen und deutschsprachigen Ausgaben als die katholische. .. Ein markantes Beispiel und auch die zeitlich früheste umfangreIche antIjesuitische Schmähschrift mag das belegen. Elias Hasenmüllers ebenso berühmtes wie berüchtigtes Werk über die "Historia Jesuitici Ordinis", das über mehr als ein Jahrhundert hinweg antijesuitische Affekte hervorgerufen und in ungezählten Predigten generiert hat, erschien 1593 zwar zun~chst in latein~-' scher Sprache, dann aber bereits 1596 in Deutsch. Die "GeschIchte der JesUIten" wurde dadurch erst zum weitverbreiteten Nachschlagewerk über das vermeintlich wahre Gesicht des Ordens und seines Gründers, Ignatius von Loyola, den der Verfasser einen spanischen Landsknec~t ~nd Straßenrä?ber nennt. lO Hasenmüller läßt nichts aus, was die Ordensmltgheder verunghmp10 Historia Iesuitici Ordinis: in qua de Societatis Iesuitarum authore, nomine, gradibus, incremento, vita [... ] perspicue solideque tractatur: conscripta a Elia Hasenmullero. Fran-
Jesuiten-Fabeln des 16. und 17. Jahrhunderts
fen könnte, und das geht bis in intime Lebensvollzüge hinein, wenn er etwa berichtet, die Jesuiten malten martialische Totenköpfe auf ihre Toilettentüren und diese markierten den Ein- und Austritt in eine andere Welt. Käme das nicht einer Gotteslästerung gleich? Wer, den Wolf aus dem Wald locke und den Teufel an die Wand male, dem erschienen sie alsbald selbst. Der Welt gaukelten sie Armut vor, indem sie sich unterwegs auf verlauste und durch Eiter und Geschwüre verschmutzte Lager niederließen, in ihren eigenen Schlafräumen aber verfügten sie über "schöne Moderatzen". Zum geflügelten Wort wurde die Verehrung des "gebackenen Gottes", den sie in ihren Monstranzen verschlossen hielten. Die deutsche Fassung diente als Vorlage für drastische Schilderungen der Zustände in Jesuitensozietäten. Das Werk enthält so viel an negativen Darstellungen, daß man, ohne jemals eine jesuitische Lebensgemeinschaft kennengelernt zu haben, seine Zuhörer mit ebenso despektierlichen wie krassen Details beeindrucken konnte. Diesen Weg scheint etwa der 1608 nach Augsburg eingewanderte Prediger Johannes Cambilhon gegangen zu sein, dessen jesuitische Vergangenheit nach Meinung des Ingolstädter Theologen, Philosophen und Dramatikers Jacob Gretsers frei erfunden war. l1 Selbst in Predigten des frühen 18. Jahrhunderts begegnen einem noch die Spuren dieser Schmähschrift. Und der Wiener Jesuit Bernhard Duhr weist in seinen 1891 erschienenen kritischen Essays über "Jesuiten-Fabeln" nach, welch lange Lebensdauer diese bisweilen haben konnten. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts, seit dem Bestehen des Ordens, gewinnen sie an Schärfe und Virulenz. Seien es Legenden über Papstvergiftungen oder über die Monita Secreta des Ordens, der damit in die Nähe von Geheimbünden gerückt wurde, seien es Fabeln über Anstiftungen zum Krieg oder über die Aufhetzung der männlichen Jugend, sei es der Vorwurf der Gotteslästerung, der Habgier und aufrührerischen Gesinnung bis hin zur Auslösung von Revolutionen, das alles waren Produkte von cofurti ad Moenum 1593; Historia Iesuitici Ordinis, das ist gründtliche und außführliche Beschreibung deß Jesuitischen Ordens unnd ihrer Societet: darinnen von dem Stiffter diese.r Gese~~scha~t, irem Namen, Graden, Digniteten [... ] klärlich unnd deutlich gehandelt WIrd: anfang!. In lat. Sprach beschrieben durch Eliam Hasenmüllern [... ] jetzt aber [... ] ins T~uts.che gebr~cht durch Me1chiorem Leporinum. Franckfurt am Mayn 1596; Iesuiticum IelUlllum, das 1st nohtwendige unnd zuvor unerhörte Erzehlung deß unchristlichen Fastens der ve~dächtigen Jesuiter: darinnen historiensweise vermeldet wirdt, wie die Jesuiter in der 40.-täglgen Fastenzeit ihre leibliche Ubung in ihrem Fasten anstellen [, .. ] anfänglich von Eha Hasenmüllern in Latein beschrieben [... ] jetzundt aber [... ] ins Teutsche gebracht durch Me1chiorem Leporinum. Franckfort am Mayn 1596. 11 Nach Richard Krebs, Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner. In den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Dreissigjährigen Krieges. Halle 1890, 162f.; Johann~s Cambil!lOn, De Studiis Iesuitarum Abstrusioribus. Augsburg 1608; ders., Von der Je.sUIten Ge~elmsten Sachen, Augsburg 1608; Melchior Vocium, Rechtmäßige und notwendlge RetorsIOn gegen und wider die schandtliche, ehrenrürige Schmachschrifft, welche Jacob Gret~er unnd Conrad Vetter widerjetzige Prädicanten zu Augspurg in Sachen Johannem Cambllhon [... ] haben lassen außgehen. Tübingen 1610.
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antijesuitischen Traktaten, Predigten und Streitschriften. Zu Duhrs Zeiten, im ausgehenden 19. Jahrhundert, unterstellte man der Glaubensgemeinschaft die Maxime ,Der Zweck heiligt die Mittel' mit vermeintlich fatalen Folgen für die staatliche und religiöse Handlungslogik. Das sind handfeste Nachweise für den Gebrauch von Fehlinformationen zum Zwecke der Beeinflussung eines Auditoriums bzw. eines Leserkreises, und sie haben ihre Wirkungen darin auch gezeigt. Allerdings mag bezweifelt werden, ob sie mehr boten als Textbausteine zu immer denselben Vorhaltungen, d. h., ob sie in einem modernen Sinne ideologiebildend waren. Denn der sprachliche Horizont dieser Abschriften und Kopien veränderte sich auch über lange Zeiträume hinweg nicht, die pejorative Wortwahl dreht sich in ermüdender Weise um drei Wortfelder, nämlich um das Wort "Sau", das Wort "Hure" und das Wort "Teufel". Als könne man gar nicht genug Varianten und Komposita bilden, die den einen oder anderen Terminus zugrunde legen, wird immerfort und über viele Jahrzehnte hinweg nichts an der Konkretheit der Anwürfe verändert. Darin gleichen sich beide Konfessionen. Luther wird beispielsweise von dem Regensburger Jesuiten Conrad Vetter als "Sawbeer uber alle Sawbeeren" bezeichnet, als "garstige Saw", als eine "unsaubere Zuchtei", als "Sawdoctor" oder als "Sawprophet" .12 "Teufel" und "Hure" treten in allen erdenklichen Wortverbindungen auf. Als Sekte stellt man das Luthertum neben die Juden und Türken. Luther sei "vertuerkelt / durchtuerkelt / obertuerckellt / und nach den Türcken geschmürckelt".13 Mit solchen Bildern werden Unterstellungen ausgedrückt wie die, daß das Luthertum in Wahrheit nur eine List des Teufels darstelle, um sich der katholischen Christenheit zu bemächtigen. Die Gegenseite hält mit ihrer beständig vorgetragenen Schilderung der päpstlichen Verfehlungen, eines römischen "Babyions", dagegen. Mit Seelenmessen habe man dem Teufel gedient, der Papst selbst sei am meisten den fleischlichen Wollüsten verfallen. Die Predigten reichen aber über drastische Vorwürfe diesen Zuschnittes nicht hinaus. Man bewegt sich weder auf die veränderte zeithistorische Situation zu noch kommunikationstheoretisch auf den Begriff einer ,Menge' oder ,Masse', die es mit subtileren Mitteln 12 Revocation Und offentlicher Widerruff, Wie M. Conradus Andreae &c. bald nach dem, Anno 1601. zu Regenspurg gehaltenem Postcolloquio, vonn freyen stücken vnnd vnuerse-": hens inn sein Gewissen gangen, vnnd in optima forma an jetzo bekent, welcher massen er dem theuren Mann D. Martin Luther, in den 15 bißhero außgangenen Tractätlein deß vnschuldigen Luthers genant, vnrecht gethan habe: Philippo Heilbrvnner, &c. Als dem Principal vnd fürnembsten Vrsacher dieser heilsamen Reuocation [".] von dem Authore selber zugeschrieben vnd dedicirt. Ingolstadt 1602; Nohtwendige, Kurtze vnd endtliche Abfertigung Der Vnuerschämpten, Ehrnrürigen, vermeynten Widerleg- vnnd Retorsion Schrifft Conrad Vetters Jesuiten, Welche dieser Tagen vnder dem Namen M. Conrad Andreae [".] herfür gekrochen. Das zu Regenspurg Anno 1601. gehaltene Colloquium, fürnemblich aber das Priuat oder Postcolloquium betreffend. Lauingen 1603. 13 Revocation Und offentlicher Widerruff [... ] Conradus Andreae (wie Anm. 12).
der Suggestion zu beeinflussen gelte. Ging das über die Kirchen- und Kleruskritik eines Erasmus von Rotterdam oder eines Ulrich von Hutten hinaus? Waren nicht alle diese Vorhaltungen bereits Bestandteil humanistischer Zweifel an der Glaubwürdigkeit und der Lebensführung des Pfarr- und Ordensklerus?14 Die Revocationspredigten halten;'sich an solche Muster und entwickeln kein darüber hinausreichendes Repertoire ideologiebildender Stoffe auf einer höheren Abstraktionsebene. Das Stichwort der Massenliteratur untermauert den Zweifel am ideologischen Potential solcher Predigten. Reinhart Siegert hat in seinem jüngst erschienenen Beitrag über den "gemeinen Mann" und "die Welt der Bücher um 1800" noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, daß der Umgang mit Literatur und der Zugang zu interpretierenden Lesestoffen sowohl bei Protestanten als auch bei Katholiken selbst in diesem Zeitraum ein äußerst geringer war. Er weist nach, daß in den "Bibliotheken" der lesekundigen Bevölkerung nicht mehr vorhanden war als "ein geistlicher Grundbestand, dazu der Kalender und eventuell ein paar, Volksbücher' vom Kolporteur, in fortschrittlichen Territorien das ein oder andere Schulbuch".1 5 In katholischen Gegenden mag die Heiligenlegende noch hinzugekommen sein. Matthias Zender berichtet in seinen Notizen über "Buch, Schule und Volkserzählung", daß man in der katholischen Eifel um 1930 außer einer vermehrten Anzahl von Hauskalendern und Zauberbüchern keine anderen Gattungen als die beschriebenen vorfand. Die Landbevölkerung untermauerte ihre Skepsis gegen akademische Bildung und Buchwissen mit dem Vorwurf der schwarzen Zauberei, den sie gebildeten Schichten entgegenhielt, wie etwa Ärzten, wenn diese bei der Heilung von Krankheiten versagten. 16 Das mag für die Bildpublizistik anders ausgesehen haben, wie eine ganze Reihe von Untersuchungen zum Luther-Portrait und dessen durchschlagender Wirkung und Verbreitung belegt. Ilonka von Gülpen nennt den Einsatz von Lutherbildnissen ein besonders erfolgreiches "Instrumentarium der gesellschaftspolitischen Einflußnahme"17, das von Drucker-Verlegern nach den Bedürfnissen des Absatzmarktes gesteuert wurde. Dies bezieht sich eindeutig auf die Verbreitung von Flugschriften mit Bild oder Text-Bild-Charakter. Solche "Leseanreize für Ungeübte", wie Siegert das nennt l8 , erleichtern die Rezeption erheblich. Ilonka von Gülpen fragt deshalb auch, "wie ein derartig pu-
blizistischer Erfolg überhaupt zustande kommen konnte, berücksichtigt man die machtpolitischen Konstellationen der Frühen Neuzeit und die Tatsache, daß der des Lesens fähige Bevölkerungsanteil gerade 10 Prozent betrug". 19 Mag vor allem durch die Bildpublizistik ein neues Bewußtsein von Religionspolitik und Öffentlichkeit entstanden sein, das die Techniken manipulativer Rhetorik des Spätmittelalters und die Nutzung strategischer Kommunikationsmittel erheblich erweiterte, so fehlten doch nach wie vor einige wichtige strukturelle Voraussetzungen für ein nachhaltiges Informationswesen. In seiner Untersuchung zur publizistischen Reichweite der Kirchenpolitik zur Zeit der Religionsgespräche kommt Georg Kuhaupt zu der Einschätzung, daß die des Lesens unkundigen Rezipientenschichten eindeutig nicht zu den Adressaten kirchenpolitischer Schriften zählten, da die zum Verständnis der Kontroversen und Meinungen nötigen Kenntnisse über die "kirchenrechtlichen und kirchenpraktischen Gestaltungsfragen" in der Bevölkerung fehlten. 2o Hingegen lasse sich bereits ein eindeutiges Engagement zur Herstellung einer gebildeten Öffentlichkeit erkennen, welche die konfessionelle Legitimität bezeugen und politisch und rechtlich durchsetzen sollte. Diese Teilöffentlichkeit habe vorwiegend als Appellationsinstanz gedient und sei durch Boten, direkte Verteilung und freien Verkauf erreicht worden. 21 Der katholische Prediger Valentin Friccium beklagt in seinem Vorwort zu Bourchiers Barfüsser-Chronik allerdings, daß Predigten und Traktate selbst für den theologischen Fachmann schwer zu bekommen seien: "Solche Tractaetlein als sie an tag kommen / seind sie alsbaldt auffkaufft / fleissig gelesen / unnd hin und wieder in Teutschen / und anderen laendern zerstreuet / also das in kurtzer zeit deren keines ist zu bekommen gewesen. "22 Das mag noch mehr für den Laien gegolten haben als für den Theologen, der bereits an ein Verteilernetz angeschlossen war. Ein entscheidendes Hemmnis für den Erfolg des konfessionspolitischen Predigttextes als Teil eines strategischen Gesamtvorgangs, der eigennützige Zwecke verschleierte und sich der Fehlinformation bediente, war deshalb die begrenzte Aufnahmefähigkeit von Laien und Leseunkundigen. Die Bevölkerung der Frühen Neuzeit sei - so Siegert - noch nicht ein Teil eines "Kommunikationsgeflechtes" gewesen, in dem neue Gedanken kursiert hätten"23, obwohl bereits ein breites Arsenal der Tendenzpublizistik existierte. Erst in den Friedenszeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelten sich Dorf, Staqt,
~4 Hans-Jürgen Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen Deutschland 1517-1529. München 1987, 59ff. 15 Reinhart Siegert, Der "gemeine Mann" und die Welt der Bücher um 1800, in: Jb. für Kommunikationsgeschichte 4,2002,32-51, hier 34. 16 Matthias Zender, Buch, Schule und Volkserzählung, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 20, H. 1-3, 1979,265-276, hier 276. 17 Ilonka von Gülpen, Der deutsche Humanismus und die Frühe Reformations-Propaganda 1520-1526. Hildesheim 2002, 11. 18 Siegert, Welt der Bücher (wie Anm. 15),43.
Von Gülpen, Reformations-Propaganda (wie Anm. 17),9. Georg Kuhaupt, Veröffentlichte Kirchenpolitik. Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Re1igionsgespräche (1538-1541). Göttingen 1998,313. 21 Ebd.310ff. 22 Catalogus und ordentliche Verzeichnuß der newgekrönten anderthalbhundert streitbarn Barfüsser-Martyrer [... ] durch Thomam Bourchier und Florentinum Leydanum in Latein nach der Länge beschrieben. An jetzo aber kürzlichen und summarischer Weiß auß dem Latein ins Teutsch [... ] vertiert durch Valentinum Friccium. Ingolstadt 1584. 23 Siegert, Welt der Bücher (wie Anm. 15),43.
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Territorium und Reich mehr und mehr zu Kommunikationsräumen, in denen Zentren des Druckgewerbes, des Wissens und zugleich der Informationslenkung entstanden. Wie die Einrichtung des römischen Ministeriums der ,Congregatio de Propaganda Fide' verdeutlicht, fehlte es bis dahin an Apparaten, die sich der Informationspolitik annahmen. Solche Institutionen begannen sich auf allen Stufen zu entwickeln. Und erst mit der Zunahme städtischer Agglomerationen entstanden aufnahmebereite Massen, die allerdings bei den Eliten noch lange Zeit das Erscheinungsbild des bildungs armen "gemeinen Pöbels" hinterlassen sollten. Bis dann ein Bezugsrahmen und ein Grundlagenbegriff von ,Menge' und ,Masse' aufkam, herrschten auch völlig andere kommunikative Bedingungen, unter denen persuasive Behauptungen gezielt gestreut werden konnten. Das lag unter anderem an einer noch sehr lückenhaften Kontrolle über das Nachrichtennetz und die publizistischen Organe der Gegenseite. Freilich konnte die ,Censur' zwar das Ausstreuen von Nachrichten bis zu einem gewissen Grade unterbinden, aber nicht selbst gezielt solche verbreiten. Und hier zeigt sich die begrenzte Reichweite der antijesuitischen Informationspolitik im Gewande der gedruckten Predigten. Sowohl die Rezipientenschicht - die eigene lesende, gebildete Entourage und nicht etwa das ungebildete Volk im gegnerischen Lager - als auch die Kommunikationswege lassen eher auf eine selbstvergewissernde Wirkung der Texte schließen. Daß es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Beschuldigten kam, die auf dasselbe Medium und dieselben Verbreitungskanäle zurückgriffen, änderte wenig an dem unzugänglichen Charakter der gesamten Gattung. Wechselseitige Anschuldigungen und Verschwörungstheorien formten sich erst langsam zu einem nachhaltig prägenden negativen Bild. Dabei verfügten die streitenden Parteien durchaus über Techniken, die eine größere propagandistische Wirkung hätten entfalten können, wenn die Kontrolle über die Nachrichtensysteme garantiert und die Adressaten nicht die Eliten, sondern die, Volksrnassen ' gewesen wären. Denn vergleicht man den Tenor der Predigten mit den rhetorischen Figuren, derer sich Propaganda-Apparate im 20. Jahrhundert vor allem in der öffentlichen Rede bedienten, dann erkennt man zwar dieselben Muster klassischer rhetorischer Vorbildung, aber nicht dieselbe Wirkung. Es handelt sich um Wortspiele und diffamierende Bezeichnungen, um Euphemismen und große Worte ("historische Ansprache", "Schicksalsstunde"). Die Predigten bedienen sich sehr häufig solcher Textelernente. Die zweite Gruppe von Techniken umfaßt den unlauteren Wechselgebrauch zwischen politischer und religiöser Symbolik und die Bürgschaft von Personen für eine Sache, für die sie nicht kompetent sind. Immer wieder werfen sich die streitenden Parteien vor, daß Prediger zu Wort kämen, die zwar vorgäben, einen intimen Einblick in die Verhältnisse der anderen Konfession gehabt zu haben, dies wird aber von der beschuldigten Partei in Zweifel gezogen. Fälschungen sind jedenfalls nicht ausgeschlossen. Schließlich geht es um Referenzen - und hier
zeigen sich durchaus markante Unterschiede zu modernen Propagandatechniken -, die sich, um ihre totalitären Machtansprüche durchzusetzen, der Volkstümlichkeit, des Appells an das Dazugehören-Wollen und des Angstmachens bedienen. Hinzu treten im 20. Jahrhundert choreographisch eingeübte Führerkulte, das Beschwören von Volksgemeinschaften, rassenideologische Programme, Heldenbilder, mythologische und symbolische Konstruktionen von Geschichte oder auch eine politische Sakralarchitektur. ,Schwarze Propaganda' nennt man heute die gezielte Verbreitung von Falschmeldungen zur Diffamierung des Gegners. Es gibt also Abstufungen und Nuancen. All diese Elemente sind zur Zeit der Jesuitenstreitschriften bestenfalls in Ansätzen vorhanden, doch man erkennt schon einen sich aufbauenden Propagandaapparat mit richtungweisenden Zügen. Erst langsam beginnt man sich vom Modell der ,Imagepolitik' zu lösen, die allein darauf aus ist, verherrlichende Herrscherbilder zu reproduzieren. Schon während der Französischen Revolution hatte sich durch die Unaufhaltsamkeit der massenhaften politischen Publizistik und der Literarisierung der Bevölkerung die Streuung von Informationen merklich verändert. 1796 etwa reagierte der republikanisch gesonnene Jurist und spätere Richter des Schinderhannes, Georg Friedrich von Rebmann, in seinem politischen Glaubensbekenntnis mit Spott auf die neuesten Zensur-Edikte gegen das Eindringen von Revolutionsschriften, die seiner Meinung nach völlig wirkungslos waren, um das Kursieren politischer Ideen zu unterbinden. "Um durch ~ücher verbot etwas wirken zu können, muß eine Regierung nothwendig 1.) Uber ein großes arrondirtes Land zu befehlen haben, und 2.) Den Eingang des ununtersuchten Buchs über die Gränze verwehren können. "24 Man könne verbotene Bücher leicht aus der nächsten Stadt holen und vor allem fliegende Broschüren rasch verstecken, da man nicht jedem Bürger einen Aufpasser mitgeben könne. Und zudem müßten an den Grenzen kundige Wachen aufgestellt werden, die in der Lage seien, Tausende von Schriften ad hoc auf ihren aufrührerischen Gehalt hin zu bewerten. Für Rebmann war das in jenen Tagen der Revolution bereits ein erfolgloses Unterfangen.
UI. Das Böse als Legitimationsbasis von Propaganda "Oh teufflische Abgötterey und verfluchter Gottesdienst", so "ruffet und schreyet" es der ehemalige Franziskanermönch Balthasar Daumann 1656 in seiner Leipziger Revokationspredigt der Versammlung in der Nikolauskirche entgegen. Der Teufel habe, da teilen Lutheraner und Katholiken dieselbe Georg Friedrich Rebmann, Bruchstücke aus meinem politischen Glaubensbekenntnis. Altona 1796, 7.
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Überzeugung, bei der Glaubensspaltung eine entscheidende Rolle gespielt. Auf sein Einwirken, seine Verführungskraft, gehe der Riß in der Kirche maßgeblich zurück. Nicht wenige katholische Prediger sind der Meinung, daß Anfechtbarkeit und Glaubensschwäche am Übel des Luthertums Schuld seien. Beide Seiten werfen sich ein ,sodomitisches' Leben vor: die Katholiken den Lutheranern wegen der Erlaubnis zur Eheschließung, die Lutheraner den Katholiken wegen des zölibatären Gebotes für den Pfarr- und Ordensklerus, wobei diese aber nur in einem "pharisäischen Schafspelz" steckten. Habe nicht jedermann davon gehört, daß in ein bayerisches Jesuitenkolleg ein Faß hineingebracht worden sei, "welchem der Boden ausgefahren / und ist eine Hure auf die offene Straße herauß gefallen"?25 Die Hurerei sei im Kirchenklerus an der Tagesordnung, am schlimmsten seien die Zustände in Rom. Die Sodomie aber sei ein Werk des Teufels. Nicht wenige Lutheraner verbreiten die Auffassung, daß der Papst ein Produkt des Teufels sei, wenn nicht gar der Teufel selbst. Indem sich beide Parteien auf diese Figur beziehen, auf den "alten Drachen", den "Fürst der Finsternis", vertreten sie eine übereinstimmende Vorstellung vom Bösen, das es im jeweiligen Gegner zu bekämpfen gelte. Das ist eine dritte, ganz eigene Instanz, die jegliche Schritte gegen die Personifizierung des Bösen legitimiert. Der Teufel ist eine starke Figur in diesem Spiel, welche die streitenden Parteien von der Schuld am Konflikt befreit und ein skrupelloses Vorgehen gegen die andere Weltanschauung rechtfertigt. Man kämpft nicht nur gegen einzelne Personen und deren Handeln, sondern gegen ein ganzes Prinzip, das es auszulöschen gilt und das als Kollektivierung der Todsünden anzusehen ist. Damit läßt sich leichter argumentieren als mit einem Verstoß gegen Toleranz und Menschenrechte. Diese scharfen Kontraste bestimmen die polemische Debatte vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Jesuiten. Sie beginnen mit der Gründungsphase der Gesellschaft Jesu" in der Mitte des 16. Jahrhunderts und erfahren mit Hasen~üllers Traktat am Ende des Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Dieses Werk dürfte maßgeblich an der Verbreitung antijesuitischer Vorurteile über viele Jahrhunderte hinweg beteiligt gewesen sein. Seine Rezeptionsgeschichte ist noch nicht geschrieben. Es markiert den mediengeschichtlichen Beginn einer gezielten Kampagne gegen eine religionspolitische Institution, deren Wirken als feindselig und gefährlich eingestuft wird. Das war zwar strategisch gedacht, aber aufgrund fehlender massenpublizistischer Verbreitungsmittel nur von begrenzter Reichweite. Allerdings konnten Langzeiteffekte nicht ausbleiben, denn kursierendes Schrifttum wie Hasenmüllers Antijesuitica wurde auch in den Folgezeiten noch gedruckt und gelesen, so daß sich die
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Hasenmüller, Historia Jesuitici (wie Anm. 10), 148.
Verfestigung der darin ausgebreiteten polemischen Inhalte erst mit der Zeit einstellen konnte. Sie bildeten zunächst nur Ideologeme einer stetig sich verdichtenden negativen Wertschätzung, die erst dann wirklich bedrohliche Züge annahm, als die Verfolgung ihrer Mitglieder nicht nur durch konfessionelle Gegner, sondern auch und vor allem durch politische Machtapparate totalitärer Diktaturen begann. Seit der Gründung des Jesuitenordens im 16. Jahrhundert sind persuasive Schriften ein fester Bestandteil ihrer Aus~~nandersetzun gen mit einer religiösen und politischen Öffentlichkeit. , Offentlichkeit' , ,Masse' und ,Ideologie' jedoch sind Termini, die erst im Laufe der Neuzeit zu breiten und abstrakten Begriffsfeldern wurden. Öffentlichkeit, das konnte in der Zeit, als die "Historia Jesuitici Ordinis" erschien, nur eine ganz bestimmte Teilöffentlichkeit heißen, die als gebildete Elite aktiv in den konfessionspolitischen Prozeß eingriff. Die Masse als Adressat für ideologische Kampfmittel ist eine Erscheinungsform des Übergangs von der Frühen Neuzeit zu modernen Gesellschaften mit einem Spektrum divergierender Partikularinteressen und obrigkeits staatlichen Verwaltungen. Modeme Propaganda ist das Geschäft mit Wahrheit und Fälschung, Information und Lüge. Die Kognitionswissenschaften, Werbetheorien und eine Fokussierung auf Bevölkerungsmehrheiten haben ausgefeilte Instrumentarien der Massenbeeinflussung hervorgebracht. Die gesetzlich verankerte Presseund Meinungsfreiheit sowie die kritische Reflexion über Politik und Gesellschaft bilden Gegenmittel gegen die Ausbreitung von Propaganda. Bei Heinrich Heine kann man nachlesen, wie man solchen Vorurteilen begegnen kann. 1829 sinnierte er bei seinen Betrachtungen über das Land Tirol auch über den Jesuitismus, der seit der Aufhebung des Ordens 1773 durch Papst Clemens XlV. auf Druck europäischer Fürstenhäuser mit der Bulle "Dominus ac redemptor nostel''' keine rechte Gefahr mehr darstellte. In Brixen fragte er sich angesichts einer Begegnung mit einem dicken Mann "mit geistlich dreyeckigern Hut und pfäffisch geschnittenem, schwarzem Rock, der alt und abgetragen war", wie weit es denn mit dem Jesuitismus her sei: "Ob es wirklich noch Jesuiten giebt? Manchmal will es mich bedünken, als sey ihre Existenz nur eine Chimäre, als spuke nur die Angst vor ihnen noch in unseren Köpfen [... ] Wenigstens haben sie doch nicht mehr die alten Hosen an! Die alten Jesuiten liegen im Grabe mit ihren alten Hosen, Begierden, Weltplänen, Ränken, Di-" stinkzionen, Reservazionen und Giften, und was wir jetzt in neuen, glänzenden Hosen durch die Welt schleichen sehen, ist nicht sowohl ihr Geist als vielmehr ihr Gespenst, ein albernes, blödsinniges Gespenst." Heine sieht mit dem Ende Alteuropas auch das Ende konstellativer Konflikte gekommen, in denen die Jesuiten mit ihren "Weltplänen" einen bedeutenden Part übernommen hatten. Die alten Mächte aber, und unter ihnen auch die Jesuiten, seien nur Gespenster der Vergangenheit, vor denen man sich nicht mehr zu fürchten habe. Nähmen sie ihre Schädel von den Schultern, so könne jedermann sehen, daß
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sie "inwendig ganz hohl und leer" seien. 26 Heinrich Heine betonte damit die Geschichtlichkeit von Vorurteilen, Krisen und Konflikten. Ein altes Sprichwort sagt, daß auf betretenen Wegen kein Gras wachse. Ein neuer Zugang zur historischen KonfliktforsclUlllg, zu der ja die Propagandaforschung im weiteren Sinne dazugehört, ist die Mediengeschichte. Eine Betrachtung des Einsatzes der Druckmedien in der Frühen Neuzeit für die Verbreitung von "Jesuiten-Fabeln" ergibt, daß es zwar nur wenige Quellen sind, auf die man sich berufen kann, daß diese aber mit der Zeit eine große Wirkung entfaltet haben. Dieser Beitrag möchte deshalb auch zu einer weiteren Beschäftigung mit antijesuitischen Polemiken der Frühen Neuzeit und ihrer propagandistischen Verwertung im 19. und 20. Jahrhundert anregen.
Die Kunst des Lügens Ketzerverfolgung und geheimprotestantische Überlebensstrategien im theresianischen Österreich Von
Regina Pörtner
I. Krypto-Heterodoxie und Dissimulation Die Geschichte der Menschen wäre zweifellos eine überaus kurze geworden, besäßen sie nicht über ihren Fluchtinstinkt hinaus auch die Fähigkeit zur Täuschung oder Mimikry zu Überlebenszwecken. Die Genealogie der rationalen, reflektierten Verstellungskunst zum Schutz vor Velfolgung oder zur Durchsetzung weiterreichender Zwecke reicht bis in die Antike zurück, in der Frühen Neuzeit erhielt sie jedoch durch den Religionskonflikt besondere Aktualität. Der amerikanische Historiker Perez Zagorin stellt daher in seiner Untersuchung entsprechender Überlebensstrategien im Europa der Frühen Neuzeit die These auf, daß sich das 16. und frühe 17. Jahrhundert nicht nur als Zeitalter der Reformation und Gegenreformation definieren ließe, sondern auch als Ära der Verschleierung oder Verstellung. 1 Als ersten Beleg hierfür zitiert Zagorin das Beispiel der heimlichen jüdischen Gemeinschaften im frühneuzeitlichen Spanien, die den Pogromen des späten 14. Jahrhunderts und der systematischen Verfolgung durch die Inquisition entronnen waren. 2 Das Schriftstudium und die Lehr- bzw. Gebetsgemeinschaft überlebten im Verborgenen und bildeten das Rückgrat der Tradition. Im 16. Jahrhundert gingen jedoch die verbliebenen Gemeinden aus Furcht vor Entdeckung und drohender Todesstrafe dazu über, ihre Kinder erst als Heranwachsende oder sogar erst mit dem 20. Lebensjahr in den Schriften zu unterrichten} Das Überleben
26 Heinrich Heine, Die Tiroler. Reisebilder IH. Hamburg 1829. Hrsg. v. Manfred Windfuhr, bearb. v. Alfred Opitz. (Düsseldorfer Ausgabe.) Hamburg 1986,31.
1 Zagorin bezeichnet diese als "Age of Dissimulation". Perez Zagorin, Ways of Lying.· Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe. Cambridge, Mass./ London 1990, 330. Für die antiken Wurzeln und die vorreformatorische Geschichte entsprechender Strategien und ihrer kasuistischen Behandlung vgl. ebd. 1-37, und Albert R. Jonsen/Stephen Toulmin, The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. BerkeleylLos AngeleslLondon 1988,47-136. 2 Zagorin, Ways ofLying (wie Anm. 1),38-62. 3 Ebd. 56. Von den 2354 bzw. 1483 Personen, die von der Inquisition in Valencia in den Jahren von 1484 bis 1530 und in Toledo von 1483 bis 1500 verurteilt wurden, waren 99% bzw. 90% des heimlichen Judentums angeklagt; ebd. 47. Etwa 5% der Prozesse der venezianischen Inquisition des 16. Jahrhunderts betrafen Fälle heimlicher jüdischer Religions-
christlicher Sekten, insbesondere der Waldenser, ließe sich als weiteres Beispiel für (bedingt) erfolgreiche vorreformatorische Überlebensstrategien religiöser Dissidenten heranziehen, durch das Zerbrechen der Einheit der alten Kirche wurde das Problem der Krypto-Heterodoxie jedoch allgemein. 4 Mit dem Beginn des Tridentinischen Konzils wuchs der Druck auf Erasmianer und heimliche Anhänger der evangelischen Lehre, sich zwischen Konformität und offener Apostasie zu entscheiden. Dies betraf zum Beispiel die Angehörigen des humanistischen Zirkels um den spanischen Krypto-Protestanten Juan Valdes (t Neapel 1541), zu denen der Generalvikar der Kapuziner, Bernardino Ochino, der Augustinerabt Peter Martyr Vermigli oder der Bischof von Capo d'Istria, Peter Paul Vergerio, gehörten. Die drei Erwähnten traten schließlich offen zum evangelischen Glauben über und flohen vor der römischen Inquisition in protestantische Gebiete. 5 Religiöse Verfolgung und wachsender Konformitätsdruck begleiteten die Formierung der christlichen Konfessionen und konfrontierten die Angehörigen abweichender Minderheiten, wie etwa die englischen Katholiken und Puritaner, die französischen Kalvinisten oder die neuen Sekten und protestantischen Abspaltungen in Italien, Ost- und Mitteleuropa, mit der Notwendigkeit, theologisch gesicherte und praktisch anwendbare Überlebensstrategien zu entwickeln. Die Probleme der englischen Katholiken bildeten zum Beispiel einen der Gegenstände der ausgedehnten katholischen moraltheologischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. 6 Von 1563 bis zum Ausgang des ausübung; ebd. 55, unter Verweis auf die Untersuchung von Brian Pullan, The Jews of Europe and the Inquisition ofVenice, 1550-1670. Totowa, N. 1. 1983. 4 Der dominikanische Inquisitor Nicholas Eymerich hob in seinem um 1376 verfaßten und zwischen 1503 und 1607 sechsmal wiederaufgelegten "Directorium Inquisitorum" die Verstellungskunst und Wortgewandtheit der Waldenser und Beginen hervor. Zu ihren Strategien in Verhören gehörte neben ausweichenden oder doppeldeutigen Antworten auch der später von den katholischen Kasuisten perfektionierte gedankliche Vorbehalt, die sogenannte ,mentalis restrictio', d.h. die Hinzufügung eines sinnverändernden bzw. -verkehrenden gedanklichen Zusatzes zur geäußerten Antwort, der es dem Befragten gestattete, scheinbar aufrichtig zu antworten. Vgl. Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 65f. Zur Entwicklung des Konzepts der ,mentalis restrictio' von den Ursprüngen im 14. Jahrhundert bis zur Verurteilung durch das "Sanctum Officium" 1679 siehe Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 153-220; lonsen/Toulmin, Abuse of Casuistry (wie Anm. 1), 202f., 213-215 und passim. 5 Für die Haltung der humanistischen Reformer der Übergangszeit siehe Delio Cantimori, Submission and Confonnity: ,Nicodemism' and the Expectations of a Conciliar Solution to the Religious Question, in: Eric Cochrane (Ed.), The Late Italian Renaissance 15251630. London 1970, 244-265. Zu den Genannten siehe Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 83-99, sowie Frederic Corss Church, The Italian Reformers 1534-1564. New York 1932; Philip McNair, Peter Martyr in Italy. An Anatomy of Apostasy. Oxford 1967; Dermot Fenlon, Heresy and Obedience in Tridentine Italy: Cardinal Pole and the CounterRefonnation. Cambridge 1972,21,52,69-88. Für die spanischen ,alumbrados' siehe auch Marcel Bataillon, Erasme et L'Espagne. Paris 1937. 6 Ausführliche Fallbeispie1e finden sich bei Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), mit dem Hinweis auf weiterführende Literatur und zeitgenössische Reaktionen. Zur Kasuistik
17. Jahrhunderts erschienen mehr als 600 allgemeine kasuistische Abhandlungen, darunter das 3800 Folioseiten starke "Institutionum Moralium" (Rom, 1600-1611) des Jesuiten Juan Azor (1535-1603), Professor für Moraltheologie in Alcala de Henares und Rom. Mit kleidsamer Bescheidenheit nahm er für sein Werk in Anspruch, alle überhaupt denkbaren Gewissensfragen erfaßt zu haben. Die zehnbändigen "Resolutiones Morales" (Palermo, 1629-1659) des Theatiners Antonius Diana (1585-1663) behandelten etwa 20000 Fälle und bildeten ob ihrer teils bizarren Beispiele und der fragwürdigen Vielfalt der angebotenen Lösungen eine der Hauptzielscheiben der Angriffe Pascals. 7 Der bescheidenere Umfang der protestantischen Kasuistik ist vor allem auf grundsätzliche moraltheologische Differenzen zurückzuführen. Im 17. Jahrhundert richteten sich heftige protestantische Polemiken gegen die spitzfindigen Argumentationen der jesuitischen Kasuisten, vor allem gegen das dubiose Konstrukt des heimlichen gedanklichen Vorbehaltes (,mentalis restrictio'), die Grundlagen dieser Ablehnung finden sich jedoch bereits in den Schriften der Reformatoren, speziell wenn es um das Problem der heimlichen Religionsübung und Täuschung zur Abwehr religiöser Verfolgung geht. 8 Calvin gestattete zwar die ,dissimulatio' als Mittel des Selbstschutzes in Gestalt des Stillschweigens über innere Überzeugungen, nicht jedoch die aktive, den wahren Glauben verleugnende Täuschung durch Worte und Handlungen (,simulatio'). Sowohl Luther als auch Calvin verurteilten aufs schärfste die in Anspielung auf die heimliche Anhängerschaft des Pharisäers Nikodemus (Johannes, 3:1-2) als ,Nikodemismus' bezeichnete äußere Konformität, die eine Teilhabe an den Sakramenten der römischen Kirche zuließ.9 Calvin und
der englischen Jesuiten, deren radikale Positionen erheblichen politischen Schaden für die katholische Bevölkerung anrichteten, siehe Peter lohn Holmes, Resistance and Compromise. The Political Thought of the Elizabethan Catholics. Cambridge 1982; ders. (Ed.), Elizabethan Casuistry. (Catholic Record Society, Vol. 67.) London 1975; lonsen/Toulmin, Abuse of Casuistry (wie Anm. 1),203-215, sowie Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 186-220. 7 Die Zahl der katholischen Werke im 16. Jahrhundert wird genannt bei Keith Thomas, Cases of Conscience in Seventeenth-Century England, in: John S. Monill/Paul Slack/Daniel Woolf (Eds.), Public Duty and Private Conscience in Seventeenth-Century England:,. Oxford 1993,29-56, hier 38. Angaben zur kasuistischen Literatur des 17. Jahrhunderts bel lonsen/Toulmin, Abuse of Casuistry (wie Anm. 1), 153, 155 f. 8 Zur ,mentalis restrictio' vgl. Anm. 4; lonsen/Toulmin, Abuse ofCasuistry (wie Anm. 1), 139-215; Thomas, Cases of Conscience (wie Anm. 7), sowie lohann P. Sommerville, The ,New Art of Lying': Equivocation, Mental Reservation, and Casuistry, in: Edmund Leites (Ed.), Conscience and Casuistry in Early Modern Europe. Ca~bridge 198~, .159-184. D~e hier nicht erörterte weitere Entwicklung bis zur Entstehung emes säkularlSlerten moralIschen ,Über-Ich' im 17. und 18. Jahrhundert untersucht Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1995. . 9 Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 12, 34, 63-82; Carlos M. N. Erre, Prelude to Sedition? Calvin's Attack on Nicodemism and Religious Compromise, in: ARG 76, 1985,
dessen Vertrauter und Mitarbeiter Pierre Viret verfaßten eine ganze Reihe anti-nikodemitischer Traktate, die sich zunächst gegen entsprechende Strömungen unter den französischen Protestanten richteten, aber auch Apologien des Nikodemismus zum Beispiel aus dem n,iederländischen Raum widerlegen sollten und - Indiz für die Verbreitung des Phänomens - in diversen deutschen, englischen und italienischen Übersetzungen erschienen. lo Humanisten wie Jacques Lefevre d'Etaples (14607-1536) oder Otto Brunfels (148871534) gehörten dagegen zu den Apologeten der umstrittenen Haltung. Ihr radikalster Befürworter dürfte aber wohl der florentinische Chiliast Francesco Pucci (1543-1597) gewesen sein: Seit 1571 durchreiste er Europa auf der Suche nach Gleichgesinnten, pflegte Kontakte unter anderem zu Fausto Sozzini (1539-1604) und warb in seiner 1581 anonym veröffentlichten Schrift "Forma d'una republica catholica" für die Idee einer Untergrundkirche zur Verwirklichung seiner sozialrevolutionären religiösen Utopie. Seine Anhänger sollten geheime Gemeinschaften in allen Ländern bilden und sich untereinander einer verschlüsselten Ausdrucksweise bedienen; etwaigen Verhören der Inquisition sollten sie durch Verstellung und ausweichende, mehrdeutige Antworten entkommen. Puccis diesbezügliche Anweisungen erwiesen sich jedoch als wenig praxistauglich: 1597 wurde er von der römischen Inquisition verhaftet, der Ketzerei überführt und hingerichtet. ll Für die Mehrheit der protestantischen Bevölkerung in den katholischen Ländern blieben der von Luther gestattete passive Widerstand mit Duldung der hieraus zu erwartenden gewaltsamen Folgen bzw. das von Calvin überaus erfolgreich propagierte Exil bestimmend. 12 War dieses nicht möglich, so blieb dem reformierten Christen die Pflicht zur Absonderung und Standhaftigkeit notfalls bis zum Martyrium - eine Möglichkeit, die mit der Bartholomäusnacht 1572 entsetzliche Realität wurde. Verkleidung und Verstellung bildeten für die flüchtenden Hugenotten die einzige Chance, dem allgemeinen Morden 120-145, hier 127. Bucer und Oecolampadius verurteilten die Teilnahme der Waldenser an der katholischen Messe und Kommunion; ebd. 124. 10 Eire, Prelude to Sedition (wie Anm. 9), 123 Anm. 11, 126. Ein Verzeichnis der Traktate in chronologischer Folge findet sich ebd. 120 Anm. 3, 142 Anm. 92. 11 Carlo Ginzburg, Il Nicodemismo. Simulazione e dissimulazione nell'Europa deI '500. Turin 1970, argumentiert für die Existenz einer organisierten Form des Nikodemismus, zu deren Initiatoren er Brunfels rechnet. Zur Kritik an dieser These und ihrer Quellengrundlage siehe Eire, Prelude to Sedition (wie Anm. 9), 126, und seinen ebd. Anm. 10 und 22 erwähnten Artikel. Zu Francesco Pucci siehe Zagorin, Ways of Lying (wie Anm. 1), 97f., sowie Cantimori, Submission (wie Anm. 5), 265, der allerdings die "Forma" einem unbekannten Gleichgesinnten zuschreibt. 12 Zur Entwicklung der lutherischen Position in der Widerstandsfrage siehe Tilman Koops, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die weltliche Obrigkeit in der lutherischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Phil. Kiel 1968, insbes. 28-32, 118-154, sowie Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1980, 17-24.
in Paris und in den Provinzen zu entkommen. 13 In seinem "Sermon contre l'idolatrie" betont Calvin die Notwendigkeit der Trennung als Voraussetzung der Reinerhaltung des Rechtgläubigen, der sich als fleischlicher Tempel Gottes vor jeder Verunreinigung durch die Gemeinschaft mit den papistischen Götzendienern zu bewahren habe. l4 Calvins Gleichnis scheint den Gedanken der jüdischen Diaspora aufzunehmen und abzuwandeln: Das erwählte Volk ist als Bewahrer der Lehre der Tempel Gottes. Wird mit den Reinheitsvorschriften der jüdischen Religion zunächst der physische Leib zur äußerlich schützenden Hülle, so ist es bei Calvin vor allem der innerlich und gegebenenfalls im geheimen vollzogene Bruch mit der Außenwelt, eine Art ,innere Emigration', wenn dies auch eine körperliche Absonderung im Bereich der sozialen Beziehungen, zum Beispiel der Eheschließung, als logische Konsequenz nach sich zog. Calvins heftige Ablehnung des Nikodemismus erwuchs auch aus dem Bewußtsein, daß dieser als Kompromißlösung die Identität des französischen Protestantismus bedrohte und der institutionellen Organisation der reformierten Kirche widerstrebte. l5 Dieses Argument ließe sich erweitern und auf krypto-heterodoxe Gemeinschaften überhaupt anwenden: Sie waren organisatorisch autonom und entzogen sich nicht nur der Kontrolle der offiziellen, von ihnen abgelehnten Kirche, sondern entgingen, ursprünglich zumindest unfreiwillig, auch der unmittelbaren Aufsicht ihrer eigenen geistlichen Obrigkeit. Das 16. und frühe 17. Jahrhundert mag man religiöse Überzeugungen betreffend mit Zagorin durchaus als das eigentliche Zeitalter der Verstellung in Europa bezeichnen. l6 Die Friedensschlüsse und Religionsabkommen ab 1598, vor allem aber die Verträge von 1648 schufen durch die Klärung der rechtlichen Stellung der Konfessionen einerseits und die Stärkung der fürstlichen Gewalt andererseits die Grundlage für eine Ausdünnung des religiösen Untergrundes. Die Religionspolitik der Bourbonen und Habsburger im späten 17. und im 18. Jahrhundert gab den verfolgten Protestanten Anlaß genug, in den Untergrund oder ins befreundete Ausland zu flüchten und durch ihre unfreiwillige Migration der europäischen protestantischen Öffentlichkeit das Bild eines fortwährenden ,Exodus' des erwählten Volkes einzuprägen. Berichte über das Schicksal der französischen Hugenotten und ungarischen Protestanten, durch Zeitungen, Briefe und Pamphlete vervielfältigt, trugen dazu bei, das Bewußtsein einer wachsenden katholischen Bedrohung unter der pro13 Eire, Prelude to Sedition (wie Anm.9), 130-140. Zu den Überlebensstrategien der Hugenotten 1572 siehe Mark Greengrass, Hidden Transcripts: Secret Histories and Personal Testimonies of Religious Violence in the French Wars of Religion, in: Mark Levene/ Penny Roberts (Eds.), The Massacre in History. New York/Oxford 1999,69-88, insbes. 75. 14 Zitiert bei Eire, Prelude to Sedition (wie Anm. 9), 136 Anm. 64. 15 Ebd. 140. 16 Siehe Anm. 1.
testantischen Bevölkerung besonders Englands und des Heiligen Römischen Reichs wachzuhalten. Diese im Rückblick fast paranoid anmutende Furcht vor einer internationalen katholischen Konspiration entwickelte sich vor dem höchst realen Hintergrund eines drastischen~ückgangs des protestantischen Teils Europas im Jahrhundert von 1590 bis 1690 von etwa der Hälfte der europäischen Landrnasse auf ca. ein Fünftel. 17 Nach dem Ende der aggressiven Innen- und Expansionspolitik Ludwigs XIV. - und erheblich durch diese beschleunigt - vollzog sich zwar spätestens mit dem Siebenjährigen Krieg der "Abschied vom Religionskrieg" in Europa 18 , zugleich verdeutlichten jedoch scheinbare Anachronismen wie die Vertreibung der Salzburger Protestanten 1731/32 oder der Justizmord an dem französischen Protestanten Calas 1762 die immer noch prekäre Situation der Protestanten in den katholischen Staaten 19. In den Ländern der Habsburgermonarchie kennzeichneten die Fortsetzung der Verfolgung bis zumjosephinischen Toleranzpatent 1781 und die Entwicklung krypto-protestantischer Überlebensstrategien in Abhängigkeit hiervon den Umgang mit dem unbewältigten Erbe der Reformation. Im folgenden sollen die Strategien der an diesem Prozeß Beteiligten und die unmittelbaren politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zumindest schlaglichtartig beleuchtet werden.
17 Ein detailliertes europäisches Panorama, das auch die Tätigkeit der portugiesischen Inquisition und die Kampagnen Viktor Amadeus II. gegen die Waldenser berücksichtigt, findet sich bei J. F. Boscher, The Franco-Catholic Danger, 1660-1715, in: History 79, No. 255, 1994,5-30. Die protestantischen Verluste werden ebd. 6f. erörtert. Die englische Dauerfurcht vor einem ,popish plot' bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung Boschers. Für weitere europäische Reaktionen auf die aggressive Innen- und Außenpolitik Ludwigs XlV. und die Religionsverfolgungen Leopolds I. in Ungarn siehe Hans von Zwiedineck-Südenhorst, Die öffentliche Meinung in Deutschland im Zeitalter Ludwigs XIV. 1650-1700. Stuttgart 1888, und Bela Köpeczi, Staatsräson und christliche Solidarität. Die ungarischen Aufstände und Europa in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Budapest 1983. Die fortdauernde protestantische Furcht vor einem der katholischen Konfession vermeintlich wesenseigenen Expansionismus illustriert zum Beispiel das Zitat Johann Jacob Mosers bei Gabriele Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbandes in der Mitte des 18. Jahrhunderts. (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Rh. B: Forschungen, Bd. 122.) Stuttgart 1992, 141. 18 Sehr zum Leidwesen der Kurie; vgl. Johannes Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie. Tübingen 1985, insbes. 42-55. 19 Für Salzburg siehe die Darstellungen von Gerhard Florey, Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration 1731/32. Wien/Köln/Graz 1977, und Mack Walker, The Salzburg Transaction. Expulsion and Redemption in Eighteenth-Century Germany. Ithacal London 1992. Den Calas-Prozeß und seinen religionspolitischen Kontext untersucht David D. Bien, The Calas Affair. Persecution, Toleration and Heresy in Eighteenth-Century Toulouse. Princeton, N. J. 1960.
11. Repressive Politik gegen ein Reformations"Yberbleibsel" in Österreich Der Urspnmg der häretischen Enklaven Inner- und Oberösterreichs im 18. Jahrhundert läßt sich am besten mit den Worten des kaiserlichen Reskriptes an die Grazer Behörden vom 29. August 1733 beschreiben, das von einem "Yberbleibsel" der Reformation spricht. 2o Die lutherischen Schulgründungen und Pfarrbesetzungen der weltlichen Grundherrschaften, die Aufnahme lutherischer Bergknappen aus protestantischen Gebieten des Reichs und nicht zuletzt die erwerbsbedingte saisonale Migration der bäuerlichen Bevölkerung des Gebirges ins Reich hatten dafür gesorgt, daß sich der lutherische Glaube im 16. Jahrhundert rasch und dauerhaft unter der bäuerlichen Bevölkerung und den Holzarbeitern und Bergknappen Oberösterreichs, der Steiermark und Kärntens ausbreitete. In diesen Regionen erwies sich der Protestantismus als erstaunlich widerstandsfähig gegen die gegenreformatorischen Anstrengungen Rudolfs II. und des späteren Kaisers, Erzherzog Ferdinand von Innerösterreich. Protestantische Familien und ganze Dorfgemeinschaften besonders in den unzugänglicheren Alpenregionen schlüpften nicht nur durch die Maschen der schematisch vorgehenden und zeitlich begrenzt operierenden lokalen Religionskommissionen gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts und in den Jahren 1625 bis 1628, sie entgingen auch aufgrund nachlässiger Aufsicht der geistlichen und weltlichen Obrigkeit den späteren Nachstellungen Ferdinands III. Die religionspolitischen Anstrengungen Leopolds I. konzentrierten sich dagegen auf die restlose Beseitigung des Protestantismus in Böhmen und seine Zurückdrängung in Ungarn. Das Intermezzo der Regierungszeit Josephs I. brachte im wesentlichen eine kriegsbedingte Unterbrechung, die sich in den ersten Regierungsjahren Karls VI. fortsetzte. Insgesamt kam es im Zeitraum von ca. 1690 bis 1720 nur sporadisch zu Untersuchungen in den österreichischen Erblanden. 21 Kaiserliches Reskript an die Religionskommission in Graz, 29.8. 1733, DiözesanArchiv Graz-Seckau [im folgenden: DA], Religionsberichte Protestantismus, 1731-1735, XV-b-23. 21 Zur politischen Geschichte der Reformation und frühen Gegenreformation in Ober- und Innerösterreich siehe Karl Eder, Glaubensspaltung und Landstände in Österreich ob der Enns 1525-1602. Linz 1936; Johann Loserth, Die Reformation und Gegenreformation in den innerösterreichischen Ländern im XVI. Jahrhundert. Stuttgart 1898. Die beste Überblicksdarstellung bietet Grete Mecensefty, Geschichte des Protestantismus in Österreich. Graz/Köln 1956. Für die Kommissionen Ferdinands II. und III. und die Phase der konfessionellen Konsolidierung bis zum Regierungsantritt Karls VI. siehe die Akten in: DA, Religionsveränderungen, 1630-1817, XV-c-2, sowie die Ausführungen bei Regina Pörtner, The Counter-Reformation in Central Europe: Styria 1580-1630. Oxford 2001, Kap. 4-6. Für Böhmen siehe Marie-Elisabeth Ducreux, Reading unto Death: Books and Readers in Eighteenth-Century Bohemia, in: Roger Chartier (Ed.), The Culture of PrintPower and the Uses of Print in Early Modem Europe. Transl. by Lydia G. Cochrane. Cam20
In Böhmen führte Karl VI. seit den 1720er Jahren die repressive Politik seiner Vorgänger energisch fort. Die hiermit einhergehenden Missionen, Prozesse und Zwangsmaßnahmen gaben allerdings nicht den Anstoß zur Wiederaufnahme systematischer Inquisitionen und gesetzgeberischer Aktivität in Österreich. 22 Diese erfolgte erst als Nachspiel'der Massenemigration aus dem benachbarten Salzburg 1731/32. 23 In den folgenden beiden Jahren wurde in den betroffenen Herzogtümern eine von Maria Theresia zunächst unverändert übernommene behördliche Organisation zur Erforschung und Bekämpfung des Krypto-Protestantismus unter der bäuerlichen Bevölkerung Oberösterreichs, Kärntens und der Steiermark geschaffen. In den Regierungsstädten wurden sogenannte ,Religionskonferenzen ' bzw. ,-konsesse' unter Beteiligung des Klerus eingerichtet, die regelmäßig nach Wien berichteten. Ihnen unterstanden die neu geschaffenen Missionen in den betroffenen Gebieten, die von Jesuiten und anderen Religiosen der Herzogtümer und Salzburgs betrieben wurden. 1752 erweiterte und systematisierte Maria Theresia diese Missionen zu einer ständigen Einrichtung, die durch monatliche Missionsrelationen an die Landesbehörden und ab 1764 auch durch Religionskommissare der Regierung streng kontrolliert wurden. Anders als ihr Vater war Maria Theresia zur systematischen Ausübung staatlichen Zwanges als Mittel der Bekehrung in den österreichischen Erblanden bereit: Nach 1752 wurden mehrere sogenannte ,Konversionshäuser' in der Steiermark eingerichtet, in denen hartnäckige Ketzer auf eigene Kosten bis zu ihrer ,Bekehrung' durch den Missionsklerus inhaftiert wurden. Karl VI. hatte in den l730er Jahren in geringem Umfang Zwangsumsiedlungen protestantischer Untertanen nach Ungarn und Siebenbürgen durchgeführt, Maria Theresia setzte dieses Mittel, wenn auch mit wachsendem Unwillen, bis in die 1770er Jahre wiederholt ein. 24 bridge/Oxford ] 989, 191-229. Bei der letzten behördlichen Erhebung des 17. Jahrhunderts zum Religionszustand meldeten die Pfarrer der Prager Diözese, daß es in ihren Pfarren keine offenbaren Ketzer gebe; ebd. 197. Für Ungarn siehe Marta Fata, Ungarn, das Reich der Stephanskrone im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Münster 2000, Kap. VII und VIII. 22 Für Karls Religionspolitik in Böhmen siehe Anton Gindely, Die Processierung der Häretiker in Böhmen unter Kaiser Karl VI. Prag 1887, und Ducreux, Reading unto Death (wie Anm. 21). Seit den 1720er Jahren mehrten sich die Klagen ober- und innerösterreichischer Protestanten an das Corpus Evangelicorum; siehe Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth (Hrsg.), Vollständige Sammlung aller Conc1usorum, Schreiben Und anderer übrigen Verhandlungen des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum. Von Anfang des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs=Convents Bis auf die gegenwärtige Zeiten Nach Ordnung der Materien zusammen getragen [... ]. Bd. 1. Regensburg 1751, 303-317. 23 Die Literatur hierzu ist ausgedehnt. Für den gegenwärtigen Zusammenhang siehe vor allem die Darstellung bei Walker, Salzburg Transaction (wie Anm. 19), die die reichspolitische Dimension berücksichtigt. 24 Im Herbst 1731 waren zunächst die Regierungsbeamten Grafen Saurau und Grottenegg als Komnlissare für die Steiermark und Kärnten abgeordnet worden, um eine Ausweitung
Die Maßnahmen Karls VI. zur Bekämpfung des Protestantismus in Österreich blieben bei aller Entschlossenheit politischen Rücksichtnahmen auf die Sicherung der Pragmatischen Sanktion und auf zu befürchtende Proteste und Repressalien der protestantischen Fürsten unterworfen, verstärkt durch die mehrfache Interzession des Corpus Evangelicorum für die österreichischen und böhmischen Protestanten. Schon bei der Einrichtung der zuständigen Landesbehörden vermied der Kaiser die gegenreformatorisch befrachtete Bezeichnung einer ,Religionskommission '.25 Maria Theresia erwies sich dagegen als erheblich konfrontationsbereiter und geriet infolgedessen im Zusammenhang mit den Zwangsumsiedlungen der erbländischen Protestanten nach 1752 in eine mehrjährige Auseinandersetzung mit dem Corpus Evangelicorum. Ein Gutachten des Seckauer Bischofs riet ihr - erfolglos - von der offiziellen Verwendung des Begriffes einer ,Religionskommission ' ab, da er bei den ketzerischen Bauern wie auch bei ausländischen Potentaten "die widrigsten Begriffe" verursache. 26 Im September 1737 ordnete Karl VI. auch mit Blick auf die Bestimmungen des Westfälischen Friedens an, daß Neusiedler aus Salzburg, die als verstellte Ketzer überwiesen würden, nach Siebenbürgen der Salzburger ,Unruhen' zu verhindern (Mitteilung des Seckauer Bischofs Jacob Ernst von Lichtenstein an die Äbte zu Admont und Pöls, den Erzpriester zu Bruck, den Dompropst zu Seckau, die zur Kooperation aufgefordert wurden). Am 12. 8. 1733 ordnete Karl VI. die Einrichtung von ,Conferential-Congressen' in Klagenfurt und Graz an (Mitteilung des Salzburger Konsistoriums an den Seckauer Bischof, 15. 8. 1733). Am 23. 11. trat erstmals die ,Religions Conferenz' in Graz zusammen (Protokoll vom 28.11.1733). Die kaiserliche Verordnung vom 27. 6. 1733 befahl die Einrichtung von Missionen in Innerösterreich (Mitteilung der Grazer Religionskomnlission an den Bischof von Seckau, 7. 7. 1733). Im September 1734 wurden die Missionen durch kaiserliche Instruktionen geregelt und die Berichterstattung an die innerösterreichische Regierung angeordnet. Die zitierten Dokumente finden sich in: DA 1731-35, XV-b-23. Maria Theresia führte die Untersuchungen unverzüglich fort; vgl. die Verordnungen und Protokolle in: DA 1736-50, XV-b-23. Die Missionen wurden offenbar erst mit der Anordnung Maria Theresias vom 29.7. 1752 wieder aufgenommen. Kraft Resolution vom 29.7. 1752 wurde das erste Konversionshaus in Rottenmann in der Steiermark gebaut. Im Jahr 1752 wurden außerdem 15 ständige Missionsstationen in der Steiermark eingerichtet; siehe Kaiserliches Circulare in Religionssachen, 31. 8. 1752, beide Dokumente in: DA 1751-53, XV-b-24. Eine Kopie des Patentes in Religionssachen vom 3. 10. 1764, nlit dem u. a. die Einsetzung von Religionskommissaren verordnet wurde, findet sich im Steiermärkischen Landesarchiv [im folgenden: STMLA], Miszellen, Karton 356. MS 1302 des STMLA enthält kaiserliche Mandate, Sitzungsprotokolle der Konsesse der Länder und weitere Aktenstücke zur Krypto-Prote: stantenverfolgung in der Steiermark, Kärnten und Oberösterreich in den 1750er Jahren. 25 Vgl. die in Anm. 24 zitierten kaiserlichen Verordnungen von 1733. Die Interzessionen des Corpus in der Zeit Karls VI. sind abgedruckt bei Schauroth (Hrsg.), Sammlung aller Conc1usorum (wie Anm. 22), 303-317. 26 Gutachten des Seckauer Bischofs Leopold Ernst von Firmian über den Religionszustand in der Steiermark, undatiert (um 1752), DA 1751-53, XV-b-24. Maria Theresias Schriftwechsel nlit dem Corpus befindet sich in: STMLA, MS 1302, Reichstagsakten 1752-56. Auszüge aus der Korrespondenz werden zitiert bei Friedrich Reissenberger, Das Corpus evangelicorum und die österreichischen Protestanten, in: Jb. der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 17, 1896,207-222, hier 217-222.
zu transmigrieren seien, "ohne das der religions punct dabey den nahmen trage".27 Schon 1733 hatte Karl die Landesregierungen angewiesen, aufgegriffene Religionsverführer an die welschen Regimenter abzugeben, "und weiHen die Militia nicht pro poena zu halten, so braucht es deß=falls kheinen process, sondern es khan ein=ieder, seditiohis oder seductionis suspectus gleich dahin gegeben werden".28 Zwar kam es in den Jahren 1734 bis 1736 zur Zwangsumsiedlung von mindestens 624 oberösterreichischen und 180 Kärntner Bauern nach Siebenbürgen, euphemistisch als Transmigrationen bezeichnet, die Berichte des inquirierenden Klerus wiesen jedoch weitaus höhere Zahlen religionsverdächtiger und überwiesener Ketzer allein für Innerösterreich aus, nämlich etwa 20000 im Oberkärntner Archidiakonat Friesach und mehrere Pfarren mit jeweils 2000 bis 3000 Personen in der Obersteiermark. Nach weiteren Transmigrationen unter Maria Theresia und jahrzehntelanger systematischer Repression ließen sich in den ersten bei den Jahren nach dem Erlaß des Toleranzpatentes 1781 immerhin noch 13 100 Kärntner und 3700 Oberösterreicher als Lutheraner registrieren. 29
III. Geheime Kommunikation und tradierte Lesefähigkeit als Mittel protestantischer Identitätswahrung Wesentliches Merkmal und gewissermaßen ,soziales Rückgrat' des KryptoProtestantismus war seine kommunale Struktur in den entlegeneren und der Herrschaftskontrolle stärker entzogenen Regionen. Die Berichte des Klerus und die Verhörprotokolle betonen durchgängig den engen Zusammenhalt der durch Heirats- und Verwandtschafts beziehungen verknüpften Protestantenfamilien. Sie bildeten den Kern der geheimprotestantischen Gemeinschaften, die sich in der Gegenreformation des ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhunderts in den Herzogtümern entwickelt hatten. 3o Die Weitergabe der Lese27 Kaiserliche Resolution vom 31. 8./3. 9. 1737, STMLA, Landschaftliches Archiv, Religion und Kirche, Schuber 31. 1736 wurde der Verwalter in Murau in der Steiermark angewiesen, öffentlich auftretende Ketzer dem Klerus anzuzeigen und "unter andern Vorwandt" in Arrest zu nehmen; Kaiserliches Reskript vom 27.10.1736, DA 1736-50, XV-b-23. 28 Kaiserliche Resolution vom 29.8.1733, DA 1731-35, XV-b-23. 29 Transmigrantenzahlen nach Erich Buchinger, Die ,Landler' in Siebenbürgen. München 1980, 81-102, 121-125, 144-146. Die Angabe für Friesach findet sich in: DA, Seckauer Konsistorialprotokoll für das Jahr 1773, fol. 264 f. Gerundete Zahlen für die Obersteiermark nach den Angaben der Missionsberichte in: DA 1736-50, XV-b-23 und DA 1751-70, XV-b-24. Angaben zu Protestanten nach 1781 in Oberösterreich bei Rudolf We(ß, Das Bistum Passau unter Kardinal Joseph Dominikus von Lamberg, 1723-1761. St. Ottilien 1979, 368. Für Kärnten siehe Peter G. Trapper, Staatliche Kirchenpolitik, Geheimprotestantismus und katholische Mission in Kärnten (1752-1780). Klagenfurt 1989, 221. 30 Die betroffenen Pfarren waren, wie der zeitgenössische Bericht des Propstes Jakob Rosolenz von Stainz berichtet, von den gegenreformatorischen Kommissionen des 16. und
fähigkeit in der Familie und die Vererbung des protestantischen Schrifttums bildete die Grundlage der krypto-protestantischen Tradition. 31 Der Vikar in Pichl in der Steiermark gestand zum Beispiel, daß es ihm im Laufe seiner siebeneinhalbjährigen Tätigkeit nicht gelungen sei, die Vorherrschaft der protestantischen Familien in der Gemeinde, in der die Katholiken eine eingeschüchterte Minderheit seien, zu brechen und die jüngeren Leute zur Aufgabe des lutherischen Glaubens ihrer Eltern und zur Ablieferung ihrer Bücher zu bewegen. Die Ketzerei werde durch die "gleichsam zu sammen gekettlete [... ] Communication der fast ganzen bauers gemeinde unterhalten".32 Der Vikar in St. Rupert bei Kulm in der Steiermark, Franz Carl Schober, beklagte, daß sich in Gestalt der altansässigen Ketzerfamilien "die Pflanz statt des irrthums von 200 iahren imperturbirlich fort getriben" habe. Schober zählte acht frühen 17. Jahrhunderts durchgängig protestantisch befunden worden; STMLp,.., M~ 31. Die Chronik der Pfarre Stadl in der Obersteiermark, aus der mehrfach TransmlgratlOnen durchgeführt wurden, beschreibt die ungebrochene Fortdauer der Ketzerei im Verbo~ge nen; Pfarrchronik, DA 1779-80, XV-C-l. Die Situation in. K~nten sc~ildert der Bencht des Jesuitenmissionars Leopold Paumgartner aus St. Martm m der Reichenau vom 1.6. 1738, DA 1736-50, XV-b-23. 31 Auf die lutherischen und pietistischen Bücherbestände der Krypto-Protestante~ wurde von der älteren Forschung bereits hingewiesen, vgl. hierzu die einschlägigen ArtIkel von Paul Dedic, Besitz und Beschaffung evangelischen Schrifttums in Steiermark und Kä:nten in der Zeit des Kryptoprotestantismus, in: ZKiG 58, 1939, 4~6~95, u~d ders., VerbreItung und Vernichtung evangelischen Schrifttums in Innerösterreich 1m Ze:talt~r der Reformation und Gegenreformation, in: ZKiG 57, 1938, 433-45~, und ders., DIe Emsch~uggelung lutherischer Bücher nach Kärnten in den ersten Dezenm~.n des 18. Jahrhunderts, m: Jb. der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Osterreich 60, 1939, 126-177, sowie Friedrich Koch, Seltsame Bücherschränke und deren Inhalt, in: ebd. 2., 1881, 6~-76. Eine umfassende Untersuchung der in vorliegendem Aufsatz nur ansatzweIse beschnebenen identitäts stiftenden und sozialen Funktion dieser Literatur und ihres Gebrauchs steht noch aus und soll von der Vf.in an anderer Stelle vorgelegt werden. Für Böhmen siehe die Arbeit von Ducreux Reading unto Death (wie Anm. 23), sowie dies., Le Livre et l'Mresie, modes de 1ecture et ~olitique du livre en Boheme au XVIIIe sie.eIe, in: ~a~s Erich Bödekerl Gerald Chaise/Patrice Veit (Eds.), Le livre religieux et ses pratIques. Gottmgen 1991, 131155. Hinsichtlich der Formen der Aneignung und Verwendung speziell der Bibel finden sich Parallelen zu den Praktiken der ländlichen Bevölkerung Englands und Neu-Englands im 17. Jahrhundert bzw. Badens und Württembergs im 18. Jahrhundert; .siehe David Cressy Books as Totems in Seventeenth-Century England and New England, m: Journal of Librar~ History 21, No. 1, 1986,92-106; Etienne Fran.q~is, Les protestants allem~~ds et la Bible. Diffusion et pratiques, in: Yvon Belaval/DomImque Bour~~ (Eds.), ~e sIeeIe de~_ lurnieres et la Bible. Paris 1986, 47-58, und die ebd. Anm. 5, ZItIerte Studie von l!ans Medick, Buchkultur auf dem Lande: Laichingen 1748-1820. Ein Beitrag zur Ge~chIc~te der protestantischen Volksfrömmigkeit in Altwürttemberg, in: Glaube, Welt.und KIrche 1m evangelischen Württemberg. Katalog der Ausstellun? zur 450~Jahr-Feier der ~va~ gelischen Landeskirche. Stuttgart 1984, 48-68. Zah~reiche verg.lelchbar~ Belege fur dIe zentrale Bedeutung der Schriftaneignung zur Tradlerung des Imma~ene~1en Erbes ~er bäuerlichen Gemeinschaften im innerösterreichischen Raum finden SIch m den Verhorprotokollen, den Berichten der Jesuitenmissionare an den General und in den monatlichen Relationen der Missionare ab 1752. 32 "Pro memoria in causa Religionis", Mathias Egger, Vikar in Pichl, undatiert (um 1756), DA 1754-70, XV-b-24.
KetzerverJalgung und geheimprotestantische Überlebensstrategien
miteinander verwandte und weitverzweigte lutherische Familien auf und bezeichnete die Ausrottung der Ketzerei in dieser Pfarre als schier unauflöslichen "nodus gordius".33 Die Vertreter des Klerus plädierten daher bis ,zur Einstellung der Verfolgungen durch Joseph II. für summarische Transniigrationen. 34 Dies widersprach der Auffassung der Wiener Regierung unter Karl VI., der aus politischen wie auch aus wirtschaftlichen Rücksichten nur ge zielte und im Umfang begrenzte Zwangsumsiedlungen durchführen wollte. Der Gegensatz reichte allerdings tiefer und reflektierte eine unterschiedliche Wahrnehmung des Problems der Häresie: Bis 1736 hielt Karl an der Auffassung fest, daß zwar ein Residuum der Ketzerei aus der Zeit der Reformation stamme, die Gefahr der weiteren Verbreitung jedoch von ausländischen Verführern und insbesondere von den Salzburger Religionsflüchtlingen ausgehe, die das Übel "von außen herein verstörkhet" hätten. Im Mittelpunkt der kaiserlichen Kritik stand die Ineffi _ zienz und Nachlässigkeit des Klerus und der weltlichen Obrigkeiten, wobei unverhüllt Kritik an der aus kaiserlicher Sicht unvereinbaren Doppelexistenz des Ordensklerus und der Jesuiten als Seelenhirten und bedeutende Grundherren geübt wurde. 35 In seinem Reskript vom 27. Oktober 1736 lobte der Kaiser die Grazer Landesstellen für ihre Zurückhaltung bezüglich einer etwaigen Zwangsumsiedlung der Obersteirer "Irrgläubigen", die wohl "nicht sovill auß Hartnäkhigkeit, als unkhündiger erziehung einigen Irrthumb anhangen". Die örtlichen Geistlichen sollten sie daher mit Sanftmut und Bescheidenheit belehren. Mit diesen Mitteln und durch das Vorbild ihres "auferbaulichen Lebenswandels" sollten sie "daß in glaubens Sachen so häuffig Irrgehende arme Volkh in die wahre erkhantnus" führen. 36 Wiederholte Anträge auch des obderennsischen Klerus, mit größerer Härte des weltlichen Arms zu verfahren, wurden von Karl VI. ungnädig abgewiesen: dies scheine ihm "aine unanständige bekherungsart".37 Gleiches galt für den von geistlicher Seite angebrachten Vorschlag der summarischen Abschaffung des niederen Schulwesens angesichts des greifbaren Missionsbericht vom 20.4. 1763, DA 1754-70, XV-b-24. Diese Empfehlung durchzieht die bischöflichen Gutachten und die Berichte des Missions- und Pfarrklerus in der Steiermark unter Maria Theresia; siehe DA 1736-50, XV-b-23 und DA 1751-70, XV-b-24. Der Brucker Erzpriester Maximilian Heipl beklagte in einem Br~ef ~n den Seckau~r Bis~hof Jakob Ernst von Lichtenstein vom 1. 7. 1737 die jüngsten kaIserhc~en ResolutIOnen 1m Zusammenhang mit den erfolgten Transmigrationen, "vermög wehcher keinem Suspecto die gelegenheit gegeben werden soIte, sich positive zu erkhlären". Die hartnäckigen Ketzer würden auf diese Weise bleiben und andere infizieren "mithin ein neyes feyer zu dempfen komben wird, weliches aniezo hette gelöschet werde~ könen", DA 1736-50, XV-b-23. 35 Kaiserliches Reskript vom 29. 8. 1733, DA 1731-35, XV-b-23. Zitat ebd. 36 DA 1736-50, XV-b-23. 37 Instruktion für den oberösterreichischen Landeshauptmann von Thürheim, 18. 4. 1736 ' zitiert bei Weij3, Bistum Passau (wie Anm. 29), 359. 33
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Zusammenhangs zwischen Orthodoxie und Analphabetentum der slowenischen Bevölkerung einerseits und der Lesefähigkeit und hartnäckigen Ketzerei in den betroffenen Regionen andererseits. Die kaiserliche Resolution vom 29. August 1733 ordnete zwar eine Verschärfung der Aufsicht über wandernde Handwerksburschen, Bilderkramer und Kraxenträger als mögliche Büchereinschlepper an, erklärte jedoch zugleich, daß die lesekundigen Bauern "an dießer ihrer Khunst und darob haltenden Lust" nicht gehindert, sondern vielmehr diese Eigenschaft durch die Austeilung katholischer Schriften zur Unterweisung im rechten Glauben genutzt werden sollte. 38 Im Jahr 1752 verfaßte der Pölser Erzpriester als Missionssuperior in der Steiermark ein Gutachten, in dem er das heimliche Bücherstudium dafür verantwortlich machte, daß sich die Ketzerei "seit unerdenklichenjahren" von Generation zu Generation im Verborgenen fortpflanze, "das folgsam dessen woll niemahlen ein aufhören seyn wird". Neben rigorosen Transmigrationen riet er zur systematischen Ausforschung des Bücherbesitzes und zum Verhör der ertappten Büchereinschlepper, um die Namen ihrer Abnehmer zu ermitteln, wobei er allerdings anklagend hinzufügte, daß die meisten Verdächtigen bereits nach Ungarn geflüchtet seien. Überdies seien sie aller Wege kundig und reisten nur nachts auf heimlichen Pfaden, nicht auf den überwachten Mautwegen.Es wäre daher am besten, "wan allen Bauern-Volck das Lesen zu erlehren [sie] gänzlich abgebotten, und somit alle Bücher denen selben unbrauchbar wurden". Als Beleg führte er gleichfalls die "andächtig" katholische, des Lesens unkundige slowenische und kroatische Landbevölkerung an, "und wurde bey solcher unkündigkeit gewiß auch in dasigen orthschafften der irrthum weit ehender von selbst ersticken".39 Wie ihr Vater wies Maria Theresia derartige Vorschläge aus aufklärerischen Erwägungen zurück und betrieb vielmehr ab 1752 den Ausbau des niederen Schulwesens in den Herzogtümern. 4o Sie ver38 DA 1736-50, XV-b-23. Bei der ersten Sitzung der Grazer Religionskonferenz hatte der Erzpriester von Cilli in der Untersteiermark erklärt, daß für seine slowenischen Pfarrkinder weder derzeit noch künftig die Gefahr der Ansteckung mit der protestantischen Ketzerei bestehe, "indeme die mehreste wündische Ludes weder lesen noch schreiben können". Protokoll vom 23. 11. 1733, DA 1736-50, XV-b-23. 39 DA 1751-53, XV-b-24. Die Unterbindung der bäuerlichen Lesefähigkeit befürwortete auch ein Memorandum zum Religionswesen im Landgericht Reifenstein in der Steiermm;k, das vermutlich von den dort eingesetzten weltlichen RegierungskommissaI'en um 1752 verfaßt wurde; ebd. 40 Das kaiserliche Circulare vom 10. 1. 1752 beauftragte die Steirer Kreishauptleute mit der Einrichtung von neuen Schulen in den entlegeneren Pfarren, erwähnt in einem Bericht des Seckauer Bischofs Leopold Ernst von Firmian bzw. seines Provikars Alois Bertholdi über den Religionszustand in der Steiermark (um 1752), DA 1751-53, XV-b-24. Zum Hintergrund der theresianischen Schulreformen siehe farnes Van Horn Meltan, Absolutism and the Eighteenth-Century Origins of Compulsory Schooling in Prussia and Austria. Cambridge 1988, 60-83. Die österreichischen kirchlichen Gegner der allgemeinen Elementarschulbildung befanden sich in guter Gesellschaft: In Frankreich nahmen in der Debatte zur Volks(schul)bildung vor 1769 die meisten Aufklärer eine ablehnende Haltung
zichtete allerdings auf den Versuch der schriftlichen, Gegenpropaganda " und das aus gutem Grund: Nach dem Vorbild der erfolgreicheren böhmischen Mission waren 17342000 Exemplare einer speziell zu diesem Zweck bearbeiteten, ursprünglich anti-calvinistischen Glaubenslehre des Jesuiten Lorenz Forer gedruckt worden, es war den MissionareIi jedoch bis 1740 nicht gelungen, auch nur ein einziges Exemplar zu verkaufen. Selbst die kostenlose Verteilung scheiterte weitgehend. Bessere Aufnahme fand die 1721 in Sulzbach veröffentlichte Postille des Franziskaners Johann Croendonck, deren Verbreitung erstaunlicherweise durch den Passauer Bischof Joseph Dominikus Graf Lamberg gebilligt wurde, obwohl sie krypto-lutherische Aussagen zu wesentlichen Glaubenssätzen enthielt und scharfe Kritik an Gesinnung und Lebenswandel der geistlichen und weltlichen Herren übte. In den Erblanden wurde sie daher kraft landesfürstlichen Dekretes vom 31. März 1753 zur Verbitterung der bäuerlichen Bevölkerung wieder eingesammelt.41 Auf weitaus heftigere Opposition stieß jedoch die Aufspürung und Abnahme der von den Bauern sorglich gehüteten lutherischen Bibeln und Erb auungs schriften. Ihre unterschiedlichen Reaktionen ließen immer deutlicher werden, daß sie keineswegs, wie Karl VI. angenommen hatte, lediglich Opfer der Verführung durch ausländische Aufwiegler oder der Vernachlässigung durch den einheimischen Klerus waren. 42 Im März 1752 meldeten der Pfarrer ein; siehe l!arvey Chisick, The Limits of Reform in the Enlightenment: Attitudes towards ~e EducatlO~ of th~ Lower Classes. in Eighteenth-Cent~ry France. Princeton, N. J. 1981. . Zu den EInzelheIten der gescheIterten GegenoffenSIve siehe das Protokoll der ReliglOnskonferenz vom 23.11. 1733 sowie die kaiserlichen Resolutionen vom 29. 8. 1733, 10.9. 1734,? und 11. 3.1740 und die Mitteilungen der Grazer Repräsentation und Kammer an Pro vIkar Aloys Bertholdi vom 29.8. 1750 und 3. 4. 1753, DA 1731-35, XV-b-23, 1736-.?0, ?CV-b-23: 1751-53, XV-b-24. In der Sitzung der Religionskonferenz vom 22. Marz bl~ 3. A~nl ..1734 wurden Inhalt und Finanzierung geregelt, wobei der Erzpriester zu Bruck VIeldeutIg auß~rte, "durch das leßen werde man erudirt". Es wurde ein großes Format festgelegt, "so dIe baum lieber haben". Der Inhalt sollte katechetisch und nicht k~n.tr~verstheologi~ch sein. Der Mißgriff zu Croendoncks Buch ging vielleicht auf die Imtlatlve des Gehellnra~.s Co~binian Graf von Saurau zurück, der als Voraussetzung für die A~ze~~anz durch den baue:hchen Ad~ess~ten verlangte, daß "auch seine principia darbey waren . Croendonck scheInt das Kntenum der Volkstümlichkeit in unbeabsichtigtem Ausmaß erfüllt zu haben. 4~ Der ~angel an geeigneten Weltgeistlichen und die Übergröße der Pfarren in den GeblrgsreglOnen wurde allerdings in den Berichten der Regierungsstellen immer wieder ang~merkt .und beg.ünstigte ohne Zweifel das Überleben des Geheimprotestantismus. Eine eIns~hneldende Anderung erfolgte erst mit der Einrichtung eines bischöflichen PriestersemInars 1753-1757, den josephinischen Pfarregulierungen und der Umverteilung des Kleru~ .~er aUfgeh?benen Klöster. Dokumente hierzu finden sich in den Religionsberichten des DlOz~sanarchlvs. für die 1770er und 80er Jahre. Zu diesem Themenkomplex siehe Anton GrIeßl, GeschIchte des Seckauer Diözesan-Priesterhauses. Graz 1906 54-64' Rudolf Reinhardt, Zu: Kirchenreform in Österreich unter Maria Theresia, in: ZKlG 77, 966, 105-119; Peter Dlckson, Joseph I1.'s Reshaping of the Austrian Church, in: HJ 36, No. 1, .1993,89.-114. Zur Veränderung des geistigen Klimas siehe Hans Wagner, Die Aufklärung 1m Erzstlft Salzburg. (Salzburger Universitätsreden, H. 26.) Salzburg/München 1968.
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und der Pfleger der Obersteirer Pfarre Haus als beauftragte Kommissare, daß sich die beiden Ketzer Stephan Kierlechner und dessen Schwester bei der Abnahme ihrer Bücher durch visitierende Geistliche "zimblich gefährlich" aufgeführt hätten und in der folgenden Nacht geflüchtet seien "mit vermelden: die Bücher lasse man ihnen nit, derowegen wollen Sie lieber das Vatterland verlassen".43 Nach zwei Jahrzehnten der Missionierung und Ausforschung erwähnte 1773 ein Bericht aus der benachbarten Pfarre Pichl, daß die Bäuerin Maria Lettner, Witwe eines notorischen Ketzers und Bücherbesitzers, einige verbotene Werke, darunter einen lutherischen Katechismus, zur Ablenkung freiwillig ausgeliefert habe. Die Missionare gaben sich hiermit jedoch nicht zufrieden und förderten weitere Bücher zutage, die in einem mit Holz verdeckten Fenster versteckt waren, darunter Johann Spangenbergs "Deutsche Postille", Johannes Arndts "Wasserquelle", Samuel Neuhausers "Trostbüchlein" und mehrere lutherische Gesangbücher. Die Bäuerin habe ihren Verlust "wehmütigst beklaget, allen Trost ihres Herzens hierdurch entwendet, und gar nicht mehr beichten zu gehen entschlossen zu seyn" erklärt. 44 Nach fünfjähriger erfolgloser Missionstätigkeit klagte der Salzburger Archidiakon in Pöls in der Steiermark 1752, daß selbst die Analphabeten unter den Bauern zu den Büchern drängten und ihre Zuflucht zu ihren "so genannten Schrifft-Gelehrten" nähmen, die doch nur einfältige und liederliche Bauernknechte seien und ihnen um einen Trunk die Schrift auslegten. Alle Predigten und Christenlehren gälten ihnen nichts gegen ein schlechtes ketzerisches Büchlein, "welches sie behutsamer als ihr geld verwahren".45 Ähnlich äußerte sich der österreichische Jesuitenprovinzial Paul Zetlacher, der 1757 dem General der Gesellschaft die weitgehende Erfolglosigkeit der siebzehn in Ober- und Innerösterreich eingesetzten Missionare melden mußte: Nur mit größter Mühe gelinge ihnen die Abnahme lutherischer Bücher, die von den Ketzern mehr als Gold geschätzt würden. 46 Die Jesuiten unternahmen einen weiteren Versuch in den 1750er Jahren im Rahmen ihrer Missionserneuerung in Südwest- und Zentraleuropa, die von Buß- und katechetischen Missionen in Böhmen und den österreichischen Ländern unterstützt wurde. Die Berichte der Patres sprechen von 55 000 bis 75000 Kommunikanten allein in der Steiermark, hinsichtlich der Ketzerbekehrung und Einhebung protestantischer Literatur blieb diese letzte Anstrengung barocker Propaganda jedoch
Bericht der Kommissare Caspar Mayrhofer, Pfarrer zu Haus, und Franz Emanuel von Grenzing, Pfleger dort, 4.3. 1752. Beide rieten zur Anwendung von Haft und Transmigration gegen die dortigen hartnäckigen Ketzer, um unter den übrigen einen "timor panicus" zu verursachen; DA 1751-53, XV-b-24. 44 Bericht des Salzburger Missionars in Haus vom 3. 7. 1773, DA 1771-73, XV-b-24. 45 DA 1751-53, XV-b-24 . 46 Bericht Zetlachers vom 10. 4. 1757, Generalarchiv der Gesellschaft Jesu, Rom, Betreff Austria 229, Fructus Missionum 1672-1773, fol. 161 f. 43
vergeblich. 47 Ähnlich mühselig erwies sich die Arbeit in den Pfarren: Im September 1753 meldete der zuständige Missionar Anton Haymerle aus der etwa 3000 Einwohner starken Pfarre Pürck in der Obersteiermark, daß er in weniger als eineinhalb Jahren 700 lutherische Bücher eingesammelt habe. 48 In der etwa gleich großen Pfarre Stadl bei Murau in der Obersteiermark konfiszierte man zwischen 1773 und 1778 914 Bücher. 49 Aus beiden Pfarren wurden unter der theresianischen Regierung Transmigrationen durchgeführt, die jedoch nicht zur Ausrottung des Protestantismus führten. Vielmehr kam es 1752 in Pürck und 1772/73 in Stadl zu Religionsunruhen, zur Weitergabe protestantischer Einschreiblisten, die auch in Kärnten zirkulierten, und zu mehreren hundert öffentlichen Glaubensbekenntnissen als Reaktion auf gescheiterte Petitionen. 50 Die Transmigrationen von 1752 und die Beschwerde einer Bauerndelegation in Regensburg veranlaßten zudem eine heftige Auseinandersetzung zwischen Maria Theresia und dem Corpus Evangelicorum, die zur Verschärfung und politischen Aufladung der Verfolgung in Österreich führte. 5l Im Zuge der Systematisierung der theresianischen Religionsinquisition ab 1752 wurden die Anweisungen des Passauer Bischofs Josef Dominikus Graf Lamberg für den oberösterreichischen Klerus auch zur Richtschnur für das Vorgehen des Missionsklerus in Kärnten und der Steiermark erklärt. 52 Vorbedingung für das erfolgreiche Operieren des Missionars sei das Vertrauen der Pfarrkinder, das er durch vorbildlichen Lebenswandel und durch die geschickte Anpassung an die Lebensgewohnheiten sowie durch eifrige Anteilnahme an den täglichen Belangen bäuerlicher Arbeit gewinnen sollte. Erst dann könne er mit der Ausforschung Verdächtiger beginnen. Ein ausführliches Kapitel war den "Signa Bericht des Missionssuperiors in der Obersteiermark P. Georgius Otto S.J., 1754. Missionsbericht der vier Jesuitenmissionare für 1755 (nicht namentlich genannt), DA 1754--70, XV-b-24. Der Brief des Missionssuperiors Elias Pick1er S.J. an den Bischof von Seckau, Leopold Ernst von Firmian (undatiert, 1753/54), erwähnte, daß im gleichen Jahr und im Vorjahr Missionen in Niederösterreich und Böhmen durchgeführt worden seien; DA 1754-70, XV-b-24. Berichte über die J esuitenmissionen finden sich im Betreff Austria 229 des Generalarchivs der Jesuiten, vgl. Anm. 46. Das Prozedere bei den umstrittenen katechetischen Missionen Ignaz Parhammers wird ebd. fol. 168-173, im Detail beschrieben. Zu den sonstigen ländlichen Missionen der Jesuiten in Europa siehe Louis Chtitellier, La religion des pauvres. Les missions rurales en Europe et la formation du catholicisme moderne XVIe-XIXe siede. Paris 1993. 48 Religionsrelation des Jesuitenmissionars Anton Haymerle für den Monat September 1753, STMLA, Miszellen Karton 351. 49 DA, MS 1778; siehe auch Pörtner, Counter-Reformation (wie Anm. 21), 256 Anm. 84. 50 Die einschlägigen Verordnungen und Aktenstücke finden sich in den Religionsberichten der Jahre 1752-1773; DA, XV-b-24. Für Kärnten siehe Inntraud Koller-Neumann, Zur protestantischen Einschreibbewegung und den Transmigrationen aus der Herrschaft Millstatt nach Siebenbürgen 1752/53, in: Carinthia 172/1, 1982,89-95. 51 Siehe Anm. 26. 52 "Instructio pastoralis ad usum missionariorum in Austria Superiore expositorum", 7.8. 1752, gedruckt zu Passau bei Friedrich Gabriel Mangold, Hofbuchdrucker; Exemplar des Steiermärkischen Landesarchivs, Miszellen, Karton 349, Nr. 272. 47
dignostica occultorum Lutheranorum" gewidmet, zum Beispiel der Zurückhaltung bei der Reichung von Gaben für den Klerus, Unterlassung des Kreuzzeichens und des Gebrauchs des Rosenkranzes und Weihwassers, Schweigen beim kirchlichen Rosenkranzgebet, Mißachtung der Feiertage, Abwesenheit bei öffentlichen Andachten und Prozessionen, Fleischessen an Fasttagen etc. Besondere Aufmerksamkeit sollte auf den Besitz und heimlichen Gebrauch verbotener Bücher gerichtet werden, besonders wenn es Anzeichen dafür gebe, daß sie nicht nur als Hinterlassenschaft der Vorfahren aus gleichsam blinder Verehrung aufbewahrt, sondern auch häufiger zur Lektüre gebraucht würden, bzw. wenn aus dem Erscheinungsdatum hervorgehe, daß sie von den jetzigen Besitzern selbst erworben worden sein mußten. 53 Bei Verhören sei mit gemeinsamen Glaubenssätzen zu beginnen, dann aber zu katholischen überzugehen und zu beobachten, ob der Befragte diese ohne Zögern und Anzeichen des Schreckens in Miene und Geste zu beschwören bereit sei, oder ob er den Schwur verweigere oder zumindest zögere und die Antwort hinauszuschieben suche, um Bedenkzeit zu gewinnen. Bei den Kinderkatechesen sei auf verräterische Versprecher zu achten, die anzeigten, daß der Betreffende in beiden Bekenntnissen unterrichtet worden sei. Die ketzerischen Bauern pflegten nämlich ihre Kinder ab dem zwölften Lebensjahr in den katholischen wie in den lutherischen katechetischen Fragestücken zu unterweisen und ihnen genau einzuprägen, welchen Glauben sie bei sich bewahren und daheim unter den ihren bekennen sollten und welchen sie sich nur als Lippenbekenntnis für die Befragung durch den katholischen Pfarrer zu merken hätten. 54 Dieses Vorgehen erinnert ein wenig an die eingangs geschilderte Überlebensstrategie der jüdischen Gemeinden, die allerdings den Beginn der Unterweisung in der verbotenen Religion angesichts der drohenden weitaus drakonischeren Bestrafung deutlich länger hinauszögerten. Zu den möglichen Anzeichen versteckter Ketzerei zählte Lamberg auch die "Facilitas disputandi de fide cum ostentatione eruditionis Scripturae". Diese Als siebtes Merkmal: "Occultatio librorum prohibitorum, cumprimis, si indicia habeantur, quod ejusmodi libri ab avis, vel parentibus relicti, .non sol~m caeca qu~~a~ aesti~a tione conservati, sed in frequentiore usu legentium fuennt; aut SI ex anno edltlOl1lS colhgatur, eos a possessoribus ipsis emptos fuisse"; ebd. § IV. . , . 54 Wenn sich in der Katechese ein Schüler verspreche und nach luthenscher Art antworte, seinen Fehler dann aber rasch verbessere, sei dies ein Hinweis auf den Glauben der Eltern bzw. Vormünder, "cum his rusticis in more sit, filios jam ab anno duodecimo ad utriusq; Dogmatis Catechetica quaesita praeparare, & s?licite mone~e: quas doc.trinas animo recipere, & inter suos domi profiteri, & quas sola llllgua Parochls lll~errogantibus reponere debeant"; ebd. § IV. In seinem Bericht vom 14. 12. 1757 an den BIschof klagte der Salzburg er Missionar in Kulm und den benachbarten Orten zwar über die allgemeine Verstellung unter den Erwachsenen, wertete es jedoch nichtsdestotrotz als Bekehrungserfolg, daß sich die Kinder und Jugendlichen gegenseitig aus dem für die ketzerische Pfarre Sta~l verfaßten katholischen Katechismus unterrichteten, "damit sie bey unserer ankonft III Examine Catechetico desto besser bestehen können"; DA 1754--70, XV-b-24.
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kontrastierte stark mit der sowohl von ihm als auch vom österreichischen Missionsklerus vielfach beobachteten Unwissenheit und Lauheit der Katholiken' so klagte zum Beispiel im Juni 1752 der Missionar im protestantischen PÜfck in der Obersteiermark, daß die wenigen Rechtgl~ubigen in den umliegenden Ortschaften ZIem, Tauplitz, Dörffl und Pürckberg "mehr Kalt-tholisch als Catholisch genennet werden" müßten. 55 Grundsätzlich waren, wie die früher genannten Empfehlungen zur Aufhebung des Schulwesens bereits vermuten lassen, unstandesgemäße Kenntnisse und Fähigkeiten aus der Sicht der Inquirierenden ein untrügliches Indiz der Ketzerei. 1763 wurden zum Beispiel in der Pfarre Stadl in der Obersteiermark ein Tagelöhner und ein Bauer bei der Regierung angezeigt, der erste, weil er dem Geistlichen mit einem Bibelzitat geantwortet hatte, der andere "wegen seiner auf einen Bauer:mensch ungewöhnlichen Belesenheit".56
IV. Dissimulation und gelenkte Kommunikation: Abwehrstrategien der krypto-protestantischen Gemeinden Die krypto-protestantischen Gemeinden Österreichs paßten sich dem wachsenden Verfolgungsdruck an und übten die von Bischof Lamberg für Oberösterreich beschriebenen Abwehrstrategien. Im September 1754 berichtete der Bischof von Seckau an Maria Theresia, daß sich derzeit niemand offen lutherisch bekenne. Dagegen habe man an verschiedenen Orten den Ketzern ein Büchlein mit dem Titel "Dreifaches Kleeblatt" abgenommen, in dem Lutheraner, die unter katholischer Herrschaft lebten, in der Kunst unterwiesen würden, ihre katholischen Pfarrer zu täuschen. Sie sollten sich äußerlich katholisch stellen, allen Gottesdiensten beiwohnen, dabei jedoch "Lutherisch denken, und all unsere geistliche Übungen auf eine Verdrähet, Sectische arth sich anwenden".57 Ab 1756 zirkulierte außerdem in Oberösterreich, der Stei-
5: Zu den Bemerkungen Lambergs vgl. "Instructio" (wie Anm. 52), § V: "De Catechiza-
hone Adultorum, & Parvulorum". Bericht des Missionars Joseph Anton Martin an Provikar Aloys Bertholdi, 25.6. 1752, DA 1751-53, XV-b-24. Ähnlich der Bericht des Missionssuperiors in der Obersteiermark, P. Georgius Otto S.1., für die kaiserliche Mission im Jahr 1754, die sich auch an "lau= und kaltsinnige" richtete. DA 1754-70, XV-b-24. ~~ Ber~cht des Cooperators Xaver Moser in Stadl, 29. 1. 1763, DA ~ 75~-70, XV-b-24. Bencht vom 27.9. 1754, DA 1754-70, XV-b-24. In den Verzeichmssen konfiszierter Bücher, ~i~ in den ~eligionsberichten einliegen, taucht des öfteren der Titel "Dreyfaches Klee~.lat 1ll verschIedenen Auflagen auf. Es dürfte sich hierbei um folgendes Werk bzw. Auszuge ?araus h~deln: Dreyfaches Kleeblat: Das ist: 1. Kurtzgefaßte Historie von der Reformatl.on Luthen, [ ... ] H. Die wahre ungeänderte Augspurgische Confession, [... ] IH. Kurtze WIderlegung der fürnehmsten Inthümer im Pabstthum und deren Schein-Gründe [... ]; So wohl d~r Jugend als Erwachsenen zum Besten, zu Bevestigung ihres Glaubens und Verwahrung WIder den Abfall / Kihtzlich verfasset und herausgegeben von Christlieb Rezendorf. Das über 200 Seiten starke Buch erschien zuerst 1726 in Altdorfund war offen-
ermark und Kärnten eine ähnlich geartete detaillierte Verhaltens anweisung, die von einem Ortenburger Geistlichen verfaßt worden war. 58 An der Messe dürfe man, so der Verfasser, teilnehmen, bei der Elevation möge man eben Gott anbeten, nach Möglichkeit solle man mindestens einmal jährlich zum evangelischen Abendmahl ins Ausland fliehen, ansonsten aber über dem Empfang des Weins, "der in einigen papistischen Kirchen nach der Kommunion gereichet wird", d. h. des Ablutionsweins, im stillen die Worte der Einsetzung sprechen und einen lebendigen Glauben erwecken, daß er das Blut Christi werde". In schwerer Krankheit dürfe man das Abendmahl wie beschrieben nehmen, solle aber die letzte Ölung solange wie möglich hinausschieben. Die Beichte wird gleichfalls erlaubt, man sei aber nicht verpflichtet, alle Sünden zu nennen, d. h. wohl: sich selbst oder andere in Glaubensdingen zu belasten. l752 hatte Maria Theresia Gespräche über Glaubensdinge in Tavernen und auf öffentlichen Plätzen gänzlich verboten59 , und die Ortenburger Anweisung enthält eine entsprechende Ermahnung zur Zurückhaltung. Ebenso wurde Vorsicht gegenüber nicht-lutherischen Dienstboten eingeschärft. Schulkinder solle man noch nicht im Glauben unterrichten, das Haus sei sorglich mit (Heiligen- und Marien-) Bildern zu schmücken; einen Rosenkranz zu besitzen sei ratsam, sein Gebrauch aber nicht "notwendig". In Verhören solle man zweideutig oder ausweichend antworten, bei der Entdeckung lutherischer Bücher möge man sich auf Unwissenheit des Inhalts oder Unkenntnis des Lesens herausreden. 60 Bei der Ablegung des Glaubensbekenntnisses solle man alles beschwören, was dem Konzil von Nicäa entspreche und im Herzen alles verwerfen, was das Tridentinum hinzugefügt habe. In der Tat legten einige Krypto-Protestanten bis 1773 mehrfach ohne erkennbare Skrupel das verlangte katholische Glaubensbekenntnis ab, wobei allerdings Rückfällige mit Haft, Zwangsarbeit und schließlich Transmigration
bar ungemein populär: die 6. Auflage erschien bereits 1733. Eine Steirer "Specification" abgenommener Bücher von 1751 erwähnt u. a. einen Auszug aus Rezendorfs Kleeblatt, gedruckt zu Altdorf 1742, "in langem Format"; DA 1751-53, XV-b-24. 58 Im folgenden zitierte, aus vier handschriftlichen Blättern bestehende Quelle: "Vorschrift Nach welcher sich die im Land ob der Ennß heimlich verborgene Evangelische zu verhalten haben, Datum Ortenburg den 23: März 1756, M. F. B. Pastor", DA 1754-70, XV-b-24. Dieser Text scheint mit dem bei Gustav Reingrabner, Protestanten in Österreich. Wien!' Köln/Graz 1981, 159f., zitierten identisch zu sein. Zu dessen Verbreitung in Kärnten siehe Tropper, Kirchenpolitik (wie Anm. 29), 60f. 59 Kaiserliches Circulare in Religionssachen, 31. 8.1752, DA 1751-53, XV-b-24. 60 Die Verhörprotokolle und Missionsrelationen für die Steiermark belegen die Verbreitung dieser Strategien. Der Missionsbericht für Schladming und Ramsau vom 29. 3. 1757 zum Beispiel erwähnt, daß im letzten Herbst und Winter in der Pfarre 300 Bücher sicher~estellt worden. seien. Die hierzu befragten Besitzer beriefen sich entweder auf ihre gänzlIche Unkenntms des Inhaltes oder behaupteten, lediglich die mit katholischen Glaubensgrundsätzen zu vereinbarenden Aussagen zur Sittenlehre zur Kenntnis genommen zu haben (vgl. hierzu auch das wörtliche Zitat vor Anm. 62), DA 1754-70, XV-b-24.
bestraft wurden. 61 Die Anleitungen der sympathisierenden protestantischen Ratgeber im Reich stellen offensichtliche Gratwanderungen dar und stehen in wesentlichen Punkten im Widerspruch zu den eingangs geschilderten Positionen sowohl Luthers als auch Calvins. Unter dem Druck der politischen Verhältnisse entwickelten Angehörige des lutherischen Klerus wie der genannte Ortenburger Geistliche pragmatische Lösungen, die eher an die Argumente der Humanisten oder der in Zeremonialdingen entgegenkommenden Melanchthonianer der konfessionellen Übergangszeit anzuknüpfen scheinen und offenbar der Zensur der lutherischen kirchlichen Obrigkeit entgingen. Die Umsetzung dieser Ratschläge wurde in vielen Fällen durch die ständisch geprägte Wahrnehmung der Verfolger erleichtert, die es den Befragten ermöglichte, sich des Stereotyps des ungeschlachten und stumpfsinnigen Bauern zu bedienen. In der 1360 Einwohner zählenden Pfarre Kulm in der Steiermark wurden zum Beispiel im Herbst und Winter 1756 als Ergebnis einer einzigen Denunziation über 300 verbotene Bücher konfisziert. Ihre Besitzer gaben in den Verhören jedoch an, daß sie in Religionssachen "von ihren Eltern fast wenig gelehrnet" hätten und des Lesens unkundig seien. Konnte man ihnen anderes nachweisen, dann behaupteten sie, sie hätten bei der Lektüre "auf jenes, was dem Catholischen glauben entgegen ware, kein attention getragen, oder solches mit fleiß übergangen, und ihnen nur jenes, was die Sitten-Lehr anbetroffen, gefallen lassen". In der ganzen Gemeinde zeige sich, so die Missionare, bei Jungen und Alten "ein mercklicher idiotismus, und ignoranz", so daß die Befragten erklärten, selbst nicht zu wissen, ob sie katholisch oder lutherisch seien, "weilen sie keinen glauben verstehen". Ihr vermeintes Luthertum sei daher vielleicht "ein blosse ruditet und lauigkeit".62 Entsprechende Antworten, in denen sich der Verhörte mitunter selbst als , einfältig' bezeichnete, finden sich häufig in den Verhörprotokollen. 1747 gab der siebenundsechzigjährige Bauer Martin Kärr in Haus bei Schladming an, ein katholischer Christ zu sein. Im Laufe der Befragung räumte er allerdings den Besitz von "seines Vermainens nach zechen" verbotenen Büchern ein. Befragt, weshalb er sie bei früheren Visitationen vor den Kapuzinermissionaren verborgen habe, gab er an, "Er seye halt zu narrend gewest, Er habe andem nit gern Ärgernus geben wollen durch herzutragung der Lutherischen Bücher". Unter Druck gesetzt, gestand er, diese Bücher gelesen zu haben. Um 61 Die Annahme der moralischen Unverbindlichkeit eines erzwungenen Religionseides findet sich auch bei den französischen Calvinisten des 17. Jahrhunderts. Im Zuge der Dragonnaden Ludwigs XlV. in den Cevennen und im Bas-Languedoc berichtete der Cure der Pfarre Bemis, die im September 1685 vollständig ,rekatholisiert' wurde, daß der Prediger Gasagne als erster den schriftlichen Eid leistete und dabei vor der Gemeinde mit lauter Stimme Gott zum Zeugen dafür anrief, daß hiervon sein Gewissen unberührt bleibe; zitiert bei Charles Bost, Les predicants protestants des Cevennes et du Bas-Languedoc, 1684---1700.2 Vols. Paris 1912, Vol. 1,34. 62 Relation der Missionare F. Hoder und J. Wegerer, 29. 3. 1757, DA 1754-70, XV-b-24.
den Schaden zu begrenzen, fügte er jedoch hinzu, daß er bei der Lektüre immer allein gewesen sei und außerdem auch keine ausdrücklich unkatholischen Aussagen bemerkt habe. Sein anderweitig bezeugtes Angebot, lutherische Bücher für eine Radstätter (d.h. Salzburger) Bäuerin aufbewahren zu wollen, "wan es auch ein ganzer Sack voll" wäre, erklärte er damit, daß es sich bei der betreffenden Person um seine Tante gehandelt habe, der er es nicht wohl habe abschlagen können. Er räumte ein, daß man die Gebote der katholischen Kirche zu halten schuldig sei, "warumb aber, das waiß Er nicht". Er wisse auch "nichts sonderliches" über Ablässe, die "halt von den Heilig Pabsten her" kämen. Von Bruderschaften wisse er nichts, "alß das wir ainhellig seyn sollen". Die Aufforderung zur Einschreibung in eine Bruderschaft wies Kärr mit dem Einwand ab, daß er zu alt hierzu sei. Trotz dieser höchst unbefriedigenden Antworten entließen ihn die Missionare nach einigen Belehrungen ohne Vorbehalt. 63 Die materielle Situation und wirtschaftliche Kompetenz des Verdächtigen, die seine Stellung in der Gemeinde bestimmten, spielten offenbar eine wesentliche Rolle bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen: Anders als Kärr nutzte dem eher trotzig als töricht antwortenden fünfzigjälnigen Bauern Andre Stamer die Schutzbehauptung, "ein ainfeltiger Mentsch" zu sein, nichts. Das Gutachten der Geistlichen beschrieb ihn als eindeutig lutherisch, "massen er khein Ainfalt, woll aber in der Hauß- und Pauer würth schafft der verstendigste Haußman ist, als welcher sich in glaubens sachen nur simulieret". Die Missionare empfahlen deshalb Stamers unverzügliche Landesverweisung. 64
V. Von der Denunziations- zur Toleranzpolitik Der Zusammenhang von Verfolgung und Verstellung wurde unlösbar, als Maria Theresia 1752 die systematische Denunziation vor allem von Bücherbesitzern durch Belohnungen förderte. 65 Eifrige Missionare wie der bayeriConstitutum In Religions Sachen, über befundene ketzerische Bücher, Haus, 27. 1. 1747, DA 1736-50, XV-b-23. Diverse Verhörprotokolle der 1740er und 1750er Jahre samt dem zugrunde gelegten Frageschema finden sich in den Religionsberichten. Die Fragen konzentrierten sich auf den Bücherbesitz der Inquisiten und ihre Haltung zu den zentralen katholischen Glaubensaussagen. 64 Constitutum, Haus, 26. 1. 1746, DA 1736-50, XV-b-23. 65 Das kaiserliche Circulare in Religionssachen vom 31. 8. 1752 schrieb vor, daß innerhalb von vier Wochen nach Verlesung der Resolution durch die Pfarrer und Beamten der Grundherren dem Pfarrer alle Bücher zur Begutachtung vorzulegen seien. Genehmigte Bücher waren mit dem ,Petschaft' des Pfarrers zu versehen. Nach Ablauf dieser Frist sei verbotener Bücherbesitz zunächst mit je 9 ft. Strafe zu ahnden, von denen 4 ft. gegebenenfalls dem Denunzianten zustünden; DA 1751-53, XV-b-24. Das Circulare vom 18.1. 1755 zur Ent63
sche Jesuit Anton Haymerle bauten mit landesfürstlicher Hilfe ein ganzes Netz "getreuer Spione" auf, dank dessen ihm 1753 unter anderem die Aufdekkung einer Winkelschule und die Verhaftung ihrer neuen Lehrerin in der Obersteiermark gelang. Haymerle mußte jedoch einräumen, "daß ich ohne geldt nichts entdecken kan, dann wo kein geldt}?da ist kein Schweitzer". 66 Die Berichte des Klerus belegen, daß die Zahl der Denunziationen deshalb gering blieb, weil sie Schmähungen als "Pfaffenschergen" und "Judasbrüder" ebenso nach sich ziehen konnten, wie den Ausschluß aus der Gemeinschaft, die Verstoßung aus Dienst und Unterkunft und sogar Morddrohungen. 67 Diese Sanktionen wurden, so scheint es, unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit von der gesamten Dorfgemeinschaft getragen: 1754 klagte ein Pfarrer aus der Obersteiermark dem Seckauer Bischof, "daß allhier in der ganzen gegend die leith also geartet [sind], daß sie ein grosses abscheihen tragen eines daß andere zu verrathen und anzugeben, und wan dises schon geschechet, so verweigeren sie doch die Confrontation, und wollen niehemallens zu[ge]stechen, daß man sie offenbare, folglich kan der angegebene nicht überwisen werden".68 Die Stadler Petition von 1773, mit der 387 Unterzeichner aus dieser Pfarre und dem Enns- und Paltental in der Steiermark die Kaiserin um Einstellung der Verfolgung und Zulassung des lutherischen Glaubens baten, war das Ergebnis einer bereits 1772 entwickelten dubiosen Inquisitionsstrategie des Pölser Erzpriesters Franz Krebs und des Stadler Missionsklerus und wurde von einer Reaktion der katholischen Bevölkerung auf die Bedrohung der dörflichen Gemeinschaft hierdurch begleitet. 69 Die Stadler Geistlichen hatten unter Verweigerung der Zulassung zu allen Sakramenten eine allgemeine Denunziationspfiicht durchzusetzen versucht. Als unehrenhaft und unchristlich empfunden, hatte diese Maßnahme den gegenteiligen Effekt, Teile der katho-
deckung wieder eingeschlichener Transmigranten versprach Denunzianten 6ft. Belohnung; DA 1754-70, XV-b-24. 66 Missionsrelation Anton Haymerles S.J. vom 2. 10. 1753, STMLA, Miszellen, Karton 351. 67 Extract" aus dem Bericht des Stadler Cooperators Xaver Moser, 21. 2. 1763, DA 175470" XV-b-24; Bericht des Stadler "Religions-Caplans" Michael Cajetan Michelitsch, 28: 10. 1772, DA 1771-73, XV-b-24. Der Hauser Pfarrer bat um eine stattliche Entlohnung desjenigen, der die "ganze Ramsau" - eine notorisch krypto-prot~stantische Gegend d~r Obersteiermark - denunziert habe und deswegen nun "verlassen 1st und sehr hart lebt ; undatierter Religionsbericht, um 1757/58, DA 1754-70, XV-b-24. 68 Bericht des Irdninger Pfarrers Joseph Anton Häring an den Bischof von .Seckau, LeopoldEmst von Firmian, 5.3.1752, DA 1751-53, XV-b-~4: In ~tadl ä~ßerte em Baue~, daß, wer die Evangelischen anzeige, in die Hölle komme; zluert 1m Bencht der Kormmssare Wolf von Stubenberg und Joseph Haan über die Stadler Religionsunruhen 1772173, 24. 3. 1773, DA 1773-74, XV-c-1. 69 Die Akten zu den Stadler Vorgängen 1772-1774 befinden sich in: DA 1771-73, XVb-24 und 1773-74, XV-c-1.
lischen Minderheit zum öffentlichen Anschluß an die lutherische Mehrheit der Gemeinde zu bewegen. 7o Ebenso kontraproduktiv war der Versuch der Täuschung durch ein trügerisches Versprechen: 1772 berichtete der Erzpriester von Pöls, Franz Krebs, daß sich der Geheimprotestantismus durch die Auswanderung steirischer Ketzer nun auch im Salzburger Lungau verbreite. Er plädierte deshalb für umfassende Transmigrationen. Um ein Geständnis der Personen zu erhalten, die liegende Güter besaßen und sich deshalb besonders sorglich verstellten, riet er zu einer List, die sehr an den ,heimlichen Vorbehalt' der jesuitischen Kasuisten erinnert: Man möge eine öffentliche Versicherung abgeben, daß allen, die sich offen lutherisch erklärten, ein Ort zur freien Religionsausübung zugewiesen würde, allerdings ohne zu erwähnen, daß sich dies auf den Ansiedlungsort nach der Transmigration irgendwo in Ungarn oder Siebenbürgen beziehe. 71 Eine Abwandlung dieser Strategie wurde in Stadl angewandt und bildete den Anlaß zunächst für die erwähnte Petition der Stadler Protestanten, die wiederum eine umfassende Untersuchung der "Religionsunruhen" veranlaßte und abschließend zur Transmigration aus der Pfarre führte. 1772 hatte der Stadler Religionskommissar die dortigen Protestanten nämlich aufgefordert, sich in Listen einzutragen und diese der Regierung zu übergeben, mit der Bemerkung, daß man eine Transmigration zwar nicht ausschließen könne, die Chancen für die Erlaubnis des Verbleibens im Land - also eine effektiv begrenzte Toleranz - sich aber erhöhten, je mehr Personen sich offen bekennen würden. Daraufhin hatten sich 387 Personen eingeschrieben und zugleich um die Erlaubnis zur Errichtung einer lutherischen Kirche gebeten, für die man schon einen geeigneten Platz ausgesucht hatte.7 2 Im Jahr 1777, nur zwei Jahre nach der blutigen Niederschlagung des mährischen Bauernaufstandes, löste das von Ex-Jesuiten in gleicher Absicht ausgestreute Gelücht der Religionsfreistellung in Mähren noch einmal Unruhen aus, die zusammen mit den früheren Vorgängen in Österreich den Befürwortern einer Milderung bzw. Einstellung der Religionsverfolgung beträchtlich zuarbeiteten. An der folgenden Debatte beteiligten sich, mit verdeckten AgenDie Einschreibung dieser Katholischen aus Protest melden die Berichte des Seckauer Hofkaplans Joseph Haan an den Seckauer Bischof Johannes Philipp von Spaur vom 29. 1.,. 1772 und 7.1. 1773, DA 1771-73, XV-b-24. 7l Abschrift des Berichts von Franz Peter Leopold Krebs an die Religionshofkommission, 29.8. 1772, DA 1771-73, XV-b-24. Der Vorschlag wurde in Wien von Graf Blümegen scharf kritisiert; Brief des Seckauer Bischofs Johannes Philipp von Spaur an den jansenistischen Propst des Augustinerkonvents von S1. Dorothea in Wien, Ignatz Müller, 9.9. 1773, DA 1771-73, XV-b-24. 72 Bericht Wolf Graf von Stubenbergs und Joseph Haans an das Grazer Gubemium, 24. 3. 1773, DA 1773-74, XV-c-1. Eine Schilderung der Vorgänge aus der Sicht des Klerus gibt der 47-seitige Bericht für die Religionshofkommission, verfaßt vom Stadler "ReligionsCaplan" Cajetan Michelitsch, 28.10.1772, DA 1771-73, XV-b-24. Zu den Stadler Transmigrationen siehe auch Buchinger, Landler (wie Anm. 29), 319-323. 70
den, die erwähnten Ex-Jesuiten, krypto-jansenistische Geistliche wie der Bischof von Seckau (1739-1763) und Passau (1763-1783), Leopold Ernst von Firmian, josephinische Aufklärer wie der Religionskommissar und Grazer Gubernialrat Wolf von Stubenberg und Freimaurer wie der in Böhmen eingesetzte Franz von Kressel.7 3 Das Motiv des Dfssimulierens durchzog somit auch das letzte Kapitel der Gegenreformation in Österreich.
Netzwerke des Nachrichtenaustauschs Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der ,neuen Zeitungen' Von
Franz Mauelshagen Der briefliche Nachrichtenaustausch in der Frühen Neuzeit ist ein bekanntes, aber wenig untersuchtes Phänomen. Nachrichten - in der Flühen Neuzeit am häufigsten als ,neue Zeitungen' oder Nova bezeichnet - konnten im Brieftext eingeordnet sein, darin einen speziellen Platz erhalten (zum Beispiel als Postscriptum) oder auf eigenen Zetteln als Briefanhang verfügbar gemacht werden. Solche Zettel werden als ,Briefzeitungen ' bezeichnet) Sicheres Zeichen für die Etablierung von Nachrichten in Briefwechseln sind Aufforderungen zur Übermittlung von Neuigkeiten oder Entschuldigungen von Korrespondenten, die nichts Neues zu berichten wußten. Gegenseitigkeit war eine ungeschriebene Spielregel des Austauschs, aber was man für Nachrichten bekam, konnte auch anderes sein als Nachrichten. Humanisten, Gelehrte, Reformatoren und nicht zuletzt Kaufleute tauschten in ihren Briefen Nova aus. So schon im Mittelalter: Der gigantische Briefwechsel (ca. 150000 Briefe) des Francesco di Marco Datini (um 1335-1410), des "Kaufmanns von Prato", zeugt ebenso davon wie die ungleich bescheidenere Korrespondenz eines Hildebrand Veckinchusen (um 1365-1426).2 Unter Frühneuzeithistorikern sind die Fuggerzeitungen wohl am besten bekannt,
Zu den Vorgängen in Mähren siehe Reinhold Joseph Wolny, Die josephinische Toleranz unter besonderer Berücksichtigung ihres geistlichen Wegbereiters Johann Leopold Hay. München 1973, 37-70. Zu Firmian siehe Konrad Baumgartner, Die Seelsorge im Bistum Passau zwischen barocker Tradition, Aufklärung und Restauration. St. Ottilien 1975, 2737. Das Freimaurertum des böhmischen Hofkanzlers Franz von Kressel wird erwähnt von Helmut Reinalter, Die Freimaurerei zwischen Josephinismus und frühfranziszeischer Reaktion, in: ders. (Hrsg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1986, 35-80, hier 66. Im Mittelpunkt der Kontroverse zwischen den Vertretern des Klerus, einschließlich des Erzbischofs von Salzburg, und den Grazer und Wiener Behörden stand die vom Klerus verhängte und verteidigte Denunziationspflicht in der Beichte mit der damit verbundenen Verweigerung der Zulassung zu den auch für die bürgerlichen Rechtsgeschäfte wichtigen Sakramenten, zum Beispiel der Eheschließung. Die "Stadler Religionsunruhen" als schädliche Folgen der repressiven Maßnahmen lieferten den Befürwortern einer gemäßigten bzw. toleranten Religionspolitik in Wien und Graz schlagkräftige Argumente. 73
1 Vgl. dazu schon die Pionierstudie von Richard Grasshoff, Die briefliche Zeitung des XVI. Jahrhunderts. Diss. phil. Leipzig 1877, die sich insbesondere mit dem Nachrichtenaustausch im Briefwechsel Philipp Melanchthons befaßt. 2 Vgl. zu Datini die mittlerweile klassische Studie von Iris Origo, "Im Namen Gottes und des Geschäfts". Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335-1410. Berlin 1997, die vor allem auf einer Auswertung des privaten Briefwechsels beruht. Die Arbeit erschien zuerst 1957 unter dem englischen Originaltite~ "The Merchant of Prato", natürlich in Anspielung auf Shakespeare. Der geschäftliche Briefwechsel mit Avignoneser Partnern wird in einer neueren Studie von Jerome Hayez, La gestion d'une relation epistolaire dans les milieux d'affaires toscans ala fin du Moyen Age, in: La circulation des nouvelles au Moyen Age. XXIve Congres de la S.H.M.E.S. (Avignon, juin 1993). Ed. par la Societe des Historiens Medievistes de l'Enseignement Superieur Public. Paris 1994, 63-84, beleuchtet. Zu Veckinchusen vgl. Wilhebn Stieda (Hrsg.), Hildebrand Veckinchusen. Briefwechsel eines deutschen Kaufmanns im 15. Jahrhundert. Leipzig 1921. Zum Nachrichtenaustausch: Margot Lindemann, Nachrichtenüberrnittlung durch Kaufmannsbriefe. Brief-"Zeitungen" in der KOlTespondenz Hildebrand Veckinchusens (1398-1428). (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Bd. 26.) München/New York 1978.
jene Sammlungen ,neuer Zeitungen', die von den Brüdern Octavian Secundus (1549-1600) und Philipp Eduard Fugger (1546-1618) angelegt wurden und heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt werden. Sie umfassen mehr als 15000 Zeitungsbriefe, die eine um das Mehrfache höhere Zahl von Einzelmeldungen aus der Zeit zwischen 1568 und 1605 enthalten. 3 Demgegenüber sind die ,Bullingerzeitungen ' wenig bekannt. 4 Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger (1504-1575) unterhielt eine der bedeutendsten Korrespondenzen des 16. Jahrhunderts mit mehr als 12000 überlieferten Briefen. Vor allem mit seinen wichtigsten Korrespondenten pflegte er einen regen Nachrichtenaustausch. Neben den im Brieftext häufig integrierten Nachrichten ist eine größere Sammlung von Zeitungsbriefen überliefert. 5 Dies sind nur einige prominente Beispiele für ein verbreitetes Phänomen, dessen Untersuchung bisher von der Pressegeschichte dominiert wurde. Mit
diesem Beitrag möchte ich dafür plädieren, den handschriftlichen Nachrichtenaustausch der Frühen Neuzeit unter anderen Vorgaben zu untersuchen, nämlich im Zusammenhang von Briefwechseln, genauer gesagt: von Korrespondenznetzwerken. Dies soll aus der Auseinandersetzung mit bisher vorherrschenden Ansätzen begründet werden: Am Anfang steht eine Kritik der pressegeschichtlichen Perspektive (I); der zweite Teil betrachtet traditionelle und aktuelle Ansätze zur Untersuchung von Briefen als historischer Quelle unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit für das Verständnis des handschriftlichen Nachrichtenaustauschs (H). Der Beitrag schließt mit fünf Postulaten für die Erforschung von Nachrichtenkorrespondenzen, die sich aus der kritischen Revue der ersten beiden Abschnitte ergeben (IH).
I. Kritik der pressegeschichtlichen Perspektive V gl. insbes. Mathilde Auguste Hedwig Fitzler, Die Entstehung der sogenannten Fuggerzeitungen in der Wiener Nationalbibliothek. (Veröffentlichungen des Wiener Hofkammerarchivs, Bd. 2.) Baden bei Wien 1937 (mit Diskussion älterer Darstellungen von Victor Klarwil und Johannes Kleinpaul). Zusammenfassendes bei Thomas Schröder, Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995, 1Of. Diskussion teils strittiger Detailfragen nun bei Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 189.) Göttingen 2003,325-329. 4 Die neuesten Beiträge dazu stammen aus berufener ,Feder': Rainer Henrich, Bullinger's Correspondence - An International News Network, in: Emidio Campi/Bruce Gordon (Eds.), Architect of Reformation: An Introduction to Heinrich Bullinger, 1504-1575. Grand Rapids, Mich. 2004, 231-241; ders., Bu1lingers Briefwechsel und die "BullingerZeitungen", in: Emidio Campi/Hans Ulrich BächtoldlRalph Weingarten (Hrsg.), Der Nachfolger. Heinrich Bullinger (1504-1575). Katalog zur Ausstellung im Grossmünster Zürich, 11. Juni-17. Oktober 2004. Zürich 2004, 71-74. Rainer Henrich ist Mitarbeiter der Bullinger-Briefwechseledition. Ein älterer Beitrag, dem die Bullingerzeitungen ihren Namen verdanken, ist: [Leo Weisz,] Die Bullinger Zeitungen. Zürich 1933. - Zürichs Stellung im Nachrichtensystem des 16. Jahrhunderts wurde von der Forschung bisher kaum beachtet. Einige allgemeine Betrachtungen und Konkretes zu den Beziehungen nach Polen findet sich in den Arbeiten von fan Pirozynski, Studia ad nuntiorum litterarumque circuitum in Europa saeculi XVI pertinenta. De rebus novis e Polonia ab Ioanne Jacobo Wickio turici annis 1560-1587 collectis. (Schedae Historicae, Fasciculus 115.) Krakau 1995, und de;s., Zwiazki kulturaine Pol ski z Zurychem w XVI wieku w swietle zachowanej korespondencji i prototyp6w prasowych. [Die kulturellen Beziehungen Polens zu Zürich im 16. Jahrhundert im Lichte überlieferter Korrespondenzen und geschriebener Zeitungen.], in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 41, 1997, 73-88. Ältere Studien sind: Leo Weisz, Zürcher Zeitungen aus den Jahren 1521-1531. Luzern 1933; ders., Zur Geschichte des Nachrichtenverkehrs im alten Zürich. Separatdruck aus der Festgabe für Ständerat Dr. Oskar Wettstein. Zürich 1936; ders., Der Zürcher Nachrichtenverkehr vor 1780. Zürich 1955, hier bes. 22-26 zu Bullinger. Auf den Arbeiten von Weisz beruht die Darstellung in der Geschichte des Kantons Zürich. Bd. 2: Frühe Neuzeit -16. bis 18. Jahrhundert. Zürich 1996,326-328. 5 Und zwar in den Beständen des ehemaligen Antistitialarchivs, die heute im Staatsarchiv Zürich aufbewahrt werden (Signaturen: EIl 342, 342a, 350, 355, 357,441). In der Zentralbibliothek Zürich werden weitere Bände aufbewahrt, die von Bullinger gesammelte Nachrichten enthalten (Ms. A 43,44,65,66). Vgl. die Angaben bei Henrich, Bullinger's Correspondence (wie Anm. 4), 232 Anm. 5. 3
Der handschriftliche Nachrichtenaustausch wurde bisher nahezu ausschließlich im Kontext der Presse geschichte oder unter ihren Vorgaben thematisiert. Die Fragestellung dabei lautet(e): Wie entstand die modeme Zeitung? Nachrichtenbriefe und Briefzeitungen tauchen dabei - nach der Teleologie einer solchen Entstehungsgeschichte - als Vorformen gedruckter Zeitungen auf. 6 Die Verbindung zwischen Brief und Nachricht gerät fast zwangsläufig aus dem Blick, wird über die Erwähnung als bloße Tatsache hinaus kaum einmal vertiefend erörtert. Das mag für einen Ansatz, der seinen Gegenstandsbereich von vornherein auf Erzeugnisse der Druckerpresse eingrenzt, kein Schaden sein. Was sich pressegeschichtlich rechtfertigen läßt, ist jedoch für die Medien- und Kommunikationsgeschichte nicht per se schon tragfähig, da sie neben dem Buchdruck und seinen verschiedenen Ausprägungen andere Medien und ihr Zusammenspiel zu berücksichtigen hat. Ich möchte die Argumente,
Das gilt praktisch für alle Abhandlungen und Kapitel zur handschriftlichen Nachrichtenübermittlung, die man in der Literatur findet. Vgl. Karl Schottenloher, Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Neu hrsg., eingel. u. bearb. v. Johannes Binkowski. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Jahre 1848. München 1985, 152-156. Auch Theodor Gustav Werner, Das kaufmännische Nachrichtenwesen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und sein Einfluß auf die Entstehung der handschriftlichen Zeitung, in: Scripta Mercaturae 9, 1975, 3-51, versteht unter dem "Wesen einer echten Zeitung" (S. 4) die moderne gedruckte Tageszeitung. Der "Zeitungsbrief' ist für ihn "nur eine Keimzelle, nicht aber etwa schon eine primitive Form der heutigen Zeitung" (S. 14) - besser gesagt wäre wohl: nicht einmal eine primitive Form der Zeitung. Auch bei Thomas Schröder, Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995, 10-13, findet sich ein kleines Kapitel über "Geschriebene Zeitungen", das qua Fragestellung der Entstehungsgeschichte der ersten gedruckten Zeitungen untergeordnet ist. Ähnliches gilt für den Abschnitt "Die Erfindung der periodischen Presse" bei Behringer, Merkur (wie Anm. 3), 303-380. Die Beispielliste ließe sich verlängern.
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die gegen eine Übernahme der pressegeschichtlichen Teleologie sprechen, in drei Punkten zusammenfassen. Erstens verliert die Chronologie der Pressegeschichte im medien- und kommunikationsgeschichtlichen Kontext ihre Verbindlichkeit. Was in der einen Perspektive für sie spricht, spricht in der anderen gegen sie. Die ersten gedruckten Wochenzeitungen des deutschsprachigen Raums erschienen um die Wende zum 17. Jahrhundert, zuerst in Straßburg, wenig später in Wolfenbüttel.7 Bis dahin waren seit der Erfindung des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrhunderts rund 150 Jahre verstrichen. Nur wenig früher erschienen gedruckte Vorläufer wie die Meßrelationen und die Rorschacher Monatsschrift. 8 Seit Ende des 15. Jahrhunderts hatten Flugschriften und Flugblätter häufig der aktuellen Berichterstattung über außergewöhnliche Ereignisse gedient. 9 In beiden Medien kamen oft Brieftexte zum Abdruck, die eine Beschreibung des berichteten Geschehens durch einen Augenzeugen enthielten. 10 Die Verflechtungen zwischen Brief, Briefnachrichten, BriefzeitunDie neueste inhaltliche Untersuchung zum Wolfenbütteler Aviso und zur Straßburger Relation bietet Schräder, Die ersten Zeitungen (wie Anm. 6). Die Anfänge der Relation werden aufgrund einer Supplikation des Buchdmckers Johann Carolus neuerdings auf Anfang Oktober 1605 datiert. Vgl. Johannes Weber, "Unterthenige Supplication Johann Caro1i / Buchtmckers". Der Beginn gedmckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38, 1992, 257-265, hier 259f. Die Supplikation, versehen mit einem Kommentar, ist auch abgedmckt in: Bernd Roeck (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 4: Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg 1555-1648. Stuttgart 1996, Nr. 17, 118-121. 8 Gerda Barth, ANNUS CHRISTI 1597. Die Rorschacher Monatsschrift - die erste deutschsprachige Zeitung. (Historischer Verein des Kantons St. Gallen, 116. Neujahrsblatt.) Rorschach 1976. - Zu den Meßrelationen nach wie vor gmndlegend: Felix Stieve, Über die ältesten halbjährlichen Zeitungen oder Messrelationen und insbesondere über deren Begründer Michael von Aitzing, in: Abhandlungen der historischen Klasse der königlichen Bayerischen Akademie der Wissenschaften 16, 1881, 177-265. Insbesondere zum ,Erfinder' der Meßrelationen, Michael Aitzinger: Behringer, Merkur (wie Anm. 3), 309-315. Einer neuen These zufolge wäre neben Aitzinger der Ireniker Jean Matal zu nennen: Vgl. dazu jetzt Peter Arnold Heuser, Jean MataI. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (um 1517-1597). KölnlWeimar/Wien 2003, 388, der "beide" 'als "auctores intellectuales der periodischen Messrelationen" bezeichnet. 9 Die Bezeichnung "neue Zeitung" im Titel einer Flugschrift ist erstmals für 1502 belegt. Vgl. Schottenloher, Flugblatt und Zeitung (wie Anm. 6), 157 f. Im weiteren Verlauf des 16. und 17 . Jahrhunderts finden sich ähnliche Flugschriften- und Flugblattitel häufiger. Das berechtigt weder semantisch (,Zeitung' bedeutet hier einfach ,Nachricht') noch formal von einem Medium "neue Zeitung" zu sprechen. Hier liegt die Cmx der Arbeit von Kristina Pfarr, Die Neue Zeitung. Empirische Untersuchung eines Informationsmediums der frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung von Gewaltdarstellungen. Diss. PhiI. Mainz 1994. Zum "Flugblatt als Nachrichtenmedium" vgl. die gmndlegende Studie von Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland um 1700. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 29.), Tübingen 1990,91-140. 10 Eine exemplarische Analyse dazu hat vorgelegt: Wolfgang Adam, Texte1emente des Briefes auf illustrierten Flugblättern der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Harms/Alfred 7
gen und gedruckten Nachrichten sind äußerst vielfältig. Auch die Nachrichtensprache der späteren periodischen gedruckten Zeitungen wurde von den handschriftlichen ,Avisen' geprägt. Zwar gab es beim Übergang von der Handschrift zum Druck meist redaktionelle Eingriffe. Nichtsdestotrotz ist es berechtigt, von einer Übernahme im handschriftlichen Nachrichtenaustausch längst etablierter Formen zu sprechen. ll Die Pressegeschichte tut also ganz recht daran, unter sprachlichen und gestalterischen Gesichtspunkten die unmittelbaren Vorläufer der gedruckten Zeitungs-Periodika in den handgeschriebenen Nachrichtenbriefen des 16. Jahrhunderts zu suchen, nur wird eine Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit deren Funktion nicht mehr auf Vorläuferschaft reduzieren können. Genese und Funktion des handschriftlichen Nachrichtenaustausches waren unabhängig von der späteren Zeitungspresse und sollten auch unter dieser Voraussetzung verstanden werden. Zweitens besteht ein mit der pressegeschichtlichen Chronologie gekoppeltes Problem darin, daß die Aufeinanderfolge von handgeschriebener und gedruckter Zeitung allenfalls typologisch haltbar ist. 12 Fast alle heute bekannten größeren Korrespondenzen des Zeitraums 15001800 nutzten den Brief als Nachrichtenmedium. Auch der Zeitungsdruck war noch lange, nachdem die periodische Presse ins Spiel gekommen war, für den überregionalen Transfer auf handbeschriebenes Papier angewiesen. Solange dies der Fall war, blieb der Privatbrief unter dem Gesichtspunkt der Aktualität ein konkurrenzfähiges Vehikel. Erst die Erfindung des Telegraphen bedeutete einen Einschnitt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich entstanden jene großen Nachrichtenagenturen, die mit elektronischer Unterstützung in den Industrienationen eine nahezu flächendeckende Versorgung der Haushalte gewährleisten und damit eine Informationsmacht errichten konnten, die für den traditionellen Brief nur selten mehr als Persönliches übrig ließ. Selbst hier ist allerdings Vorsicht vor strikten Verallgemeinerungen geboten: Es hat immer wieder Ausnahmesituationen gegeben, in denen der Nachrich-
Messerli (Hrsg.), Wahrnehmungs geschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1750). Basel 2002, 341-370, hier 343-348. 11 Der älteren These eines unveränderten Abdrucks geschriebener Vorlagen widerspricht Behringer, Merkur (wie Anm. 3), 369, der am Beispiel der Straßburger Relation und des· Wolfenbütteler Aviso auf redaktionelle Eingriffe wie Auswahl, Kürzung und Anonymisierung hinweist. 12 Schon dieser typologische Charakter wird meistens übersehen. So spricht Behringer, Merkur (wie Anm. 3), 309, von "Abfolge" und versteht die "Vorformen der periodischen Presse" "als aufsteigende Entwicklungsreihe" (ebd.), ohne den Typologie-Status dieser Konstruktion methodisch zu reflektieren. Daß er eigentlich an eine Realabfolge glaubt, offenbart seine Bewertung der Verbreitung handschriftlicher Nachrichten im Venedig des 17. Jahrhunderts durch Pietro Donati und Antonio Minunni: "Diese beiden unterhielten eine Schreibstube, in weIcher die Avisi in völlig anachronistischer Manier für den Verkauf auf den Straßen und Plätzen vervielfältigt wurden" (S. 341).
tenwert von Briefen gegenüber den offiziellen Massenmedien sprunghaft gestiegen ist. Grundsätzlich läßt sich jedoch sagen, daß noch bei den Zeitungen des 18. Jahrhunderts gegenüber den Nachrichtenagenturen der Gegenwart eine Art medialer Arbeitsteilung herrschte, die den Markt für gedruckte Zeitungen lokal begrenzte, meistens auf eine Stadt und ihre nächste Umgebung, und dies um so mehr, je häufiger eine Zeitung erschien, je aktueller sie sein wollte. Zwar erlangten die halbjährlichen Meßrelationen schon Ende des 16. Jahrhunderts überregionale Verbreitung, da sie, wie der Name es sagt, auf den Buchmessen vertrieben wurden, auf denen Buchhändler von allen wichtigen Orten des Buchdrucks zusammenkamen. Eine Wochenzeitung des 17. oder 18. Jahrhunderts wäre für diesen Markt jedoch völlig ungeeignet gewesen. Für die überregionale, etwa reichsweite Verbreitung eines solchen Organs war die Logistik nicht vorhanden. Der raumübergreifende Nachrichtenaustausch wurde vielmehr von Nachrichtenschreibern organisiert, deren ,Avisen' durch das Botensystem der Post an die Orte des Zeitungsdrucks befördert wurden. Erst dort kam die Presse als Vervielfältigungsmaschine zum Einsatz. Der Zeitungsdruck hing also von einem Netzwerk mehr oder weniger professioneller Nachrichtenschreiber ab, die über die Verkehrsadern der Post miteinander korrespondierten. Faktisch blieben beide Formen der Nachrichtenverbreitung - handschriftlich und im Druck - bis ins 18. Jahrhundert hinein nebeneinander bestehen, ergänzten einander oder waren sogar aneinander gekoppelt. Eine Ersetzung des einen Mediums durch das andere gab es nicht, nicht einmal im Hinblick auf das Endprodukt Zeitung und seinen Vertrieb auf Märkten und in den Gassen fIÜhneuzeitlicher Städte. So taucht immer wieder das Phänomen geschriebener Zeitungen auf: Im Venedig des 17. Jahrhunderts verkauften die Avisenschreiber Pietro Donati und Antonio Minunni ihre handgeschriebenen Produkte; in Zürich gab es zwischen 1759 und 1809 eine geschriebene Zeitung, die zuerst unter dem Titel "Nova Tigurina", dann (ab 1773) als "Zürcherische geschriebene Zeitung" erschien und erst nach fünfzig Jahrgängen eingestellt wurde. 13 Die Beispielliste ließe sich verlängern. Auch die Pressepolitik des Wiener Hofrates deutet auf die Existenz geschriebener Zeitungen hin, indem sie zum Schutz von Zeitungsprivilegien ein Verbot geschriebener Zeitungen einführte, die außerdem durch die Zensur nicht oder weniger gut kontrollierbar waren. 14
13 Die Vorlagen für die verbreiteten Abschriften werden in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms. S 631-643 aufbewahrt. Abschriftenbände finden sich ebenfalls dort unter Ms. E 122-124. Vgl. dazu Leo Weisz, Eine handgeschriebene Zürcher Zeitung. Zürich 1933, und ders., Zürcher Nachrichtenverkehr (wie Anm. 4), 38-53. 14 V gl. Helmut W Lang, Der Wiener Hof zur Zeit Leopolds 1. und die öffentliche Meinung,
Man begreift das Nebeneinander geschriebener und gedruckter Zeitungen nicht, indem man es für ,anachronistisch' erklärt. Im Wiener Beispiel standen herrschaftliche Kontrollinteressen hinter dem Versuch, den Zeitungsmarkt auf gedruckte Erzeugnisse einzuschränken und die geschriebenen Zeitungen aus einer Nische zu verdrängen, die durch die Zensur des Hofrates überhaupt erst geschaffen worden war. Wo geschriebene Zeitungen neben gedruckten Zeitungen begegnen, können sie häufig als Reaktion auf obrigkeitliche Zensurpolitik verstanden werden. Daraus läßt sich jedoch nicht zwingend auf Illegalität schließen. Im erwähnten Zürcher Fall gab es zwar Restriktionen für die Berichterstattung der gedruckten Presse, insbesondere für die Inlandsberichterstattung, so daß auch hier durch Zensur eine Nische entstand. Aber der Zürcher Rat betrachtete die "Nova Tigurina" aus dem Klassenzimmer des Schulmeisters Johann Jakob Hirschgartner (1735-1809) mit Wohlwollen und nutzte das Blatt sogar zur Mitteilung administrativer Beschlüsse an den überschaub aren Abonnentenkreis. 15 Solche konkreten Zusammenhänge werden mißachtet, wenn man historische Realität allein mit teleologischen Abfolgemodellen beurteilt. Drittens: Die typologische Stufenleiter von der Handschrift zum Druck war nur das äußerliche Raster einer Vorstellung von der Genese der periodischen Zeitungspresse, deren Motor die technische Innovation der Druckerpresse als solcher mit ihrem nach und nach erst ausgereizten Multiplikationspotential gewesen sein soll.16 Es scheint, als wäre dadurch geradezu ein naturwüchsiger Prozeß in Gang gesetzt worden, etwa in der Art, daß die Nachricht aus dem Brief schließlich an die Öffentlichkeit drängte. Immerhin deuten solche Pauschalrechnungen, die eine stetige Zunahme von Nachfrage und Angebot suggerieren, die Relevanz ökonomischer Zusammenhänge an. Wenn nicht schon in: August Buck/Gerald Kaufmann/Blake Lee Spahr/Conrad Wiedemann (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. 3. Hamburg 1981,601-605. 15 Vgl. Weisz, Zürcher Nachrichtenverkehr (wie Anm. 4), 40. 16 Daß das Verständnis der Druckpresse als purer Reproduktionsmaschine, mit der allenthalben argumentiert wird, eine fragwürdige Denkfigur ist, zeigt Adrian lohns, The Nature of the Book. Print and Knowledge in the Making. Chicago/London 1998. Dieses preisgekürte Buch wurde von der deutschen Frühneuzeitforschung bisher praktisch nicht rezipiert. Es kann im ganzen als Kritik an Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent ofChange. Communications and Cultural Transformations in Early Modem Europe. 2 Vols. Cambridge 1979, gelesen werden. Bekanntheit hat die stark gekürzte Version unter dem Titel dies., The Printing Revolution in Early Modem Europe. Cambridge/London 1983, erlangt, die mittlerweile in 9. Auflage (2000) erschienen und in zehn Sprachen übersetzt wurde. Deutsch: dies., Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modemen Europa. Wien/New York 1997. Zur Kontroverse zwischen Eisenstein und Johns siehe die unter dem Titel "How Revolutionary Was the Print Revolution?" im American Historical Review abgedruckten Beiträge der beiden Kontrahenten: Elizabeth LEisenstein, An Unacknowledged Revolution Revisited, in: AHR 107,2002,87-105; Adrian lohns, How to Acknowledge a Revolution, in: AHR 107, 2002, 106-125; Elisabeth L. Eisenstein, Reply, in: AHR 107,2002, 126-128.
beim Verständnis der technischen Abläufe, so versagt die Theorie jedoch spätestens bei der menschlichen Komponente: Da ist zuviel von "Lust an Neuigkeiten"17, vom "unstillbaren Verlangen nach Kenntnissen vom Gegenwartsgeschehen"18 oder schlicht von "Neugier" di,e Rede. Ältere Studien haben damit unkritisch an den curiositas-Diskurs der Frühen Neuzeit angeknüpft. In der großen, Ende des 17 . Jahrhunderts geführten Zeitungsdebatte - aber auch früher schon und später noch - spielte er eine wichtige Rolle. 19 Ein Blick in Caspar Stie1ers "Zeitungs Lust und Nutz" klärt allerdings darüber auf, daß den Zeitgenossen neben der Lust an Hofkabalen und Palaver auch der praktische Nutzen von Nachrichten wichtig war. Gerade Stieler stützt sein Plädoyer für die Zeitung darauf, daß er ihren handlungsrelevanten Informationswert betont. 20
II. Traditionelle und aktuelle Ansätze zur Untersuchung von Briefen Die Pressegeschichte hat seit gut hundert Jahren eine geradezu deterministische Entwicklungsgeschichte vom handschriftlichen Nachrichtenaustausch zu periodisch erscheinenden gedruckten Zeitungen entworfen, von der sich auch neuere Forschungen noch nicht völlig befreit haben. Wenn statt dessen dafür plädiert werden soll, den handschriftlichen Nachrichtenaustausch in anderen mediengeschichtlichen Kontexten zu betrachten, so bietet sich dafür der Brief an. Briefe waren lange Zeit die wichtigsten Vehikel, brachten gleichsam die Infektion mit dem Neuen, sorgten für seine Ausbreitung über größere und kleinere Distanzen hinweg. Ich werde später dafür plädieren, diesen Konnex in der Tat zum Ausgangspunkt für eine systematische Untersuchung zu machen, wenn auch mit einer Akzentverschiebung gegenüber jenen Ansätzen, die in diesem zweiten Abschnitt thematisiert werden.
Etwa Weisz, Zürcher Zeitungen (wie Anm. 4), 3. Werner, Nachrichtenwesen (wie Anm. 6), 31. Karl Kurth (Rrsg.), Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung. Die Urteile des Christophorus Besoldus (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676) und Tobias Peucer (1690) über den Gebrauch und Mißbrauch der Nachrichten. Brünn/München! Wien 1944, hat die wichtigsten Quellen dieser Debatte zusammengefaßt; Eiger BlühmJ Rudolf Engelsing (Rrsg.), Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bremen 1967, bieten weiteres Material. In dieser Debatte mit ihrer Verlängerung ins 18. Jahrhundert hinein hat die ältere Zeitungskunde ihre Ursprünge gesehen. V gl. Werner Storz, Die Anfänge der Zeitungskunde. Die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts über die gedruckten, periodischen Zeitungen. Ralle an der Saale 1931. 20 V gl. Kaspar Stieler, Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695. Rrsg. v. Gert Rageiweide. Bremen 1969,64-121. 17
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Vor allem Germanisten haben sich in Vergangenheit und Gegenwart mit der Geschichte des Briefes befaßt. Sie war weitgehend Gattungsgeschichte, dem Ziel der Suche nach der Entstehung der vermeintlich rhetorisch unverkrampften Form des national sprachlichen Privatbriefs und den damit immer wieder diskutierten Thesen von der Entwicklung des modemen Individuums verpflichtet. 21 Jene Briefpassagen, die der Nachrichtenübermittlung gewidmet waren, lagen völlig außerhalb dieser Perspektive. Briefzeitungen auf eigenen Zetteln als Briefanlage werden auch aus den Editionen frühneuzeitlicher Korrespondenzen weitgehend ausgeschlossen. Dafür gibt es gute pragmatische Gründe, denn schon Erschließung und Zuordnung gestalten sich hier häufig noch komplizierter als ohnehin bei Korrespondenzen, weil beigelegte Nachrichten zettel oft nicht einmal von der Hand des Briefschreibers stammten und häufig schon von den Empfängern - wenn überhaupt - getrennt von den Briefen aufbewahrt wurden, mit denen sie eingetroffen waren. 22 Viele Editionen verzichten aber auch auf die einem Brieftext direkt eingeschriebenen Nachrichten, weil sie außerhalb des biographischen Rampenlichts liegen, mit dem bedeutende Persönlichkeiten der Vergangenheit meist beleuchtet werden. Die Wiederentdeckung des Briefes als historische Quelle verdankt sich der Selbstzeugnisforschung. Wie ältere Ansätze fokussiert allerdings auch diese Sichtweise 'auf den Empfindungen und Expressionen des Individuums. Medizin- und Körpergeschichte haben diese Perspektive zweifellos vertieft und erweitert, ebenso die Familiengeschichte. 23 Aber auch diese Ansätze können mit jenen Briefpassagen nichts anfangen, die der Nachrichtenmitteilung gewidmet waren. Dies ist kein Einwand, aber ein Hinweis auf Grenzen, die sich aus der Fragestellung ergeben. 21 In der klassischen Studie von Georg Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Bde. Berlin 1889/91, Ndr. Dublin/Zürich 1968, bedeutet dies konkret: das eine Nationalsprache schreibende, selbstbewußte Individuum. Noch bei Reinhard M. G. Nickisch, Brief. Stuttgart 1991, ist dieses Paradigma omnipräsent. 22 Zu den Schwierigkeiten vgl. die Bemerkungen bei Henrich, Bullinger's Correspondence (wie Anm. 4), 234f. 23 V gl. Michael Stollberg, "Mein askulapisches Orakel". Patientenbriefe als Quelle einer Kulturgeschichte der Krankheitserfahrung im 18. Jahrhundert, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3, 1996, 385-404; Frederic Sardet, Briefe in dei' Kommunikation zwischen Arzt und Patient im 18. Jahrhundert, in: Kaspar von Greyerz/ Rans MedicklPatrice Veit (Rrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9.) KölnlWeimarlWien 2002,231-248. Ein Plädoyer für den Brief als familiengeschichtliche Quelle liegt mit der Dissertation von Matthias Beer, Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550). (Schriftenreihe des Stadtarehivs Nürnberg, Bd. 44.) Nürnberg 1990, vor; vgl. auch ders., Private Correspondence in Germany in the Reformation Era: A Forgotten Source for the Ristory of the Burgher Family, in: Sixteenth Century Journal 32/4, 2001,931-951.
Biographische Ansätze oder die Erforschung von Ego-Dokumenten bieten keine erkennbaren Anknüpfungspunkte für eine Untersuchung des brieflichen Nachrichtenaustauschs. Andererseits stellen sie ihr kein grundsätzliches Hindernis in den Weg. Allerdings liegen sie auf einer Linie mit Tradition: ,Der' Brief wird einer Sphäre des Privaten zugeordhet, die einer Sphäre des Öffentlichen gegenübersteht. Besonders in Deutschland ist die Debatte seit Georg Steinhausens "Geschichte des deutschen Briefes"24 von der Vorstellung geprägt, daß sich das, Wesen' des Briefes im Privatbrief erfülle. Im Jargon der Frankfurter Schule stellte Jürgen Habermas 1962 unter Verweis auf Steinhausen für das 18. Jahrhundert fest: "Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität", und brachte damit kurz und bündig eine bis heute verbreitete ,Wahrheit' zum Ausdruck. 25 In einer neueren einführenden Darstellung zum Brief als historischer Quelle liest man gleich zu Anfang: "Während staatliche Aktivitäten in Urkunden und Gesetzen, Akten und Protokollen Ausdruck finden, gehört der Brief primär zum Privatleben."26 Zwar gebe es Briefe von Herrschern, "die Politisches enthalten", Gesandtschaftsberichte in Briefform, päpstliche Sendschreiben, bischöfliche Hirtenbriefe, Missionsbriefe, Briefe anderer Institutionen. (Wie so häufig werden die Kaufleute in dieser Aufzählung vergessen.) "Trotzdem ist der Brief in erster Linie Privatbrief; nicht nur, weil er das Privatleben zum Gegenstand hat, sondern auch deshalb, weil er im Regelfall einen individuellen Autor hat, dessen Perspektive und Stil sich im Brief spiegeln." Sieht man einmal davon ab, daß nach dieser hinkenden Begründung alle Schriften - Publiziertes eingeschlossen - privat wären, sofern sich darin nur "Perspektive und Stil" eines einzelnen ausdrücken, fällt die offen eingeräumte Diskrepanz zwischen ,dem' Brief und ,den' Briefen auf, die im Plural offenbar problemlos im Widerspruch zu dem stehen können, was ,den' Brief im Singular ausmacht. Daß das Private eigentlich eine Fragestellung im Umgang mit Briefen als historischen Quellen und kein Wesensmerkmal ,des' Briefes ist, daß der Privatbrief eine Form unter vielen möglichen war, in denen Briefe von der Antike bis in die Gegenwart verlaßt wurden, scheint hier
in Vergessenheit geraten zu sein. 27 Die Vorstellung, der Brief sei durch einen individuellen Autorenstil geprägt, wird der Formenvielfalt dieses Mediums und seinem Wandel nicht gerecht. Die mittelalterliche ars dictaminis und die frühneuzeitlichen Briefsteller waren in gewissem Maße dafür geschaffen, daß sich nicht in jedem Brief Individualität offenbarte, denn das wäre, wo sie gesellschaftlich unangebracht war, den Zwecken und Interessen des Briefschreibers hinderlich gewesen. Es wird leicht übersehen, daß dies auch heute noch gilt. Unter diesen Vorgaben kann man von einer Medien- und Kommunikationsgeschichte des Briefes nur orakeln - etwa, daß sie nicht wie die germanistisehe Briefgeschichte Gattungs-, sondern Funktionsgeschichte sein müßte. Sie müßte den Brief (nun im gattungsbegrifflichen Kollektivsingular verstanden, der eine Pluralität von Formen und Inhalten umgreift) jeweils in Medienspektren verorten , Formenvielfalt und Formenwandel aus der Veränderung von ,Medienlandschaften ' verständlich machen. Dies setzt zugleich eine soziokulturelle Einordnung voraus. Denn Formen und Funktionen sind untrennbar mit Gebrauchsweisen und ihren Rahmenbedingungen (Bildung, Botensysteme, Post usw.) verbunden. Am weitesten in diese Richtung sind bisher vergleichende Forschungen zu den bedeutendsten europäischen Korrespondenzen von Humanisten, Reformatoren und Gelehrten im Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution gegangen. Es sind auch diese Forschungen zur respublica litteraria, die sich vom Individualfokus am weitesten abgelöst und sich für die ganze Vielfalt des Austauschs geöffnet haben, der in und mit Briefen abgewickelt wurde. 28 Dazu gehörte neben der, weichen Ware' der Meinungen und des Wissens auch die ,harte Ware' der Naturalien und überhaupt der Geschenke. Dazu gehörte - nicht zu vergessen - auch die Mitteilung von Nachrichten.
Bei Maurer, Briefe (wie Anm. 26), werden Fragestellung und Gegenstand konsequent verwechselt, und die Verwechslung erklärt sich sogar noch zur Norm: In erster Linie sei der Brief "als Quelle über den Autor zu lesen" (S. 350), als ob es nicht eine Unmenge denkba-:: rer und sinnvoller Fragestellungen gibt oder geben könnte, mit denen Historiker an Briefe als Quellen herantreten, ohne daß sie sich im mindesten für den Autor interessieren müßten. 28 Eine solche Forschung hat Daniel Roche, Les primitifs du Rousseauisme: une analyse sociologique et quantitative de la correspondance de J. J. Rousseau, in: Annales 26, 1971, 151-172, bereits gefordert. Von Roche stammt auch die grundlegende Studie: Les republicains des Lettres. Gens de culture et lumiere aux XVIIIe siede. Paris 1988. In die gleiche Richtung gehen folgende Sammelbände, in denen weitere Hinweise auf die umfangreiche Literatur zum Thema zu finden sind: Hans Bots/Franc;oise Waquet (Eds.), Commercium Litterarium. Forms of Communication in the Republic ofLetters 1600-1750. Amsterdaml Maarssen 1994; dies. (Eds.), La Republique des Lettres. Paris 1997. 27
Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes (wie Anm. 21). Einen neueren Überblick zur Geschichte des Briefes von der Antike bis zur Frühen Neuzeit findet man bei: Giles Constable, Letters and Letter-Collections. (Typologie des sources du moyen age occidental, Vol. 17.) Turnhout 1976. Steinhausens Opus ist nach wie vor die umfassendste deutschsprachige Darstellung zum Brief, die wir haben, und sie berücksichtigt auch das Phänomen der brieflichen Nachrichtenmitteilung. Aber sie ist mehr als einhundert Jahre alt, und das sieht man ihr auch an: Kein emstzunehmendes Mitglied der Scientific Community würde heute noch dem "Volks geist" oder "Volkscharakter" in Briefen nachspüren. 25 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1991, 113 (zuerst: Neuwied 1962). 26 Michael Maurer, Briefe, in: ders. (Hrsg.), Aufriß der historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Stuttgart 2002,349-372, hier 349.
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Franz Mauelshagen
Netzwerke des Nachrichtenaustauschs
III. Postulate für die Erforschung von Nachrichtenkorrespondenzen
, dem Brief' im zuvor kritisierten essentialistischen Verständnis als Bezugsgröße ausgeht. Kor:espondenzen waren keineswegs nur die Grundlage des persönlichen Nachnchtenaustauschs unter ,privaten' Briefschreibern. Handschriftliche Korrespondenzen waren auch die Grundlage für Novellanten und die Herausgeber ~er ersten gedruckten Zeitungen. 3o Daher stammt die Bezeichnung , N achnchtenkorrespondent'. Schon der auch als Nachrichtenschreiber tätige Kunsthändler Philipp Hainhofer (1578-1647) sprach 1611 in einem Brief von seinen Prager "Correspondenten".31 Caspar Stieler betont, was ein rechtschaffener und verständiger Postmeister sei, der stütze seine Informationen auf "ehrliche, unbescholtene und glaubhafte Männer [... ] / die den Stat inne haben / mü geheimen Sachen umgehen / und hin und wieder zuverlässige Correspondenz halten".32 Es läßt sich auch begriffs geschichtlich rechtfertigen: die Korrespondenzen der Novellanten in die allgemeine Analyse einzubezIehen. Gerade wenn es um Nachrichten geht, wird es unumgänglich sein, Korresponde~zen verschiedenen Charakters in eine Betrachtung zu integrieren. Das schlIeßt auch den Nachrichtenaustausch zwischen frühneuzeitlichen Stadtobrigkeiten ein. 33 Erst von einer Gesamtanalyse des Phänomens aus ließen sich Ausdifferenzierungsprozesse beobachten und beschreiben die vom linearen Ablösungsmodell der Pressegeschichte wegführen und es i~ Kontext einer übergreifenden Komrnunikationsgeschichte ersetzen könnten. Zweitens sollte eine strukturelle Analyse von Korrespondenzen Netzwerke des Nachrichtenaustauschs rekonstruieren und mÜeinander vergleichen. Netzwerk ist heute eine Schlüsselkategorie der Medien- und Publizistikwissenschaften. 34 Es dürfte auch zu einer Schlüsselkategorie der Medien- wie der Kommunikationsgeschichte werden. Da Nachrichtenmitteilungen in der Frühen Neuzeit an Korrespondenzen und ihre Verteilungs chancen geknüpft
In den ersten bei den Abschnitten dieses Beitrags wurde der bisher gültige Rahmen für die Analyse des handschriftlichen Nachrichtenaustauschs abgesteckt. Er läßt sich knapp auf das Gegensatzpaar , Öffentlichkeit' versus ,Privatheit' bringen. Sah die Pressegeschichte ihren Fokus in der Entstehung einer modernen Öffentlichkeit, waren Ansätze, die mit Briefen als Quellen arbeiteten, überwiegend auf den Gegenpol ausgerichtet. Dies bedingte, daß briefliche Nachrichtenmitteilung nur im Hinblick auf die Entstehung gedruckter Zeitungen, also im pressegeschichtlichen Rahmen, untersucht wurden. Von diesen Vorgaben haben sich auch neuere Forschungen nicht befreit. Besonders in Deutschland kommt hinzu, daß die Debatte um Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" seit bald dreißig Jahren alle Überlegungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte beherrscht. Zu den Effekten muß auch das verbreitete Verfahren gerechnet werden, bestimmte Medien den ,Sphären' der Öffentlichkeit, der Privatheit oder auch des Geheimnisses zuzuordnen. Besonders im Falle des Briefes führt dies zu Verkürzungen. Ein weiterer Aspekt des Problems liegt in der Gleichsetzung des Briefes mit einem eigenständigen Medium. Dabei kann ,Brief' auch schlicht eine Form der schriftlichen Kommunikation bezeichnen, die anderen Schriftmedien integriert wird und neue Funktionen übernimmt29 : Briefe konnten in Briefsammlungen, auf Flugblättern, in Flugschriften oder - seit dem 17. Jahrhundert zunehmend - in wissenschaftlichen Journalen abgedruckt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität ist es völlig abwegig, ,den' Brief inhaltlich durch Privates und Persönliches und von seinem Verbreitungsgrad her durch die Grenzen schriftlicher oder mündlicher Mitteilung zu definieren. Die kritische Revue bisher vorherrschender Forschungsansätze sollte vor allem einen Bedarf an geeigneten Konzepten zum Verständnis brieflicher Nachrichtenkommunikation in der Frühen Neuzeit aufdecken. Nun ist jede Kritik dazu verurteilt, fruchtlos zu bleiben, wenn nicht Alternativen formuliert werden können, die sich aus ihr ergeben. In der gebotenen Kürze möchte ich mich auf fünf Postulate der Forschung beschränken. Erstens sollte eine strukturelle Analyse im Mittelpunkt der Überlegungen zum handschriftlichen Nachrichtenaustausch stehen, die von Korrespondenzen, nicht von einzelnen Briefen oder gar ideologischen Konstruktionen wie
29 Ich verzichte hier auf eine Definition von ,Medium', weise jedoch darauf hin, daß ich für eine formale, möglichst weite und für umgangssprachliche Gebrauchsweisen offene Definition des Begriffs plädiere, wie in der Einleitung zu: Franz MauelshageniBenedikt Mauer (Hrsg.), Medien und Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit. (Documenta Augustana, Bd. 4.) 2. Aufl. Augsburg 2001,9-31, hier 12-14, dargelegt.
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30 M~rio Inf~lise, Le marche des informations a Venise au XVIIe siede, in: Henri Duran~onlPlerr~ Retat (E~s.), Gazettes et info,.rmation politique sous l' Ancien Regime. Avec une mtrod~ctlOn de Ke~th M. Baker. Saint-Etienne 1999,117-128, hier 118, charakterisiert die e~ropaIsche Nachrichtenkommunikation im 16. und 17. Jahrhundert - unter Verweis auf die ~re.ssezensur und die Schnelligkeit von Nachrichtenbriefen - als Zirkulation handschnfthcher Texte. 31 Hainho~~r an den Herzog von Pommern: Herzog-August Bibliothek, Cod. Guelf. 2~, fol. 248, zItiert nach Behringer, Merkur (wie Anm. 3), 344, der das Schreiben auf Januar 1611 datiert. 32 Stieler, Zeitungs Lust und Nutz (wie Anm. 20), 51. 3~ Zum städtische~ Nachrichtenaustausch vgl. Lore Sporhan-Krempel, Nürnberg als Nachnchtenzentrum ZWischen 1400 und 1700. Nürnberg 1968. 34 V gl. et:vva Manfred Fassler, Netzwerke. Einführung in die Netzstrukturen, Netzkulturen und verteIlte Gesellschaftlichkeit. München 2001; Gudrun Gersmann, Von den Netzwerk~.n de~ 18. Jahrhu~derts zum Internet - Kulturtransfer und neue Medien, in: Hans-Jürgen LusebnnkIRolf Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich _ ~eutschland 1770 bis 1815.2 Bde. (Deutsch-Französische Kulturbibliothek, Bd. 9.) LeipZIg 1997, Bd. 1, 139-142.
waren, ist Vernetzung der analytische Schlüssel zum Phänomen. 35 Die in verschiedenen Gebieten historischer Forschung bewährte sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse bietet sich auch für Korrespondenzen als Instrument an, dessen Anwendbarkeitsbedingungen im einzelnen geklärt werden müssen. Wo systematische quantitative Analysen nicht möglich sind, weil Grundlagen wie die Erschließung einzelner Briefwechsel oder der mit ihnen getauschten Briefzeitungen (auf separaten Zetteln) nicht in ausreichendem Maße gegeben sind, könnten Mikroanalysen am Beispiel geschickt ausgewählter Einzelnachrichten Aufschluß versprechen. 36 Die großen bekannten Korrespondenzen der Frühen Neuzeit stammen von Humanisten, Reformatoren, Kaufleuten, Politikern, mehr oder weniger von Gebildeten. Ob Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Heinrich Bullinger oder Johannes Kepler - sie alle nutzten ihre Briefwechsel zur Nachrichtenübermittlung. Die Regelmäßigkeit der Berichterstattung hing von der Frequenz eines Briefwechsels ab, und die Organisation der Nachrichtenverbreitung war eine Frage von Ausbau und Leistungsfähigkeit eines Korrespondenznetzes. Aber bisher waren Forschungen zu sehr auf einzelne Akteure fixiert, auch da, wo nicht das ,modeme Individuum' Leitperspektive war. Ein anderes Paradigma, auf das sich die meisten Editionen europäischer Briefwechsel der Neuzeit stützen, hat nämlich ganz ähnliche Effekte hervorgebracht: das Paradigma der ,großen Männer', die Geschichte gemacht haben. So gibt es zwar plausible Annahmen zur Stellung einzelner Teilnehmer in der Geschichte der handschriftlichen Nachrichtenkommunikation in Europa, jedoch keine verläßlichen vergleichenden Studien. Heinrich Bullinger oder Philipp Melanchthon gehörten zweifellos zu den bestinformierten Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts, aber allein schon das Verhältnis ihrer Nachrichtennetze zueinander ist eine offene Frage - ganz zu schweigen vom Nachrichtenfluß im Kreis reformatorischer Führungspersönlichkeiten, zu de3~ Robert A ..Ha~ch, Corresp?ndence Networ~s, in: Wilbur Applebaum (Ed.), Encyc1opedla of the SCl~~tIfic RevolutIOn from Copermcus to Newton. (Garland Reference Library ofthe Humamtles 1800.) New YorkILondon 2000,168-170, hier 168, weist mit Bezug auf Gelehrtennetzwerke des 17. Jahrhunderts darauf hin, daß es sich nach wie vor um ein Desiderat handelt. Anknüpfungspunkte für den Vergleich von Briefnetzen bietet Robert A. Hatch, B.etwee~ Eru?ition and Science: the Archive and Correspondence Network of Ismael Bomllau, m: MIchael Hunter (Eds.), Archives of the Scientific Revolution. The Formation and Exch.ange of Ideas in Seventeenth-Century Europe. St. Edmunds 1998, 49-7 1.. Wolfgang Reznhard, Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen K~n.e 1m 17. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Blbhotheken 76, 1996, ~08-334,.stel1t das Projekt der Untersuchung eines Patronage-Netzes vor, das auf dem reIchen Bnefwechsel des Kardinalnepoten Scipione Borghese aufbaut. 36 Mehrere Beispie.le f~r dieses yorgehen bietet Renate Pieper, Die Vermittlung einer Neu~n We~t. Amenka 1m Nachnchtennetz des Habsburgischen Imperiums 1493-1598. (Veroffenthchungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 163.) Mainz 2000.
nen auch Joachim Vadian, Johannes Calvin, Theodor de Beze, Martin Bucer, Ambrosius Blarer und andere, nicht zuletzt natürlich Martin Luther, gehörten. Ähnlich steht es mit dem Informationssystem bedeutender Handelshäuser: Die Fuggerzeitungen sind längst kein Geheimtip mehr unter Frühneuzeithistorikern. Man weiß um Augsburg als Nachrichtenzentrum im Alten Reich, verweist auf die Sammlung handgeschriebener Zeitungen in der Österreichischen Nationalbibliothek, weiß, daß es sich nicht um ein singuläres Phänomen gehandelt haben kann, vermutet, daß die Fugger besonders gut informiert waren, aber es fehlt an fundierten Vergleichen mit anderen Handelshäusern Europas, um beurteilen zu können, ob Informationsunterschiede auch wirtschaftlich einen Unterschied gemacht haben. Die Untersuchung von Netzwerken würde solche Vergleiche einschließen. Drittens: Um bekannte Pauschalerklärungen für die Genese des neuzeitlichen Nachrichtensektors zu ersetzen, sollte die gesellschaftliche Relevanz von Nachrichten in der Frühen Neuzeit untersucht werden. Es liegt nahe, dabei von einer sozial differenzierten Bedeutung der Information für das Handeln verschiedener Gruppen auszugehen. Das unternehmerische Handeln bietet sich für eine solche Fragestellung als Ausgangspunkt an. Michael Schilling schreibt, das Nachrichtensystem der Fugger habe "in erster Linie den geschäftlichen Interessen der Fugger" gedient, "die auf der Grundlage schneller und verläßlicher Informationen günstigere und besser kalkulierte Dispositionen treffen konnten als die weniger gut informierte Konkurrenz". 37 Das ist eine plausible, bisher aber noch nicht durch historisch vergleichende. betriebswirtschaftliche Studien gestützte These. Bisherige Untersuchungen konnten das Spektrum wirtschaftlicher Berichterstattung in den Fuggerzeitungen aufzeigen, das von den Ladungslisten der Westindienflotte, Nachrichten über den Sklavenhandel, Kursberichten von den Börsen in Antwerpen und Amsterdam, Medina deI Campo, Lyon und Besan90n sowie Mitteilungen über Bankrotte bis zu Ausblicken über die wirtschaftliche Lage, besonders der Niederlande, Italiens, Deutschlands und Frankreichs, reicht. 38 Aber diese Untersuchungen integrieren ihre Ergebnisse nicht in eine umfassendere Studie zur Handelspolitik der Fugger, obwohl im 16. Jahrhundert die Bedeutung politischer und wirtschaftlicher Nachrichten für den Handel längst außer Frage stand. In Emden wurde den Kaufleuten d.ie Michael Schilling, Zwischen Mündlichkeit und Druck: Die Fuggerzeitungen, in: HansGert Roloff (Hrsg.), Editions-Desiderate zur Frühen Neuzeit. Amsterdam 1996, 717-727, hier 719. 38 Kaspar Kempter, Die wirtschaftliche Berichterstattung in den sogenannten Fuggerzeitungen. (Zeitung und Leben, Bd. 27.) München 1936. Nichts Neues erfährt man aus einer in Linz entstandenen Diplomarbeit: Gottfried Dantlinger, Die Fuggerzeitung als Instrument des innerbetrieblichen Kommunikationswesens. Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Johannes Kepler Universität Linz. Linz 1980 (Österreichische Nationalbibliothek, 1,169.577 -C). 37
Post aus Portugal in einem Bürgerhaus vorgelesen. Ebenso auf der ,Bursch' in Antwerpen. Gelegentlich sind Rückwirkungen auf die Börse nachweisbar. 39 Daß Schreckensmeldungen hier in kürzester Zeit Furore machten und Krisen hervorriefen, ist also schon lange vor dem 20. Jahrhundert greifbar. Teils beabsichtigte Falschmeldungen führten bereits ;'zu einem vorsichtigen Umgang mit aktueller Berichterstattung. Die Rolle des Zeitfaktors wird erst dann bestimmt werden können, wenn sich die Nahtstellen zwischen N achrichtennetzwerk und ökonomischem Handeln an einer Vielzahl von Beispielen aufzeigen lassen. Die Handlungsrelevanz von Nachrichten kann natürlich nicht nur im wirtschaftlichen Kontext untersucht werden, sondern bei allen früher erwähnten Korrespondenzen, etwa am Austausch unter Reformatoren während verschiedener Krisensituationen: während des Schmalkaldischen Krieges oder im Zusammenhang der Ereignisse um die Bartholomäusnacht 1572, um weitere Beispiele zu nennen. Viertens: Mit dem netzwerkanalytischen Zugriff sollte eine Untersuchung des sozialen Kapitals verbunden werden, die von der Makroebene der Netzwerke auf die Akteursebene und auch zu Inhalten führt. Fragen wie die der Glaubwürdigkeit einer Nachricht - aus zeitgenössischer Perspektive, versteht sich - lassen sich nicht unabhängig von der Reputation einer Nachrichtenquelle beurteilen, die Teil des sozialen Kapitals ist. Der handschriftliche Nachrichtenaustausch unter Humanisten oder Reformatoren ist voll von Hinweisen auf Skepsis gegenüber einzelnen Meldungen, die oft mit Rücksicht auf die eigene Vertrauenswürdigkeit betont wurde. Solche Vorbehalte waren ein wichtiges Signal im Umgang mit unsicheren Meldungen. Generell gilt, daß Vertrauenswürdigkeit der Quelle bei der Nachrichtenübermittlung wie in allen Fragen der Wahrheit, die nicht durch unmittelbare Prüfung von seiten des Empfängers geklärt werden konnten, ein wichtiger Maßstab war. Eine Atmosphäre der Vertraulichkeit (jamiliaritas) hatte entscheidenden Anteil an der Vertrauensbildung, die sich auch auf den Inhalt einer Nachricht übertragen konnte. 4o Hier zeigt sich ein lange bestehender Vorteil der Anbindung an Privatbriefe, genauer gesagt: des Nachrichtenaustauschs im Zusammenhang mit Briefen, die im genus familiare gehalten waren, gegenüber der Anonymität gedruckter Nachrichten.
V gl. Fitzler, Fuggerzeitungen (wie Anm. 3), 20. Zur Bedeutung des Vertrauens im brieflichen ,Networking' der Gelehrtenrepublik vgl. Franz Mauelshagen, Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Dte Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, 119-151 (englische Fassung mit leichten Ergänzungen: ders., Networks ofTrust. Scholarly Correspondence and Scientific Exchange in Early Modem Europe, in: Medieval History Journal 611, 2003, 1-32).
Noch weit bis ins 18. Jahrhundert hinein, vielfach darüber hinaus, wurde der persönlichen Mitteilung größere Zuverlässigkeit zugeschrieben als der Berichterstattung in gedruckten Zeitungen, deren Reputation im allgemeinen nicht sehr hoch war. 41 Nachrichten, für die ein vertrauenswürdiger Partner mit seinem , guten Namen' bürgte, wurden häufig allen anderen - auch mehreren übereinstimmenden - vorgezogen. Der Nachrichtendruck hat manchmal, besonders in brisanten Fällen, die Wiedergabe von Privatbriefen als Beglaubigungsstrategie angewendet. 42 Unter Gesichtspunkten der Intermedialität verdienen mit solchen Strategien verbundene Übertragungen persönlicher Qualitäten auf das Medium und seine message besondere Aufmerksamkeit. Fünftens schließlich sollte bei der Analyse von Nachrichtenkorrespondenzen Nachrichtenpolitik eine zentrale Rolle spielen. Auf der Ebene von Korrespondenzen ist damit weniger die Politik von Stadtobrigkeiten oder Fürsten gemeint, die sich bestimmter Nachrichtenmedien als Instrument für Propaganda oder der Zensur zur Einschränkung der Berichterstattung bedienten. Vielmehr geht es um Verhältnisse von Inklusion und Exklusion, die sich in Netzwerken herausbilden. Nachrichtenpolitik verschwindet hinter Substantialisierungen wie , Geheimnis', ,Privatheit' und, Öffentlichkeit'. Wie jede Politik ist sie zuerst Akt, nicht Substanz, und das gilt in aller strukturellen Bedingtheit, die selbstverständlich berücksichtigt werden sollte. Nicht Geheimnis, sondern Geheimhaltung, nicht Öffentlichkeit, sondern Veröffentlichung - oder auch Propaganda - rücken damit in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zwar können solche Akte wiederum auf Öffentlichkeit oder ihre Umgehung zielen oder Versuche darstellen, die ,öffentliche Meinung' auf die eine oder andere Weise zu beeinflussen; Öffentlichkeit und Geheimnis, etwa das des frühneuzeitlichen Fürsten, sind somit politische Faktoren oder Pole, die ein Spannungsfeld für Informationspolitik abstecken. Informationspolitik entfaltet sich in diesem Rahmen, den sie allerdings stets zugleich mitkonstituiert. Das ist die Perspektive eines nicht-essentialistischen Ansatzes, der eine dynamische und zugleich radikal historisierende Sicht impliziert, für die ,Sphären' von Geheimnis oder Öffentlichkeit nicht schlechthin, , an und für sich' oder , sui generis' bestehen.
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Anders Behringer, Merkur (wie Anm. 3),317, mit Bezug auf die Meßrelationen. Vgl. zum Aspekt des Vertrauens in die an die Post gekoppelte Nachrichtenüberrnittlung der gedruckten Zeitungen ebd. 355. 42 Vgl. Adam, Textelemente des Briefes (wie Anm. 10),343-348.
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Teil 6 Der Körper als Medium
Der Körper als Medium Einleitung Von
Rudolf Schlögl Der Körper hat etwas Verführerisches für Historiker, insbesondere wenn sie Kulturgeschichte betreiben. Diese Eingängigkeit und Präsenz des Themas birgt freilich auch Gefahren. Man sieht dies in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen: Nachdem die "Welt als Text" den Protagonisten des linguistic turn zwischenzeitlich zu fragil und flüchtig geworden ist, rückt der Körper ein in die Stelle einer gewißheitsverbürgenden Fundamentalkategorie historischer Erkenntnis: In Körperbildern kondensieren Diskurs und lebensweltliche Struktur der frühneuzeitlichen Gesellschaft; deswegen finde der Historiker in der Körpererfahrung der historischen Subjekte eine (letzte) sichere Orientierung bei seiner Suche nach Objektivität und Wahrheit - so wurde kürzlich argumentiert. Diskurs und Körper spannen demnach gemeinsam den Raum auf, in dem Geschichte sich vollzieht. 1 Man wird sich fragen, ob dem Körper, der gleichzeitig in der geschlechtergeschichtlichen Forschung in fundamentaler Weise historisiert und als Produkt von Diskursen ausgewiesen wurde, damit nicht eine zu große Last aufgebürdet wird. Auch für die sozialhistorisch orientierte Frühneuzeitforschung hat der Körper einen gewissermaßen natürlichen Ort in der Kommunikation unter Anwesenden. Die an ihn gebundenen Zeichen und seine Gestik sind aus dem sozialen Verkehr einer vormodernen face-to-face-Gesellschaft nicht wegzudenken. 2 Weil aber Interaktion unter Anwesenden sich in der Vormoderne in nahezu allen Bereichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auffinden läßt, geriet über dieser Selbstverständlichkeit, mit der wir den Körper thematisieren, weitgehend aus dem Blick, daß sich in der Frühen Neuzeit fundamentale Wandlungsprozesse vollzogen, in deren Verlauf soziale Strukturzusammenhänge und Ordnungsmuster entstanden, die von raum- und zeitübergreifenden Medien getragen wurden und sich deswegen von Kommunikation unter An1 Lyndal Roper, Jenseits des linguistic turn, in: HA 7, 1999, 452-466; Ulinka Rublack, Erzählungen vom Geblüt und vom Herzen. Zu einer historischen Anthropologie des frühneuzeitlichen Körpers, in: HA 9,2001,214--232, bes. 232. 2 Beispielsweise Regula Schmid, Reden, Rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits 1469-1471. Zürich 1995; Simon Teuscher, BekannteKlienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt. Bern um 1500. (Norm und Struktur, Bd. 9.) Köln/Weimar/Wien 1997. Imponierend für das Mittelalter: Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Stuttgart 1992.
wesenden entfernten. Gesellschaft löste sich offenkundig von Interaktion. Damit gewann Organisation als Sozialmodell eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung, und es konnten sich funktionsbestimmte soziale System- und Handlungszusammenhänge wie Recht, Wissenschaft, Wirtschaft oder auch Politik ausdifferenzieren, in denen Kommunikition durch symbolisch generalisierte Medien koordiniert wurde. 3 Mit diesem Wandel nicht nur der sozialen Formen, sondern in den Grundmustern der sozialen Strukturbildung erhielten auch Interaktion und mit ihr der Körper als Kommunikationsmedium eine frühneuzeitliche Geschichte. Nach wie vor vollzog sich Soziales auch als Kommunikation unter Anwesenden, aber man kann sehen, daß die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen der Interaktion einen neuen historischen Ort zuwies und damit auch dem Körper als Kommunikationsmedium Formveränderungen abverlangte. Eine Geschichte des (frühneuzeitlichen) Körpers als Kommunikationsmedium muß sich daher der Historizität von Körperkonzepten und Körperwahrnehmungen stellen, und sie braucht eine historisch ausgearbeitete Typologie der Formen sozialer Kommunikation, die es erlaubt, die kommunikative Leistung des Körpers situationsbezogen zu bestimmen. Aus dieser Überlegung heraus ergibt sich auch die Auswahl der hier versammelten Beiträge. Sie bearbeiten ausgewählte Aspekte dieses breiten Fragehorizonts, indem sie die mediale Funktion des Körpers in einzelnen kommunikativen Figurationen möglichst genau erfassen, ohne über der Arbeit am historischen· Detail die begriffliche Reflexion zu vergessen. lörn Sieglerschmidt geht zunächst nochmals auf die verzweigte Theoriegeschichte in den Kulturwissenschaften ein, deren Nachvollzug uns das neue Interesse für den Körper und die performative Dimension von Kommunikation verständlich machen kann. Der Blick in diese Wunderkammern der Theorie vermittelt deswegen gleichzeitig Hinweise auf Themen und Methoden einer künftigen Geschichte der Kommunikationsmedien. Franz-lose! Arlinghaus beobachtet die Bedeutung der Körpersprache in der Ausdifferenzierung des Rechtssystems seit dem 15. Jahrhundert. Die langsame Institutionalisierung des Rechts, wie sie in separaten Gerichtsgebäuden, Urkundenformularen oder richterlichen Amtstrachten nachvollziehbar wird, war offenkundig nicht damit verbunden, daß der Körper als Kommunikationsmedium im gerichtlichen Vollzug des Rechts rapide an Bedeutung verlor. 3 Das systemtheoretische Differenzierungsmodell bei Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt am Main 1997, 634-775. In den nicht-soziologischen Kulturwissenschaften ist dieses Differenzierungsmodell in meist anderer Terminologie am besten greifbar, wenn es um Säkularisierung geht; vgl. Ernst- Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976,42-64 (Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation).
Stefan Haas untersucht Hochzeiten im 16. und 17. Jahrhundert als ein durch Körperbilder und Körperrituale gestaltetes Übergangsritual, in dem die Beteiligten ein Bild der rechten gesellschaftlichen Ordnung entwerfen und dem Hochzeitspaar darin einen Platz zuweisen. Mit der obrigkeitlichen Einhegung der Ehe wurde gleichzeitig auch die Körperperformanz verdächtig und zunehmend reglementiert. Mark Hengerer thematisiert den Körper aus der anderen Perspektive und fragt, ob und unter welchen Umständen Körper in unterschiedlichen Sozialsystemen zum kommunikativen Störfaktor wurden. Im politischen Raum des Hofes etwa behält der Körper als Kommunikationsmedium seine dominierende Bedeutung, wie sich im Zeremoniell und im ganzen Diskurs der Höflichkeit mühelos nachvollziehen läßt. Andererseits ist bereits seit dem 16. Jahrhundert unverkennbar, daß gerade dort, wo Politik in Behörden sich als Organisation formierte, man den Gestus des Körpers aus der organisationsbezogenen Kommunikation auszugrenzen oder seine Wahrnehmung zu neutralisieren suchte.
Kommunikation und Inszenierung Vom Nutzen der Ethnomethodologie für die historische Forschung Von
Jörn Sieglerschmidt People are mourning about the fact that they can't communicate. I think the very least they can do is: to shut up.l
1. Kommunikation Kommunikation begründet die soziale Welt, so könnte verkürzend auf die Bedeutung der Beschäftigung mit kommunikativen Vorgängen hingewiesen werden. Grundsätzlich liegt diese Aussage allen Arten des Konstruktivismus zugrunde, soweit es sich um philosophische und sozialwissenschaftliche Arbeiten handelt. Weder soll hier der Versuch gemacht werden, die zahlreichen Spielarten des Konstruktivismus gegeneinander abzugrenzen, noch der Versuch, die unterschiedlichen Auffassungen des Konstruktivismus miteinander zu vereinbaren, doch ist nicht zu verkennen, daß in der kantischen Tradition gemeinsame Wurzeln liegen, deren Weiterverfolgung bis zu den neurophysiologisch inspirierten Aussagen des radikalen Konstruktivismus lohnend wäre2, da ein gemeinsames Thema verhandelt wird: die Konstitution der sozialen Welt des Menschen sowie die Auswirkung solcherart festgestellter KonstituTom Lehrer, That was the year that was. Reprise Records 1966. Christian Thiel, Konstruktivismus, in: Jürgen Mittelstrass/Gereon Wolters (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. MannheimlWien/Zürich 1984, 449-453; Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1970 [zuerst: Th,e Social Construction of Reality. Garden City 1966]; Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs 1967; Erving Goffinan, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. 5. Aufi. Frankfurt am Main 2000; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Berlin 1932; ders., The Problem of Social Reality. (Collected Papers, Vol. 1.) Den Haag 1962; Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Frankfurt am Main 1987; ders., Die Wirklichkeit des Beobachters, in: Klaus MerteniSiegfried J. Schmidt/Siegfried Weichenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994, 3-19; Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 5. Aufi. Frankfurt am Main 1997. 1
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tionsbedingungen auf sein Handeln. Wichtig sind solche grundsätzlichen Überlegungen in der Geschichtswissenschaft deswegen, weil diese sich noch immer und in der Tradition der Historik lieber den Konstitutionsbedingungen ihres Gegenstandes - konkretisiert in Darlegungen über die Authentizität der historischen Quellen und die einschränkende Notwendigkeit des Erzählens annimmt als der Konstitution des Wissens und damit ihrer eigenen Voraussetzung. Ebenfalls können hier nicht die sichtbaren Bezüge des soziologischen Konstruktivismus sowohl zur Diskurstheorie von Michel Foucault, zum Habituskonzept Pierre Bourdieus als auch zum Dekonstruktivismus von Jacques Derrida oder Gilles De1euze behandelt werden. Harold Garfinkei, auf den gleich näher eingegangen wird, wie den Genannten ist eines gemeinsam: die Absage an jegliche transzendentale Konstruktion der Wirklichkeit im Sinne einer nicht hintergehbaren, festen Ordnung. Allerdings sind sowohl bei Garfinkel als auch bei Michel Foucault Ansätze dazu insofern zu erkennen, als bei HaraId Garfinkel die Ordnungsleistung menschlicher Kommunikation, bei Michel Foucault die Macht als nicht weiter hinterfragbare Zielpunkte sozialen Handeins erscheinen. Kommunikation wird im folgenden nicht hinsichtlich ihrer materiellen und notwendigen - Bedingungen befragt. Weder soll eine Geschichte der Verkehrswege bzw. -mittel (Pfad, Straße, Schiene, Autobahn; Fuß, Pferd, Ochse, Esel, Kamel, Schiff, Eisenbahn, Kraftfahrzeug, Flugzeug) oder der Kommunikationsmedien (Sprache, Bild, Schrift, Druck, Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet) und ihrer technischen Entwicklung wiederholt werden, obwohl zahlreiche Themen auch für die Geschichtswissenschaft keineswegs eingeholt worden sind. Infrastrukturellen Bedingungen der historischen Entwicklung (neben Bildung und anderen - vielfach staatlichen - Institutionen auch die Verkehrswege) ist lange Zeit als Voraussetzung der Veränderung von Wahrnehmungen und als Bedingung tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umwälzungen zu wenig Beachtung geschenkt worden} Kommunikationsmedien dagegen sind zumal im Umkreis des Gutenberg-Jahres vielfach in den Blick gekommen und Thema zahlreicher Arbeiten geworden, die sich mit dem historischen Gedächtnis sowie der Veränderung von Formen und Inhalten durch die technische Entwicklung auseinandersetzen. 4 In der historischen 3 Eine historische Regionalforschung, die sich an Modellen der geographischen Forschung orientiert und das Paradigma der heimat- bzw. landesgeschichtlichen Forschung endgültig verläßt, ist noch immer nicht in Sicht. Für die Frühe Neuzeit könnten Arbeiten wie die von Robin Alan ButlinlRobert A. Dodgshon (Eds.), An Historical Geography of Europe. Oxford 1998, als Vorbild dienen. 4 AleidaAssmanniManfred Weinberg/Martin Windisch (Hrsg.), Medien des Gedächtnisses. (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderh. 71.) StuttgartlWeimar 1998; Aleida AssmanniHeidrun Friese (Hrsg.), Identitäten. (Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 3.) 2. Aufi. Frankfurt am Main 1999; Jochen Hörischl
Forschung sind jedoch gründliche Auseinandersetzungen mit den Folgen von Schriftlichkeit (und Mündlichkeit) zum Beispiel für den Quellenbegriff Mangelware. Das Pionierwerk einer auch die Frühe Neuzeit erschließenden Mediengeschichte verweist auch auf das Desiderat weiterer Quellenfundierungen. 5 All diese wichtigen und spannenden Themen müssen im folgenden beiseite gelassen werden, damit eine Konzentration auf Formen der Kommunikation möglich wird, die sich im Umgang mit anderen Menschen, mit Lebewesen und mit Sachen vorfinden lassen. Die Kulturwissenschaften sind seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wendefreudig. Auch die historische Forschung hat sich als wendungsreich erwiesen: linguistic turn, rhetoric turn, iconic turn, performative turn als neueste Kreation. Wie auch immer der Einfluß der jeweiligen Wende auf die historische Forschung zu beurteilen ist, sie laufen auf eines hinaus: die Festigkeit der historischen Bilder zu untergraben und auf die Fiktionalität des Quellenmaterials wie seiner Verwendung in Darstellungen hinzuweisen. Fiktionalität schafft die Unsicherheit, die nicht ausschließlich nach Inhalten und Referenzen zur sogenannten Wirklichkeit fragen läßt, sondern auch die Form, die Darstellungsverfahren in den Blick nimmt. 6 Die Betonung des Narrativen, die spätestens seit dem Aufsatz von Lawrence Stone immer wieder zum Gegenstand grundsätzlicher Erwägungen geworden ist?, hat nicht dazu geführt, in einem bereits bei Hayden White vorgeschlagenen Forschungspragramm sich der Erzählverfahren historischer Darstellungen im Detail anzunehmen8 . Bereits Johann Gustav Draysen hat vier Erzählformen historischer Darstellung beschrieben, um zugleich die Standortgebundenheit historischen Erzäh-
Girm'd Raulet, Sozio-kulturelle Auswirkungen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. (Deutsch-Französische Studien zur Industriegesellschaft, Bd. 15.) Frankfurt am Main 1992; Jochen Hörisch, Mediengenerationen. Frankfurt am Main 1997; Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. 5 Werner Faulstich, Geschichte der Medien. 5 Bde. Göttingen 1996-2004. 6 Mit dem Begriff, Verfahren' wird eine Denkfigur des sogenannten russischen Formalismus aufgenommen: die Kunst als Verfahren; vgl. Viktor Sklovskij, Die Kunst als Verfahren (1916), in: Jurij Striedter (Hrsg.), Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 6.) München 1969,2-35. .7 Lawrence Stone, The Revival of Narrative: Refiections on a New Old History, in: P & P 85, 1979, 3-24. Die Arbeit von Gertrud M. Koch, Zum Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung. Theorie und Analyse. (Arbeiten zur Ästhetik, Didaktik, Literaturund Sprachwissenschaft, Bd. 10.) Frankfurt am Main/Bern 1983, ist der Frage des literarischen Umgangs mit Geschichte gewidmet, enthält im ersten Teil aber eine aufschlußreiche Übersicht über das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung seit der Antike. 8 Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. (Sprache und Geschichte, Bd. 10.) Stuttgart 1986, bes. 101-122 [erstmals veröffentlicht als: The Structure of Historical Narrative in- Clio 1 1972, 5-20]. ,. ,
tionsbedingungen auf sein Handeln. Wichtig sind solche grundsätzlichen Überlegungen in der Geschichtswissenschaft deswegen, weil diese sich noch immer und in der Tradition der Historik lieber den Konstitutionsbedingungen ihres Gegenstandes - konkretisiert in Darlegungen über die Authentizität der historischen Quellen und die einschränkende''Notwendigkeit des Erzählensannimmt als der Konstitution des Wissens und damit ihrer eigenen Voraussetzung. Ebenfalls können hier nicht die sichtbaren Bezüge des soziologischen Konstruktivismus sowohl zur Diskurstheorie von Michel Foucault, zum Habituskonzept Pierre Bourdieus als auch zum Dekonstruktivismus von Jacques Derrida oder Gilles Deleuze behandelt werden. Harold Garfinkel, auf den gleich näher eingegangen wird, wie den Genannten ist eines gemeinsam: die Absage an jegliche transzendentale Konstruktion der Wirklichkeit im Sinne einer nicht hintergehbaren, festen Ordnung. Allerdings sind sowohl bei Garfinkel als auch bei Michel Foucault Ansätze dazu insofern zu erkennen, als bei Harold Garfinkel die Ordnungsleistung menschlicher Kommunikation, bei Michel Foucault die Macht als nicht weiter hinterfragbare Zielpunkte sozialen HandeIns erscheinen. Kommunikation wird im folgenden nicht hinsichtlich ihrer materiellen und notwendigen - Bedingungen befragt. Weder soll eine Geschichte der Verkehrswege bzw. -mittel (Pfad, Straße, Schiene, Autobahn; Fuß, Pferd, Ochse, Esel, Kamel, Schiff, Eisenbahn, Kraftfahrzeug, Flugzeug) oder der Kommunikationsmedien (Sprache, Bild, Schrift, Druck, Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet) und ihrer technischen Entwicklung wiederholt werden, obwohl zahlreiche Themen auch für die Geschichtswissenschaft keineswegs eingeholt worden sind. Infrastrukturellen Bedingungen der historischen Entwicklung (neben Bildung und anderen - vielfach staatlichen - Institutionen auch die Verkehrswege) ist lange Zeit als Voraussetzung der Veränderung von Wahrnehmungen und als Bedingung tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umwälzungen zu wenig Beachtung geschenkt worden. 3 Kommunikationsmedien dagegen sind zumal im Umkreis des Gutenberg-Jahres vielfach in den Blick gekommen und Thema zahlreicher Arbeiten geworden, die sich mit dem historischen Gedächtnis sowie der Veränderung von Formen und Inhalten durch die technische Entwicklung auseinandersetzen. 4 In der historischen 3 ?in~
historische Regi~nalforschung, die sich an Modellen der geographischen Forschung onentlert und das ParadIgma der heimat- bzw. landes geschichtlichen Forschung endgültig verläßt, ist noch immer nicht in Sicht. Für die Frühe Neuzeit könnten Arbeiten wie die von Robin Alan ButlinlRobert A. Dodgshon (Eds.), An Historical Geography of Europe. Oxford 1998, als Vorbild dienen. 4 Aleida AssmanniManfred Weinberg/Martin Windisch (Hrsg.), Medien des Gedächtnisses. (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderh. 71.) StuttgartlWeimar 1998; Aleida AssmanniHeidrun Friese (Hrsg.), Identitäten. (Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 3.) 2. Aufi. Frankfurt am Main 1999; Jochen Hörischl
Forschung sind jedoch gründliche Auseinandersetzungen mit den Folgen von Schriftlichkeit (und Mündlichkeit) zum Beispiel für den Quellenbegriff Mangelware. Das Pionierwerk einer auch die Frühe Neuzeit erschließenden Mediengeschichte verweist auch auf das Desiderat weiterer Quellenfundierungen. 5 All diese wichtigen und spannenden Themen müssen im folgenden beiseite gelassen werden, damit eine Konzentration auf Formen der Kommunikation möglich wird, die sich im Umgang mit anderen Menschen, mit Lebewesen und mit Sachen vorfinden lassen. Die Kulturwissenschaften sind seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wendefreudig. Auch die historische Forschung hat sich als wendungsreich erwiesen: linguistic turn, rhetoric turn, iconic turn, peliormative turn als neueste Kreation. Wie auch immer der Einfluß der jeweiligen Wende auf die historische Forschung zu beurteilen ist, sie laufen auf eines hinaus: die Festigkeit der historischen Bilder zu untergraben und auf die Fiktionalität des Quellenmaterials wie seiner Verwendung in Darstellungen hinzuweisen. Fiktionalität schafft die Unsicherheit, die nicht ausschließlich nach Inhalten und Referenzen zur sogenannten Wirklichkeit fragen läßt, sondern auch die Form, die Darstellungsverfahren in den Blick nimmt. 6 Die Betonung des Narrativen, die spätestens seit dem Aufsatz von Lawrence Stone immer wieder zum Gegenstand grundsätzlicher Erwägungen geworden isC, hat nicht dazu geführt, in einem bereits bei Hayden White vorgeschlagenen Forschungsprogramm sich der Erzählverfahren historischer Darstellungen im Detail anzunehmen8 . Bereits Johann Gustav Droysen hat vier Erzählformen historischer Darstellung beschrieben, um zugleich die Standortgebundenheit historischen Erzäh-
Gerard Raulet, Sozio-kulturelle Auswirkungen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. (Deutsch-Französische Studien zur Industriegesellschaft, Bd. 15.) Frankfurt am Main 1992; Jochen Hörisch, Mediengenerationen. Frankfurt am Main 1997; Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. 5 Werner Faulstich, Geschichte der Medien. 5 Bde. Göttingen 1996-2004. 6 Mit dem Begriff, Verfahren' wird eine Denkfigur des sogenannten russischen Formalismus aufgenommen: die Kunst als Verfahren; vgl. Viktor Sklovskij, Die Kunst als Verfahren (1916), in: Jurij Striedter (Hrsg.), Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. (Theorie und Geschichte der Literatu,r und der schönen Künste, Bd. 6.) München 1969,2-35. . 7 Lawrence Stone, The Revival of Narrative: Refiections on a New 01d History, in: P & P 85, 1979, 3-24. Die Arbeit von Gertrud M. Koch, Zum Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung. Theorie und Analyse. (Arbeiten zur Ästhetik, Didaktik, Literaturund Sprachwissenschaft, Bd. 10.) Frankfurt am MainlBern 1983, ist der Frage des literarischen Umgangs mit Geschichte gewidmet, enthält im ersten Teil aber eine aufschlußreiche Übersicht über das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung seit der Antike. S Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. (Sprache und Geschichte, Bd. 10.) Stuttgart 1986, bes. 101-122 [erstmals veröffentlicht als: The Structure of Historical Narrative, in: Clio 1, 1972,5-20].
lens deutlich werden zu lassen. 9 Über diesen Wissensstand ist die Geschichtswissenschaft außer durch die Forschungen von Hayden White nicht wesentlich hinausgekommen, denn auch die Forschungen von Frank R. Ankersmit sind eher geschichtsphilosophisch denn erzähltheoretisch ausgerichtet. lO Was die Beschäftigung mit der Rhetorik der Wissenschaft angeht, so ist hierin eine konsequente Weiterentwicklung der im linguistic turn bereits erfolgten Konzentration auf die Sprache der Wissenschaft zu erblicken. Auch hier hat vor allem Hayden White Pionierarbeit geleistet, die zwar wahrgenommen und zitiert, aber zu keinen tiefergehenden Konsequenzen im Bereich der Forschung geführt hat. l1 Es kann offenbleiben, ob der Verdacht von Allan Megill und Donald McCloskey zutrifft, daß die Darstellungsverfahren in der Geschichtswissenschaft sich auch heute vornehmlich am literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts orientieren 12 , sicher ist, daß andere Kulturwissenschaften bei der Untersuchung der spezifischen Darstellungsverfahren mehr geleistet haben, besonders die Ethnologie 13 , aber auch die Soziologie 14 . Es könnte im Anschluß an den eben erwähnten Verdacht vermutet werden, daß die Darstellungsverfahren in der Geschichtswissenschaft vor allem der Sicherung der Authentizität des Überlieferten wie der Demonstration von Wissen9 Johaml Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Gnmdriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Hrsg. v. Peter Leyh. Stuttgart 1977,217-221; als zeitgebundene, heute außerordentlich naiv wirkende Auseinandersetzung mit dem Thema vgl. Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1971, 147-164, zu Johann Gustav Droysen 158, 163. 10 Vgl. Franklin Rudolf Ankersmit, Historismus. Versuch einer Synthese, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme. (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 12.) Köln/Weimar/Wien 1996, 389-410; Franklin Rudolf Ankersmit, History and Tropo10gy. The Rise and Fall ofMetaphor. Berke1ey ~994. 11 Vgl. neben dem in Anm. 8 angeführten Band Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1975, und ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1990, bes. 40-77. 12 Allan Megill/Donald N. McCloskey, The Rhetoric of History, in: dies./John S. Nelson (Eds.), The Rhetoric of Human Sciences. Language and Argument in Scholarship and Public Affairs. Madison 1987,221-238, hier 226. 13 James Clifford, On Ethnographic Authority, in: Representations 1/2, 1983, 118-146; ders./George Marcus (Eds.), Writing Cultures. The Poetics and Po1itics of Ethnography. Berkeley 1986; zwei neuere deutsche Auseinandersetzungen mit dem Thema der imaginären Ethnologie: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main 1993; Hans-Jiirgen Heinrichs, Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft. Reinbek 1996. 14 Arjo Klauer/Donald N. McCloskey/Robert M. Solow (Eds.), The Consequences of Economic Rhetoric. Cambridge 1988; Edward M. Bruner (Ed.), Text, Play, and Story: the Construction and Reconstruction of Self and Society. Washington 1984; Richard Harvey Brown (Ed.), Writing the Social Text. Poetics and Politics in Social Science Discourse. New York 1992.
schaftlichkeit dienen. Insgesamt bleibt aber der Eindruck, daß der wissenschaftliche Normalbetrieb - die Normalwissenschaft im kuhnschen Sinne sich um die methodologischen Zweifel postmoderner Epistemologie wenig gekümmert und letztlich die objektivistische Fiktion aufrechterhalten hat, daß historische Forschung schon so etwas wie historische Wahrheit, so etwas wie klare Referenzen hervorbringt. Rhetorische Analysen, die ihre Bezeichnung verdienen, könnten zumindest die Verfahren offenlegen, mit denen historische Wahrheit, Authentizität, Luzidität, Klarsichtigkeit, Quellensättigung und so weiter hergestellt werden. Solche Untersuchungen könnten die Diskussion um neue Verfahren der historischen Darstellung im Zeitalter multimedialer bzw. hypertextueller Verfahren beleben. Der Einfluß der - nicht mehr allzu - neuen Medien auf unsere Wahrnehmung und die mit ihrer ubiquitären Verbreitung verbundene zunehmende Bedeutung von Bildern und Bildinhalten hat vornehmlich in den letzten beiden Jahrzehnten für verstärkte Aufmerksamkeit nicht nur in den historischen Wissenschaften gesorgt 15 : Neben der Rhetorik der Texte wurde die Rhetorik bildlicher Darstellungen ins Blickfeld gekommen. Die Debatten um Nutzen und Schaden der Bilderflut für kindliche und erwachsene Gemüter haben eines gezeigt: die Hilflosigkeit der Mehrheit bei der Dekodierung der Bilder, den Mangel an Konzepten, um solche Kompetenzen zu vermitteln. Daß die Geschichtsforschung dazu viel zu sagen hätte, ist nicht nur für die Kunstgeschichte klar. Horst Bredekamp hat in eigener Sache vor zehn Jahren nochmals darauf hingewiesen, daß bei einem Wechsel von der Dominanz der Sprache zur Hegemonie der Bilder eine Interpretation der Welt der digitalisierten Bilder ohne die Hilfe einer kunsthistorischen Bildwissenschaft nicht denkbar sei. 16 Hans Belting hat jüngst in Anknüpfung an die von Aby Warburg begründeten und kürzlich von Ernst Gombrich dargestellten Traditionen 17 diesen Anspruch nochmals unterstrichen, wobei es ihm um die Erweiterung zu ei15 Dazu bereits Ernst Gombrich, The Visual Image: its Place in Communication, in: Scientific American 272, 1972, 82-96, hier 82, mit Blick auf Werbung, Printmedien und Fernsehen: "We are bombarded with pictures from morning till night." Allerdings problematische, an Karl Bühler und seiner Einteilung der Sprachfunktionen in Ausdruck (expression, symptom), Appell (arousal, signal) und Darstellung (description, symbol) orientierte Sicht auf die Möglichkeiten einer Bildaussage, da damit die Sprache (im Vergleich zum Bild) eine exklusive Ausrichtung auf die darstellende Funktion bekommt. In der Wissenschafts-·· geschichte wird die Bedeutung von Bildaussagen in den Sondernummern von Culture Technique 14, 1985, Human Studies 11, 1988, und Representations 40, 1992, behandelt; als Klassiker gilt Martin Rudwick, The Emergence of a Visual Language for Geological Science 1760-1840, in: History of Science 14, 1976, 148-195; neuerdings Brian S. Baigrie (Eds.), Picturing Know1edge. Historical and Philosophica1 Problems Concerning the Use of Art in Science. Toronto 1996. 16 Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993, 102. 17 Ernst Gombrich, The Uses of Images. Studies in the Social Function of Art and Visual Communication. London 1999.
ner Bildanthropologie geht, in der der Bildbegriff nicht auf kunsthistorisches Material eingegrenzt und um eine Betrachtung der technischen Grundlagen der Bilderzeugung - die mediale Komponente, die der Hervorbringung - erweitert wird 18 . Nun könnte eingewandt werden, daß in der Geschichtswissenschaft durchaus Ansätze zur Einbeziehung der Bilder in die Interpretation zu finden sind. 19 Doch wird bei einem Durchgang durch Veröffentlichungen schnell deutlich, daß die Bildkunde als Hilfswissenschaft, zumal für den nicht ernstgenommenen didaktischen Gebrauch ein Schattendasein innerhalb der historischen Wissenschaften führt, daß außerdem Bildmaterial nicht als Quelle interpretiert, sondern zumeist illustrativ eingesetzt wird: Was der Text bereits ausdrücklich sagt, kann durch ein Bild nur verschönert werden. Bildern wird dabei nicht selten in aller Naivität eine Wirklichkeit unterstellt, die sämtliche Kontexte vernachlässigt und daher quellenkritischer Prüfung nicht standhält. Die Bildferne der Geschichtswissenschaft hat selbst nach den Erfahrungen der großen historischen Ausstellungen - begonnen mit der Staufer-Ausstellung 1977 über die Ausstellungen zu Martin Luther und zur Reformation, zu den Saliern bis hin zur Ottonen-Ausstellung20 - zu keinen weitergehenden Auseinandersetzungen mit der Welt der Bilder und der Objekte geführt21 . Auch die Gründung zahlreicher historischer Museen seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat weniger Debatten um das evoziert, was Bilder und Objekte zeigen, als um die inhaltliche Ausrichtung solcher Museen, wobei nicht zu Unrecht der Vorwurf erhoben wurde, daß das Medium Ausstellung vielfach die Eigenschaft einer Bebilderung des Handbuches zur infragestehenden Epoche habe, nicht aber die Eigenschaften dieses Mediums angemessen genutzt würden. 22 Auch das Aufkommen von Multimedia-Programmen 18 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bild-Wissenschaft. München 2001. 19 Brigitte Tolkemitt/Rainer Wohlfeil (Hrsg.), Historische Bildktinde. Probleme - Wege Beispiele. Berlin 1991; Klaus Schreiner/Gabriela Signori (Hrsg.), Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters. (ZHF, Beih. 24.) Berlin 2000. 20 Reiner Hausherr/Christian Väterlein (Hrsg.), Die Zeit der Staufer. Geschichte - KunstKultur. 4 Bde. Stuttgart 1977; Gerhard Bott (Hrsg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Frankfurt am Main 1983; Das Reich der Salier 1024-1125. Katalog zur Ausstellung des Landes Rheinland-Pfalz. Sigmaringen 1992; Klaus BussmannlHeinz Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. 3 Bde. Münster/Osnabrück 1998; Matthias Puhle (Hrsg.), Otto der Große: Magdeburg und Europa. (27. Europarat-Ausstellung.) 2 Bde. Mainz 2001. 21 Unter den wenigen Ausnahmen: Hartmut Boockmann, Geschichte im Museum? Zu den Problemen und Aufgaben eines Deutschen Historischen Museums. München 1987; Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. (Geschichtsdidaktik, NE, Bd. 1.) Pfaffenweiler 1988. 22 V gl. vor allem die Diskussionen um das Deutsche Historische Museum. Aus der Fülle der Belege sei nur eine Äußerung von Christoph Stölzl in dem Protokoll der Anhörung zum Forum für Geschichte und Gegenwart. T. 2. Berlin 1984,56, zitiert, mit der er sich auf die
für die Darstellung historischer Inhalte folgt im allgemeinen mehr dem üblichen Verhältnis von inhaltlicher Aussage und Illustration, hat aber die Aufmerksamkeit für Möglichkeiten und Grenzen des Bildeinsatzes in der Darstellung von Geschichte erhöht. Festzuhalten ist, daß die Geschichtswissenschaft sich auf schriftliche - inzwischen auch vielfach mündliche - Quellen stützt, während Bilder und Objekte nicht wirklich ernstgenommen werden. Historische Forschung erscheint damit trotz inzwischen nicht weniger gegenteiliger Versuche gleichsam körperlos, eindimensional auf das überlieferte Wort verpflichtet. Das blühende Genre der historischen Romane nimmt der Geschichtswissenschaft die Pflicht ab, sich der blinden Flecken ihrer Darstellungen, dem anscheinend Unerforschlichen bzw. Unsäglichen stärker anzunehmen. Zwei Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre haben die Aufmerksamkeit für Objekte und Bilder etwas verstärkt: Zum einen die zunehmende Bedeutung der Kulturgeschichte und in ihrem Rahmen der sogenannten Körpergeschichte, die sich solchen Themen wie Physiognomie und Beredsamkeit des Körpers, Gefühlen, Hygiene und anderem widmet23 , wobei objekthafte und bildliche Zeugnisse eine wichtige, wenn auch nicht unbedingt die wichtigste Rolle spielen; zum anderen die zunehmende Erkenntnis, daß die Darstellung der Geschichte an Mythen, Metaphern, also an bildhafte Mittel anknüpft, ja bestimmten rhetorischen Strategien bis hin zur großen Erzählung folgen muß, um Argumente begründen zu können. Kein Text vermag seine gesamten Kontexte zu explizieren, er muß auf bildhafte Vereinfachungen und Vorverständnisse zurückgreifen, um eine intendierte Wirkung entfalten zu können. Sprache, auch in (geschriebenen, gedruckten) Texten fixierte, kann daher im Vergleich zu Bildern eher eine Abfolge von Eindrücken schildern, doch die Schaffung von Gleichzeitigkeit kann ihr nicht gelingen, weswegen es zumeist vieler Worte bedarf, um den Eindruck eines Bildes zu schildern. Wenn eine Folge von Bildern (Cartoon, Film) geboten wird, so müssen in die zeitliche Abfolge der Bilder Elemente linearer Darstellung integriert werden. Sprache und Text sind immer auf die lineare und damit logisch verknüpfte Sukzession ihrer Elemente angewiesen, während das Bild mit der Gleichzeitigkeit seiner Elemente ganz andere Wirkungen erzielen kann. Was bei Bildern unmittelbar beachtet wird, soweit sie nicht mit dem Etikett" der Dokumentation eine eindeutige Referenz zwischen Objekt und Darstelgleichzeitige Diskussion in der Akademie der Künste bezieht: ,,[ ... ] daß ein Ausstellungshaus, ein, Kunsttempel ' viel wichtiger sei als eine Folge von Wänden zur Bebilderung des ,Gebhardt' oder des ,Ploetz' ". In Teil 1, 55, spricht Gottfried KOI:ffanschaulich von sterilem Vitrinarium und Flachwarenstand. 23 Aus der inzwischen reichhaltigen Literatur zu diesem Thema sei lediglich die Arbeit von Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main 2001, erwähnt.
lung herzustellen beanspruchen, ist die Gestaltung, das Design der intendierten Aussage, das heißt formale Aspekte der Darstellung. Solche Aspekte bilden sowohl in der historischen Forschung als auch in der Darstellung ihrer Ergebnisse eine nachgeordnete, wenn überpaupt ernstgenommene Rolle. Zudem etabliert sich durch die Bilder ein neues Verständnis der Sprachkultur, in der Oralität wieder an Bedeutung gewinnt. 24 Trotz der Wendefreudigkeit bleibt Kommunikation in der historischen Forschung zu einseitig auf Texte fixiert, zudem auf das, was sich mit Worten sagen läßt. Dabei wird das Wort nicht einmal mit den zum Beispiel textlinguistischen Methoden untersucht25 , die für die in Frage stehenden Probleme angemessen wären. Die viel reichere Dimension der Bilder und Objekte, die sich schwieriger in Worte fassen läßt, bleibt weitgehend unberücksichtigt bzw. wird an die Spezialkompetenz der Kunstgeschichte verwiesen, wo sie die herrschende Fixierung auf Text und Sprache nicht mehr stören kann. Das Wesentliche menschlichen Verhaltens - sein eigener und andere Körper, seine Verkörperungen - bleibt daher weitgehend außerhalb des Blickfeldes der Geschichtswissenschaft, obwohl es konstitutiv für ihren Gegenstand ist. Die Geschichtswissenschaft hat sich den Zumutungen der Postmoderne gegenüber bisher erfolgreich als widerständig erwiesen und wird diese Haltung nicht ändern, solange die Unterscheidung von TextIBild und Realgeschichte aufrechterhalten bleibt. 26 Realgeschichte ist eine Schimäre, die methodologisch eine Wirklichkeits wissenschaft prätendiert, die so wirklich ist, wie des Kaisers neue Kleider. Vergangenheit ist nicht wirklich da, sondern muß appräsentiert werden, ein methodologisch voraussetzungsvoller Vorgang, über den die Geschichtswissenschaft ausreichend nachgedacht hat, um vorsichtig zu sein bei der Darstellung historischer Wirklichkeit.
11. Inszenierung Wird dem ethnomethodologischen Kommunikationsmodell gefolgt, so ist es erstaunlich, daß Verständigung überhaupt mühelos vonstatten geht, da das Scheitern von Kommunikationsvorgängen - gemessen an der mit hohen Risi24 Heimar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1996,24-27. 25 V gl. die Bemerkungen von Riidiger Schnell, Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes, in: ders. (Hrsg.), Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998,1-58, hier 13-17. 26 Klaus Schreiner, Texte, Bilder, Rituale. Fragen und Erträge einer Sektion auf dem Deutschen Historikertag (8. bis 11. September 1998), in: ders./Signori (Hrsg.), Bilder, Texte, Rituale (wie Anm. 19), 1-15, hier 3-5, wo mit dem Argument, daß alles schon einmal dagewesen sei, gegen den new historicism gefochten wird.
ken verbundenen Komplexität des Vorganges - wahrscheinlicher erscheint als das Gelingen. Harold Garfinkel hat in der kritischen Auseinandersetzung mit der Systemtheorie namentlich seines Lehrers Talcott Parsons das Programm einer nominalistischen Theorie sozialer Handlung entworfen und sich damit von den bisher herrschenden realistischen Theorien abgesetzt. Realistische Ansätze versuchen, ein Bild der sozialen Welt zu entwerfen, das sie deren Interpretation wiederum unterlegen. Zu diesem Zweck werden Regeln des Sozialverhaltens aus sozialen Handlungen extrahiert, um dann handelnden Menschen als Motive unterstellt zu werden. Nicht nur der sogenannte Funktionalismus entwarf seine Theorie nach diesem Muster. Nominalistische Theorien dagegen versuchen, Regeln sozialen Verhaltens als nie und nirgendwo endenden Prozeß der Sinnhaftmachung von sozialen Handlungen zu sehen. Bereits bei Max Weber sind Ansätze dazu zu erkennen, die über Alfred Schütz von Harold Garfinkel radikalisiert worden sind. 27 Garfinkel hat den Begriff in Anlehnung an die ethnoscience geschaffen, welche vor allem mit soziolinguistischen Methoden Muster des sozialen Verhaltens, der sozialen Orientierung aus der Analyse der in einer Gesellschaft gemeinsam geteilten Semantik beschreiben will. Nach Garfinkel bringen solche Rekonstruktionen Objektivationen sozialer Handlung hervor, Modelle menschlichen Verhaltens in Gesellschaften, wobei die Menschen zu urteilsunfähigen Tölpeln, Urteilstrottein (jugdemental dopes) gemacht werden, die nicht in der Lage sind, ihre Handlungen auf sinnvolle Weise zu organisieren, indem sie in bestimmten kommunikativen Situationen auf wandelbare kulturelle Kontexte (Werte und Normen) angemessen reagieren. 28 Garfinkel dagegen versucht, die Methoden und Verfahren zu beschreiben, mit denen Menschen in einer bestimmten Gesellschaft Alltagshandlungen bewältigen. Die Methoden der sozialen Handlung sind nicht im Denken der beteiligten Personen unbewußt verborgen, sondern als eingeschlossene Handlungsanweisungen (embodied practices) Teil der stattfindenden Kommunikation. Der Vorgang der Erklärung einer Handlung, einer Erklärung, die erfahrungsgemäß in einen unendlichen Regreß übergehen kann, wird von Garfinkel als glossing 27 Auf die Bezüge der Arbeiten von Harold Garfinke1 zum amerikanischen Pragmatismus und damit der Möglichkeit eines Realismus jenseits des Nominalismus ist hier nur zli verweisen. Der für Harold Garfinkel zentrale Begriff der Indexikalität kann ohne den zeichentheoretischen Hintergrund der Arbeiten von Charles Sanders Peirce nicht angemessen interpretiert werden. V gl. KarI-Otto ApeI, Einfüluung: Der philosophische Hintergrund der Entstehung des Pragmatismus bei Charles Sanders Peirce, in: Charles Sanders Peirce, Schriften. Hrsg. v. Karl-Otto Apel. Bd. 1: Zur Entstehung des Pragmatismus. Frankfurt am Main 1967, 13-153; ders., Einführung: Peirces Denkweg vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, in: Charles Sanders Peirce, Schriften. Hrsg. v. Karl-Otto Apel. Bd. 2: Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Frankfurt am Main 1970, 11-211. 28 Jörg R. Bergmann/Ilja Srubar, Die Entdeckung des Alltags - Zur Entstehung und Wirkung phänomenologischer Soziologie. Ms. Konstanz 1984, 37f.
bezeichnet. Wie aufwendig dieses glossing sein kann, wird offensichtlich, wenn wir versuchen, eine abgeschlossene Handlungssequenz oder ein Bild erschöpfend zu beschreiben. Deutlich wird darin zugleich die oben bereits erwähnte Komplexität visueller Wahrnehmungen, im Vergleich zu denen Texte einfach erscheinen. Solche metaphorisch auch als Regieanweisungen zu bezeichnenden Methoden lassen sich durch experimentelle Arrangements offenlegen, indem Brüche der Kommunikation vorsätzlich geschaffen werden - die typischen garfinkelschen Experimente, die Harold Garfinkel den Ruf eingebracht haben, eine sociology 0/ happening geschaffen zu haben. Mit dem Wortteil ethno wird die Tatsache benannt, daß Soziologen in dieser Funktion als Professionelle die ubiquitären, das heißt auch im Alltag der Laien vorhandenen Kenntnisse über Sozialstrukturen für ihre theoretischen Zwecke nutzen29 : "This paper is concerned with common sense knowledge of social structures as an object of theoretical sociological interest. It is concerned with descriptions of a society that its members, professional sociologists included, as a condition of their enforceable rights to manage and communicate decisions of meaning, fact, method, and causal texture without interference - i. e., as a condition of their ,competence' - use and treat as known in common with other members, and with other members take for granted. "30 Den zentralen Zweck seiner Hauptarbeit sieht Harold Garfinkel in der Herausarbeitung der "rationalen Zurechenbarkeit von sozialen Handlungen als eines nicht endenden, praktischen Vollendungsprozesses".31 Während in der klassischen soziologischen Theorie die Handlung und ihre Erklärung voneinander getrennt werden, fügt Harold Garfinkel beides zusammen, indem er die Handlung und ihre Erklärung in der gerade stattfindenden Aufführung miteinander verknüpft. Nur im verfremdenden Experiment, in der außergewöhnlichen Situation, decken Handelnde ihre Motive auf, die sonst implizit für andere mitaufgeführt werden. Harold Garfinkeis Ziel ist es daher nicht, Handelnden vorzuschreiben, was sie zu denken und der Theorie entsprechend was und wie zu tun hätten, er analysiert soziologische Theorie am Entstehungsort, das heißt im Kommunikationsprozeß selbst. Wichtig sind dabei die Methoden, eine soziale Handlung zur Vollendung zu bringen, wichtig ist also das Wie. Die Intention und Sinnhaftigkeit einer sozialen Handlung sind nur dann von Interesse, wenn Methoden des Sinnhaftrnachens studiert werden. Die wesentliche Eigenschaft sozialer Handlung ist ihre Indexikalität, ihr wesentliches Ziel, diese Indexikalität zu überwinden, ein Begriff, den Garfinkel der Zeichen- und Sprachtheorie entnimmt. 32 Der Erfolg oder das mögliche 29 30 31 32
Ebd. 38. Garjinkel, Ethnomethodology (wie Anm. 2), 77. Ebd.4. Charles Sanders Peirce, Semiotische Schriften. Hrsg. v. Karl-Otto Apel. Bd. I: 1865-
Scheitern einer sozialen Handlung ist an den jeweiligen Handlungskontext gebunden, der die jeweilige Handlung indiziert, mit einem Index versieht. Ein Satz, der auf einer wissenschaftlichen Tagung geäußert wird, erscheint dort selbstverständlich. An anderer Stelle geäußert, könnte er Gewalt provozieren. Viele witzige Geschichten haben solche Verfahren, das heißt ein der sozialen Situation nicht angemessenes Verhalten, als Grundlage. Soziale Kommunikation ist daher bis zu einem solchen Grade unsicher und risikoreich, daß es erstaunlich erscheint, wie häufig soziale Kommunikation zur zufriedensteIlenden Vollendung (accomplishment) geführt wird. Soziale Handlungen erscheinen daher als kunstvolle Praxis (artful practice), die die Indexikalität des praktischen Diskurses in objektive Fakten überführen will. Soziologisches Denken, wo immer es stattfindet, sucht die Kontextgebundenheit der sozialen Kommunikation zu überwinden 33 : "I have been arguing that a concern for the nature, production, and recognition of reasonable, realistic, and analyzable actions is not the monopoly of philosophers and professional sociologists. Members of a society are concerned as a matter of course and necessarily with these matters both as features and for the socially managed production of their every day affairs. The study of common sense knowledge and common sense activities consists of treating as problematic phenomena the actual methods whereby members of a society, doing sociology, lay or professional, make the social structures of everyday activities observable. "34 Verhaltensweisen sind Ausprägungen der sozialen Kommunikation und damit als Teil von sozialen Handlungen "sichtbar-rational-und-berichtbar-füralle-praktischen-Zwecke": das heißt zurechenbar (accountable) als Organisationsformen üblicher, alltäglicher Handlungen. 35 Jede/r kann in einem gegebenen sozialen Kontext sich als etwas verhalten und andere als sich Verhaltende erkennen an den eingeschlossenen Handlungsanweisungen. Rational verhält sich also die/derjenige, die/der in einer gegebenen Situation die Regieanweisungen des jeweils anderen richtig interpretiert und selbst die richtigen Regieanweisungen gibt. Wer immer das nicht tut, handelt - in der ersten Wahrnehmung - irrational, das heißt nicht mehr zurechenbar. Die Indexikalität der Kommunikation wird verlängert, nicht aufgehoben, Strategien zur Heilung der ungesicherten Situation, zur Heilung der andauernden Indexi1903. Frankfurt am Main 2000, 204-212; Elmar Weingarten/Fritz Sack, Ethnomethodologie. Die methodische Konstruktion der Realität, in: dies./Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandeins. Frankfurt am Main 1976, 7-26, hier 16f.; Yehoshua Bar-Hillel, Indexical Expressions, in: Mind 63, 1954,359-379. 33 Harold Garjinkel/Harvey Sacks, On Formal Structures of Practical Actions, in: John C. McKinney/Edward A. Tiryakian (Eds.), Theoretical Sociology. Perspectives and Development. New York 1970; 339. 34 Garjinkel, Ethnomethodology (wie Anm. 2), 75. 35 Ebd. VII, wobei der Begriff accountable bzw. account in seinen Konnotationen mit dem Rechnungslegen, der Rechenschaft, zu würdigen ist.
kalität (healing indexicality) werden entwickelt. Daher spielen die - gegebenenfalls experimentell hergestellten - Brüche der Kommunikation eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung dessen, was handlungs leitend (accountable) gewesen sein mag. 36 Auf diese Weise ist Rationalität keine substantielle, der Wirklichkeit zuzuschreibende Eigenschaft, die bestimmten Personen und ihren Handlungen zukommt oder abgeht. Carl Friedrich Gethmann hat darauf hingewiesen, daß dieses noch in der neuzeitlichen Philosophie präsente substantielle Verständnis von Rationalität erst bei Max Weber durch ein prozedurales Verständnis abgelöst wird, das die Bezeichnung rational in die Verfahren zur Begründung von Geltungsansprüchen verlegt. So kommt Carl Friedrich Gethmann im Anschluß an Max Weber zu der Schlußfolgerung, daß Rationalität als die Fähigkeit, Geltungsansprüche diskursiv einzulösen, bezeichnet werden kann. 37 Damit nähert er sich dem Verständnis Harold GarfinkeIs, allerdings ohne den universellen Geltungsanspruch aufzugeben, dessen Fehlen schon Jürgen Habermas bei Harold Garfinkel moniert hatte, indem er ihm mit Recht eine partikulare Konzeption von Rationalität zuschreibt. 38 Im Anschluß an Harold Garfinkel muß Rationalität getan (doing) werden. Rationalität und - wie leicht ergänzt werden könnte - Wahrheit, Authentizität, Echtheit werden inszeniert. Mit dem Begriff der Inszenierung wird ein Bedeutungsraum erschlossen, der auf der einen Seite altehrwürdig ist, auf der anderen Seite gerade in letzter Zeit wieder häufig genutzt worden ist, um teil weise pauschal auf Prozesse der Herstellung des Sozialen hinzuweisen. 39 Die Bezüge zur barocken Auffassung der Welt als Theaterdarstellung und des Theaters als Weltdarstellung sind überdeutlich. 4o Doch nicht dieser Bezug soll zu sehr strapaziert, sondern 36 So betont auch Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 24), 38, 252f., die Bedeutsamkeit von kulturellen Brüchen, um Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge in Gang zu setzen. 37 Carl Friedrich Gethmann, Rationalität, in: Jürgen MittelstrasslMartin Carrier/Gereon Wolters (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd.3. Stuttgart/ Weimar 1996, 468-481, hier 468: "Verfahren interaktiver Einlösung von Geltungsansprüchen"; 478: "Fähigkeit, Geltungsanprüche diskursiv einzulösen". 38 Jürgen Bahermas, Theorie des kommunikativen Handeins. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main 1988, 187. 39 Erika Fischer-Lichte, Theatralität und Inszenierung, in: dies./Isabel Pflug (Hrsg.), Inszenierung von Authentizität. (Theatralität, Bd. 1.) TübingenlBasel 2000, 11-27, hier 13-15, wo außerdem auf die Entwicklung des Begriffes ,mise en scene' eingegangen und mit Bezug auf Nikolaj Evreinov, Apologija teatral'nosti, in: ders., Teatr kak takavoj. S. Peterburg 1912, 15-24, auf frühe Versuche der Anthropologisienmg des Theatralitätsbegriffes hingewiesen wird; Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 24), 51, führt die Inschrift über dem Globe-Theatre von 1599 an: Totus mundus agit histrionem. 40 Zu betonen ist, daß Garfinkel diese Metapher für seine theoretischen Bemühungen nicht nutzt. Anders dagegen: Erving Goffinan, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1983 [zuerst: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959]; Victor Turner, From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. New York 1982.
die Frage gestellt werden, welche Bedeutung die Performanz hat, denn - Garfinkel ernstgenommen - soziale Wirklichkeit wird performativ konstituiert. Wolfgang Iser hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Performative dann an Bedeutung gewinne, wenn die Mimesis als Bild-Abbild-Verhältnis an Bedeutung verliere, da kein Bezug zu einer akzeptierten Weltordnung mehr möglich ist. 41 Er sieht die für den Menschen bestehende Inszenierungsnotwendigkeit unter anderem durch seine exzentrische Positionalität begründet, das heißt durch die von Helmuth Plessner formulierte Auffassung, daß der Mensch ist, aber sich nicht hat. 42 Während von Johann Gottfried Herder bis Arnold Gehlen der Mensch als Mängelwesen erscheint, also defekt und auf Entlastungsstrategien angewiesen ist im Vergleich zur übrigen - instinktsicheren - Natur, wird bei Hellmuth Plessner mit der Denkfigur der exzentrischen positionalität die Stellung des Menschen - ganz im herdersehen Sinne positiv gewendet als Weltoffenheit. Während im ersten Fall der Mensch als animal indigens erscheint, weil die Kompensation eines Mangels den Charakter der Notlösung nie ganz ablegen kann und damit einen Horizont natürlicher, der Notwendigkeit geschuldeter Verhaltensweisen eröffnet, wird mit der exzentrischen Positionalität stärker die Kreativität betont, der Selbstentwurf des Menschen in den Mittelpunkt gestellt, das animalfictionale, das sich und seine Welt nicht vorfindet, sondern erschafft. Diese prinzipielle Unabgeschlossenheit eröffnet die Möglichkeit, sich - wie Wolfgang Iser es sieht: spielerisch - immer neu zu entwerfen, in einem unablässigen Inszenierungsprozeß zu stehen. Wolfgang Iser faßt seine Interpretation der Inszenierung zusammen, indem er die Inszenierung zur Gegenfigur jeglicher transzendentalen Bestimmung des Menschen macht. 43 Damit schließt er sich eng an Hellmuth Plessner an, der den Menschen als ort-, zeit- und damit heimatlos ansieht, eine Heimatlosigkeit, die ihn zur Heilung der Exzentrizität durch Arbeit, durch Kultur - mit Garfinkel könnte ergänzt werden: durch Kommunikation bringt. 44 Erika Fischer-Lichte bevorzugt statt des Inszenierungsbegriffes den der Theatralität, der ersteren begrifflich umfassen soll, da er vier Aspekte berücksichtigt: peiformance, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung. Einleuchtend erscheint an dieser Differenzierung die Absicht, den Inszenierungsbegriff vom barocken Begriff des theatrum mundi abzuheben, da letzterer" noch einen Regisseur - Gott - aufzuweisen hatte, der die Darstellung nicht Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer A~throp?lo gie. Frankfurt am Main 1993, 489-491; Bans Ulricl~ Gumhrec~t/K. Lu.dwzg Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwlssenschafthchen DIskurselementes. Frankfurt am Main 1986. 42 Belmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. Aufl. BerlinlNew York 1975 [zuerst: 1928]. 43 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 41), 514. 44 Plessner, Die Stufen des Organischen (wie Anm. 42), 31Of.
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nur lenkte, sondern auch beurteilte. Doch wird bereits bei Erika FischerLichte deutlich, daß die Performanz, das heißt die aktuelle Aufführung, die übrigen Aspekte organisiert. Für sie handelt es sich um unterschiedliche Beobachterperspektiven: Mit der Inszeniem~g werden Prozesse der Zeichengebung, mit der Körperlichkeit Prozesse der Bewegung bzw. der Materialität von Zeichen und mit der Wahrnehmung Prozesse der Auffassung und Rezeption untersucht. Theatralität wird im Anschluß an Nikolaj Evreinov als anthropologisch fundierter, Kultur hervorbringender, schöpferischer Prozeß gesehen. Anders als zum Beispiel Harold Garfinkel kommt Erika FischerLichte endlich wieder auf die Entgegensetzung von Inszeniemng und Authentizität zurück, ein Gegensatz, der eine duale Ordnung der Wirklichkeit voraussetzt. 45 Während für Erika Fischer-Lichte der Theatralitätsbegriff trotz anthropologischer Fundiemng eher ein Instmment der Forschung ist, wird er bei Helmar Schramm zu einem Instmment der Zeitdiagnose. 46 Für ihn ist der Karneval des Denkens ein Zielpunkt; der Karneval, der sich nicht dem Fragment, dem Paradox zugunsten einer geometrisch-mathematischen, zentralen Wahrnehmungsperspektive verschließt. 47 Hinter der Welt tief gestaffelter Scheinbilder lasse sich keine objektive Realität mehr verifizieren; Realität spiele durch den Verlust als fester Referenzraum und durch den Einsatz medialer Technik zunehmend ins Imaginäre. Insgesamt sieht Helmar Schramm in diesen und den damit verbundenen Entwicklungen zum Beispiel im Bereich der Kunst eine zunehmende und durchgreifende Ästhetisiemng der Welt. 48 Theatralität wird konstituiert durch räumlich und zeitlich spezifische Formen der Bewegung, der Sprache und der Wahrnehmung, durch Stilisiemng, das heißt durch eine ästhetische Durchformung kultureller Praxis. Wahrnehmungsweisen, Bewegungsgewohnheiten und Sprachformen sind im Gegensatz zum 18. Jahrhundert nicht mehr synchronisierbar, schon gar nicht universalisierbar. 49 Auch bei Helmar Schramm setzt das Spiel Kreativität frei und wird der methodischen Rationalisiemng entgegengestellt. Das Gegenbild einer karnevalesken, den Exorzismen des strengen Methodenbewußtseins entronnenen Kultur des Paradoxen entsteht, die den Wechsel von Wahrnehmungsweisen als einzige Spielregel kennt. 50 Fischer-Lichte, Theatralität und Inszenierung (wie Anm. 39). Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 24). Der Begriff des Karnevals ist zwar nicht näher erläutert, orientiert sich aber u. a. an Michail Bachtin, Tvorcestvo Fransua Rabele i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i renesansa. Moskva 1965 [deutsche Teilübersetzung in: Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969]. 47 Schramm, K3111eval des Denkens (wie Anm. 24), X-XlV. 48 Ebd. 13-15. 49 Ebd. 27-29, 42-45. 50 Ebd. 18 f., 255.
Ohne daß bei Helmar Schramm diese Problematik explizit aufgenommen wird, ist bei seinem Begriff der Theatralität immer das Problem des Verhältnisses von Form und Inhalt mitzudenken; die Beurteilung ihres Verhältnisses wechselt mit den Zeiten und Räumen. Es bleibt die gmndsätzliche Opposition zwischen dem Eigentlichen, dem Inhalt, und dem Akzidens, dem notwendig Hinzukommenden, das aber Eigenständigkeit für sich nicht beanspmchen darf. Diese Opposition kann genau umgekehrt werden, indem die Form als das Eigentliche erscheint, das den Inhalt zuerst zur Erscheinung bringt: causa substantialis und causaformalis. Mundus vult decipi nimmt diese Opposition auf, um die Form als causa efficiens darzustellen. Eine ästhetische Weltsicht schließt an diese nicht nur barocke Sichtweise an und will den äußerlichen Eindmck als entscheidendes Kommunikationssignal bezeichnen. Es ist nicht nur ein ästhetisches, sondern ein rhetorisches und ethnomethodologisches Weltverständnis. Die gmndsätzliche Frage schließt zugleich die nach Wahrheit, Identität und Authentizität mit ein. Wenn diese Begriffe philosophisch unter postmodernen Bedingungen sich auflösen in der Kommunikation, dann entschwinden auch alle (platonischen und neoplatonischen) Bemühungen, das Wesen der Dinge erkennen zu wollen, im Nebel der Vergeblichkeit. Damit aber sind die Naturwissenschaften der beginnenden Frühen Neuzeit mit ihrer Abkehr von den Wesensfragen Vorbild für wissenschaftliche Strategien der heutigen Zeit. Das gilt auch und gerade für Wissenschaften, die unter dem zunehmenden Einfluß der medialen Bildwelten stehen. Wahrnehmung wird gesteuert durch den Aufbau dieser Bilder, durch eine Kommunikation, die nicht mehr und in abnehmendem Maße von linearen Texten, den großen Erzählungen beherrscht wird. Wie sehr diese Fragen unser Denken noch heute bestimmen, hat Andreas Käuser am Beispiel der Differenziemng von Person und Rolle aufgezeigt. 51 Er zieht eine Entwicklungslinie, die in der Aufklämng mit der Gegenüberstellung von Wahrheit und Täuschung, von natürlichem Körperausdmck und unnatürlichen sprachlichen Zeichen beginnt und mit der Entwicklung des soziologischen Rollenbegriffes insofern endet, als die Rolle nicht mehr im Sinne der Täuschung verstanden, sondern der Tatsache Rechnung getragen wird, daß Akteure in unterschiedlichen sozialen Räumen unterschiedliche Rollen übernehmen. 52 Wichtig ist Andreas Käusers Verweis auf Richard Sennett, der
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Andreas Käuser, Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie, in: Erika Fi.scherLichte/Jörg Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszemerung und Wahrnehmung von Körper, Musik, Sprache. (Das achtzehnte Jahrhundert, Bd. 5.) Göttingen 1999, 39-51. 52 Das Problem des Entschwindens der Person bei Betonung der Fragmentierung durch Rollen löst Ralf Dahrendoif, Homo sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, in: ders., Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammelte Abhandlungen 1. München 1967, 128-194, nicht auf, sondern projiziert es auf die Entwicklung der Soziologie zur Wissenschaft, die
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den Verfall (öffentlicher) Theatralität und Expressivität zugunsten von psychologischer Authentizität und Intimität beklagt. 53 Inszenierung (oder auch Theatralität) geht nicht mehr von einer Person aus, die ein Leben lang ihre Persönlichkeit eI?:,twickelt und als etwas Identisches durchhält. 54 Eine Theorie der Inszenierung besteht dagegen auf stetigem Wandel und auf der Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Handeln. Ethnomethodologie läßt die arcana des Vor- oder Unbewußten als Inszenierung, nicht aber als transzendental gegeben zu. Somit ist in der Diskussion um Theatralität und Inszenierung vieles zu finden, was ethnomethodologisch bereits konzeptualisiert worden ist. Wenn das Performative zum Bezugspunkt der Analyse wird, dann muß die auf dem geschriebenen Wort basierende historische Semantik zu einer historischen Semiotik erweitert werden. Eine historische Semiotik hat zum einen neue Felder - wie zum Beispiel Bildanalyse - zu integrieren, zum anderen die Methoden der semiotischen und der textlinguistischen Analyse für sich einzuholen, Instrumente, die bisher in der historischen Forschung zu wenig genutzt worden sind. Inszenierung und Kommunikation rücken zusammen, sind zwei Perspektiven auf eine Sache: die Konstitution menschlicher Identität in der Geschichte. Für die Geschichtsforschung ergeben sich daraus Konsequenzen hinsichtlich des Beobachtungsfeldes. Noch stärker als bereits in der gerade deswegen von der sogenannten Strukturgeschichte bemängelten Alltagsgeschichte werden Mikroanalysen des Historischen wichtig bleiben. Die Geschichte einer Epoche, einer Region gar als histoire totale erforschen und beschreiben zu wollen, erscheint als methodisch uneinlösbarer Anspruch, methodologisch als undurchführbar, darstellerisch auf die alten Konzepte der großen Geschichte verpflichtet. Im Zuge solcher Mikroanalysen wird es darüber hinaus darauf ankommen, wesentlich stärker die Aspekte der Form zu untersuchen, das Herstellen, das Wie sozialer Handlung zum integralen Bestandteil der Analyse zu machen. Schließlich wäre es lohnend, wenn die Geschichtswissenschaft sich ihrer eigenen Textproduktion annähme mit dem Ziel, Textsorten, Produzenten- und Rezipientenverhalten zu untersuchen, ohne zugleich die Probleme einer Geschichtsphilosophie mitlösen zu wollen.
als solche gar nicht umhin könne, die Autonomie des menschlichen Subjektes in Frage zu stellen. 53 Richard Sennett, The Fall of Public Man. New York 1974 [deutsche Übersetzung: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main 1983]. 54 In den philosophiegeschichtlichen Kontext von Heraklit und Parmenides über Martin Heidegger bis Gilles De1euze und Jacques Derrida gestellt hat dies Heidrun Friese, Identität: Begehren, Name und Differenz, in: dies.lAleida Assmann (Hrsg.), Identitäten. (Erinne. rung, Geschichte, Identität, Bd. 3.) Frankfurt am Main 1998,24-43.
Der eigentliche Stachel der Ethnomethodologie besteht nicht in der auch vor ihr bereits trivial gewordenen Einsicht, daß Geschichte das sei, was Geschichtsforschung aus ihr mache, sondern in der Einsicht, daß historische Wirklichkeit verhandelt wird, daß der professionelle Geschichtenerzähler nur einer unter sehr vielen ist, die historische Authentizität, historische Wahrheit herstellen. Das heißt nicht, methodische Erfahrung und methodisches Können abzuwerten, sondern gerade zu betonen, um sich gegenüber methodisch nicht abgesicherten Formen des Geschichtenerzählens abzugrenzen insofern, als die Kenntnis der Quellen einer untersuchten Zeit zur differentia specijica der Geschichtsforschung wird. Hier finden die Aussagen über die Geschichte ihren Reichtum, aber auch ihre Grenze: Was aus dem Quellenmaterial nicht gefolgert werden kann, kann auch nicht Teil einer Aussage werden. Manche mögen - fälschlicherweise - die Gefahren eines Neohistorismus sehen, der sich in reiner Antiquitätenschau erschöpft. Daß Geschichtswissenschaft nur eine - von vielen möglichen - historische Wirklichkeit erforscht, mag für manche irritierend bleiben. Und daß sie mit ihrer historischen Wirklichkeit nicht immer ein großes Publikum erreicht, noch mehr. Aber die Geschichtswissenschaft hat damit die Chance, ihr Eigentliches, die Kenntnis der Quellen, zur Geltung zu bringen.
IH. Forschungsfelder 1. Gegenstände
Gernot Böhme hat in ganz anderem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß und wie Natur zunehmend inszeniert wird, Teil der Ästhetisierung unserer Umwelt wird und zugleich ihre Aura als kulturelle Leitvorstellung, als unverfügbare Gegebenheit verliert. 55 In diesem Zusammenhang hat er zahlreiche, vielfach noch als natürlich bezeichnete Bereiche unserer täglichen, handwerklich-technisch hergestellten Umwelt benannt, die ästhetisch geformt, das heißt gestaltet sind. Solche Bereiche in die historische Darstellung einzubeziehen erlaubt, Körpergeschichte nicht nur auf den menschlichen Körper zu beziehen, sondern ebenso auf die natürliche und artifizielle Welt der den Menschen umgebenden Objekte. Diese Welt enthält Elemente der Kommunikation durch Anwesenheit. Es handelt sich nicht um Ausstattungsgegenstände, Requisiten der Inszenierung des Alltäglichen, sondern um Dinge, mit denen wir kommunizieren, die ihrerseits nonverbal Zeichen geben und die Gemot Böhme, Die Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1992,107-124, bes. 116-]23; ders., Eine ästhetische Theorie der Natur, in: ebd. 125-140, und ders., Die Geste der Natürlichkeit, in: ebd. 141-159, bes. 148-150.
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tägliche Kommunikation beeinflussen. Die Intention der Gestaltung, soweit sie bekannt ist, das heißt die Produktions ästhetik, ist dabei von ebenso großem Interesse wie die Rezeptionsästhetik. Außenräume, Innenräume, Ausstattungen sind als Artefakte überliefert und können rekonstruiert werden als persistente'Merkmale einer agrarischen oder urbanen Landschaft, die zuweilen über Jahrhunderte die Lebenswelt von Menschen beeindruckt hat. Historische Bauforschung56 , Architekturgeschichte57 , historische Geographie58 oder Industriearchäologie59 machen deutlich, daß natürliche Gegebenheiten und Artefakte eine Ordnung schaffen, die jeweils von den dort lebenden Menschen wieder angeeignet werden muß. Nicht nur die Formgebung der Artefakte, sondern auch die Art der Aneignung, der jeweils unterschiedlichen Wahrnehmung ist von hohem Interesse für die historisch gegebene Interpretation der Welt. In vielen Arbeiten, zum Beispiel solchen über die Planstädte der Barockzeit, wird das sinnfällig. 60 Es geht um eine Analyse proxemischer, räumlicher bzw. raumerfüllender Zeichen im weitesten Sinne: Architekturgeschichte und -theorie, Garten- und Landschaftsgestaltung, Stadt- und Landschaftsplanung geben Hinweise auf solche Zeichen. 61 N eben diesen Artefakten sind es die zahlreichen Gegenstände des täglichen Lebens, die seiner Bewältigung dienen und deren sich die ältere Kulturgeschichte, die Volkskunde oder Ethnologie lange Zeit mehr unter dem Gesichtspunkt des Antiquarischen und Exotischen angenommen hat, wobei aber wertvolle Materialsammlungen angelegt wurden. Neben der TechnikgeGeorg Ulrich Grossmann, Einführung in die historische Bauforschung. Darmstadt 1993. 57 Vgl. den Beitrag von Karl Noehles, Rhetorik, Architekturallegorie und Baukunst an der Wende vom Manierismus zum Barock in Rom, in: Volker Kapp (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. (Ars Rhetorica, Bd. 1.) Marburg 1990, 190-227; Ulrich Schütte, Höfisches Zeremoniell und sakraler Kult in der Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Jörg Jochen BernslThomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 25.) Tübingen 1995,410-431; Cornelia Iöchner, Barockgarten und zeremonielle Bewegung. Die Möglichkeiten der, allee couverte'. Oder: Wie arrangiert man ein ,incognito' im Garten, in: ebd. 471-483. 58 Ursula von den Driesch, Historisch-geographische Inventarisierung von persistenten Kulturlandschaftselementen des ländlichen Raumes als Beitrag zur erhaltenden Planung. Bonn 1988. 59 Rainer Slotta, Einführung in die Industriearchäologie. Darmstadt 1982. 60 Kersten Krüger (Hrsg.), Europäische Städte im Zeitalter des Barock: Gestalt - KulturSozialgefüge. (Städteforschung, Rh. A, Bd. 28.) KölnlWeimar/Wien 1988; Ian Schuth, Spaces of a Planned City: Space Syntax Analysis of Karlsruhe. Karlsruhe 1992. 61 Wolfram Martini (Hrsg.), Architektur und Erinnerung. (Formen der Erinnerung, Bd. 1.) Göttingen 2000; Harald Tausch (Hrsg.), Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung. (Formen der Erinnerung, Bd. 19.) Göttingen 2003; Susanne Rau/ Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 21.) KölnlWeimarlWien 2004. 56
schichte berücksichtigen heute auch kulturgeschichtliche Darstellungen solche Bereiche, indem Arbeitsvorgänge, Freizeitgestaltung und andere wichtige Felder alltäglicher Lebensgestaltung behandelt werden. Es fehlt aber an einer Verknüpfung dieser Bereiche, die die jeweiligen Ordnungsleistungen deutlich werden ließe, die im Umgang mit den Dingen offensichtlich werden: Einrichtungs- und Ausstattungsgegenstände sowie Kleidung sind in ihrer Zeichenhaftigkeit keineswegs entziffelt. Material, Materialverarbeitung, Form- und Farbgebung sind Bestandteile einer vergangenen Welt, die zu den Konstitutionsbedingungen unserer heutigen gehören und doch nicht ausreichend erforscht sind. Trotz vieler Anstrengungen bedarf die materielle Kultur weiterer Bemühung, wobei insbesondere das Bildmaterial eine kaum zu unterschätzende Bedeutung hat. 62 2. Bewegung
N ach den Arbeiten von August Nitschke und Rudolf zur Lippe ist erst wieder in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts größeres Interesse aufgekommen für die symbolischen Anordnungen von Menschen in Zeremoniellen, Aufzügen, Aufführungen (Theater, Musiktheater, Musik), Festen. Es handelt sich ebenfalls um nonverbale Elemente der Kommunikation. Während die frühen Darstellungen ganz unter dem Eindruck der großen Theorieentwürfe von Max Weber - Rationalisierung -, Norbert Elias - Zivilisierung und Gerhard Oestreich - Sozialdisziplinierung - gestanden haben, die im Rahmen ihrer jeweiligen Modernisierungstheorie Erzählungen zur linearen Weiterentwicklung des menschlichen Verhaltens geliefert haben63 , gehen 62 Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. Bd.2: Dorf und Stadt. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. München 1990-1994; Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1992. Das Institut für Realienkunde des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in Krems an der Donau analysiert vor allem spätmittelalterliche Bildquellen nach ihrer Aussage zu Alltag und materieller Kultur: http://jupiter.imareal.ac.at:8080/real/; zur Geschichte der Bekleidung: Martin Dinges, Der ,feine Unterschied'. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: ZHF 19, 1992,49-76, sowie Richard Wrigley, The Politics of Appearances: Representations of Dress in Revolutionary France. Oxford/New York 2002,. und Lioba Keller-Drescher, Die Ordnung der Kleider. Ländliche Mode in Württemberg 1750-1850. (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts, Bd. 96.) Tübingen 2003; zum Essen: Leander Petzold, Das Leben ein Fest. Essen und Trinken in der frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. WienlKölnlWeimar 1998, 175-195. 63 August Nitschke, Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte. Zürich 1989; ders., Tänze im Hochmittelalter und der Renaissance. Methodische Überlegungen zur Rekonstruktion von Tänzen, in: Klaus SchreinerlNorbert Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen: Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1992,263-287; Rudo(f zur Lippe, Naturbeherrschung am Menschen. Bd. 1: Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Bezie-
neuere Darstellungen von nichtlinearen Konzepten aus64 . Wie komplex sich das Themenfeld allein zum höfischen Zeremoniell aufspannt, hat Jörg Jochen Berns im Zuge seiner langjährigen Beschäftigung mit der Thematik aufgezeigt. 65 Viele der angesprochenen Themen bleiben ausgespart; auch die behandelten weisen eher die Richtung wei'terer Forschung, als daß sie den gesamten inhaltlichen und durch Quellen erreichbaren Umfang erschöpfen. Insbesondere fehlt es an Arbeiten, die Ungedrucktes einbeziehen. Ein Überblick über die unterschiedlichen Arten von Spektakeln der Barockzeit (Theater, Ballett, Oper, Turniere, Einzüge und Feste) zeigt die Fülle des Materials. 66 Allerdings ist zu bedenken, daß die Barockzeit noch über ein geschlossenes, semiotisch klar strukturiertes kosmologisches Weltbild verfügte, das leichter entzifferbar zu sein scheint. Von besonderem Interesse sind die täglichen Aufführungen, die das Eingehen auf weitere nonverbale Elemente der Kommunikation erfordern: Körpergestalt, Körperhaltung, Gestik, Mimik, Stimmodulation. Die Koordination dieser Elemente zum Habitus macht nochmals deutlich, daß in der theoretischen - und praktischen - Beschäftigung mit dem Gegenstand die Meinung herrscht, daß das Äußere der Spiegel des Inneren sei, der Habitus also eine Person insgesamt faßbar mache. Die eloquentia corporis wird von der antiken Rhetorik und ihren Bemerkungen zur actio, das heißt der rednerischen Aufführungspraxis, so gedeutet und in die frühen Ansätze von Schauspielanweisungen in der Frühen Neuzeit sowie die Traktate zur Malerei seit dem 15. Jahrhundert übernommen. 67 Erika Fischer-Lichte unterscheidet räumliche, äußere hungen in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals. Bd. 2: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1981. 64 So zum Beispiel Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993; zum Gesamtzusammenhang Vera Jung, Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. KölnlWeimarlWien 2001, bes. 11-23; dort auch die gesamte ältere und neuere Literatur zum Thema. 65 Dazu der Themenaufriß im Vorwort bei Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik (wie Anm. 57), IX-XI, und die Zusammenfassung: Zeremoniell und Ästhetik, in: ebd.650-665. 66 Barbara Wisch/Susan Scott Munshower (Eds.), ,All the World's a Stage .. .'. Art and Pageantry in the Renaissance and Baroque. Part 1: Triumphal Celebrations and the Rituals of Statecraft. Part 2: Theatrical Spectacle and Spectacular Theatre. (Papers in Art History from the Pennsylvania State University, Vol. 6.) University Park 1990; Helen Watanabe0' Kelly, Triumphall Shews: Tournaments at German Speaking Courts in their European Context 1560-1730. Berlin 1992; Pierre Behar/Helen Watanabe-O'Kelly (Eds.), Spectacv Ivm Evropawm. Theatre and Spectacle in Europe (1580-1750). (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 31.) Wiesbaden 1999; John Adamson (Ed.), The Princely Courts ofEurope. Ritual, Politics and Culture under the Ancien Regime 1500-1750. London 1999. 67 Dene Barnett, The Art of Gesture: the Practice and Principles of 18th Century Acting. (Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 64.) Heidelberg 1987. Von theater-
körperliche und kinesische bzw. akustische Zeichen. Erstere sind hinsichtlich des Theaters solche der Raumkonzeption (Dekoration, Licht, Requisiten usw.); äußere körperliche solche wie angenommenes (Frisur, Kleidung usw.) bzw. gegebenes (Alter, Geschlecht usw.) Aussehen; kinesische sind mimische, gestische, proxemische Zeichen; akustische umfassen sprachliche, paralinguistische (Stimmumfang, Stimmhöhe, Stimmodulation usw.) und musikalische Zeichen. Olfaktorische Zeichen spielen für das Theater keine Rolle. 68 Körpersprache ist - sicherlich kulturell in ihrer Wertigkeit außerordentlich unterschiedlich aufgefaßt und nicht von universeller Gültigkeit69 - in der europäischen Tradition der Abwertung der Rhetorik schon seit der Antike dem Verdacht der Täuschung ausgesetzt, wobei seit dem 18. Jahrhundert der Körpersprache im Gegensatz zu den unnatürlichen und willkürlichen sprachlichen bzw. schriftlichen Zeichen der Status des Unwillkürlichen, damit Natürlichen und Authentischen zugewiesen worden ist. 7o Erika Fischer-Lichte ist dem Wandel des Verständnisses der Körpersprache seit der Renaissance nachgegangen und hat deutlich gemacht, daß Natürlichkeit und Künstlichkeit der Zeichen immer wieder neu bewertet werden, aber auch die Subjektivität der Zeichensetzung wie die Differenz von (schönem) Schein und Wirklichkeit bzw. Wahrheit der Aufführung.?1 Die unterschiedliche Bewertung der Körpersprache, zumal unter der europäischen Perspektive einer Domestizierung wissenschaftlicher Seite werden die Probleme seit einigen Jahren intensiv aufgearbeitet: http://www.fu-berlin.de/bodynet/kolleg/kolleg.html. eine website, die allerdings kaum noch aktualisiert wird. Diese von Erika Fischer-Lichte initiierten Forschungen, von ihr bereits vorbereitet in: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 1977, werden seit 1999 in schneller Folge publiziert; vgl. Fischer-Lichte/Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel (wie Anm.51); Fischer-LichteiPflug (Hrsg.), Inszenierung von Authentizität (wie Anm. 39); Erika Fischer-Lichte/Anne Fleig (Hrsg.), Körper-Inszenierungen: Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen 2000. Speziell zur Gestik vgl. Margreth Egidi/Oliver Schneider/Matthias Schöning/Irene SchützeiCaroline Torra-Mattenklott, Riskante Gesten, in: dies. (Hrsg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. (Literatur und Anthropologie, Bd. 8.) Tübingen 2000, 11-41; zur Darstellung von Emotionen: Jürgen Schlaeger/Gesa Stedman (Eds.), Representations of Emotions. (Literatur und Anthropologie, Bd.3.) Tübingen 1999. 68 Fischer-Lichte, Semiotik (wie Anm. 67), Bd. 1, 25-93; vgl. außerdem die Arbeiten in Alain Montandon (Hrsg.), Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern. Bern 1991, sowie neuerdings die Analyse von Benimmbüchern durch Kirsten O. Frieling, Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800. (Europäische Hochschulschriften, Rh. 3, Bd. 970.) Bern/Frankfurt am Main 2003. 69 Erst mit den Forschungen von Wilhelm Wundt und Marcel Mauss gilt Gestik nicht mehr wie seit Aristoteles als kulturunabhängig: Fischer-Lichte, Semiotik (wie Anm. 67), Bd. 1, 60-63. 70 Käuser, Körperzeichentheorie (wie Anm. 51),43-45; vgl. auch Alexander Kosenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ,eloquentia corporis' im 18. Jahrhundert. (Theatron, Bd. 11.) Tübingen 1995. 71 Fischer-Lichte, Semiotik (wie Anm. 67), Bd. 2,11-177.
des Leibes, zeigt sich auch in der Bedeutung derselben für Sprachwissenschaft und Rhetorik. 72 In der Kunst spielt die Wiedergabe des Körpers seit der Renaissance wiederum eine wichtige Rolle, da das Detail der Figurendarstellung gefragt ist. 73 Daher beginnen die gründlichen anatomischen Studien in eben dieser Zeit. 74 Bildliche Darstellungen halten sich an ein durch Tradition gegebenes, allerdings wandelbares Bildprogramm75 , machen den Habitus einer Person deutlich und können insbesondere dort, wo Menschen und ihre Emotionen bis zur Kenntlichkeit entstellt werden - William Hogarth, Honore Daumier oder J. J. Grandville (eigentlich: Jean Ignace Isidore Gerard)16 -, Hinweise auf die Zeichenhaftigkeit menschlicher Darstellung geben; zugleich sind menschliche und tierische Physiognomien im Sinne der überkommenen Naturlehren noch keineswegs so scharf getrennt, wie sich insbesondere an den Studien von Charles LeB run ablesen läßt77 . Physiognomische Einsichten werden seit der Antike systematisiert, aber auch zum Beispiel bei Johann Caspar Lavater so vereinfacht, daß sichtbare Korrespondenzen zwischen äußerer und innerer Haltung der Wahrnehmung eines Menschen zugrunde gelegt werden.7 8 Bis zu Gottlob Daniel Schreber
mit seinen martialischen Haltungshilfen und zu den gängigen Erziehungslehren des 20. Jahrhunderts sind diese Traditionen lebendig. So sehr und mit Recht heute in der Tradition Georg Christoph Lichtenbergs über solche Versuche gespottet wird, ist nicht zu übersehen, daß sie ihre Weiterführung in den späteren Versuchen finden, bösartige Gesinnung an der Physiognomie erkennen zu wollen79 oder eine universelle Grammatik des Gefühlsausdrucks evolutionsbiologisch und ethologisch zu begründen8o . Letztere Versuche sind insofern nicht einfach als naturalistisch abzulehnen, als Grundformen der Wahrnehmung anderer Lebewesen zeichnerisch und virtuell nachvollziehbar sind, Formen, die ihrerseits in zahlreichen bildlichen Darstellungen wiederzufinden sind.8 1
Cornelia Müller, Redebegleitende Gesten: Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich. (Körper, Zeichen, Kultur, Bd. 1.) Berlin 1998. 73 Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der R~naissance. Berlin 1999 [zuerst: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy: a Pnmer on the Socia! History of Pictorial Style. Oxford 1985]. 74 Martin Kemp/Marina Wallace, Spectacular Bodies. The Art of Science and the Human Body from Leonardo to now. BerkeleylLos AngeleslLondon 2000, 11 f. 75 Moshe Barasch, Gestures of Dispair in Medieval and Early Renaissance Art. New York 1976; ders., Giotto and the Language of Gesture. Cambridge 1987; Ilsebill Barta-Fliedll Gerhard Wolf (Hrsg.), Rhetorik der Leidenschaft - zur Bildsprache der Kunst im Abendland. Hamburg/München 1999; Ilsebill Barta-Fliedl, Die Beredsamkeit des Leibes: Zur Körpersprache in der Kunst. (Veröffentlichung der Albertina, Bd. 31.) Salzburg 1992; Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im Mittelalter. Stuttgart 1992. 76 David Bindman, Hogarth and his Times: Serious Comedy. London 1998; Wolfgang Promies (Hrs~.), Lichtenbergs Hogarth: Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenber~ r;nlt den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von WIlham Hogarth. MünchenlWien 1999; Pierre Cabanne, Honore Daumier: temoin de la comedie humaine. Paris 1999; Paul Ducatel, Les premieres annees de caricatures politiques d'Honore Daumier 1830-1835. Paris 2000; Gerhard Frey/Dorit Schäfer (Hrsg.), J. J. Grandville. Karikatur und Zeichnung, ein Visionär der französischen Romantik. Ostfildern-Ruit 2000. 77 Madeleine Pinault Sr;rensen (Ed.), De la physiognomie humaine et animale: dessins de Charles LeBrun graves pour la Chalcographie du Musee Napoleon 1806. Paris 2000; Jennifer Montagu, The Expression of the Passions: the Origin and Inftuence of Charles LeBrun's ,Conference sur l'expression generale et particuliere'. New Haven/London 1994. 78 Paul Münch, Finstere Katholiken und Madonnengesichter. Anmerkungen zur evangelischen ,Religionsphysiognomik', in: Jens Flemming/Pauline PuppellWerner Trossbachl Christina Vanja/Ortrud Wörner-Heil (Hrsg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Kassel 2004, 240-266; Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1997; vgl. außerdem Aristote-
les, Physiognomica. (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, 18: Opuscula, T. 6.) Darmstadt 1999, sowie dort die bis zur modernen Rezeption und Forschung reichende Einleitung von Sabine Vogt, 35-281; Andreas Käuser, Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert. (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 24.) Frankfurt am Main 1989. 79 Zu Cesare Lambroso (1835-1909) vgl. Bodo-Michael Baumunk/Jiirgen Riess (Hrsg.), Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte. Berlin 1994, 149-154. 80 V gl. die kritische Neuedition einer Arbeit Darwins von 1872: Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Hrsg. v. Paul Ekman. Frankfurt am Main 2000 [zuerst: The Expression of the Emotions in Man and Animals. London 1872]. Zur neueren Diskussion vgl. zum einen den ethologischen Zugang von Irenäus Eibl-Eibesfeld, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung - Ethologie. 8. Auft. München/Zürich 1999, zum anderen den psychologiegeschichtlichen Überblick (wie die weiteren Beiträge) von Klaus R. Scherer, Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie, in: ders. (Hrsg.), Psychologie der Emotion. (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie 4, Bd. 3.) Göttingen 1990,2-38. Zur Prob1ematisierung des ethologischen Ansatzes vgl. bereits: Mario von Cranach/Klaus Foppa/Wolf Lepenies/ Detlev Ploog (Eds.), Human Ethology. Claims and Limits of a New Discipline. Cambridge/ Paris 1979. Wer auf der Seite des ,Media Lab' des Massachusetts Institute of Technology http://www.media.mit.edu nach Avataren sucht, wird einige Beiträge zur Verwendung der Kenntnisse über den Ausdruck von Emotionen bei der Konstruktion von Avataren finden. Hingewiesen sei insbesondere auf die von Justine Cassell am MIT-Media Lab geleitete ,Gesture and narrative language group', der zum Beispiel auch Mihaly CsikszentmiMlyi angehört, welcher mit Victor Turner zusammengearbeitet hat und bekannt ist durch seine Arbeiten über die Semiotik von Alltagsgegenständen: Mihaly Csikszentmihdlyi/Eugene Rochberg-Halton, The Meaning of Things. Domestic Symbols and the Self. Cambridge 1981. 81 V gl. Rodolphe Toepffer, Essai de physiognomie. (Massenmedien und Kommunikation, Bd. 7.) Siegen 1980 [zuerst: 1845].
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3. Darstellungen
Körper und Verkörperungen sind als Objekte wahrzunehmen, zugleich aber auch in der dargestellten Spiegelung als bildliche oder sprachliche Darstellung. Vieles kann historisch sogar nur noch über die Darstellung eines vergangenen Gegenstandes erschlossen werden. Um so wichtiger werden Bilder
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Abb. 1: Die Zeichnungen Rodolphe Toepffers (1799-1846) zeigen, wie wenig Mittel notwendig sind, um einen bestimmten physiognomischen Eindruck in unserer Wahrnehmung zu hinterlassen. 82 Für die Kommunikation bedeutet das zum einen, daß bereits wenige Infonnationen ausreichen, um den Beteiligten einen gegenseitigen Eindruck zu verschaffen, bevor ein Wort gewechselt worden ist, zum anderen, daß die kommunikationsbegleitenden Körpersignale laufend mitverarbeitet werden, das he(ßt einen weiteren, ständig mitinterpretierten Zeichenkontext liefern. Menschen erlernen diese Zeichen in gleicher Weise wie sprachliche Zeichen. Analog zur Sprache wäre davon auszugehen, daß es einen unterschiedlichen Umfang der Kompetenz bei der Erzeugung und Interpretation solcher Zeichen gibt. Interessant am Essay Rodolphe Toepffers sind seine weiteren physiognomischen Einsichten, die sich von denen Johann Caspar Lavaters darin unterscheiden, daß er die von diesem vertretene, exzessive Form eines normativen Realismus ablehnt. Des weiteren ist bemerkenswert, daß er bereits von physiognomischen Zeichen ausgeht, die er in beständige und wandelbare teilt: unter ersteren versteht er die körperlichen Formen, unter den zweiten die situationsbedingten Ausdrucksformen.
jeglicher Art. Hier bedarf es des Anschlusses an die von seiten der Kunstgeschichte im letzten Jahrzehnt verstärkt entwickelte Bildwissenschaft, die sich im Gegensatz zur herkömmlichen Kunstgeschichte auch den bisher weniger beachteten Bildgenres wie zum Beispiel der Karikatur oder dem Comic widmet. 83 Für heutige Zeiten erweitert sich der Quellenbestand um Photographie und Film (Stand- und Bewegtbild), Quellen, die von der Geschichtswissenschaft nur zögerlich erschlossen werden. 84 V gl. Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: ders./Julian HochberglMax Black (Hrsg.), Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1977, 10-60, hier 34f. 83 Gombrich, The Uses ofImages (wie Anm. 17). 84 Verwiesen sei hier nur auf Knut Hickethier (Hrsg.), Der Film in der Geschichte. (SigmaMedienwissenschaft, Bd. 23; Schriften der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissen-
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Sprachliche Darstellungen kommen ohne bildliche Abbreviaturen nicht aus. Solche Bilder können zum Signum eines bestimmten Stiles werden. Am Beispiel der Körpersprache kann gezeigt werden, wie die Darstellung solcher Details genutzt wird, um spezifische Realitätseffekte zu eneichen. 85 Doch geht eine solche Analyse bereits über in die Arten von Verkörperung, um die es an dieser Stelle nicht in erster Linie geht. Sprachliche Darstellung muß zugleich den gesamten Bereich der - auch philosophischen - Auseinandersetzung mit der Rhetorik umfassen: Tropen, zum Beispiel Metaphern, und Mythen als bildgebende Mittel. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Metaphorologie als erkenntniskritischem Potential. 86 Deutlich gemacht wird damit, daß in der Geschichtswissenschaft sämtliche verfügbaren Quellen zu analysieren sind in der Absicht, die vorhandenen Quellenarten zu einem Bild zusammenzufügen. Beispielhaft könnte der methodologische Zugang von Jonathan Crary sein, der die wechselseitigen Wirkungen veränderter Wahmehmungsweisen auf der einen und der Gesellschaft, Wissenschaft sowie Kunst auf der anderen Seite für das 19. Jahrhundert beschreibt. 87 Das, was bisher in unterschiedlichen Teilwissenschaften - Wissenschaftsgeschichte, Literatur-, Kunst-, Musikwissenschaftuntersucht worden ist, gehört in gleichzeitige wie räumlich zusammengehörige Kontexte, die nur so gegenseitig entschlüsselt werden können. Bisher gültige Fächergrenzen werden damit durchlässig, erscheinen als Behinderung neuer Erkenntnisse. schaft, Bd. 6.) Berlin 1997; ders., Film- und Fernsehanalyse. 2. Aufl. StuttgartlWeimar 1996; ders. (Hrsg.), Aspekte der Fernsehanalyse: Methoden und Modelle. (Beiträge zur Medienästhetik und Mediengeschichte, Bd. 1.) Münster 1994. 85 Barbara Korte, Körpersprache in der Literatur: Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzählprosa. Tübingen 1993, mit umfangreichen Literaturverweisen sowohl zur älteren literaturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion der Thematik wie den neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur nonverbalen Kommunikation. 86 Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des ,Historischen Wörterbuchs der Rhetorik'. (RhetOlik-Forschungen, Bd. 1.) Tübingen 1991; Jürgen Kopperschmidt (Hrsg.), Rhetorik. Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt 1990/91; ders. (Hrsg.), Fest und Festrhetorik: Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik. München 1999; ders. (Hrsg.), Rhetorische Anthropologie: Studien zum Homo rhetoricus. München 2000; Mare Fumaroli (Ed.), Histoire de la rMtorique dans l'Europe moderne 1450-1950. Paris 1999; Aristoteles, Rhetorik. 2 Bde. (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4.) Darmstadt 2002, hier insbesondere die Einleitung des Herausgebers, Christof Rapp, zur Editions- und Rezeptionsgeschichte im ersten Band, 169-451; Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 1998; ders" Ästhetische und metaphorologisehe Schriften. Frankfurt am Main 2001; Anselm Haverkamp (Hrsg.), Die paradoxe Metapher. Frankfurt am Main 1998. 87 Jonathan Crary, Techniques of the Observer. Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990 [deutsche Übersetzung: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. DresdenlBasel 1996]; ders., Suspensions of Perception. Attention, Spectac1e, and Modern Culture. Cambridge 1999.
IV. Schlußbemerkung Kommunikation wird dann zu einem wichtigen Begriff der historischen Forschung, wenn er Fragerichtung und Programme beeinflußt. Sich den Formen der Kommunikation zu öffnen, bedeutet, den inhaltlichen Aspekt unter ganz anderen Gesichtspunkten wahrzunehmen. Es geht zuvorderst nicht mehr um die Frage, was an Information ausgetauscht wurde und welche grundsätzliche Bedeutung wir dieser Information beimessen, sondern darum, wie diese Information ausgetauscht wurde, welche Kontexte die Nachricht selbst einrahmen. Die Betonung der Wie-Frage zielt zum anderen darauf ab, nicht nach Wesenserklärungen, die auch die Form funktioneller Betrachtung annehmen können, zu suchen, sondern Arten der Kommunikation zu beschreiben ohne vorrangige Rücksicht auf das Kommunizierte. Daß selbstverständlich auch der Inhalt, das Kommunizierte, wichtig und von eminenter Bedeutung ist, soll damit nicht in Abrede gestellt, sondern nur relativiert werden. Die Ethnomethodologie zeigt, daß die Geschichtswissenschaft Vergangenheit in der Form ihrer Erzählungen zu authentifizieren hat. Es ist die Frage, ob das Authentische in dem Sinne richtig aufgefaßt wird, daß nur die unmittelbar selbst erlebte, selbst gestaltete Aufführung authentisch sein kann. Erzählungen - wörtlich oder bildlich - könnten dann den Status des Authentischen nicht erreichen. Das Authentische wäre daher nur im kurzen Zeitfenster der Gegenwart möglich. Schon die Erinnerung vermag den Status des Authentischen nicht mehr zu erreichen, da sie sich aller Verfahren und Techniken bedient, die auch in einer Erzählung notwendig sind, um das Erlebte auf begrenztem Raum und in begrenzter Zeit darstellbar zu machen. Erörterungen zum Quellenbegriff der Geschichtswissenschaft sollten an dieser Stelle ansetzen. Für die Ethnomethodologie scheint klar: Die Wirklichkeit und die Wahrheit, die Echtheit und Authentizität werden nur im Moment des augenblicklichen Erlebens wahrgenommen. Vergangenheit und Zukunft können nur Ableitungen des Echten und Wahren sein, da sie erinnert oder vorentworfen, also memoriert und imaginiert werden müssen. Die Suche nach Echtheit und Wahrheit ist zugleich der Versuch, Indexikalität zu heilen. Authentizität stellt sich nur her in der zeitlichen (Simultaneität) und der räumlichen (Koexistenz) Präsenz von Körpern und ihren Entäußerungen, ihren Verkörperungen. Nur in solchen Augenblicken vermögen wir Wahrnehmungen zu speichern, die uns im Nachhinein als wahr, als authentisch erscheinen. Daher ist die öffentliche Aufführung von so entscheidender Bedeutung für die Authentifizierung sozialer Wirklichkeit.8 8 Daher ist die mediale VerVera Jung, Körperlust und Disziplin (wie Anm. 64), 340, hat auf die Bedeutung der Öffentlichkeit einer Aufführung für die Art der Darstellung hingewiesen und zugleich dar-
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mittlung von sozialer Wirklichkeit so problematisch für die Wahrnehmenden, da das Geschehen in den seltensten Fällen authentifiziert werden kann. Alles medial Vermittelte ist daher auf Akte des Glaubens angewiesen, auf Konstruktionen der Plausibilität einer Wahrnehmung, die so nicht und niemals verifizierbar sind. Authentische Erlebnisse sind nicht wiederholbar, sie sind unwiederbringlich vergangen, da die jeweilige Aufführung Unterschiede aufweisen muß. Für die Geschichtswissenschaft ergibt sich aus (de)konstruktivistischen Überlegungen eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Historiker/innen können nicht mehr daran glauben, historische Wirklichkeit zu erforschen und abzuschildern, wie es wirklich gewesen ist, zu komplex und schwierig sind die Vermittlungsprozesse - Iser spricht von einem asylum ignorantiae -, die vollzogene soziale Handlungen von ihrem Nachvollzug in der Gegenwart entfernen. Die gute Nachricht: Geschichtswissenschaft vergegenwärtigt durch quellengestützte memoria Traditionen, indem sie dem kurzen Gedächtnis der Gegenwart aufhilft und die in ihr nachweisbaren Spuren der Vergangenheit benennt, die zur Interpretation der Gegenwart wichtig sind. Zudem benötigt die Wurzellosigkeit des aktuellen Diskurses eben keinen Halt, der nicht argumentativ eingebracht werden müßte: Natur und Kultur sind dafür noch immer gute Strategien der Argumentation. Und zu beiden hat Geschichtswissenschaft viel beizutragen. Erfahrungen sind durch das Gedächtnis gegeben und wie dieses Änderungen unterworfen. J ack Goody hat von einer homöostatischen Organisation des Wissens in Gesellschaften mit ausschließlich oder vornehmlich mündlicher Überlieferung des Wissens gesprochen. Gedächtnisinhalte verändern sich dynamisch mit der Veränderung der sozialen Kontexte, ohne daß die Veränderung als solche wahrgenommen wird. Der Verlust an Schriftlichkeit durch die zunehmende Bedeutung der Bildmedien wird dann zu einer Veränderung des Wissens führen, w,enn solche Bilder - wie bisher - weitgehend flüchtig bleiben trotz der Möglichkeiten von Speichermedien, solche Bilder langfristig zu archivieren und damit abrufbar zu halten. Gerade angesichts einer solchen Situation wird deutlich, wie wichtig die Aufmerksamkeit für die Rhetorik, für die Semiotik von Bildern, Körpern, Objekten ist. Die oben nur sehr unvollständig ausgeführten, angedeuteten Beispiele möglicher Forschungsfelder haben eines gemeinsam: ihre Ausrichtung an Grundfragen der Semiotik. Es ist freilich festzustellen, daß Bemühungen, die Semiotik historisch zu fundieren, bisher eher selten sind. 89 Es ist außerdem auf aufmerksam gemacht, daß die Abnahme der Tanzaktivität als integraler Bestandteil vieler Bereiche des öffentlichen Lebens Folge einer Intimisierung gesellschaftlichen Lebens, eines Rückzugs aus öffentlichen Räumen ist; vgL dazu auch die Arbeit von Sennett, The Fall ofPublic Man (wie Anm. 53). 89 Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 2000.
offen, welcher Art von Theorie gefolgt werden soll. Die philosophische Begründung der Zeichenverwendung und ein sehr weitgehendes Konzept des Zeichens lassen die Vorschläge von Charles Sanders Peirce als besonders geeignet erscheinen, zumal sie über eine erkenntnistheoretische Fundierung verfügen und auf das anfänglich formurierte Problem Antwort geben: die Konstitution der sozialen Welt des Menschen sowie die Auswirkung solcherart festgestellter Konstitutionsbedingungen auf sein Handeln. Ob allerdings dem Programm eines sinnkritischen Realismus gefolgt wird, wie es Charles Sanders Peirce von Karl-Otto Apel zugeschrieben wird, muß offen bleiben. Die Unterscheidung von icon, index und symbol, die offensichtlich von Harold Garfinkel aufgegriffen worden ist, erscheint auch für historische Analysen außerordentlich brauchbar, da für Peirce der Zeichengebrauch einer Sprachgemeinschaft zu den notwendigen Voraussetzungen der Konstitution unseres Weltverständnisses gehört. 90 Das oben umrissene Forschungsprogramm hat daher ein Ziel: Neben die historische Semantik eine historische Semiotik zu stellen, die nicht nur die sprachlichen, sondern auch andere Bilder berücksichtigt. Eine solche historische Semiotik bedarf allerdings eines gründlichen theoretischen Fundamentes.
Apel, Einführung: Der philosophische Hintergrund (wie Anm. 27); ders., Einführung: Peirces Denkweg (wie Anm. 27).
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Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im städtischen Gerichtswesen ( 1350-1650) Von
Franz-Josej Arlinghaus 1. Einleitung Der Aufsatz thematisiert verschiedene Kommunikationsmodi in den Stadtgesellschaften vom 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, daß den Personen im betrachteten Zeitraum, anders als in der Modeme, ein rasches Einfügen in verschiedene Kommunikationskontexte, ein Rollenwechsel, nicht ohne weiteres möglich war. Darauf aufbauend ist dann zweitens zu fragen, in welcher Form nötige Rollenwechsel zwischen Diskursräumen durchgeführt wurden. In den Blick zu nehmen ist zum einen die visuelle Erscheinung der Person: Kleidung, Gestik sowie weitere Attribute wie etwa Amtszeichen oder Schmuck. Zum anderen soll die Ausgestaltung der Plätze und Räume, auf und in denen kommuniziert wurde, thematisiert werden. Aus Platz gründen können die zunehmende Verschriftlichung im Verfahren und die Umformungen der Sprache selbst nur gestreift werden. Nicht ohne Grund stehen kommunale Amtsträger, insbesondere diejenigen des städtischen Gerichtswesens, im Zentrum des Beitrags. Denn den an Gerichtsverhandlungen beteiligten Amtsträgem wurde bei ihrer Tätigkeit in besonderem Maße ein Hineinschlüpfen in Rollen - etwa die des Richters - abverlangt, die sich stark von ihren im Alltag ausgeübten Rollen - etwa der des patrizischen Kaufmanns - unterschieden. Die Verhältnisse in den Städten Köln und Frankfurt bilden einen gewissen Schwerpunkt in der Untersuchung, jedoch wird immer wieder auch auf andere Städte einzugehen sein. Im Hinblick auf Kleidung, Amtszeichen, Gesten und Gestaltung des Gerichtsortes lassen sich innerhalb der betrachteten drei Jahrhunderte gravie~ rende Veränderungen feststellen. So verlagerte sich etwa - um vorzugreifen die Markierung der Richterrolle durch Gesten und ephemere, am Körper getragene Attribute hin zu einer durch architektonische Elemente und soziale Prädispositionen (Ausbildung) bestimmten Kennzeichnung. Die Änderungen im Gerichtswesen während des Spätmittelalters und vor allem in der Frühneuzeit werden in der historischen und rechtshistorischen Forschung zumeist unter den Gesichtspunkten ,Rationalisierung', ,Professionalisierung' und ,Sozialdisziplinierung' sowie ,Individualisierung' diskutielt, um nur einige
Stichworte zu nennen. Der hier gewählte kommunikationstheoretische Ansatz kann viele Stränge dieser Diskussion aufgreifen, stellt die dort angestellten Beobachtungen jedoch in einen anderen Zusammenhang. Der Beitrag fokussiert vornehmlich die verschiedenen Formen der Kommunikation vor Gericht in ihrem Verhältnis;ium kommunikativen Feld, Stadt' insgesamt. Damit ist implizit schon die These aufgestellt, daß die je spezifische Ausgestaltung dieses Verhältnisses für das Gericht von entscheidender Bedeutung war. Es wird deshalb zu fragen sein, ob nicht die Veränderung der Kommunikationsformen eine wichtige Voraussetzung dafür darstellte, daß das Gericht nun stärker sich selbst - und das heißt auch: die Art und Weise, wie in der Verhandlung Konflikte zu bearbeiten waren - zum Thema machen konnte. Denn die Hegungsfragen oder die Markierung der Richterrolle sind Themen, die ihren Bezugspunkt außerhalb des eigentlichen Gerichts finden. Im Verfahren des Spätmittelalters wurde ein Großteil der Aktivitäten darauf gerichtet, fortwährend die Kommunikation vor Gericht in ihrem Verhältnis zu anderen Formen der Kommunikation zu thematisieren. Dagegen ist um 1600 eine gewissermaßen ,eingerastete' Thematisierung des Verhältnisses dieser Diskursräume zueinander feststellbar. Aus der Binnenperspektive des Verfahrens scheint dies, so eine Vermutung, die Bedingung der Möglichkeit für eine stärker ausgeprägte Selbstreferentialität der Kommunikation vor Gericht dargestellt zu haben. In nur scheinbarem Widerspruch hierzu lautet die zentrale These, daß trotz aller beschreibbaren Änderungen die kommunikativen Grundmechanismen zur Kennzeichnung des Diskursraumes , Gericht' und der in ihm auftretenden Personen dieselben blieben. Es wird sich zeigen, daß sowohl um 1400 wie um 1600 zur Markierung der Richterrolle Rituale oder den Ritualen äquivalente Strategien implementiert wurden. Vor diesem Hintergrund ist dann abschließend zu fragen, ob und in welchem Maße sich allgemeine Einsichten in die Struktur der Kommunikation in der Vormoderne gewinnen lassen. Dabei wird es darauf ankommen, die von van Gennep entwickelten Ideen zu Übergangsriten in einfachen Stammesgesellschaften zu modifizieren, um sie für die Verhältnisse der europäischen Vormoderne nutzbar zu machen. Längst ist es zu einem Gemeinplatz geworden, daß Bilder nicht die Realität wiedergeben, und niemand würde behaupten wollen, das Mobiliar der Gerichtsräume habe genau so ausgesehen, wie auf den Holzschnitten gezeigt. Postuliert wird allerdings, daß die in den bildlichen Darstellungen zum Ausdruck gebrachten Raumkonzeptionen ihre Entsprechung in der konkreten Ausgestaltung der Lauben und Rathaussäle fanden. Die zum Teil noch erhaltenen Gebäude und Bestuhlungen, auf die an gegebener Stelle zu verweisen ist, stützen diese Annahme.
Ir. Städtische Amtsträger im Kontext eines integralen Personenverständnisses Um die Bedeutung des integralen Personenkonzepts in der Vormoderne für das hier behandelte Thema deutlich hervortreten zu lassen, ist zunächst der Begriff der ,Rolle' einzuführen. Die Diskussion um Kleider- und Aufwandsordnungen gruppiert sich, wie erwähnt, vornehmlich um den Begriff, Status' und das diesem zugrunde liegende Konzept einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, die sich selbst ihr zentrales Ordnungsmuster - eben auch durch Kleidung - immer wieder bestätigte und vor Augen führte. 1 Die Ergebnisse, die diese Forschung in den letzten Jahren erarbeitet hat, sollen hier nicht in Frage gestellt werden; auch dieser Beitrag greift an verschiedenen Stellen auf sie zurück. Die im Kern sozialgeschichtliche Kategorie, die mit dem StatusBegriff evoziert wird, erweist sich jedoch für die Verwendung unter kommunikationstheoretischer Perspektive als nur bedingt verwendbar. ,Status' thematisiert im Zusammenhang mit Kleidung die an der visuellen Erscheinung ablesbare Stellung einer Person innerhalb der Gesellschaft. Der Begriff der ,Rolle' rückt dagegen die Erwartungshaltung in das Zentrum der Betrachtung, die in einer bestimmten Kommunikationssituation an ein Gegenüber gerichtet ist. 2 Ein zentraler Aspekt des Aufsatzes wird sein, der Frage nachzugehen, wie diese Erwartungshaltungen in der Vormoderne generell strukturiert waren und wie sie sich für spezifische Situationen formatieren ließen. Die visuelle Erscheinung spielt hier eine wichtige Rolle. 1435 beschloß der Rat der Stadt Köln, daß das von der Kommune bezahlte und für die führenden Amtsträger - die beiden Rentmeister, die beiden Bürgermeister und den Stadtpfaffen - bereitgestellte Gewand von einheitlicher Farbe sein sollte. Die Farben, so der Beschluß weiter, waren von den bei den abgehenden Bürgermeistern und den Rentmeistern festzulegen. 3 Gut ein Jahrzehnt später wurde die Regelung wiederholt und präzisiert: Die amtierenden Bürgermeister und Rentmeister mit ihren Beisitzern hatten am Vorabend des Aschermittwoch zusammenzukommen und die ab dem Sankt Johannistag
Liselotte Constanze Eisenbart, Die Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums. (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 32.) Göttingen 1962; grundlegend: Neithard BulstlRobert lütte (Hrsg.), Zwischen Schein und Sein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft. (Saeculum, Bd. 44.) Freiburg/München 1993. 2 Vgl. unten bei Anm. 17 sowie die Literatur in Anm. 17-19. 3 Walther Stein, Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 10.) Bonn 1893/95, Ndr. Düsseldorf 1993, hier Bd. 2, Nr. 168, § 44, 278,22. 6. 1435; vgl. Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätrnittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450-1550). (Berliner Historische Studien, Bd. 29.) Berlin 1998, 208ff. 1
für das kommende Jahr von den Amtspersonen zu tragenden Farben zu bestimmen. 4 Ähnlich wie die leitenden Amtsträger wurden auch die übligen kommunalen Bediensteten - die Boten Werkleute, Söldner sowie die in kommunalen Diensten stehenden Wundärz~e - von der Stadt mit Kleidung von bestimmter Farbe, Qualität und bestimmtem Schnitt versehen. Da Boten und Werkleute anders als Bürger- und Rentmeister - nicht jährlich aus dem Amt schieden und es ihnen nicht zustand, die Farben selbst zu wählen, existieren über die von diesen Gruppen zu tragende Kleidung detaillierte Vorschriften. So bekamen die Boten des Gewaltgerichts acht Ellen Tuch, dazu lammfarbenes Futter. Zudem sollte die Kleidung, wie auch die anderer städtischer Boten und Dienstleute, aus Tuch in zwei unterschiedlichen Farben geschneidert werden, wobei die bei den Stoffe je halb und halb in der Mi-Parti-Form zusammenzunähen waren. Etwas versetzt von der Mitte war ein Streifen anzubringen, der von oben nach unten zu laufen hatte und vorn und hinten von der jeweils anderen Farbe sein sollte. Die Ärmel waren geschlossen zu tragen. 5 Noch detaillierter fällt die Beschreibung für die städtischen Kannenträger aus. 6 Nicht selten hatten die Bediensteten der Stadt in ihrem Amtseid zu geloben, die Kleidung beständig zu tragen und an der Amtstracht keine Veränderungen vorzunehmen. Dies beschworen 1412 etwa die Boten des Gewaltgerichts.7 Die detaillierte Beschreibung von Farbe, Schnitt und Futterstoff macht deutlich, mit welch großer Sensibilität die Kleiderfrage auch bei vergleichsweise wenig repräsentativen Ämtern behandelt wurde. So waren nicht nur alle, vom Bürgermeister bis zum Boten, als in städtischen Diensten stehend erkennbar. Darüber hinaus konnte man jede Person an ihrer Kleidung einer bestimmten Gruppe innerhalb der Administration - etwa den Werkleuten, den Kannengießern oder den Boten des Gewaltgerichts - zuordnen. 8 Die Bedeutung der Kleidung in der Stadt, speziell für die Administration, läßt sich daran ablesen, daß man sie umgekehrt als Kriterium für eine Normbestimmung nutzte: 1403 wurde festgelegt, daß Kölner Bürger, die für die Stadt tätig waren und Kleidung von der Kommune erhielten, mit Ausnahme der Bürger- und Rentmeister nicht in den Rat gewählt werden konnten. 9 An-
Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 202, Art. 1, § 1,319,6.6.1446; dazu Giel, Öffentlichkeit (wie Anm. 3), 208ff. 5 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Art. 1, § 8,322,6.6. 1446. 6 Diesen sollten "wellen" auf die Ärmel genäht werden; ebd. Bd. 2, § 9, 323. 7 Ebd. Bd. 1, Nr. 105, § 2, 266. 8 Dazu unten Anm. 22. .. 9 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 75, 228f., 22. 12. 1403; vgl. dazu Giel, Offentlichkeit (wie Anm. 3), 209ff. Zur Nichtwählbarkeit von Bediensteten, die städtische Kleidung trugen, vgl. Knut Schulz, Die politische Zunft, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Verwaltung und Politik in Städten Mitte1europas. Beiträge zu Verfassungsnormen und Verfassungs-
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gesichts der noch übersichtlichen Zahl städtischer Amtsträger ging es in diesem Kontext sicherlich nicht um die Möglichkeit der eindeutigen Identifikation einer für den Rat kandidierenden Person. Wer Schreiber oder Bote war, war dem Rat bekannt. Deutlich wird an diesem Statut allerdings, daß man ganz selbstverständlich die visuelle Erscheinung zu einem Kriterium für eine Rechtsregelung machte. Die Basis hierfür bildete letztlich das weitgehende In-eins-Setzen von Kleidung und gesellschaftlicher Rolle, "so daß ein jeder in seinem Stand unterschiedlich erkannt werden möge", wie es in einer späten Frankfurter Kleiderordnung heißt. lO Dies mag auch eine Erklärung für die oben erwähnte Sensibilität für Accessoires - etwa Futterstoffe oder Ärmelformen etc. - bieten. Amtsträger wurden aber nicht nur durch ihre Kleidung markiert. Nach dem Eidbuch von 1372 hatten die aus dem Amt geschiedenen Kölner Bürgermeister "golt ind bunt" zu tragen, also einen besonderen Schmuck anzulegen. II Die ehemaligen Amtsträger, alle aus den bedeutenden Familien der Stadt stammend, wurden dadurch dauerhaft, gerade auch nach ihrer Amtszeit, als Gruppe aus der Bürgerschaft herausgehoben. Um 1400 ist dagegen von einem besonderen Schmuck für die Bürgermeister nicht mehr die Rede. 12 Jetzt waren sie qua Eid dazu verpflichtet, während ihrer Amtszeit einen Amtsstab bei sich zu tragen. 13 Sicherlich diente der Wandel von der Schmuckbeigabe zum Stab dazu, die Bürgermeister, die ja nun die gleiche Kleidung wie die Rentenmeister und der Stadtpfaffe trugen, von diesen abzugrenzen, ohne sie durch wirklichkeit in altständischer Zeit. (Städteforschung, Rh. A, Bd. 34.) Köln/Weimar/Wien 1994, 1-20, hier 10f. 10 Corpus Legum Francofurtensium 1748. Bd. 1, 52, zitiert nach Maria R. Boes, Public Appearance and Criminal Judicial Practices in Early Modern Germany, in: Social Science History 20, 1996, 259-279, hier 266. Ähnlich die RPO von 1548: "damit in jeglichem Stand unterschiedliche ,Erkanntnuß seyn möge", zitiert nach Johanrl Jacob Schmauss/ Heinrich Christian von Senckenberg, Neue und vollständige Sammlung der Reichs-Abschiede: von Zeiten Kaiser Conrad des 11. bis ietzo; in 4 Theilen, nebst einer Zugabe zu dem 4. Theil der Reichsgesetze. Frankfurt am Main 1747, Ndr. Osnabrück 1967, Teilbd. 1,593. 11 Wer dies nicht tragen wollte, durfte auch "gein silver noch gemalieirt" tragen, also wohl auch anderen, den Patliziern vorbehaltenen Schmuck nicht anlegen; Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 28, Art. 2, § 2, 269; dazu Gerd Schwerhoff, "Die groisse oeverswenckliche costlicheyt zo messigen". Bürgerliche Einheit und ständische Differenzierung in Kölner Aufwandsordnungen (14.-17. Jahrhundert), in: RhVjb1l54, 1990,95-122, hier106. 12 Schwerhoff bemerkt, daß solche elitären Abgrenzungen nach dem Umsturz von 1396 nicht mehr in die ,politische Landschaft' paßten; Schwerhoff, Aufwandsordnungen (wie Anm. 11), 105 f. Vgl. Klaus Militzer, Ursachen und Folgen der innerstädtischen Auseinandersetzungen in Köln in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 36.) Köln 1980, 109ff.; Wolfgang Herbom, Die politische Fühnmgsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter. (Rheinisches Archiv, Bd. 100.) Bonn 1977, 124 ff. 13 Die Ende des 15.\Jahrhunderts einsetzenden Bürgermeisterporträts bilden den Amtsträger fast immer mit diesem Attribut ab; Peter Fuchs (Hrsg.), Chronik zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. Köln 1991, 103 ff.
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noch aufwendigere Kleidung zu stark herauszuheben. Zudem wurde der Stab nach Beendigung der Amtszeit - und dies ist ein wesentlicher Unterschied zu 1372 - wieder abgelegt. Eine wahrnehmbare Kennzeichnung der ehemaligen Bürgermeister unterblieb jetzt. Man könnte versucht sein, an diesem Wandel in der Ausgestaltung des Bürgermeisteramtes die Tendenz zu einem ,moderneren' Amtsverständnis abzulesen. Gerade die Art und Weise aber, wie mit dem Stab umgegangen wurde, zeigt, daß auch beim nur befristeten Amt des Bürgermeisters keine Differenzierung zwischen Amt und Person erkennbar wurde. Deutlich wird dies daran, daß die Bürgermeister den Stab nicht nur während ihrer Amtsgeschäfte mitzuführen hatten. Ausdrücklich wurde bestimmt, daß sie ihn auch bei ihren Wegen durch die Stadt, "up der straissen", bei sich tragen mußten.1 4 Dabei ging es nicht allein um Wege, die diese Amtsträger im Rahmen ihrer Dienstgeschäfte zurücklegten. 1414 stellte man in einem Zusatz klar, daß es ihnen nur zu Ostern und am ,weißen Freitag' erlaubt sei, ohne Amtsstab zu gehen. Weiter räumte man ein, daß sich die Bürgermeister bei der Rückkehr von einer Amtsreise ohne Stab durch die Stadt zu ihrem Haus begeben konnten, um dort das Amtszeichen zu holen. IS Daß der Stab als Symbol für Macht und Amtsgewalt I6 nicht zufällig den Bürgermeistern zugeordnet wurde, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Deutlich wird an den Quellenbeispielen zweierlei: Erstens macht gerade das Beharren auf dem Mitführen dieses Zeichens außerhalb des Rathauses klar, daß die zum Bürgermeister ernannte Person während ihrer gesamten einjährigen Amtszeit auch außerhalb der ,Amtsstube ' als Bürgermeister - und nicht etwa als ,Kaufmann' oder ,Immobilienbesitzer' - aufzutreten hatte. Zweitens zeigt das letzte Beispiel die sehr enge Verknüpfung von den dem Körper eines Amtsträgers beigegebenen, visuell wahrnehmbaren Attributen und der Rolle, die dieser in der Gesellschaft zu spielen hatte. 17 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 67, § 2, 220 (ca. 1400), Eid der Bürgermeister. Ebd. Bd. 1, Nr. 107, Art. 2, § 2, 269, Eidbuch 1413-1414. Zur juristischen Diskussion um den Richterstab siehe Hubert Drüppel, Iudex civitatis. Zur Stellung des Richters in der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt deutschen Rechts. (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 12.) Wien 1981,201 f., 226f. 17 Für die in der Moderne alltäglichen Rollenwechsel, die es ermöglichen, selbst gegensätzliche Erwartungshaltungen an die von einer Person ausgeübten Rollen zuzulassen, bleibt hier kein Raum. "Rollen können [in der Moderne] von der individuel1en Person unterschieden, als eigene [... ] abstraktere Gesichtspunkte der Identifikation von Erwartungs zusammenhängen dienen. [... ] Es geht immer nur um einen Ausschnitt des Verhaltens eines Menschen, der als Rolle erwartet wird, andererseits um eine Einheit, die von vielen und auswechselbaren Menschen wahrgenommen werden kann: um die Rolle eines Patienten, eines Lehrers, eines Opernsängers [... ]"; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 7. Aufl. Frankfurt am Main 1999,430 [Hervorhebung im Orig.]; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1998, 149ff.; Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main 1999, 246ff., 370. 14
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Die Basis einer solchen Konzeption von ,Amt' war das in der Vormoderne dominante integrale Personenkonzept 18 , welches eben keine scharfe Trennung zwischen den ausgeübten Rollen vorsah 19 . Der von der Forschung zu Trachtenbüchern und Kleiderordnungen herausgearbeitete Befund, daß diese Texte Person und Kleidung offenbar in eins setzen20 , erscheint so in einem neuen Licht: Ein solches In-eins-Setzen setzte nicht nur voraus, daß Personen sich ihrem Stand gemäß kleideten, sondern auch, daß die Person selbst als integrales Ganzes konzipiert wurde, sie also nicht situativ, vielleicht in derselben Kleidung, in unterschiedliche Rollen schlüpfen konnte. Erwartungen über ein bestimmtes kommunikatives Verhalten waren an die Person gebunden, deren Stellung wiederum an der Kleidung erkannt werden konnte. Die Wahrnehmung der Kleidung, die visuelle körperliche Erscheinung der Person insgesamt, bildete damit eine zentrale Orientierungshilfe für die Strukturierung von Erwartungen, wurde zu einem wichtigen Moment für die Formatierung der Kommunikation. Kleidung kann dann umgekehrt dazu benutzt werden, eine Rolle, die nicht von der Person abzuheben ist, in einem konkreten Kommunikationszusammenhang zu markieren und das heißt dann: eine bestimmte Erwartungshaltung herzustellen und zu spezifizieren. 2I 18 Der Wandel von der integralen Person zum ,Rollenbündel ' erfolgt erst um 1800; Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt - Köln, Aachen, Münster - 1700-1840. (Ancien Regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 24.) München 1995, 296ff., 303ff. 19 I?ies ist ?as eigentliche Problem vormoderner Prozessions- und Sitzordnungen: "Die s~zIale Log~k s~1cher Prozessions- und Sitzordnungen unterstellte jeder Person prinzipiell el~~n Platz m emer all:lfnfassenden lmd kontinuierlichen Hierarchie"; Barbara StollbergRllznger, Rang vor Gencht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit, in: ZHF 28,2001,385-418, hier 417 [Hervorhebung im Orig.]. "Einfachere Gesellschaften sind nicht oder nur sehr unvollkommen in der Lage, Rollen zu trennen. Auch sie aktivieren natürlich situationsweise verschiedene Rollen - in der Familie tritt man nicht als Krieger auf -, aber die Beurteilung, Kritik und Kontrolle des Verhaltens in einer Rolle ist konkret an die Person gebunden und nicht unabhängig von dem Verhalten in anderen Rollen möglich"; Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 1993 61. ' 20 Valentin Groebner, Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum "Trachtenbuch" eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert, in: ZHF 25, 1998,323-358, hier 348. Arbeiten zu Kleiderordnungen sind oft skeptisch, ob die einzelnen Statuten so durchgesetzt wurden. Das Prinzip, d~e Engführu?g von Kleidung und Pe~son, bleibt davon jedoch unberührt; vgl. zul.etzt (llllt LIteratur) AnJa lohann, Kontrolle llllt Konsens. Sozialdisziplinierung in der ReIchsstadt Frankfurt a. M. im 16. Jahrhundert. (Studien zur Frankfurter Geschichte Bd. 46.) Frankfurt am Main 2001, 189. ' 21. In ei~er Anek?o~e aus den Dunkelmännerbriefen übersieht ein Akademiker den gelben Rmg, mIt dem dIe Ihm entgegenkommenden Juden gekennzeichnet sind. Er hält sie aufgr~nd ihrer langen Mäntel für Standes genossen und grüßt freundlich, woraufhin er von sem~m Begleiter scharf zurechtgewiesen wird. Dies zeigt u. a., daß man generell davon ausgmg, Akademiker an ihrem Außeren erkennen zu können, und daß ein Nichterkennen al~ mangelnde soziale Kompetenz dem einzelnen angelastet wurde; vgl. Robert lütte, StIgma-Symbole. Kleidung als identitäts stiftendes Merkmal spätmittelalterlicher und früh-
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
Die Bekleidung der Bürgermeister, Boten und Kranleute zeugt davon, daß sich die städtischen Amtsträger an diesem gesellschaftlichen Grundkonzept auszurichten hatten. 22 War dies bei den zumeist lebenslang Beschäftigten noch wenig problematisch, so verlangte m,an immerhin von dem nur ein oder zwei Jahre amtierenden Bürgermeister, daß er für diese kurze Zeit vollständig in der neuen Rolle ,aufging'. Letztendlich wechselte er von einer ,integralen Person' zur anderen, und nicht zuletzt deshalb waren Amtseinführungen mit dem entsprechenden rituellen Aufwand verbunden. 23 Auf diesen Überlegungen basiert die zentrale Problemstellung, der sich der Beitrag im folgenden zuwendet. Denn zu fragen ist nun, welche Folgen ein solches, aus heutiger Sicht vergleichsweise undifferenziertes und vor allem: unflexibles Konzept für die Kommunikation selbst hatte. Wie konnten unter diesen starren Vorgaben überhaupt ephemere Rollenwechsel vorgenommen werden, bei denen eine Person nur kurzzeitig in bestimmten kommunikativen Kontexten agierte? Die städtische Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühneuzeit bietet hier ein lohnendes Untersuchungsfeld, da sie zu immer größerer Komplexität tendierte. Man könnte daher zunächst erwarten, daß dies eine immer differenziertere Vorstellung von Amt, Person und körperlicher Erscheinung zur Folge haben müßte. Allerdings folgt aus einer allgemeinen Komplexitätssteigerung nicht notwendigerweise eine grundlegende Umstrukturierung der Formen der Ausdifferenzierung. 24 Gerade die Analyse der Rolle des Richters im städtischen Gerichtswesen wird zeigen, daß sich hier eben keine klassische Entwicklungs geschichte, von der starren Auffassung des Mittelalters zu differenzierten, rationalen Konzepten der Neuzeit' erzählen läßt.
III. Formen der Rollenübernahme 1. Markierung der Richterrolle durch ephemere Körperattribute
Herauszuheben gilt, daß in Köln zwar die verschiedenen Gruppen kommunaler Bediensteter - vom Bürgermeister bis zu den die städtischen Kräne betreineuzeitlicher Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler), in: BulstlJütte (Hrsg.), Zwischen Schein und Sein (wie Anm. 1),65-89, hier 65. 22 In ihrer Festlegung berufs ständischer Kleidung gingen die Amtsträgereide der Gattung der Kleiderordnungen einige Jahrzehnte voraus. Letztere wandten sich erst ab ca. 1500 von den Luxus beschränkenden Regelungen ab und einer detaillierten Unterscheidung der Stände zu; Eisenbart, K1eiderordnungen (wie Anm. 1),51 f., 57f. 23 Zu dem Ritual Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, NI. 237, 435f., 21. 8.1475. 24 Franz-Josej Arlinghaus, Mittelalterliche Rituale in systemtheoretischer Perspektive. Übergangsriten als basale Kommunikationsform in einer stratifikatorisch-segmentären Gesellschaft, in: Frank Becker (Hrsg.), Systemtheorie und Geschichtswissenschaft. Reflexionen und Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 108-156, hier 122ff.
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benden Werkleuten - eine ,Amtstracht' trugen, nicht jedoch die bei den zahlreichen Gerichten der Stadt tätigen Richter und Schöffen. So bekam zwar der Gewaltrichterbote sein oben beschriebenes zweifarbiges Gewand, für den Richter des Gewaltgerichts war Ähnliches jedoch nicht vorgesehen. 25 Auch für die Mitglieder des Amtleutegerichts, des Hohen Weltlichen Gerichts, für die Ratsrichter, die Richter des Pferdegerichts etc. liegen keine Angaben über Kleidung vor. Das Fehlen einer Richtertracht läßt sich auch für andere Städte dieser Zeit beobachten. 26 Bildliche Darstellungen von Gerichtsszenen weisen in die gleiche Richtung. 27 Die Gründe für das Fehlen einer Richtertracht sind vielfältig und hängen mit der Stadt als Rechtsgemeinschaft und der Selbstdarstellung des Patriziats in der Kommune zusammen. Das Garantieren von Recht, die Bearbeitung von Konflikten, wurde als originäre, zentrale Aufgabe der städtischen Elite betrachtet. Nach innen kommunizierten ihre Verordnungen gegen Messerzücken und Gotteslästerung, daß das Patriziat die Aufgabe wahrnahm, den Frieden zu sichern und das Heil der religiös fundierten Stadtgemeinschaft zu schützen. Die Stadtrichter selbst traten nicht nur bei der Aburteilung spektakulärer Kapitalverbrechen in Erscheinung. Wie in anderen Städten auch ging in Köln alle drei Monate ein Richter mit dem Schreiber und den Boten durch die Stadt um in einer Art abgekürztem Verfahren Pfändungen vorzunehmen, die ih~ Gläubiger auf dem Weg auftrugen. 28 Nach außen achtete das Patriziat eifersüchtig darauf, daß ihm auf dem Gebiet der Rechtsprechung durch andere Institutionen keine zu starke Konkurrenz erwuchs. Dies betraf nicht nur die Abgrenzung gegenüber der geistlichen Gerichtsbarkeit; auch gegen relativ neue Einrichtungen wie etwa die der westfälischen Femegerichte betonten die Städte ihre Gerichtshoheit. 29 Besonders 25 .In den S~chsenspiegel-Illustrationen ist der Bote eindeutig durch die Kleidung gekennzeIchnet, die Schöffen jedoch nicht. Der Richter trägt "Herrentracht"; eine Richtertracht gibt es nicht; Dagmar Hüpper, Kleidung, in: Ruth Schrnidt-Wiegand (Hrsg.), Eike von Roepgow: ~er Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2 . FakSImIle. Text- und Kommentarband. Berlin 1993,163-183, hier 178f. 26 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 231 f. Anders in Italien: Andrea von HülsenEsch:.Kleid~r machen Leute, in: Otto Gerhard Oexle/Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.), Die Reprasenta~IOn der Grup~en. Texte - Bilder - Objekte. (Veröffentlichungen des Max-. Planck-Instltuts für Geschichte, 141.) Göttingen 1998,225-257, hier 225ff. 27 Beate Binder, Illustriertes Recht. Die Miniaturen des Hamburger Stadtrechts von 1497. (Veröffent1i~hungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 22.) Hamburg 1988, 113 ff., SOWIe Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der mod~rnen Rechtsprechung. 2., korr. Aufl. München 1985,26 Abb. 31,40 Abb. 63, und paSSIm. 28 ..Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 70,224,6.5. 1401; dazu UljHeppekausen, Die Koln.~r Statuten von 1437. Ursachen, Ausgestaltung, Wirkung. (Rechtsgeschichtliche Schnften, Bd. 12.) KölnlWeimar/Wien 1999, 161. Für Hamburg vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), 11. 29 Nach Groten definiert sich die Stadt "vorrangig als Pflegestätte der Gerechtigkeit";
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Franz-Josef Arlinghaus
empfindlich reagierte die Führungsgruppe der städtischen Bürgerschaft auf vom Stadtherrn vorgetragene Ansprüche hinsichtlich der Ausübung der Gerichtsbarkeit. Köln führte mit dem Erzbischof während des gesamten Spätmittelalters und der Frühneuzeit Auseinandersetzungen über Zuständigkeit und Besetzung des Hochgerichts, und auch die Abgrenzung zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit war regelmäßig Gegenstand von Kontroversen. 3D Die Kommunikation über die Identität und Unabhängigkeit der Stadt wie über die Funktion der das Gemeinwesen beherrschenden Gruppe fand also wesentlich im Bereich des Justizwesens statt. Es versteht sich daher nahezu von selbst, daß die Richter fast immer der eingesessenen politischen Führungsgruppe in der Stadt angehörten. Im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts gelang es den meisten Städten, den Stadtherrn aus dem Bereich der Rechtsprechung zu verdrängen und zumindest de facto in diesem Bereich selbstbestimmt zu handeln. 31 Abgesehen vom Hohen Weltlichen Gericht und den Gerichten, denen die Bürgermeister selbst vorsaßen, rekrutierten sich die Richter der zahlreichen städtischen Gerichte in Köln immer aus dem vor- und nachgesessenen Rat. 32 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß eine Auslagerung der richterlichen Funktion an ,Spezialisten' weitgehend unterblieb. Namentlich die Juristen kamen für die Übernahme solcher Aufgaben nicht in Betracht. Wer eine Universitätsausbildung abgeschlossen hatte, wurde noch bis weit in das 16. Jahrhundert hinein einer Gruppe zugerechnet, der zum Teil sogar der Zugang zum Rat verboten war. 33 In Köln wurden gelehrte Juristen erst Manfred Groten, Im glückseligen Regiment. Beobachtungen zum Verhältni~ ObrigkeitBürger am Beispiel Kölns im 15. Jahrhund~rt, in: .~J~ 116, 1996, 303-320, hIer 318; vgl. Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt 1m Spatnnttelalter (1250-1500). Stadtgest~lt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1.~88,. 21Off. . 30 Maria Clementine Beemelmans, Die Stellung des Hohen Kurfursthchen Genchts zum Rat der Stadt Köln (1475-1794), in: Jb. des Kölnischen Geschichts~erei~s 17, 1935, 1-43, hier 5 ff.; Dieter Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht zu Köln, m: Dleter Laum!Adolf KleinlDieter Strauch (Hrsg.), Rheinische Justiz, Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln. Köln 1994, 743-831, hier 799 ff. . . 31 Vgl. Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 162ff., der Jedoch noch zu sehr dIe formalrechtliche Seite betont. . 32 Heinrich Heinen Die Gerichte des Kölner Rates im 14. und 15. Jahrhundert, m: Jb. des Kölnischen Geschi~htsvereins 16, 1934, 120-171, hier 134f. Das gilt natürlich nicht für die Gerichte der Sondergemeinden; vgl. Friedrich Lau, Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396. Bonn 1898, Ndr. Amsterdam 1969,30ff. . ..... . 33 V gl. Frank Rexroth, Städtisches Bürgertum und landesherrl:che ~~IVers.~tatsstIftung m Wien und Freiburg, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Stadt und UmversItat. (S~adtefor~chu~g, Rh. A, Bd. 33.) KölnJWeimar/Wien 1993, 13-31, hier 13ff.; Klaus Wnedt, ymverslty Scholars in German Cities during the Late Middle Ages: Employment, Recrmtmen.t, a~d Support, in: William J. Courtenay/Jürgen Miethke (Eds.), Universities and Schoolmg m Medieval Society. Leiden 2000, 49-64, hier 49 ff.
seit den 1560er Jahren Ratsherrn. 34 Nürnberg hatte ähnlich lange Vorbehalte gegenüber dem Einzug von Universitäts absolventen in den Rat, selbst wenn diese aus einem Ratsherrengeschlecht stammten. 35 Dabei macht die Beschäftigung gelehrter Stadtschreiber und Syndici deutlich, daß es sich um keine generellen Vorbehalte handelte und die Fachkenntnis der Juristen durchaus geschätzt und in bestimmten Bereichen genutzt wurde. 36 Auch hatten die Stadträte keinerlei Bedenken, für den medizinischen Bereich promovierte Ärzte anzustellen. Es schien offenbar unbedenklich, Teile der Kommunikation über Gesundheitsfragen einem oft ortsfremden Experten zu überlassen. 37 Dagegen konnte eine weitgehende Auslagerung und Übertragung des Gerichtswesens an eine nicht dem Patriziat zugehörige Gruppe deshalb nicht in Betracht gezogen werden, weil damit die Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung der Stadt und ihrer Führungsschicht in einem zentralen Bereich eingeschränkt worden wäre. Das zentrale kommunikative Feld ,Rechtswesen ' mußte wahrnehmbar vom Patriziat besetzt werden. Anders als die Bürgermeister oder die Boten erhielten die Ratsmitglieder bis zum Ende des 16. Jahrhunderts keine einheitliche Amtstracht. Man kann aber davon ausgehen, daß die Angehörigen des Rates vielleicht nicht unbedingt als Mitglied dieses politischen Gremiums, wohl aber als Angehörige des Patriziats innerhalb der Stadt gerade auch durch ihre Kleidung kenntlich waren. Deutlich führen dies die sogenannten ,Augsburger Monatsbilder' aus dem frühen 16. Jahrhundert vor Augen. Im Dezemberbild treten die Ratsherren aus dem Rathaus kommend auf den großen belebten Platz. Ihre langen, schweren und zumeist pelzbesetzten Mäntel in den Farben schwarz, braun und grün heben sich deutlich von der Kleidung der übrigen Bevölkerung ab. 38 34
Dazu unten vor Anm. 73.
35 Hartmut Boockmann, Gelehrte Juristen ~udger Grenzmann/Bernd MoellerlMartin
im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: ders.l Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit. T. 1: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters, 1994/95. Göttingen 1998, 199-214, hier 199ff.; Dietmar Willoweit, Juristen im mittelalterlichen Franken. Ausbreitung und Profil einer neuen Elite, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. (ZHF, Beih. 18.) Berlin 1996,225-267, hier 261. 36 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, CXVIIIff.; Manfred 1. Schmied, Die Ratsschreiber derReichsstadt Nürnberg. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 28.) Nürnberg 1979, 63ff.; vgl. Eberhard Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: ZHF 28,2001, 1-94 (T. 1) und 161-261 (T.2), hier 178 ff. 37 V gl. Martin Kintzinger, Status Medicorum. Mediziner in der städtischen Gesellschaft des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Peter Johanek (Hrsg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800. (Städtefarschung, Rh. A, Bd. 50.) Köln 2000,63-91, hier 90. 38 "Kurzweil viel ahn' Maß und Ziel". Alltag und Festtag auf den Augsburger Manatsbildern der Renaissance. Hrsg. v. Deutschen Historischen Museum Berlin. München 1994, Monat ,Dezember'. Dazu Hartmut Boockmann, Lebensgefühl und Repräsentationsstil der Oberschicht in den deutschen Städten um 1500, in: ebd. 33-47, hier 33 ff.
472 Die Miniaturen des Hamburgischen Stadtrechts von 1497 zeigen die Ratsherren ebenfalls nicht in einheitlicher Amtstracht, aber in distinguiert-vornehmer Bekleidung.39 Daß fast alle Kleider- und Aufwandsordnungen den Patriziern Sonderrechte hinsichtlich Qualität und Schnitt der zu tragenden Kleidung einräumen, stützt diesen Befund. 40 In der Kölner Morgensprache von 1476 wurde festgelegt, daß die Ratsmänner und Ratsrichter den "tabbertz" mindestens knielang tragen sollten, die "heucke" durfte eine Handbreit über dem Knie enden. 41 Damit kann man zwar von einer tendenziell vereinheitlichten, aber nicht von einer vollständig einheitlichen Kleidung für die Mitglieder des Rates ausgehen. Zudem wird explizit nicht zwischen Ratsmännern und Ratslichtern unterschieden. Der städtische Richter ohne Amtstracht, der wohl immer dem Patriziat zuzurechnen war, weist sich so durch seine Kleidung als Mitglied dieser politisch-sozialen Gruppe aus. Die Kommunikation über Frieden und Recht in der Kommune stellte, wie gesagt, ein zentrales Moment der Identitätsstiftung dieser Führungsgruppe dar. Die Übertragung der Richterfunktion an einen außenstehenden Spezialisten war damit nahezu unmöglich. Da aber kommunikative Prozesse dieser Zeit von einem weitgehend integralen Personenkonzept ausgingen und sich eng an der visuellen Erscheinung orientierten, hätte das Überstreifen einer Robe zur Markierung des Richters dessen Zugehörigkeit zur Führungsschicht relativiert. Die Verbindung von Patriziat und Rechtsprechung wäre damit zu stark ,verdeckt' worden. Dennoch, und hier liegt der Kern der Problematik, stellte auch in der Vormoderne das Verhandeln über Recht keinen flächig in den Alltag integrierbaren Austausch dar. Die Bearbeitung von Konflikten war brisant genug, um besondere Formen der Kommunikation, um die Errichtung eigener Diskurse zu erfordern. Eine Gerichtssitzung kann dann als ein eigener Diskursraum betrachtet werden, und die darin Kommunizierenden mußten zumindest für die Dauer der Verhandlung einen Rollenwechsel vornehmen. Dies gilt sicherlich in besonderer Weise für den Verhandlungsleiter, aber auch Urteiler und Parteien waren letztlich davon betroffen. Wie aber war ein temporärer Rollenwechsel unter den genannten Prämissen - integrales Personenkonzept, enge Verknüpfung von visueller Erscheinung und Rolle - durchzuführen? Da Richter und Urteil er sozusagen in ihrer Alltagskleidung agierten, waren, so kann vermutet werden, expressive, stark ritualisierte Kommunikationsformen erforderlich, um das Gericht als eigenständigen Diskursraum zu etablieren und den beteiligten Personen einen Rollenwechsel zu ermöglichen.
Vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), bes. 123. Neben vielen jüngst für Frankfurt Johann, Kontrolle (wie Anm. 20), 192ff. . 41 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 392, § 2, 552, Morgensprache, 19.7. 1476. DI.e Heuke ist ein ärmelloser Umhang, der Tappert ein langes, geknöpftes Obergewand mIt Ärmeln; vgl. Eisenbart, Kleiderordnungen (wie Anm. 1), 135 bzw. 138 f.
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Sich mit dieser Perspektive den Vorgängen vor einem spätmittelalterlichen Gericht zu nähern, erlaubt eine Neuinterpretation bekannter, aber bisher zumeist auf einen postulierten Prozeß der Rationalisierung hin gedeuteter Phänomene. Gut einfügen in das gezeichnete Bild lassen sich die sogenannten Hegungsfragen, also bestimmte Sprachgesten, mit denen der Gerichtstag eröffnet wurde, genauer: sich das Gericht erst einmal selbst als solches ins Leben rief. Üblicherweise handelte es sich um einen Dialog feststehender Fragen und Antworten, der zu Beginn jedes Sitzungstages wiederholt wurde. Nahezu jede Hegung begann mit der Frage, ob dies der rechte Tag und die rechte Stunde sei, Gericht zu halten. Nach positiver Antwort schloß sich die Frage nach dem rechten Ort an. 42 Thematisiert wurde also, was kaum je zweifelhaft sein konnte. In zahlreichen ritualisierten Dialogen zu Beginn eines Gerichtstages thematisierten die Hegungsfragen das Richter-Sein des Verfahrensleiters. Inhaltlich hoben die Fragen dabei zumeist auf religiöse und juristisch-politische Aspekte ab, etwa indem man betonte, der Richter habe die Gnade von Gott und vom Landesfürsten. 43 In Magdeburg fragte der Richter zunächst nicht danach, ob er die Gerichtssitzung zu leiten berechtigt sei. Quasi auf einer Metaebene agierend, will er zuerst wissen, ob er denn überhaupt das Ding hegen dürfe. Der Schöffe antwortete, das dürfe er wohl, weil er ja der Richter sei, "noch dem mole das her richter sey".44 Auch nach dem Landrecht des Richtstegs fragt der Richter, ob er berechtigt sei, "ein dingh tho hegen".45 Aus juristischer Perspektive erwarb der Richter durch diesen Teil der Hegung "jeweils von neuem die öffentliche Anerkennung seiner judizialen Gewalt und der Legitimität der Amtshandlungen". 46 Aus kommunikationstheoretischer Sicht wurde im Zuge des performativen Aktes der Hegung ein eigener Diskursraum aufgespannt und innerhalb dieses Diskurses einer bestimmten Person ihre
42 Kurt Burchardt, Die Hegung der deutschen Gerichte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte. Leipzig 1893; Jakob Grimm, Deutsche Rechts altertümer. Hrsg. v. Andreas Heusler, Rudolf Hübner. Bd.2. 4. AufL Leipzig 1922, 851ff. (bzw. 4~3 ff.). Darauf, daß die spätmittelalterlichen Gerichte des Rates weitgehend formlos ihr~. SItzungen durchführten, weil ihre Richter als ,Deputierte des Rates' auftraten, kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. Wilhelm Ebel, Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts. (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 6.) Göttingen 1953,57. 43 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 71 f. und passim. 44 Zitiert nach Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16),284. 45 Hans Rynmann von Öhringen/Karl August Eckhardt (Hrsg.), Sassenspegel mit velen nyen addicien san dem lehnrechte unde richtstige. Sachsenspiegel Landrecht und Lehnrecht mit doppelter Glosse. (Bibliotheca rerum historicarum, Bd. 10.) Augsburg 1516, Ndr. Aalen 1978, Ldr. cap 29; ähnlich ebd., Ldr. cap. 1. 46 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anrn. 16),284.
Rolle jeweils erneut zugewiesen. 47 Es wird so verständlich, warum es erforderlich war, die Hegung zu Beginn jedes Gerichtstages zu wiederholen. Eine weitere Variante der ritualisierten Gerichtseröffnung findet sich etwa in Köln. Wurde um 1400 vor dem Hohen Weltlichen Gericht eine Bluttat zur Anzeige gebracht, so wies man den Klägeizunächst wieder aus dem Gerichtssaal. Ein Schöffe führte ihn dann in den Raum zurück, wobei der Kläger dreimal "waiffen" rief. Auf die Frage des Richters an den Schöffen, warum er denn "waiffen" gerufen habe, wurde die Verwundung, gegebenenfalls die Leiche, in Augenschein genommen. 48 "Waiffen" verweist auf das sogenannte , Gerüft', einen Hilferuf, bei dem in der Stadt jeder Bürger verpflichtet war, hinzuzueilen und Unterstützung zu leisten. Offenbar wurde hier zur Eröffnung des Gerichts symbolisch eine aktuelle Notsituation in ihren Grundzügen nachgestellt, die man dann in ein rechtmäßiges Verfahren überleitete. 49 Auch im weiteren Verlauf des Verfahrens waren die Dialoge von formelhaften Wendungen durchzogen. Zudem wurde jeder während der Verhandlung getätigten Einlassung, jedem gesprochenen Wort, eine besondere Bedeutung zugemessen: , Versprach' sich eine Partei, etwa bei der Aufstellung von Behauptungen oder beim Eid, konnte sie den Prozeß verlieren. Um dieser sogenannten ,Prozeßgefahr' ("vare") zu begegnen50 , bediente man sich bekanntlich eines Fürsprechers. Er sprach für die Partei, irrte er im Gebrauch einer Wendung, wurde dies nicht der Partei angelastet. 51 Hinzu trat, daß jede Rede und Widerrede der Parteien mit einer sogenannten Urteilsfrage endete. Die Partei bzw. ihr Fürsprecher stellte dem Richter die (formelhafte) Urteilsfrage - etwa welche Zeugen zugelassen würden -, dieser griff sie auf und stellte diese Frage der Reihe nach jedem einzelnen Urteil er. Die Entscheidung Bei Ritualen und performativer Sprache handelt es sich um "originäre sinnkonstitutive Akte". Diese können nicht "auf vorausgehende kognitive Leistung reduziert werden" und, so möchte man ergänzen, müssen auch keine magischen Vorstellungen evozieren; Andrea Belliger/David Krieger, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998,7-33, hier 18. Zum Ritual vgl. unten die Anm. 122 und 124. 48 Stein, Akten (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 318, Art. 3, § 1,2, 556f., 14.115. Jahrhundert. 49 Ähnlich in Herford; Wolfgang FedderslUlrich Weber, Das Herforder Rechtsbuch. Edition und Übersetzung, in: Theodor Helmert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch der Stadt Herford. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Original-Format der illuminierten Handschrift aus dem 14. Jahrhundelt. Kommentarband. Bielefeld 1989,2-104, hier 50; vgl. lohann lulius Wilhelm von Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen. Bd. 1. Braunschweig 1878, Ndr. Hildesheim 1973,202. 50 Zum Prozeßverlust konnte "jedes Sichversprechen beim Gebrauch der vorgeschriebenen Formeln, jede falsche Körperhaltung und Gebärde" führen; Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht. (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Bd. 449.) Tübingen 1975, lOff., Zitat 16. Dort (S. 14) auch Ebels bekanntes Diktum, die Form sei die älteste Norm. 51 Vgl. Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang. (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 8.) München 1971, 159ff., 181 ff.; Planck, Gerichtsverfahren (wie Anm. 49), 202ff., 214. 47
der Urteiler wurde dann wieder vorn Richter verkündet. 52 Wenn im Holsteinischen der Richter in Form einer solchen Urteilsfrage sogar um die Erlaubnis bitten mußte, seinen Stuhl umsetzen zu dürfen53 , zeigt dies nicht nur die Bedeutung, die der Positionierung des Gerichtspersonals im Raum beigemessen wurde. Deutlich wird auch, daß die Urteils fragen nicht lediglich als eine Möglichkeit der Bearbeitung materiell- oder prozeßrechtlicher Probleme betrachtet werden können. Insgesamt vollzogen sich große Teile der Kommunikation vor Gericht in dieser besonderen Dialogform. Mit der Hegung war die Markierung des Diskursraumes ,Gericht' also nicht abgeschlossen. Die hier eingeleitete Form der dialogisch-formalisierten Rede zog sich durch die gesamte Verhandlung und hatte die Aufgabe, auch durch die Sprachgestaltung während des ganzen Gerichtstages das Gericht als besonderen Diskursraum zu kennzeichnen. Die Schilderung der Kommunikationsformen vor Gericht kann hier knapp ausfallen, da das Verfahren, wenn auch unter anderer Perspektive, in der Literatur breit diskutiert wurde. 54 Innerhalb dieses durch eine rituelle Eröffnung und spezifische Dialogformen aufgespannten Diskursraumes wurde insbesondere der Richter als solcher gekennzeichnet. Im Spätmittelalter erfolgte die visuelle Markierung jedoch nicht über die Kleidung, sondern über bestimmte, ihm während der Hegung beigegebene Accessoires und über die Körperhaltung. In Graubünden etwa nahm der Richter zu Beginn der Hegungsfragen den Hut vom Kopf. Der Fürsprecher beantwortete die erste Hegungsfrage des Richters am Ende mit der Bemerkung, "setzend euweren hout auf und setzend euch nider".55 In anderen Fällen wurde dem Verhandlungsleiter zu Beginn des Gerichtstages ein Schlüssel übergeben. 56 Die Hinweise auf Hut und Schlüssel sollen verdeutlichen, daß der dem Richter am weitaus häufigsten beigegebene Gegenstand, der Stab, nicht notwendigerweise (etwa weil er das Zeichen von Herrschaft war) zur Kennzeichnung benutzt werden mußte. Allerdings läßt sich aufgrund der überaus zahlreichen Belege für die Verwendung des Stabes gut aufzeigen, daß es hier um mehr ging als um die Repräsentation von Herrschaft. Obwohl der Stab dem Ammann oder Schultheißen vorn Gerichtsherrn bei der Amtseinsetzung feierlich übergeben wurde, erschien der Richter nicht mit dem ihm bereits verliehenen Symbol zum Gerichtstag. Vielmehr wurde ihm der Stab während des Hegungs- oder Eröffnungsrituals jeweils erneut, zumeist durch den Fron- oder Die spätmittelalterlichen Gerichtsformulare geben für einen Prozeß über 40 solcher Fragen vor; Götz Landwehr, ,Urteilfragen ' und ,Urteilfinden ' nach spätmittelalterlichen, insbesondere sächsischen Rechtsquellen, in: ZRG GA 96, 1979, 1-37, hier 4f. 53 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 80. 54 Planck, Gerichtsverfahren (wie Anm. 49), 155 ff.; Schlosser, Zivi1prozeß (wie Anm. 51), 221 ff. 55 Zitiert nach Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 234. 56 Ebd. 235.
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Gerichtsboten, übergeben. 57 Zuvor fragte er beispielsweise, ob es jetzt an der Zeit sei, ,den Stab in die Hand zu nehmen' .58 Das Vorgehen erinnert an die oben wiedergegebene Hegungsfrage, mit deren Beantwortung dem Richter versichert wurde, daß er das Ding hegen dürfe, weil er der Richter sei: Der Richter betrat d.~n Gerichtsort nicht als Richter, er wurde an diesem Ort jeweils erneut dazu gemacht. Aber selbst diese Übergangsrituale59 , so scheint es, reichten nicht aus, um die betreffende Person auf die Rolle des Verhandlungsleiters festzulegen. Der Richter mußte den erst zu Beginn des Gerichtstages aufgenommenen Stab nun permanent in Händen halten. Das Niederlegen des Stabes war, wie etwa auch das Umstürzen der Bänke, auf denen Richter und Urteiler saßen, Teil des Rituals, mit dem der Gerichtstag beendet wurde. 6o Beim Stabhalten ging es jedoch nicht nur um die Eröffnung oder Aufhebung des Gerichts allgemein, sondern speziell um das Aufnehmen und Ablegen der Richterrolle im Verfahren. Als sich in Regensburg am 8. Oktober 1359 der Schultheiß weigerte, eine Verhandlung zu leiten, nahm "Ott der Woller den stab in deu hant und saz an daz recht".61 Das Beispiel Ulm illustriert sehr klar, wie Aufnehmen und Ablegen des Attributes dazu benutzt wurden, selbst während des Gerichtstages Rollenwechsel vorzunehmen. Mußte der Richter und Stadtammann ("minister"), wenn er zugleich Geschworener ("iudex iuratus") war, während einer Verhandlung als solcher agieren, hatte er für diese Zeit den Richterstab einer Person zur Aufbewahrung zu übergeben und zu den Urteilern zu treten. 62 Mit dem Stab legte er die Richterrolle ab und schlüpfte durch den Wechsel der Position im Raum in die Rolle des Urteilers. Über die Beigabe solcher Attribute hinaus wurde der Verhandlungsleiter durch eine bestimmte Körperhaltung gekennzeichnet. Bekanntlich durfte der Richter nicht stehen, er mußte auf einer Bank oder einem Stuhl Platz nehmen. Stand er auf, galt der Gerichtstag als beendet. Damit hatte das Aufstehen ähnliche Folgen wie das Niederlegen des Stabes. Das Gebot, sitzend die Verhandlung zu führen, galt zumeist auch für die Urteil er, während Parteien und Fürsprecher zu stehen hatten. 63 Anders als bei den Urteilern war dem Richter Ebd. 236 f. V gl. Gemot Kocher, Richter und Stabübergabe im Verfahren der Weistümer. Graz 1971,83. 58 Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 236f. (mit weiteren Belegen). 59 Zum Ritualbegriff vgL unten die Anm. 122 und 124. 60 Die Aufhebung des Gerichts war auch von der Form her quasi eine Umkehrung der Hegung; Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 242f.; Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 852 f. (bzw. 485 f.). 61 Zitiert nach Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16), 227. Ähnliche Beispiele bei Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 761 ff. (bzw. 371 ff.). 62 Drüppel, Iudex civitatis (wie Anm. 16),227 Anm. 19. Kocher bringt Beispiele, bei denen derjenige, der den Stab überreicht bekam, für die Zeit der Abwesenheit des ,eigentlichen' Richters selbst zum Richter wurde; Kocher, Stabübergabe (wie Anm. 57), 65 ff. 63 Adalbert Erler, Art. "Sitzen", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.
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darüber hinaus jedoch eine bestimmte Sitzhaltung vorgeschrieben. So hatte er der Verhandlung mit gekreuzten Beinen beizuwohnen. 64 Den Abbildungen zufolge legte der Richter zumeist die bei den Unterschenkel übereinander; seltener winkelte er ein Bein soweit an, daß die Wade des einen auf dem Knie des anderen ruhte (vgl. Abb. 1, S. 478).65 Selbstverständlich kann weder davon ausgegangen werden, daß für jedes Gericht ein solch ausführlicher Eröffnungsritus durchgeführt wurde, noch wird man für die spätmittelalterlichen Richter annehmen wollen, daß sie alle in der geschilderten Weise auftraten. Andere, subtilere Ritualformen, das Gericht zu beginnen und den Richter als solchen zu kennzeichnen, sind mehr als wahrscheinlich; der folgende Abschnitt wird Varianten vorstellen. Zuvor gilt es jedoch, ein Zwischenfazit zu ziehen. Deutlich geworden ist, daß man sich das Gericht nicht als etwas bereits Vorhandenes und die Verhandlung als etwas einfach Stattfindendes vorstellen muß. Das Gericht mußte sich als Gericht in jeder Sitzung erneut selbst konstituieren. Durch ein System von Fragen und Antworten wurde, einem Übergangsritus vergleichbar, ein besonderer Diskursraum zur Konfliktbearbeitung eingerichtet und zugleich innerhalb dieses Diskurses einer Person die zentrale Rolle des Richters zugewiesen. 66
Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1679; losej Kohler/Willy Scheel (Hrsg.), Die Bambergische Halsgerichtsordnung. Unter Heranziehung der revidierten Verfassung von 1580 und der Brandenburgischen Halsgerichtsordnung zusammen mit dem sogenannten Correctorium, einer romanistischen Glosse und einer Probe der niederdeutschen Übersetzung. Halle an der Saale 1902, Ndr. Aalen 1968,40, Art. 95. 64 Abbildungen bei Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 133 ff.; dazu (mit Literatur) ders., Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild des Richters, in: Medium Aevum Quotidianum 27, 1992, 11-32, hier 11 ff. 65 Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 140 Abb. 294, 77 Abb. 141, 133 Abb. 275. 66 Nach Ebel war es nicht der Gegenstand, sondern die Form, die "das Rechtsgeschäft vom formlosen bloßen Gespräch [schied], auch wenn dieses auf Rechtswirkung gerichtet" war. Allerdings band er den Befund über die Kategorie, Wahrnehmung' an eine (implizit postulierte) andere Denkweise zurück: "Der wahrgenommene und wahrnehmbare Rechtsritus entschied über die Wirkung der Rechtshandlung", und "Symbole schaffen eine sinnbildliche Form, um einen abstrakten Vorgang zum sichtbaren Ausdruck zu bringen"; Ebel, Recht und Form (wie Anm. 50), 16f., 9. Ähnlich kommt für Ott in den Rechtsgesten eine "natura1e Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und Denken" zum Ausdruck; Norbert H. Ott, De~ Körper als konkrete Hülle des Abstrakten. Zum Wandel der Rechtsgebärde im Spätmittelalter, in: Klaus SchreinerlNorbert Schnitz1er (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1992,223-241, hier 226f. Gezeichnet wird hier das Bild einer Vormoderne, die sich dem Abstrakten nur über konkret Visualisiertes und körperlich Erfahrbares annähern konnte. Es gilt aber gerade als Wesen mittelalterlicher Rechtstexte, daß sie die Schilderung von Ritualen neben die begriffliche Durchdringung des rechtlichen Vorgangs stellen; Wolfgang Seilert, Gewohnheit, Formalismus und Rechtsritual im Verhältnis zur Steuerung sozialen Verhaltens durch gesatztes Recht, in: Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und RituaL Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 7.) Köln 1997,29-47, 37f.
Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
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2. Fixieren und Vorverlagern der Rollenmarkierungen
Das Zurückweichen der soeben beschriebenen ritualistischen Elemente aus dem Prozeßwesen seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wird zumeist als quasi-natürliche Folge eines Rationalisierungsprozesses interpretiert. Das Vordringen humanistischen Gedankengutes und die Rezeption des römischen Rechts, die unter anderem durch die sogenannten Stadtrechtsreformationen greifbar wird 67 , scheinen wenig Raum für formalistische Hegungsfragen oder für das Beachten der Gestik zu bieten. Diese Einschätzung wird zunächst durch Aussagen des 15. und 16. Jahrhunderts bestätigt. So bezeichnet der juristisch gebildete Humanist und Kartäusermönch Werner Rolevinck (14251507) die Rechtsbräuche, denen er als Kind noch fasziniert beigewohnt hatte, als "scheinheilige Nichtswürdigkeit".68 1551 ging der Richter in Soest "stracks sitten", begann also den Gerichtstag ohne rituellen Aufwand. 69
Abb. 1: Miniatur aus der Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Das Gericht tagt im Freien und ist durch die Schrannen eingegrenzt. Der Richter hat keinen besonderen Stuhl, er sitzt mit den Urteilern zusammen auf der Bank. Kenntlich ist er an Stab und Beinhaltung sowie der Beschriftung ,iudex'; Schild (Hrsg.), Volkaclwr Halsgerichtsordnung (wie Amn. 94), 19.
Beides, Diskursraum und Rollenzuweisung, hatten ephemeren Charakter, d. h. sie waren weniger auf Permanenz denn auf einen limitierten Zeithorizont, auf baldige Aufhebung, ausgerichtet. Die Markierung der Richter-Rolle war genau darauf abgestellt: Sowohl der Stab als auch die Beinhaltung waren leicht ableg- bzw. änderbar. Insbesondere im Vergleich zur Kleidung, die in der mittelalterlichen Auffassung eben nicht nur ,übergestreift' war, sondern fast untrennbar zu der auf Dauer gestellten Rollenausübung dazugehörte, können die in der Hand gehaltenen Gegenstände und die einzunehmende Sitzposition als Betonung der zeitlichen Begrenztheit der ausgeübten Rolle interpretiert werden. Zudem ließen Stab und Körperhaltung die Kleidung des Richters zwar in den Hintergrund treten, sie blieb jedoch weiterhin deutlich wahrnehmbar. Auch visuell wies sich der Stadtrichter damit in erster Linie als Mitglied der städtischen, den inneren Frieden garantierenden Führungsschicht aus. Erst in zweiter Linie trat er als der für die Konfliktregelung zuständige Amtsträger in Erscheinung.
Dieses Erklärungsmodell, obwohl in den letzten Jahren Modifikationen unterworfen70, knüpft den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von Ritualen im Gerichtswesen weitgehend an spezifische, sich wandelnde Denkweisen. Hier wird hingegen nicht so sehr mit einer vormodernen ,Mentalität' argumentiert7 1, die im ritualistischen Symbolgebrauch aufscheine; Kleidung, ritualisierte Dialogformen, Gesten und Symbole werden vielmehr als zentrale Elemente der Orientierung von Kommunikation betrachtet. Dieser Aspekt wird von dem Argument, das Zurückdrängen des Rituals im Verfahren sei eine Folge des Vordringens von Rationalität oder einer Verwissenschaftlichung des Rechts, nicht erreicht. Damit stellt sich aber für einen kommunikationstheoretisch arbeitenden Ansatz die Aufgabe, die unbestreitbaren Veränderungen im Prozeßgeschehen ebenfalls mit diesem Instrumentarium zu analysieren und aus dieser Perspektive Erklärungen anzubieten. Im folgenden wird argumen67 Die Nürnberger Reformation von 1479 machte hier den Anfang; Wolfgang Leiser, "Kein doctor soll ohn ein solch libell sein". 500 Jahre Nürnberger Rechtsreformation, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 67, 1980, 1-16, hier 1 ff. V gl. demnächst Ingrid BaumgärtnerlPeter Johanek (Hrsg.), Die Rezeption des gelehrten Rechts im Regnum teutonicum. Kolloquium der Werner Reimers-Stiftung vom 26. bis 28. Februar 1998. Berlin (im Druck). 68 Werner Rolevinck, De laude antiquae Saxoniae nuc Westphaliae dictae. Ein Buch zum Lobe Westfalens, des alten Sachsenlandes. Text der lateinischen Ausgabe vom Jahre 1474 mit deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Hermann Brücker. 2. Auft. Münster 1982, c. IV, 32. Vgl. dazu Drüppel, Index civitatis (wie Anm. 16),287. 69 Drüppel, Index civitatis (wie Anm. 16),287. 70 Karin Nehlsen-von Stryk, Die Krise des "irrationalen" Beweises im Hoch- und Spätmittelalter und ihre gesellschaftlichen Implikationen, in: ZRG GA 117, 2000, 1-38, 8 ff.; Wolfgang Sellert, Zur Geschichte der rationalen Urteilsbegründnng gegenüber den Parteien insbesondere am Beispiel des Reichshofrats und des Reichskammergerichts, in: Gerhard Dilcher/Bemhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zn Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie (Symposion für Adalbert Erler). Berlin 1986,97-113, hier 111ff. 71 Vgl. hierzu Anm. 66.
tiert, daß in der Auswahl der Richter aus einer für dieses Amt prädestinierten (und visuell markierten) Gruppe, den Juristen, in Kombination mit der architektonischen Gestaltung des Gerichtsraumes Äquivalente zu der zuvor durch Ritual und Gestik erfolgten Rollenmarkierung zu sehen sind. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden in Deutschland die erwähnten Vorbehalte gegen eine Aufnahme von Universitätsabsolventen in den städtischen Rat aufgegeben. Der Kölner Jurist Herrmann von Weinsberg berichtet voller Stolz, er sei 1543 ,seit Menschengedenken' der erste graduierte Ratsherr der Rheinmetropole geworden.7 2 Aber erst ab den 1560er Jahren gesellten sich ihm weitere Ratsherrn mit Uni vers itäts ab schluß zu; ab 1600 hatten dann recht konstant - etwa 10 bis 12 Prozent aller Ratsherrn ein Studium absolviert, der überwiegende Teil ein juristisches.7 3 Obwohl nun in den Rat integriert, waren die in diesem Gremium sitzenden Gelehrten dennoch als eigene Gruppe wahrnehmbar.74 In einer Reihe von Details wies ihre Kleidung Gemeinsamkeiten auf, die so bei den übrigen Ratspersonen nicht zu finden waren. Bekanntlich legte die Kleiderordnung der Augsburger Reichspoliceyordnung (RPO) von 1530 nach einer ausführlichen Erläuterung der für den Adel angemessenen Kleidung fest, daß ,,[d]esgleichen" die "Doctores und ihre Weiber, auch Kleider, Geschmuck, Ketten, gülden Ring und anders, ihrem Stand und Freyheit gemäß tragen" mögen.7 5 Diese im Vergleich zu den Bestimmungen für Adel und Ritter unspezifische Vorschrift ist richtigerweise so gedeutet worden, daß die Gelehrten dem Adel gleichgestellt waren. Immerhin zählten 1632 zwei der genannten Gegenstände, der Ring und die Kette, zu den Insignien, die in Freiburg den Promovenden auf dem Weg zu ihrer Disputation feierlich auf Kissen vorangetragen wurden.7 6 Aufgrund solcher Sonderrechte bestand für die Juristen die Möglichkeit, sich schon äußerlich aus dem Kreis des Patriziats einer Stadt herauszuheben. So war das Tragen von Goldketten nach der Frankfurter Kleiderordnung von 1576 auch dem ersten Stand generell verboten. Nur jene, "die es von alters hero fehig gewest", wurden von der Regelung ausgenommen, durften aber nur Ketten bis zu einem Wert von 150 Gulden anlegen. Von diesen und ande72 Zu zwei Ausnahmen vor 1543 vgl. Wolfgang Herborn, Der graduierte Ratsherr, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Norddeutschland. (Städteforschung, Rh. A, Bd. 23.) Köln/Wien 1985,337-400, hier 337ff., 379ff. 73 Ebd. 344. 74 Spezialuntersuchungen für den Raum nördlich der Alpen fehlen. Heide Nixdoif.{IHeidi Müller (Hrsg.), Weiße Westen - Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. Berlin 1983, 34ff., 115, können unterschiedliche Kleidung der verschiedenen Fakultäten deutscher Universitäten angeben. 75 SchmausslSenckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1, 338, ebenso 593 (1548), Teilbd. 2, 384 (1577). 76 Dieter Speck, Das Promotionswesen an der Universität Freiburg. Eindrücke, Trends und Probleme, in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. Köln 2001, 51-66, hier 57.
ren Einschränkungen nicht betroffen waren diejenigen, "so ihres stands halben dessen gefreyet seind, als die vom Adel, Ritter und Doctores".77 Selbst wenn man in der Ausnahmeregelung keine unbegrenzte Befreiung hinsichtlich des Wertes und Gewichtes der tragbaren Ketten für Doktoren annehmen will78 , so ist bei der oben aufgezeigten Sensibilität für Futterstoffe oder der Ausführung von Ärmeln an Botengewändern davon auszugehen, daß die Unterschiede durchaus wahrgenommen wurden. Schon 1489 hatte es wegen dieses Männerschmucks in der Mainmetropole eine aufsehenerregende Auseinandersetzung zwischen Johann von Rücking und der Stadt gegeben. Rücking war auf einer Jerusalem-Wallfahrt dem zyprischen Schwertritterorden beigetreten, dessen Mitglieder unter anderem goldene Ketten trugen. Die Frankfurter Kleiderordnung von 1488 verbot jedoch ohne jede Ausnahme das Tragen solcher Ketten. Der Konflikt eskalierte soweit, daß Johann in Beugehaft genommen wurde, um die Einhaltung der Ordnung zu erzwingen. Dagegen konnte sich wenige Jahre später Johanns gleichnamiger Neffe, der Jurist und kaiserliche Rat Dr. Johann von Rücking (1483-1511), ohne jegliche Schwierigkeiten mit Goldketten geschmückt in Frankfurt bewegen. Hartrnut Bock, der diese Ereignisse zusammenstellt, kann so darlegen, warum in den zahlreichen Miniaturen der "Chronik Eisenberger" einzig die beiden Gelehrten Dr. Johann von Rücking und Dr. Johann Thomas Eisenberger (um 1560) mit schweren Goldketten dargestellt wurden. 79 Die ,Goldkettchen-Verordnung' wurde deshalb so ausführlich thematisiert, weil sich mit ihr in verschiedenen Quellen eindeutige Hinweise auf eine besondere visuelle Markienmg der Gelehrten in der Stadt finden lassen. Weitere Kennzeichnungen über Kleidung und Accessoires - etwa durch die Verwendung bestimmter Stoffe 80 - sind wahrscheinlich, aber weniger gut festzuklopfen. Ein bisher wenig beachteter, hier jedoch wichtiger Punkt tritt hinzu: In den Städten konnten sich die Lizentiaten ähnlich kleiden wie die Doktoren, Frankfurter Kleiderordnung von 1576, zitiert nach Inke Worgitzki, Kleiderordnungen in Frankfurt am Main von 1356-1731: Gesetzgebung, ständische Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Frankfurt am Main 2000, 178. Die Bestimmungen werden in den Ordnungen von 1597 und 1621 wiederholt; ebd. 182, 187. 78 Nach der RPO - und den Bezug stellt die Frankfurter Ordnung deutlich her - durften Adelige und Doktoren Ketten bis zu einem Wert von immerhin 200 fl. tragen. Schmaussl Senckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1,338 (1530),593 (1548), Teilbei'. 2, 384 (1577). 79 Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat. (Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main, Bd. 22.) Frankfurt am Main 2002, 422, insbes. Anm. 1257 (mit Literatur), Abb. 70 (124) und 120' (191). 80 Samt war den Patriziern in Frankfurt verboten; dem Adel und somit den Doktoren waren nach der RPO zumindest sechs Ellen erlaubt; SchmausslSenckenberg, Reichs-Abschiede (wie Anm. 10), Teilbd. 1,338 (1530); zum Samtverbot in Frankfurt vgl. Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 178. 77
wenn sie eine ähnliche berufliche Tätigkeit ausübten. 1640 werden die Lizentiaten in der Frankfurter Kleiderordnung erstmals erwähnt und in den ersten Stand eingeordnet. Zusammen mit den Doktoren waren sie von den auch für diesen Stand gültigen Beschränkungen ausgenommen - womit ihnen im Gegensatz zu den übrigen Ratsherren das tragen von Handschuhen, von vollständig samtenen Mänteln und Perlenschnüren erlaubt war. 81 Auch in dem nur fragmentarisch überlieferten Entwurf einer Kölner Kleiderordnung von 1697 wurden die "Doctores & Licensiati" zusammen mit den "Patricij" und "Syndici" der "Ima Classis" zugeschlagen,82 Nach der Frankfurter Kleiderordnung von 1731 zählen sie aber nur zum ersten Stand, "so [sie] sich ihren Dignitaeten gemäß bezeugen, und nicht in das Notarien-Amt einmischen",83 Die Notare und Prokuratoren reihte man seit 1597 in den dritten Stand ein, zwei Stufen unter jenen Gelehrten, die wichtigere Ämter in der Stadt bekleideten bzw. im Rat präsent waren. 84 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die graduierten Juristen, gleich ob Lizentiaten oder Doktoren, dann ähnliche Kleiderprivilegien in Anspruch nehmen konnten, wenn sie auch de facto zum ersten Stand in der Stadt zu rechnen waren. Die Differenz im Grad der akademischen Ausbildung stand hinter der Differenz in der Position im städtischen Sozialgefüge zurück. 85 Vielleicht ist in dieser Uneinheitlichkeit der Kleidung des Gelehrtenstandes der Grund dafür zu suchen, daß zwar die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts den Gelehrten einen eigenen Abschnitt widmeten, jedoch zu deren Kleidung - im Gegensatz zu den Rittern - keine genaueren Angaben machten: Die Universitätsabsolventen waren je nach Berufswahl unterschiedlichen Ständen zuzuschlagen und hatten sich dann eben diesem "ihrem Stand gemäß" zu kleiden. Auch in den meisten Trachtenbüchern sucht man vergeblich nach der Gelehrtentracht. 86 Die Aufnahme der Graduierten in den Rat der Städte signalisiert, daß sie nun als integrierter Teil der städtischen Führungsschicht betrachtet wurden. Damit stand ihrer Beschäftigung bei den Gerichten auch in der Position des Richters nichts mehr im Wege. Denn die Übertragung der Konfliktregelung an diese nun integrierte Gruppe war für die kommunale Leitung jetzt nicht mehr Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 193. Zitate nach Schwerhoff, Aufwandsordnungen (wie Anm. 11), 116. 83 Zitiert nach Worgitzki, Kleiderordnungen (wie Anm. 77), 202. 84 Ebd. 79 ff. Auch bei den Handwerkern rangierten jene, die im Rat vertreten waren, zwei Stufen über ihren Berufskollegen; ebd. 85 Die Hierarchisierung innerhalb der Juristen während des 16. und 17. Jahrhunderts war ein gesamteuropäisches Phänomen; vgl. Filippo Ranieri, Vom Stand zum Beruf. Die Professionalisierung des Juristenstandes als Forschungsaufgabe der europäischen Rechtsgeschichte der Neuzeit, in: Ius commune 13, 1985,83-105, hier 96ff. 86 Hans Weigel, Trachtenbuch. Nürnberg 1577, Faksimile-Ndr. Unterschneidheim 1969, XCII. 81
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mit der Gefahr verbunden, an Selbstdarstellungsmöglichkeiten einzubüßen. Aus Sicht des Patriziats blieb das Rechtswesen weiterhin ein zentrales kommunikatives Feld, das zwar nicht gänzlich ausgelagert, wohl aber an eine spezielle Gruppe innerhalb der Führungsschicht übertragen werden konnte, wenn diese als Bestandteil des Patriziats wahrgenommen wurde. Die Zahlen für Köln belegen, daß die gelehrten Juristen nun bei der Besetzung der Richterstellen eine herausragende Stellung einnahmen. Wie erwähnt, rekrutierte man die Richter der städtischen Gerichte in Köln aus dem vor- und nachgesessenen Rat; nach 1600 waren ca. 10 bis 12 Prozent dieser Ratsherrn Juristen. Eine Durchsicht der Kölner Ämterlisten des frühen 17. Jahrhunderts ergibt, daß man aus der kleinen Gruppe juristisch gebildeter Ratsherrn zwischen 30 und 70 Prozent aller Richter und Urteiler der Ratsgerichte rekrutierte. 87 Lediglich beim Gewaltgericht, das aber mit seinen stark polizeilich geprägten Aufgaben auch schon im 15. Jahrhundert von den Vertretern der führenden Gaffeln gemieden wurde, waren die Juristen unterrepräsentiert. 88 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung am Kölner Hochgericht. Seine Schöffen rekrutierte das Gericht im Verfahren der Selbstergänzung 89 ; es war also bei der Rekrutierung seines Personals nicht auf das Vorhandensein von Gelehrten im Stadtrat angewiesen. Nach der von Wolfgang Herborn und Peter Arnold Heuser vorgelegten Studie besuchten zwar einige Schöffen bereits im 15. Jahrhundert die Universität, sie wählten allerdings meist die Artistenfakultät, und kaum einer machte ein Examen. 9o Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konnte ein nennenswerter Teil des Schöffenkollegiums ein abgeschlossenes Jurastudium vorweisen. Nach 1600 87 Aus arbeitsökonomischen Gründen basiert die Auswertung auf einer um 1900 aus den Originalen zusammengestellten Amtsträgerliste; Historisches Archiv der Stadt Köln, Ratsämter 1 (1454-1800). Die Abschrift gilt als zuverlässig; mögliche kleinere Abweichungen vermögen die relevante Aussage nicht zu beeinträchtigen. Mit einbezogen in die Auswertung wurden die Urteiler des Bürgermeister- und Amtleutegerichts. 88 V gl. Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt. Bonn 1991, 52ff.; Herborn, Führungsschicht (wie Anm. 12),326. 89 Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anm. 30), 772ff.; Wolfgang HerborniPeter Amold Heuser, Vom Geburtsstand zur regionalen Juristenelite - Greven und Schöffen des' kurfürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: RhVjb1l62, 1998,59-160, hier 79. 90 Herbom/Heuser, Juristenelite (wie Anm. 89), 79, sprechen von "mehr oder weniger intensiv universitär" vorgebildeten Schöffen; Herborn, Führungsschicht (wie Anm. 12), 418f. Die Zuordnung der Schöffen zu bestimmten Fakultäten ist nicht aus dem Blickwinkel der Kompetenz zu betrachten. "Rechtskenntnis ist in der Frühmodeme ja entweder standesgenerierend (für nichtadelige Juristen) oder statusvalidierend (für den Adel)"; Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert). Frankfurt am Main 1991,345.
waren fast alle Mitglieder des Gerichts graduierte oder promovierte Juristen. 91 Obwohl das Hochgericht in Personalfragen formal gegenüber dem Kölner Rat größere Unabhängigkeit beanspruchen konnte, waren auch hiernach der Integration der Gelehrten in die städtische Führungsschicht und zeitlich parallel zu ihrer Beschäftigung in den Übrigen Gerichten der Stadt - sogar fast ausschließlich Juristen tätig. Für die Kommunikationssituation vor Gericht, für die Form der Übernahme der Richterrolle, mußte eine solche, auch durch Schmuck und Kleidung kenntlich gemachte Vereindeutigung jener, die überhaupt für diese Funktion in Frage kamen, gravierende Folgen haben. Die festgestellte Prädisposition der Mitglieder einer bestimmten Gruppe innerhalb des Patriziats für das Richteramt dürfte eine ritualisierte Rolleneinführung (Hegung) zu Beginn jedes Gerichtstages weniger notwendig gemacht haben. Bevor dies eingehender diskutiert werden kann, ist zunächst auf die konkrete Gestaltung des Raumes einzugehen, in dem Gericht gehalten wurde. Gericht fand im Spätmittelalter zumeist unter freiem Himmel statt. 92 Zu Beginn eines jeden Gerichtstages war daher erst der Ort abzugrenzen, an dem das Gericht tagte. Dies geschah zum Teil durch das Spannen von Seilen, zum Teil bildeten die Bänke, auf denen man saß, mit ihren erhöhten Rückenlehnen eine Abgrenzung. 93 In der Regel errichtete man jedoch eine Art Holzzaun, die sogenannten Schrannen, um den eigentlichen Gerichtsort einzugrenzen. 94 Zwar gab es in den Städten bald Gerichtshäuser, aber in ihnen fand nicht immer auch die Verhandlung statt. 95 Selbst im 15. Jahrhundert tagten auch in großen Städten einzelne Gerichte, wie etwa in Köln das erbvogteiliche Gericht St. Gereon, noch auf einem Hof unter einer Linde; für Rottweil ist dies bis in das 18. Jahrhundert hinein nachweisbar. 96 Auffällig ist zudem, daß sich Vgl. die von Herbom/Heuser, Juristenelite (wie Anm. 89), 69ff., zusammengestellten Namenlisten der Schöffen mit Angaben zu ihrer universitären Ausbildung. 92 Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm.42), Bd.2, 793 ff. (bzw. 411 ff.), sowie Erwin Braun, Die Entwicklung der Gerichtsstätten in Deutschland. Erlangen 1943, 93ff. Vgl. jedoch insbes. zum Gericht in Köln Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anm. 30), 784ff., sowie ders., Kölnisches Gerichtswesen bis 1794: Die Ordnung des Hochgerichts. 14. bis 15. Jahrhundert, in: Joachim Deeters/Johannes Helrnrath (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit (1396-1794). 2. Aufl. Köln 1996, 29-62, hier 34 ff. 93 So Diebold Schillings Darstellung (um 1480); Gemot Kocher (Hrsg.), Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie. München 1992, 155 Abb. 236. 94 Wolfgang Schild (Hrsg.), Die Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Rothenburg ob der Tauber 1997,9, 17. Nach Grimm wurden im Süddeutschen ,Bank' und ,Schranne' oft synonym gebraucht; Grimm, Rechtsaltertümer (wie Anm. 42), Bd. 2, 81Of. (bzw. 435). ,Hegen' meint ursprünglich ,Einzäunen'; Burchardt, Hegung (wie Anm. 42), 21. 95 Braun, Gerichtsstätten (wie Anm. 92), 93, 124. In Volkach trafen sich um 1500 Richter und Schöffen im Rathaus, um dann unter Führung des Richters auf dem Markt das Gericht zu hegen; Schild (Hrsg.), Volkacher Halsgerichtsordnung (wie Anm. 94), 18. 96 Lau, Entwicklung (wie Anm. 32), 42f.; Friedrich Thudichum, Geschichte der Reichs-
etwa in Köln trotz der beachtlichen öffentlichen Bautätigkeit97 keine Bestrebungen zur Errichtung eines Gerichtsgebäudes ausmachen lassen. Das erste in Köln vom Stadtrat eingerichtete Gericht hieß bezeichnenderweise "Das Gericht von den Gästen hinter der Tür". Namen wie "Das Bürgermeistergericht auf dem Fischmarkt" oder "Das Bürgermeistergericht auf dem Kornmarkt" weisen auf die Offenheit dieser Orte städtischer Konfliktregelung hin. Das Kölner Gewaltgericht tagte wohl noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor dem Rathaus. 98 Neben den Vorhallen von Kirchen99 kann als ,klassischer' Ort für Verhandlungen in der Stadt die im 13. Jahrhundert aufkommende Gerichtslaube gelten. In diesen meist den Rathäusern angegliederten, offenen Vorbauten tagte beispielsweise das Lübecker Niedergericht bis weit in die Frühe Neuzeit hinein lOO , so daß der ephemere Charakter, der dem Gericht unter der Linde anhaftete, im Kern bestehen blieb (vgl. Abb. 2).101 Wenn in Herford im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts der Gograf das Vogtding abhalten wollte, so sollte er dies "uppe deme rathus" tun, womit, wie die zugehörige Illustration zeigt, offene Arkaden oder eine am Rathaus angefügte Laube gemeint waren. Der Tagungsort mußte jedenfalls erst herge11chtet werden, denn die Fronboten hatten zu Beginn des Gerichtstags einen Tisch aufzustellen, auf den Reliquiar und Richtschwert gelegt werden sollten. 102 Auf der Miniatur im Herforder Rechtsbuch, die das Gericht im Moment der Hegung zeigt, begrenzen Bänke mit hohen Rückenlehnen den gehegten Raum. Auch sie wurden wohl jeweils für den Gerichtstag dort aufgestellt, da sie zum Teil auf grünem Rasen stehen.1 03 Die in der Literatur zumindest für das Tagen in Lauben und ähnlich offenen Räumen gegebene Begründung, man wollte mit ihnen rechtlich geforderte ,Öffentlichkeit' herstellen, muß hier nicht diskutiert werden. Zu fragen ist
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stadt Rottweil und des Kaiserlichen Hofgerichts daselbst. (Tübinger Studien für Schwäbische und Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2.) Tübingen 1911, 69. 97 Lau, Entwicklung (wieAnm. 32), 292f., 31Off. 98 Ebd. 30ff.; Heinen, Gerichte (wie Anm.32), 133ff.; Strauch, Gerichtswesen (wie Anm. 92), 34ff.; Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 88),52. 99 Das Kölner Hochgericht tagte in der Vorhalle des alten Domes; wann es im Mittelalter ein eigenes Gebäude bekam, ist nicht zu klären; vgl. Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht " (wie Anm. 30), 787. 100 Wilhelm Ebe!, Lübisches Recht. Lübeck 1971, 328ff. Abbildungen noch existierender Rathauslauben bei Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm, 27), 143 ff. 101 Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924,12 Abb. 8 (Frankfurt, 1571); Kocher, Zeichen (wie Anm. 93), 151 Abb. 229, datiert das Bild versehentlich auf 1523. Zu Parallelen zwischen Linde und Laube schon Braun, Gerichtsstätten (wie Anm. 92), 93 ff. 102 FedderslWeber, Herforder Rechtsbuch (wie Anm. 49),38. 103 He!mert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch (wie Anm.49), fol. 2rec. Meine Interpretation folgt weitgehend Ulrike Lade-Messerschmied, Die Miniaturen des Rechtsbuches der Stadt Herford, in: He1mert-Corvey (Hrsg.), Rechtsbuch (wie Anm. 49),198-207, hier 203ff.
Abb. 2: Titelholzschnitt "Neu Formular und Kanzleibuch ", Frankfurt 1571. Idealisierte Darstellung einer Gerichtssitzung in offener Halle. Der Richter sitzt bereits auf einem erhöht aufgestellten Richterthron. Anders als in Abb. 3 (S. 489) sind die Schäffen jedoch nicht auf einer gesonderten Ebene plaziert; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 12 Abb. 8.
vielmehr, was dieses Raumkonzept für die Kommunikation an Orientierung leistete bzw. nicht leistete. 104 Während des Spätmittelalters lassen sich die Formen der Markierung des Platzes, an dem die Gerichtsverhandlung durchgeführt wurde, zwischen den beiden Polen, Teil-Sein-von' und ,AbgegrenztSein-von' verorten. Dies entspricht der Stellung des Gerichts im kommunikativen Feld der Stadt des 14. und 15. Jahrhunderts: Hier operierte keine Institution, die an einem genau definierten Ort ihre genau definierbaren Funktionen erfüllte. Vielmehr war Konfliktbearbeitung einer von mehreren Themenberei104 Raum wird definiert als "organisierte Abstände" zwischen Menschen und/oder Gegenständen. "Konstituierend für den Raum ist die Grenze, an der er endet, und seine Qualität wechselt"; Werner Paravicini, Zeremoniell und Raum, in: ders. (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. (Residenzenforschung, Bd. 6.) Sigmaringen 1997, 12-27, Zitat 14. V gl. Charles Burroughs, Spaces of Arbitration and the Organization of Space in Late Medievalltalian Cities, in: Barbara A. HanawaltIMichael Kobialka (Eds.), Medieval Practices of Space. (Medieval Cultures, Vol. 23.) Minneapolis 2000, 64-100, hier 74ff.
chen, in dem sich die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft über sich selbst verständigte. Der Bereich ließ sich eingrenzen, konnte und sollte jedoch nicht dauerhaft abgegrenzt werden. Es ging dann genau darum, dieses In-derSchwebe-Halten deutlich und dauerhaft architektonisch durch die Konzeption des Raumes hervortreten zu lassen. Ein so strukturierter Gerichtsraum erweist sich zudem als gut vereinbar mit einem Konzept, das den vorübergehenden, wenig festen Charakter der Rollen akzentuiert, die von den einzelnen in diesem Diskursraum ausgeübt wurden. Speziell für den Richter tritt ein Weiteres hinzu. Das Mobiliar des Gerichts bestand neben einem Tisch fast immer aus einfachen Bänken. Während die Parteien und ihre Berater stehen mußten, nahmen der Verhandlungsleiter und die Urteiler auf diesen Bänken Platz. Auf manchen Abbildungen ist der Gerichtsschreiber die einzige Person, die auf einem Stuhl vor einem kleinen Schreibpult etwas abgesondert sitzt. 105 Bei dieser Sitzanordnung hat der Richter im wörtlichen Sinne keine herausragende Stellung inne. Von den neben ihm plazierten Beisitzern hob er sich oft nur durch den Stab - aber einen solchen hatte auch der Fronbote - und durch die gekreuzten Beine ab (vgl. Abb. 1).1 06 Ende des 15. und im Verlauf des 16. Jahrhunderts zeichnet sich in der Durchgestaltung des Gerichtsraumes ein tiefgreifender Wandel ab. Konnte vorher der Umstand dem Gericht unter der Linde noch von allen vier Seiten beiwohnen, so scheint auch für das auf dem städtischen Platz, unter der Laube oder in einem Raum tagende Gericht die Offenheit nach zumindest zwei oder drei Seiten zunächst üblich gewesen zu sein. 107 Mehr und mehr jedoch wurden Gericht und Publikum einander gegenübergestellt, so daß man nur noch von vorn an das Gericht herantreten konnte und Zuschauern bestenfalls durch Fensteröffnungen der Blick von der Seite gestattet wurde. lOS Zunehmend wurde der Richter durch eine thronartige Sitzgelegenheit von der Gruppe der Urteiler getrennt und nicht selten in der Mitte der dem Publikum gegenüberliegenden Wand plaziert. 109 Damit nicht genug: Parallel dazu begann man Etwa HerfOl'd Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 151 Abb. 325. Schild (Hrsg.), Volkacher Halsgerichtsordnung (wie Anm. 94), 19; ders., Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 133 Abb. 276, passim. 107 Das heute noch erhaltene Lüneburger Stadtgericht tagte in der Ecke eines größeren Raumes und war an zwei Seiten offen, nur durch die Gerichtsschranken abgetrennt; Schild; Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 139 Abb. 289. Um 1500 bleibt die vollständige dreiseitige Abschließung quasi auf halbem Wege stecken; vgl. Binder, Illustriertes Recht (wie Anm. 27), Abb. D, 115; Wolfgang Sellert, Recht und Gerechtigkeit in der Kunst. Göttingen 1993,59, Holzschnitt aus "Der neu Layenspiegel", Augsburg 1512. 108 Kocher, Zeichen (wie Anm.93), 99 Abb. 142, Rotterdam 1649. Ähnlich der Titelkupfer zu Sebastian Brands Clagspiegel, Augsburg 1536; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 55 Abb. 52. 109 1591 wurde in Rothenburg ob der Tauber im Rathaussaal ein heute noch erhaltener steinerner thronähnlicher Sitz als Gerichtsplatz errichtet; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm.27), 146 Abb. 312. Beim Umbau des Kölner Rathauses im 16. Jahrhundert erhielt 105
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nun, in dem Gerichtsraum mehrere Ebenen einzuziehen. Gerichtsschreiber, Prokuratoren und Parteien agielien auf der untersten Stufe, dem eigentlichen Boden des Raumes. Die Bänke der Beisitzer wurden auf einer hufeisenförmig angelegten zweiten Ebene aufgestellt, so daß sie das Geschehen im Innenraum von einer höheren Warte aus beobachten konnten. Der Stuhl des Richters stand, wiederum erhöht, auf dieser zweiten Ebene, so daß er auch die Beisitzer um mindestens einen Kopf überragte. Zusätzlich findet sich über dem Richterstuhl oft ein Baldachin, der dem Sitz des Verhandlungsleiters ein thron ähnliches Gepräge gab (vgl. Abb. 3).110 Die Unterschiede in der Durchgliederung des Raumes, in dem Konflikte bearbeitet wurden, und die Ausstattung und Positionierung des Richters in diesem Raum weisen in dem betrachteten Zeitraum tiefgreifende Veränderungen auf. Vor einer abschließenden Diskussion gilt es, diese bei den Aspekte zusammenzuführen. Der Personenkreis, der für eine Besetzung des immer noch zeitlich befristeten Richteramtes fast ausschließlich in Frage kam, war in der Zeit um 1600 deutlich eingeschränkt. Reichte es bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zumeist aus, wenn man dem Patriziat zugerechnet wurde, so mußte man jetzt darüber hinaus zumeist eine Universität besucht haben. Man mußte also zur Führungsschicht gehören und innerhalb dieser Schicht Mitglied einer besonderen Gruppe sein. Aus dieser Perspektive ist der Universitätsbesuch als eine Form des Übergangsritus zu betrachten 111, denn in der Frühneuzeit qualifizierte der Abschluß bekanntlich nicht nur zur Ausübung bestimmter Berufe, sondern führte zu einer umfassenden Veränderung der Position des Graduierten in der Gesellschaft 112 . Allerdings handelte es sich bei diesem Ritual gewissermaßen um ein ,Kombinationspräparat', denn die Graduation entfaltete - wie aufgezeigt - ihre spezifische Bedeutung erst in Verbindung mit der daraufhin eingenommenen Stellung des Absolventen in der Stadt. Die Kleidung dieser Personen entsprach im großen und ganzen der eines Patriziers der jeweiligen Stadt, wich aber in deutlich wahrnehmbaren Nuandas Bürgermeistergericht ebenfalls einen gemauerten Stuhl; Marianne GechterlSven Schütte, Ursprünge und Voraussetzungen des mittelalterlichen Rathauses und seiner Umgebung, in: Walter GeislUlrich Krings (Hrsg.), Köln. Das gotische Rathaus und seine historische Umgebung. (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd.26.) Köln 2000, 69-195, hier 147. 110 Auf den 1744 und 1746 erstellten Grundrissen des Kö1ner Hochgerichts, die das damals Vorhandene wiedergeben, ist der geschlossene Raum durch mehrere Ebenen gegliedert. Von der höchsten, für die Beisitzer gedachten Ebene aus ist ,,[d]er richter Stohl mit Noch 3 auff Drit", also nur über drei Stufen, zu erreichen; Strauch, Das Hohe Weltliche Gericht (wie Anrn. 30), 789 f., Abb. 8 und 9. Das Titelblatt der Nassauer Gerichtsordnung von 1535 setzt dies ins Bild (vgl. Abb. 3); Heinemann, Richter (wie Anm. 101),53 Abb. 50; ähnlich zeichnet Tengler um 1512; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 1Of., Abb. 2. 111 Zum Promotionsritual vgl. Speck, Promotionswesen (wie Anm. 76), 56ff. 112 Vgl. Anm. 90.
Abb. 3: Titelkupfer der Gerichtsordnung der Grafschaft Nassau von 1535. Der Richter sitzt auf einem um zwei Stufen erhöhten Richterstuhl, der zudem mit einem Baldachin hervorgehoben ist. Die Schöffen sind ebenfalls erhöht, aber niedriger als der Richter plaziert. Parteien und Parteivertreter agieren auf dem eigentlichen Fußboden. Vorn ragt noch die Schranne in das Bild. Die Sitzung findet in geschlossenem Raum statt, was einerseits durch die links der Säule dargestellte Szene im Freien betont, andererseits durch das offene Fenster relativiert wird; Heinemann, Richter (wie Anm. 101), 53 Abb. 50.
cen davon ab. Der dem Patriziat angehörende Jurist war so eindeutig gekennzeichnet, der städtische Richter damit jedoch noch nicht. Denn während es in den meisten Städten nur einen Scharfrichter gab, der seinen Beruf zumeist ein Leben lang ausübte, war die Tätigkeit an einem der oft zahlreichen städtischen Gerichte weiterhin befristet und wurde ,nebenbei' ausgeübt.1 13 Der Scharfrichter mußte bei seiner Tätigkeit keinen Rollenwechsel vornehmen, der Stadtrichter war dagegen primär gelehrter Patrizier, der als solcher nur für den Tag der Verhandlung die Rolle des Richters annahm. Der Rollenwechsel wurde aber nun dadurch erleichtert, daß man jetzt auf Personen zurückgreifen konnte, die im Vergleich zum Ratsherrn des 14. oder 15. Jahrhunderts stärker für diese Rolle prädestiniert waren. Anders formuliert: In die Erwartungshaltung, die der Person des im Rat sitzenden Gelehrten entgegengebracht wurde, war bereits ein Stück weit die Möglichkeit eingewoben, daß sie auch als Vorsitzender in einem Prozeß begegnen konnte. Die, Vorinitiation ' der Gelehrten trug sicherlich zu einer Erleichterung der Rollenübernahme während der Gerichtsverhandlung bei. Zudem zeichneten sie sich während des Prozesses durch den Gebrauch einer juristischen Fachsprache aus. Der gelehrte Richter konnte seine Einlassungen mit bestimmten Spezialtermini und lateinischen Wendungen ausstatten, die sich auch vom Humanistenlatein unterschieden. 1l4 Weiter betrat der Richter nun zu Beginn des Gerichtstages einen Raum, dessen Gestaltung die Kommunikation bereits stark formatierte. Das fest installierte, zum Teil gemauerte Mobiliar signalisierte Stetigkeit und Dauerhaftigkeit, signalisierte in gewisser Weise ein Fortbestehen des Gerichts auch nach Ende der Verhandlung. Das Gericht mußte nicht erst durch das Heranschaffen von Tischen und Bänken jeweils von N eu em aufgebaut werden. Innerhalb dieses verstetigten Raumes gab es eine Kongruenz zwischen der Plazierung der Personen und der von ihnen übernommenen Rollen. Die Unterscheidung zwischen Richter und Urteiler war jetzt durch die zwischen Stuhl und Bank verdeutlicht; die eingezogenen Ebenen formten die Rollendifferenz als Höhenunterschiede aus. Das Ensemble von ineinandergreifenden Formen, mit denen um und nach 1600 operiert wurde, kann so in seiner Funktion als Äquivalent zu den rituellen Handlungen interpretiert werden, die zuvor im Gericht begegneten. Ein permanent abgetrennter, nur für den Zweck der Verhandlung benutzter Be113 lutta Nowosadtko, Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier "unehrlicher Berufe" in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1994, 52ff. 114 Schon die mittelalterliche Rechtssprache gilt als Fachsprache, nur war sie von anderer Form und an keine bestimmte Personengruppe gebunden; vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters, in: Werner Besch/Anne BettenlOskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Teilbd. 1. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd.2.) 2. Aufi. BerlinlNew York 1998, 87-98, hier 87ff. (mit Literatur).
reich in der Rathauslaube machte die während der Hegung gestellte Frage, ob dies denn der rechte Ort sei, nicht nur aus sachlichen Erwägungen heraus überflüssig. Mit dem dauerhaften Aufstellen von Schranne und Mobiliar, bevorratete' man in der Stadt nun einen latenten Diskursraum, der zuvor erst jeweils eigens durch die Hegung eingerichtet werden mußte. Die an diesen Ort gebundenen anderen Regeln der Kommunikation ließen sich zu einem Gutteil nun schon durch das Eintreten in diesen Raum und das Einnehmen festgelegter Positionen aktivieren.1 15 Das Platznehmen des Richters auf dem erhöhten, mit einem Baldachin versehenen Einzelsitz markierte dessen kommunikative Position sicherlich ebenso deutlich wie etwa das Beinkreuzen auf der Bank. Dabei war die Schwelle für die Personen, durch ihr Eintreten den Beginn eines anderen Diskurses zu markieren, schon dadurch abgesenkt, daß sie als Angehörige einer dafür prädestinierten Gruppe auftraten. Wenn die beschriebenen Möglichkeiten, den Diskurs über Konflikt zu formatieren, aus kommunikationstheoretischer Perspektive als Funktionsäquivalente betrachtet werden können, kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, dies sei zugleich mit einem unmittelbaren Austausch der Formen (etwa: Richterstuhl gegen Beinkreuzen) verbunden gewesen. Zwar ist richtig, daß um 1600 die zuletzt beschriebene Formatierung mehr und mehr dominierte, doch auch im 14. Jahrhundert war beispielsweise der separat sitzende Richter nicht unbekannt, wie sich umgekehrt für das Kreuzen der Beine Belege bis mindestens in das späte 17. Jahrhundert hinein finden. 1l6 Zentraler noch scheint mir, daß selbst in ein und demselben Verfahren alle genannten Elemente zusammen vorkommen konnten. Nach den Illustrationen der Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 saß der Richter auf einem Stuhl, der zumeist wiederum erhöht aufgestellt war. Zumindest auf einer Abbildung hat der Vorsitzende die Beine gekreuzt. 117 Der Text geht zwar nicht auf die Beinhaltung ein, aber immerhin hat der Richter der Verhandlung mit dem Stab in der Hand und sitzend - und das heißt jetzt: auf dem erhöhten Stuhl - beizuwohnen.1 18
115 Zur Bedeutung der räumlichen Position des einzelnen in Relation zu anderen vgl. Stollberg-Rilinger, Rang (wie Anm. 19),385 ff.; Karl-Heinz Spieß, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, in: Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 104),39-61, hier 46ff. . 116 Der allein sitzende Richter begegnet etwa in den Sachsenspiegel-Illustrationen. Eine Bleiverglasung von 1597 zeigt noch einen Richter mit gekreuzten Beinen; Schild, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 27), 156f., Abb. 333 und 336 (Richterstuhl); 142 Abb. 300 (Beinkreuzen). 117 Kohler/Scheel (Hrsg.), Bamberger Halsgerichtsordnung (wie Anm. 63), XLIV, Abb. 11 zur Terminsetzung. 118 Ebd. Art. 95, 40. Bei den Audienzen des Reichskammergerichts betrat der Pedell, das Zepter in der Hand, Richter und Assessoren voranschreitend den Gerichtssaal. Hier nun übergab er das Zepter dem Richter; Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln/Wien 1981, 83. Es begegnet eine Stabüber-
Mit einer lange Zeit parallel existierenden Formenvielfalt, wie sie die Bambergensis zeigt, ist schon deshalb zu rechnen, weil bei der Gestaltung der Kommunikation kein Programm umgesetzt wurde, sondern vielmehr von einer evolutionären Entwicklung auszugehen ist. Verschiedene Verfahrens,Arten' versuchten also, wenn man so wIll, sich in ihrer gesellschaftlichkulturellen ,Umwelt' zu bewähren, was aber eben voraussetzt, daß sie gleichzeitig existierten. Redundanzen, die streng funktionalistisch betrachtet überflüssig und ineffektiv erscheinen, erweisen sich so als unbedingt notwendig. Trotz dieser Einschränkungen sind Veränderungen im Gerichtsverfahren im beobachteten Zeitraum unübersehbar. Im Vergleich zur Zeit um 1400 wurden das Aufspannen des Diskursraumes und die Rollenwechsel des Personals um 1600 wesentlich stärker vorstrukturiert. Ohne daß sich die Grundprinzipien gewandelt hätten - immer noch waren es integrale Personen, die vorübergehend in eine andere Rolle schlüpfen mußten -, führte die Änderung in der Auswahl des Gerichtspersonals und der Gestaltung des Raumes zu einer gewissen Verstetigung. Zwar war der Raum durch seine relative Offenheit weiterhin als nicht aus der städtischen Topographie ausgegrenzt charakterisiert, zwar zeigten sich die ratsfähigen Juristen in ihrer Kleidung weiter primär als Angehörige des Patriziats. Jedoch wiesen das dauerhaft aufgestellte und montierte Mobiliar sowie die beständig am Körper getragenen Ketten und andere Schmuckgegenstände bereits ein latentes Potential zur Rollenübernahme auf. Ein wichtiges Moment wird jetzt die Zusammenführung dieser Elemente, die auch bei weitgehendem Verzicht auf Riten dennoch ebenfalls einen besonderen Kommunikationsraum etabliert und den erforderlichen Rollenwechsel erst ermöglicht. Kennzeichnend für den älteren Verfahrens typ war, daß die Prozeßbeteiligten fortwährend und in aktiver Form die Art des Diskurses und ihre darin eingenommenen Rollen mit thematisierten. Die Kommunikation darüber, wie gerade kommuniziert wurde, beherrschte große Teile des Prozeßgeschehens und schob sich stark in den Vordergrund. Durch Raumgliederung und Vorauswahl des Personals wurden der spezifische Diskurs und die eingenommenen Rollen weiterhin deutlich gekennzeichnet, aber diese Kennzeichnung mußte nun nicht mehr zum Thema der fortlaufenden Kommunikation gemacht werden. Damit eröffnete sich gewissermaßen ein Spielraum, neue und andere Themen in der Verhandlung stärker zu berücksichtigen. Solche Themen waren durch die Änderungen selbst natürlich nicht weiter festgelegt. Man könnte sich zum Beispiel stärker der Diskussion um den weiteren Verfahrensgang zuwenden; man könnte sich über Hierarchien und die daraus abzuleitenden Sitzordnungen im Gerichtssaal verständigen; man könnte vermehrt eine Disgabe in abgekürzter Form; es scheint aber nicht mehr erforderlich zu sein, parallel auch noch in festgelegter Dialogform die Rollenübernahme zu thematisieren.
kussion darüber beginnen, welche Sachverhalte aus Sicht des Gerichts für die weitere Bearbeitung des Konflikts von Relevanz waren usw. Was immer nun zum Thema wurde, das Gericht machte es deutlich stärker als zuvor zum jeweils gerichtseigenen Thema, welches sich von Termin zu Termin zu einer eigenen Geschichte ausformte. 119 Betrachtet man es losgelöst von den einzelnen bearbeiteten Inhalten, hatte die Zurückdrängung der ritualisierten Kommunikation eine größere Selbstreferentialität des Verhandlungs geschehens insgesamt zur Folge. 120 Festzuhalten ist, daß für solche Schwerpunktverlagerungen nicht oder zumindest nicht ausschließlich geistes- oder mentalitäts.:. geschichtliche Strömungen, sondern auch die kommunikativen Rahmenbedingungen von zentraler Bedeutung sind. Denn erst wenn es nicht mehr erforderlich ist, fortlaufend während des Gerichtsverfahrens der Differenz der hier stattfindenden Kommunikation und der eingenommenen Rollen gegenüber anderen Diskursen und Rollen große Aufmerksamkeit zu schenken, erst dann sind die Bedingungen für die Möglichkeit gegeben, andere Themen in den Mittelpunkt zu stellen und diese stärker nach verfahrens eigenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Festzuhalten gilt weiterhin, daß sich Veränderungen vor allem bei den ganz konkreten Formen der Kommunikation beobachten lassen. Die grundlegende Struktur der Kommunikation, auf der dieser Formenwandel aufruhte, veränderte sich dagegen kaum. So waren Diskurs und Rollenübernahme im frühen 17 . Jahrhundert nicht weniger an visuelle Symbole gebunden als um 1400, und die Er- bzw. Einrichtung des Gerichtsortes blieb ein entscheidendes Moment für die Etablierung des Kommunikationsraums ,Gerichtsverfahren', wenn diese auch auf je unterschiedliche Weise umgesetzt wurde. Man wird genau genommen nicht einmal davon· sprechen können, daß die Körpersymbolik von abnehmender Wichtigkeit war, wenn man Kleidung und Schmuck als zum wahrnehmbaren Körper gehörig interpretiert. Auch die Reglementierung der Gestik des Richters erfuhr ja ein Äquivalent durch die Plazierung seines Körpers auf dem erhöhten Stuhl. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Rolle und Rollenwechsel, bei allen konstatierbaren Veränderungen, nach wie vor über einen expressiven Signalapparat organisiert wurden, mit dem in diesem Fall zugleich das Ephemere der Rollenübernahme betont wurde.
119 Giel, Öffentlichkeit (wie Anm. 3),269 ff., 290, schildert den Prozeß des Wilhelm Treue gegen die Stadt Köln am Reichskammergericht. Obwohl gewählt, war ihm der Zugang zum Rat verwehrt worden. Das Kölner Ratswahlverfahren, u. a. Gegenstand des Prozesses, wurde in Speyer jedoch zum Teil völlig falsch verstanden. Dennoch richteten beide Parteien ihre Argumentation an dem Speyerschen Verständnis des Wahl verfahrens aus. Solche Fehler machen deutlich, wie durch das Verfahren eine eigene Realität erzeugt wurde, auf die dann im weiteren Verlauf Bezug zu nehmen war. 120 Dagegen scheinen Rituale das Refiexivwerden von Kommunikation eher zu ,beschneiden' ("coupieren"); Luhmann, Soziale Systeme (wie Anm. 17),253,613 f.
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Gesten, Kleidung und die Etablierung von Diskursräumen im Gerichtswesen
Die trotz des langen Zeitraums relativ konstanten Grundstrukturen der Kommunikation vor Gericht dürften sich auf das bereits mehrfach angesprochene Konzept der ,integralen Person' zurückführen lassen. Wenn die aufgedeckten Strukturen einen Reflex des vopnodernen Personenkonzepts darstellen, dann kann mit einer gewissen Berechtigung versucht werden, über den Bereich des städtischen Gerichtswesens hinaus allgemeine Vorschläge zur Interpretation ritualisierter, körperbetonter Kommunikation in der Vormoderne zu formulieren. Kurzfristige Rollenwechsel, so läßt sich zunächst konstatieren, erforderten angesichts des dominanten Personenkonzepts einen höheren kommunikativen Aufwand als in der Modeme. Für das spätmittelalterliche Gerichtswesen tritt dies besonders deutlich hervor, weil man im Verfahren der Hegung nicht nur Rollen wies, sondern den Diskursraum insgesamt jeweils erneut herstellte. Hier scheinen Kommunikationsformen mobilisiert worden zu sein, die nicht von ungefähr an Initiationsriten erinnern, wie sie von Amold van Gennep beschrieben wurden.1 21 Nach van Gennep dienen Übergangsrituale dazu, einer Person als Ganzes im gesellschaftlichen Gefüge eine andere Position zuzuweisen. 122 Dieses vornehmlich an Stammesgesellschaften untersuchte Potential des Rituals kommt offenbar auch hier zum Tragen. Um in Gesellschaften mit integralem Personenkonzept Rollenwechsel durchzuführen, so läßt sich nun genauer formulieren, bedmi es besonderer kommunikativer Akte, die auf die ganze Person zugreifen 123, um ihren Positions wechsel im kommunikativen Raum zu ermöglichen und die an die Person gerichteten Erwartungen anderer umzustrukturieren. So kann es nicht überraschen, daß im Zuge dieser Akte die physische Präsenz der am Diskurs Beteiligten, sei es in Form der Festlegung der Kleidung, Gestik oder Sitzposition, manipuliert wurde. Denn kennzeichnend für geringe Ausdifferenzierung ist nicht nur, daß Person und Rolle (und damit zumeist auch Status) zusammenfallen, sondern eben auch, daß von einer Einheit zwischen wahrnehmbarer körperlicher Erscheinung und Rolle ausgegangen wird. Kommunikation und die für ihr Funktionieren wichtigen Erwartungen orientieren sich an diesen Gegebenheiten; sollen Umorientierungen vorgenommen werden, ist dem Rechnung zu tragen. Ein Rückgriff auf van Genneps Ansatz läuft leicht Gefahr, die Differenzen zwischen den bei einfachen Stammes gesellschaften beobachtbaren ,Rites de passage' und der völlig anderen Situation in der europäischen Vormoderne
zu verwischen. Zwei wesentliche Unterschiede seien daher hervorgehoben: 1. Während der Initiationsritus zumeist einen dauerhaften Wechsel der Position innerhalb einer Gesellschaft begründet, wies die ritualisierte Kommunikation der Vormoderne dem Verhandlungsleiter die Richterrolle nur für die Zeit der Gerichtssitzung zu. 2. Wenn im ,klassischen' Übergangsritus die Kennzeichen der alten Position zumeist gänzlich abgestreift und neue Markierungen dauerhaft angenommen werden, so war ein wesentliches Element der hier untersuchten Rituale, die ,eigentliche' gesellschaftliche Rolle der vorübergehend als Richter agierenden Person nicht zu überdecken oder gar aufzuheben. Er wechselte eben nicht die Kleidung, vielmehr legte er sich zusätzliche Attribute zu. Regelmäßig abgehaltene Zusammenkünfte am gleichen Ort entfalten zumeist eine Eigendynamik, die zu einer Verfestigung der Kommunikationssituation führt. Dies hätte in letzter Konsequenz auch bedeuten können, daß der vorübergehend als Richter tätige Patrizier zu stark auf diese Rolle festgelegt worden wäre. Einer solchen Dynamik galt es entgegenzuwirken, und dies bedurfte eigener Anstrengungen. Notwendig war also, das wenig Feste, das Vorübergehende des Diskurses zu betonen - und dies dauerhaft. Eben deshalb mußte sich der Richter trotz Rollenzuweisung im Hegungsakt während des gesamten Gerichtstages durch Stabhalten, Sitzen-Müssen und Beinkreuzen permanent als Richter erweisen. 124 Denn damit wurde zugleich die leichte Aufhebbarkeit, das Ephemere der eingenommenen Rolle unterstrichen. Springt dies im Verfahren des frühen 17. Jahrhunderts weniger stark ins Auge, so signalisiert doch auch hier das Zusammenspiel von Körper und Position im Raum, durch das die Richterrolle erst ausgeformt wird, leichte Veränderbarkeit.
Zur Regung als liminale Phase vgl. Arlinghaus, Rituale (wie Anm. 24), 138. Das Ziel von Riten ist es u. a., ,,[d]as Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte Situation hinüberzuführen"; Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt arn Main/New YorkIParis 1999, 15. 123 Carotine Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung: Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt am Main 1996, 280, zeigt auf der Basis theologischphilosophischer Texte, daß man "von der unerschütterlichen Gewißheit [ausging], daß das Individuum sein Leib sei".
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In diesem Sinne leisteten die im Umfeld des vormodernen Gerichtswesens praktizierten Rituale mehr als Initiationsriten und verfolgten zudem andere Ziele: Sie vermochten Diskursräume zu etablieren und hoben zugleich die geringe Festigkeit dieses Diskurses hervor; sie waren darauf abgestellt, den Wechsel von Personen eben auch in ephemere Rollen zu ermöglichen, ohne dadurch die , eigentliche' Rolle der Person in der Gesellschaft aufzuheben.
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~24 Stabhalten und Beinkreuzen sind also weiter rituelle Akte. Die Unterscheidung gilt es 1m Anschluß an Karl Leyser zu betonen, weil hier ein anderer Modus des Gestikgebrauches deutlicher hervortritt. .~eyser interpretiert den Krönungsakt bei den Ottonen im van Gennepschen Sinne als Ubergangsritus, deutet das anschließende, wiederholte ,Unter-der~one-Gehen' jedoch zu Recht als Herrschaft inszenierendes Zeremoniell; Karl Leyser, Ritual, Zeremonie und Gestik: Das ottonische Reich, in: FMSt 27, 1993, 1-26, hier 2f.
IV. Resümee Der Ausgangspunkt war die Annahme, daß auf der Basis des integralen Personenkonzepts der Vormoderne das Hinernschlüpfen in kurzfristig auszuübende Rollen anders durchgeführt werden mußte als in der Moderne, die bereits mit einer weitgehend differenzierten Konzeption von Person (,Rollenbündel ') operiert. Bei kommunalen Amtsträgern in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, so die Vermutung, mußte das Problem des Rollenwechsels in besonderer Weise virulent werden, weil sie bereits in einem sehr komplexen Umfeld agierten und wichtige Aufgaben oft nur zeitlich befristet zu erfüllen hatten. Hier mußten kurzfristig Rollen übernommen werden, an die andere Erwartungen geknüpft wurden als etwa an den Fernhändler oder Hausbesitzer. Wie war dies mit einem integralen Personenkonzept vereinbar? In einem ersten Schritt wurde gezeigt, daß sowohl die Verwaltungsspitze wie auch die Boten und Werkleute durch die Kleidung gekennzeichnet wurden. Anders als etwa bei Uniformen heute ging es hier jedoch darum, die Person insgesamt auf die Rolle des städtischen Amtsträgers festzulegen. Kleidung war auch für den kommunalen Amtsträger weniger Berufskleidung als Ausweis der allumfassenden Mitgliedschaft in einer bestimmten Korporation. Die Bestimmungen zum Auftreten des Kölner Bürgermeisters im öffentlichen Raum, die keinerlei Differenzierung zwischen beruflicher, öffentlicher und privater Sphäre vorsahen, machten dies besonders deutlich. In einem Zwischenfazit konnten die Aspekte ,integrale Person' und, Orientierung an der äußeren Erscheinung' zusammengeführt werden. Da in der Regel nicht mit einer Differenz zwischen Person und Rolle und dem an dieser Person visuell Wahrnehmbaren gerechnet werden mußte, war es sinnvoll, kommunikatives Verhalten über den optischen Eindruck zu strukturieren. In diesem Kontext führten Kleidung und Schmuck zu einer Reduktion von Komplexität und vermochten Erwartungssicherheit herzustellen - beides zentrale Elemente für das Funktionieren von Kommunikation. So gesehen war es nur konsequent, daß man diesen ,Äußerlichkeiten' in der Vormoderne besondere Aufmerksamkeit widmete. Es hatte weder etwas mit einer quasi-kindlichen Vorliebe für das Visuelle zu tun, wie manchmal suggeriert wird, noch läßt es sich auf Statusdenken allein reduzieren. Auffällig war, daß zwar Bürgermeister und Boten, nicht jedoch die städtischen Richter eine Amtstracht zugewiesen bekamen. Es ist davon auszugehen daß das für die Stadt zentrale kommunikative Feld ,Konfliktbearbeitung' deu~lich von den im Rat sitzenden Patriziern zu besetzen war. Eine Übertragung dieser Aufgabe an Spezialisten, wie für den medizinischen Bereich üblich, war deshalb nicht möglich. Der zum Richter bestellte Patrizier übte diese Tätigkeit quasi ,nebenberuflich' und in seiner Alltagskleidung aus.
Denn vor dem Hintergrund der beschriebenen Strukturen der Kommunikation stand für die Übernahme zentraler, aber eben ephemerer Rollen die Markierung durch einen Kleidungswechsel kaum zur Verfügung. Andererseits wurden an den Leiter einer Gerichtsverhandlung Erwartungen herangetragen, die das übliche Spektrum patrizischer Rollenausübung sprengten. Ein Rollenwechsel war also erforderlich, und erforderlich war demgemäß auch eine Visualisierung dieses Wechsels. Die Lösung bestand in expressiven Formen der Markierung der Richterrolle, die das physische Erscheinungsbild der ,eigentlich' in der Gesellschaft ausgeübten Rolle zwar zeitweise in den Hintergrund drängten, aber eben nicht gänzlich aufhoben. Realisiert wurde dies durch die Beigabe weniger fest mit dem Körper verbundener Attribute und! oder durch bestimmte vorgeschriebene Gesten und Körperhaltungen, die zwar einerseits den Rollenwechsel deutlich akzentuierten, andererseits aber in ihrer leichten Aufhebbarkeit das Vorübergehende, die Flüchtigkeit dieses Wechsels unterstrichen. Seit dem 15. Jahrhundert wurden bestimmte rituelle Formen wie etwa die Hegungsfragen oder das Beinkreuzen mehr und mehr aus dem Verfahren verdrängt. Das zunehmend fest installierte Mobiliar des Gerichtsraumes sowie die Plazierung von Urteilern und Richtern auf verschiedenen Ebenen und unterschiedlichem Gestühl erfüllten nun weitgehend die Aufgabe, die Personen nach ihrer kommunikativen Funktion im Diskurs zu markieren. Zudem war die Schwelle zur Übernahme der Richterrolle im Vergleich zur Zeit um 1400 deutlich abgesenkt, da nun vornehmlich die im Rat vertretenen Gelehrten für den Gerichtsvorsitz ausgewählt wurden. Für die Bearbeitung des Konfliktes selbst führte dies zu einer gewissen Entlastung. Gerade weil durch Raumgestaltung und Prädestination der Personen eine gewisse Verstetigung stattgefunden hatte, mußte nun nicht mehr in dem Maße wie zuvor, während die Kommunikation lief, beständig die Art des Diskurses und die übernommene Rolle mitthematisiert werden. Dadurch eröffneten sich neue Spielräume, andere Themen konnten nun stärkere Berücksichtigung finden, konnten sich statt der Hegungsfragen und der Gestik des Richters in den Vordergrund schieben. Die vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit beobachtbaren Veränderungen in den ThemensteIlungen vor Gericht haben so betrachtet nicht nur mit allgemein mentalitätsgeschichtlichen Umbrüchen, sondern mindestensebenso mit einer Änderung der Kommunikationsformen und -bedingungen zu tun. Denn erst als es durch eine im vorhinein erfolgte eindeutigere Vorstrukturierung des Raumes und des Personals weniger notwendig wurde, fortwährend im Kommunikationsprozeß die Art der Kommunikation mitzuthematisieren, eröffnete sich die Möglichkeit, andere Themen als die Form der Kommunikation stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Damit war noch nicht determiniert, welche konkreten Inhalte nun mehr Aufmerksamkeit geschenkt bekamen; ein Zurücktreten der Thematisierung der Abgrenzung des Gerichts
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dürfte aber mit einer gewissen Konsequenz zu einer stärkeren Selbstreferentialität der Kommunikation vor Gericht geführt haben. Für den betrachteten Zeitraum ließen sich also durchaus gravierende Änderungen in den Kommunikationsweisen vor Ge;t2icht feststellen. Feststellen ließ sich aber auch, und dies gilt es besonders hervorzuheben, daß die grundlegenden Prinzipien der Kommunikation, wie sie für den ritualisierten Prozeßverlauf des Spätmittelalters aufgedeckt wurden, sich nicht geändert hatten und auch im frühen 17. Jahrhundert den Diskurs prägten. Sowohl um 1400 wie um 1600 wurde für einen Rollenwechse1 auf die Person als Ganzes, ihren Körper eingeschlossen, zugegriffen. Hier wie dort mußten die Rollen der afn Diskurs Beteiligten durch expressive Formgebung, mit der eben genau dieser ,ganzheitliche' Zugriff realisiert wurde, determiniert werden. Die Durchgestaltung des Raumes und die Beschäftigung von, vorinitiierten ' gelehrten Juristen, die bereits an ihrer Kleidung eine Prädestination für die Richterrolle aufscheinen ließen, können aus kommunikationstheoretischer Sicht als Äquivalente zu den spätmittelalterlichen Ritualen betrachtet werden. Letztlich handelt es sich um zwei Varianten des gleichen Prinzips, um zwei unterschiedliche Lösungen des Problems, auf der Basis eines integralen Personenkonzepts Rollenwechsel vorzunehmen. Insgesamt betrachtet, so läßt sich nun formulieren, waren große Teile der für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit typischen expressiven, körperbezogenen Kommunikationsformen (Rituale und ihre Äquivalente) essentiell notwendig, wenn es darum ging, in dieser wenig ausdifferenzierten Gesellschaft kurzfristige Rollenwechsel vorzunehmen.
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken Eheschließungen als Übergangsrituale im 16. und 17. Jahrhundert Von
Stefan Haas
I. Von der modernen Entkörperlichung zum postmodernen body turn Der Körper, wie wir ihn als ein integratives Element unserer je eigenen Identität zu kennen glauben, scheint gegenwärtig im Meer diskursiver Neubestimmung zu verschwinden. Die Biotechnologie einerseits, die glaubt, irgendwann in der Lage zu sein, jeden Körperteil zu ersetzen oder zu verbessern, macht aus dem Körper ein Objekt des individuellen und modischen Tunings. Die Erweiterung der Schnittstelle des Menschen zur digitalen Technologie andererseits will die Erfahnmgsebenen des einzelnen, seine Bindung an das Hier und Jetzt, überwinden und Erfahrung unabhängig vom sinnlichen Reiz der Körpergebundenheit in völlig unbekannte Dimensionen verlagern. 1 Was die einen als hoffnungsvoll stimmende Zukunftsvision beurteilen, die die Menschen in eine neue Phase der Evolution katapultiere, sehen die anderen als Bedrohung menschlicher Identität, vielleicht gar des Menschen in seiner Unversehrtheit überhaupt. 2 1 Letzteres am eindringlichsten in jener Richtung, die mit dem Begriff Cyberpunk umschrieben wird und deren Hauptprotagonisten William Gibson und Bruce Sterling sind. Gibson war es auch, der den Begriff ,Cyberspace' erfand. Vgl. exemplarisch William Gibson, Neuromancer. New York 1984; sowie Bruce Sterling, Schismatrix. New York 1985. V gl. auch den einflußreichen Roman Snow Crash, der die virtuelle Realität als "Meta~ verse" konzipiert: Neal Stephenson, Snow Crash. New York 1992. Vgl. Glenn Grant, Transcendence through Detournement in William Gibsons Neuromancer, in: Science Fiction Studies 1990, 41-49; Claire Sponsler, Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative. The Example ofWilliam Gibson, in: Contemporary Literature 4,1992, 62.5-6~4;. Peter Gö1z, Kolonisation geträumter Räume. William Gibsons CyberspaceTnlogle, m: Burkhardt Krause/Ulrich Scheck (Hrsg.), Verleiblichungen. Literatur- und ~lturgeschichtliche Studien über Strategien, Formen und Funktionen der Verleiblichung m Texten von der Frühzeit bis zum Cyberspace. St. Ingbert 1996,261-273. 2 V gl. Jay David Bolter, Virtuelle Realität und die Epistemologie des Körpers, in: Kunstforum 132, 1995,85-111.
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Stefan Haas
Es war nicht zuletzt das Zeitalter der Industrialisienmg, das die Ambivalenz schuf, aus der heraus diese Dichotomie der Zukunftsprognosen erwachsen konnte. Einerseits wurde der einzelne seinem Körper entfremdet, wurde er als Vernunftwesen definiert, dessen Körpyrlichkeit nur als ein zu überwindender Rest eingeschätzt wurde, verleugnet und geleugnet von Intellektuellen wie von Wissenschaftlern, zu einem puren Vehikel des geistig-mentalen Selbst in Raum und Zeit degradiert. Andererseits war es gerade die Verletzlichkeit der körperlichen Existenz, die den einzelnen anfällig machte, zu einem Opfer von Gewalt in einem bislang unbekannten Ausmaß zu werden, das mit der Degradierung des einzelnen als Teil einer gefühllosen industriellen Maschinerie begann und in den Konzentrationslagern ihren unseligen Höhepunkt erlebte, dessen unbeschreibbare Bilder der körperlichen Vernic~tung des Individuums sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. MIt der Ablehnung der Körperlichkeit wurden auch Sterblichkeit, Verletzlichkeit und das Geworfensein in eine letztlich solipsistische Existenz an vielen Orten der Modeme verneint. Die Verdrängung des Todes aus dem kollektiven Bewußt3 sein war nur einer der Punkte, an denen dies erfahrbar wurde. Mit dem Übergang in eine postindustrielle Gesellschaft und den Diskussionen um die Bedingungen postmoderner Existenz hat sich dies gewandelt. Der Körper ist wieder zu einem Thema geworden, weniger als ein bereits klar konturiertes und kategorial definiertes, denn als ein aufzuspürendes und erst noch zu konstituierendes. 4 In diesem Kontext haben auch Historiker und Historikerinnen die Bedeutung des Körpers als eines geschichts- und damit wirklichkeitsbildenden Faktors herauszuarbeiten versucht. 5 Denn in den diskursiven Auseinandersetzungen um die soziokulturellen Veränderungen der Körpervorstellung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war auch deutlich geworden, daß die Naturwissenschaft, die lange Zeit das Monopol der wissenschaftlichen Definition des Körpers beanspruchte, diesem nicht gerecht zu werden verstand, ihn vielmehr reduzierte auf eine komplex agierende und reagierende Kohlenstoffmaschine. Diese Auffassung wurde selbst wiederum als historisch verortbar erkannt und eine prinzipielle historische Bedingtheit des Körperlichen, oder zumindest des gesellschaftlichen und kulturellen Ver6 ständnisses davon, was ein Körper sei, angenommen. Vgl. Stefan Haas, Die Ordnung des Alltags v.on d~r ständischen zur mode:ne~,Gesell schaft, in: Gisela Weiß (Hrsg.), "Zerbrochen smd dIe Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Modeme. Münster 2002,316-332. 4 Vgl. zur Diskussion um die Zukunft des Körpers Stefan Haas; Vom Ende de~ Körpers in den Datennetzen. Dekonstruktion eines postmodernen Mythos, m: Clemens WIschermann/ Stefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbstund Weltdeutung. Stuttgart 2000,85-108. .' . . 5 Einen Überblick über die Forschung gibt Maren Lorenz, LeIbhaftIge VergangenheIt. Emführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. . . .' 6 V gl. u. a. Richard van Dülmen (Hrsg.), Körper-GeschIchten. StudIen zur hIstorISchen
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Mit diesem ersten Schritt der Entdeckung des Körpers als eines historischen Themas wurde der Körper zu einem Medium, auf den eine Kultur ihr Verständnis der conditio humana aufschrieb, er wurde zu einem "Ort der Selbst- und Weltdeutung".7 Ein zweiter Schritt aber, der sich gerade erst vollzieht und mit dem Begriff des body turn bezeichnet wird, geht noch über diese Auffa~sung hinaus .. Von einem turn, einer Kopernikanischen Wende, zu sprechen, 1st nur dort smnvoll, wo die bisherigen Grundlagen des (wissenschaftlich~n) Denkens umgekehrt werden. Nicht die Thematisierung des Körpers allem wäre demnach bereits eine solche Wende, sondern nur eine solche, die herausarbeiten würde, daß der Körper nicht nur ein Medium ist, auf dem kultureller Sinn auf-geschrieben wird, sondern daß er selbst sinngenerierend wirkt - mithin wie Körper selbst als Medien in der Lage sind, an der Konstitution von Wirklichkeit teilzuhaben. In diesen Fragehintergrund ordnet sich der fo~gende Argumentationsgang ein, indem er Körper als bedeutungstragendes WIe als bedeutungsstiftendes Medium thematisiert.
II. Eheschließungen als Initiationsrituale und performative Praktiken in der Frühen Neuzeit Wenn man Körper als wirklichkeits generierende Medien ansehen möchte dann steht eine solche Frage auf der Basis eines Konstruktivismus, der Wirk~ lichkeit nicht als eine sich außerhalb des Menschen befindende, mit naturwissenschaftlichen Methoden vermeßbare Realität ansieht, sondern als eine Lebenswelt im Husserlschen Sinn8 , als eine Welt, die erst dadurch zu einer ~irklichkeit wird, daß Menschen sie mit Sinn belegen. Über die Frage, wie dIeser Welt Sinn beigelegt wird, ist in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten, seit dem Verblassen der Überzeugungskraft sozialwissenschaftlicher Erklärungsmuster, heftig gestritten worden, und immer wieder kam es zu fundamentalen Wenden, die einen völlig neuen Zugang zu thematisieren versuchten: angefangen mit dem linguistic turn, der die Abhängigkeit von Sinn in der Lebenswelt von der Sprache und ihren medialen Bedingungen thematisierte,
Kulturforschung. Frankfurt am Main 1996; Körper macht Geschichte - Geschichte macht Körpe:. Hrsg .. v. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte. Bielefeld 1999; Claudia Ben~hzen/Chnstoph Wulf (Hrsg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek 2001. 7 Wzschermann/Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte (wie Anm. 4). 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ..2. Auft. Hamburg 1982; vgl. Ferdinand Fellmann, Lebenswelt und Lebenserfahrung, m: Archiv für Geschichte der Philosophie 69, 1987, 78-91; Bernhard Waldenjels, Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem, in: Christoph Jamme/ Otto Poggeier (Hrsg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls. Frankfurt am Main 1989, 106-118.
502 über den cultural turn, den visual turn oder imagic turn, dem communication turn bzw. medial turn, bis hin zum body turn, der dort, wo es nicht um den statischen Körper, sondern einen handelnden, agierenden Körper geht, als Performanz thematisiert und entsprechend jp seiner kategorialen Ausrichtung als peiformative turn charakterisiert wird. 9' Besonders der Gegensatz von Diskurs als einem Teil des linguistic turn und des Körpers bringt die Signifikanz des Themas zum Ausdruck. In der Auffassung der Diskurstheorie agieren Körper als Medien, indem sie die Opernbühne darstellen, auf der eine Partitur, die kulturell codiert und für die Zeitgenossen entschlüsselbar ist, aufgetragen wird. Symbole verdichten Bedeutungen und formulieren die soziale Lebenswelt, in der Menschen (der Frühen Neuzeit) lebten. Dies ist erforschenswert, verfehlt aber die Signifikanz, die mit der Frage, inwiefern Körper Medien sind, gestellt wird. Denn mit der Körperwende verbunden ist die Frage, ob es ein Jenseits des Diskurses gibt, etwas, das seinerseits den Diskurs in seiner Ausformung bestimmt und nicht aus ihm selbst entstammt. Die Antwort auf diese Frage muß an einem Ort gesucht werden, dessen Analyse es erlaubt, weitreichende Antworten in dieser Richtung zu geben. Ein solcher sind jene Momente, in denen Gesellschaft allererst entsteht bzw. rekonstituiert wird: Solche Momente sind die Rituale der Initiation. Diese bedeuten für den einzelnen oder die einzelne einen Übergang vom Status des Jugendlichen, der noch nicht vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft ist, zum vollwertigen Mitglied einer Gemeinschaft mit dem Recht der kulturellen und genetischen Weitergabe, d. h. mit der Berechtigung, legitimen Nachwuchs zu bekommen, diesen zu erziehen und ihm seinen Besitz zu vererben. Initiationsrituale im Sinn des Moments des Erwachsenwerdens, wie sie für viele außereuropäische Ethnien typisch sind, sind in der abendländischen Geschichte nicht anzutreffen. Ihre Funktion übernehmen Eheschließungen, die, indem sie den einzelnen zu einem vollwertigen Mitglied der Gemeinschaft machen, für das frühneuzeitliche Abendland den entscheidenden Adoleszenzübergang darstellen. Damit markierte das Eheschließungsritual, das aus einer Folge von verschiedenen Ritualen von der Werbung bis zu häufig mehrtägigen Hochzeitsfeierlichkeiten reichte und daher nicht auf die Trauung allein reduziert werden darf, den Übergang von Mann und Frau von der einen zu einer anderen "sozialen Identität".1° Vgl. u.a. Klaus-Peter Köpping/UrsulaRao, Die ,performative Wende'. Le~en-Ritu~l Theater, in: dies. (Hrsg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und TransformatlOn der WIrklichkeit in körperlicher Performanz. Münster 2000, 1-3l. . . 10 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe. Cambndge 1997, 155 .. Zur Rit:LaIgeschichte der Eheschließungen vgl. auch Joel. Francis Harrinßton, Reord~nng Mar~Iage and Society in Reformation Germany. Cambndge 1995; Davzd Cressy, Buth, Marnage, and Death. Ritual, Religion, and the Life-Cyc1e in Tudor and Stuart England. Oxford 1997;
Die Forschungen, die zur Aufstellung eines "European Marriage Pattern" geführt haben, besagen, daß dieser Übergang im Durchschnitt relativ spät, in vielen Fällen sogar überhaupt nicht erfolgte. 11 Dies führte zu einer körperlichen sexuellen Praxis, deren Resultate, die nichtehelichen Kinder, von den Zeitgenossen wie von vielen heutigen Forschern als "illegitim" bezeichnet werden, da die Eltern nicht die Initiation durchlebt und damit das Recht erworben haben, in ihrer Gesellschaft Kinder zu bekommen. Hochzeit als Übergang von einem sozialen Status in einen anderen, von jenem des Ledigen bzw. der Ledigen zu dem des bzw. der Verheirateten mit der liminalen Phase des Braut- bzw. Bräutigam-Seins, stellt damit einen zentralen Statuswechsel des einzelnen innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft dar, der mit einer Änderung des Rechtsstatus verbunden ist. Der Bedeutung dieses Übergangs für den einzelnen wie für die Gemeinschaft entsprechend, wird dieser mit einer Fülle kultureller Zeichen belegt und ritueller Praktiken begangen. Der Körper wird dabei als Medium von Bedeutungen ebenso involviert wie als Schöpfer von Sinn, indem er Performanzen inszeniert und in diesen körperlichen Handlungen Bedeutungen neu generiert. Dies zu verdeutlichen, dienen die folgenden Ausführungen anhand zweier Argumentationsstrategien: Zum einen wird gezeigt, wie in Eheschließungsritualen der Körper als ein symbolisch codiertes Medium eingesetzt wird, das die Aufschreibung von Sinn erlaubt. Zum anderen gilt es nachzuweisen, daß der Körper nicht nur ein Medium in dem Sinn ist, daß er den, Kanal' darstellt, der eine Botschaft weitergibt, ohne sie zu verändern, sondern zu zeigen, wie der Körper selbst Sinn und Bedeutung generiert.
111. Körper als Träger für Symbole Bereits bei einem ersten Vergleich der frühneuzeitlichen Hochzeiten in Europa mit den Initiationen in anderen Kulturen, beispielsweise im Amazonasgebiet, fällt auf, wie unversehrt der Körper diesen Übergang übersteht. Es gibt nichts Vergleichbares zu den Praktiken beispielsweise der Guayaki, die Einritzungen in die Haut vornehmen und damit Narben auf den Körper malen, die diesen Übergang markieren und auf Dauer sichtbar machen.1 2 Die körper-' lichen Praktiken innerhalb des Hochzeitsrituals in Europa schreiben die Statusänderung auf eine Hülle auf, die um den Körper gelegt wird, indem sie
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Vera Jung, Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2001. 11 Klassisch John Hajnal, European Marriage Pattern in Perspective, in: David Victor GlasslDavid E. Eversley (Eds.), Population in History. London 1965, 101-143. 12 Pierre Clastres, Chronik der Guayaki, die sich selbst Ache nennen, nomadische Jäger in Paraguay. München 1984,45-49.
504 beispielsweise für die Ehefrau gegenüber der Unverheirateten eine differente Kleidung vorsehen. Ein Hans Stockar rasierte sich in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts erstmals in seinem Leben den Bart, wobei die Rasur die 1iminale Phase darstellt zwischen den Hochz~itsverhandlungen mit seinen zukünftigen Schwiegereltern, die er noch bebartet vornahm, und der Zusammenlegung mit seiner Frau, zu der er glattrasiert war:
und andem auch zu untreglicher beschwerung der gantzs tage unnutzlich verzeli wurdet, so ordenen wir, das nunhin fürbas breutgam und braut sampt irer beiderseits freundtschaft und geladenen gesten sich mit dem würt vergleichen oder sunst, im fall sy die hozeiten selbst halten, dahin richten und befürdem, das sy nach volnbrachtem kirchgang somerszeit morgens umb neun und winterszeit umb zehen und also auch des nachts somers- und winterszeit zu fünf uhren, sovil muglich, zu tisch und dem essen gehen und also auch das lang tischsitzen abkurtzen." 15
"Und als wyer zu byeden syttend ains warend des hiratt und mir der fattar dye thochtar zusyatt und der handstrack geschiach, do gi eng ich und lies mir min bart abscheren zum ersten mal in mim hus durch min gefatter Ottmar, und ist mir der bart gaingen bis uber das herzgrüblin, so lang ist er gesin, der erst. Uff den dag mitdag gieng ich und min frünschaff ins burgemmiastar huss, und do gab mian uns zu saman, und was Urban Jüntalar uns pfaff, und vermelatt ich Elsbett, min frow, mit 2 ringen, gott der her geb uns glück und sin gettlichen gnad, das wier nach sinem gettlichen willen [... ]."13
Doch dieses kurpfälzische "Polizeimandat gegen das Unmaß bei Hochzeiten und Kindstaufen" von 1558 verbot darüber hinaus alle körperlichen Praktiken, die unkontrolliert Sinn konstruieren konnten:
Solche Beispiele sind typisch für die körperlichen Veränderungen, die in der liminalen Phase vorgenommen werden. Sie betreffen entweder nur die Änderung der Hülle des Körpers, wie bei der speziellen Bekleidung, oder jene Teile des Körpers, die empfindungslos zu verändern sind. Schmerzen, eine genuin körperliche Erfahrung, spielen aber dagegen in der europäischen Geschichte nicht jene Rolle, die ihnen in vielen anderen Kulturen zukommt. Ein erster Hinweis, warum der Körper nur begrenzt involviert wird, sind die vielfältigen Regelungen, mit denen verschiedene Obrigkeiten versuchten, Grenzen zu fixieren, in denen sich Körper während der Hochzeitsfeste bewegen durften. Besonders die Tänze waren Objekt obrigkeitlicher Regulierungen. Diskursiv begründet wurden solche Beschränkungen über ein Menschenbild, das seine Definition über eine Differenzsetzung von humaner und animalischer Lebensform vollzog. 1546 begründete eine kurpfälzische Hochzeitsordnung ihre Einschränkung unter anderem so: "Zum vierdten ist bißher gespürt, was offentlicher schande und mergklichs unraths auß übermessiger füllerey entstanden, dadurch nit alleyn menschlichs wesen in vihische natur verwendet, die milten gottesgaben [... ] unnützer weiß verschwendet [... ]."14
Und auch zwölf Jahre später, in einer revidierten Ordnung, findet sich noch das gleiche Argument: "Und nachdem sich auch solche unordenliche weiß eingerissen, das man gemeinlieh an eim hochzeitliehen tage kaum vor ailfen zur kirchen und oftmals kaum umb zwölf uhren zu tisch kombt und dan wole biß in die vierdte oder fünfte stundt beyeinander im sauß und unordenlichem, vihischem leben verharrt, dardurch dan manchem armen mann zu schaden 13 Zitiert nach Karf Schib (Hrsg.), Hans Stockars Jerusalemfahrt 1519 und Chronik 15201529. (Quellen zur Schweizer Geschichte, NE, Abt. 1: Chroniken, Bd. 4.) Basel 1949, 137. 14 Pfaltzgrave Friderichs, churfürsten etc., aufgerichte ordenunge christlicher und guter policey (1546), zitiert nach Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten. 1. Hälfte. Leipzig 1902, 108.
"Und dieweil bißher viI unzucht und leichtfertigkeit in däntzen, sowole bey tag als bey der nacht, geübt worden, so sollen furbaß die däntz zun hochzeiten, auch sonsten, nit anders dann in zuchtigem, erbarn wandel one uberftuß der unzucht, des verdrehens, sprengens, noch anderer leichtfertigkeiten gehalten, sich auch keiner, so nit zur hochzeit geladen ist, seins gefallens, selbs zu tantzen, eindringen noch ainichen zanck oder hader anfangen, und darzu die nebendentz, so bißher durch allerlai gesamblet gesindt neben den hochzeiterin und geladnen personen aigens willens unzuchtiglichen volnbracht worden, bey der thumstraf gentzlichen abgestelt und vermiten werden, doch hiemit onbenommen, einem in zuchten ein furtantzs zu geben."16
Unbeherrschte Körperbewegungen entsprachen nicht einem auf Beherrschtheit und Vernunftsteuerung setzenden Menschenbild, das sich mit dem Humanismus etabliert hatte. Die Grenzlinie, die hier gezogen wurde, folgte nicht einer Auseinandersetzung um die symbolische Bedeutung von Körperbewegungen, sondern erfolgte, weil Körperbewegungen, wenn sie ungesteuert stattfanden, etwas produzierten, das nicht steuerbar war. In diesem Sinn produzierten Tänze eine körperlich-mentale Disposition, Bedeutungen rauschhaft zu formulieren. Wo solche bewußt wurden, wurden sie, ebenso wie in den obrigkeitlichen Ordnungen, negativ konnotiert, beispielsweise wenn Balthasar Kindermann 1662 in seiner Frauen stigmatisierenden Anekdotensammlung "Die Böse Sieben" darstellt, wie sich sein Held Mundano von einer Gesellschaft zu einem verwegenen Tanz nötigen läßt, während dessen er mit der schönen Dolorinde die Ringe tauscht und somit ein Hochzeitsversprechen eingeht - der Beginn einer Ehe, die sich für den Protagonisten rasch als Hölle entpuppt: "Sie truncken hurtig herumb / und nöthigten unsem Mundano nach vollbrachter Mahlzeitf mit Dolorinden einen Tanz zu thun. Was kunte dem jungen / und noch was verborgenen Freyer frölichers angemuthet werden? Und was hätte Dolorinden wol angenehmers begegnen können? Ich halte dafür / dass unter wehrendem Tantze / Mundano mit Dolorinden die Ringe verwechselt / und des Kauffes sey einig worden: Er geleitete sich nach ihrer Ruhe-
15 Polizeimandat gegen das Unmaß bei Hochzeiten und Kindstaufen, auch bei Baneketten (1558), zitiert nach Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen (wie Anm. 14), 263. 16 Zitiert nach ebd.
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kammer / und nahm / in Gegenwart ihrer vornehmen Eltern / von einem jedweden ins onderheit einen höflichen Abschied. [... ] Dolorinde baute in ihrem Hertzen dem Mundano wol tausend Altare / auf welchem sie ihm gezimter Ehrfurcht / alle Stunden und Augenblick ein Opfer brachte. [... ] Feuer war in beyder Herzen. Das merckte der Vater / das merckte die Mutter / und die gantze Erbare Freundschafft / darum machten sie nach der Hand genugsame Anstalt zu dem / umb welches den beyden Verliebten es auch am allermeisten zu thun war. Und sehet / in wenig Tagen war alles bereit / und deer Herold musste herumm zu den Freunden wandern / und dieselben allzumal zur Hochzeit laden. Kein Soldat mag sich so sehr auff die Beute freuen / als Mundano auff die Hochzeit. [... ] Die Kosten so zur Hochzeit mehr als gerne angewandt wurden / belieffen sich auff die achthundert ReichstahIer. Unnd durfte sich der Bräutigam darum nicht die geringste Sorge machen. Er satzte sich zu tische / und gieng so bald es ihm beliebte mit seiner Brau [sic!] zu Bette. Und diese Herrligkeit hätte er mit dem Türckischen Keyserthum nicht vetauschet."17
Konnte körperlicher Rausch dergestalt sinngenerierend wirken, formulierte er doch die vermeintliche Zuneigung zu einem Menschen, die weitere, folgenschwere Handlungen initiierte, so konnte er andererseits auch die ritualisierte Handlungsabfolge unterbrechen. Über seine Hochzeitsnacht im Jahr 1581 schrieb Hans von Schweinichen in seinen Erinnerungen: "Nach Vollziehung der Trauung wurden wir alle fürstlich traktiret und waren dabei lustig und guter Dinge. Es ward mir von I.f.Gn. das Rosenzimmer eingeräumt, darinnen ich mit Freuden und Ehren beilag, denn ich bin gleichwie die Braut eine reine Jungfrau gewesen, haben wir also einander nichts vorzuwerfen gehabt. Die Frau Herzogin, die Frau Kurzbachin nebst der Jungfrau Mutter brachten mir die Braut zu Bette geführet und gaben mir die Lehre, ich sollte die Nacht friedlich leben, welches auch von mir geschah; der starke Rausch half mir wohl, friedlich zu sein." 18
Eine weitere Strategie, die die Entkörperlichung der Eheschließungsrituale einerseits begründete, andererseits förderte, war die zunehmende Gruppierung der Ritualausführung um die Vorstellung von ,Reinheit'. Dies dürfte mit einer der wesentlichen Wandlungsstrategien diskursiver Sinnzuschreibung zur Figur der Braut in der Frühen Neuzeit zu tun haben: der Ineinssetzung dieser mit der Braut. 19 Reinheit war rituell zu wahren und symbolisch zu demonstrieren, was in sehr unterschiedlicher Weise performativ oder symbolischvisuell codiert dargestellt werden konnte: von rituellen Waschungen bis zu spezifischer, häufig weißer Bekleidung. Besonders in protestantischen Territorien wurde die Reinheit der Brautleute mit der durch die Reformation ange17 Balthasar ,Kurandor' Kindermann, Die Böse Sieben Von Welcher heute zu Tage die unglückseligen Männer grausamIich geplaget werden / Fürgestellet In einer wunderbaren Geschichte Durch Ein Mitglied des hochlöblichen Schwanen-Ordens. Zu Ende ist mit angehänget worden der verehlichten Lust und Unlust. Zeitz / Druckts Christophorus Cellarius, Im Jahr 1662, o. pag. 18 Zitiert nach Ernst von Wolzogen (Hrsg.), Des Schlesischen Ritters Hans von Schweinichen eigene Lebensbeschreibung. Berlin 1907,204. 19 Zum Diskurs um Reinheit in der Frühen Neuzeit vgl. Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit - Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999, bes. 14.
strebten Reinheit der Gesellschaft gleichgesetzt, was wiederum die Funktion des Initiationsrituals als Wiederaufführung des Gründungsmythos der Gesellschaft verdeutlicht. Da diese Reinheit zwar als geistige Reinheit verstanden, aber als körperliche Reinheit und damit Jungfräulichkeit inszeniert wurde, war der Körper das entscheidende, aber auch das gefährdete und gefährliche Medium der Eheschließung. Zwar nahm besonders durch die Lutherische Reformation das Wort als Medium in Eheschließungsritualen an Bedeutung zu, was nicht zuletzt auch die zunehmende Wichtigkeit der Hochzeitspredigt in beiden Konfessionen erklärt, entlang des Körpers und seiner Gefährdungen aber entwickelten sich die für die Frühe Neuzeit signifikanten gesellschaftlichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Gruppen, Generationen und Geschlechtern. Denn körperliche Praktiken generierten Bedeutung, die ihrerseits interpretationsbedürftig war. Solche Interpretationskonflikte durchziehen die Frühe Neuzeit und konturieren das Bestreben der Kirchen, die Herrschaft über den Symbolraum, über die Zuschreibung von Bedeutungen zu Ritualen und bildlichen Symbolen zu erhalten. Auch wenn die Zurückdrängung sogenannter abergläubischer Praktiken nicht vollständig gelang, so blieb die Möglichkeit, Sinn umzuschreiben und in ein geändertes Konnotationssystem einzupassen. Das Ziel dieser Körperreglementierungen war die spirituelle Reinerhaltung des Hochzeitspaares, die durch die emergente Eigendynamik körperlicher Praktiken ständig gefährdet war. Symbolische Strategien, die auf den Körper aufgetragen wurden, sollten diese Mehrdeutigkeit vermeiden helfen und eine eindeutige Bedeutungszuschreibung ermöglichen. Der Kranz beispielsweise war als Fruchtbarkeitssymbol Zeichen der Jungfräulichkeit. Aber nicht nur die Braut trug einen Kranz, in einzelnen Regionen erhielten alle Hochzeitsgäste einen solchen. 20 Vielfach überreichte sogar die Braut dem Bräutigam diesen als Symbol für die Achtung ihrer Keuschheit, die er ihr entgegenbringen sollte. 1589 schrieb Michael Saxsen, Hofprediger zu Thonna, in seiner Auslegung des Kranzsymbols: "Zum dritten / das der Breuttigam den Krantz oder Schnuren von seoner Vertraweten annimmet / und ihr zu liebe und Ehren offentlich treget / geschicht auß zweyen ursachen: Erstlich zum zeugnis / das er seine Vertrawete für keusch und züchtig / rein und unbefleckt.! from und redlich achte und halte: Zum Andern / Ihm selber zur erinnerung / das er gleichen schatz seiner Braut zu bringen solle / und mit seinem unbeflecktem Leibe / die Ehe mit ihr beschreiten / und hernach seinen Ehebundt onverbrüchlich halten wollt. "21 Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989, 143f. 21 Nutzer Bericht / von der bedeutung der Schnur und Cranztze / So di Braut dem Breutigam zu geben / und er ihr zu Liebe und Ehren / offentlich zu tragen pfleget. Gestellet durch Michaelum Saxsen / Hoffprediger zu Thonna: / und ist auch zu Pyrmont. Gedruckt zu Mühlhausen / durch Andream Hantzsch /1589,3. Abschnitt. 20
508 Der Brautkranz wurde nach der Hochzeit mit einem Schleier oder einer anderen Kopfbedeckung vertauscht, der den Statuswechsel dokumentierte. Ein Schleier konnte aber auch von der Braut vor dem Übergang getragen werden. Der Schleier neutralisiert das Subjekt, das die Initiation durchleben will. Es ist unsichtbar, nicht wirklich anwesend, eine virluelle Gestalt, die erst im Ritual geboren werden muß. Parallel zu dieser Tendenz zur Verkirchlichung mit ihrer Betonung der Reinheit wurden volks kulturelle performative Praktiken in ihrer Bedeutung zurückgedrängt oder ganz abgeschafft. 22 Zentral war dabei die Verkirchlichung der Eheschließung, die die traditionell im Vordergrund stehenden beiden Phasen Eheversprechen und Beischlaf als Vollzug dieses Eheversprechens in ihrer Bedeutung reduzierte und an ihrer Stelle die Trauung durch den Priester in den Mittelpunkt des Übergangs stellte. 23 Im späten Mittelalter und noch lange ins 16. und 17. Jahrhundert hinein markierte der Abschluß der Aushandlung der ökonomischen und finanziellen Heiratsbedingungen durch die beiden beteiligten Familienverbände den Übergang der beiden angehenden Eheleute in die liminale Phase. Mit der Veröffentlichung dieses Ergebnisses wurden sie zu Braut und Bräutigam und gehörten nicht mehr zur Gruppe der frei auf dem Heiratsmarkt verfügbaren Personen. Nun wurde diese Liminalität öffentlich gemacht. Seit dem 16. Jahrhundert wurden volkskulturelle Bräuche, die diesen Austritt aus dem bisherigen gesellschaftlichen Status in der lokalen Öffentlichkeit symbolisierten, nach und nach von Praktiken zurückgedrängt, die die kirchlichen-und weltlichen Obrigkeiten erlassen hatten. Der Körper hatte in ihnen eine besondere Rolle gespielt, beispielsweise bei dem in Pommern verbreiteten Brauch des Steingehens. Vor der Hochzeit, meist am Morgen vor der Trauung, mußte der Bräutigam sich öffentlich auf einen Stein stellen und faire Einwände, unfreundliche Beschimpfungen oder unerfreuliche Wurfgegenstände entgegennehmen. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts ging der Brauch verloren. Einer der letzten, der diesem noch nachging, war der spätere Stralsunder Bürgermeister Bm1holomäus Sastrow, der 1551 heiratete: "Auff den Nachmittag nach dreyen, als auf den Abendt die Hochzeit angön sollte, versamlten sich die geladen, unnd dem Breutigam Beistandt leisten wölten, zu jhme; gingen nach dem Marckete nach der Seiten der Schuestrassen, der Brautman zwuschen zwen Burgermeistern, oder so die nicht vorhanden, den Furnemsten in dem Proceß. In der Tühren auf der Schwellen des Hauses, recht auf der Schuhestrassen Orrte, lag ein vierkantig Ehlstein,
22 Christian Simon, Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels. Basel/Frankfurt am Main 1981, 119. 23 Harrington, Reordering Marriage (wie Anm. 10), 145-147; Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Flühen Neuzeit. Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. München 1990,143f.
dar gingk der Brautman allein hinauf, die andern alle blieben ungefehr 50 Schrit zurück in ordine, wie sie gangen. Da stunt der Brautman gar alleine [... ] Sagen, das der Brautman sich derwegen alleine auf den Stein bloß one einichen Beistandt hat stellen mussen, wo jemandts Einsage hette, sollichs er noch vor der Copulation gwertigt sein möste."24
Wie in diesem Fall, zeigten die traditionellen Formen des Aufgebots fast immer die Verletzlichkeit des Initianten über eine Isolation des Körpers des einzelnen an. Erst später wurden Aufgebotsformen zunehmend verrechtlicht und damit zugleich verschriftlicht. Die Regelungen räumlichen Ein- und Austretens dienten der Bändigung von Gefahren ebenso wie es positiv gewendet Praktiken gab, die die Reinheit in den Körper aufnahmen, wie beispielsweise das Lövelbier, das aus einem noch niemals benutzten und mithin ,sauberen' und ,reinen' Gefäß getrunken wurde. Nachdem der Kelch herumgegangen war, wurde er mit einer Kerbe versehen, womit eine physische Spur auf ihn aufgetragen wurde. Mit diesem Getränk und ähnlichen Praktiken wurde Reinheit nicht nur auf den Körper aufgeschrieben, wie bei Brautkleid und Brautkranz, sondern in den Körper hineingenommen, um sich dort zu verteilen. In räumlichen Trennungen vor der Hochzeit und der körperlichen Zusammenlegung als Akt ihres Vollzugs vollziehen sich symbolisch die Reinigungen der Brautleute. Mit ihnen werden die rituelle, spirituelle und körperliche Reinheit hergestellt, die gleichzeitig die Reinheit der Gemeinschaft garantiert. Doch griff die Verkirchlichung im 16. Jahrhundert nicht so rasch um sich, daß sie die traditionellen Vorstellungen des Ablaufs der Eheschließungsrituale völlig veränderte. Noch Hans von Schweinichen stellt in einem autobiographischen Text die legitime Sexualität als zentralen Moment der Paarwerdung im Rahmen einer insgesamt achttägigen Hochzeit dar: "Anno 1567, weil ich, wie ich gemeldet, aus der Goldberger Schule anheim kommen gewesen, hat Herr Wenzel, der Alte, zu Teschen ein Fräulein von Sachsen, Herzog Franzens Tochter, geheiratet und ist das fürstliche Beilager im März zu Teschen gehalten worden."25
Ähnlich ließ sich auch durch Reglements und Einschränkungen das nicht verhindern, was durch die betonte Körperlichkeit der außerkirchlichen Hochzeitsrituale geschah, die Erzeugung von Bedeutung der jeweiligen körperlichen Praktik. Daher kam es, wie beispielsweise 1601 in Zürich, zu völligen.· Verboten von Tänzen auf Hochzeiten. 26
24 Zitiert nach Ursula Brosthaus, Bürgerleben im 16. Jahrhundert. Die Autobiographie des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow als kulturgeschichtliche Quelle. (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 11.) Köln/ Weimar/Wien 1972, 62 f. 25 Zitiert nach Wolzogen (Hrsg.), Hans von Schweinichen (wie Anm. 18), 16. 26 Stadtarchiv Zürich, III Aab I Nr. XXV, Landmandat von 1601.
Der Körper als Medium symbolischer und performativer Praktiken
Konflikte um die Interpretation der Bedeutung körperlicher und symbolisch-kommunikativer Praktiken durchziehen die Frühe Neuzeit. 27 Das Bestreben der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten, die Herrschaft über den Symbolraum, über die Zuschreibung von Bed,eutungen zu Ritualen und bildlichen Symbolen zu erhalten, sind in der Forschung unter den Begriffen Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung hinreichend untersucht worden. 28 Auch wenn die Zurückdrängung sogenannter abergläubischer Praktiken nicht vollständig gelang, so blieb, wie beim Polterabend, die Möglichkeit, Sinn umzuschreiben und in ein geändertes Konnotationssystem einzupassen. Besonders Hochzeiten waren vielfach von sogenanntem ,Aberglauben' durchsetzt, und die Obrigkeit unterließ nichts, um die schädlichen Folgen solcher Praktiken herauszustellen, wie ein Beispiel aus der Chronik von Altenburg zeigen soll: Anno 1660 in der Christnacht / wollte eine Jungfrau zu Altenburg erfahren / was sie künf~ig vor einen Mann überkommen / ob er krumb oder gleich / geschickt oder ungechickt / seyn würde? Deßwegen gehet sie zu Mitternacht hinter in den Hoff / ein Scheit aus dem Holtz-Hauffen zu ziehen / an dessen Länge sie die Beschaffenheit ihres Liebsten sehen wollte: über solcher Verrichtung aber erschrecket und bethöret sie ein Gespenste dermassen / dass sie von Stunden kranck wird / nach etlichen Tagen sterben und sich mit dem Sarge ant statt des Braut-Bettes hat beehren lassen müssen."29
In der Volkskultur gibt es vielfältige körperliche Praktiken wie das hier genannte zufällige Ziehen eines Holzstücks aus einern Holzstapel, die einen vorher nicht gekannten Sinn generieren, der für die Betroffenen handlungsleitend wird. Solche Formen der Unsteuerbarkeit werden von Vertretern einer ver27 Zur rechtlichen Codierung dieser differenten Interpretationen vgl. Gerh~rd Dilcher, Religiöse Legitimation und gesellschaftliche Ordnungs aufgabe des Eherechts 10 der Re~or mationszeit, in: Paolo Prodi (Hrsg,), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntlllsse und Sozialdisziplinienmg zwischen Mittelalter und Neuzeit Münche~ 1993, ,1~9-198. 28 Zur jüngsten Weiterentwicklung der beiden Theoreme vgl. u. a'l!ez.nz.S~hllimg. (Hrs~.), Institutionen Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Dlszlphlllerung 1m fruhneuzeit1iche~ Europa, Frankfurt am Main 1999; Rudolf Schlögl, Differenzierung. u~d Integration: Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Gesellsc~aftssystem. Das BeIspIel der habsburgischen Vorlande, in: ARG 91, 2000, 238-284; Ulrzch Pfister, Geschlos~e~e Tabernakel - saubere Paramente. Katholische Reform und ländliche GlaubenspraxIs 10 Graubünden, 17. und 18. Jahrhundert, in: Norbert Haag/Sabine Holtz/Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit Konfessionskultur~n und Lebe~swelten 15001850. Ostfildern 2002, 111-138; Oliver BecherlAline Stembrecher, DIe Ordnung der Ringe. Verkirchlichung von Eheschließung im Calvinismus, in: eb~. 2?5-278. . 29 Altenburgi Altitudo, Das ist Der weltberühmten Alt-Deutsch-Melßlllschen resp. RelchsChur- und Fürstl. Sächsischen Residentz- und Pleißnischen Haupt-Stadt Altenburg / Ansehnliche Hoheit / Samt unterschiedlichen Altenburgischen Altherthums stattlichen Gedächtnissen / und sonst nutzbaren besehenswerthen trefflichen Merckwürdigkeiten / theils sonderbaren neuen Geschichten und mancherley Begebenheiten / So beydes den Einheimischen und Außländischen zum Nutz und ergötzlichen Nachricht / an statt einer von vielen verlangten Altenburgischen Chronica kürtzlich entworffen Johannes Vilpius Samuel Meyenburg. Altenburg / Druck und Verlag Johann Ludwig Richter 1699, 68.
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christlichten Kirchenkultur so uminterpretiert, daß sie sich als schädlich herausstellen, wie im zitierten Beispiel der Zufall, der die Hand führt, sich als unheilbringender Weissagungsdämon erweist. Die Rolle des Körpers in Eheschließungsritualen der Frühen Neuzeit ging daher nicht in den Auseinandersetzungen der verschiedenen beteiligten Parteien um Sinn und Auslegung der symbolischen Bedeutung körperlicher Performanzen auf, sondern reichte vielmehr über diese hinaus und war in der Lage, einen Sinnüberschuß zu produzieren, der selbst geschichtsmächtig wurde. Mit anderen Worten: Der Körper war ein autopoietisch sinngenerierendes Medium, was sich im folgenden an mehreren Beispielen veranschaulichen läßt.
IV. Körper als autopoietisch sinngenerierendes Medium Was die Spontaneität körperlicher Verhaltensweisen anging, gab es zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einen epochalen Wandel, den man anhand von zwei Beispielen der Begegnung von Verlobten nachvollziehen kann. Idealtypisch und unter Absehung von regionalen und epochalen Differenzen läßt sich für die Frühe Neuzeit feststellen, daß die Eheschließung bereits mit einer im Vergleich zur Modeme deutlich institutionalisierten Form der Bekanntschaft begann und daß vielfach die Werbung von Mitgliedern der jeweiligen Familien vorgenommen wurde, ohne daß sich die späteren Eheleute bereits kennen mußten. Besonders im Übergang vorn Mittelalter zur Frühneuzeit, im 15. und 16. Jahrhundert, war es noch eine übliche Praxis, ein Mitglied der eigenen Familie zu entsenden, um einen geeigneten Hochzeitspartner zu finden. Zunehmend setzte sich bis ins 18. Jahrhundert aber das Modell einer Liebesheirat durch. 3o Die ökonomischen Gründe traten in den Hintergrund. Eine für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts typische Form einer Erinnerung an die eigene Hochzeit findet sich in dem sogenannten ,Tagebuch' des Lampert Distelmeier, der 1522 als Sohn einer Leipziger Bürgerfamilie geboren worden war und später Brandenburgischer Kanzler wurde: "Anno [15]48 umb Michaelis, als ir zu Budissin allerlei Freiheiten wurden vorgeschlagen, wurde mir durch Ulrich Rauscher, meinen Schwager, dem Gott gnade, mein Weib Elisa- .' beth in Schriften ahngetragen und die Sache durch Brieffe so weith behandelth, daß ich den 13. Novembris kegen Leipzigk kam und mjt allen ihren Freunden zu Leipzigk (hatte Bewilligung dehn 18. Tag Novembris, welcher St Elisabeth - Abend wahr) mit ihr öffentlich Verlöbnuss hatte in ihres Vaters Christian Goldhahhns (dem Gott gnade) Hause. Auf meiner Seite wahren Dr. Modestinus Pistrius (der redete das Worth), Ulrich, Hans und Hieronymus Rauscher und Hieronymus Wulff; auf ihrer Seiten Dr. Lustel (der redete), Andreas Waner Burgermeister, Magister Johannes Goritz Stadtrichter, Andreas Mandersterk, MagiVgl. leffrey R. Watt, Marriage Contract Disputes in Early Modern Neuchatel. 15471806, in: JSocH 22, 1988, 129-147.
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ster Paulus Gerlitz, Wulff Beyling, Daniel Ambtoch. Und hatten dehnselben Abenth mehr als 30 Geste. Den volgenden Thag zu Mittage zoge ich wider kegen Budissin. [... ] Am 4. Thag Februarii desselben 49. Jhares (bin damals in das 27. Jahr gangen) habe ich in Hieronymi Rauschers Hause am Markte Hochzeith gehalten und habe flugs darauf dehn 7. Februarii wider in Budissin und danne nach Prag' verreisen müssen. Den 1. Martii ist mein Weib erstmals kegen Budissin kommen."31
Den größten Raum in der Erinnerung nimmt die Phase der Werbung und der Aushandlung der Heiratsbedingungen ein. Das Fest aus Anlaß des Eheversprechens und der Besiegelung der Vereinbarungen, die aber nicht berichtet werden, wird ebenfalls erwähnt. Das eigentliche Hochzeitsfest im folgenden Jahr wird nur als private Feier erinnert, der Kirchgang selbst kommt nicht zur Sprache, ebensowenig wie weitere ritualisierte und symbolisierte Formen der Eheschließung. Galten körperliche Berührungen vor der Eheschließung noch im 15. und 16. Jahrhundert als unstatthaft, so interpretierte man im 18. Jahrhundert spontane körperliche Äußerungen als Zeichen emotionaler Bindung zwischen den beiden Verlobten und damit als Nachweis einer wohl begründeten Basis für die kommende Eheschließung. Elisabeth Schmidt schrieb in ihren Erinnerungen über das Zusammentreffen ihrer Schwester Meta Moller mit ihrem zukünftigen Mann, dem Schriftsteller Friedrich Gottlieb Klopstock, acht Tage vor der Hochzeit am 2. Juni 1754: "Wie Klopstock zur Hochzeit herreißte wollte Meta ihm biß Pineberg entgegenfahren, aber V2 Meile von Hamburg kommt Klopstock ihnen schon entgegen. Metas Schwager sieht ihm [sie] zuerst: sagt ziemlich langsahm; da komt Klopstok her, da sizt er auf den Wagen der uns entgegen körnt, den Augenblick war Meta schon halb aus dem Fenster des Wagens, konnte die Thür nicht aufkriegen, Klopstok auch schon von seinem Wagen auf dem Schlage des unsrigen Meta um den Hals, natürlich dauerte es lang, dass Schwester und Schwager sie wieder von einander brachten [... ] unterdeß stieg Meta aus dem Wagen ging mit Klopstok unterm Baum si zen und die Schwester hatte Mühe, sie da wegzubringen, damit sie noch wieder des Abends nach Hamburg zurük komen konten. "32
Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock waren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren verlobt, hatten sich seit längerem nicht gesehen und trafen sich in Hamburg, wo sie am 10. Juni, acht Tage nach der geschilderten Begegnung, getraut wurden. Die Schilderung konzentriert sich auf die bei den Personen und betont solche Handlungen, die als Zeichen einer emotionalen persönlichen Beziehung gedeutet werden, wohingegen die Einbindung in familiäre Kontexte keine wesentliche Rolle spielt. 31 Zitiert nach Julius Heidemann (Hrsg.), Ein Tagebuch des brandenburgischen Kanzlers Lampert Distelmeier. (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, Ostern 1885.) Berlin 1885, 14f. 32 Zitiert nach Franziska Tiemann/Hermann Tiemann (Hrsg.), "Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe". Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 1751-1758. München 1980, Dok. 194,298.
Solche emotionalen Ausbrüche gab es auch im 16. Jahrhundert, in nicht wenigen Quellen werden sie aber für die Diskursivierung in Texten negativ konnotiert. So schrieb der Arzt und Humanist Felix Platter in seiner Autobiographie über seine Rückkehr in seine Heimatstadt: "Es entpfiengen mich meine nochburen und war ein groß freudt in der gaBen. Und wie ich hernoch innen worden, so luff der hebam Dorly Becherer magt fir meins künftigen schwechers hus, gwan meiner zuokünftgen auch das bottenbrot ab, dorab sy erschrack, will sy zelauth geschruwen. "33
Der Vater Platters arrangierte in den folgenden Tagen das erste Zusammentreffen zwischen den beiden, das "nit on verenderung der farben" vonstatten ging. 34 Ob körperliche Handlungen stattgefunden haben und wie diese von den Ausführenden wahrgenommen wurden, läßt sich nicht verläßlich bewerten. In diesen bei den gegenübergestellten Beispielen wird aber deutlich, wie sich die wahrgenommene Bedeutung von körperlichen Anzeichen von Emotionalität verschob. Deren besonders distanzierte Wahrnehmung noch im 16. Jahrhundert wird auch in der von Felix Platter verwendeten rhetorischen Formel der Litotes deutlich, der doppelten Verneinung, die den Zweck verfolgt, die schamhafte Röte der Haut noch deutlicher herauszustellen. Dieser Befund, der sich an den narrativen Strategien nachvollziehen läßt, mit denen im 16. und 18. Jahrhundert die öffentliche körperliche Annäherung zwischen zwei Menschen geschildert wurde, korrespondiert mit den im vorherigen Abschnitt herausgestellten Strategien der kirchlichen wie territorialherrschaftlichen Obrigkeiten, die sinngenerierende Funktion körperlicher Performanzen zu bändigen. Im Kontext des Individualismus und der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts gewann die spontane körperliche Äußerung jedoch wieder an Bedeutung und wurde in ein sich langsam wandelndes neues Wahrnehmungsmuster different konnotiert. Wie wenig jedoch körperliche Performanzen in diesen Wahrnehmungsmustern aufgingen, zeigt ein Beispiel vom Ende des Untersuchungszeitraums. Am 25. April 1790, als in Paris bereits die Revolution tobte und, obgleich der König noch lebte, die Zeichen einer neuen Zeit am Horizont bereits deutlich sichtbar waren, lag der Gutspächter August Wilhelm Lambrecht mit einem hitzigen bösartigen Fieber in seinem Bett in Herrhausen. Lambrecht hatte fünf Jahre zuvor bei Übernahme des Guts Henrietta Dorothea Köhler, eine Tochter des ortsansässigen Waagemeisters, als Haushälterin eingestellt. Mit der erneut Schwangeren hatte Lambrecht bereits einen vierjährigen Sohn und eine einjährige Tochter. Der Zustand des Kranken verschlimmerte sich zusehends, 33 Zitiert nach Dieter Hochlenert, Das, Tagebuch' des Felix Platter. Die Autobiographie eines Arztes und Humanisten. Diss. Tübingen 1996, 187. 34 Zitiert nach ebd. 188.
und am Abend des 1. Mai um zehn Uhr glaubte der Land- und Stadtphysikus Dr. Spohr nicht mehr, daß der Kranke den nächsten Tag noch erleben würde. Der herbeigeeilte Pastor Mitgau übermittelte dem Kranken diese Nachricht, nachdem dieser sich "durch den Genuss des heiligen Abendmahls zu stärken gesucht" hatte. 35 Lambrecht war betroffen,' 'blieb aber standfest und sorgte sich um seine Lebensgefährtin und die gemeinsamen Kinder. Er beteuerte dem Geistlichen, daß er nicht eher in Ruhe sterben könne, "bis diejenige, der er unter dem Versprechen der Ehe die Ehre geraubt, dieser Verlust durch priesterliche Einsegnung ersetzt worden".36 Den Einwand, daß eine solche "Copulation" nur durch vorheriges Aufgebot und vorgängige Dispensation stattfinden dürfe, entkräftete das Klagen des Sterbenden nicht. Als Henrietta Köhler erklärte, daß sie auf immer unglücklich sein würde, wenn ihr der Verlust ihrer Ehre nicht auf diese Art ersetzt würde, zeigte dies beim Pastor Wirkung. Bereits vor der Erkrankung hatten die beiden gegenüber dem Geistlichen erklärt, in den Stand der Ehe treten zu wollen, vielleicht, weil sie schon des öfteren angesichts ihrer Kinder und ihres nicht legitimierten Zusammenlebens von diesem an diesen Schritt erinnert worden waren. "Das betrübte Schicksal der vorhandenen Kinder" vernichtete die "Bedenklichkeiten" des Pastors: er vollzog wider alle Vorschriften und Regelwerke die Eheschließung des August Lambrecht und der Henrietta Köhler ohne Aufgebot und Dispensation unter Hinzuziehung von herbeigeeilten Zeugen am Sterbebett des Mannes im privaten Wohnhaus der beiden Initianten. Pastor Mitgau war sein Verhalten wohl als Verfehlung bewußt, und die Quellen legen nahe, auch wenn sie es nicht eindeutig aussagen, daß er selbst den Fall dem Fürstlichen Konsistorium als oberster territorialherrschaftlicher Instanz in Fragen der Regelung kirchlicher Angelegenheiten vortrug. 37 Er hoffte, daß die besonderen Umstände ihn vor Strafe schützen würden, da ihn doch nur seine "Weichherzigkeit" zu diesem Schritt veranlaßt hatte. Das Konsistorium aber, das den Fall für eindeutig hielt, schlug dem Herzog als oberster Instanz in glaubensrechtlichen Entscheidungen vor, keine Milde zu zeigen und die härteste Strafe auszusprechen, "weil eine ohne Beobachtung der gesetzlichen Vorschriften verrichtete Copulation den unersetzlichsten Nachtheil zur Folge haben kann, zumahl wenn, wie hier der Fall ist, Personen ehelich verbunden werden, die noch Eltern haben".38 Da dem Konsistorium "bei einem so äußerst gesetzwidrigen Benehmen die Strafe einer zeitweisen
Suspension oder einer hohen Geldstrafe noch zu gering" erschien, drohte dem Geistlichen die endgültige "Entsetzung seines Dienstes". Es war weniger die Güte des Territorialherren als die Einmaligkeit des Falls, die diesen veranlaßte, die vorgeschlagene Strafe nicht auszusprechen. Vielleicht war es auch das Mitgefühl, das die folgenden Ereignisse bedingte. Faßbar in den Diskursen der Akten ist nur das Argument, daß die Kirchenordnung nichts über den vorliegenden Fall aussage und daher die harte Strafe einer Remotion nicht zu rechtfertigen sei. 39 Es wurde die Aufgabe gestellt, eine Regelung zu entwickeln, die jeden abschrecke, es dem Herrhauser Pastor nachzutun, die aber auch "die Kirchen-Ordung nicht über ihren deutlichen Ausdruck extendiere". Es entwickelte sich ein langwieriges Verfahren, in dem immer wieder neue Gruppen von Gutachtern bestellt wurden, auf einen allgemein anerkannten Vorschlag konnte man sich aber nicht einigen. Am Ende einer Phase mündlicher Beratungen und immer neuer schriftlicher Entwürfe sandte man dem Herzog anstelle einer gemeinsamen Stellungnahme des Konsistoriums die einzelnen Gutachten ein. Zwischen unterschiedlichen Auslegungen des kirchenrechtlichen Regelwerks und der christlich-ethischen Grundlage der Kirchenordnung hin- und hergeworfen, hoffte man auf einen herzoglichen Entscheid. Erst nun, im Oktober 1790, kam man auf die Idee, der einzig entscheidenden Frage nachzugehen, ob der Pächter denn tatsächlich gestorben sei. Die Erkundigungen, die man einholte, offenbarten jedoch, daß August Lambrecht gesund seinen Geschäften nachging. Die auf christlicher Mitleidsethik basierenden Argumente verloren damit an Bedeutung, und man rang sich im Januar 1791 zu einer Entscheidung durch. Mitgau erhielt wegen "Haustrauung" und "Privat-Copulation ohne Dispensation" eine Geldstrafe und eine "Condemnation", die ihm im Wiederholungsfalle die Suspensation androhte:
Dies und das Folgende nach der Akte Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, Fürstliche Kanzlei, 2 Alt 15165. Das Zitat entstammt dem Bericht des Fürstlichen Konsistoriums an den Herzog zu Braunschweig-Lüneburg vom 19. 5.1790. 36 Ebd. 37 Dies kann man aus Formulierungen schließen, die im Bericht vom 19. 5. 1790 enthalten sind, der das erste Schriftstück der Akte zu diesem Fall darstellt. Weitere Augenzeugenberichte zu den Ereignissen auf dem Gut oder zu den ersten Verhören fehlen. 38 Ebd.
Neben der Notwendigkeit, im Einzelfall zu entscheiden, legte das Ereignis die Leerstellen in der Gesetzgebung offen und setzte im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg ein Gesetzgebungsverfahren' in Gang, das eine Wiederholung dieser von der kirchlichen wie weltlichen Obrigkeit, die in dem prote-
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"daß demselben dieses Unternehmen, wodurch er gegen die ihm bekannt seyn sollenden Verordnungen gehandelt und wobei die vorgebrachten Entschuldigungen unbedeutend und unzulänglich sind, erstlich und nachdrücklich hierdurch verwiesen, auch er wegen solcher von ihm begangenen, die gerechteste Ahndung verdienenden Ungebühr, für dies mahl 75 Taler Strafe, welche er binnen vier Wochen bey Vermeidung der Execution anhero einzuzahlen hat, genommen, zugleich aber verwarnet werde, sich zu dergleichen widerrechtlichen Handlungen in Zukunft nicht bewegen zu lassen, widrigenfalls und wenn er sich abermals darüber betreten lassen sollte, nach der Strenge gegen ihn verfahren, und er mit der" suspensione ab officio bestrafet werden solle. "40
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Ebd., Gutachten vom 16. 10. 1790. Ebd., Schreiben vom 15. 1. 1791, Resolution des Konsistoriums an Pastor Mitgau.
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stantischen Territorium zusammenfielen, ungewollten Form der Eheschließung verhindern sollte. Die Beantwortung der Frage, warum man dies noch am Ende der Frühen Neuzeit zu verhindern suchte, warum das Konsistorium so hart, der Herzog dagegen gemäßigt reagiert,e, gelingt nur über eine Analyse der an der Sinngenerierung des Eheschließungsrituals beteiligten Faktoren. Die Gültigkeit der Eheschließung wurde im gesamten Verfahren nicht bezweifelt. In Frage stand lediglich die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, aber nie wurde diskutiert, das getraute Paar zu enttrauen oder die beteiligten Initianten zu bestrafen. Die Mächtigkeit der gesprochenen Worte und der Rituale war und blieb gültig. Mithin geht die Geschichte der Eheschließung als Initiationsritual nicht in der Frage auf, welche bedingenden Faktoren wie Konfession, Obrigkeit oder Tradition das Ritual bestimmt haben, es geht nicht allein um eine genetische Erklärung des Rituals aus seiner scheinbaren Geschichte heraus, sondern die einzelne Performanz des Rituals kann - sie muß nicht - selbst wirklichkeitsbildend wirken, indem sie eine Sinnvarianz generiert. Aber der entscheidende Punkt ist: War der Pächter wirklich krank oder spielte er nur etwas vor, um sein eigenes Ziel, eine Eheschließung ohne den öffentlichen Aufwand, also mit deutlich reduzierter Ritualausstattung, zu erreichen. Beide Möglichkeiten aber stützen eine Interpretation des Körpers als sinngenerierendem Faktor in Ritualen. Falls er nicht krank war, zeigt dies, daß der einzelne in der Lage war, so virtuos auf der Klaviatur der Rituale zu spielen, daß durch die Kombination einer vorgespiegelten Krankheit und der in der Entscheidungsfindung des Pastors wirkmächtigen christlichen Nächstenethik die Rituale umgeschrieben und ein neuer Sinn generiert werden konnte. War er wirklich krank, dann wirkte die Krankheit als eine selbst sinngenerierende, also autopoietische körperliche Performanz, die im aktuellen Kontext christlicher Werte und einer präsenten Kommunikationsstruktur von Angesicht zu Angesicht die Ritualstruktur verändern und einen eigentlich unmöglichen Sinn, die Herstellung einer legitimen Fortpflanzungs- und Besitzgemeinschaft ohne Dispensation, kreieren konnte. In bei den Auslegungen schafft das Medium Körper in den Ritualen einen eigenmächtigen Sinn.
V. Schluß In den Ritualen der Eheschließung reformuliert die frühneuzeitliche Gesellschaft ihren Gründungsmythos von einer in die Verwandtschafts- und Gemeinschaftsstrukturen eingebundenen Weitergabegemeinschaft Familie. Von der Werbung bis zu den Hochzeitsfeierlichkeiten bestanden Eheschließungen aus einer Kette von regional different ausgestalteten symbolischen und rituel-
len Handlungen. Seit dem 16. Jahrhundert verfolgten die territorial staatlichen Obrigkeiten und die sich ausdifferenzierenden Konfessionskirchen als neue Akteure in der Auseinandersetzung um Gestaltung und Bedeutungsgebung der Rituale Strategien zur Reglementierung von Handlungen und Auslegungen im Kontext der Hochzeiten. Die Generierung von Sinn ging aber nicht in den Vorgaben der Obrigkeiten auf. Nicht nur, daß sich eine emergente Eigenwirkung durch die verwandten Medien und ihre Wahrnehmung ergab, vielfach wußten die Betroffenen sehr wohl, wie sie Vorgaben, die ihnen mißfielen, unterlaufen konnten. Der Körper wurde als Medium der Auf-Schreibung von Sinn einerseits verwendet, generierte aber auch einen emergenten Sinnüberschuß, der autopoietisch Bedeutungen zu kreieren in der Lage war und damit historische Entwicklung initiieren konnte. Die Funktion körperlicher Handlungen wurde dabei von keinem der beteiligten Akteure, der Initianten, der Familien- und Sozialverbände, der Obrigkeiten, bestritten. Körperliche Rituale ließen sich nicht ersetzen, weder durch einen stellvertretend Handelnden noch durch einen formalisierten Verfahrensakt. Für das Gelingen von Hochzeiten als körperliche Rituale war in der Neuzeit die aktive Durchführung der Handlung von entscheidender Bedeutung. Auch wenn Ehemann und Ehefrau vielfach getrennter auftraten, als wir dies nach heutigen Vorstellungen erwarten - nicht zuletzt deswegen sitzt die Ehefrau auf bildlichen Darstellungen häufig alleine am Tisch der Hochzeitsfeier -, gab es immer wieder Schnittpunkte, an denen körperliche Praktiken vollzogen werden mußten, ohne die das Ritual nicht gelang. Diese Praktiken waren mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen, um die es Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen beteiligten sozialen Gruppen gab - ersetzt werden konnten sie nicht, denn es war der körperliche Akt, der die Initiation vollzog. Insofern sind Körper in Hochzeitsritualen Medien, nicht in einer veralteten Bedeutung des Begriffs als willenlose Kanäle von diskursivem Inhalt, sondern als Mittel, mit denen eine Bedeutung allererst hergestellt werden konnte - und die in Ausnahmefällen diesen Sinn in spezifischen kommunikativen Situationen mit herstellten. Körper waren in diesem Sinn sinnbestätigende, aber auch sinngenerierende Medien im Prozeß der beständigen performativen Neu-Konstitution der frühneuzeitlichen Gesellschaft.
Zur Konstellation der Körper höfischer Kommunikation * Von
Mark Hengerer Die gleichzeitige Konjunktur der Themen Körper, Medien und KommunikationlIegt es nahe, nach dem Körper als Medium der Kommunikation in historischer Perspektive zu fragen 2 . In der Forschung zum Hof wurde auf diese Phänomene bislang vornehmlich im Zusammenhang mit der Ordnung der Bilder, Räumen von Herrschaft und deren symbolischer Aufiadung sowie dem Themenfeld der höfischen Interaktion zurückgegriffen, wobei sich die Diskussion um das höfische Zeremoniell und die höfische Repräsentation zentrierte. 3 Spätestens mit der Rezeption des Performanzbegriffs zog die Frage nach dem körperlichen Vollzug sozialer Ordnung verstärkt Aufmerksamkeit auf sich. Damit stellte sich für zeremonielle Akte die schwer zu entscheidende Frage, ob man sie eher als konstitutiv oder eher als affirmativ interpretieren sollte. 4 Wenn nach der Funktion von zeremoniell gestalteter Interaktion ge* Für die kritische Lektüre danke ich herzlich Carla Albrecht und Dmitri Zakharine. 1 V gl. die Bibliographie zur Körpergeschichte bei Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000, 173-239; vgl. weiter Swen Körner, Der Körper, sein ,Boom', die Theorie(n). Anthropologische Dimensionen zeitgenössischer Körperkonjunktur. Berlin 2002; Erika Fischer-Lichte!Christian HorniMatthias Warstatt (Hrsg.), Verkörperung. (Theatralität, Bd. 2.) Tübingen/Basel 2001; Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. KölnlWeimarlWien 2000; Axel Hübler, Das Konzept "Körper" in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Tübingen/Basel 2001; Armin Scholl, Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz 2002. 2 In diesem Sinne war die Fragestellung der Sektion formuliert. 3 V gl. J örg Jochen BernsfI'homas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und früher Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 25.) Tübingen 1995; Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. (Frühe Neuzeit, Bd. 12.) Tübingen 1993; Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaft in Göttingen. (Residenzenforschung, Bd. 6.) Sigmaringen 1997; Hans Ottomeyer/MichaeZa Völkel (Hrsg.), Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300-1900. Wolfratshausen 2002; Kornelia Hahn, Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz 2002. Aus der Forschung zum Wiener Hof sind hervorzuheben: Hubert Christian Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 14.) Wien/München 1980; Christina Hofmann, Das spanische Hofzeremoniell von 1500-1700. (Erlanger Historische Studien, Bd. 8.) Frankfurt am Main/BernlNew York 1985; Jeroen Duindam, Myths of Power. Nm·bert Elias and the Early Modern European Court. Amsterdam 1994. 4 Schon deshalb, weil sich eine Schnittstelle zwischen Repräsentation und Recht zeigte; vgl. Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsord-
fragt wurde, ging die Antwort meist in Richtung der Darstellung höherer Ordnung vor dem Volk und einer daraus abgeleiteten Legitimationswirkung. 5 So argumentierte auch die Zeremonialwissenschaft im 18. Jahrhundert, analysierte aber, weil sie davon ausging, daß Fürsten und Höflinge darum wußten, deren Verhaltensweisen als Theater6 - mit den,entsprechenden Konsequenzen für die Frage, ob das Dargestellte nicht erst durch die Darstellung produziert werde, also keine Re-Präsentation und mithin von zweifelhafter Legitimität sei? Auch ließ sich am Beispiel Preußens im 18. Jahrhundert beobachten, daß es nach anfänglich großen zeremoniellen Anstrengungen doch mit bedeutend weniger ging. 8 Die Relevanz des Verhaltensreglements innerhalb der Höfe ließ sich zunächst auf der psychologischen Ebene als erfolgreich verinnerlichte Sozialdisziplinierung im Sinne einer Affektbeherrschung9 festmachen, ohne daß die auch von Höflingen hervorgebrachte und rezipierte Hofkritik lO ,
das topische Lob des Landlebens ll und der sehr pragmatische Umgang mit Präsenz und Absenz vom Hof12 zu einer weitergehenden Prüfung dieser Funktionsbehauptung geführt hätten 13. So wird man den kontinuierlichen Körperbezug von Zeremoniell und Repräsentation zwar betonen, sich aber gleichzeitig fragen, ob nicht der ebenfalls konstatierbare Relevanzverlust dieser Formen von Interaktion für komplexe soziale Ordnung Rückwirkungen auf Interaktion hatte, deren Vollzug nicht in diversen ordines fixiert war. So wird man der Versuchung, die vom Körper ausgeht, wohl widerstehen und seine kommunikative Leistungsfähigkeit für den Aufbau komplexer sozialer Ordnung in Relation zu anderen Formen der Kommunikation und deren Sedimenten setzen müssen. Man wird dann die Forschungen zu Formen und Funktionen der Semiotisierung von Elementen der menschlichen Körperlichkeit bzw. zu Körpersprache 14 in Beziehung set-
nung (800-1800). (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 36.) StuttgartlNew York 1991; Holenstein sieht das Problem so: "nicht Produktion, aber Reproduktion", vgl. Andre Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Aufklärung 6/2, 1991,21-46, hier 29. Das Problem stellt sich auch bei der Adventus-Forschung: Joachim Lehnen, Adventus principis. Untersuchungen zu Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum. (Prismata, Bd. 7.) Frankfurt am Main/BerlinlBern/New YorklParis/Wien 1997. 5 Vgl. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103.) Göttingen 1994. 6 V gl. Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. (Ius Commune, Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 106.) Frankfurt am Main 1998, 133-298. Zum Konzept im religiösen Bereich vgl. Ursula Brosette, Die Inszenierung des Sakralen. Das theatralische Raum- und Ausstattungsprogramm süddeutscher Barockkirchen in seinem liturgischen und zeremoniellen Kontext. Bd. 1. (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 4.) Weimar 2002. 7 Vgl. Bernhard JahnlI'homas RahnlClaudia Schnitzer (Hrsg.), Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie. Marburg 1998; zur Krise der analogen Repräsentation siehe Volker Bauer, Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. (Frühneuzeitstudien, NP., Bd. 1.) Wien 1997, 111-119. 8 Zur königlichen Repräsentation am Anfang des 17. Jahrhunderts vgl. Barbara StollbergRilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgisehen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: FBPG NP. 7/2,1997,145-176. 9 Vgl. die einleitenden Beiträge in BernslRahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 3). Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien übet Interaktionssysteme. Frank~ furt am Main 1999, 138, sieht die Funktion der Körperdisziplin dagegen primär in der Stabilisierung von Kommunikation: "Vor diesem Hintergrund dienen Regeln, die den Zuhörern eine unbewegliche Körperhaltung, relativ ausdruckslose Gesichter, Verzicht auf jegliche Darstellung der Unbeständigkeit eigener Anteilnahme vorschreiben, primär einer stärkeren Ausdifferenzierung des Kommunikationsprozesses. Ihre Funktion liegt nicht in einer Erzwingung von Körperdisziplin schlechthin (daran besteht in sozialen Systemen kein generelles Interesse), sondern in der Erzwingung von Kommunikation sowie ihrer Engführung auf zurechenbare Beiträge." 10 Vgl. Helmuth Kiesel, "Bei Hof, bei Höll". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. (Studien zur deutschen Literatur, Bd.60.)
Tübingen 1979, und Vdclav Bok, Hofkritik in der deutschen moralisierenden Literatur des 16. und 17. Jahrhundelts, in: Vaclav Buzek/Pavel Kral (Eds.), Slavnosti a zabavy na dvorech a v rezidencnich mestech raneko novoveku. (Opera Historica, Vol. 8.) Ceske Buctejovice 2000, 333-344. 11 Dtto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg 1949. 12 Vgl. Petr Mafa, Sournrak venkovskych rezidenci. "Urbanizace" ceske aristokraeie mezi stavovstvim a absolutismem, in: Vac1av Bu~ek/Pavel Kral (Eds.), Residence a dvory v ranem Novoveku. (Opera Historica, Vol. 7.) Ceske Budejovice 1999, 139-162, und Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des] 7. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3.) Konstanz 2004, Kap. A.n. 13 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main 1983; Jürgen Freiherr von Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus. (Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 19.) Stuttgart 1973; Ehalt, Ausdrucksformen (wie Anm. 3). Kritik formulierte Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln ] 688-1794. Eine Fallstudie zur Bedeutung "absolutistischer" Hofhaltung. (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das Alte Erzbistum Köln, Bd. 15.) Bonn1986, der allgemeine Deutungsrahmen wurde indes nur geringfügig revidiert. 14 Vgl. Dietmar KamperlChristoph Wulf (Hrsg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. (Historische Anthropologie, Bd.6.) Berlin 1989; Volker Kapp (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. (Ars Rhetorica, Bd. 1.) Marburg 1990; Rudolf Behrens/Roland Galle (Hrsg.), Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. JahrhuIi:: dert. Würzburg 1993; Claudia MontilWalter BuschJElmar Locher/Isolde Schiffermüller (Hrsg.), Körpersprache und Sprachkörper. Semiotische Interferenzen in der deutschen Literatur. (essay & poesie, Bd. 3.) Boden/Innsbruck/WienI996; Dmitri Zachar'in, Symbolische Körperhaltungen. Eine Differenz zwischen russischen und westeuropäischen Zeremonial-"Grammatiken" des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Margreth Egidi/Oliver SchneiderlMatthias Schöning/Irene Schütze/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000, 87-102; Angelika Corbineau-Hoffmannl Pascal Nicklas (Hrsg.), Körper/Sprache. Ausdrucksformen der Leiblichkeit in Kunst und Wissenschaft. (Literaturwissenschaft im interdisziplinären Dialog, Bd. 1.) Hildesheim/ Zürich/New York 2002. Den Forschungen zum frühneuzeitlichen Ehrbegriff verdankt die
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Mark Hengerer
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"nnen zu den Formen und Funktionen schriftlicher Kommunikation zen ko b .. k und dabei den jeweiligen Bezug zu räumlicher und sozialer Ordnung e:uc sichtigen müssen. Vor diesem Hintergrund möchte ich die These formuhe~en, daß die Formen der zugelassenen Kommunikation unter Anwesenden mc~t zuletzt vom Grad der Möglichkeit abhängig waren, Interaktion und EntscheIdung zu entkoppeln. Diese vor allem auf S~hrif~lichkeit aufruhende Entkop~ lung ermöglichte und erforderte die Mo~IfikatIO~ d.es Spektru~s an b.ereIts ausdifferenzierten KommunikationssituatIOnen mIt emem sehr dIfferenzIerten . Zugriff auf Körperlichkeit als Medium von Ko~~mikation:. Um Problemstellung und These näher zu begrunden, mochte Ich (1.). vor dem Hintergrund kommunikations- und medientheoretischer Persp~kt1ven einen Analyserahmen für Körper in Kommunikation d~skutieren ~~d 1m Anschluß daran (Il.) am Beispiel des frühneuzeitlichen Kmserhofes eI~Ige exe~ plarische Kommunikationssituatione~ analysie~en und so DynamIk und HIstorizität kommunikativer KonstellatIOnen und Ihrer Elemente vorstellen.
I. Körper und Kommunikation 1. Die Attraktivität des Körpers als Kategorie einer komplexen Umwelt dü.rfte nicht zuletzt daher rühren, daß Körper ungeachtet der Diskussion übe.r Ihre Diskursivität überhaupt einen klaren Anhaltspunkt für Zurech~nbar~:It ~nd besonders für das Verstehen von Vergangenheit zu bieten schemen. DIese Forschung den geschärften Blick für die un~ttelbare ~elevanz von Elementen d~r Interaktion und damit die Offenlegung eines wichtIgen Verbllldung~ele~.ents der ~erschledenell Disziplinen und Gegenstände: die Form ihrer Fortsetzung .. DIes d.u~te darmt zusarmnenhängen daß in Interaktion Anschlußkommunikationen WIe BeleId~~ungen ~nd Gewalttaten a~ch in ihren festen Formen wie Injurienprozeß und Duell uberdeuthch m~chen, daß sich in Interaktion soziale Reproduktion unter der Voraussc:~zung von KontIn%enz vollzieht. V gL Klaus Schrein,erIGerd Schwerhoff, Verletzte Ehr~. U~erlegungen zu elllem Forschungskonzept, in: dies. (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte III ~~sel1sc~aften ~es Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 5.) KolnlWeImar/WIen 1995, 1-28. ., d S . 1'1"t d 15 Cornelia Bohn, Schriftlichkeit und Gesellsch~ft. Kommumkatlon un OZIa I a er 't Wiesbaden 1999' in historischer PerspektIVe vgL besonders Horst Wenzel (Hrsg.), N Geuze·~·h _ Boten _ B'riefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mit~elalt~r. (p~8~~~gfsche Studien und Quellen, Bd. 143.) Berlin ~99~; Werner Röcke, MündhchkeI1, Schriftlichkeit, WeltbildwandeL Literarische KommumkatIo~ und Deutu~gssche~ata v?n Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der fruhen NeuzeIt. (ScnptOralia, Bd. 71.) Tübingen 1996. . ..' d 16 Zur Diskursivität vgl. Judith Butler, Körper von GeWIcht. DIe dIsku~sIVen Gr~n~~n es Geschlechts. Frankfurt am Main 1997. Der Soziologe Bette stellt dIe AttraktIVItat des Referenzpunktes Körper für Erfahrungs- und Erklärungsansätze UI~.t~r Bezug auf Sport nachdrücklich in Frage. "Sport", so Bette, ,,~fferiert Unterkomple~Itat und Kausa~erfah rung. Er bietet eine wichtige Ressource, nämlIch Menschen aus. FleIsch und Blut, dIe ['.: '.] als Garanten von Authentizität, als Instanzen des Echten, erschelllen. [... ] Der Sportlerkol-
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Erwartung wurde auch von Historikern an den Körper gerichtet, jedoch, wie Barbara Duden konzedierte, enttäuscht. 17 Wenn historische Körper dennoch nicht allein als Gegenstand, sondern kategorial als Medium bedacht werden sollen, scheint es geboten, die Frage nach dem Medienbegriff zu stellen. Die Wahrnehmung von Phänomenen, die nicht mit dem Körper des Wahrnehmenden in Kontakt stehen, können nur dann mit einem Medienbegriff ohne Zirkelschluß verstanden werden, wenn man den Begriff des Mediums mit dem der Form verbindet. 18 Das Medium besteht dann aus Elementen, deren lose Bindung die Bildung von Formen ermöglicht, welche die Elemente des Mediums zwar nicht verändern, aber deren Verbindung spezifisch ausformen. Diese Formen können wahrgenommen werden. Das Beispiel von Licht und Farbe - Farbe und Bild macht deutlich, daß es von einer erst zu bestimmenden Perspektive abhängt, was als Medium und was als Form wahrgenommen wird. Überträgt man dies auf den Körper, wird deutlich, daß er nicht allein als Medium, sondern auch als Form wahrgenommen werden kann (wie etwa Ballett und bildende Kunst zeigen 19), und daß seine Bestimmung als Medium nicht unbedingt determiniert, welche Form als relevant betrachtet werden soll: sein Verhalten, sein Raumbezug, seine Kleidung2o . Körper ist nicht einfach als Medium gegeben, er wird dazu durch soziale und somit historisch vermittelte Zuschreibung von Sinn, welche eine spezifische Beziehung zu einer spezifischen Form herstellt. Körper als Referenz einer ahistorischen Authentizität scheidet damit aus, ja selbst seine Einheit erweist sich als Zuschreibung von Sinn. 21 per kann auf der Grundlage einer ,organischen Empathie' ohne größere Eigenanstrengungen wahrgenommen und ,verstanden' werden." Karl-Heinrich Bette, Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main 1999, 126. 17 Barbara Duden, Das "System" unter der Haut. Anmerkungen zum körpergeschichtlichen Bruch der 1990er Jahre, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8, 1997,260-273. 18 VgL dazu unter Anlehnung an Fritz Heider Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, 195 f. 19 VgL nur Gerhard Johann Lischka (Hrsg.), Kunstkörper, Werbekörper. Köln 2000, und Dorion Weickmann, Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870). Frankfurt am MainlNew York 2002. 20 VgL Thomas Küpper, Der beobachtete Körper. Systemtheorie und Gender Studies, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora (Hrsg.), Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter. Marburg 2002, 34-41: Küpper bringt das von mir geteilte Ergebnis seiner Analyse auf das Problem der Polykontexturalität des Körpers. Zur Kleidung in historischer Perspektive: Martin Dinges, Von der "Lesbarkeit der Welt" zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44,1993,90-112; aus systemtheoretischer Perspektive: Cornelia Bohn, Kleidung als Kommunikationsmedium, in: Soziale Systeme 6, 2000,111-135. 21 VgL dazu nur den Begriff der Aura oder den des Leibes: RudolJzur Lippe (Hrsg.), Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Hamburg 1988.
Zur Konstellation der Körper höfischer Kommunikation
Die Unterscheidung zwischen Medium und Form hat eine weitere Implikation, welche in einem engeren Sinn für die Frage nach Körper und Kommunikation bedeutsam ist. Wenn Kommunikation nicht als einfache "Übertragung" von Information konzipiert werden kanIl~2, ist Kommunikation (Form) von ihrem physischen Substrat (Medium) zu unterscheiden. Darauf hat nachdrücklich Heinz von Foerster hingewiesen, der für das physische Substrat von Kommunikation den Begriff der Kommunikabilie einführt. 23 Aus der Perspektive von Kommunikation weitet sich damit die Zahl der möglichen Typen von Medien in Prozessen der Generierung von Sinn ganz erheblich aus. Damit wird deutlich, daß die Betonung von menschlichen Körpern bereits auf einer voraussetzungsvollen sozialen Aggregation beruht, von deren privilegierter Positionierung zweifelhaft ist, ob sie analytisch ertragreicher ist als die Wahl anderer Optionen, welche die Äquivalenz derjenigen Elemente hervorheben, welche Körperlichkeit überhaupt erst konstituieren. 24 Jedenfalls wird deutlich, daß die Privilegierung des Blicks auf den belebten Menschenkörper als Medium von Kommunikation von einer Theorie der Kommunikation nicht ohne weiteres unterstützt wird. Dies legt die Ergänzung der Analyse der kommunikativen Relevanz des menschlichen Körpers um eine Analyse der kommunikativen Relevanz nichtmenschlicher Körper und damit zugleich einen Vergleich nahe. So ließe sich, um in Anlehnung an Koschorke zu sprechen25 , beispielsweise zwischen Menschen-Körperströmen und Papier-Körperströmen unterscheiden und deren kommunikative Relevanz mit derjenigen von Körpern höherer Immobilität vergleichen: der von Mauem oder von Treppen etwa. 2. Als Ausgangspunkt kommt hierfür das Verhältnis von Interaktion und technisch-medialer Kommunikation in Betracht. Interaktion meint die Kommunikation unter mindestens zwei anwesenden Personen. 26 Von Kommuni-
Zu dieser Tripelselektion vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß eine~ allgemeinen Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1994, 194f.; vgl. dazu aus der Perspektive des Theorievergleichs Norbert Meuter, Die körperliche und soziale Infrastruktur des Handeins, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48,2000,579-593. 23 Heinz von Foerster, Observing Systems. With an Introduction by Francisco J. Varela. 2. Aufl. Seaside, Cal. 1984, 262: "A formalism necessary and sufficient for a theory of communication must not contain primary symbols representing communicabilia (e.g. symbols, words, messages, etc.). Outragous as this proposition may look at first glance, on second thought however it may appear obvious that a theory of communication is guilty of circular definitions if it assumes communicabilia in order to prove communication." 24 V gl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit ein .. Beitrag v. HansGeorg Gadamer. Frankfurt am Main 2000; Klaus Kuhm, Raum als Medmm gesellschaftlicher Kommunikation, in: Soziale Systeme 6,2000,321-348. 25 Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 26 Präziser: Ein soziales System, das aus Kommunikationen unter gleichzeitig ~nwesen den besteht. Vgl. ausführlich Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9). Einen Uberblick 22
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kation kann dabei gesprochen werden, wenn eine Person aus dem Verhalten einer anderen Person eine Information generiert und diese Information der ersten Person als beabsichtigter Inhalt der Mitteilung zuschreiben kann. Zwar können auch bloße Wahrnehmungen über etwas informieren, doch erlaubt bloße Wahrnehmung noch keine Zuschreibung auf eine Mitteilungsabsicht. 27 Ist eine solche Situation wechselseitiger Wahrnehmung gegeben, ist die Beobachtung unausweichlich, daß das Verhalten bei der Personen von der jeweils anderen als Mitteilungsverhalten und damit als kommunikatives Verhalten betrachtet und zugerechnet werden kann.28 In Interaktion wird so die wahrnehmungsbasierte "präkommunikative mit kommunikativer Sozialität kombiniert". 29 Die Betonung beider Ebenen ist für den Verlauf von Interaktion aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen, weil "zahllose Komponenten, die in der Interaktion selbst zur Definition ihrer Situation beitragen, [... ] bereits auf der Ebene des reflexiven Wahrnehmens bereitgestellt" werden und daher kaum bestreitbar sind.3o Dazu gehört in der Regel die räumliche Lokalisierung des Körpers 31 , die Verortung im entsprechenden symbolisch aufgeladenen Raum32 sowie unter Umständen eine Zuordnung von Verhalten zum funktionalen Kontext spezifizierter 33 Räume . Zum anderen wird in Interaktion mehr als das eindeutige Mitteilungsverhalten wahrgenommen. 34 Insbesondere läßt sich die Differenz zwischen verbalen und nonverbalen Äußerungen beobachten35 , was sich für die bietet Hellmut Ge ißner, Kommunikationstheorie, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen 1998, 1187-1209. 27 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 118. 2~ D~e .öste~eichi~che Redensart, wonach man einen Anwesenden ,nicht einmal ignonere , Illustnert dIeses Problem wunderbar. Der SituationsbeoTiff bietet freilich weiteres P?ten~ial: vgl. J~n Barwise/John Perry, Situationen und Ein~tellungen. Grundlagen der SItuatIOns semantIk. Berlin/New York 1987. 29 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 119. 30 Ebd. 125. 31 Ebd. 125:. "Auch die räumliche Lokalisierung des Körpers rechnet zu den Aspekten, die d~rch ~e~exives Wahrnehmen mit der Gewalt einer sozialen Tatsache ausgerüstet werden. Em Ml~lmum an Identifikation mit der Situation, dem Anlaß, der Szenerie und gegebenenfalls mIt dem System der Interaktion selbst ist schon nicht mehr zu vermeiden wenn man überhaupt physisch präsent ist und sozial als anwesend in Anspruch genom~en wird." (Hervorhebung im Original). 3~ Ebd. 126. Vgl. zur historischen Dimension Gotthardt Frühsorge, Der Hof, der Raum, dIe Bewegung. Gedanken zur Neubewertung des europäischen Hofzeremoniells, in: Euphorion 82, 1988,424-265, und ders., Vom Hof des Kaisers zum ,Kaiserhof'. Über das Ende des Ceremoniells als gesellschaftliches Ordnungsmuster, in: Euphorion 78 1984 237-265. ' , 33 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 125-127. 34 Ebd. 135. 35 Ebd. ~40: "Selbstverständlich vermittelt die Wahrnehmung der Körper stets mehr an InformatIon, als für Kommunikation ausgewählt und mitgeteilt worden ist. Anders als die Sprachlaute oder Gesten, die sie von sich geben, sind die Körper der Anwesenden nicht auf Kommunikation spezialisierbar. Sie haben, während sie sprechen oder zuhören und da-
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Selbstdarstellung der an Interaktion Beteiligten "auf jeder nur denkbaren Stufe des Raffinements" als eine zentrale Herausforderung erweist36 . Auf die Unwägbarkeiten, die daraus für den Verlauf von Interaktion entstehen, reagieren unter anderem die Ausdifferenzierung von, Sprecher- und Zuhörerrollen. Diese sicherten Aufmerksamkeitszentren (und sei es nur durch die Nichtdarstellung von Desinteresse) und eine thematische Strukturierung von verbaler Kommunikation. 37 Sie sensibilisierte gerade deshalb für neben der wörtlichen Rede ausgedrückte Referenzen auf andere, zusätzliche Situationsdeutungen der Kniefall etwa mahnte den gerechten Herrscher an seine Milde. 38 Die andere Seite der Demuts- und Verzweiflungsgeste ist freilich das Entgleisen der Interaktion in Richtung offenen ehrverletzenden Streits und nicht zuletzt der Gewaltanwendung. 39 Die zeitgenössische Literatur über den Hof wies nachdurch zur Kommunikation beitragen, immer auch noch anderes zu tun. Sie atmen. Sie husten. Sie wissen nicht wohin mit ihren Augen, ihren Händen, ihrem Juckreiz. Alles Reden und alles Schweigen macht solche Informationen zugänglich, und psychisch gesehen ist es völlig normal, daß man auch diese nichtmitgeteilten Informationen zur Überprüfung dessen verwendet, was mitgeteilt wurde." V gl. die Systematisierung dieser somatischen und weiterer Ansatzpunkte für eine sprachliche Codierung bei Hartwig Kalverkämer, Körpersprache, in: Ueding (Hrsg.), Wörterbuch (wie Anm. 26), Bd. 4, 1339-1371. 36 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 141: "In diesem Sinne gehören Simulation von Spontaneität und Dissimulation von Kontrolliertheit zu den unentbehrlichen Requisiten der Selbstdarstellung. Daß so etwas nicht glatt funktionieren kann, ist bei der Komplexität der Problemstellung, um die es geht und die sich auf jeder nur denkbaren Stufe des Raffinements wiederholt, leicht zu erkennen. In jeder Interaktion gibt es nichtmitgeteilte Infonnation, die im Verhältnis zur Kommunikation inkonsistent ist." 37 Ebd. 136. 38 V gl. zum Herrscherbild der Habsburger Franz Bosbach, Princeps in Compendio, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert. (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, Bd. 19.) Münster 1991, 79-114, und Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. 2. Aufl. Wien 1982. 39 Kieserling, Kommunikation (wie Anm. 9), 73: "Man kann dies noch weiter fassen und auf die Differenzen zwischen Wahrnehmung und dem, was in Kommunikation relevant sein darf, hinweisen, auf die Differenz des Geschlechts, der Körpergröße, der körperlichen Stärke." Ebd. 74 f.: "Die Zumutung, solche wahrnehmbaren Differenzen überall dort zu ignorieren, wo sie nicht zugleich auch als symbiotischer Mechanismus der Kommunikation fungieren können, stammt nicht aus der Interaktion selbst, sondern aus der Gesellschaft. Die Differenzierung der Kommunikationsmedien für Macht und für Liebe setzt eine entsprechende Differenzierung auch der symbiotischen Mechanismen voraus. Macht ist dann mit physischer Gewalt so verbunden wie Liebe mit Sexualität. Außerhalb dieser Verbindungen muß der Bezug auf die entsprechenden Körpervollzüge zurücktreten. Aber gerade diese gesellschaftliche Vorgabe ermöglicht eine stärkere Ausdifferenzierung der Interaktion, nämlich eine höhere Selektivität ihrer kommunikativen Prozesse gegenüber dem Wahrnehmungsbereich. Die gesellschaftlich geforderte Indifferenz gegenüber dem Offensichtlichen kann in der Interaktion, da sie auf Wahrnehmungs leistungen aufruht, nicht einfach unterstellt werden. Sie muß vielmehr durch systemeigene Prozesse und durch systemeigene Grenzen hergestellt und verteidigt werden. Daher macht eine Gesellschaft, die ihre Anforderungen an den Körpergebrauch der Menschen differenzieren und spezifizieren will, sich selbst davon abhängig, daß es Interaktionssystemen gelingt, das dafür erforderliche Unterscheidungsvermögen gegen den diffusen Eindruck der Wahrnehmung
drücklich darauf hin, daß die Zuspitzung von Handlungsoptionen auf entscheidbare Alternativen, auf die Differenz von Ja/Nein, in Interaktion äußerst problematisch war: Allein die Ablehnung von Sinnzumutungen in Interaktion wies wegen der Gefährdung der mitlaufenden Ehransprüche eine große Nähe zur "offensio" auf, welche bei den Seiten als verhängnisvoll erscheinen mußte und deshalb zu vermeiden war. 40 Daß der Körper der in Interaktion beteiligten Personen Potential für rasche Anschlußkommunikation bietet, macht ihn zu einem wirksamen Helfer bei der Verfolgung von Anliegen - lassen sich doch nicht zuletzt in affektgeleitetem (oder entsprechend simuliertem) Verhalten auch nonverbal Droh- und Mitleidspotentiale sichtbar machen. 41 Man wird den Körper in Interaktion von daher als mögliches Erfolgsmedium bezeichnen können. Ist aber auf die Rechts- oder Finanzlage Rücksicht zu nehmen und ein Nachgeben von daher inopportun, ist die Gefahr der Konfrontation gegeben - was die Ausgrenzung des bedrohlichen Körpers nahelegt: Aus der steten Mahnung der Höflingsliteratur, anderen kein "Entweder/Oder" aufzudrängen, kann man dann folgern: "Die Interaktion ist nicht darauf abgestellt, durch binäre Schematisierung zu Ergebnissen zu führen. (Das bleibt den Funktionsbereichen vorbehalten.)"42 Für die Fortsetzung der Interaktion bedeutet dies, daß über Themenwechsel und die Fortsetzung des Kontaktes bis zum unverfänglichen Ende der Interaktion43 derartige Situationen entschärft werden können und müssen. Eine solche Entschärfung der Verbindung von Verhaltens zumutung und diesbezüglicher Reaktion fällt leichter, wenn Verhaltens zumutung und Reakz~ etablieren." V gl. dazu Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., SoziologIsche Au~lärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 2. Aufl. Opladen 1991, 228-244, hier 2~O: "Der .Bez.ug z.ur orga~ischen Sphäre bleibt in allen Interaktionssystemen erh~Iten, WIrd aber In SItuatIOnen, dIe durch Kommunikationsmedien geregelt werden, zu eIner bloßen Möglichkeit generalisiert und dann respezzjiziert." 40 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modemen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main 1993, 137: Die Fortsetzung des Kontaktes "verträgt kein hartes Nein, jedenfalls nicht die Kommunikation eines Nein die in der Interaktion zum Gesichtsverlust oder zum Konflikt führt". Dementsprechend mÜßten auch ",Jorced choice' Situationen" vermieden werden. Zur "offensio", vor deren Verursachung SIch auch der Fürst hüten solle, vgl. Mark Hengerer, Macht durch Gunst? Zur Relevanz -yon Zuschreibunger: am früh~euze,it1~chen ~of, in: Vaclav Buzek/Pavel Kral (Eds.),. ~lech!a v hv~bs?urske monarchll a cIsarsky dvur (1526-1740). (Opera Historia, Vol. 10.) Ceske BudeJovIce 2003,67-100, hier 91. 41.Ein Beispiel bietet die Situation, in der der spätere Kaiser Leopold I. in Gegenwart seI~es Vaters und mehrerer Geistlicher in einem Wortspiel über zwei Geistliche witzelte: KaIser Ferd.inand !II .. gab seinem Sohn durch eine Gebärde seine Mißbilligung zu verstehen, bot Ihm mIt eIner verbal formulierten Frage indes eine gesichtswahrende Chance zu: Entspannung der Situation, welcge der junge Erzherzog auch nutzte (StMni oblastni arChIV Zamrsk, RA Piccolomini, Inv. C. 1271820/1, 155-158, Constantin Sattler an Ottavio Piccolomini, Wien, 29. 7. 1654). 42 Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm. 40), 137. 43 Ebd. 136 f.
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tion zeitlich entkoppelt werden und sich damit letztere aus der Interaktion h~r aus verlagern läßt. In der Interaktion, in welcher die Ver~altense~wartung mItgeteilt wird, lassen sich dann personenbezogene u~d mteraktIO~sbezogene Faktoren (wie Tränen) würdigen44 , welche später bel der Bescheldung u~ter, Umständen nicht einmal mehr in der Erinnerüng präsent sind. In InteraktIOn kann man trösten, wenn man vertrösten kann. Die einheitliche Reaktion, deren Konsistenz und Kompaktheit in der Interaktion als Konsistenz der Person . . auf dem Spiel steht, wird so differenzierbarer. Diese Differenzierungsleistung wird von schriftlicher KornrnumkatIOn besonders deshalb unterstützt, weil sie in der Regel mit der Entkoppelung von Kommunikation und Anschlußkommunikation einhergeht. 4s Zudem werden die Wahrnehmungskontexte der an der Kommunikation beteiligten Personen entkoppelt - die Ordnung und symbolische Aufladung ~er ~~ume ~es L~sers steht dem Autor nicht zwangsläufig vor Augen, und die Tranen, dIe bel der Übergabe einer Bittschrift fallen, müssen die Tinte treffen, wenn .sie auch noch den Beamten motivieren sollen, dem man sie später zur BearbeItung zustellt. Weiter ermöglicht schriftliche Kommunikation eine höhere Toleranz für Dissens.46 Die Ablehnung schriftlich formulierter Sinnzumutungen fällt leichter als in Interaktion und gerade deshalb läßt sich eine "Allianz" von sozialer Differenzierung und Schriftlichkeit konstatieren, welche sich nicht zuletzt als Affinität von Schriftlichkeit und binär codierter Entscheidungskommunikation respezifiziert. 47 3. Die Differenzierbarkeit der Interaktion wird daher durch die Verfügbarkeit von Schrift erhöht. Wechselt das Papier, das die Sachdimension verkörpert, den Besitzer, endet mit der Interaktion nicht auch di? Beh~ndl~ng der Sachfrage, was den Abbruch erheblich erleichtert. Aus eI?er SItuatIOn des Vorbringens und Entscheidens läßt sich die Situation einer Ubergabe forme.n, die einen die Interaktion störenden, unterbrechenden und be endenden Zeltverbrauch schon deshalb ermöglicht, weil man sich erst einmal auf das Lesen Ebd. 138. Der binäre Code von Ja und Nein bezieht sich danac~ besonders auf die binären Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, ~o etwa Recht ~nd Geld; in der Interaktion setzt man sich dagegen gern davon ab:. ".[~]~.e werden zugleIch durch Darstellung reflektierter Rücksicht und wohlwollender Senslb~lItat auf de.r Ebene der Interaktion kompensiert. Eine für hochdifferenzierte Systeme uner~aßbche St~lgerung d~s Neinsagenkönnens wird so durch eine gegenstrukturelle InteraktlOnssemantlk ausgeglIchen." 45 Vgl. Bohn, Schriftlichkeit (wie Anm. 15),59-77. ..... . 46 Zu der gegenüber Interaktion erhöhten Toleranz der SchnftlIchkeIt fur Dissens vgl. ebd. 89-100. 47 Zur Entkoppelung vom gemeinsamen Wahrne~mungskontext vgl. ebd. 59-77, zur "AIlianz" von Schriftlichkeit und sozialer DifferenzIerung ebd. 173-221. Zum ~us~en hang von Entscheidung, Schrift und Organisation vgl. Niklas Luhman~, O~gal11SatlOn und Entscheidung. OpladenlWiesbaden 2000, 159f., 214f., sowie Cornelw Vlsmann, Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main 2001.
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verlegen kann. Sind zudem räumlich vom Ort der Interaktion separierte Institutionen vorhanden, die auf schriftliche Bearbeitung von Anliegen spezialisiert sind, und wird zudem die Entscheidung in Form eines Schriftstücks erwartet, ist von vornherein nicht mehr zu erwarten als eine Zusage, alles zu einem guten Ende bringen zu wollen. Für das Produzieren und Kommunizieren von Entscheidungen eröffnet die Auslagerung von Entscheidungen aus der Interaktion die Möglichkeit, mehr Zeit zu verbrauchen, die Gegenstände fallenzulassen, sie in Form von Ritualen abzuarbeiten oder sie in Verfahren einzuspeisen. 48 Die Zeit, welche Interaktion und Entscheidung voneinander trennt und das Problem für denjenigen, der mit einer Verhaltens zumutung konfrontiert wird, löst, gibt freilich der anderen Seite Zeit, nach Möglichkeiten zu suchen, noch mehr zu tun: Über wiederholte oder andere Interaktionen auf die Entscheidung (1) doch noch einzuwirken, also mit Höflingen und Beamten zu reden, sie zu beschenken, ihnen Unterlagen abzuluchsen oder die Berücksichtigung neuer Faktoren nahezubringen. Diese wenigen Andeutungen zeigen, daß Körperlichkeit für Kommunikation Relevanz auf sehr verschiedenen Ebenen hat. Eine dieser Ebenen ist Kommunikation unter Anwesenden; diese wird zwar regelmäßig als Ausgangspunkt des Sozialen beschrieben49 , kommt aber wegen ihrer Störanfälligkeit als Kernsituation sozialer Reproduktion in dem Maße weniger in Betracht, in welchem sich die Möglichkeit bietet, nicht interaktionsbasierte Kommunikationsformen zu nutzen. Damit erweist sich die jeweilige historische Konstellation der Inanspruchnahme der Steuerungsfunktion von Phänomenen von Körperlichkeit einschließlich der Räumlichkeit und Materialität sozial relevanter Kommunikabilien als abhängig vom Stand der Entwicklung und Nutzung der einzelnen Elemente - wobei die Aufnahme von Neuerungen und die Orientierung an traditionellen Formen für ein zusätzliches Maß an Komplexität im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sorgen.
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Vgl. dazu Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), VOlllioderne politische Verfahren. (ZHF, Beih. 25.) Berlin 2001; zum Ritual vgl. Andrea Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien. Opladen/Wiesbaden 1998. Zum Beratungs- und Entscheidungsverfahren am Kaiserhof des 17. Jahrhunderts vgl. Stefan Sienell, Die Geheime Konferenz unter Kaiser Leopold 1. Personelle Strukturen und Methoden zur.. politischen Entscheidungsfindung am Wiener Hof. (Beiträge zur neueren Geschichte Osterreichs, Bd. 17.) Frankfurt am MainlBerlin/BernIBfÜssel/New York/Oxford/Wien 2001, und Hengerer, Kaiserhof (wie Anm.12),B.II.l.c. 49 Bohn, Schriftlichkeit (wie Anm. 15), 77. 48
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H. Konstellationen differenzierten Körpergebrauchs in Kommunikation Im folgenden möchte ich einige der für den frühneuzeitlichen Kaiserhof zentralen Kommunikationssituationen skizzieren, die von einem sehr unterschiedlichen Zugriff auf Körper als Medium der Kommunikation geprägt waren - hinsichtlich der räumlichen Situierung, hinsichtlich der Differenz zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation, hinsichtlich der Wahl sonstiger Kommunikabilien. Den Anfang macht das kaiserliche Lever als eine Situation, in der die Person des selbst schutzlosen und teils entblößten Kaisers gegen die Nutzung von potentiell möglicher Nähe und Intimität geschützt wird. Es folgt die kaiserliche Audienz als eine Situation, in welcher Raumordnung und Körpersprache bei gesicherter Situationshoheit des Kaisers zwar Themenoffenheit gewährleisten, welche aber zunehmend zu einer Situation der Übergabe von Schriftstücken umfunktioniert wurde. Dies wiederum ermöglichte die Engführung von Entscheidungs situationen, deren Spezifizierung als schriftliche Bescheidung von Vorlagen bzw. als Entscheidung im Rat weitgehend auf einem schriftbasierten Verwaltungsverfahren beruhte. Nach einem (viel zu kurzen) Blick auf die komplexere Ordnung der Schriftstücke soll schließlich auf deren Versuch hingewiesen werden, die Situation der Interaktion noch einmal einzuholen. 1. Beginnen möchte ich mit dem Lever des Kaisers. 5o Henriette Graf interpretierte es am Beispiel Kaiser Karls VI.51 unter dem Hinweis auf fehlendes Dessen vergleichsweise geringe Beachtung verwundert angesichts des Umstands, daß die neuere Hofforschung von Norbert Elias' umstrittener Analyse des Lever des französischen Königs ausging; vgl. Elias, Gesellschaft (wie Anm. 13), 126-129. 51 Unter Bezug auf Stieve; vgl. dessen Darstellung: ,,3. Die Kayserl. Levee geschiehet mit folgender Ordnung und Ceremonien: Der Ober Cammer=Herr kommt zu der ihm von' Kayserl. Majestät abends vorhero, gegebenen Stunde, klopffet modest an die Thüre des Kayserlichen Schf=Gemachs, und continuiret solches von Virtel=Stunde zu Virtel=Stunde, welche er aus der bey sich tragenden Taschen=Uhr bemercket; biß eine Cammer=Frau die Thüre öffnet, nachdem Ihro Majestät die Kayserin, schon vorher aufgestanden, und sich in Dero Zimmer begeben. Der Herr Ober=Cämmerer reichet Kayserl. Majestät ein reines Hembde, welches der Kayser, wenn Er noch im Bette, anziehet, und nimmt darauf einen kurtzen Abtritt für das Zimmer. Darauf bethen Ihro Majestät für dem in dem Schlaf=Gemach befindlichen Altar im Schlaf=Rocke; gehen alsdenn heraus in die erste Retirade, in welcher Sie, von denen darzu bestellten Personen, vollends angekleidet werden. Der Cammer=Diener hält alle Tage 6. biß 7. Kleider parat, und erwartet, welches Kayserl. Majestät herzureichen befehlen werden. Wenn sich nun der Kayser in einen Fauteuil gesetzet, so nimmt Ihnen der Ober=Cämmerer die Nachtmütze ab, und leget Ihnen einen Haar=Mantel um die Schultern, da denn der Barbier parat stehet, den Kayser zu rasiren, oder auch nur bloß zu kämmen. Wenn dieses verrichtet, reichet der Cammer=Diener dem Kammer=Herrn die Kleidung von Stück zu Stück, auf einem silbernen Lavoir, und gedachter Cammer=Herr kleidet den Kayser gäntzlich an; bey welchem Actu die Kayserl. Majestät selbst keine Hand anleget, ausser daß Sie sich die Bein=Kleider selbst zuknöpffen, alsdenn besprechen sich Ihre Majestät bißweilen mit dem Leib=Medico, und gehen so
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Publikum und auf den "Privatraum", in dem es vorgenommen worden sei als "gänzl~ch. private Angelegenheit"52. Christina Hofmann hingegen stellt~ es am BeIspiel der Genese des Hofzeremoniells des späteren Kaisers Karl V. 53 dann in die zweyt~ RetiI:ade ~eraus, in welcher Sie die Minister und Cavaliere aufwartende finden. Ist der Kaiser em Wlttwer, oder schläffet Ihro Majestät die Kayserin etwan aus besonderen Ursachen, nicht bey Dero Majestätischen Herrn Gemahl, so ist der Ober=Camme:er=Herr ge?al~en, bey solchen Umständen auf einem besondern Bette in dem KayserlIch.en D~rrmtono zu schlaffe~. Die Cammer=Diener, und sonderlich diejenigen an :velchen die ReIhe der Aufwartung 1st, schlaffen für des Kaysers Gemach und ist über Ihrer Bett=Stäte ein Glöcklein, welches der Kayser in dem Bette liegende 'anziehen und lauten . k~nn, welches so offt es geschiehet, die Cammer=Diener Erlaubniß haben, auch sogar ~.~ Ihrem Schlaf=Rock~ für Kayserlicher Majestät zu erscheinen." Gottfried Stieve, Europais~hes. Hof=Zeremomel [... ]. 2. Aufl. Leipzig 1723, 265-267; zu Stieve vgl. Vec, Zeremomalwlssenschaft (wie Anm. 6),43-63. V gl. zudem Johann Basilius Küchelhecker Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserlich. Hoff [... ]. Hannover 1730,358 f.: "Da~ Lever ~es Kays.ers betreffende, so verhält es sich damit folgender massen: Nachdem Kayserhche MaJ~stät sich aus dem Bette erhoben, so begeben sich Dieselben aus dem Schlaff=Gemach m das nechste Zimmer, im Schlaff=Rock. Allhier nun lassen sich Dieselben von denen Cam:ner=Dienern und Cammer=Herren, so im Dienst sind, oder die Aufwartung haben,.. ankleIde.n. Je~e verrichten die geringem Dienste mit Anziehung derer S~.huhe und Strumpfe; ~lese h~ngegen leisten ihre Dienste, wenn Se. Kayserlichen Majestat das Hembde und dIe Kleld~r anlegen, und die Peruque auffsetzen. Hierbey ist zu mercken, daß zu. solchen Le~er memand k?mmen kan, als diejenigen, so die Aufwartung ~aben, welches m Franckrelch, vornehmlIch, was das petit Lever anlanget, fast einem Jedweden frey stehet. Wen? nun Kayserliche Majestät völlig angekleidet, und in ihrem ~em~ch dero Andacht vemchtet, so hören sie in der Capelle, so in der Kayserlichen Burg 1st, dIe Messe." 52 Henri.et!e Graf, Das kaiser!iche Zeremoniell und das R~präsentationsappartement im LeopoldIlllschen Trakt der Wlener Hofburg um 1740, in: Osterreichische Zeitschrift für Kuns~ un? Denkmalpflege. Wiener Hofburg. Neue Forschungen 51, 1997,571-587, hier 5.16; ah~lIch: ~eroenp~indam, The Co~rt of the Austrian Habsburgs: Locus of a ComposIte Hentage, m: MItteIlungen der ReSIdenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen 8, 1998,24-58, hier 38f. 53 Hofmann, .H0fze~emonieU (wie Anm. 3), 66f.: "Wenn sich Herzog Karl morgens erhob, d~rf~en nur die BedIensteten der Camera anwesend sein. Sie mußten vor der Türe warten, bIS SIe gerufen wurden. Wurde das Bett des Herzogs gerichtet, hatte der Premier Sommeiller d~ Corps mit einer. Kerze in der H~nd dabei. zu leuchten. War der Sommeiller de Corps verhmdert, konnten dIe Chambell~ns I~n d~bel vert:eten. Beim Coucher (Schlafengehen) oder Lever (Aufstehen) durften keme medngen BedIensteten wie Barbiere, Schneider u. a. ohne .beson~eren Befehl anwesend. sein. B.efan~ sich vor dem Schlafgemach des Herzogs nur eI~ VorzlI~mer, warteten dort dIe PenSlOnnaireS, die Chambellans, die Maltres d'Hötel, und dIe. Gen~Ilho~es, bis sie .eintreten durften. Gab es dagegen zwei Vorzimmer, so' hatten SIch die GentIlshommes 1m ersten [... ] und die Pensionnaires Chambellans und M.altres d'Hötels im zweiten Vorzimmer aufzuhalten. Dort warteten si'e, bis sie vom Premler.oder Second ChambeUan die Erlaubnis zum Eintritt erhielten. Die Huissiers de SaUe fun.glerten als Türhüter des Schlafgemachs. [... ] Der Guardaropa erkundigte sich beim Kaiser, ,,:elches Gewand d~r anzulegen wünschte und reichte die Kleidungsstücke dann an den Sur~llller ~e Corps eIter. ~us. dessen Händen empfing sie der Camarero Mayor, der dem K~Ise~ beIm AnkleIden behIlflIch war. Befand sich ein Ritter des Ordens vom Goldenen VlIes 1m Raum,. reicht~ ihm dieser anstelle des Camarero Mayor die Ordenskette (Collane) und das VlIes (TOlson) (Tuson). Auch die Gentileshombres scheinen das Recht besessen zu haben, dem Camarero Mayor die Kleidungsstücke zu reichen."
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als Teil eines Programms von Kabinettsregierung, persönlicher Unnahbarkeit und sakral-religiöser Ausrichtung des Hofzeremoniells dar54 . Mit einem grundlegenden Wandel des Ablaufes des Aufstehens und Ankleidens kann der erhebliche Unterschied dieser InterpretationeJ? nicht begründet werden, war das Lever doch ungeachtet der schwierigen Traditionsfrage sehr ähnlich und auch in seinen Formen äußerst langlebig, wie die Berichte für Ferdinand 1. 55 bzw. Don Juan 56 , Kaiser Karl v., Kaiser Ferdinand III.57 und Kaiser Karl VI. zeigen.
Die Interpre~~tion, die ich hier vorschlagen möchte, geht nicht von der Dichotomie von Offentlichem und Privatem aus, sondern von der kommunikati~-komm~nikabilen Konfiguration der Situation, die, so meine Deutung, auf dIe Un~erbmdungjedweder an den Dynasten gerichteten Zumutung spontaner thema~Isch offener Kommunikation mit weiterreichenden Folgen angelegt ist. Daß dIese Form des Lever nicht allein mit dem Umstand zu erklären ist daß es sich hier etwa im Sinne Turners um ein Ritual der allmorgend1iche~ Inthronisation der Majestät handeln mochte, zeigt der Vergleich mit dem schon morgens ungleich gesprächigeren König von Frankreich. 58 Greifen wir einige Elemente des komplexen Ablaufes heraus: Die Zeit des Aufstehens wurde am Vortag vom Fürsten bestimmt; morgens weckte ihn dann .ein Laut in Form eines Klingelns (Ferdinand IH.) oder Klopfens, nicht der emer menschlichen Stimme. Beim Wiederholen blieb es beim technisch erzeugten akustischen Laut; daß es nicht zum Wechsel zur menschlichen Stimme (Karl VI.) kam, stützte die Deutung des Lauts als einer bloßen Erinnerung an die eigene Anordnung, so daß eine Neuinterpretation im Sinne
Ebd. 72f Ebd. 33 f, 66f: Die Form des Lever der österreichischen Linie der Habsburger geht aufgrund der Erziehung des späteren Kaisers Ferdinand I. unt~r der Au~sicht v?n Königin Isabella von Kastilien und Ferdinand V. von Arag6n vermutlIch auf dIe PraxIs der Hofhaltungen von Kastilien und Aragon zurück; das burgun~ische Zeremoniell lernte er ~elbst lediglich zwischen 1518 und 1521 kennen. Das Zeremomell, das Karl V. aus der ModIfikation burgundischer und spanischer Traditionslinien bis 1548 formte, ~annte er danach nicht. Zur Traditionsfrage vgl. zuletzt Christina Hofmann-Randall, DIe Herkunft und Tradierung des Burgundischen Hofzeremoniells, in: BemslRahn (Hrsg.), Ze.r~rr:oniell (wie Anm.3), 150-156; zum Ursprungskontext Burgund vgl. Werner Paravlclru, !he Court ofthe Dukes ofBurgundy: a Model for Europe? in: Ronald G. Asch/AdolfM. BIrke (Eds.), Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modem Age. 1450-1650. London 1991, 69-102. 56 Hofmann, Hofzeremoniell (wie Anm. 3), 35 f (Prinz Don Juan): "An der Tür warteten die Mozos de Otmara mit den Gewändern während der Camarero allein mit dem Hemd des Prinzen eintrat. [ ... ] Der Camarero nahm dem Prinzen die N achtgew änder ab und half ihm, die Strümpfe anzulegen und festzubinden. Inzwischen traten die übrigen Bediensteten der Camara ohne Schuhe und ohne Kopfbedeckung ein: Die Reposteros bewachten die Innentür. Der Mozo de Retrete nahm die Kerze an sich, die während der Nacht im Gemach des Prinzen gebrannt hatte und trug sie zusammen mit dem Nachthemd in das Retrete, wo er , die Kerze löschte. Er brachte auch ein Becken und einen silbernen Wasserkrug, damit sich der Prinz die Hände waschen konnte. Im Winter hatte er ein Kohlenbecken bereitzuhalten, um die Camara etwas zu wärmen. Vor der Tür der Camara warteten der Zapatero (Schuhmacher) und der Barbero (Barbier) darauf, hereingerufen zu werden. Der erste zog dem Prinzen die Schuhe an, während ihn der andere gleichzeitig kämmte. Zu beiden Seiten des Stuhles, in dem der Prinz saß, knieten zwei Mozos de Camara [Kammerdiener], um ihn zu halten, während der Schuhmacher ihm die Sporen anschnallte. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte sonst niemand die Camara betreten. Im Retrete befand sich auch die Leibschüssel des Prinzen, die vom Mozo de Bazin (Leibschüsseldiener) betreut und gereinigt wurde. Nach Beendigung ihrer Verrichtungen verließen Schuhmacher und der Barbier den Raum; der Prinz vollendete seine Toilette. Die Mozos de Camara reichten dem Camarero die einzelnen Kleidungsstücke, nachdem sie diese vorher geprüft hatten, und der Camarero war dem Prinzen beim Anlegen behilflich." Danach kam der Lehrer des Prinzen. 57 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv [im folgenden: AVA] , GD-Nachlässe, B/492/c/6/1: "Servizio imperiale della camera la mattina", Darstellung von Raimondo Montecuccoli in der korrigierten Fassung. Montecuccoli wurde am 22.7. 1645 kaiserlicher Kämmerer: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv [im folgenden: HHStA], OMeA SR 186, fol. 126; zu seiner Laufbahn ygL Sienell, Konfe~~nz (wie Anm. 48),159-162. Eine an einigen Stellen etwas ungenaue Ubersetzung find~t sIch bei Alois Veltze (Bearb.), Ausgewählte Schriften des Raimund Fürsten Montecucco11. General-Lieutenant und Feldmarschall. Hrsg. v. der Direction des k. und k. Kriegs-Archivs. Bd. 4: Miscellen. Correspondenz [... ]. Wien/Leipzig 1900, 17. Eine neue zuverlässigere Übersetzung findet sich in der Biographie von Georg Schreiber, Raimondo Montecuccoli. 54 55
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Feldherr, Schriftsteller und Kavalier. Ein Lebensbild aus dem Barock. GrazlWien/Köln 2000, ~4. "Zu ~er voll! Kaiser festgesetzten Stunde weckt der Erste Kämmerer oder der vom Dle~ste mIttels emes Glockenzeichens den Monarchen. Der tritt im Nachtgewande h~raus. DIe Käm~erer vom Dienste treten ohne Mantel und ohne Degen ein, der Oberstk~mmerer aber lllit Mantel und Degen; mit diesem erscheinen auch der Arzt, der Barbier, dIe. Zwerge, Narren un~ Schalke. Der Erste Kämmerer tritt etwas früher ein und legt dem Kaiser das I:Iemd. an. D.le Kämmerer, mit einem Knie am Boden, der älteste beim rechten F~ße, be~lelden Ihn mIt Hose, Strümpfen und leichten Schuhen. Der älteste Kämmerer reIcht knleen~ das Waschzeug, nachdem er vorher die Wasserprobe vorgenommen hat, und der Oberst~KaIllmerer das Handtuch. Dann gibt dieser, nachdem er gleichfalls die Wasserprobe verrIch.tet hat, das Wasser zum Reinigen der Zähne, ein Kämmerer hält das Becken m das der. Kaiser sich aus.spült. ~ie Kämmerer stellen sich dann seiner Majestät gegenübe; auf, ergreIfen den Fuß, bmden dIe Strumpfbänder und ziehen ihm knieend die Schuhe an wä!rren~ de~ Barbier ihn kämmt. Seine Majestät erhebt sich, ein Kämmerer zieht ihm da~ Bem~leld .hinauf und befestigt es. Er zieht ihm das Nachtgewand aus, der älteste Kämmere~ reIcht IhI? das Wams und beide befestigen es an die Hose; vordem hat ihm der Erste Kammer.er dIe Magenbinde umgelegt und überbringt die gefütterte Jacke. Der Erste Käm~erer reIcht dem Kaiser eine Fleischbrühe, worauf alle verschwinden und die Kämmerer Ihre n,egen und Mäntel wieder umnehmen." Anders als Veltze übersetzt Schreiber richtiger~else Kämme:er statt Kammerdiener (vgl. ebd. 281 Anm. 16), was auch durch die StreIC?~,n.g von ,,11 valetti di ~amera" und die Ersetzung "il Call1erie maggiore, 0 quello di ... guardia 1m ersten Satz sowIe durch andere Stellen bestätigt wird (AVA, GD-Nachlässe . B/492/aJ~/3). An~~rs als S~hreiber bin.~ch der Auffassung, daß "cameliere maggiore" mi~ "Ober~tkam~erer statt mIt "Erster Kalllillerer" zu übersetzen ist; für diese Differenzierung ~l~;et ~Ie ~andschri~t keinen,.An~alt;. richtig ist die Übersetzung von "cameriere piu vecchlO. ~l11t "al.tester Kammerer; dIe Ubersetzung von "matti" mit "Schalke" dürfte e~?hemistIsch sem. Zur Bekleidung vgl. die Arbeit über die im Sarg erhaltenen Kleidungsstucke Rudolfs 11. von Beket Bukovinska, Kleidung Rudolfs H., in: Prag um 1600. Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs 11. Hrsg. v. d. Kulturstiftung Ruhr Essen. Freren 1988 570571 (mit zwei Abbildungen). '
58 V~l. Hofmann, Hofzere.~oniell. (wie !'nm. 3), 73; zu Frankreich Monique Chatenet, La Cour de France au XVIe sIec1e. Vle soclale et architecture. Paris 2002, bes. 112-141.
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einer von einem Höfling an den Kaiser gerichteten Verhaltenserwartung ausgeschlossen wurde. Er mußte also nich~ antwo~~n. . Von Bedeutung war weiter die räumlIche ZuruckgezogenheIt des Bettes unter Nutzung der davorliegenden Räume zur D~fferen~ienmg d~s A~fwartens vor dem teilweise innen wie außen bewachten SchlafzImmer. DIe Prasenz ~on Personen die nicht auf den Morgendienst spezialisierte Inhaber von Hofamtern war;n, ließ sich so ausschließen. Das Lever fand im räuml~ch bewachten und gesicherten Raum des Hofes und im abgeschlossenen SozI~lverband des Hofstaats statt. Der Schutz wurde noch dadurch verstärkt, daß Je nach AI~er und Familienstand des Fürsten Inhaber von Ämtern besonderen .ve~rauens ~m und/oder vor dem Schlafraum des Dynasten nächtigten. Der Emtntt der emzeInen Personen wurde zudem unter Beachtung der überwiegend vorhe~ ~est stehenden Kriterien Amt, Hierarchie, Anciennität und Befehl so formahsIe~~ daß die Vertretung und Substitution von Personen ebenfalls ger~gelt war. Der Fürst wußte so, welche Rolleninhaber bzw. welche Perso~en Ihm.b~~eg nen würden. Er wußte, daß diese den Ablauf kannten und daß Ihre Aktlvltaten innerhalb der Räume vom jeweils ranghöchsten Anwesend~n über~a~ht wurden, wobei diesem der Rückgriff auf physische GewaltmIttel moghch war. Der Fürst mußte so im Zweifel nicht selbst zur Ordnung rufen. . Die Rollen der beteiligten Personen wurden in dem horizontal. vergleIc~s weise nur mehr geringfügig ausdifferenzierbaren Schlafzimmer, m ~~m SIch die meisten Körper zudem wegen der notwendigen A~läufe un~ zuruckzulegenden Wege nicht primär statisch einande~ z~ordnen heßen, g~eIchwohl nach räumlichen Kategorien differenziert, speZIfiZIert und sym?ol~.sch festg~legt. Im 16. und 17. Jahrhundert knieten diejenigen Personen, dIe lan~ere Zeit unmittelbar am Leib des Fürsten zugegen waren, und nahmen so eme Demutshaltung ein, welche zugleich eine vertikale Hierarc~isierung der ~örper herstellte (Kammerdiener, Kämmerer). Die KammerdIener mußten sI~h zude~ ihrer Schuhe entledigen (Don Juan, Ferdinand 1.), die Kämmer~r Immerhm ihres Mantels (Ferdinand IH.); auf die Kopfbedeckung mußten be~dep~ruppen verzichten. Dies unterstützte die vertikale Strukturierung der SituatIOn, betonte die schutzlose Körperlichkeit der partiell entblößten Akteure z~ Laste~ ihrer Personalität, minderte ihre Beweglichkeit, erhöhte ihre ~ngrelfbarkelt und lieferte sie den bewaffneten Reposteros (Don Juan, Ferdmand 1.) bz:v. dem bewaffneten Oberstkämmerer, dessen Personalität und Gewaltzugnff
V gl. zu den ineinandergreifenden Differenzierung~kriterie~ Mark Heng~rer, Hofze~e moniell Organisation und Grundmuster sozialer DIfferenzIerung am Wlene~. f!of 1m 17 Jah;hundert, in: Klaus Malettke/Chantal Grell (Hrsg.), Hofgesellschaft und Hofhnge an eu~opäischen Fürstenhöfen in der frühen Neuzeit (15.-18. !.ahrhundert). (Forsc~ungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge, Bd. 1.) MunsteriHamburg/Berlm/London
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durch Mantel und Degen erhalten blieben (Ferdinand IH.), aus. Eine spontane Mitteilung war von dem so bezeichneten "Unten" her so nicht zu erwarten. Die für Ferdinand IH. überlieferte Präsenz von "nani, matti, e buffoni" (Zwergen, Närrischen und Narren) vertiefte die vertikale Ordnung der Anwesenden. Zudem sorgte sie dafür, daß etwaige verbale Kommunikation innerhalb dieser Situation für Störung offen gehalten wurde, sei es dadurch, daß ungefragte Kommentare von dieser Gruppe her möglich waren, sei es, daß sonstige Störungen die Bildung von Subsystemen exklusiver Interaktion zwischen Kaiser und einzelnen Gesprächspartnern jederzeit aufzubrechen drohten. Zudem hatten die Mitglieder dieser Gruppe aufgrund der ihnen möglichen freieren Standortwahl im Raum die Möglichkeit, Gesprächsdistanzen, welche durch die knienden Personen ohnehin schon erhöht waren, zusätzlich kontingent zu halten. 60 Mögliche Gespräche, deren Themen offen gewesen wären, wurden so von Anfang an sozial auf den Oberstkämmerer bzw. den ranghöchsten Diener beschränkt, Gelegenheit dazu aber wurde in einer Form geschaffen, die für andere uneinsehbar war: Der ranghöchste Höfling trat als erster und allein ein. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund die Erwähnung von Unterhaltungen des Kaisers mit dem Arzt (Karl VI.) - sie macht deutlich, daß auch in dem Regelwerk des Lever thematisch vorstrukturierte verbale Äußerungen in Gegenwart der anderen Personen vorgesehen sein konnten, wenn sie sich auf die ausnahmsweise vom Kaiser erwünschte Feinabstimmung der Interaktion bezogen. Die Gestaltung des Lever scheint so geeignet gewesen zu sein, den Tag ohne spontane Kommunikationszumutungen zu beginnen und damit die von den Herrschern wenig geliebte Einbindung in thematisch offene Interaktion mit dem Adel zu vermeiden. Insofern strukturell verwandt war mit dem Lever die öffentliche Tafel im Vorzimmer. Ähnlich wie das mit Entblößung verbundene Aufstehen ist auch das Mahl, eine der zentralen Situationen der sozialen Vergemeinschaftung, eine heikle Situation, und so wird man ungeachtet der präsenten höfischen Öffentlichkeit und aller Repräsentativität sehen müssen, daß bei der Tafel die bedienenden Höflinge einen geregelten und weitestgehend per Gewaltzugriff gesicherten Ablauf gewährleisteten61 , während die aufwartenden (!) Höflinge
Zu den Narren der Kaiser und ihrer Höflinge in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. Harald Tersch, Freudenfest und Kurzweil. Wien in Reisetagebüchern der Kriegszeit (ca. 1620-1650), in: Andreas Weigl (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur, Konfession. Wien 2001, 155-249, hier 196-199. Zum weiteren Kontext siehe Klaus E. Müller, Ethnologia passionis humanae. München 1996, 68f. "Buffoni" sind Narren im Sinne von Possenreißern, "Matti" Narren im Sinne von als geistig verwirrt Betrachteten. 61 V gl. zur kaiserlichen öffentlichen Tafel zuletzt Ingrid Haslinger, Der Kaiser speist en public. Die Geschichte der öffentlichen Tafel bei den Habsburgern vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, in: OttomeyerNölkel (Hrsg.), Tafel (wie Anm. 3),48-57. 60
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ebenfalls mit einer äquivalenten Erwartung konfrontiert waren: "bescheidenheit mit still sein und schweigen"62. 2. Eine der zentralen Situationen für Unterredungen mit dem Kaiser war die Audienz, und obschon die sehr differenzierten Regeln für Zulassung, Frequenz und Ausgestaltung im einzelnen weit komplexer waren als sich hier darstellen läßt, darf man doch einen allgemeinen Rahmen für Audienzen des 17. Jahrhunderts skizzieren: Wer zur Audienz zugelassen werden wollte, hatte zuvor ein mehr oder weniger aufwendiges Verfahren zu durchlaufen, in dem zunächst einmal der formelle Status des Besuchers festgestellt bzw. zugewiesen wurde.63 Mit diesem Status war dann die Anerkennung der gegenseitigen Ehrerbietungsansprüche und somit auch die Ausgestaltung besonders der nonverbalen Elemente der Begrüßung des Kaisers verbunden. 64 Anläßlich der in der Regel an den Oberstkämmerer zu richtenden Zulassungs- und Terminwünsche ließ sich zudem eine inhaltliche Vorprüfung und entsprechende Vorbereitung des Treffens vornehmen. Je nach der vorliegenden Konstellation mochte die Audienz dann ausnahmsweise als optisch wie akustisch äußerst imposante, waffenstarrende und vertikal stark differenzierte Großveranstaltung (etwa für türkische Gesandte65 ) vorgenommen werden oder aber als ungleich weniger aufwendige Routineaudienz (etwa für Höflinge oder ständige Gesandte, die ihren öffentlichen Einzug bereits absolviert hatten). Aber auch diese hatten die Wachen der Hofburg zu passieren, sich mit dem Platzmangel für die Kutschen im innersten Hof zu befassen, die Zahl ihrer Zugpferde dem anzupassen, was man ihnen kaiserlicherseits zugestand, wiederum Wachen zu passieren, zahlreiche Treppen zu erklimmen, durch die mit Bewaffneten gefüllte Wachstube zu gehen, an der Seite eines Höflings, der sie je nach Rang Vgl. HHStA, OMeA SR 73, Konv. r. 122, 4), rote Nr.22, eigenhändige "Vernere instruction und Erc1ärung" Kaiser Ferdinands UI. für den Oberstkämmerer Waldstein, Wien, 2.3. 1651. Vgl. auch eine der Funktionen der Tafelmusik: Sie erlaubte es, bei Tisch geführte Gespräche zumindest für das nicht mit dem unmittelbaren Tafeldienst befaßte Personal und sonstige Anwesende unhörbar zu machen. 63 Hier ist besonders das sich formalisierende Gesandtenwesen zu nennen - die Zuweisung beziehe ich auf Hofämter, von denen Zugangsmöglichkeiten abhingen. 64 Besonders die Frage des Bedeckens des Kopfes mit dem Hut; wegen dieser Frage flossen mitunter beinahe Tränen: So bei Vorverhandlungen zum gegen die Schweden gerichteten kaiserlich-polnischen Bündnis bei einem Gesandten des polnischen Königs, weil der Kaiser sich in der Audienz weigerte, ihm dieses Privileg eines Formalbotschafters zu gewähren; aufgrund vorheriger Beratungen mit dem Oberstkämmerer hatte der Gesandte dies aber erwartet; Biblioteca Apostolica Vaticana [im folgenden: BAVJ, Vat. Lat. 10423, fol. 151f. 65 V gl. die Darstellung der venezianischen Gesandten Zeno und Contarini von 1638; Joseph Fiedler (Hrsg.), Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und Österreich im siebzehnten Jahrhundert. Bd. 1: K. Matthias bis K. Ferdinand IU. (Fontes rerum austriacarum, Abt. 2: Diplomataria, Bd. 26.) Wien 1866, 202f. Vgl. zur sozialen Funktion der Unterscheidung von "oben" und "unten" in formalisierten Statusbeziehungen Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 20.) 5. Aufl. Berlin 1999, 162f.
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hier o~er dort empfing oder auch mit einer Kutsche holte, die Türen zu passieren, dIe zum Audienzzimmer führten; unterwegs dürften sie des Wappenschmucks der Burg, der aufwartenden Höflinge, der sonstigen Anwesenden, der jeweiligen Tapisserien, später auch des Bildschmucks gewahr geworden sein. 66 Eine solche Vorgeschichte und eine solche situative Einbettung von Kommunikation war geeignet, deutlich zu machen, bei wem in einer Audienz die Situationshoheit zu liegen hatte. 67 Jene, die nicht mit dem Privileg regelmäßigen und leichten Zugangs zum Kaiser ausgestattet waren und sich so an das Setting gewöhnen konnten, mochte es nachhaltig beeindrucken und dazu bewegen, ein Ansuchen um eine Audienz von der Wahrscheinlichkeit ihres Erfolges abhängig zu machen. Mit einem solchen Kalkül aber war die Spezifizierung des Gegenstandes der Unterredung auf eine Entscheidung verbunden, die immerhin so wichtig war, daß man sich_dem Gang in die Burg überhaupt unterzog. Paradoxerweise führte so die Selektivität der Zulassung zur Interaktion bei dem größten Teil der Interaktionspartner zur Formulierung einer letztlich auf die Alternative von Ja oder ~ein zugespitzten Vorlage und damit gerade zu derjenigen Konstellation, die In Interaktion so schwer zu handhaben war. Selbst einem Direktor der Hofkammer stand 1656 ein kaiserliches Nein als Ergebnis einer Audienz als Schreckensvision vor Augen: "sollte Ich ein absonderliche audienz nemben undt Ihre Khayl: Mayl: nicht in solchen humor antreffen, ds sy gleich ein allerg[nädig]stes fiat von sich geben theten, [... ] hette [ich] als dan das herz nimber, was weitters in einer absonderlich~n audienz vorzubringen." Und so mochte er denn auch nicht gehen und sann\mf andere (schriftliche) Wege. 68 Andere brachen unter einem solchen Druck s~hon einmal in Tränen aus wenn sie um ihnen Wichtigstes baten, aber dies W\denn doch eine Seltenheit. 69
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66 Vgl. zum Parkplatzmangel zu Anfang der HHStA, OMeA SR, K. 73, Konv. ~7, 2), Nr. 10. Zu Raumord~ung und Zeremomell vg\. Christian Benedik, Die herrschafthc?en ~ppartements. Funkuon ynd Lage während d\r Regierungen Kaiser Leopold 1. bl~ Kaiser Franz Joseph I., in: Osterreichische Zeitschl~ft für Kunst und Denkmalpfl~ge. Wlener Hofb~rg. Neue Forschungen 51, 1997,552-57' sowie Graf, Zeremoniell (:VIe Anm. 52); zu~ bIldenden Kunst siehe u. a. Birgit Franke, ttestamentliche Tapissenen und Zeremomell am b~rg~ndischen Hof, in: Berns/Rahn ( rsg.), Zeremoniell (wie Ann:. 3), 332-352, und Fnednch B. Polleroß, Des abwesenden Prinzen Porträt. ZeremO~lelldarstellung im Bildnis und Bildnisgebrauch im Zeremoniell in: ebd. 382-409. Zu Be~chten von Besuchern des Hofes im früheren 17. Jahrhundert sie~' Tersch, Freudenfest (wIe Anm. 60). 67 Zu ~en ~ugangsn:ögli~?keiten adeliger ~rauen im Umkreis des Ho~staats vgl. Susanne Claudzne PlIs, SchreIben uber Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach 1639-1716 Wien 2002, 227-238. . 68 Weißenwolfisches Archiv Steyregg, Akten, Fach 76, Nr. 45, Hofkammerdirektor Cle~ent von Ra~o.lt an D~vid Ungnad von Weissenwolf, Wien, 27. 12. 1656. AVA, Farmhenarchiv Harrach, Karton 444, Konv. Johann Quintin von Jörger, fol. 3, ders. an Franz Albrecht von .Harrach, Wien, 12.3. 1665. Der Hofkriegsratsvizepräsident bat demnach 1665 um das freIgewordene Amt des TtIrofmeisters, wurde aber abgewie-
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~.
538 So sorgte eine solche Konstellation zumindest grundsätzlich für Geschmeidigkeit in der thematisch so zugespitzten und gefährlichen Interaktion respektive für die Akzeptanz von Vertagung und Vertröstung, was immer noch besser war als eine definitive Ablehnung. Auc~ ausführlichere Schilderungen von Gesprächen mit dem Kaiser im Rahmen von Audienzen zeigen dies: Der venezianische Gesandte Grimani beispielsweise beschrieb in seiner Relation aus dem Jahr 1641 ein längeres Gespräch über einen der Dauerkonflikte zwischen Venedig und dem Kaiser, der ihn zum wiederholten Male zur kaiserlichen Audienz führte: Sein Vortrag wurde, obschon ihn der Kaiser nach Grimanis lakonischen Worten wohl "zum hundertsten Mal" hörte, "höflich und geduldig" angehört.7 0 In der Sache widersprach der Kaiser zwar zunächst ("No"), begründete diese Haltung aber mit den Informationen seiner Beamten. Grimani entgegnete ehrerbietig ("riuerente"), in der Sache aber unnachgiebig, worauf der Kaiser das Sachargument zu widerlegen suchte. Seine nächste sachliche Entgegnung brachte Grimani darauf mit höchster Bescheidenheit vor ("col termine della maggior modestia"). Diese Entgegnung belächelte der Kaiser, was Grimani als Ausdruck des Unglaubens hinsichtlich der vorgebrachten Tatsachen deutete ("A che mostrando la M. S. con modesto sorriso quasi non potersi prestar fede") und zu detaillierteren Ausführungen veranlaßte, wobei er das Lob der Person des Kaisers mit der Kritik an den innerösterreichischen Beamten verband. Nach einiger Überlegung schloß der Kaiser die Unterredung, indem er die Sorge des Botschafters für die Interessen der Untertanen Venedigs anerkannte, die Legitimität seiner eigenen Sorge um die Interessen seiner eigenen Untertanen dagegenstellte und vorläufig - für den hypothetischen und zu prüfenden Fall, daß Grimanis Ausführungen den Tatsachen entsprechen sollten - dem Gesandten Recht gab. Da er den entgegenstehenden Informationen seiner Behörden nicht mißtrauen könne, wolle er den Prozeß der Informationsbeschaffung mittels eines schriftlichen Verfahrens neu aufrollen. Dem hatte Grimani nichts zu entgegnen, er war mit ~______ dem Ergebnis des Gesprächs soweit zufrieden, machte seine Reverenz und
gtng-;--- / Ein Nein des Kaisers war demnach in Interaktion zwar möglich und auch ein darauf bezogener Widerspruch, doch wurde die Person des Kaisers explizit aus dem Konflikt, der innerhalb der Sachfrage auf die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Informationsquellen zugeschnitten wurde, herausgehalten. Kompensiert wurde die zeitweilige Unbeugsamkeit in der Sache durch die Beugung des Entgegnenden: Am Ende der Unterhaltung stand kein Nein, sondern
sen - dann flossen Tränen, woraufuin er immerhin Kriegsratspräsident wurde; vgl. Sienell, Konferenz (wie Anm. 48), 83. 70 Vgl. die Darstellung aus der Relation Grimanis bei Fiedler, Relationen (wie Anm. 65), 264-266. Der Kaiser war nach Grimani bei seinen Audienzen stets allein; ebd. 388.
Vertagung und der Verweis auf ein schriftliches Verfahren. 71 Diese Form der Überführung der Interaktion in ein Verfahren mochte sich bereits als Erfolg der zu Beginn des 17. Jahrhunderts nachdrücklich erhobenen Forderungen aus dem Kreis der Verwaltung nach Unterlassung von Entscheidungen ohne vorherige Überstellung der Angelegenheiten an die zuständigen Behörden verstehen. 72 3. Ein solcher Umgang mit Gegenständen, die in Audienzen besprochen wurden, setzte im Regelfall die Verschriftlichung der Anliegen voraus; eine Audienz des Gesandten Heinrich von Pflummern bei Kaiser Ferdinand II. macht dies besonders deutlich: Der Kaiser hörte sich das Vorbringen von Pflummerns in aller Ruhe und wohlwollend an - und bat nach der Rede um eine schriftliche Darlegung der komplexen Angelegenheit, welche der Gesandte dann auch parat hatte. 73 Wenn sie nicht gerade wie dasjenige dieses Gesandten (und nicht wenige andere) verschleppt wurden, gelangten solche Suppliken, versehen in der Regel mit Gutachten und Votum der zuständigen Stellen, im Rahmen der Vorträge der Stabs- und Behördenchefs oder in Sitzungen des Geheimen Rates zur Entscheidung wieder zum Kaiser - in Abwesenheit der Bittsteller. Für die meisten Personen konzentrierte sich der Zweck einer Unterredung mit dem Kaiser so auf das Überreichen einer Bittschrift bei gleichzeitiger Vermittlung des Eindrucks der Dringlichkeit der Sache bzw. der Förderungswürdigkeit der eigenen Person, und so nimmt es nicht wunder, wenn dies im wesentlichen im Rahmen des allgemeinen Aufenthalts hoffähiger Personen in den kaiserlichen Vorzimmern abgewickelt wurde und der Kaiser so zunehmend eine besondere Stelle für die Entgegennahme,und Weiterleitung von Schriftstücken wurde.7 4 Das Problem wurde dann die Zeit, die verfioß bis der
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71 In anderen Fällen war dies häufig auch der Verweis auf mit Hötlingen zu führende Unterhandlungen der Bittsteller oder der Verweis auf weitere interne Beratungen der Sache. n V gl. § 19 des Gutachtens zur Hofreform (um 1611): "sich aber darinnen oftmalen zugetragen, dass sich etliche von ihrer kais. Mt. in gehabter audienz ein befehl oder resolution empfangen zu haben berühmet und dieselbe auszufertigen in ihrer kais. Mt. namen anbefohlen haben, deren sich aber ihrer kais. Mt. hernach nicht im mindesten erinnern können", daher solle der Kaiser gebeten werden, "hinfür von keinem diener, er sei klein oder gross, keine relationes annehmen oder sich darüber allergnädigst resolviren, sie seien denn zuvor in gehörigen ~äthen berathschlagt [... ] worden"; Thomas FellnerlHeinrich Kretschmayr'(Hrsg.), Die Osterreichische Zentralverwaltung. Abt. 1: Von Maximilian 1. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749). Bd.2: Aktenstücke 1491-1681. (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 6.) Wien 1907,378. 73 Der Kaiser fragte, "ob ich, waß ich vorgebracht, nicht auch auf dem papier und schrifften hette. Darauff ich die schrifftliche supplication aller underthenigst praesentirt"; Alfons Semler, Die Tagebücher des Dr. Johann Heinrich von Ptlummern 1633-1643. (Beiheft zur Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins, Bd. 98.) Karlsruhe 1950,223. 74 Die Darstellung des Couchers der Prinzen Don Juan und Ferdinand vom Anfang des 16. Jahrhunderts zeigt, daß diesen jungen Fürsten zwar Bittschriften vorgelegt wurden: Sie
Kaiser einem die gewünschte Aufmerksamkeit schenkte. Usus war geduldiges Warten, die Beschwerde darüber machte Skandal.75 So versteht sich die Entwicklung, seine Angelegenheiten doch gleich oder zumindest parallel im zuständigen administrativen Apparat einschließlich der vertrauten Höflinge geltend zu machen oder die Schriftstücke uiünittelbar an die Behörden zu adressieren. Die Kanalisierung von auf Papier gebannten entscheidungsrelevanten Gegenständen an die wenigen führenden Höflinge oder aber an die Administration wurde auch dadurch gefördert, daß die Höflinge, mit denen der Kaiser sich beim Spielen und Jagen hauptsächlich umgab, meist Kämmerer waren. Ihnen war verboten, sich im Rahmen ihres Dienstes, der sich ja nicht auf das Lever beschränkte, mit eigenen Angelegenheiten an den Kaiser zu wenden. Wenn es hier auch Verstöße gab76 , so waren zahlreiche Kommunikationssituationen, in denen der Kaiser sich alltäglich befand, vom Zumutungspotential der Interaktion doch recht wirksam entlastet. Nur vor diesem Hintergrund konnte Kaiser Leopold I. verlauten lassen, er rede, mit wem er wolle.7 7 Auch die Interaktion im Rahmen der Sitzungen des Geheimen Rates wird man als grundsätzlich zumutungsarm bezeichnen dürfen. Wenn dort dem Kaiser Gegenstände zur Beschlußfassung vorgelegt und erörtert wurden, war durch eine komplexe Vorbereitung der Voten unter Einbeziehung von Behörden und einflußreichen Höflingen, die im Vorfeld von außen kaum einsehbare Rückkopplungen mit der Position des Kaisers organisieren konnten, und durch eine hochgradig formalisierte Sitzungsgestaltung sichergestellt, daß wurden vor der Übergabesituation indes sogar durch die Übergabe derselben an ihren Kämmerer geschützt. Der Kämmerer informierte die Prinzen dann abends über die im Laufe eines Tages bei ihm eingegangenen Bittschriften, um sie danach den "zuständigen Stellen" zukommen zu lassen; Hofmann, Hofzeremoniell (wie Anm. 3), 36. Zur Situation unter Kaiser Ferdinand rr. und Irr. vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.1.3. 75 Vgl. die Beschreibung des französischen Gesandten Freschot vom Anfang des 18. Jahrhunderts, wonach sich ein kaiserlicher Offizier nach langer Wartezeit beschwerte, indem er "überlaut zu schreyen anfieng: Cesare chiama li tui officiali, che si fanno amazzor per te, non i trati che ti vengono contare feloppe". Zitiert nach der Ausgabe: Casimir Freschot, Relation von dem kaiserlichen Hofe zu Wien. Aufgesetzt von einem Reisenden im Jahr 1704. Köln 1705, 79. In den 1650er Jahren war in Wien registriert worden, daß der schwedische König einen kaiserlichen Gesandten unter unglaubwürdigen Vorwänden mehrere Wochen auf die Audienz warten ließ, was den Kaiser beleidigte ("sotto uarij, e friuoli pretesti con poco decoro della Maesta Imperiale, che con ragione se ne mostraua [... ] offesa"); BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 267v. 76 Zum Verbot vgl. HHStA, OMeA SR 73, Konv. r. 122, 4, rote Nr. 22, eigenhändige "Vernere instruction und Erclärung" Ferdinands III. für den Oberstkämmerer Waldstein, Wien, 2. 3. 1651. Zu den Verstößen vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.1.3.c. 77 So äußerte sich Leopold 1. in einem Brief an seinen Botschafter in Spanien, Pötting, Wien, 27.9. 1666: "dann wann der Kaiser mit Auersperg nur ein Wort redt, so ist gleich Feuer in Dach und sagen alle, dieser seie wieder Hahn in Korb. Es seie ihm aber wie ihm wolle, so wird ihme der Kaiser das Maul nit binden lassen, dass er nit mit ein jeden rede, so ihm beliebt." Alfred Francis PribramlMoriz Landwehr von Pragenau (Hrsg.), Privatbriefe Kaiser Leopold 1. an den Grafen F. E. Pötting 1662-1673. (Fontes rerum austriacarum, Abt. 2, Bd. 56.) Wien 1903,247.
kaiserliche Entscheidungen im Rat in der Regel nicht als konfliktär thematisierbar waren. 78 Daß die Differenz zwischen Interaktion und schriftlicher Kommunikation für die Herstellbarkeit von Konsens von Bedeutung war, war den Kaisern bewußt: So verlangte Ferdinand IH. bei einer Hofreise die Kopräsenz zweier Behördenchefs, damit konsensuelle Vorschläge und Vorlagen zustandekämen79 - wohingegen für Hofkammerratssitzungen, bei denen der Kaiser nicht anwesend war, im Jahr 1681 für den Fall, daß man sich nicht auf ein Votum einigen konnte, Mehrheitsentscheidungen und Sondervoten zugelassen wurden 8o . Und so findet sich unter diesen und anderen Vorlagen meist der Vermerk "placet imperatori", was ohne diese Vorkehrungen doch sehr verwunderlich wäre. Das Feld möglichen Erfolgs besonderer Interaktionskompetenz des den Kaiser umgebenden Adels war in dieser Konstellation kein sehr weites mehr. Ein einflußreicher Favorit, der diese Stellung seinem Charme und seiner Gefälligkeit verdankt hätte, kam spätestens seit Rudolf H. nicht mehr in Betracht.8 1 Statt dessen konnte der bürgerliche Jurist Johann Matthias Prücklmayr österreichischer Hofkanzler und Freiherr werden, obschon er den Habitus eines ungelenken und unedel geborenen Fachmannes nicht loszuwerden vermochte; auch sorgte sein formeller Rang dafür, daß er auch von denjenigen, die dies bemäkelten, ehrerbietig behandelt und umworben wurde. 82 War noch in dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Traktat über den fürstlichen Rat von Friedrich Furius Seriolanus der Frage, welche körperlichen Eigenschaften ein Rat haben müsse ("Quae corporis qualitates in Consiliario requirantur"), ein ganzes Kapitel gewidmet83 , fand sich dazu in dem von einem Kenner des Vgl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.II.1.c. Und dises nit schrifftlich, sondern allein mündtlich, damit [... ] die vielleicht sich unterluf~de contradictiones verhietet werden." HHStA, ÄZA, K. 3, Konv. 19, fol. 2v. 80 V gl. dazu Rudolf Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 185-225. 81 V gl. dagegen die Schilderung des Favoriten eines italienischen Hofes aus der Hand des Zeremoniars des päpstlichen Nuntius Pannochieschi: "Questo Signore Particelli era un giouine di buonissimo garbo, di grata presenza e dotato di Nobilissime qualita per le quali era arriuato ad'essere il fauorito della Corte." BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 108. 82 V gl. die Einschätzung des Zeremoniars des auf die niedrige Geburt verweisenden päpst~;. lichen Nuntius Pannochieschi (BAV, Vat. Lat. 10423, fol. 178v) und des venezianischen Botschafters Giustiniani (1654): "Questo eun huomo di basso lignaggio, tirato innanzi dal fu Conte di Trautmesdorff per la notitia legale, fu egli Auocato; e ueramente mecanico"; Fiedler, Relationen (wie Anm. 65), 420. 83 Benutzt in der Fassung "De conciliis et consiliariis principum" in einer Sammelausgabe von Fürstenspiegeln: "Tredecim Libelli speculi ~ulicarum [... ]. Argentorati 1621, 55-61. Bereits im 16. Jahrhundert gab es zahlreiche Ubersetzungen; vgl. den entsprechenden Hinweis in der Ausgabe von 1588: "Idea conciliarii, hoc est: de conciliis et consiliariis principum [... ] libellus ex (ejus) tractatu hispanico in italicam, ac inde in latinam lingam translatus. Frankfurt am Main 1588. In Basel erschien das Werk unter dem Titel "De consiliariis, eorumque qualitatibus [... ]" in lateinischer Übersetzung bereits 1563. 78 79
Kaiserhofes um 1630 verfaßten "Princeps in compendio" nichts 84 . Von den Elementen der Interaktionskompetenz hielt sich denn im weiteren Verlauf auch des 18. Jahrhunderts gerade diejenige Ausdrucksform am längsten, deren Bezug zum Körper am geringsten ist: die Eloqu.~nz. 85 4. Das Aufspannen eines größeren medialen sowie zeitlichen, örtlichen und instanziellen Rahmens für die Herstellung von Entscheidungen, das die einzelne und entscheidende Interaktion mit dem Entscheider mehr und mehr ersetzte, führte zwar zu einem berechenbareren Verlauf einzelner Interaktionen, damit aber zugleich zu einem erhöhten Kontrollaufwand an anderen Stellen. 86 Man mußte dem Kammerpersonal verbieten, Papiere in den Räumen des Kaisers anzurühren 87 , und Behörden die Herausgabe von Akten an Betroffene untersagen 88 . Man mußte hoffen, daß die Höflinge und Beamten unbestechlich waren und sich nicht zu sehr mit den interessierten Parteien einließen. Und so ist es etwa für die Zeit Kaiser Ferdinands II!. charakteristisch, daß gerade die einflußreichsten Höflinge, die Obersthofmeister und Oberstkämmerer, teilweise als schwer zugänglich galten, sich mit gewissen Zugangshindernissen umgaben, welche besondere Audienzzeiten und -zimmer mit entsprechender Ausstattung einschlossen. 89 Aber auch die Sekretäre kaiserlicher Behörden wußten die Funktion von Türen, die man vor ungenehmen Bittstellern, Agenten, "Sollicitanten" etc. schließen konnte, zu schätzen - und sei es, um anhand der Differenz von Öffnung und Schließung den Wert der erwünschten Geschenke zu verdeutlichen. 9o Nicht jedem Höfling freilich, dessen als gerade noch im Rahmen des Geduldeten erachtete Korruptibilität bekannt war, konnte der Kaiser "Assistenten" zuteilen. 91 Wie aber sollte man
dann wissen, ob nicht manches Gutachten, das den Hof in Wien aus nachgeordneten Behörden etwa in Graz erreichte, schon dort gekauft worden war?92 Entlang der Papierströme fanden sich die aus der Interaktion mit dem Kaiser ausgelagerten Probleme also wieder, doch wurde hier der in seiner Relevanz ohnehin schon eingeschränkte Körper als Erfolgsmedium durch andere Medien zunehmend ersetzt: Ein Höfling, der bei Hof zuwenig verdiente93 , wird mehr Gefallen an Geld gefunden haben als an der Gefälligkeit einer Person. Wenn sich dagegen und trotz der Versuche adeliger Familien, mittels zahlreicher Positionen in den Behörden genuine Interessen zu wahren, die Bürokratie mittelfristig als sehr erfolgreiches Instrument fürstlicher Herrschaft etablierte, dürfte dies nicht zuletzt an den Eigentümlichkeiten der Sedimentbildung jener Papierströme gelegen haben. Archivierung, Registratur, Dokumentation, Vorlagesysteme, das zunehmend systematisierte Wachstum der Akten strukturierten Informationsproduktion und Kommunikationssituationen, die auf eine ganz andere Art von Körperlichkeit zugeschnitten waren. 94 Zwar reproduzierte die Syntax fürstlicher Schriftsätze noch die Komplexität zeremonieller Ordnung95 , der Körper des Archivs aber entzog sich dem Außen. Die Korrespondenz der höfischen Welt hingegen läßt zum Teil den Versuch erkennen, die imaginierte Interaktion von Autor und Adressat auch auf dem Papier doch noch einzuholen. Am Beispiel des von Georg Füll, einem Sekretär verschiedener hochrangiger kaiserlicher Höflinge, in der Mitte des 17. Jahrhunderts angelegten Formelbuches96 möchte ich dies zeigen. Wie Schreiben
Der venezianische Botschafter Grimani schilderte in seiner Relation nach der oben in Abschnitt II.2. dargestellten Audienz, daß er in Graz so Einfluß im Rat erworben habe, daß Venedig künftig an anderer Stelle Geld einsparen könne; ebd. 267. 93 Unter Hinweis auf die geringen Hofbesoldungen liest man in einem Gutachten zur Hofreform (um 1611): "Weil man aber den räthen bisher die nothwendige unterhaltung nit bewilliget oder gereicht, so ist den muneribus und corruptionibus die thür also geöffnet worden, dass sich etliche derselben anjitzo gar nit mehr schamen." Fellner/Kretschmayr (Hrsg.), Zentralverwaltung (wie Anm. 72), 373. 94 Vgl. Vismann, Akten (wie Anm. 47). 95 Zur Syntax vgl. Johannes Schwitalla, Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil. Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus, in: Inken KeimfWilfried Schütte (Hrsg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. (Studien zur deutschen Sprache, Bd. 22.) Tübingen 2002, 379-398. V gl. auch die hinlänglich bekannten Elemente wie etwa das Respektspatium; zur Sprache des Zeremoniells und ihrer Inkompatibilität mit dem gelehrten Diskurs der Kameralistik vgl. Bauer, Hofökonomie (wie Anm. 7), 228-230. 96 AVA, Familienarchiv Harrach, Handschrift 140. Füll war 1644 bis 1651 Sekretär von Adam Matthias Graf von Trauttmansdorff (fol. 1), einem kaiserlichen Kämmerer und Sohn des kaiserlichen Obersthofmeisters Maximilian Graf von Trauttmansdorff; von 1653 bis 1664 war er Majoratssekretär bei der Familie Harrach, die in dieser Zeit neben anderen Höflingen mit Ernst Ada1bert von Harrach und Franz Albrecht von Harrach einen kaiserlichen Geheimen Rat und Kardinal sowie einen kaiserlichen Oberststallmeister aufwies. 92
Vgl. Bosbach, Princeps in Compendio (wie Anm. 38),91 f. Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm.40), 123. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive grundlegend zum Zusammenhang von frühneuzeitlicher Konversationstheorie und Körpersprache: Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kunstgeschichte, Bd. 1.) Tübingen 1992. Hier wird der Bogen von Castiglione bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gespannt; den Schlußpunkt der besonderen sozialen Relevanz der Interaktion gegenüber dem Schreiben sieht Geitner nicht zuletzt in der Betonung der Erziehung zum Schreiben gegenüber derjenigen der Befähigung zur Rede und Konversation; ebd. 333. 86 V gl. Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), B.II.2. 87 Siehe die Instruktion Kaiser Ferdinands III. vom 22. 3. 1651; HHStA, OMeA SR 74, Konv. 11, Nr. 13. 88 Vgl. Winkelbauer, Fürst (wie Anm. 41), 276-281. 89 Vgl. dazu Hengerer, Kaiserhof (wie Anm. 12), C.I.3. 90 V gl. die Schilderungen von Pflummems zur verschlossenen Tür des Sekretärs Kielmann; Semler, Tagebücher (wie Anm. 73), 247. Zum Problem der Sicherung der Ausdifferenzierung der Behörden vgl. Schlögl, Hof (wie Anm. 80). 91 Vgl. dazu die Schilderung des venezianischen Gesandten Giustiniani aus dem Jahr 1654; Fiedler, Relatjonen (wie Anm. 65), 402. 84 85
ihre Funktion als Ersatz eines Besuches explizit machen konnten97 , so bedankte man sich für Briefe, die als "Eür Liebden besuch= unnd glückwünschungs schreiben" bzw. als "die frl. besuech= als auch glückwünschung zum N euen J ahr"98 bezeichnet wurden. In der großen SJruppe der von Füll gesammelten Formulierungen aus Glückwunschschreiben wird zwar nicht bei der überwiegenden, aber doch bei einer beträchtlichen Zahl der Umstand, daß man schreibt (und nicht besucht) thematisiert, der Brief also als Substitut der Interaktion verstanden, wobei auch körpersprachliche Elemente der Interaktion aufgegriffen werden. So heißt es etwa: "Die herbey nahendte Weyhnachtlichen feyrtage erinnern mich meiner schuldigkeit, und komme hiemit dem Herrn gehorl. aufzuwarten, und die Hendt zu khüssen. "99 Der Hinweis auf den Brief ("hiemit") findet sich an anderer Stelle mit dem Hinweis auf die Körperrelevanz der mitgeteilten Gefühle: "Als hat es meine hohe schuldigkeit erfordert, mit meinem inbrünstigen voto hiemit bey meinem Herrn gehorsl. Zu~ erscheinen"lOO; auf die deiktische Geste in Richtung Brust spielt die folgende Formulierung an: "habe dem Herrn Ich durch diese Zeillen aufwarten, und zu denen bevorstehenden Weyhnacht [... ] vom Herzen wünschendte" gratulieren wollen 101 . Gegenüber dem Verweis auf die Gefühlsregung ("und dero beharrlichen affection mich darmit empfehlen wollen" 102) erweist sich der Bezug auf das alte Herkommen, wonach ein anderer Autor "vermitelst dies" seine Weihnachtswünsche übermitteln wollte, schon als Schwundstufe 103 . Und schließlich erinnert die umfängliche Begründung, mit der Briefe rechtfertigen, daß sie (unaufgefordert, wenn möglicherweise auch erwartet) an den Adressaten gelangen, daran, daß der Beginn verbaler Kommunikation nach der wechselseitigen Wahrnehmung von Präsenz im Belieben des Ranghöheren stand. So lassen sich die Begründungen der nach erhöhter Aufmerksamkeit heischenden Briefe als funktionales Äquivalent des Aufwartens sehen: "Die herzue nahenden Heyl. Weyhnacht feyrtag erinnern unns in ganzem Christenthumb der unter guten freündten und bekhandten wohlhergebrachten gratulationsgewonheit", derzufolge man nun alles Gute wünschen wolle. 104 Entsprechend liest sich die Antwort auf ein "angenemes schreiben": "Nit weniger empfangen wir
sonderbare annemblichkeit aus dem noch unter dato N. abgeloffenem gedechtnus [!] briefl, und verstehen daraus ganz freüdig, daß Eür Liebden unns in guten angedencken haben, sondern auch unnsern, und der unnserigen zuestendt bericht zu werden, sondere begirdt tragen, und zu dem allen unns abermallen Ihrem alten ganz löbl. unnd unns gar angenemben gebrauch nach zu den Heyl: Christ ferien gratuliren, und drauf folgendten Neüen Jahr glück Heyl und gesundtheit wünschen." 105
III. Resümee Ungeachtet seiner Attraktivität als scheinbar natürlich vorgegebene somatische Einheit läßt sich der menschliche Körper nicht als gesicherte mediale Einheit im Prozeß der Kommunikation konzeptionalisieren. Was als Körper, was als Geste, was als Wort, was als Räuspern wahrgenommen wird, steht nicht von irgendeinem Vornherein fest, auch nicht, was dies dann bedeutet. Erst Symbole, Semantiken und Situationen schaffen höhere Verläßlichkeiten des Verstehens, sie entziehen sich jedoch der absoluten Verfügbarkeit, sind offen für Mißverständnis und Subversion. Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit des Erfolgs von Kommunikation wird verständlich, warum körperliche Präsenz beim Aufbau komplexerer sozialer Ordnung ebenso vorteilhaft ist wie prekär. Kopräsenz erleichtert wegen ihrer, wenn auch unvollkommenen, Verpflichtung von Personen auf gemeinsam durchlebte Situationen das Überprüfen des Verstehens, sie erleichtert im Zweifel körperliche Gewalt und damit die Verfügbarkeit über den Erfolg der mitgeteilten Erwartungen. Kommunikation unter Anwesenden kann sich dieser potentiell reziproken und daher in verherrschafteten Beziehungen besonders problematischen Elemente ihrer Starterfunktion für soziale Ordnung zwar entziehen, doch vollzieht sich eine solche Stabilisierung in komplexen sozialen Zusammenhängen vor allem durch räumliche Asymmetrisierung und mediale Ausdifferenzierung der Kommunikationssituation, von der restriktiven Rahmung bis hin zur Vermeidung von Interaktion, letztlich also durch die Lockerung des engen Zusammenhanges von körperlicher Kopräsenz und Sinnproduktion. Das, was menschliche Körper in der Frühen Neuzeit unter dieser Voraussetzung zu Kommunikation beitragen können, wird man - sehr bescheiden zunächst in Typologien von Formen sozialer Kommunikation zu erfassen suchen, welche die Selektivität des Zugriffs auf die potentielle kommunikative Leistung von Elementen der Körperlichkeit in Abhängigkeit von derjenigen situativen und medialen Konfiguration beleuchten, in welcher Kommunika-
Aufschlußreich für die Eigenschaften des Sekretärs ist ein Zeugnis text für den Abschied eines Schreibers: "allzeit aufrecht, redlich, Erlich, still, verschwigen und fleisig" (fol. 17v). 97 Ebd. fol. 38v. 98 Ebd. fol. 45. 99 Ebd. fol. 24. Diese und die Hervorhebungen unten von M.H. 100 Ebd. fol. 25v, 26. 101 Ebd. fol. 24v. Vom Herzen ist bei Füll in diesem Zusammenhang regelmäßig die Rede. 102 Ebd. fol. 26v. 103 Ebd. fol. 26v, 27, 28 (verschiedene Beispiele). 104 Ebd. fol. 51 v. V gl. auch das Begründen des doch Befremdlichen: "Quando al mio giudicio non mi pare strano quel constume tratta sin' dal anti chi ta di augurare il buon principio dell' Anno" (fol. 28v).
105 I I
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Ebd. fol. Sv.
tion sich vollzieht, sachlich, zeitlich oder sozial restringiert oder auch ganz vermieden wird. Am Beispiel des Levers und der Audienz einerseits und andererseits am Beispiel der :eemühungen, ungestörte schriftliche Kommunikation zu sichern sowie den erfolgverheißenden körperlichen Gestus im Brief zu appräsentieren, habe ich versucht, Ansätze für eine solche differenzierende Typologie zu erproben.
Von
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Resümee: Typen und Grenzen der Körperkommunikation in der Frühen Neuzeit
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Abb. 1: Cartoon von Oswald Huber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 1. 2001.
Wie alle Zeichenträger gewinnt der Körper seine Bedeutung erst im Prozeß sozialer Kommunikation, weil den Beteiligten das Bewußtsein des Gegenüber jeweils unzugänglich bleibt. 1 Komplexere soziale Strukturen können deswegen nur dann aufgebaut werden, wenn Situations definitionen, Erwartungshaltungen wie auch Motive codiert und als medial vermittelte Zeichen verfügbar sind. Auch im Körper werden solche Informationen lesbar, und er ist deswegen eines der Medien, in dem Zeichen ihre Form gewinnen. Er kann für die Anwesenden bedeutend sein in seinem bloßen So- und Vorhandensein; er spannt soziale Räume auf und definiert soziale Situationen allein durch seine Position gegenüber anderen Körpern. Unser Körper ist in seinem Aussehen gestaltbar; er präsentiert sich in der Theatralik seiner Performanz und: er handelt. Medien- und kommunikationstheoretisch gelesen, ergeben sich aus solchen einfachen Beobachtungen freilich komplizierte Verhältnisse. 2 Das betrifft den medialen Status des Körpers und davon abgeleitet auch seine mediale Funktion in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten. In der sozialen Welt der Bedeutungen und des Bedeutenden ist der Körper in zweifacher Weise vorhanden. Als präsenter Körper kann er (medialer) Zeichenträger sein, als bildlich oder sprachlich repräsentierter Körper ist er ein Medium, in dem Kommunikation ein Thema findet und so diskursive Kohärenz gewinnt. Präsente Körper werden als informations speichernde ,Schreibfläche ' genutzt oder bringen als performative, agierende Körper Bedeutung hervor. Welche von beiden Möglichkeiten sich in Kommunikation jeweils aktuell realisiert, hängt ab von den Beobachterverhältnissen und den Zuschreibungen, die sich in ihr aufbauen. Werden Körperzeichen auf eine Umwelt bezogen, wird also Fremdreferenz hergestellt, erscheint der Körper als1 Zu diesen Anfangsbedingungen von Kommunikation und den daraus sich ergebenden Unterschieden zu einer Theorie rationalen Handelns siehe Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, 191-24l. 2 Zu den einschlägigen begrifflichen Bezügen vgI. Jochen Härisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt am Main 2001; Hans H. Hiebel, Die Medien. Logik - Leistung - Geschichte. München 1998; Hans Ulrich GumbrechtlK. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main 1988; Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main 1981, bes. 184--195.
549 Zeichenträger; hingegen kommuniziert er als performativer Körper, wenn die ihm abgelesenen Informationen auf ihn selbst oder die Einheit von Bewußtsein und Körper zugerechnet werden. 3 Stefan Haas hat seinem Beitrag diese Unterscheidung von zeichenhaftem und performativem Körper - in einer allerdings anderen Terminologie - zugrunde gelegt. Welche mediale Dimension des Körpers in Kommunikation aktualisiert werden kann, hängt ab von den dort herrschenden räumlichen und zeitlichen Distanzverhältnissen. Der präsente, sinnlich wahrnehmbare Körper hat seinen Ort in Typen der Kommunikation und der sozialen Strukturbildung, die auf Anwesenheit gebaut sind, während Kommunikation, die über Schrift und andere Distanzmedien vermittelt wird, naturgemäß auf den repräsentierten Körper zurückgreift. Weil allerdings unter Anwesenden mit der Sprache der Körper vor allem das Reden in Kommunikation eingeht, ist dort niemals nur einfach der anwesende Körper von Bedeutung, sondern immer auch schon die Semantik des repräsentierten, diskursiv geformten "kulturellen"Körpers. 4 Ich folge den Beiträgen und konzentriere mich hauptsächlich auf den anwesenden Körper der Interaktionskommunikation. Die unüberschaubare Vielfalt des diskursiven Körpers wird daher nur angesprochen, soweit die von ihm getragenen Themen für die Strukturierung von Interaktionskommunikation von Bedeutung sind. 5 Die Sozialwissenschaften haben ihren Gegenstand zunächst gegen den Körper und gegen das mit ihm verbundene Bewußtsein konturiert. 6 Erst nachdem das Soziale als Realität sui generis gefaßt war, konnte auch der Körper 3 In der Möglichkeit, diese Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz analytisch fruchtbar thematisieren zu können, liegt der Zuwachs an analytischem Auflösungsvermögen, den ein kommunikationstheoretischer Zugriff auf das Soziale gegenüber einem handlungstheoretischen bereithält. V gl. dazu auch die Angabe in Anm. 1 und Alois Hahn! Rüdiger Jacob, Der Körper als soziales Bedeutungssystem, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hrsg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? Frankfurt am Main 1994, 146-187. 4 Jens LoenhojJ, Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhältnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung. Konstanz 2001, 44-51, weist darauf hin, daß für die Annahmen, die den Körper in Interaktionszusammenhängen formen, nicht zuerst der wissenschaftliche Diskurs ausschlaggebend ist, sondern die (scheinbare) Evidenz eines organologischen Modells der Sinneswahrnehmung dominiert. Es läßt sich in fast allen Kulturen auffinden. 5 Die meisten neueren ,Körpergeschichten' vermischen diese Aspekte: vgl. Klaus SchreinerlNorbert Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. München 1992. Das ist kulturgeschichtlich ertragreich, trübt aber den Blick auf den Körper als Kommunikationsmedium in Interaktionszusammenhängen. 6 Einen klassischen Punkt in dieser Geschichte der soziologischen Theorieentwicklung markiert Georg Simmel, Über das Wesen der Sozial-Psychologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik NP. 26, 1908, 285-291; vgl. auch Thomas Luckmann, Protosoziologie als Protopsychologie?, in: Max Herzog/earl P. Graumann (Hrsg.), Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg 1991, 155-169.
wieder als Teil der sozialen Welt thematisiert werden. Insbesondere die phänomenologische Wissenssoziologie hat hervorgehoben, daß in der Körperlichkeit des Gegenüber und der reziproken Wahrnehmung dieser Körperhaftigkeit überhaupt die Grundlage für die Anerkennung des Anderen als Alter ego liegt. 7 Die systemtheoretische Kommunikationstheorie hat hinzugefügt, daß nur in dieser Situation des vis-a-vis Wahrnehmung reflexiv werden kann. Nur hier ist dem Bewußtsein das Wahrnehmen beobachtbar, weil sinnlich faßbar wird, daß die eigene Wahrnehmung ebenfalls wahrgenommen wird. 8 Obwohl man den Körper deswegen gewissermaßen als das ,soziale Organ' des Bewußtseins bezeichnen kann, liegt seine Besonderheit als Kommunikationsmedium nicht allein in der Polivalenz seiner Zeichenhaftigkeit, sondern vor allem in der offenen Beziehung zwischen Bewußtsein und Körper. Es kann dem Bewußtsein zugerechnet werden, was dem Körper abgelesen wirdoder eben auch nicht. In welcher Weise diese Differenz für Kommunikation relevant wird, hängt ersichtlich von den kulturell und situativ höchst wandelbaren Vorstellungen über Subjekte und Adressaten von Kommunikation ab. Anstelle opaker Körper können Körper und Bewußtsein in einer dualen Gegensätzlichkeit auftreten, oder der Körper kann als getreuer Spiegel des Bewußtseins wahrgenommen werden. Ebenso war es immer möglich, daß andere (transzendente) Mächte sich durch Körper und Bewußtsein äußern. Entsprechend ändert sich dann die Kommunikationssituation jeweils grundlegend. Die für Kommunikation konstitutive Unterscheidung von Information, die aus unterscheidungsgeleiteter Beobachtung gewonnen wird, und Mitteilung, die man auf Absichten zurückbindet, gewinnt in solch verschiedenen Wahrnehmungsweisen ihre soziale und damit auch historisch-kulturspezifische Form. 9 In jedem Interaktionszusammenhang changiert der wahrgenommene Körper zwischen ,unwillkürlichem' So-Sein und absichtsvoller Performanz. In dieser Weise nimmt das Alter ego ihn beim Gegenüber wahr, aber auch Ego wird beides bei sich selbst nicht immer klar auseinanderhalten können oder wollen. Deswegen wird der Körper als Medium von Interaktionskommunikation in vielfacher Hinsicht brauchbar. In der Unhintergehbarkeit seines Vorhandenseins und in der Selbstverständlichkeit, mit der er wahrgenommen wird, baut der Körper mit an einer negations festen Plattform für interaktive Kommunikation. lO Weil man wechselseitig weiß, daß man wahrnimmt und Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt am Main 1979, Bd. 1,87-98 u. Bd. 2, 153-157. 8 Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysterne. Frankfurt am Main 1999, 110-146. Siehe auch LoenhojJ, Die kommunikative Funktion der Sinne (wie Anm. 4),169-172. 9 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8), 141-144. 10 Vgl. Volker Heeschen, Rituelle Kommunikation in verschiedenen Kulturen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 65, 1987,82-104. 7
wahrgenommen wird, läßt sich Anwesenheit im Regelfall schon nicht bestreiten, und es bedarf kunstvoller Arrangements, um Anwesende in Kommunikation zu neutralisieren. Koordinierte Körpergestik produziert sinnlich abgesicherte Intersubjektivität, die auch über den Augenblick hinaus belastbar ist. Körpergebundene Rituale sind daher wirkungsvolle Vehikel der Massenintegration. I I Umgekehrt schreibt Gesellschaft sich in ihrer strukturellen Ordnung oft direkt in den Körper ein. Passageriten richten den Körper in entsprechender Weise zu, die Aufnahme in Gruppen wird in häufig schmerzhaften Manipulationen am Körper vollzogen und beglaubigt. 12 Andererseits bietet der Körper aber wiederum auch Schutz vor der Zwangsläufigkeit interaktiver Kommunikation. Was gesagt ist, ist gesagt, und deswegen könn~n Sprecher sich zwar vom Inhalt des Gesagten distanzieren, nur schwer aber von ihrer Mitteilungsabsicht. Das ist anders beim Körper. Wo er in interaktiver Kommunikation Berücksichtigung findet, eröffnet sich durch ihn die Möglichkeit zu indirekter Kommunikation. 13 Indirekte Kommunikation läßt offen, ob es sich um eine Mitteilung handelt, und bietet so die Möglichkeit von Kommunikation auf Widerruf. Das gilt in Interaktionskommunikation für beide Seiten. Man beobachtet zunächst und wartet ab, ob sich Erwartungen und Vermutungen bestätigen, und kann dann je nach Opportunität die Mitteilung (samt Information) bekräftigen, bestreiten oder sie - von der anderen Seite her - auch ignorieren. Sobald Kommunikation sich allerdings auf die mit indirekter Kommunikation markierte Unterscheidung von Wahrnehmung und Bewußtsein einläßt, wächst dem Körper auch eine eigentümliche kommunikative Sprengkraft zu. Es ist nicht zu verhindern, daß der Körper auch dann, gelesen' wird, wenn er nichts mitteilen soll. Für Erving Goffman war es hauptsächlich dieser Umstand, der die "körperliche Kundgabe" trotz ihrer im Vergleich zur Sprache äußerst reduzierten und unfiexiblen Zeichenhaftigkeit zum wichtigen Kommunikationsmedium des Selbst werden ließ.14 Mit der "körpergebundenen Mitteilung" betreibt das "Individuum im öffentlichen Austausch" demnach
11 Hans-Georg Soeffner, Zur Soziologie des Rituals, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist 2000, 180-208, hier 200-208. 12 Amold van Gennep, Übergangsriten (les rites de passage). Frankfurt am MainlNew York 1986; Beispiele aus dem Handwerk bei Andreas Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt am MainJBerlinlWien 1981, 101-114; vgl. auch Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997. 13 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8),147-178. 14 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main 1982, 175-195; vgl. auch ders., Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 1986, 10-53.
wesentlich Prophylaxe gegen Zuschreibungen der Umwelt, denen es anders nicht begegnen kann. Die kommunikative Leistung von Körperzeichen hängt ersichtlich ab vom unterstellten Grad ihrer Verfüg- und Gestaltbarkeit. Die Eigenschaften des Körpers als Medium der Kommunikation erwachsen daher nicht aus seiner ,Natur', sondern aus der schon immer kommunikativ hervorgebrachten und diskursiv dann verfügbar gehaltenen Körpersemantik. Welche "körperlichen Kundgaben" wofür in Interaktion einsetzbar sind, ist nur in geringem Maße an die Biologie des Körpers gebunden oder an eine allgemein-menschliche conditio humanalS, sondern es wird wesentlich von den beobachtungssteuernden Vorstellungen über seine anthropologische Verfaßtheit und insbesondere über die Beziehungen zwischen Körper und Bewußtsein bestimmt. Die aber sind - wie wir wissen - weder historisch invariant noch kulturelle Universalien. Soziale Ordnung kann sich auf Dauer mit dem Körper nur arrangieren, wenn es gelingt, die osmotische Zone zwischen Wahrnehmung und Kommunikation im Bedarfsfall auch abzudichten. Dieses Problem gewinnt in dem Maß an Bedeutung, in dem soziale Strukturbildung sich über raum- und zeitüberbrückende Medien vollzieht oder sich auf symbolisch generalisierte Medien stützt, mit denen die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation überspielt werden kann. 16 Deswegen sollten Historiker nicht nur nach der historischen Form des Kommunikationsmediums Körper fragen, sondern auch danach, wieviel und wo Körper in historischen Formen sozialer Kommunikation jeweils vorhanden sein kann. Ohne Bezug auf einen gesellschaftlichen 15 Eine unübersehbare Nähe zu solchen naturalisierenden Argumentationen findet sich in Werner Faulstichs Konzept der "Menschmedien": Vgl. Wemer Faulstich, Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400-1700). (Die Geschichte der Medien, Bd. 3.) Göttingen 1998, bes. 7-12, 33--41. 16 Besondere Formen der Interaktionskommunikation sind ebenfalls auf eine Kontrolle des Übergangs zwischen Wahrnehmung und Kommunikation angewiesen. Die Eigendynamik sexueller Interaktion verträgt sich kaum mit dem Bedarf an Motivforschung, der bei direkter Kommunikation mitläuft. Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen, in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen 1995, 189-203. Einen Sonderaspekt dieser Selektivität von Kommunikation in formalen Organisationen thematisiert Erving Goffman unter dem Stichwort "Verlegenheit": Goffman, Interaktionsrituale (wie Anm. 14), 106-123. Zur' Zähmung etwa des olfaktorischen Körpers im 18. Jahrhundert vgl. Dmitrij Zachar'in, Die olfaktorische Kommunikation im russischen und westeuropäischen Paradigmenwechsel (des 17. bis 19. Jahrhunderts), in: Wiener slavistischer Almanach 41, 1998, 5-38, bes. 13-19. Für das 19. Jahrhundert siehe Horst-Volker Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870 bis 1970. Frankfurt am Main 1984, 349--463 (Interaktionsbeziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen höher- und niedrigerstehenden Personen). Zu den Möglichkeiten der "Nichtkommunikation" unter Anwesenden siehe Peter A. Berger, Anwesenheit und Abwesenheit. Raumbezüge sozialen Handeins, in: Berliner Journal für Soziologie 1,1995,99-111, bes. 104f.
Rahmen und die ihn prägenden Strukturmuster wird sich eine kohärente Geschichte des Körpers als Medium der Kommunikation kaum entwickeln lassen. Sowohl in der Semantik des Körpers wie auch hinsichtlich der Anforderungen an den interaktiv kommunizierenden Körper präsentiert sich die Frühe Neuzeit als Umbruchszeit mit epochaler Kohärenz. Mit der Herausbildung funktional bestimmter und organisatorisch verdichteter Sozialzusammenhänge, wie sie durch Schrift und vor allem die Drucktechnik gestützt wurden 17, verformte sich zwangsläufig auch Interaktion, und es verschob sich die Art und Weise, in der Körper an sozialer Kommunikation beteiligt werden konnten. Gleichzeitig boten diese Prozesse Anlaß für einen breiten, zwischen Rhetorik, Physiognomik und der sich schnell entfaltenden "Theorie des Hoflebens" aufgespannten Diskurs über den kommunikativen Körper, seine Formbarkeit und sein Verhältnis zum Bewußtsein. 18 Im Unterschied zur Wahrnehmung zeichnet sich Kommunikation dadurch aus, daß sie stets das Problem der ,Aufrichtigkeit' mit sich führt und deswegen nach Strategien verlangt, um die daraus folgenden Kontingenzen einzudämmen. Beobachtungsmodi, die wechselseitige ,Berechenbarkeit' entstehen lassen, sind die eine Möglichkeit; eine andere: die Tür zu indirekten Kommunikationen, etwa durch einen leicht zu aktivierenden "Diskurs des Versehens", möglichst weit zu öffnen.l 9 An vielen Stellen des damit umrissenen Fragehorizonts steht die Frühneuzeitforschung noch am Anfang, weil sie begrifflich häufig anders strukturiert und thematisch auf andere Bezüge eingestellt ist. Es sind allerdings gerade in der jüngeren Forschung Themenzusammenhänge wahrnehmbar, in denen sich eine frühneuzeitliche Geschichte des Körpers als Kommunikationsmedium bereits konturiert. Drei solcher Felder, auf denen der Zusammenhang kommunikativer Praxis mit der Entwicklung sozialer Strukturmuster besonders deutlich wird, sollen hier hervorgehoben werden: Erstens wird die körperliche Dimension von Kommunikation in Forschungen faßbar, die sich - meist konzentriert auf das Phänomen der Ehre - mit personenzentrierter Interaktion befassen; ein zweites Feld, das die Bedeutung des Körpers für Kommunikation hervortreten läßt, ist dort erkennbar, wo die Frühneuzeitforschung sich 17 V gl. allgemein Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1991, 37-55 und passim; Comelia Bohn, Schriftlichkeit und Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität in der Neuzeit. Opladen 1999, 173-258. 18 Siehe zu diesem Diskurs den instruktiven Überblick bei Ursula Ge itner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 1.) Tübingen 1992. 19 Peter von Moos (Hrsg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. (Norm und Struktur, Bd. 15.) Köln/Weimar/Wien 2001.
mit Prozessen sozialer Integration und der Gruppenbildung beschäftigt; drittens treten insbesondere die Grenzen körperbezogener Interaktion dort hervor, wo die Forschung der Herausbildung und der sozialen Bedeutung von formal organisierten und funktionsbestimmten Sozialzusammenhängen nachgeht. 1. Der Körper gewinnt in Interaktion dann eine besondere Bedeutung, wenn Menschen sich nicht in spezifizierten Rollen begegnen, sondern voneinander beanspruchen, sich als integrale Person wahrzunehmen und zu respektieren. Franz-Josef Arlinghaus geht in seinem Beitrag davon aus, daß dieses integrale Personalitätskonzept bis ins 18. Jahrhundert bestimmend blieb und die Möglichkeiten sozialer Strukturbildung entsprechend prägte. Kommunikation, die unter das Prinzip der Ehre gestellt wird, ist ein charakteristischer Ausdruck dieses Verständnisses von Personalität, und die jüngere Forschung zu Ehrkonflikten hat in vielfältiger Weise herausgearbeitet, daß die Ehre ihren Sitz im Körper nahm. 20 Allerdings ist eine Typologie der Verlaufsdynamik gewaltsamer Körperkommunikation erst in Ansätzen zu erkennen21 , und erst recht bleibt an dieser Stelle offen, ob der Körper in der Alltagskommunikation des 18. Jahrhunderts als Zentrum persönlicher Ehre an Bedeutung bereits eingebüßt hatte. 22 Dies gilt übrigens auch für die (Ehr-)Kommunikation der Geschlechter. Zwar läßt die Forschung keinen Zweifel daran, daß insbesondere der weibliche Geschlechtskörper in der Interaktion des Alltags immer mehr als Störfaktor empfunden und entsprechend zunehmend ausgegrenzt wurde, aber ob und in welchem Ausmaß eine ,Entsexualisierung' oder Entkörperlichung der Geschlechterkommunikation stattfand, wissen wir nicht genau zu sagen. 23 Etwas deutlicher wird das Bild dort, wo der Körper als obrigkeitliches Objekt der Strafe und Disziplinierung fungierte oder mit dem bekleideten Körper Klaus SchreinerlGerd Schwerhof{ (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 5.) Köln/Weimarl Wien 1995; Sibylle BackmanniHans-Jörg KünastlSabine UllmannlB. Ann Tlusty (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. (Colloquia Augustana, Bd. 8.) Berlin 1998. 21 Siehe Andreas BlauertlGerd Schwerhof{(Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1993. 22 VgL Martin Dinges, Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Regime zur Modeme, in: ZHF 16,1989,409-440. 23 Vgl. die differenzierten, aber auch widersprüchlichen Befunde bei Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1650-1850). (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 127.) Göttingen 1996, 244ff., 547-555, und Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 123.) Göttingen 1996,53-70, 80ff. Die These von der Sexualisierung der Geschlechterbeziehungen im 16. und 17. Jahrhundert bei Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit. Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. PaderbomlMünchen 1999, 126ff., 290f. 20
sozialer Status demonstriert wurde. Hier wie dort wird in Extremformen sichtbar, daß man den Körper als Ort und Zeichen personaler Identität erfuhr. In bei den Fällen läßt sich aber auch nachvollziehen, wie der Körper aus dieser Funktion nach und nach heraustrat. Schandstrafen gerieten in die Kritik der Aufklärung, und die Strafjustiz verzichtete - wenn auch nur sehr langsam nach und nach auf die Vernichtung und Verstümmelung des hingerichteten Leibes. 24 Mit dem Ende der Folter wurde der Körper auch nicht mehr gegen das Bewußtsein als Geisel genommen. 25 Der bekleidete Körper war ebenfalls zunächst Objekt der Verrechtlichung und Reglementierung, bis die normierte Zeichenhaftigkeit des bekleideten ständischen Körpers seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sich in das offene und auf ideosynkratische Differenzbildung angelegte Zeichensystem der Mode transformierte. 26 Als Zeichenträger blieb der Körper gleichwohl von Bedeutung. Nur informierte er fortan nicht mehr über zugeteilte Statuspositionen, sondern über den Stand der individuellen Bemühungen, sich in einer Welt perspektivischer Vielfalt als autonomes Subjekt zu positionieren. Mit welcher Gewalt diese Aufgabe den Körper angreift, zeigt eine Gegenwart, in der Mode sich nicht mehr allein auf Kleidung bezieht, sondern den chirurgischen Eingriff am Körper nahelegt. 27 Zum nur langsamen Wandel der Hinrichtungspraktiken vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1985, 140-144, 172-179; ebenso Karl Wegert, Popular Culture, Crime and Socia] Control in 18th Century Württemberg. (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 5.) Stuttgart 1994, 104f., 118 ff. Generell zur Zurichtung des menschlichen Körpers in der vormodernen Strafpraxis vgl. Wolfgang Schild, Verstümmelung des menschlichen Körpers. Zur Bedeutung der Glieder und Organe des Menschen, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien/Köln/Weimar 1998, 261-281; Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte. 1532-1987. Berlin 2001, bes. 121-146, 259-266. Einen entscheidenden Punkt erreichte die Diskussion um das Verhältnis von Körper und SeelelBewußtsein in der Auseinandersetzung um die Hinrichtung durch die Guillotine; vgl. Kerstin Rehwinkel, Kopflos, aber lebendig? Konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod durch Enthauptung im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Clemens WischerrnanniStefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 17.) Stuttgart 2000, 151-171. Zur aufgeklärten Kritik an den Schandstrafen siehe Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991, 98-108; Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. (Ancien regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 29.) München 1995, 72-95, 240-257; siehe auch Evans, Rituale der Vergeltung (wie Anm. 24), 157-181. 25 Alois Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?, in: Hans Ulrich GumbrechtiKarl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main 1988,666-679, hier 676ff. 26 Martin Dinges, "Von der Lesbarkeit der Welt" zum universalen Wandel durch individuelle Strategie. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44, 1993,90-112. 27 V gl. hierzu Elisabeth Beck-Gernsheim, Körperindustrie und Gentechnologie, in: van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen (wie Anm. 24), 579-596.
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Im 18. Jahrhundert scheint es überhaupt schwierig geworden zu sein, das Selbst als unzerteilte Person zu markieren. Als Schnittpunkt individueller und sozialer Identität, in den sich sozialer Status wie soziale Marginalisierung einschreiben ließen, verlor das Kommunikationsmedium Körper zunehmend seine Funktionalität. Es behielt seine Bedeutung in personenbezogener Kommunikation, für die es den Sonderraum der Geselligkeit, der Familie und die intimisierte Liebes- oder Freundschaftsbeziehung mit spezialisierten und normierten Formen der Interaktionskommunikation gab. Auch dort erfuhr der Körper eine erneute Aufwertung. Seine natürlichen und ungezwungenen Reaktionen wurden zu Zeichen der Aufrichtigkeit und Authentizität. 28 Die emphatische Liebe des 18. Jahrhunderts teilte sich in stürmischer und ungezwungener Körperlichkeit mit, wie Stefan Haas in seinem Beitrag hervorhebt. Je genauer allerdings solche Sonderrefugien der körperbestimmten Kommunikation definiert und abgegrenzt wurden, desto weniger war ,Gesellschaft' von diesen Körper-Räumen aus zu erreichen. 2. Seine Bedeutung scheint der Körper als Kommunikationsmedium dem ersten Augenschein nach fast durchgehend dort behalten zu haben, wo soziale Strukturzusammenhänge sich in Interaktionsgemeinschaften reproduzierten und Vergesellschaftung sich daher als interaktionsnahe Gruppenbildung vollzog. In ihren Selbstbeschreibungen hielt die frühneuzeitliche Gesellschaft zäh an dieser Vorstellung fest, und Stefan Haas formuliert die These, daß sich auch im körperbezogenen Eheritual der Mythos einer über Verwandtschaft zusammengehaltenen Gesellschaft als Familiengemeinschaft aufspüren lasse. Besonders auffällig ist die mediale Bedeutung des Körpers natürlich im Bereich der Religion. Die katholische Barockreligiosität brachte Wallfahrt und Prozessionswesen zu ungekannter Blüte. 29 Der medial präsente Märtyrerkörper begann im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine neue, nicht vorhersehbare Karriere. Nicht nur im Jesuitenorden übernahmen die geschundenen Körper der Missionare und Glaubensopfer, die in auswuchernden Bildprogrammen die barocken Heiligenhimmel der Kirchen und voluminöse Druckwerke bevölkerten, einen Gutteil der ideellen und institutionellen Integration. 3o Im Protestantismus stellte sich schnell heraus, daß die Predigt allein 28 Zur daraus sich ergebenden neuen Bedrohlichkeit des Körpers vgl. Rebekka Habermds, Die Ehre des Fleisches. Entführungen und Verführungen im 18. Jahrhundert: Der Fall Marie Salome von Rheineck, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung V. Frankfurt am Main 1996, 122-149. 29 Zum Beispiel Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster. (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung, Bd. 29.) Paderborn 1991. Allgemein Ronnie Po-chia Hsia, Gegenreformation. Die Welt der katholischen Erneuerung 1540-1770. Frankfurt am Main 2000, 165-229. 30 Peter Burschel, Männliche Tode - weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit, in: Saeculum 50, 1999, 75-97; ders., Paradiese der Gewalt. Marty-
nicht hinreichte, um den Glaubensvollzug als Gemeinschaftserlebnis zu kommunizieren. Sie war aus gemeindlicher Perspektive ja zunächst auch auf Wahrnehmung und nicht auf Kommunikation angelegt. Die Feier des Abendmahls und die sinnlich spür- und erfahrbare Gemeinschaft im Kirchengesang wurden daher prägend für das protestantische Kirthenleben. 31 Noch enger am Körper vollzog sich die Gemeinschaftsbildung religiöser Sondergruppen. Der radikale Pietismus entwickelte hier viel und zum Teil bizarre Phantasie32 , wie man weiß. Die besondere Bedeutung von körperbezogener Gemeinschaftsbildung mag damit zusammenhängen, daß der fragile Erfahrungsraum, den das Transzendente aufspannte, einer sinnlich nachvollziehbaren Vergewisserung im interaktiv präsenten Körper und der ritualisierten Körpergemeinschaft bedurfte. Deswegen ist die entscheidende Frage hier wie in anderen Fällen, wie sich das Verhältnis solcher körperbezogenen Interaktionsgemeinschaften zu anderen Formen sozialer Strukturbildung auf Dauer entwickelte. Für Religion läßt sich auf Schleiermacher verweisen. Er hielt den Gebildeten unter den Religionsverächtern nachdrücklich vor, daß die fromme Erfahrung der Unendlichkeit ohne die expressive Ritualgemeinschaft nicht zu haben sei, und gestand damit ein, daß - wenigstens in der Religion der Gebildeten - andere Medien den Körper und damit wohl auch die Interaktionskommunikation merklich aus dem Vollzug von Religion und ihrer sozialen Konstitution verdrängt hatten. 33 In den Städten der Frühen Neuzeit finden sich vergleichbare Hinweise. Es ist bekannt, daß allgemeine Schwörtage, an denen sich die städtische Bürgergemeinschaft als Kollektiv in physischer Präsenz konstituierte, das 17. Jahrhundert oft nicht überlebten. 34 Allerdings blieb die politische Kultur der Stadt
bis ans Ende des 18. Jahrhunderts durch Interaktion bestimmt. Es ist noch nicht erforscht, wie die auch in der Stadt nachvollzogene Ausdifferenzierung funktionsbezogener Sozialzusammenhänge und der durch sie motivierte Ausbau formaler Organisation auf die Körperlichkeit der Interaktion zurückwirkten. Die Satiren Jean Pauls und Christoph Martin Wielands wie überhaupt die ,Folklorisierung' städtischer Politik im Blick der Aufklärung lassen aber vermuten, daß körperbezogene Kommunikation und ihre Rituale in der Stadt gegen Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls an strukturbildender Bedeutung verloren hatten. 35 Neue Sozialzusammenhänge, wie etwa die moderne Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstanden, verbanden von vornherein Interaktion mit medienvermittelter Kommunikation, die Zeit und Raum übergriff, und zogen aus deren Expansion dann die eigene Entwicklungsdynamik. Die Aufklärungsgesellschaften, die Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts und die universitäre Wissenschaft zeigen alle zusammen, daß sich die Produktion von neuem Wissen vorwiegend in Briefkorrespondenzen und Druckmedien vollzog, während Interaktionskommunikation auf die Lehre spezialisiert und für eine besondere Form wissenschaftlicher Geselligkeit normiert wurde. 36 3. Das führt zum dritten Punkt: Die Ausdifferenzierung der "großen Funktionssysteme" wie Recht, Wirtschaft oder auch Politik in Gestalt staatlicher Herrschaft im Verlauf der Frühen Neuzeit setzte offenkundig fast immer bei körperbezogener Kommunikation an. Das ergab sich aus der Bedeutung von Interaktion für Aufbau und Stabilisierung von formal organisierten Sozialzusammenhängen. Organisation aber war unabdingbar, um funktionale Bezüge gegen Hierarchie als Differenzierungsprinzip durchzusetzen, und sie stärkte die Operationsfähigkeit hierarchischer wie funktionaler Sozialzusammenhänge in ungekanntem Ausmaß.37 Organisation vollzieht sich zwar oft als
rium, Imagination und die Metamorphosen des nachtridentinischen Heiligenhimmels, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, 139-181. 31 Allgemein hierzu Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 1937; Patrice Veit, Das Gesangbuch in der Praxis Pietatis der Lutheraner, in: Hans Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 197.) Heidelberg 1992, 435-454; Hans Preuss, Die Geschichte der Abendmahlsfrömmigkeit in Zeugnissen und Berichten. Gütersloh 1949, 103-180. 32 Barbara Hoffinann, Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main 1996, bes. 98-136; Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hrsg.), Geschichte des Pie~ tismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Göttingen 1995, 107-197, bes. 133-135. 33 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hrsg. v. Günter Meckenstock. BerlinlNew York 1999,134-160. 34 V gl. Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in
Trient, Bd. 11.) Berlin 1997, 183ff.; Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800). StuttgartlNew York 1991, 244 ff. 35 Christoph Martin Wie land, Geschichte der Abderiten. (Sämtliche Werke, Bd. 19/20.) Leipzig 1796, Ndr. Nördlingen 1984; Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Domenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des armen Advokaten F. St. Siebenkäs. (Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller, Abt. 1, Bd.2.) MünchenlWien 1996. Vgl. auch Urs Hafner, Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der Frühen. Neuzeit. (Oberschwaben - Geschichte und Kultur, Bd. 8.) Tübingen 2001,244-259. 36 Klaus Garber (Hrsg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Bd. 1-2. Tübingen 1996; zur Universität vgl. den Überblick vonArno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996, 197-374. 37 V gl. Uwe Schimank, Funktionale Differenzierung, Durchorganisierung und Integration der modemen Gesellschaft, in: Veronika Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden 2001, 19-37.
Interaktion, geht aber nie in ihr auf. Wo sie sich auf sie einläßt, muß sie Interaktion entsprechend konditionieren. 38 Das betraf dann auch den Körper als Medium der Interaktionskommunikation. Er übernahm eine Starterfunktion, trat in der weiteren Systemintegration aber immer mehr in den Hintergrund und wurde unter Umständen sogar zu einem kommunikativen Unsicherheitsoder Störfaktor, gegen den man sich zu schützen suchte. So argumentiert Mark Hengerer in seinem Beitrag. Spätestens mit der Entwicklung eines europaweit vernetzten Bank- und Kreditwesens wurden körpervermittelte Informationen in der Kommunikation der Wirtschaft zu einer Nebensache39 , wenngleich der wirtschaftliche Gesamtzusammenhang bis ans Ende des Ancien Regime nicht verleugnen konnte, daß er auf Herrschaft beruhte, die an der Person und damit auch am Körper ansetzte. Religion vollzog sich in der körpervermittelten Gemeinschaftsbildung, wie wir sahen, aber im Kern des religiösen Kommunikationsgeschehens, in der Kommunikation mit Gott, verlor der Körper nachdrücklich an Bedeutung. Die gesamte protestantische Theologie und Frömmigkeitspraxis sind von dieser Entwicklung geprägt. Im römischen Christentum behielt der Körper als Kommunikationsmedium zwischen Gott und den Menschen im Wunderglauben ein Refugium. 40 Schon seit den Reformen des 16. Jahrhunderts war aber klar, daß gerade diese Körperlichkeit der Gotteskommunikation für die Kirche als formale Organisation ein Problem darstellte, und sie etablierte deswegen ein immer strengeres Regime der Normierung und Kontrolle, mit der die körpervermittelte (Privat-)Offenbarung und Gotteserfahrung soweit eingedämmt werden konnte, daß organisationsgefährdender Wildwuchs nicht mehr zu befürchten war. 41 Am klarsten läßt sich diese Entwicklung aber im Bereich staatlicher Herrschaft nachvollziehen. Herrschaft vermittelte sich am und durch den Körper, insofern sie auf Gewaltanwendung nie verzichten konnte. Macht verlangte als Herrschergewalt immer noch nach Anwesenheit. Auch die Verdichtung von Herrschaft zur Staatlichkeit setzte aufkörpervermittelte Interaktion. Der ältere Begriff des ,Personenverbandsstaates ' brachte dies sprechend auf den Punkt. Sehr viel länger und mit größerer Konsequenz als in den anderen Funktionssystemen wurde dieser Entwicklungspfad hier allerdings auch nach 1500 noch
Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden (wie Anm. 8), 335-387. Markus A. Denzel, La practica della Cambiatura. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Stuttgart 1994. W Rebekka Habermas, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit. (Historische Studien, Bd. 5.) Frankfurt am Main/New York 1991,21-102. B Vgl. Rudolf Schlögt, Sünderin, Heilige oder Hausfrau? Katholische Kirche und weibliche Frömmigkeit um 1800, in: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.), Wunderbare Er~cheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Paderbornl \1ünchenlWien/Zürich 1995, 13-50, hier 40-43.
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fortgeführt. In den seit dem 15. Jahrhundert sich formierenden europäischen Höfen fand die sich festigende Staatlichkeit samt der mit ihr verbundenen Adelsgesellschaft einen Kern, dessen Ausdifferenzierung fast ausschließlich über Anwesenheit und Interaktionskommunikation lief. 42 Man kann von einem gigantischen Testlauf gesellschaftlicher Evolution sprechen, in dem geprüft wurde, wieviel gesellschaftliche Komplexität sich über körpervermittelte Interaktion ausdifferenzieren und koordinieren ließ und wie Interaktionskommunikation dann gestaltet werden mußte. Arlinghaus zeigt in der Entwicklung des städtischen Rechts, daß auch dort der Körper zunächst die Last trug, funktionsbestimmte Sonderräume von Kommunikation abzugrenzen. Erst am Ende des 16. Jahrhunderts verließ man sich nicht mehr ausschließlich auf eine ritualisierte, körperbezogene Situationsdefinition, sondern ergänzte sie durch eine architektonisch markierte Rahmung der Situation. Vergleichbares ereignet sich in der Entwicklung der europäischen Höfe. Wir kennen die Ergebnisse dieser Versuchs anordnung: Nicht nur Kommunikation wurde einer zunehmend genaueren und sich verrechtlichenden Reglementierung ausgesetzt, auch der Körper mußte einem harten Regime der Disziplin unterworfen werden, damit er unter diesen Bedingungen noch als Medium der Kommunikation taugte. Die Fragilität der Konstellation schlug sich nieder in einem anschwellenden Diskurs über die Kommunikation des Hofes, in dem sich eine fein ziselierte Theorie der Körperkommunikation entfaltet - samt aller denkbaren Aspekte der indirekten Kommunikation, der Dissimulation, der simulierenden Täuschung und der trotz allem nicht zu verhindernden ,Lesbarkeit' des Körpers. 43 Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts kam die Leistungsfähigkeit der Interaktionskommunikation in den funktional bestimmten und organisatorisch ausgeformten Sozialbezügen von Herrschaft und Politik an ihre Grenzen. Die Zeremonialwissenschaft im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts reflektierte dann bereits, daß sich die Struktur der Gesellschaft in einer Ordnung der Körper nicht mehr abbilden ließ.44 Soviel Staat war mit körpergebundener Interaktion dann doch nicht zu machen. Politik hatte gelernt, sich zu organisieren, und sie hatte sich in Behörden zurückgezogen. Dort aber wurde durch die 42 Eine Zusammenfassung der Forschung im europäischen Überblick findet sich bei lohn Adamson (Ed.), The Princely Courts of Europe. Ritual, Politics and Culture under the Ancien Regime. London 1999. Ein kommunikationstheoretischer Vorschlag findet sich bei Rudolf Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main 2004, 185-225. 43 Neben der in Anm. 18 genannten Arbeit von Ursula Geitner vgl. Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit. Komplementierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990. 44 Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt am Main 1998.
strenge Ordnung der Entscheidungsverfahren und durch deren zunehmende Verschriftlichung dafür Sorge getragen, daß der Körper als Medium der Kommunikation sich nicht mehr in den Vordergrund spielte, sondern die Rede und das sachkompetente Argument im kollegialen Entscheidungsgremium dorninierten. 45
Abkürzung sverzeichni S Abt. AHR AJSoc ARG Bd., Bde. Beih. BlldtLG CEH ders. dies. DVjs Ed., Eds. FBPG FMSt GG GWU HA HJ HJb Hrsg. JAmH
Ib. JbHistF JEcc1H Jg. JModH JSocH MIÖG
Vgl. hierzu Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3.) Konstanz 2004.
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P&P Rh. RhVjbll Sero SZG T., Tle. TRHS Vols., Vols.
Abteilung The American Historical Review American Journal of Sociology Archiv für Reformationsgeschichte Band, Bände Beiheft Blätter für deutsche Landesgeschichte Central European History derselbe dieselbe, dieselben Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Editor, Editors Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Frühmittelalterliche Studien Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Anthropologie The Historical Journal Historisches Jahrbuch Heraus geber Journal of American History Jahrbuch Jahrbuch der historischen Forschung Journal of Ecc1esiastical History Jahrgang The Journal of Modem History Journal of Social History Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Past and Present Reihe Rheinische Vierteljahrsblätter Serie, Series Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Teil, Teile Transactions of the Royal Historical Society Volume, Volumes
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Abbildungsverzeichnis Beitrag Dte Schneider Abb. 1 (S. 65): Thomas Garzonus, Piazza Vniversale. Titelblatt des Exemplars der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Sign.: QI6/69.
Beitrag Holger Böning Abb. 1 (S. 114): "Relation aus dem Parnasso" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. Abb. 2 (S. 120): "Historische Remarques" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. Abb. 3 (S. 123): "Relationes Curiosae" (Titelblatt). Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen.
Beitrag Wemer Freitag Abb. 1 (S. 155): Votant und Marienbildnis. Votivgabe aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Marienwallfahrt Telgte. Katholische Kirchengemeinde S1. Clemens, TeIgte.
Beitrag Christopher R. Friedrichs Abb. 1 (S. 160): Das Augsburger Rathaus. Ausschnitt aus dem Kupferschnitt von Heinrich lonas Ostertag, 1711. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Abb. 2 (S. 169): Pieter de Hooch, Die Ratsstube der Bürgermeister im Rathaus zu Arnsterdam. Ölgemälde um 1664/66. © Museo Thyssen-Bomemisza, Madrid. Abb. 3 (S. 170): Hans von Hemßen, Der Audienzsaal im Lübecker Rathaus. Ölgemälde, 1625. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck. Abb. 4 (S. 171): Eine Sitzung des Collegios in der Sala deI Collegio im Dogenpalast zu Venedig gegen Ende des 17. Jahrhunderts, von einem unbekannten Maler. Museo Civico Correr, Venedig.
Beitrag Dagmar Freist Abb. 1 (S. 204): Henry Peacham, The World Is Ruled & Govemed by Opinion. Radierung Parthey's Wen Hollar, 1641. British Museum, Department of Prints and Drawings, 272. Abb. 2 (S. 207): Zeitungsverkäuferin in London. Flugblatt Ende des 17. Jahrhunderts. Bodleian Library, Oxford, Douce Collection Portfolio 139, n. 250. Abb.3 (S. 223): lohn Taylor, A Swarme of Sectaries and Schismatiqves, 1641 (Titelblatt) ... British Library, London, BL E.158.1.
Beitrag Martin Stuber Abb. 1 (S.314): Emanuel Handmann, Wilhelm August von Holstein-Gottorp (17531774),1769. Schloß Hindelbank. Abb. 2 (S. 320): Hennan Boerhaave, Sermo Academicus De Comparando Certo in Physicis, 1715 (Titelblatt). Abb. 3 (S.327): Georg Daniel Heumann, Göttinger Studenten-Stube, Kupferstich um 1750. Niedersächsisches Staatsarehiv.
Graphik 1 (S. 318): Hallers früher Briefwechsel 1724-1741: Orte der Kontaktaufnahme.
Autorenverzeichnis
Karte 1 (S. 317): Hallers Lehr- und Wanderjahre (1723-1728). Karte 2 (S. 321): Hallers Briefwechsel mit Boerhaave Schülern (1725-1777). Karte 3 (S. 323): Hallers Briefwechsel mit Paris (1736-1777). Karte 4 (S. 325): Hallers Briefwechsel mit seine~' Schülern (1732-1777). Karte 5 (S. 331): Haller als Vermittler von Stellen.
Beitrag Jöm Sieglerschmidt Abb. 1 (S. 456): Rodolphe Toepffer, Die beständigen Züge (Zeichnung), 1845. Aus: Ernst H. Gombrich, Maske und Gesicht. Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst, in: ders./Julian HochberglMax Black (Hrsg.), Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1977, 10-60, hier 34.
Beitrag Franz-Josef Arlinghaus Abb. 1 (S. 478): Miniatur aus der Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Aus: Wolfgang Schild (Hrsg.), Die Volkacher Halsgerichtsordnung von 1504. Rothenburg ob der Tauber 1997, 19. Abb. 2 (S. 486): Titelholzschnitt "Neu Formular und Kanzleibuch", Frankfurt 1571. Aus: Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924, 12 Abb. 8. Abb. 3 (S. 489): Titelkupfer der Gerichtsordnung der Grafschaft Nassau von 1535. Aus: Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. 2. Aufl. Jena 1924, 53 Abb. 50.
Beitrag Mark Hengerer Abb. 1 (S. 546): Cartoon von Oswald Huber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 1. 2001.
Dr. Franz-Josef Arlinghaus, Universität Kassel, Fachbereich 05: Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel Prof. Dr. Wolfgang Behringer, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität des Saarlandes, Postfach 15 11 50,66041 Saarbrücken Prof. Dr. Holger Böning, Institut für Deutsche Presseforschung, Universität Bremen, Postfach 33 01 60,28359 Bremen Prof. Dr. Johannes Burkhardt, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Prof. Dr. Sabine Doering-Manteuffel, Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Prof. Dr. Wemer Faulstich, Institut für Angewandte Medienforschung, Universität Lüneburg, 21332 Lüneburg Prof. Dr. Dagmar Freist, Fakultät IV, Institut für Geschichte, Universität 01denburg, 26111 Oldenburg Prof. Dr. Wemer Freitag, Historisches Seminar, Abteilung für Westfälische Landesgeschichte, Universität Münster, Domplatz 20-22, 48143 Münster Prof. Dr. Christopher R. Friedrichs, Department of History, University of British Columbia, 1297 - 1873 East Mall, Vancouver, BC, Canada V6T lZI Prof. Dr. Stephan Füssel, Institut für Buchwissenschaft, Philosophicum, Universität Mainz, Welderweg 18, 55099 Mainz Prof. Dr. Gudrun Gersmann, Historisches Seminar, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Prof. Dr. Michael Giesecke, Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Erfurt, Postfach 307, 99006 Erfurt Prof. Dr. Stefan Haas, Department of Germanic Languages and Literatures, University ofToronto, 50 StJoseph Street, Toronto Ontario M5S 114, Canada Prof. Dr. Mark Häberlein, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Bamberg, Fischstraße 5/7, 96045 Bamberg Dr. Maria Heidegger, Fronhausen 436, A-6414 Mieming Dr. Dietmar Heil, Greftingerstraße 7, 93055 Regensburg Dr. Mark Hengerer, FB Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz, Fach D 5, 78457 Konstanz Dr. ChristI Kamehm, Rosa-Aschenbrenner-Bogen 11, 80797 München Prof. Dr. Maximilian Lanzinner, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Bonn, Konviktstraße 11, 53113 Bonn
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Autorenverzeichnis
Dr. Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich, KarlSchmid-Straße 4, CH-8006 Zürich Prof. Dr. Michael North, Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit, Universität Greifswald, Domstraße 9a, ~7 489 Greifswald Dr. Regina Pörtner, University of Wales Swansea, History Department, James Callaghan Building, Singleton Park, UK-Swansea SA2 8PP Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Konstanz, Fach D 5, 78457 Konstanz PD Dr. Ute Schneider, Institut für Buchwissenschaft, Philosophicum, Universität Mainz, Weiderweg 18, 55099 Mainz Prof. Dr. Winfried Schulze, Historisches Seminar, Abt. Frühe Neuzeit, Ludwig-Maximilians-Universität, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden, Heimholtzstraße 10,01069 Dresden PD Dr. Jöm Sieg1erschmidt, Hainstraße 20, 67435 Neustadt Dr. Martin Stuber, Historisches Institut, Universität Bern, Länggassstraße 49, CH-3000 Bern 9 Prof. Dr. Silvia Serena Tschopp, Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg, Universitäts straße 10, 86135 Augsburg Dr. Christine Werkstetter, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg, Universitätsstraße 10, 86135 Augsburg