Astrid Lorenz Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien
Astrid Lorenz
Verfassungsänderungen in etablierten De...
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Astrid Lorenz Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien
Astrid Lorenz
Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien Motivlagen und Aushandlungsmuster
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Moerlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15667-5
Inhalt
Einleitung ............................................................................................................................... 7 1 1.1 1.2 1.3 1.4
Verfassungsänderungen – ein erster Zugang .................................................... 13 Verfassungen, Verfassungsdemokratien, Verfassungsänderungen........................ 13 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick............................................... 19 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick ............................... 28 Zwischenbilanz....................................................................................................... 36
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl.................. 39 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen ....................... 39 Untersuchungsdesign.............................................................................................. 59 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen ................................................... 66 Auswahl der zu untersuchenden Fälle.................................................................... 84 Zwischenbilanz....................................................................................................... 90
3
Der Start der individualistischen Phase: Dominanz „normalpolitischer“ Eigeninteressen und Änderungsminimalismus in komplexen Strukturen......................................... 93 Kanadisches Fallbeispiel (1979) ............................................................................ 93 Griechisches Fallbeispiel (1995) .......................................................................... 104 Irisches Fallbeispiel (2001) .................................................................................. 114 Deutsches Fallbeispiel (1995) .............................................................................. 124 Zwischenbilanz..................................................................................................... 136
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Die Fortsetzung der individualistischen Phase: Abwehr, Positionsformierung und Bemühung des Initiators um Kooperationsbereitschaft des (nächst-) wichtigsten Akteurs .................. 147 Kanadisches Fallbeispiel (1979-1992) ................................................................. 147 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)................................................................. 161 Irisches Fallbeispiel (2001) .................................................................................. 178 Deutsches Fallbeispiel (1995-1996)..................................................................... 190 Zwischenbilanz..................................................................................................... 202 Die kooperative Phase: Veränderte Entscheidungsperzeption, soziales Handeln und Selbstläuferprozesse...................................................... 217 Kanadisches Fallbeispiel (1992-1998) ................................................................. 217 Griechisches Fallbeispiel (2000) .......................................................................... 228 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)......................................................................... 241 Deutsches Fallbeispiel (1996-1997)..................................................................... 258 Zwischenbilanz..................................................................................................... 269
6
Inhalt
6
Die kompetitive Phase: „Fehlerkorrektur“ durch die Kollektivakteure, Kontextsensitivität und Verschiebung von substanziellen zu nichtsubstanziellen Nutzenkalkülen ................................................................. 281 Kanadisches Fallbeispiel (1998) .......................................................................... 281 Griechisches Fallbeispiel (2001) .......................................................................... 290 Irisches Fallbeispiel (2002) .................................................................................. 297 Deutsches Fallbeispiel (1997) .............................................................................. 306 Zwischenbilanz..................................................................................................... 314
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7
7.4 7.5 7.6
Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns – Erkenntnisse, Modell und Test.......................................................................... 321 Beteiligte und aushandlungsrelevante Akteure .................................................... 321 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen......... 327 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell........................................................................................................ 334 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen................................ 345 Verfassungspolitik als „normale Politik“? ........................................................... 354 Zwischenbilanz..................................................................................................... 359
8
Resümee und Ausblick....................................................................................... 361
7.1 7.2 7.3
Anhang ............................................................................................................................... 377 Abbildungsverzeichnis ...................................................................................................... 405 Tabellenverzeichnis........................................................................................................... 407 Literatur- und Quellenverzeichnis .................................................................................. 411
Einleitung
Verfassungen sind Macht-Ordnungen. Sie befugen und bändigen, verleihen Rechte und setzen Grenzen – den Bürgern ebenso wie dem Staat. Ihre Kombination mit dem demokratischen Prinzip regelmäßiger Wahlen gilt als intelligenteste Methode, das menschliche Zusammenleben zum Vorteil aller langfristig zu organisieren und heterogene Interessen in einer Gemeinschaft zu integrieren. So einleuchtend die Relevanz von Verfassungen, so wenig wissen wir doch über ihr Schicksal nach der Verabschiedung. Die Politikwissenschaft fiel offensichtlich auf ihre eigenen Deutungen herein: Es war ja sie selbst, die seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nach überstandenen Weltkriegen und der Anomie des Neuanfangs die Systeme des Westens als besonders fest gefügt bewertete und im Eindruck der Blockkonfrontation den hohen Respekt vor den Verfassungen als wesensbestimmend für die Demokratie. Als die Akteure längst flügge geworden waren und die Verfassungen bereits viel häufiger änderten, als angenommen, banden dann der weltumspannende formale „Triumph des Konstitutionalismus“ (Kay 2001: 16; Herrmann/Schaal/Vorländer 2003) und die Debatte um eine europäische Verfassung die Aufmerksamkeit und lenkten von klassisch-nationalen Verfassungsentwicklungen ab. Solche klassisch-nationalen Verfassungsänderungen können als größere Reformen öffentliche Aufmerksamkeit erregen, wie die deutsche Föderalismusreform im Jahr 2006. Sie können sich sogar in der Einführung einer neuen Verfassung manifestieren, sofern diese die Identität bzw. Legitimationsgrundlage des politischen Systems nicht völlig abschafft (denn dann wäre von einer Revolution zu sprechen). Sie können aber auch marginal erscheinen und trotzdem als „steter Tropfen den Stein höhlen“, also in ihrer Summe unbemerkt Inhalt und Funktionsweise einer Verfassung erheblich verändern. Sie sind aber nicht nur in normativer und funktionaler Hinsicht bedeutungsvoll. Weil etablierte Demokratien durch das Vorhandensein fest gefügter, eben etablierter, Strukturen definiert und Verfassungen theoretisch durch erhöhte Mehrheitserfordernisse vor Eingriffen geschützt sind, stellt sich die rationalistisch interessante Frage, warum Änderungen der politischen Kerninstitutionen dann trotzdem regelmäßig auf der Tagesordnung stehen. Welche Motive stehen hinter ihnen, warum stimmen große Mehrheiten Eingriffen in die Macht-Ordnung zu? Die vorliegende Analyse1 will diese Fragen beantworten und konzentriert sich dabei gezielt nicht auf das besonders Augenfällige, auf große Reformen, symbolisch hochaufgeladene, problematische Verfassungsänderungen, konstitutionelle „Schöpfungsmomente“ oder die politisch einflussreichsten Staaten. Im Fokus steht vielmehr die Aushandlung von Verfassungsänderungen in ihrer Breite in Demokratien in ihrer Breite – mit anderen Worten: die „normale Verfassungspolitik“ in etablierten Demokratien. Damit unterscheidet sich die Untersuchung vom größten Teil der politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Verfassungspolitik. Deren Konzentration auf besondere Ereignisse, wichtige Staaten und neue 1
Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Unterstützung des diesem Buch zugrunde liegenden Forschungsprojekts.
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Einleitung
Herausforderungen ist typisch für die Politikwissenschaft insgesamt, die überproportional Krisen, Kriege und Konflikte untersucht. Eine solche Ausrichtung der Forschung ist sehr nützlich, um ihre Funktion als Anregerin für praktische Problemlösung zu erfüllen, doch kann die Summe individuell nützlicher und überzeugend angelegter Einzelstudien die Realität in etablierten Demokratien durchaus verzerrt abbilden. Es bedarf auch der systematischen Beobachtung des verfassungspolitischen Alltags, um ein Verständnis für den Stellenwert der Befunde solcher Analysen zu erlangen. Und es bedarf ihrer, um eine mögliche Problematik des scheinbar Unproblematischen überhaupt erkennen zu können. Da die empirisch-vergleichende Erforschung von Verfassungsänderungsprozessen in etablierten Demokratien noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Studie teilexplorativ angelegt. Sie will ausgehend von Erkenntnissen der Verfassungsforschung im engeren und der politikwissenschaftlichen Forschung im weiteren Sinne schrittweise etwas Neues entwickeln: Aussagen mittlerer bis größerer Reichweite generieren und ein Erklärungsmodell entwerfen. Leitend sind dabei drei Interessen: Erstens sollen Muster der Initiierung und Aushandlung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien aufgedeckt werden, die das verfassungspolitische Ergebnis beeinflussen, zweitens werden Aussagen zur Rationalität des Handelns angestrebt. Drittens will die Studie, nachgeordnet, prüfen, ob die Verfassungspolitik in etablierten Demokratien dem Idealtypus deliberativ-demokratischer Verfassungspolitik oder dem Typus der „normalen Politik“ entspricht. Das erste Interesse bezieht sich auf die empirischen Prozesse der Aushandlung von Verfassungsänderungen und kann auf konkrete Einzelfragen heruntergebrochen werden: Was motiviert Akteure in etablierten Demokratien dazu, verfassungspolitisch aktiv zu werden? Wie reagieren die anderen Akteure? Warum und wie werden die Aushandlungsprozesse trotz unterschiedlicher Positionen der Beteiligten in Gang gehalten? Wer sind dabei die Schlüsselakteure? Wie komplex und tiefgründig sind ihre Argumentationen? Bestimmen letztlich typische Interessen, Wahrnehmungs- und Verlaufsmuster das Zustandekommen und die inhaltliche Ausgestaltung von Verfassungsänderungen? Dem zweiten Interesse, die Rationalität des verfassungspolitischen Handelns genauer zu qualifizieren, kommt die Untersuchung dadurch nach, dass sie zentrale Annahmen des Rationalwahlansatzes, insbesondere das Vorhandensein stabiler und klarer Präferenzen, über die Aushandlungsprozessse hinweg prüft. Sie geht dabei von einem Idealtypus des strikten Rationalismus aus, der auf einen konkreten Aushandlungsgegenstand und kurze Entscheidungswege fokussiert, stellt diesem konkurrierende Aussagen der sozialpsychologischen Forschung zum Verhalten von Akteuren gegenüber und testet auch deren empirische Bedeutung. Darüber hinaus wird erfasst, ob die Aushandlungsbeteiligten dauerhaft nur für sie ertragreiche Verfassungsänderungsvorhaben unterstützten, inwieweit nicht auf das konkrete Vorhaben gerichtete (also nichtsubstanzielle) Kalküle eine Rolle spielen und ob die Delegation der Aushandlungen an Vertreter der Kollektivakteure zu Präferenzverschiebungen beiträgt. Mit Blick auf das dritte Kerninteresse hinterfragt die Studie, ob sich die Verfassungsänderungspolitik von der „normalen Politik“ unterscheidet. Sie schaut dabei u.a. auf die Ziele der Akteure, die Aushandlungsarena und den Aushandlungsmechanismus. Reflektieren die Akteure die verfassungspolitische Bedeutung ihres Tuns? Dominieren auf das Gemeinwohl gerichtete Erwägungen und deliberative Konsensfindung, wie beim Idealtypus des demokratischen Konstitutionalismus, oder Eigeninteressen und Tauschhandel, wie beim Idealtypus der „normalen Politik“?
Einleitung
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Die Studie basiert auf einem akteur- und interaktionsorientierten Erklärungsansatz, der andere Variablen weitgehend ausblendet, ohne ihre potenzielle Bedeutung grundsätzlich zu bestreiten. Seine Wahl ist dadurch begründet, dass die politischen Akteure in einem politischen System unter ähnlichen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und internationalen Bedingungen unterschiedliche Interessen verfolgen, dass sie mit ihrem Handeln die Formulierung von Verfassungsänderungsentwürfen und deren Durchsetzung ganz konkret beeinflussen, dass sie den institutionellen Rahmen ihres Handelns verändern und Institutionen innerhalb bestimmter Grenzen so benutzen können, wie es ihnen passt. So wurde in der Bundesrepublik gemäß den Vereinbarungen im Einigungsvertrag eine „Gemeinsame Kommission“ von Bundestag und Bundesrat zur Vorbereitung von Grundgesetzänderungen eingesetzt, deren personelle Besetzung und Funktionsweise nicht legitimiert war (Hennis 1993), ähnliches galt für die 2003 von Bundestag und Bundesrat eingesetzte Föderalismuskommission (Benz 2005a).2 Die französische Verfassungsgeschichte liefert bis in die Gegenwart hinein zahlreiche Beispiele dafür, wie sich die Akteure Verfassungsinstitutionen designten – bei irrtümlichen Wirkungsannahmen und politischer Konfusion (Elster 2003). Die Macht des US-Kongresses bei der Regulierung des Außen- und Binnenhandels überschreitet deutlich den Verfassungstext und die Ursprungsintention (Henkin 1994: 45). In Polen sollte die nachsozialistische Verfassung 1997, obwohl nicht obligatorisch, durch ein Referendum legitimiert werden, aber als bei einer niedrigen Referendumsbeteiligung weniger als 20 Prozent der Bürger für ihre neue Verfassung stimmten, bewerteten die politischen Akteure den Vorsprung vor den Nein-Stimmen als ausreichende Legitimation, weil das Ergebnis ihren Interessen entsprach.3 Im Zuge der Ratifizierung der europäischen Verträge bis hin zur europäischen Verfassung sprachen sich Politiker in den EU-Staaten aufgrund eigener Erwägungen und in Beobachtung der Ereignisse im Ausland unabhängig von den jeweiligen nationalen Regelungen mal für, mal gegen entsprechende Referenden aus (u.a. Ritzenhofen 2005); die institutionellen Vorgaben wurden dabei klar als veränder- oder auslegbar betrachtet. Was hier nur anekdotisch belegt wurde, soll in der Studie systematisch empirisch geprüft und differenziert werden. Ihre Kerninteressen und der akteur- und interaktionsorientierte Ansatz machen beim derzeitigen Forschungsstand eine qualitativ-vergleichende und teilinduktive Analyse erforderlich. Sie ist annahmen- und kriterienbasiert angelegt, verzichtet aber in Teilen auf spezifische Hypothesen und ist hier offen für „unvorhergesehene“ Wirkungszusammenhänge. Dies legt aus forschungspraktischen Gründen einen Vergleich nur weniger Fälle nahe. Da die Untersuchung generelle Aussagen zu Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien anstrebt, repräsentieren die ausgewählten Fälle die Vielzahl der Themen und die inhaltliche Reichweite von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien und sind entsprechend der Konkordanzmethode unter sehr unterschiedlichen institutionellen und Kontextbedingungen abgelaufen. Die trotz dieser Institutionen- und
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Beide bereiteten, ergänzt durch exklusive informelle Runden, umfangreiche Verfassungsänderungen vor, die von Bundestag und Bundesrat im Wesentlichen so angenommen wurden (Kapitel 2.3.). Die gültig gebliebenen Teile der Verfassung von 1952 sahen parlamentarisch beschlossene Verfassungsänderungen vor, Art. 19 der provisorischen „Kleinen Verfassung“ von 1992 erlaubte aber Referenden bei einem besonderen staatlichen Interesse. Das Ergebnis war nur dann bindend, wenn eine Mehrheit der Wahlberechtigten vorliegt. Nur in diesem Falle wollte Präsident Kwaniewski die Verfassung unterzeichnen. Im Referendum am 25.05.1997 stimmten 52,7 Prozent der Wähler der Einführung der Verfassung zu, aber die Wahlbeteiligung lag bei nur 42,9 Prozent. Trotzdem setzte Kwaniewski sie in Kraft.
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Einleitung
Umfeldvarianzen auftretenden Gemeinsamkeiten im verfassungspolitischen Verhalten der Akteure begünstigen offensichtlich Verfassungsänderungen in Demokratien. Die in die Vergleichsmethodik eingebundenen Einzelfallstudien sind in zweifacher Hinsicht wichtig: Zum einen haben sie einen systematisch-konzeptionellen Stellenwert, weil sie inhaltlich zur Erarbeitung der Befunde und eines Modells von Verfassungsänderungsprozessen hinführen und dem Leser Transparenz auf dem schrittweisen Weg dorthin gewährleisten. Zum anderen bieten sie für sich genommen Erkenntnisse zur Aushandlung konkreter Verfassungsänderungen, über die es in dieser Form noch keine politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt, und bilden die Komplexität und Eigenheit der Prozesse wenigstens im Ansatz ab. Sie erhalten daher in der Darstellung ihren eigenen Raum und können jeweils auch losgelöst von der übergeordneten Fragestellung als Fallstudien zu einem bestimmten politischen Problemkomplex gelesen werden. Das erste Buchkapitel führt in die Thematik von Verfassungsänderungen ein. Es skizziert, warum sich Verfassungen verbreiteten, wie sich die normativen Ansprüche an Verfassungspolitik wandelten und worin sie heute bestehen. Es präsentiert systematisches empirisches Vergleichswissen zu Verfassungsänderungen in allen 39 etablierten Demokratien mit mehr als 1 Million Einwohnern und ohne bewaffnete Konflikte im Zehnjahreszeitraum 1993 bis 2002, gibt einen kritischen Überblick über theoretische Ansätze zur Erklärung von Verfassungsänderungen und verortet den für die Studie gewählten akteur- und interaktionsorientierten Untersuchungsansatz in einem der Wahlforschung entlehnten verfassungstheoretischen „Kausalitätstrichter“. Das zweite Kapitel beschreibt die Vorannahmen und das Forschungsdesign. Die Untersuchungskriterien der Fallstudien orientieren sich an der rationalistischen Forschung, ergänzt um Überlegungen im Hinblick auf funktionale Differenzierung, die Rückfallposition nicht-kollektiver Entscheidungsfindung und mögliche Effekte sozialen Handelns. Die Anwendung des selten genutzten qualitativen Vergleichs weniger sehr unterschiedlicher Fälle wird dann begründet und durch explorative Untersuchungen zum Einfluss institutioneller und Kontextvariablen auf die Häufigkeit und inhaltliche Reichweite von Verfassungsänderungen vorbereitet. In konventionellen quantitativen Verfahren werden Daten zu den 39 etablierten Demokratien für den Untersuchungszeitraum 1993 bis 2002 ausgewertet. Auf Basis der Befunde wird eine zweidimensionale Matrix politischer Systeme entwickelt, die der Auswahl von Fällen für die eigentliche Tiefenanalyse verfassungspolitischer Aushandlungsprozesse dient. Wichtigstes Selektionskriterium für die Länderauswahl ist die Nähe zum Mittelwert der Verfassungsänderungen des jeweiligen Quadranten; bei mehreren infrage kommenden Staaten wird außerdem eine möglichst große Varianz bei weiteren Variablen gesichert, die als potenziell einflussreich für die Verfassungsänderungspolitik infrage kommen. Aus allen Verfassungsänderungen, die in diesen Staaten stattfanden, werden dann vier gewählt, die bezüglich Thema und inhaltlicher Reichweite variieren und die gleichzeitig als einigermaßen repräsentativ für die jeweiligen nationalen verfassungspolitischen Langzeitentwicklungen gelten können. Die Kapitel 3 bis 6 widmen sich jeweils verschiedenen Phasen der Aushandlungsprozesse, die sich hinsichtlich der Interaktionsorientierung der Akteure und des Aushandlungsstatus’ deutlich voneinander unterscheiden. Kapitel 3 beleuchtet die Initiierung verfassungspolitischer Prozesse als Ausgangspunkt der individualistischen Phase. Sie geht nicht zwangsläufig mit der formalen Einbringung einer Änderungsvorlage im Parlament einher. Im Zusammenhang mit der Initiative werden auch die politischen und institutionellen Prob-
Einleitung
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lemhorizonte der verfassungspolitischen Aktivitäten skizziert, wie sie sich den Akteuren darstellten. Die nachfolgenden Kapitel 4 bis 6 richten sich auf den weiteren Verlauf der individualistischen Phase, auf die anschließende kooperative sowie auf die kompetitive Aushandlungsphase. Der abschließende Abschnitt jedes Kapitels fasst jeweils die Gemeinsamkeiten der Befunde zusammen, wobei all diese Zwischenbilanzen einer ähnlichen Grundstruktur folgen. Kapitel 7 führt die empirischen Befunde der Studie zusammen und bewertet sie mit Blick auf deren Kerninteressen. Es resümiert zunächst die an den Aushandlungsprozessen beteiligten Akteure sowie die Stärke und Art ihrer Einflussnahme. Danach diskutiert es die Rationalität des Handelns der Akteure. Den Prozesscharakter verfassungspolitischer Aushandlungen, die nur bedingt formal-institutionellen Vorgaben folgen und die sich nicht ohne Weiteres durch strikt-rationalistische vorhabenbezogene Annahmen erklären lassen, gibt das nachfolgende Prozessmodell wieder, das die in den Phasenkapiteln herausgearbeiteten Merkmale aufnimmt. Der anschließende Abschnitt prüft die empirisch gewonnenen Aussagen zur Überwindung der Schwellen von einer zur anderen Interaktionsorientierung anhand verfassungspolitischer Prozesse, die nicht in Verfassungsänderungen mündeten. Schließlich wird bewertet, inwiefern der verfassungspolitische Alltag in etablierten Demokratien dem Idealtypus demokratischer Verfassungspolitik entspricht. Das Schlussresümee ist darauf gerichtet, die Befunde der Studie in einen größeren wissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Es fasst noch einmal jene Ergebnisse zusammen, die verbreitete verfassungs- und institutionentheoretische Auffassungen zu Verfassungen und zur Verfassungspolitik infrage stellen, und diskutiert ihre gemeinsame Bedeutung für die Konzeptionalisierung von Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien. Darauf aufbauend, entwickelt es Vorschläge für eine systematisch und interdisziplinär angelegte weitere Forschung zum Verfassungswandel in Demokratien.
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Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Dieses Kapitel bereitet die Hauptanalyse des Buches vor, indem es deren spezifischen Zugang zur Problematik begründet: Es umreißt zunächst aus politikwissenschaftlicher Sicht Sinn und Funktionen von Verfassungen, ihr normativ-konzeptionelles Verhältnis zur Demokratie, den Wandel der inhaltlichen Ansprüche an Verfassungen und Verfassungspolitik sowie den Begriff der Verfassungsänderung. Es gibt dann einen Überblick über die Häufigkeit, inhaltliche Reichweite, thematische Ausrichtung, regionale und temporale Verteilung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien. Beide Abschnitte unterstreichen die Relevanz der Forschung zur Verfassungsänderungspolitik. Der nachfolgende Teil systematisiert die Ansätze zur Erklärung von Verfassungsänderungen und bewertet ihren Nutzwert hinsichtlich der die Studie anleitenden Kerninteressen. 1.1 Verfassungen, Verfassungsdemokratien, Verfassungsänderungen Verfassungen sind die normativ-institutionellen Kerne etablierter Demokratien. Sie enthalten die wichtigsten Regeln, Verfahren und Prinzipien, die die Einrichtung, Organisation und Ausübung der Staatsgewalt sowie das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum bestimmen. Zwar gab es Verfassungen im allgemeinen Verständnis der „Ordnung des Politischen“ (Preuß 1994: 9) bereits zuvor, aber als normativ-regulierende Instrumente zur Absicherung eines angenommenen Gemeinwohls gegenüber Partikularinteressen und Machtmissbrauch – die aber trotzdem keine konkrete Politik vorschreiben – verbreiten sie sich erst infolge der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts (Böckenförde 1991: 32, Grimm 1994: 11f.; Glaeßner/Reutter 2001: 15). Der politikwissenschaftliche Zugang zu Verfassungen ist im Vergleich zum rechtswissenschaftlichen dadurch gekennzeichnet, dass er sie v.a. als Resultate von politischen Auseinandersetzungen und Prozessen und in ihrer Bedeutung für die politische, soziale und ökonomische Gestaltung von Gemeinwesen betrachtet und weniger als gesetzte, gewissermaßen „von oben“ gegebene Normenschreine. In dieser Perspektive war die Triebkraft für die Verbreitung von Verfassungen das Misstrauen gegenüber den Machtinhabern und einer widrigen, unkontrollierbaren Umwelt. Veränderte politische und ökonomische Kräfteverhältnisse, gesellschaftliche Emanzipationsprozesse sowie der rationalistische Wunsch nach der Standardisierung interpersoneller Beziehungsmuster im sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen Raum schufen die Voraussetzung dafür, dass sich Verfassungen als Instrumente der Konfliktprävention und -kanalisierung durchsetzten. Um zu verhindern, dass Menschen die ihnen anvertraute Macht missbrauchen, wurden in ihnen restriktive, sanktionsbewehrte Spielregeln festgelegt, an die sich alle Bürger halten mussten, wofür sie im Gegenzug bestimmte verbriefte Rechte erhielten. Konstitutionalistische Leitprinzipien waren und sind Machtbeschränkung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz (Castiglione 1996; Preuß 1996; Murphy 1993; Häberle 1996: 66; Venizelos 2003: 690; Böckenförde 1991: 29-52; Hart 2001).
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1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Auch wenn diese Prinzipien heute leicht mit Demokratie assoziiert werden, so waren und sind doch andere konstitutionelle Regimetypen denk- und beobachtbar (Walker 1997; Arato 1994: 168). Demokratie wurde zunächst mit unregulierter Mehrheitsherrschaft bzw. Selbstregierung durch das Volk in kleinen Gemeinwesen gleichgesetzt (z.B. Federalist papers 10, 14, 51). So verstanden, bedurfte sie im Idealfall konstitutioneller Schutzmechanismen gar nicht, weil einerseits Bürger keine Tyrannen in politische Ämter wählen, sie im Falle einer Tyrannei abwählen bzw. absetzen und weil andererseits die politische Mehrheit auf Repression von sich aus verzichtet, da sie die Rache ihrer Gegner fürchtet, sollten diese künftig die Mehrheit erlangen (Murphy 1993; Rosenfeld 1994b). Aufgrund ihrer Skepsis gegenüber dieser Argumentation plädierten etwa Alexander Hamilton, Thomas Madison und James Jay in ihren Artikeln zur Verteidigung des Entwurfs der US-Verfassung, den „Federalist Papers“, für eine Verfassungsrepublik anstelle einer Demokratie (Levinson 2006). Dass sich in der Praxis das Misstrauen als angebracht erwies, förderte die Verbreitung des Machteinhegungs- und Befriedungsinstruments Verfassung, die stärker vonstatten ging als der „Export“ des Befriedungsinstruments Demokratie. Seit Verabschiedung der ersten Staatsverfassungen in den USA am 17.09.1787, in Polen am 03.05.1791 und in Frankreich am 03.09.1791 verbreitete sich der Trend zur derartigen formellen Fixierung allgemein verbindlicher Regeln weltweit (Fenske 2001; Reinhard 1999). Inzwischen verfügen alle souveränen Staaten über Verfassungen, Verfassungsgesetze oder Übergangsverfassungen. Davon ist nur die des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland nicht vollständig schriftlich kodifiziert (AA o.J.; CIA 2007; Tschentscher o.J.).3 Obwohl in vielen Staaten noch nicht einmal die Grundprinzipien des Konstitutionalismus voll respektiert werden, zählt die Installation einer Verfassung doch heute zum typischen Instrumentarium einer Selbstdefinition als Staat bzw. politisches Gemeinwesen. Von einem Teil der (zumal deutschen) Verfassungslehre wurde Staatlichkeit umgekehrt als Grundvoraussetzung für die Verabschiedung einer Verfassung erachtet (Böckenförde 1991: 29; Isensee 1995; Kirchhof 1995; Schmitt 1970: 3), bis die verfassungstheoretische Auseinandersetzung mit der Idee einer EU-Verfassung zu neueren Überlegungen führte. Im Laufe der Zeit wandelten sich die Rahmenbedingungen des Konstitutionalismus und die normativen Ansprüche an Verfassungen und an die Verfassungspolitik erheblich. Nach den Vertragstheorien des 17. Jahrunderts gingen der Liberalismus des 18., die demokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, das Konzept des Wohlfahrtsstaates und die qualitative Verengung des Verständnisses einer „echten“, modernen, reifen Demokratie im 20. Jahrhundert deutlich in die Konzeption von Konstitutionalismus ein (Chambers 2001: 63). Schon der liberale Konstitutionalismus, der sich besonders auf den Schutz des einzelnen Bürgers vor der Volkssouveränität richtete (Preuss 2003: 1), hatte sich dafür stärker dem Konzept der Gewaltenteilung geöffnet. Er spezifizierte also das zunächst neutrale Prinzip der Machtbegrenzung.4 Für Carl J. Friedrich (1937) beispielsweise war Gewaltenteilung neben der Rechtsstaatlichkeit bereits das zweite Hauptmerkmal von Konstitutionalismus. Konzeptionell weiterentwickelt (z.B. Loewenstein 1959; Hermens 1964) und verfassungsrechtlich umgesetzt (Johnson 1993) wurde dieser Gedanke in gezielter Abwendung 3 4
Das Gleiche gilt für Guernsey, Jersey und die Isle of Man, die aber als Besitztümer der englischen Krone einen verfassungsrechtlichen Sonderstatus aufweisen. Im weiteren Sinne wurzelte Gewaltenteilung schon in der Antike (Vile 1967: 2), Bellamy (1996: 24) sieht sie als Doktrin spätestens seit der französischen Revolution verbreitet. Hier wird aber ein engeres Begriffsverständnis genutzt.
1.1 Verfassungen, Verfassungsdemokratien, Verfassungsänderungen
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von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Dass sämtliche etablierte Demokratien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vorteile beider Freiheitskonzepte zu verbinden suchen, deutete auf einen möglichen Wirkungszusammenhang zwischen Demokratie und Konstitutionalismus hin, den seither die meisten Demokratietheorien zu untermauern suchen. Ihre grundsätzliche Argumentation lautet: Demokratien bedürfen zwingend einer Verfassung, die das politische Handeln beschränkt, aber durch Setzung objektiver, verbindlicher Spielregeln überhaupt erst einen fairen politischen Wettstreit ermöglicht (Elster 1993b: 2f., 9 ff.; Holmes 1993a: 21, 1993b: 196 ff.; Schultze 1997: 509; Bellamy 2006: xi). Hinzu kamen immer weitere Erwartungen auch an die Verfassungspolitik. So definierte der deutsche Verfassungsrechtler Häberle „gute“ Verfassungspolitik als „Resultante aus dem Gegen- und Miteinander von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken“ (1996: 18). Die konstitutionelle Regierungsform, so der britische Politikwissenschaftler und Verfassungstheoretiker Bellamy, führe „die verschiedenen Gruppen und Interessen innerhalb einer Gesellschaft in einen Dialog miteinander“ und gewährleiste, „dass die Rechtssetzung die jeweiligen Belange des anderen und den Respekt füreinander“ ebenso wiederspiegele wie den Wunsch nach Förderung des Gemeinwohls“ (1996: 44). Weitere übliche Leistungserwartungen sind heute Transparenz und Verständlichkeit als Implikationen von Legitimität und Verfahrenssicherheit, faire Repräsentation, Konsensbildung, Effizienz, „insbesondere Entscheidungseffizienz im politisch-administrativen System, Regierungseffektivität“ sowie ein adäquates Verhältnis aus Stabilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber veränderten Rahmenbedingungen (Schultze 1997: 511; Dahl 1996: 179f.). Da parallel zu dieser Entwicklung auch die Ansprüche an die Demokratie stiegen,5 die die Verfassung schützen soll, umfassen gegenwärtige Konzepte des „demokratischen“ oder „modernen“ Konstitutionalismus oft die demokratische Deliberation neben Individualrechten und Rechtsstaatlichkeit als drittes Hauptmerkmal und überlappen sich stark mit modernen Demokratiekonzepten, und zwar bis hinein in das Verständnis der konstitutiven Einzelmerkmale (z.B. Nino 1994; Henkin 1994: 41f.; Arato 1994). Die Theoriediskussionen zur Demokratie und zum Konstitutionalismus überschneiden sich auch hinsichtlich der Wirtschaft, sozialen Rechte und Wohlfahrt. So werden Verfassungen teils als vertragliche Basis dafür verstanden, dass der Staat konkrete Leistungen bzw. öffentliche Güter bereitstellt, von denen der einzelne profitiert (Buchanan/Tullock 1962), also nicht nur als institutionelle Schutzschilde gegen Anarchie oder Mehrheitstyrannei, teils wird argumentiert, die modernen Verfassungen hätten sich gerade aufgrund der Trennung von Gesellschaft und (dem nunmehr durch sie eingerichteten) Staat über dessen „Preisgabe der Wohlfahrtsfunktion“ herausgebildet, weshalb sie in den heutigen Sozialstaaten Schwächen in der Regulierung der veränderten Staatstätigkeit zeigten (Grimm 1994: 404f., 399). Auch manche Konzepte von Demokratie betrachten für diese die Gewährleistung einer Marktwirtschaft – neben anderem – als wesensbestimmend (z.B. Linz/Stepan 1996), während andere die Ökonomie weitgehend unberücksichtigt lassen (z.B. Dahl 1971, 1989; Merkel 2003). Ein weiteres demokratietheoretisch wie konstitutionalistisch kontrovers diskutiertes Thema sind Status, Gehalt und Wirkungsweise von Verfassungen und Demokratie in globalisierten, entgrenzten Räumen (z.B. Lietzmann 2002; Tully 2002; Scheuerman 1999; Weiler 2003; Bellamy 2003; Landfried 2001, 2006; van Ooyen 2006: 235 ff.).
5
Siehe u.a. Merkel 2003; Merkel u.a. 2003 und die Ausführungen zur deliberativen Verfassungspolitik in Kapitel 2.1.
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1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Neben den instrumentellen Verfassungsfunktionen – der (generationenübergreifenden) Regulierung und der Stabilisierung des verfassungsrechtlichen Grundkonsenses, der Entlastung der Herrschaftsträger und ihrer Kontrolle6 – wurde in der Literatur die symbolische Bedeutung, geistig-normativ regulierende und orientierende Funktion von Verfassungen als verfestigte Sinngebilde hervorgehoben und seit einiger Zeit von der Politikwissenschaft neu entdeckt (Göhler 1997; Rehberg 1997). Sie spiegeln im Idealfall die in einer Gesellschaft verankerten Werte wider, können Konflikte vermeiden und als Konsensquelle die Bürger zu einer Verfassungsgemeinschaft integrieren, beispielsweise durch die Neuerschaffung gebrochener historischer, kultureller oder nationaler Identitäten (Vorländer 2002b; Schaal 2001). Obgleich aufgrund spärlicher empirischer Informationen über die tatsächliche Rezeption der Verfassung durch den einzelnen Bürger wenig Gewissheit in diesem Punkt herrscht, so zählen die geistige Orientierung, Sinn- und Identitätsstiftung doch zum Set der hohen Erwartungen an Verfassungen in modernen Demokratien und gehen damit ebenfalls weit über das hinaus, was – als theoretisches Konstrukt des sich selbst eine Verfassung verleihenden Volkes – in früheren Verfassungstheorien eine Rolle spielte. Aktuelle theoretische Überlegungen kreisen hier darum, wie die Verfassungspolitik ethnische, religiöse, kulturelle, sexuelle usw. Vielfalt („Diversität“) umfassend absichern kann (z.B. Rosenfeld 1994b), und inwiefern Konstitutionalismus auch die Achtung der ethnischen Selbstbestimmung beinhaltet, also des Rechts der Völker darauf, ihre politische Zugehörigkeit selbst zu wählen und zu ändern (Henkin 1994: 42). Unterhalb dieser generellen Trends der Theorieentwicklung beinhalten verfassungstheoretische Beiträge jeweils Wahrnehmungsschwerpunkte und Interpretationsneigungen, die vom spezifischen Wissen, den Erfahrungen und kulturellen Prägungen ihrer Autoren beeinflusst sind. Dies zeigt sich an den Konzepten des US-amerikanischen constitutionalism, des angelsächsischen rule of law, des deutschen Rechtsstaats und des zwar wörtlich übernommen, aber doch anders angelegten französischen état de droit sowie an unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie viel formalisierte Rechtsstaatlichkeit Demokratie überhaupt benötigt, um funktionieren zu können (Rosenfeld 2001; Lauth 2001: 26 ff.). An zwei Staaten sei dies veranschaulicht: In Deutschland wurde die Verfassung v.a. als gesetzte Rechtsordnung des als zentral betrachteten Staates verstanden und die eingangs erwähnte Dualität von Freiheit und Rechtsbindung besonders im Hinblick auf das Verhältnis Staat – Gesellschaft diskutiert (z.B. Schmitt 1970).7 Erst seit den 1960er Jahren fungierte infolge einer stärkeren Rezeption von Rudolf Smend die Verfassung selbst mehr als Ausgangspunkt rechtstheoretischer Überlegungen. Dennoch ist die traditionelle Sicht oft weiter erkennbar (z.B. Grimm 1994: 406, 431; Häberle 1996: 226f.) und steht die Beschränkung (anstelle einer Begründung) von Herrschaft durch möglichst genau kodifiziertes Recht weiter latent im Vordergrund (Lepsius 2004: 4; Günther 2004; Hennis 2002; Lietzmann 6
7
Verfassungen stabilisieren, so Grimm, „das Verhältnis von Kontinuität und Wechsel, indem sie auf der Ebene der Prinzipien und Verfahren höhere Kontinuität institutionalisieren als auf der Ebene der Ausführung und Konkretisierung“ von Politik. Sie entlasten außerdem die Akteure von der permanenten Reflexion über die geeigneten Entscheidungsgrundlagen, „weil ihre Regelungen nicht mehr Thema, sondern Prämisse von Politik sind“, erleichtern es den Unterlegenen, die Entscheidungen der Mehrheit zu akzeptieren, und dämmen so das Konfliktpotenzial ein (Grimm 1994: 430, 429). Hennis (2002) schildert zu Recht und plastisch, dass es in Deutschland unterschiedliche verfassungsrechtliche „Schulen“ gab und gibt. Vergleicht man indes ihre Argumente und Diskussionsfoki mit Arbeiten von Autoren anderer Staaten, dann ergeben sich zwischen ihnen teils mehr Ähnlichkeiten als mit letzteren. Zum Wandel des deutschen Rechtsstaatsverständnisses siehe Lauth 2001: 30 ff.; Böckenförde 1976: 65 ff.; Vorländer 1999a.
1.1 Verfassungen, Verfassungsdemokratien, Verfassungsänderungen
17
2002: 294 ff.). In den USA ist hingegen – bei aller beobachtbaren Kontroverse um die Weiterentwicklung der Verfassung – der Gedanke Thomas Jeffersons verbreiteter, dass jeder Generation das Recht garantiert sein müsse, die Regierungsform frei zu wählen, von der sie glaubt, dass sie die beste sei. In diesem Verständnis soll die Verfassung lediglich ein „Safe“ von eher sparsamen prozeduralen Vorgaben und (allerdings erst später hinzugefügten) Grundrechten sein (Jefferson 1979; Barak 1994; Levinson 2006: ix). In der praktischen Politik verengten sich die normativen Selbstbeschreibungen und Selbstverpflichtungen ähnlich wie in der Theorieentwicklung, etwa im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates, des Vertragswerks der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union und in der materiellen EU-Politik (so in den „Kopenhagener Kriterien“). Aber selbst die ökonomisch ausgerichteten Organisationen OECD und Weltbank fixierten in ihrem Konzept des „guten Regierens“ (good governance) erhöhte normative Ansprüche an Institutionen. Die EU griff dieses Konzept inzwischen auf und erweiterte es. Seine Prinzipien sind Rechtsstaatlichkeit, Offenheit, Transparenz und Verantwortlichkeit demokratischer Institutionen, Gerechtigkeit und Gleichheit im Umgang mit den Bürgern inklusive Konsultation und Partizipation, Effektivität und Effizienz, klare, transparente und anwendbare Gesetze, Konsistenz und Kohärenz in der Politikformulierung und hohe Standards für ethisches Verhalten. Der Staat soll nach diesem Ansatz die Zivilgesellschaft in die Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung einbeziehen und aktivieren (OECD 1995; Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001). Die Verfassungs(änderungs)politik in etablierten Demokratien soll heute also sowohl gemäß theoretischen Vorstellungen als auch gemäß politischen Vereinbarungen weitaus mehr leisten, als es das ursprüngliche Konzept des Konstitutionalismus beinhaltete. Sie soll freie und faire Wahlen als Mittel der Machtbegrenzung, den Schutz bürgerlicher Rechte und Freiheiten, Minderheitenschutz, Interorgankontrolle, verantwortliches Regieren, Legalität (Ausschluss rückwärtiger Normensetzung), Rechtsstaatlichkeit (Gesetzeshoheit und stabilität), Legitimation und Effizienz sichern (vgl. Elster 1993b: 2; Goodin 1996: 1-53; Boldt 1995: 817 f.; Schwegmann 2002: 533), sie soll deliberativ zustande kommen und wie andere Politiken gemäß den eben erwähnten Prozessprinzipien von good governance: transparent, effizient und partizipativ. Gleichzeitig wird mehr oder weniger explizit erwartet, dass Verfassungen wegen ihres Charakters als Akte übergeordeter Rechtsetzung auch inhaltlich über den tagespolitischen „Irrungen und Wirrungen“ stehen und möglichst wenig verändert werden. Diese Prinzipien lassen sich dennoch weiter mit einer erheblichen Bandbreite politisch-institutioneller Ausprägungen vereinbaren (Lietzmann 2002: 292; Bellamy 2006: xi) – ob nun in Form des Präsidentialismus oder Parlamentarismus, Einheits- oder Föderalstaates, mit Mehrheits- oder Verhältniswahl, flexibler oder rigider Verfassung. Auch bei den Grundrechten besteht zwar angesichts verbreiteter Erfahrungen politischen Unrechts und einer Internationalisierung des Grund- und Menschenrechtsschutzes (Sommermann 2004: 16) ein Konsens darüber, dass sie festgeschrieben werden sollten,8 umstritten ist aber, welche Rechte (etwa auch materielle), in welcher Form und mit welchen Konsequenzen.9 Nicht 8
9
Abweichend Sartori (1994: 198), Ely (1978) oder Alexander Hamilton, der im Federalist-Artikel 84 argumentiert, es sei absurd, Rechte in der Verfassung festzuschreiben, zu deren Beschränkung ohnehin niemand verfassungsmäßig befugt sei (Hamilton 1788). Ein weiterer Einwand gegen kodifizierte Grundrechtechartas besteht darin, sie implizierten den Nichtschutz dort ungenannter Rechte (Levinson 1995a: 27 ff.). Die geltende Verfassung der V. Französischen Republik etwa verweist lediglich in ihrer Präambel auf die Verbundenheit des französischen Volkes mit den Menschenrechten, wie sie in der Erklärung der Menschen-
18
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
nur zwischen, auch innerhalb von Staaten variieren hier die Einstellungen und spiegeln wohl noch am deutlichsten die ansonsten bisweilen recht eingeebneten ideologischen Fronten wider. Dennoch kommt es auch in diesem sensiblen Bereich regelmäßig zu Mehrheiten, die ausreichen, um sich auf Grundrechtserweiterungen ebenso wie auf –beschränkungen zu einigen (für Deutschland Lorenz 2007). Die Politik in den etablierten Verfassungsdemokratien steht heute nicht nur unter einem normativen Erwartungsdruck. Regieren, zumal wenn es in einem teilintegrierten Mehrebenensystem wie dem der Europäischen Union stattfindet, bedeutet weniger als früher Gestaltung nach eigenen Wünschen, sondern ist ein komplexes Interdependenzmanagement unterschiedlichster Akteure in Räumen, in denen der Nationalstaat und seine gewählten Entscheidungsträger in der Politik weder nach innen noch nach außen über ein unhinterfragtes Herrschaftsmonopol verfügen. Stattdessen vervielfältigten sich gesellschaftliche, ökonomische und politische Institutionen und Akteure und orientieren sich nicht mehr allein an den Grenzen geordneter Staaten (u.a. Benz 2004, 2005b; Schuppert 2006). Ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Wandel und seine negativen wie positiven Effekte, etwa die Zunahme der Erwartungshaltungen, neue Konfliktpotenziale, schwieriger zu erreichende und auf Dauer abzusichernde Lösungen sowie Kommunikationsdruck, setzen die gewählten Entscheidungsträger unter erheblichen Stress.10 Inwieweit sich dies systematisch (also nicht nur in bestimmten Fällen) auf die nationalen Verfassungspolitiken auswirkt, ist allerdings weitgehend unbekannt. Aufgrund des Normenwandels und der praktischen Anreize für politisch-institutionellen Wandel muss die Politikwissenschaft sich trotz ihrer Vorliebe für die Revolutionsromantik der Verfassungsgebung und für große Reformen auch der Beobachtung der Verfassungspolitik im Alltag etablierter Demokratien öffnen. Seit der Annahme der kanadischen Verfassungsurkunde von 1982 enthalten alle demokratischen Verfassungen Regeln für ihre eigene Änderung und stellen damit Instrumente zur Verfügung, auf veränderte Rahmenbedingungen oder Interessen verfassungspolitisch zu reagieren (Murphy 1995: 168). Tatsächlich ist „die Art und Weise, wie Verfassungswandel organisiert und durchgeführt wird, für die Stabilität einer politischen Ordnung von ebenso elementarer Bedeutung“ wie die Verfassungsgebung (Glaeßner/Reutter 2001). Diesem Gedanken verpflichtet waren die aufschlussreichen neueren Studien zum impliziten konstitutionellen Wandel, so per Verfassungsauslegung durch Gerichte, gewandelte Konventionen oder Praktiken (Landfried 1988, 1996; Stone Sweet 2000; Kneip 2006a, 2006b; Hönnige 2006). Die vorliegende Analyse nimmt nun zugunsten einer ausgewogenen Gesamtwahrnehmung das Zustandekommen auch der kon-
10
und Bürgerrechte vom 26.08.1789 festgeschrieben sind, und schreibt in Art. 1 die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion sowie die Achtung jeden Glaubens fest. Die staatsbürgerlichen Rechte sind nur einfachgesetzlich geregelt. In Großbritannien war die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention lange sehr umstritten – nicht vordergründig aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund der Kollision mit dem Prinzip der Parlamentssouveränität. In Deutschland wiederum sind die Grundrechte fest konstitutionell verankert. Zur verfassungs- und demokratietheoretischen Debatte über die Konstitutionalisierung von Grundrechten siehe Becker 2001. Als gesamtgesellschaftliche Trends, die selbstverständlich so nicht dauerhaft anhalten müssen, lassen sich nennen: Individualisierung, auch der Interessenlagen, Abnahme traditionaler Bindungen und wahrgenommener Verbindlichkeiten (damit auch von Planungssicherheit), Beschleunigung, Mobilitätserhöhung, (issuebasierte, oft kurzfristige) Vernetzung, Enthierarchisierung, Ökonomisierung bei mehr Angebotskonkurrenz, höhere Kommunikationsdichte, Verschiebung von der real erfahrenen zur medial vermittelten Wirklichkeitswahrnehmung. Trotz des Wandels und der Kritik an politischer Steuerung sind die Leistungsansprüche gegenüber Staat und Politik relativ unverändert hoch geblieben.
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick
19
kreten Modifikationen am Verfassungstext in den Blick, rechtswissenschaftlich gesprochen, der Änderungen am Verfassungsrecht im formellen (und nicht materiellen) Sinne. Solche expliziten Verfassungsänderungen11 bewirken ebenfalls oft direkt oder indirekt eine Umverteilung von Macht, lösen daher potenziell politische Konflikte und Legitimationsprobleme aus oder verschärfen sie (Krockow 1976: 18, Powell/DiMaggio 1991: 28). Im Unterschied zum impliziten Wandel bedürfen sie der eindeutigen Zustimmung verschiedener Akteure gemäß dem vorgegebenen Verfahren für Verfassungsänderungen. Die Literatur hat gerade in der vergangenen Dekade unter dem Einfluss der Vetospielertheorie überzeugende Argumente vorgebracht, warum derartiger institutioneller Wandel in etablierten Demokratien unwahrscheinlich ist (Kapitel 1.3; 2.3). Rationale Akteure, so eine zentrale Annahme, werden „geneigt sein, dem unsicheren Ausgang den Status quo vorzuziehen“, es sei denn, ihnen würden gute Gründe für dessen Veränderung präsentiert. Für jeden überzeugende Gründe bzw. ertragreiche Lösungen sind aber ceteris paribus umso schwieriger zu erreichen, je mehr Akteure an ihrer Aushandlung und Verabschiedung beteiligt sind, da jeder seine eigenen Interessen verfolgt (u.a. Schultze 1997: 516; Vorländer 2003: 8). Das provoziert die Frage: Wie schaffen es Initiatoren von Verfassungsänderungen, ohne Staatskrisen große Mehrheiten für ihre Vorhaben zu mobilisieren?
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick Dass die Untersuchung von Verfassungsänderungspolitik nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch relevant ist, erschloss sich bislang eher exemplarisch, denn an empirischen Vergleichsdaten in größerem Maßstab fehlte es.12 Trägt man die Informationen zur Verfassungsänderungspolitik in den demokratischen Staaten seit 1945 zusammen, so belegen diese, dass die Häufigkeit von Verfassungsänderungen trotz deutlicher Varianz der länderbezogenen Zahlen seither tendenziell überall zugenommen hat (Lorenz/Seemann 2007). Soll diese Aussage verfeinert werden, dann bedarf es umfassenderer Daten und angesichts der dürftigen Informationslage aus praktischen Gründen eines kürzeren Untersuchungszeitraums. Die folgenden Befunde beziehen sich auf alle Verfassungsänderungen in jenen Demokratien, die Freedom House im Untersuchungszeitraum von 1993 bis 2002 gemäß dem Index „Political Rights, Civil Liberties, Status“ als „frei“ einstufte,13 deren Bevölkerungszahl die 1-Millionen-Marke übersteigt (um ein Mindestmaß an politischinstitutioneller Komplexität zu gewährleisten) und deren Verfassungspolitik nicht durch gewalttätige Konflikte beeinflusst wird.14 11
12
13 14
Im deutschen Sprachgebrauch dominiert die von Georg Jellinek (1996) geprägte Unterscheidung von (formeller) Verfassungsänderung und (informellem) Verfassungswandel, wobei der zweite Begriff für die Interpretation durch Gerichte u.ä. teils stark kritisiert wird (Voßkuhle 2004). Die eher politikwissenschaftliche, technisch-pragmatische Unterscheidung von explizitem und implizitem Verfassungswandel (constitutional change) findet sich u.a. bei Levinson 1999: 25; Voigt 1999; Giovannoni 2001; Rasch 2003: 113. Robert Maddex (1996) lieferte zwar Informationen zu den Verfassungen der achtzig größten Staaten weltweit, beschränkte sich jedoch weder auf Demokratien noch auf stabile Regimes. Donald S. Lutz arbeitete zu Änderungen in „Verfassungssystemen“ (1994: 356f.), bezog sich aber für verschieden lange Zeitperioden, die alle vor dem hier betrachteten Untersuchungsabschnitt lagen. Die Methodik von Freedom House ist zu Recht nicht unumstritten (u.a. Merkel 2003: 43f.), doch für den Zweck dieser Teilanalyse ausreichend. Die Länge von zehn Jahren wurde gewählt, um die Wahrscheinlichkeit vorübergehender Verzerrungen zu vermeiden, gleichzeitig aber zu gewährleisten, dass der Aufwand für Datenerhebung und –auswertung in ei-
20
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Wie Abb. 1 zeigt, fanden trotz der rationalen, institutionellen und soziokulturellen Hemmschwellen für Verfassungsänderungen in 32 aller 39 berücksichtigten voll etablierten Demokratien in diesen zehn Jahren solche Änderungen statt. In beinahe der Hälfte von ihnen, 18 Ländern, sogar fünf oder mehr Mal, also durchschnittlich mindestens alle zwei Jahre.
Anzahl der Staaten
Abbildung 1:
Häufigkeit von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien, 1993-2002
14 12 10 8 6 4 2 0 0
1 bis 5
6 bis 10
11 bis 15
16 bis 20
Über 21
Anzahl der Verfassungsänderungen
Quelldaten: GLIN o.J., Tschentscher o.J., T.C. Williams SoL o.J., Maddex 1996, Georgetown University 1998; Flanz u.a. 2007; eigene Recherchen.
Die acht „Nullreformierer“15, die der Anschaulichkeit halber separat erfasst sind, bilden angesichts von 31 Staaten mit Verfassungsänderungen eher eine verfassungspolitische Minderheit. Zudem stehen auch bei ihnen Veränderungen der Verfassungstexte auf der politischen Agenda, wie eine Stichprobe schnell zeigt. In Australien beispielsweise hält eine Verfassungsdebatte über elementare Charakteristika des politischen Systems an.16 1999 fanden zwei Verfassungsreferenden statt, die aber scheiterten. In Dänemark entwickelte sich seit 1999 eine Debatte über Verfassungsänderungen, die 2000 zur Einsetzung einer entsprechenden Parlamentskommission und seither zu zahlreichen Änderungsvorschlägen von verschiedensten Akteuren führte; manche Änderungen spiegelt zudem der Text des grundlovs allein nicht wider.17 Die japanische Regierungspartei LDP initiierte im Jahr 2000 eine Verfassungsänderung zur Abschaffung des Pazifismusgebots; die nachfolgend eingerichtete parlamentarische Arbeitsgruppe befürwortete 2002 auch weitergehende konstitutionelle Änderungen18 (Gefter 2000; Grobe 2005; Foreign Press Center Japan 2007). In den USA fand die letzte Verfassungsänderung 1992 statt. Dasselbe galt in Spa-
15 16 17
18
nem angemessenen Verhältnis zum eigentlichen Zweck der Studie steht. Da die Erhebung in der ersten Phase des 2002 begonnen Forschungsprojekts erfolgte, endet der Untersuchungszeitraum 2002. Australien, Benin, Bulgarien, Dänemark, Japan, Spanien, Südkorea, USA. Themen sind die Umwandlung in eine Republik, die Einführung des Präsidentialismus, der Wahlmodus des Staatsoberhaupts und die Anerkennung der indigenen Bevölkerung. Per Gesetz vom 29.04.1992 ergänzte das Parlament die Verfassungsnormen um die Europäische Menschenrechtskonvention. Eine solche Übernahme suprationaler und internationaler Vereinbarungen wird durch die Verfassung gedeckt. Initiativen zu deren Änderung berührten u.a. das Kompetenzverhältnis zwischen Parlament und Regierung, ethnische, religiöse und Sprachdifferenzen, die Bürgerrechte, die Staatsverwaltung und die Monarchie (Folketinget 2001; Folketinget o.J.). Die japanische Regierung hatte seit 1950 das Pazifismusgebot, das innenpolitisch immer umstritten war, zunehmend überdehnt. Der Bericht des Parlamentsausschusses befürwortete auch Staatsziel- und Grundrechtsänderungen hinsichtlich Umwelt und Privatsphäre.
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick
21
nien, wo seit der damals ersten Änderung nach der Verabschiedung der Verfassung 1978 deren Reform immer konkreter und umfassender diskutiert wurde und „nur“ aufgrund einer fehlenden Einigung aussteht.19 Verfassungsänderungen sind also ein praktisches und nicht nur akademisches Thema auch in den Staaten, in denen im Untersuchungszeitraum keine Änderungen durchgeführt wurden. Wie häufig sie in den anderen Demokratien stattfanden, zeigt Tab. 1. Sie erfasst alle formalen Beschlüsse über eine oder mehrere substanzielle (also inhaltliche) Änderungen der Verfassungen20 und enthält außerdem Angaben zur kumulierten inhaltliche Reichweite der jeweils verabschiedeten Verfassungsänderungen. Dieses Maß erbringt eine zusätzliche Aussage, wenn man annimmt, dass eine signifikante Verfassungsänderung ebenso bedeutungsvoll sein kann wie mehrere einfache Modifikationen und dass die Einführung einer neuen Verfassung nochmals bedeutungsvoller ist.21 Eingriffe in den Verfassungstext wurden grundsätzlich als „einfache Änderungen“ eingestuft (1 Punkt) und nur dann – mit großer Zurückhaltung – als „signifikant“ (3 Punkte), wenn sie entweder den Charakter des politischen Systems inhaltlich deutlich reformierten und/oder wenn sie sehr große Textbereiche novellierten (Tab. A 5). Die Einführung einer neuen Verfassung wird als Maximaländerung der vorangegangen Verfassung erfasst (5 Punkte).22 Nur Großbritannien wurden wegen der ungeschriebenen Verfassung keine Zahlenwerte zugewiesen, obwohl etliche Neuerungen faktisch Verfassungsänderungen waren, so der Human Rights Act, die Reform des House of Lords, die Freedom of Information legislation. Mindestens die Devolution, die das traditionelle Verfassungsprinzip des Unitarismus berührte, entsprach dabei dem Charakter einer signifikanten Verfassungsänderung (Kaiser 2002: 143; Hazell/Sinclair 1999). Hinsichtlich der Gesamtreichweite ihrer Änderungsaktivitäten sind Österreich, Belgien, Finnland und die Schweiz Spitzenreiter. Chile, Costa Rica, Papua-Neuguinea und Neuseeland auf weiteren Plätzen zeugen aber davon, dass die Neuerungsbereitschaft kein europäisches, etwa einseitig dem EU-Integrationsprozess seit Maastricht geschuldetes Phänomen ist.23 Der Durchschnitt beträgt 5,9 Verfassungsänderungen in zehn Jahren.
19
20 21
22
23
Initiativen der Fraktion Vereinte Rechte/Initiative für Katalonien 1995 richteten sich auf das aktive und passive Wahlrecht (Congreso de los Diputados 2002). Seit 1996 befasste sich der Senat aktiv mit einer Verfassungsreform ihn betreffend (Propuesta reforma… 2005: 15). Die sozialistische Regierung schlug 2005 Änderungen zur Thronfolge, zum Verhältnis zwischen Spanien und der EU, die namentliche Erwähnung der Autonomen Regionen und Autonomen Städte und eine Senatsreform vor (Consejo de Estado 2006). Rein orthografische Änderungen, wie die am 26.03.2001 per Bekanntmachung des polnischen Ministerpräsidenten erfolgte Korrektur zweier sprachliche Fehler, sind also nicht erfasst. So beinhaltete die Grundgesetzänderung vom 27.10.1994 umfangreiche Modifikationen am Verfahren der Änderung des Gebietsbestandes der Bundesländer, zu Gesetzgebungskompetenzen, zur finanziellen Eigenverantwortung der Gemeinden u.v.m. Die Einstufung als neue Verfassung in Abgrenzung von „total revidierten“ oder „nachgeführten“ Verfassungen weicht in der Literatur teilweise ab (z.B. Ismayr 1999: 10; Filos 2002; Biaggini 1999). Die Einstufung richtet sich hier nach dem gewählten Änderungsverfahren und der Selbstdarstellung der Staaten. Zu den jeweiligen verfassungspolitischen Vorausssetzungen und Implikationen der Kompetenzabgabe an europäische Institutionen durch die EU-Staaten siehe Masclet/Maus 1993.
22
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Tabelle 1: Verfassungsänderungen in 38 Demokratien, 1993-2002 Staat Australien Belgien Benin Bolivien Botsuana Bulgarien Chile Costa Rica Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Jamaika Japan Kanada Litauen Mauritius Mongolei Namibia Neuseeland Niederlande Norwegen Österreich Papua-Neuguinea Polen Portugal Schweden Schweiz Slowenien Spanien Südkorea Tschechien Ungarn Uruguay USA
Verfassung in Kraft seit 1901, 86 1831 1990 1967 1966 1991 1981 1949 1953 1949 1919 2000 1958 1975 1937 1948 1962 1946 1867 1992 1968 1992 1990 1840 1815 1815 1920 1975 1992 1997 1976 1975 1848 2000 1991 1978 1948 1993 1949 1967 1789
Anzahl der Änderungen 0 19 0 1 2 0 11 15 0 13 16 0 9 1 9 7 3 0 7 3 6 1 1 13 6 2 21 9 4 0 2 11 14 5 2 0 0 5 10 2 0
Kumulierte Reichweite 0 21 0 3 2 0 11 15 0 15 20 9 3 9 11 3 0 7 3 6 1 1 13 6 2 21 13 8 6 11 18 5 2 0 0 5 10 4 0
Quelldaten: GLIN o.J., Tschentscher o.J., T.C. Williams SoL o.J., Maddex 1996, Georgetown University 1998; eigene Recherchen.
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick
23
Der Mittelwert der kumulierten Änderungsreichweite liegt mit 6,6 wenig höher als der Mittelwert der Änderungszahl. Die Differenz geht vor allem auf das Konto der drei neuen Verfassungen bzw. Totalrevisionen in Polen, Finnland und der Schweiz.24 Sowohl in Finnland als auch in der Schweiz diente die Einführung der neuen Verfassung der Konsolidierung und Neustrukturierung der bisherigen konstitutionellen Bestimmungen, umfasst jedoch auch politisch bedeutsame modifizierte oder neue Inhalte, in der Schweiz beispielsweise die zuvor nicht verfassungsrechtlich festgeschriebenen Grundrechte (Biaggini 1999). In Polen löste nach jahrelangen zähen Verhandlungen 1997 ein vollwertiges Grundgesetz die postsozialistische „Kleine Verfassung“ von 1992 ab, die nur rudimentär das Regierungssystem geregelt hatte (Bos 2004: 172 ff.; Ziemer/Matthes 2004: 192f.). Jeweils signifikant beeinflussten von den insgesamt 223 Verfassungsänderungen mit sieben nur gut drei Prozent das Gesamtgefüge des politischen Systems. Verfassungsänderungen finden nicht nur häufig statt, sondern verteilen sich dabei auch über die gesamte Zeit zwischen den für Demokratien so relevanten Parlaments- bzw. Unterhauswahlen. Abb. 2 verdeutlicht dies. Sie zeigt an, wie viel Verfassungsänderungen jeweils in den Dreimonatsabschnitten stattfanden.25
Anzahl der Verfassungsänderungen
Abbildung 2:
Zeitpunkte von Verfassungsänderungen nach Parlamentswahlen, 1993-2002
25 20 15 10 5 0 3
6
9
12 15 18 21 24 27 30 33 36 39 42 45 48 51 54 57 60 Anzahl der Monate nach der letzten Parlaments-/Unterhauswahl
Quelldaten: eigene Recherchen.
Die Häufung nach Parlamentswahlen erklärt sich oft durch das Zusammentreffen der prozeduralen Vorgabe einer dem Verabschiedungsprozess zwischengeschalteten Parlamentswahl mit einem Grundkonsens hinsichtlich der Verfassungsänderung oder aber mit stabilen Mehrheitsverhältnissen trotz Wahl. Dies trifft beispielsweise auf die elf schwedischen Verfassungsänderungen im Untersuchungszeitraum zu. Die Häufung konstitutioneller Modifikationen 40 bis 48 Monate nach Wahlen kann bei rein parlamentarischen Prozessen dadurch erklärt werden, dass Verfahren noch in der laufenden Legislaturperiode abgeschlossen werden, um ihre Ergebnisse zu fixieren, oder dass Akteure versuchen, die institutionellen Machtverhältnisse abzusichern oder für den Fall vorteilhaft zu gestalten, dass die Wah24 25
Die tschechische Verfassung, die am ersten Tag des Untersuchungszeitraumes in Kraft trat, wurde nicht als neu erfasst, da sie ja von Anbeginn Basis potenziellen konstitutionellen Wandels war. Angegeben ist auf der X-Achse aus Gründen der Lesbarkeit jeweils der letzte Monat der Zeitintervalle (3 steht für 0-3 Monate nach der letzten Wahl, 6 für 4-6 Monate etc.).
24
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
len das Gefüge der politischen Kräfte verwirbeln. Letzteres betrifft etwa die verfassungsrechtliche Ermöglichung zusätzlicher Amtszeiten für Präsidenten in lateinamerikanischen Staaten.26 Wichtiger als diese Häufungen ist die empirische Beobachtung, dass Verfassungsänderungen praktisch permanent stattfinden. Es lassen sich also (nicht nur) „vom ‚Westminster-Modell’ über die napoleonischen Staats- und Verfassungstraditionen bis hin zur Verfassungsentwicklung Deutschlands nachhaltige Wandlungsprozesse aufzeigen“ (Hesse 1999: 16). Dieses Ausmaß verfassungspolitischer Aktivitäten in etablierten Demokratien blieb in der Politikwissenschaft bislang noch relativ unbemerkt. Konstanz gilt oft weiterhin unterschwellig als Gütekriterium von Verfassungen, während ein instrumentell-voluntaristischer Umgang mit ihnen wie in Frankreich als wahrgenommene Ausnahme der häufigen Zitation wert ist. Berücksichtigt man zugleich den Befund, dass ein starker impliziter Verfassungswandel stattfindet und dass insbesondere die Auslegung von Verfassungen durch die Gerichte eine neue Qualität erreicht hat (z.B. Stone Sweet 2000; Lhotta 2001), dann ist insgesamt von einer großen konstitutionellen Dynamik in etablierten Demokratien zu sprechen. Sie manifestiert sich in häufigen Verfassungsänderungen mit individuell nichtreformerischem Charakter. Dennoch ist kein eindeutiger Trend im Verhalten aller beobachteten Fälle festzustellen. Darauf verweisen die Spannbreite der Änderungsfreudigkeit (von 0 bis 21 Modifikationen in zehn Jahren) und die über dem Mittelwert liegende Standardabweichung (Tab. 2). Es gibt noch nicht einmal klare regionale Trends der Häufigkeit von Verfassungsänderungen, wie die mit dem Mittelwert der Verfassungsänderungen pro Region zunehmende Standardabweichung indiziert. Beispielsweise variierten die nationalen verfassungspolitischen Aktivitäten innerhalb Europas stark – trotz der EU-Integration. Regionale Verwandtschaften mögen vielleicht die Inhalte von Verfassungsänderungen anregen – über die Orientierung aneinander, die Bereitschaft zum policy-learning von den Nachbarn, die Kooperation und institutionelle Verflechtungen, die ihrerseits Lerneffekte und „familienspezifische“ Ähnlichkeiten politischen Verhaltens bzw. politischer Entscheidungen fördern können (Castles 1993: xiii); die Häufigkeit und inhaltliche Reichweite von Verfassungsänderungen determinieren sie aber nicht. Die unterschiedlichen Mittelwerte der Änderungen pro Region sind daher keine verlässlichen Größen. Tabelle 2: Verfassungsänderungen nach Regionen, 1993-2002 Region Nordamerika Mittelamerika Südamerika Nordafrika Südafrika Nordeuropa Westeuropa Osteuropa Ostasien Australien/Ozeanien Gesamt
Beobachtete Staaten 2 2 3 1 3 4 11 6 3 3 38
Mittelwert der Änderungen 3,5 9,0 4,7 3,0 7,3 9,0 3,8 0,3 7,3 5,8
Standardabweichung 5,0 8,5 5,5 2,7 7,9 7,2 3,4 0,6 6,7 6,0
Minimalwert 0 3 1 0 1 0 0 0 0 0 0
Maximalwert 7 15 11 0 6 15 21 10 1 13 21
Quelldaten: Tab. 1.
26
Danach sinken die Zahlen, weil die Legislaturperioden in den meisten Staaten kürzer waren als 60 Monate.
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick
25
Die bisher genannten Zahlenwerte verraten noch nichts über die jeweiligen verfassungspolitischen Inhalte. Wichtig ist es aber, auch ein Grundverständnis dafür zu erlangen, womit sich Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien überhaupt befassen, allein schon, um die vorliegenden wissenschaftlichen Einzelstudien und Diskussionen zu bestimmten Materien bzw. einzelnen Änderungen in ihrer empirischen Relevanz einordnen zu können. Zu diesem Zweck systematisiert Tab. 3, wieviele Verfassungsänderungen jeweils bestimmte Kernbereiche antasteten. Ein als Einführung und Überblick gedachter Vergleich dieser Größenordnung muss sich auf die Prüfung bestimmter, hier thematisch-funktioneller27 Kernbereiche beschränken. Von den wichtigsten gesamtsystemisch relevanten Regelungsbereichen von Verfassungen berücksichtigt die Übersicht in Tab. 3:
das Regierungssystem, d.h. Kompetenzen, Verpflichtungen, Tätigkeitsregelungen (exklusive Abstimmungsregeln) betreffend die zentralen politischen Organe, die Regelungen zur Personalrekrutierung, zu Wahlen und Abstimmungen (Referenden, Abwahl, Quoren) und zur Mitsprache von Parteien auf nationaler Ebene28 sowie das Verhältnis zwischen Zentralstaat und territorialen Einheiten einschließlich Regelungen betreffend die territorialen Einheiten (Grenzen, Regionalwahlen).29
Die Grundrechtsproblematik wird aufgrund der bereits erwähnten unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und des erheblichen, aber schwer überschaubaren Einflusses impliziten Verfassungswandels, darunter einfachgesetzlicher und internationaler Regelungen, ausgeklammert. Da Verfassungsänderungen gleichzeitig mehrere Themenbereiche berühren können, ergibt die Summe der in Tab. 3 thematisch differenzierten Modifikationen nicht automatisch die Anzahl der Verfassungsänderungen in einem Staat. Immer wieder wird in der Literatur postuliert, dass aufgrund des hohen Beharrungsvermögens etablierter Regierungssysteme deren Änderung wenig wahrscheinlich ist (u.a. Bryde 1982: 136-8). Tab. 3 stützt diese Annahme nicht: Die deutliche Mehrzahl der erfassten Verfassungsänderungen berührte den machtsensiblen Bereich des Regierungssystems. Nur drei der 31 Staaten, die innerhalb der beobachteten zehn Jahre ihre Verfassungen änderten, ließen das Regierungssystem dabei außen vor – Jamaika, Kanada und Namibia. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Verfassungen neben dem politischinstitutionellen Gefüge und den wesentlichen Strukturprinzipien häufig mehr Belange regeln, was sich auch an ihrem Umfang zeigt (Kapitel 2.2). Dass nun der überwiegende Teil der Verfassungsänderungen den „Kern vom Kern“ antastete, verdeutlicht die Notwendigkeit intensiverer politikwissenschaftlicher Forschung, selbst wenn fast nie Fundamentalreformen durchgeführt wurden, sondern die meisten Verfassungsänderungen sich auf die Modifikation einzelner Regelungen richten.
27
28 29
Je nach Zielrichtung der Systematik sind andere Unterteilungen möglich, etwa nach Arten von Normen: Verfassungsprinzipien, Staatszielbestimmungen und Staatsaufgaben; Verfassungsaufträge; Grundrechtsgewährleistungen und Organisationsnormen (Glaeßner 1999: 136) oder Verfassungsänderungen, die auf Effizienzprobleme des politisch-institutionellen Systems reagieren bzw. die auf die Steigerung der Regierungseffektivität zielen oder solche, die Inklusionsprobleme zu lösen suchen (Schultze 1997: 515). Im Folgenden pragmatisch-kurz als Repräsentation bezeichnet. Trifft der Staat politische Regelungen für die Regionen und formuliert damit zentral deren Kompetenzen und Abhängigkeiten, so berührt dies grundsätzlich das Verhältnis zwischen nationaler Ebene und diesen Gebieten.
26
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Tabelle 3: Häufigkeit der Änderung von Verfassungskernbereichen, 1993-2002 Staat Australien Belgien Benin Bolivien Botsuana Bulgarien Chile Costa Rica Dänemark Deutschland Finnland (1919) Finnland (2000) Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Jamaika Japan Kanada Litauen Mauritius Mongolei Namibia Neuseeland Niederlande Norwegen Österreich Polen (1992) Polen (1997) Portugal Schweden Schweiz (1848) Schweiz (2000) Slowenien Spanien Südkorea Tschechien Ungarn Uruguay USA Alle 39 Staaten
Anzahl der Verfassungsänderungen 0 19 0 1 2 0 11 15 0 13 16 0 9 1 Ja 9 7 3 0 7 3 6 1 1 13 6 2 21 4 0 2 11 14 5 2 0 0 5 10 2 0 226
Häufigkeit der thematischen Betroffenheit RegierungsRepräsenVerhältnis nationale Ebene – system tation territoriale Einheiten 0 0 0 11 4 6 0 0 0 1 1 1 1 2 0 0 0 0 5 4 2 4 5 2 0 0 0 9 2 8 12 7 2 0 0 0 5 3 1 1 1 1 ja ja Ja 5 0 1 4 5 2 0 2 0 0 0 0 0 1 7 1 0 3 3 3 0 1 1 0 0 1 0 3 11 0 6 1 1 1 1 0 20 5 10 4 3 1 0 0 0 2 2 2 9 4 0 3 2 5 5 1 3 1 2 0 0 0 0 0 0 0 4 3 1 8 7 2 1 1 1 0 0 0 130* 85* 62*
* Ohne Angaben zu Großbritannien und Papua-Neuguinea. Quelldaten: GLIN o.J., Tschentscher o.J., T.C. Williams SoL o.J.; eigene Recherchen.
1.2 Verfassungsänderungen im empirischen Überblick
27
Am zweithäufigsten von den drei geprüften Kernbereichen wurden Repräsentations-, Personalrekrutierungs- und Abstimmungsmodalitäten auf nationaler Ebene geändert – durch mehr als 35 Prozent der von 1993 bis 2002 in Kraft getretenen Verfassungsänderungen. Am aktivsten zeigten sich Neuseeland, wo sich nahezu alle der 13 konstitutionellen Modifikationen auf Wahlen und Referenden bezogen, sowie Finnland und Ungarn. Zwar variierte die Zahl der Eingriffe in diesen Bereich stark, doch nur drei Demokratien mit Verfassungsänderungen innerhalb der zehn Jahre tasteten ihn nicht an. Offenbar unterliegen Repräsentationsbelange einem erhöhten Neuregelungsdruck oder ihre Änderung ist für die politischen Akteure besonders interessant. Die teils beobachtete Neigung zu mehr Proportionalität zwischen Stimmen und Mandaten in Legislativwahlen und zur Einführung der Direktwahl der Exekutivchefs (Colomer 2001: 235, 243; Lijphart 1994: 53, 1999) lässt sich dabei in Bezug auf Verfassungsänderungen nicht eindeutig bestätigen, denn die inhaltliche Spannbreite der Änderungen war sehr groß. Nicht selten ging es um Abstimmungsquoren, spezifische Mehrheitsvoten in bestimmten Entscheidungssituationen, um Fristen, die Zulassung oder Nichtzulassung von Mandatsüberschneidungen oder – zumeist im Vorfeld von Präsidentschaftswahlen und oft umstritten – weiterer Amtszeiten für eine Person. In etablierten Demokratien wird darüber hinaus das Verhältnis zwischen nationaler Ebene und territorialen Einheiten durchaus häufig neu reguliert: Mehr als jede vierte beobachtete Verfassungsänderung im Untersuchungszeitraum tangierte diesen Komplex. Allerdings zeigt sich die Besonderheit, dass dieses Verhältnis in einigen Staaten mehrfach institutionell geändert wurde, während in immerhin 17 Staaten und damit mehr als der Hälfte der Fälle keinerlei Modifikationen stattfanden. Österreich, Deutschland, Schweiz und Kanada sind die Spitzenreiter, was kaum verwundert, da es sich um föderale Staaten handelt, in denen ein Eingriff in das Regierungssystem oft automatisch das Verhältnis zwischen Zentrum und Territorialeinheiten berührt. Allerdings waren die kanadischen Verfassungsänderungen, die zwischen 1993 und 2002 sämtlichst mehr Autonomierechte für bestimmte Gebiete bzw. Provinzen bewirkten, nicht durch diesen Automatismus zu erklären, sondern wurden spezifisch initiiert. Ein genereller Trend zur Dezentralisierung, wie er bisweilen unterstellt wird, lässt sich aus den Verfassungsänderungen zwischen 1993 und 2002 nicht ablesen. Fälle wie Italien, wo eine politisch signifikante Verfassungsänderung den Regionen mehr Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb eines vorgegebenen Rahmens liefert, oder die britische Devolution, die (formal rückholbare) Übertragung von Kompetenzen auf neu geschaffene staatliche Institutionen in Schottland, Wales, Nordirland, London und den englischen Regionen, fallen zwar ebenso ins Auge wie die Föderalisierung Belgiens, doch bei näherer Betrachtung unterscheidet sich der Umgang mit den territorialen Einheiten erheblich, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Zielvorstellungen und Argumentationen der Beteiligten in den einzelnen Ländern (vgl. De Vries 2000; Müller/Wright 1994: 8). Viele Verfassungsänderungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Territorialeinheiten sind inhaltlich unspektakulär, und in beinahe der Hälfte der Demokratien gab es keine expliziten Verfassungsänderungen in diesen Fragen.
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1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
1.3 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick Die Anzahl und Reichweite von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien sowie ihre thematische Ausrichtung belegen ganz deutlich, dass die „Ewigkeit“ oder Konstanz von Verfassungen (Goodin 1996: 1-53; Finn 1991: 4; Sajó 1994: 336) allenfalls ein idealtypisches, in der Realität aber kaum beobachtbares konstitutionalistisches Prinzip ist. Die Beharrungskraft von Institutionen wird allgemein oft überschätzt (Seibel 2003: 224f.; Colomer 2001: 236), die von Verfassungen offensichtlich besonders. Das ist den Verfassungstheorien anzumerken und zeigt sich in der spärlichen vergleichenden politikwissenschaftlichen Forschung zu Verfassungsänderungen (Busch 1999; Benz 1993; Schultze 1997; Grimm 1978, 1994; Bellamy/Castiglione 1996), die ihrerseits zur Fortexistenz überkommener Verfassungsvorstellungen beiträgt.30 Wer eine theoretisch angeleitete empirische Forschung anstrebt, ist mit dem Problem konfrontiert, dass die im engeren Sinne verfassungstheoretische Forschung hinsichtlich expliziter Verfassungsänderungen eine derartige Abstraktionshöhe und Empirieferne aufweist, dass sie kaum forschungsleitend genutzt werden kann. Hinzu kommt, dass viele Arbeiten trotz des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit stark in bestimmten Fällen und ihrem jeweiligen (politischen, kulturellen, historischen) Kontext verwurzelt sind (bspw. Levinson 1995a). „Die“ Verfassungstheorie gibt es in Bezug auf Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien daher nicht, sondern nur ein Puzzle oft vager Annahmen, Reflexionen über bestimmte Verfassungsfragen vor dem Hintergrund spezifischer historischer bzw. nationaler Entwicklungen oder Behauptungen, die dem empirischen Vergleichstest entweder nicht standhalten oder sich einem solchen Test aufgrund der erwähnten Abstraktionshöhe entziehen. Einheitliche Ordnungsbegriffe, Typologien, Leitgedanken oder Theoriegebäude zum Verfassungswandel brachte bislang weder die Politik- noch die Rechtswissenschaft hervor (Grimm 1994: 316; Voßkuhle 2004: 458). Die durchaus zahlreichen empirischen Arbeiten stehen ihrerseits oft noch unverbunden nebeneinander. Viele Untersuchungen sind rechtswissenschaftlicher Natur und beschränken sich auf die Textinterpretation, bestimmte Problemfälle oder die formale Rechtsentwicklung. Dies verstärkte den Eindruck von Verfassungspolitik als statisch, „trocken“ und legalistisch, wohingegen die Politikwissenschaft sich eher für den allgemeinen sozioökonomischen Rahmen von Verfassungen selbst interessierte (Bogdanor 1988a: 1). Die Zahl überregional und systematisch vergleichender politikwissenschaftlicher Analysen ist unabhängig von der verfolgten Fragestellung sehr überschaubar (u.a. Kaiser 2002; Lutz 1995). In jüngerer Zeit wurden die Effekte der in Verfassungen festgeschriebenen Institutionenmodelle (Sartori 1994; Lane/Mæland 2000; Congleton/Swedenborg 2006), die symbolischkulturelle Wirkung von Verfassungen (Vorländer 2002b, Göhler 1997), die Geltung und Wirksamkeit des Rechts auf globaler Ebene (HUB o.J.), die Verfassungsgebung in Umbruchsituationen und die EU-Verfassungsdiskussion thematisiert, doch richten sich diese Forschungsarbeiten nicht auf die übergreifende Erklärung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien auf nationaler Ebene (vgl. Kaiser 2002; Busch 1999). Insofern finden sich Erklärungen für Verfassungswandel oft nur am Rande von Arbeiten oder sind indirekt aus den Ansätzen ableitbar. Im Folgenden werden die in der politikwissenschaftlichen Literatur gängigen Erklärungsvarianten systematisiert und auf ihre Er30
Für einen Überblick über die Literatur zum Konstitutionalismus und zur Verfassungspolitik siehe u.a. Bufacchi 1995; CEPC 2003.
29
1.3 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick
giebigkeit in bezug auf die in der Studie verfolgten Interessen abgetastet, um auf diese Weise die Auswahl des konkreten Untersuchungsansatzes vorzubereiten. Dabei lassen sich die Ansätze wie die Beiträge zum politisch-institutionellen Wandel insgesamt in institutionalistische, kulturalistische, historisch-soziologische sowie ökonomische Ansätze unterteilen (Tab. 4). Tabelle 4: Ansätze zur Erklärung von Verfassungsänderungen im Vergleich Institutionalismus
Dokument, das als Verfassung angesehen wird inkremental bis revolutionär, implizit und explizit Merkmale der Verfassung selbst (Änderungshürde, Umfang, Alter u.ä.)
kurz- bis langfristig gut Effekte von Verfassungsregeln
Sartori 1994; Lutz 1995
Kulturalistische Ansätze
Historischsoziologische Ansätze Verfassungsverständnis Basis der gemeinschaftliGrund- und Rechtsordchen Identität und Selbstvernung des Staates ständigung Art der Verfassungsänderung inkremental, implizit und inkremental, explizit explizit Erklärende Variablen für Verfassungsänderungen Verfassungsdefizite, aufhistorischer Wandel, kommende KonkurrenzFunktions-, Legitimatiinterpretationen, Kulturwanonsdefizite der Verfasdel der Verfassungsgemeinsung, normgeleitete Elischaft; Schutz vor Überten, gesellschaftliche fremdung Konflikte/Krisen Zeithorizont der Erklärung Langfristig langfristig Empirische Testbarkeit Beschränkt beschränkt Besondere Erklärungsstärke in bezug auf Verfassungsunterschiede Besonderheiten einzelzwischen Staaten, Kontinuiner verfassungspolitität bestimmter Verfassungsscher Prozesse, Einbetelemente tung in Kontext Beispiele Vorländer 2002a; Gebhardt Grimm 1994; Schultze 2001; Brodocz 2003 1997c; Banting/Simeon 1985
Ökonomische, Rationalchoice-Ansätze* Spielregeln als Risikoversicherung und Planungsbasis tendenziell inkremental, explizit
Handeln interessengeleiteter, nutzenmaximierender Akteure
kurzfristig beschränkt bis gut Sinn der Selbstbeschränkung von Akteuren
Buchanan/Tullock 1962; Elster 1993b; Voigt 2001; Congleton/Swedenborg 2006
* teils Überschneidung mit dem institutionalistischen Ansatz
Der traditionelle Institutionalismus erklärt Verfassungsänderungen vor allem mittels „technischer“ Eigenheiten der Verfassungen selbst, so mithilfe der Änderungshürde, des Umfangs, ihres Alters (Lutz 1995; Bryde 1982) oder mithilfe der Güte oder Passfähigkeit der in ihnen verankerten Problemlösungsmechanismen (Sartori 1994). Er neigt daher zur Entpersonalisierung und Entkontextualisierung von Verfassungspolitik. Zeitpunkte, Inhalte und Gründe konstitutionellen Wandels bleiben weitgehend im Dunkeln. Eine Spielart dieses Ansatzes, das constitutional engineering, unterstellt zumindest implizit, es gäbe „beste institutionelle Lösungen“. Seine Vertreter bewerten Verfassungsänderungen tendenziell als durch bestimmte Defizite ausgelöste, stabilitätsgefährdende „Flickschusterei“ (z.B. Sartori 1994: 199) oder im Idealfall als Überwindung technischer oder normativer Defizite. Der Institutionalismus bringt gerade in Kombination mit dem Ansatz des rationalen Akteurs relativ klare Hypothesen zum Verfassungsänderungsverhalten hervor, die allerdings selten
30
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
systematisch geprüft wurden. Falls ja, dann sind enttäuschende Befunde nicht auszuschließen (Kapitel 2.2; Lorenz 2005; Lorenz/Seemann 2007). Teils – wie bei der Qualität von Verfassungsänderungen – entziehen sich die Hypothesen aufgrund eines noch weitgehend fehlenden methodischen Instrumentariums einem monochronen oder polychronen Vergleich vieler Fälle. Hier besteht ein ausgeprägter Forschungsbedarf. Während der traditionelle Institutionalismus sowohl mit der Annahme verknüpft wurde, dass die Präferenzen von Akteuren durch die Institutionen geprägt sind, als auch damit, dass sie unabhängig von diesen bestehen und lediglich ihre Vermittlung untereinander den Zwängen institutioneller Settings unterliegt, stellen kulturalistische Ansätze ganz klar die Prägekraft der Verfassung heraus. Sie beeinflusse in Form einer „historisch verwurzelten Tradition von Theorie und Praxis…, einer sich entwickelnden Sprache der Politik“ die individuelle Präferenzbildung, und über sie erlange die Verfassungsgemeinschaft eine nationale Identität (Ackerman 1989: 477). „Formen vermittelter Repräsentanz und direkter Vergegenwärtigung“ oder „präsenzkulturelle Formen“, so das „Erleben von Konstitutionsfesten und die Verkörperung der Verfassung durch die Richter der Verfassungsgerichte“ heben, so Vorländer (2002: 21), „die Historizität der Verfassung, die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, in Kontinuitätskonstruktionen auf“. Die Gesellschaft verhandle und interpretiere „fließend“ und „tendenziell unabgeschlossen“ normative Ordnungsvorstellungen „in den hermeneutischen Kontexten der jeweiligen politischen Kultur, den Deutungskulturen von Medien, Eliten und Öffentlichkeiten wie in den Kulturen der sozialen Lebenswelten“ (ebd.: 22). Anlässe für Verfassungswandel und konkret Verfassungsänderungen sind gemäß dieser Forschungsrichtung die inhaltliche Unbestimmtheit oder Interpretationsspannungen der Texte selbst, aufkommende Konkurrenzinterpretationen bzw. Kulturwandel aufgrund geänderter historischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen, aber auch der wahrgenommene Bedarf an Bewahrung von Kulturtraditionen angesichts solcher Kontextveränderungen (Vorländer 2002a: 22f.; Sommermann 2006). Allerdings bleibt angesichts eines als permanent anzunehmenden „Wandels der Umstände“ offen, wann er eine änderungsinduzierende Qualität erreicht oder wie dies dann in eine tatsächliche, konkrete Verfassungsformulierung übersetzt wird, leiten sich doch aus allgemeinen kulturellen Affinitäten oder traditionellen Deutungsmustern nicht konkrete Formulierungen oder Kompromisse ab. Unterschiede zwischen ideengeschichtlichen Traditionen, beispielsweise zwischen der rousseaugeprägten und der US-amerikanischen Konzeption von Souveränitit (Offe/Preuß 1991), fallen zwar ins Auge, doch besteht stets die Möglichkeit ihres Abbruchs oder ihrer Veränderung. Letztlich bleibt die Verfassungspolitik (relativ) autonom in der Fortschreibung konstitutioneller Traditionen und der Neustrukturierung der Handlungsstrukturen (Lietzmann 2002: 292).31 Das zentrale Problem der kulturalistischen Ansätze besteht aber darin, dass sie verfassungspolitische Verhaltens- und Präferenzunterschiede von Akteuren innerhalb einer Verfassungsgemeinschaft nur unzurei31
So führt die personelle Nicht-Repräsentation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen heute nationenübergreifend selten zur systematischen Exklusion ihrer Interessen aus der Politik (Hoffmann-Lange 1992: 178 ff., Kielhorn 2002: 18), was nicht nur als Verbreitung einer Norm gelten, sondern auch zweckrational erklärbar sein kann: Eine verstärkte Inklusion gesellschaftlicher Gruppen zwar die internen Kosten, andererseits produziert auch ihre Exklusion Risiken, insbesondere wenn sie von einer Entscheidung direkt betroffen sind (Sartori 1992). Verfassungstraditionen können auch nur zu Nuancenunterschieden der Politik führen, wenn beispielsweise eine Konsenskultur dazu beiträgt, dass ein stärkerer Akteur entgegen der rationalistischen Vermutung eine Ausdehnung der Mitspracherechte initiiert oder befürwortet, aber nur unter der Voraussetzung, dass sein Machtvorsprung weiterhin deutlich abgebildet erscheint (Börzel/Risse 2000).
1.3 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick
31
chend erklären oder sichtbar machen. Insgesamt bestehen ihr Anspruch und ihre Stärke besonders darin, konstitutionelle Stabilität und Traditionslinien trotz konfligierender Interessen und sich wandelnder Rahmenbedingungen sowie nationale Charakteristika der verfassungspolitischen Inhalte oder der Einstellung zur Verfassung zu erklären (z.B. Gebhardt 1999). Sie tragen aber nicht so sehr zur Beantwortung der konkreten Leitfragen der vorliegenden Studie bei. Die am stärksten verbreiteten historisch-soziologischen Ansätze verstehen die Verfassung allgemein als Grund- und Rechtsordnung des Staates. Sie betonen die Spezifika des jeweiligen Falles und insbesondere der Entstehungssituation der Verfassung, bleiben oft länderverhaftet und bewerten Änderungen entweder als Nachholprozesse, Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel, Ausdruck politischer oder gesellschaftlicher Konflikte, Ausfüllung von „Verfassungslücken“ (Banting/Simeon 1985; Levinson 1995b; Loewenstein 1961: 21; Bryde 1982: 120; Grimm 1994: 376) oder als Abbau der ursprünglich intendierten Verfassungsordnung aufgrund von politischen Krisen bzw. durch gezieltes Einwirken politischer Kräfte (Finn 1991; für Deutschland Seifert 1977: 30 ff.; Abendroth 1974: 143; Stuby 1974: 20). Diese Erklärungen neigen im Falle der historischen Ansätze zu einer elitenorientierten Herangehensweise, im Falle der soziologischen Ansätze zu einem nahezu entpersonalisierten Schluss von strukturellen Rahmenbedingungen auf den Wandel des Verfassungsdokumentes. Überlappungen der kulturalistischen und der historisch-soziologischen Herangehensweise finden sich v.a. in den neueren Arbeiten zur europäischen Verfassungsdebatte unter dem Stichwort „(Sozial-)Konstruktivismus“, der zu erfassen sucht, dass normorientierte und sinnsuchende Akteure zu gemeinsamen neuen Deutungen und Normen gelangen, diese „konstruieren“, gleichzeitig aber auch durch die einmal konstruierten Normen beeinflusst sind (Wagner 1999). Im Gegensatz zu den institutionalistischen Ansätzen sind historisch-soziologische Arbeiten auf Multivariabilität angelegt. Die Verfassung, andere Institutionen und Rahmenbedingungen beeinflussen hier die Entstehung kollektiver Akteure und die Herausbildung von Präferenzen, aber die Akteure sind selbst dazu fähig, ihre Umwelt zu verändern. Ähnlich den kulturalistischen Ansätzen kommen historisch-soziologische oft zu plausibel scheinenden, aber so allgemeinen Aussagen, dass diese kaum widerlegbar sind (Grimm 1994: 316). Dass beispielsweise Änderungen notwendig sind, wenn Normen, die bei der Schaffung einer Verfassung ausreichend waren, durch gewandelte soziale, wirtschaftliche oder politische Verhältnisse ihre Funktionsfähigkeit eingebüßt haben (Loewenstein 1961: 21 oder Bogdanor 1988b: 381), lässt ähnlich wie bei den kulturalistischen Ansätzen keine Aussage darüber zu, wann von einer fehlenden Funktionalität die Rede sein kann, wann also eine Änderung zu erwarten ist, wie Problemlösungen verhandelt werden und inwieweit hier auch individuelle Kalküle der Beteiligten eine Rolle spielen. Angesichts der geschilderten empirischen Befunde würde dies zudem bedeuten, die Verfassungsnormen in den meisten Demokratien litten an permanenten Funktionsdefiziten, und zwar die der Änderungsspitzenreiter Österreich, Finnland, Belgien und der Schweiz erheblich stärker als die der Nullreformierer, wie Australien, Benin, Japan oder Spanien. Eine solche These erscheint kaum haltbar. In Deutschland beziehen sich die meisten der regelmäßigen Verfassungsänderungen auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und die Finanzverfassung und lassen sich ebenfalls kaum durch gesellschaftliche Konflikte erklären (Busch 1999: 566; Lorenz 2007).
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1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Rational-choice-orientierte Ansätze bis hin zur Konstitutionenökonomik, die sich mit dem institutionalistischen Ansatz überlappt,32 unterstreichen, dass Verfassungen weniger als oft angenommen den idealistischen Erwägungen des demos entspringen, sich feierlich eine kollektive Identität zu schaffen oder diese zu bewahren, sondern auch und vor allem dem Misstrauen gegenüber der Qualität unregulierter Mehrheitsherrschaft und gegenüber der Gemeinwohlorientierung der Mitmenschen. Individuen verzichten mit der Akzeptanz einer Verfassung auf Handlungsfreiheiten, um wahrgenommene Nachteile reiner Mehrheitspolitik für ihre eigenen Interessen auszugleichen, um die Gefahr einer Willkürherrschaft zu vermeiden, ihre Chance auf Machtbeteiligung zu erhöhen und eine Erwartungssicherheit zu haben. Dies führt dann in der Folge oft zu der Frage, von welchem institutionellen Arrangement welche Akteure besonders profitieren (Elster 1993; Holmes 1993: 196 ff.; Sejersted 1993: 135, Bogdanor 1988a: 4; Lane/Mæland 2000; Congleton 2006; Congleton/Swedenborg 2006; Saalfeld 1995). Rationalistische Ansätze gehen also davon aus, dass Akteure feste Präferenzen haben, die sie in einer institutionell verregelten Umwelt durchzusetzen suchen, auch unter Zuhilfenahme der Verfassung selbst. Entsprechend diesen Überlegungen basiert Verfassungspolitik auf konkreten Interessen der Beteiligten und richtet sich darauf, Anreize und Sanktionen zu schaffen, bei denen es wahrscheinlich ist, dass sie das legislative Verhalten zugunsten maximaler Gewinne aus einer Kooperation der Akteure beeinflussen (Laffin 2000: 534). Diese initiieren, befürworten bzw. akzeptieren Verfassungsänderungen dann – und nur dann, wenn oder sobald der von ihnen ausgehende oder erwartete Nutzen bis hin zu mehr individueller Handlungsfreiheit die Kosten des Wandels (Entscheidungskosten, vorübergehend höhere Transaktionskosten, Wirkungsrisiken) übersteigt. Dies erscheint besonders dann lohnenswert, wenn es um langfristig lukrative Reformprojekte geht. Tendenziell aber neigen Akteure eher zu inkrementalen Neuerungen, da sie hier die Folgen besser abschätzen können (Voigt 2001; Sejersted 1993: 135; North 1990). Eine besondere Erklärungsrichtung stellen die Vetospieler-Ansätze dar, die die Durchsetzbarkeit von Reformen oder beispielsweise den Verfassungswandel per Gerichtsentscheidungen entweder auf konkrete Akteure im politischen Prozess oder aber auf Systemstrukturen (Vetospieler, Vetopunkte) zurückführen, die den Handlungsspielraum der Entscheidungsträger blockieren könnten. Je mehr Vetospieler, so die zentrale Annahme, desto stärker seien die Barrieren gegen Mehrheitsherrschaft (Huber u.a. 1993: 728; Schmidt 2000; Kaiser 1997, 1998; Colomer 1995), desto geringer also logischerweise die Chance von Verfassungsänderungen. Diese Grundannahme wurde in der Nachfolge ausdifferenziert, aber die Tendenz blieb bestehen. Kooperative spieltheoretische Modelle versuchen, zusätzlich zur Anzahl der Vetospieler deren Kräfteverhältnisse und „besten Strategien“ bzw. Präferenzenaushandlung und –aggregation zu ermitteln, und zwar in Abhängigkeit von Institutionen (Mehrheitsregel, Vorschlagsrechte usw.) und bei unterstellter voller Ausschöpfung der Kompetenzzuschreibungen (Hammond/Miller 1987, Tsebelis 1999, 2002, Lane/Mæland 2000, McCarthy 2000; Vanberg 2001). Ökonomisch ausgerichtete Ansätze scheinen zunächst klarer, bringen konkretere und damit besser testbare Hypothesen hervor als die beiden zuletzt vorgestellten Ansätze. Einige werden in Kapitel 2.3 geprüft. Diese stärkere Fähigkeit zur Hypothesenschöpfung liegt auch an ihrer geringen Aufmerksamkeit gegenüber dem Kontext von Verfassungsänderun32
Die Institutionenökonomik zielt auf die Prognose wahrscheinlicher Ergebnisse politischen Handelns unter gegebenen Bedingungen, nicht auf die politics-Dimension an sich.
1.3 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick
33
gen, die eine formale, realitätsenthobene Modellbildung fördert. Was rational-choiceVertreter als Vorteil zugunsten besserer Generalisierungsmöglichkeiten explizit befürworten, kann man aber auch als Nachteil dieser Ansätze bewerten. Neben der Annahme exogener, stabiler Präferenzen, von denen auf das Verhalten gegenüber den Institutionen geschlossen wird, ist die grundsätzliche Quantifizierbarkeit der Erträge in allen Dimensionen verfassungspolitischer Entscheidungen durchaus streitbar, aber auch die Möglichkeit, politische Idealpunkte von Akteuren ausmachen zu können (Ganghof 2003; Hurley 2005). Die Anwendung ökonomischer Ansätze auf konkrete Beispiele jenseits einer Wahl aus eindeutigen Alternativen ist äußerst schwierig, und die scheinbar exakten „Berechnungen“ gehen mit sehr vereinfachten Annahmen und Kosten-Nutzen-Schätzungen einher. Komplexere Modelle berücksichtigen zwar unterschiedliche unabhängige und intervenierende Variablen, funktionieren aber nur bei unterstellter universeller Rationalität – eine Annahme, die ebenso realitätsfern ist wie kurze Entscheidungsprozesse in einer relativ konstanten Umwelt. Dass der „menschliche Faktor“, affektgeladenes Handeln, die Eigendynamiken sozialer Interaktionsprozesse oder sozialpsychologische Befunde über soziale Rollen und Identifikation ausgeblendet bleiben, kann die Deutungskapazität dieser Ansätze je nach Fragestellung ebenfalls erheblich schmälern (Finkel/Muller 1998: 46; Marwell/Oliver 1993: 10; Kahnemann/Tversky 1979; Beyme 1997: 16; Green/Shapiro 1994: 141). So bleibt bei Vetospieler-Ansätzen trotz des „Spieler“-Begriffs die Vetostruktur der politischen Systeme oft ein abstrakter Indikator für mögliche Handlungsbeschränkungen der Entscheidungsträger und die angeführten Maße sind zumeist nicht akteurstheoretisch fundiert (Lijphart 1999, Schmidt 2000), weshalb sie sich wie die Konstitutionenökonomik mit den institutionalistischen Erklärungsansätzen überlappen. Die Ansätze sind oft blind gegenüber der Fähigkeit zum Lernen „aus sich heraus“ oder im Diskurs mit anderen sowie gegenüber Werte- und Interessenverschiebungen ohne konkrete externe Ursache (Rittberger 2003). Überdies kann auch wertorientiertes Handeln rational sein (vgl. Aaken 2004; Woods 2001). Sollen diese Einwände berücksichtigt werden, so verlieren die Modelle ihr großes Plus, nämlich die Einfachheit, und die Erstellung von „Präferenzskalen“ wird noch schwieriger. In der Politikwissenschaft zeigt sich bei der Erklärung von Verfassungsänderungen in letzter Zeit so wie in anderen Feldern eine Neigung zum soziologischen oder historischen Neo-Institutionalismus, wenngleich die unter diesem neuen Label firmierenden Mischansätze, die Anleihen in verschiedenen Forschungsdiziplinen nehmen (Immergut 1998), auch in der Vergangenheit faktisch bereits genutzt wurden. Sowohl soziologischer als auch kultureller oder historischer (Neo-)Institutionalismus gehen von der Annahme aus, dass die individuellen Präferenzen und Wahrnehmungen von Akteuren durch ihren institutionellen Kontext beeinflusst sind und thematisieren diese Wechselwirkungen (z.B. March/Olsen 1989), sie nehmen dies jedoch nicht als einzige Entwicklungsdeterminanten an. Sie erweisen sich vor allem dann als nützlich, wenn es um die Erklärung einzelner oder weniger Fälle ging. Für den Vergleich vieler oder aller Demokratien eignet sich ein Mischansatz aufgrund seiner Komplexität nur bedingt, denn das Wechselspiel zwischen Akteuren, Institutionen und Kontext müsste systematisch für alle Fälle berücksichtigt werden. Zudem neigt ein solcher komplexer Ansatz zum Determinismus, zu Erklärungen, die vielleicht plausibel scheinen, aber so angelegt sind, dass sie nicht scheitern können, was eigentlich eine methodische Grundvoraussetzung wissenschaftlichen Denkens ist. Keine der hier nur kursorisch abgebildeten Forschungsrichtungen erklärt Änderungen bestehender Verfassungen letztlich erschöpfend. So lösen entgegen der systemtheoretischen
34
1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
Annahme, dass in Demokratien die Politik prinzipiell die von der Bevölkerung artikulierten Forderungen und Erwartungen befriedigt, um die Legitimation und damit die Systemstabilität zu erhalten (Almond/Powell/Mundt 1996), die modernen Demokratien viele Probleme nicht dauerhaft effektiv (Wiesenthal 2002, 2006). Und so kann es zwar sein, dass politische Innovationen auf Krisen, ideologische Verschiebungen, innenpolitischen Wandel, Internationalisierung und ähnliche Phänomene folgen, die sich gegenseitig vorantreiben und „Reformfenster“ öffnen (z.B. Müller/Wright 1994: 7; Kingdon 1984: 173 ff.; Armingeon 1993: 164), doch erklärt dies kaum konkrete Prozesse und Unplanmäßigkeiten, Entwicklungsbrüche, nicht die konkrete inhaltliche Ausgestaltung von Verfassungsänderungen oder die Nichtreaktion auf bestimmte andere Impulse des Wandels. Die allumfassende Erklärung ist allerdings zumeist auch nicht der Anspruch der einzelnen Ansätze. Positiv gewendet, eröffnen sie vor dem Hintergrund eines sozialwissenschaftlich inzwischen breit akzeptierten Zusammenspiels von Akteuren, Institutionen und Kontextbedingungen jeweils wichtige Deutungsperspektiven, die das Verständnis für konstitutionellen Wandel verbessern. Inspiriert durch die Idee des aus der Wahlforschung bekannten „Kausalitätstrichters“ (Campbell u.a. 1960: 24 ff.), kann man die skizzierten Ansätze hinsichtlich ihres Erklärungsgehaltes für die Aushandlung von und Entscheidung für Verfassungsänderungen (markiertes Rechteck) folgendermaßen sortieren.33 Abbildung 3:
Verfassungspolitischer „Kausalitätstrichter“
Agendasetzung
Aushandlung
Verfassungsänderung
[v. a. Regierungssystem] Makro-Erklärungsansätze (Gesellschaft, Geschichte, Kultur, Institutionen)
Mesoebene- und akteurbezogene Erklärungsansätze (Rationalismus, Neo-Institutionalismus, Verhandlungstheorien, sozialpsychologische Erklärungen, Diskurstheorie
Während die auf die Makroebene gerichteten Ansätze gut erklären können, wie die Handlungsparameter tendenziell vorstrukturiert sind, zeigen Ansätze, die auf die Mikro- und Mesobene des Systems gerichtet sind, wie Akteure innerhalb eines spezifischen Handlungskontextes und angesichts gegebener Institutionen kurz- bis mittelfristig verfassungspolitisch agieren, Entscheidungen treffen und dabei potenziell auch überlieferte Traditionen und institutionelle Strukturen verändern sowie neue konstruieren. Hier geht die Erklärung des Warum über in die Erklärung des Wie. Die in der Abbildung verzeichneten sozialpsy33
Die Effekte einer Verfassungsänderung wirken wieder als institutionelle Rahmenbedingungen, die späteres Handeln, spätere Aushandlungen vorstrukturieren. Unklar bleibt die Verortung strikt rationalistischer Ansätze, die von festen Präferenzen der Akteure ausgehen und nicht thematisieren, woher diese kommen bzw. ob sie langfristig doch von bestimmten Rahmenbedingungen vorgeprägt sind. Klar ist nur, dass sie nicht in den kurzfristigen Aushandlungen mit anderen verändert werden.
1.3 Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen im Überblick
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chologischen Erklärungen sind dabei ein möglicher, in der Verfassungsliteratur aber praktisch nicht ausgearbeiteter Ansatz. Im Rahmen des markierten Rechtecks kommt den Akteuren eine unmittelbare Bedeutung zu. Sie akzeptieren die Verfassung, (re-)interpretieren und verändern sie, wenden sie an und kontrollieren ihre Geltung (Vorländer 2002a: 12f.). Sie müssen systemische Funktionsstörungen und strukturelle Zwänge überhaupt erst als solche wahrnehmen, um auf sie reagieren zu können, sie müssen dazu Alternativen erkennen und Maßnahmen konzipieren, um einen Wandlungsprozess in Gang zu setzen (Weaver 2000: 69; Krockow 1976: 18; Kaiser 2004). Sie beeinflussen, wie sich das vielbeschworene „history matters“ oder „culture matters“ praktisch ausprägen, nämlich welche Deutungen welchen Teils der Geschichte, welche Werte, welche Interessen, welche Traditionen wann in welcher Weise aufgegriffen oder verarbeitet und dann wie bei Regelkonstruktionen berücksichtigt werden – und welche nicht.34 Änderungsnutzen und -reichweite müssen zudem erst vermittelt, ausgehandelt, gegen Widerstände durchgesetzt werden. Dabei gehen die Akteure gemäß dem rationalistischen Ansatz wissend und „raffiniert“, die Schritte ihrer Mitspieler antizipierend, vor.35 Folgt man diesen Überlegungen, dann ist für das erste und zweite Kerninteresse der Studie, die Analyse der konkreten Aushandlungen von Verfassungsänderungen, ein akteurund interaktionenorientierter Ansatz, der von rationalen Akteuren ausgeht und die Verbundenheit von Akteuren mit ihrem (nicht nur) institutionellen Umfeld prinzipiell anerkennt, besonders geeignet (ähnlich Kaiser 2002; Weaver 2000; Schultze 1997; Bogdanor 1988a; Petersson 2004; Elster/Slagstad 1993; Banting/Simeon 1985; Schultze/Sturm 2000). Die erwähnten Einwände und das Interesse der Studie daran, die Rationalität des Handelns der Akteure zu hinterfragen, lassen jedoch einige Erweiterungen sinnvoll erscheinen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich in der Verfassungsliteratur, wie erwähnt, faktisch keine Überlegungen zum Einfluss sozialpsychologischer Variablen, aber auch von Selbstlaufmechanismen auf Entscheidungsprozesse finden. Begreift man die Durchsetzung von Verfassungsänderungsinitiativen (auch) als Durchsetzung von Ideen, die Einigung als gelungene Konfliktschlichtung, dann könnten solche Überlegungen die politikwissenschaftliche Erklärung von Verfassungsänderungen durchaus produktiv bereichern.36 Diese Problematik wird bei der Konzipierung des Untersuchungsdesigns in Kapitel 2.1 berücksichtigt werden. Für das dritte Leitinteresse der Untersuchung, das Verhältnis zwischen Verfassungsänderungspolitik und „normaler“ Politik zu sondieren, ist ein weiterer Ansatz der Verfassungstheorie bedeutungsvoll, der aufgrund seiner spezifischen Anlage „quer“ zu den bisher vorgestellten Ansätzen liegt. Dabei handelt es sich um den theoretisch-normativen Ansatz der deliberativen Demokratie bzw. Verfassungspolitik (z.B. Habermas 1994, 1995; Kapitel 2.1). Ihm gemäß sollte bestenfalls alle Politik deliberativ erfolgen, mindestens aber die Verfassungsänderungspolitik. Solange das Ideal deliberativer Politik nicht umfassend umgesetzt ist, muss sich mindestens die Verfassungspolitik von der „normalen“ Politik unter34 35
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Das ergibt sich schon aus der ganz einfachen Überlegung, dass die heutige uneindeutige Gemengelage aus Akteuren, Interessen, Wertvorstellungen, strukturellen Einflüssen die Vergangenheit der Zukunft sein wird. So wurden in der Schweiz und in Finnland selbst kurz vor und nach der Einführung neuer Verfassungen im Jahr 2000 viele konstitutionelle Änderungen beschlossen, um einmal ausgehandelte Vereinbarungen gleich „festzuzurren“ oder um sensible Machtfragen einzeln zu verhandeln, ohne die notwendigen Mehrheiten für das Gesamtpaket zu gefährden – in der Schweiz etwa Veränderungen im Verhältnis zwischen Regierungsentscheidungen und Plebisziten sowie in der Verfassungsgerichtsbarkeit (Biaggini 1999). Einen Bedarf an mehr Interdisziplinarität in der Forschung zur Verfassungspolitik konzedierte jüngst auch Oberreutter (2004).
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1 Verfassungsänderungen – ein erster Zugang
scheiden. Gerade US-amerikanische Verfassungstheorien erachten eine strikte Trennung der jeweiligen Akteure und Aushandlungsmechanismen von denen der Alltagspolitik als notwendig für den demokratischen Konstitutionalismus. Es bedürfe für ihn einer deliberativen Aushandlung in außerordentlichen Gremien. Vernünftige, „gute“ Verfassungspolitik komme durch die abwägende, Argumenten gegenüber offene Suche freier und gleicher Bürger (oder spezifisch bestimmter Repräsentanten) nach Konsens über gemeinsame Werte und Prinzipien zustande, die dafür sorgen, dass in einem System jeder Person die gleiche Beachtung und der gleiche Respekt zukommt. Zumindest unterschwellig wird für etablierte Demokratien erwartet, dass die Politik verfassungstheoretische Überlegungen zur Kenntnis nehmen und befolgen sollte. So kritisierte Lhotta in bezug auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die Präferenz der Entscheidungsträger für „das unterhalb der verfassungstheoretischen Reflexion angesiedelte… Verfahren der normalen Verfassungsänderung, mit dem man verfassungspolitisch die anstehenden Probleme besonders angemessen zu lösen können glaubte“ (1998: 160f.). Das Streben nach Problemlösung allein wird den hohen normativen Ansprüchen an die Verfassungspolitik in Demokratien also nicht gerecht. Die Unterscheidung von Idealtypen der „normalen Politik“ und der demokratischen Verfassungspolitik bietet insofern neben den bereits in Kapitel 1.1 eingeführten Gütekriterien einen guten abstrakten normativen Referenzrahmen für die Gesamtbewertung der in der Studie beobachteten Verfassungsänderungspolitik (siehe Kapitel 2.1).
1.4 Zwischenbilanz In diesem Kapitel wurde zunächst ersichtlich, dass sich die normativen Ansprüche an „gute“ Verfassungspolitik im Zuge der Verbreitung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie immer weiter erhöhten. Beide Konzepte überlappen sich teilweise recht deutlich, stehen aber trotzdem in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Sie sind oft von nationalen oder regionalen verfassungs- und demokratietheoretischen Denkmustern geprägt. Neben implizitem Verfassungswandel stellen explizite Textänderungen eine spezifische Form der Verfassungentwicklung dar, die gut beobachtbar und durch höhere formale Änderungshürden gekennzeichnet ist, über die die Politikwissenschaft aber noch wenig systematisch weiß. Die Studie widmet sich daher den Aushandlungen solcher expliziten Verfassungsänderungen mit dem Anspruch eines zielgerechten Vergleichs. Wie Kapitel 1.2 aufzeigte, gehen die hohen Ansprüche interessanterweise mit einer großen Häufigkeit von Verfassungsänderungen einher, die dem „Ewigkeitsprinzip“ von Verfassungen widerspricht. Empirisch zeigte sich, dass explizite Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien regelmäßig stattfinden und dabei keinen regionalen Häufigkeitstrends folgen. Sie sind jeweils nicht reformerisch angelegt, berühren aber wiederholt die Kernbelange der Verfassungen und bedürfen insofern einer genaueren Langzeitbeobachtung über die einzelne Änderung hinweg, um ihre Effekte für das politische System bewerten zu können. Aussagen zu Ursachen, Abläufen und Rationalität sowie zum Verhältnis zwischen Verfassungs- und „normaler Politik“, wie sie in der Studie angestrebt werden, lassen sich indes auch durch die vergleichende Analyse von Einzelfällen aus unterschiedlichen Systemen erarbeiten.
1.4 Zwischenbilanz
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Kapitel 1.3 entwickelte die Überlegungen weiter und plädierte nach einer Durchsicht der Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen für die Anwendung eines akteur- und interaktionsorientierten Ansatzes, der sich an Grundannahmen der Rationalwahlforschung orientiert. Allerdings wurde angesichts bestimmter potenzieller Deutungsdefizite dieses Ansatzes argumentiert, dass einige Erweiterungen der Annahmen sowie die empirische Prüfung von rationalistischen Erwartungen und von Alternativerklärungen sinnvoll sind. Schließlich wurde der normative Ansatz der deliberativen Politik, der ein zur Rationalwahl kontrastierendes verfassungspolitisches Ideal impliziert, als geeignetes Hilfsmittel bewertet, um die beobachtete Verfassungsänderungspolitik kriterienbasiert beurteilen zu können.
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Dieses Kapitel stellt den Untersuchungsansatz genauer vor. Der erste Abschnitt erläutert die Grundannahmen, die auf eine Erweiterung des rationalistischen Ansatzes ausgerichtet sind. Der zweite begründet die Wahl einer teilinduktiven, prozessorientierten Vorgehensweise sowie der Konkordanzmethode und formuliert Analysekriterien. Der dritte Abschnitt prüft mithilfe quantitativer Verfahren theoretisch abgeleitete Hypothesen zum Einfluss (für die Erklärung nicht herangezoger) institutioneller und Kontextvariablen auf die Überwindung der Änderungsschwelle von Verfassungen, um das Risiko einer verzerrten Fallauswahl zu senken. Im vierten Abschnitt werden dann auf Basis der Befunde jene Beispiele für Verfassungsänderungen ausgewählt, die später einem Vergleich unterzogen werden sollen.
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen Der in der nachfolgenden Studie genutzte Erklärungsansatz geht davon aus, dass Verfassungen nicht neutrale, universell übergeordnete Prinzipien menschlichen Zusammenlebens reflektieren, sondern dass sie aus Auseinandersetzungen verschiedener Akteure um die Befriedigung eigener Interessen, um Deutungshoheit und um aus ihrer Sicht „technisch beste“ institutionelle Lösungen und Steuerungsmodelle resultieren (Schultze 2000: 17; Fish 1992; Walker 1997: 157f.). Akteure sind es also, die auf Basis ihrer Präferenz-, Institutionen- und Kontextwahrnehmungen „Geschichte machen“. Die Umwelt und die in der Verfassung festgeschriebenen Verfahren setzen ihren Handlungsmöglichkeiten zwar einen Rahmen, doch innerhalb dieses Rahmens bestimmen sie bzw. ihr Zusammenspiel, welche Politik formuliert wird sowie ob (und welche) Änderungen an dem institutionellen Rahmen selbst vorgenommen werden. Diese theoretische Überlegung leitete einen ganzen Strang (nicht nur) verfassungspolitischer Arbeiten an (Karl/Schmitter 1991: 274; Dahl 1996; Loewenstein 1961: 21, Glaeßner 1999: 147; Kitschelt 1999: 2f.; Hilpert/Holtmann/Meisel 1998: 7; Blondel 1987: 27 ff.). Verfassungspolitik vorrangig aus dem Wechselspiel unterschiedlicher Intentionen, Situationsdeutungen, Handlungen und Interaktionen herzuleiten (Braun 1995; Scharpf 2000) bedeutet, bewusst das analytische Seziermesser anzulegen, obwohl die Verbundenheit von Akteuren mit institutionellen Rahmenbedingungen und Kontext plausibel ist und belegt wurde (z.B. Kaiser 2004; Schultze 2000; Dahl 1996). Die Beschränkung ist dennoch sinnvoll, um den Akteuren eine vertiefte Aufmerksamkeit widmen zu können und sie nicht in einer überkomplexen Gemengelage unterschiedlicher Variablen untergehen zu lassen. Bislang jedenfalls liefert die Verfassungsliteratur keine erschöpfenden Antworten auf die Fragen, was in etablierten Demokratien unabhängig vom konkreten institutionellen Setting und von konkreten Rahmenbedingungen die gemeinsame, das Regierungslager zumeist übergreifende Entscheidung von Akteuren auf Verfassungsänderungen begünstigt (erstes Leitin-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
teresse), wie rational Akteure handeln (zweites Leitinteresse) und in welchem Verhältnis zueinander Verfassungspolitik und „normale“ Politik stehen (drittes Leitinteresse). Es geht also nicht darum, Akteure und auf sie bezogene Variablen allen anderen vorgeblich defizitären Erklärungsansätzen entgegenzustellen, sondern Ziel ist es, mit der systematischen Analyse ihres Handelns einen wichtigen Baustein zur Entwicklung einer empirisch fundierten Verfassungstheorie zu liefern. Dass der Handlungsrahmen der Akteure vorstrukturiert sein kann, wird dabei akzeptiert und bei der Fallauswahl berücksichtigt. Die folgende Darstellung des Erklärungs- bzw. Untersuchungsansatzes widmet sich zunächst dem Akteurbegriff und dem allgemein zu erwartenden Verhalten der Akteure. Danach werden mit Bezug auf die drei Kerninteressen des Buches die jeweiligen konkreteren Annahmen vorgestellt. Akteure können gemäß dem hier genutzten Ansatz sowohl Individuen als auch Kollektivakteure sein. Von einem Kollektivakteur ist dann zu sprechen, wenn er über interne Regeln und organisatorische Routinen zur Festlegung von Zielen, Instrumenten zur Zielerreichung und deren Anwendung verfügt. Sie ermöglichen es in Form verbindlicher Vorgaben, dass vorübergehend einzelne Vertreter als Delegierte des Kollektivakteurs auftreten.37 Eine solche institutionell definierte kollektive Handlungseinheit kann eine Partei sein, aber auch eine Regierung, die von dieser Partei geführt wird; Überlappungen sind also – wie bei sozialen Rollen von Individuen (Wiswede 1977) – möglich. Individuelle und Kollektivakteure werden als grundsätzlich rational angenommen, da diese Eigenschaft notwendige Voraussetzung des langfristigen Überlebens im System ist (Rescher 1994). Bei Kollektiventscheidungen gleichen sich zudem rationalwahltheoretisch individuell verzerrte Wahrnehmungen oder „Fehler“ (Abweichungen von der Präferenzordnung unter vollständigen Informationsbedingungen) gegenseitig aus, so dass der Akteur langfristig mehr oder weniger effizient gemäß den intern vereinbarten Zielen und Programmatiken handelt. Dies gilt besonders bei Kollektiven, deren Mitgliederstruktur relativ homogen ist (Lau/Redlawsk 2001: 951f.; Shepsle/Bonchek 1997: 53 ff.). Rationales Handeln ist definiert als eine durch Ressourcenknappheit geprägte, reflektierte Wahl aus Alternativen. Rationale Akteure verfolgen Interessen, leiten aus ihnen Ziele ab und nutzen Instrumente, um diese Ziele zu erreichen. Sie sind bestrebt, Risiken abzuwenden und Transaktions- und Entscheidungskosten zu minimieren (u.a. North 1990; Czada/Windhoff-Héritier 1991; Kirchgässner 1991; Richter/Furubotn 1999; Voigt 2002). Es kann gemäß dem rationalistischen Ansatz erwartet werden, dass wesentliche Interessen aller Akteure die Aufrechterhaltung der eigenen Strukturen, der Machterhalt sowie die Umsetzung der eigenen Programmatik sind. Daraus leiten sich untergeordnete Ziele ab, etwa die Erfüllung der Aufgaben im eigenen Verantwortungsbereich, um nicht abgelöst oder abgewählt zu werden oder um einen Beitrag zur Umsetzung der eigenen Programmatik zu leisten. Aus Sicht eines strikt-rationalistischen Ansatzes, der sich auf die Prognose von Entscheidungen unter idealen Bedingungen und dabei auf Parameter des konkreten Vorhabens 37
Diese Vereinbarung ist quasi das Äquivalent zum Weberschen Definitionsmerkmal intendierten Handelns, mit dem Tätigsein einen subjektiven Sinn zu verbinden (Weber 1972: 1). Diese pragmatische Verwendung entspricht nicht dem methodologischen Individiualismus strikter Rationalwahlmodelle, der davon ausgeht, dass Kollektiv- oder Korporativentscheidungen sich immer aus den Entscheidungen einzelner Individuen ergeben und dass Gruppen keine natürlichen Präferenzen oder Glaubensannahmen haben (Shepsle/Bonchek 1997: 19; Czada 1997: 68f.). Dies stimmt zwar, doch können sie auf Basis eigener Prozeduren z.B. in gemeinsamen Programmen kollektive Realitätsbeschreibungen, ideelle Glaubens-, Ziel- und Maßnahmenvereinbarungen ausbilden oder durchaus historisch gewachsene Identitäten aufweisen (etwa Parteien).
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
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allein konzentriert, stimmen Akteure Verfassungsänderungen (nur) dann zu, wenn der Nutzen aus ihnen eindeutig die Kosten übersteigt, alles andere sind Fehler (biases) aufgrund von „Konfusion“ oder „kognitiver Illusionen“ (Andreoni 1995; Kahneman u.a. 1982; Gilovich u.a. 2002). Der erwartete Nutzen einer bestimmten institutionellen Lösung bzw. Verfassungsänderung ist gemäß einer solchen „as-if-Theorie“ (Gigerenzer 200638) die Summe aller positiven aus ihr resultierenden Effekte, gewichtet nach der Wahrscheinlichkeit, dass jeder Effekt eintrifft (Shepsle/Bonchek 1997: 34) und nach der Bedeutung, die ihm jeweils beigemessen wird. Man kann nun verschiedene Gewinnarten unterscheiden. Ein substanzieller Gewinn basiert auf dem Inhalt der verfassungspolitischen Maßnahme selbst, etwa auf einem in ihr vereinbarten distributiven Vorteil oder der Durchsetzung normativ begründeter verfassungspolitischer Präferenzen. Ein nichtsubstanzieller Gewinn basiert nicht auf dem Vorhaben selbst. Er kann sich aus dem verfassungspolitischen Prozess ergeben (z.B. Reputationsgewinn) oder aus möglichen Koppel- und Tauschgeschäften, die andere Materien berühren. Nützlich ist eine gewählte Lösung auch dann, wenn es zwar bessere gäbe, sie aber immerhin besser ist als der Status quo. Gemäß Überlegungen der Verfassungsökonomie ist denjenigen Änderungsinititiativen eine höhere Erfolgsaussicht beschieden, die dem Interesse von Akteuren an stabilen Grundprinzipien des Zusammenlebens entgegenkommen und die nicht konkrete Verteilungsfragen berühren (Buchanan/Tullock 1962; Vanberg/Buchanan 1989). Andererseits lassen sich bei Verteilungsproblemen in der Praxis oft leichter Kompromisslösungen finden als bei ideologischen Grundsatzkonflikten, auch wenn sie womöglich nur vorübergehend gelten (Susskind/McMahon 1990: 72). Zu den Kosten einer verfassungspolitischen Initiative zählen aus der Sicht des einzelnen Akteurs substanzielle Kosten, also Kosten aus der zu treffenden Regelung (beispielsweise Machtverlust bei erweiterten Rechten für andere) sowie die Kosten der Entscheidung, die ceteris paribus mit der kognitiven Beanspruchung (Komplexität, Kompliziertheit einer Materie), der Zahl der relevanten Aushandlungsbeteiligten und dem entgangenen Nutzen aus Handlungsalternativen (Opportunitätskosten) steigen (Buchanan/Tullock 1962; Schmidt 1997). Hinzu kommen die Folgekosten einer Entscheidung etwa bei deren Implementation und „Kollateralkosten“, die aus Interdependenzen einer Entscheidung mit anderen Materien entstehen. In einem langfristigen Verständnis können auch Entscheidungskosten anderer Akteure, die als externe Effekte oft nur bei der Kostenmodellierung auf Systemebene berücksichtigt werden, auf die Akteure zurückfallen.39 Strikt rationale Akteure nehmen alle anfallenden Kosten bewusst in Kauf und übersehen nichts. Müssen sich unterschiedliche Akteure, wie bei Verfassungsänderungen zumeist der Fall, auf die Befürwortung einer bestimmten Vorlage einigen, dann bedarf es der Aushandlung, also der interaktiven Vermittlung ihrer Ziele in einem Wettbewerbsraum. Dass Akteu38 39
Gigerenzer unterscheidet die as-if-Theorie der unbegrenzten Rationalität und die der „optimization under constraints“ (2006: 116 ff.) Externe Kosten betreffen per definitionem Dritte, die nicht an der Aushandlung der Kollektiventscheidung beteiligt waren. Da solche externen Kosten aber auf irgendeine Weise internalisiert werden müssen, um Nachhaltigkeit bzw. Systemstabilität zu gewährleisten, können sie potenziell auch auf den Einzelakteur zurückkommen. Eine nur punktuelle oder eindimensionale Kosten- und Nutzenabwägung ist also riskant und kann zu unbeabsichtigten Effekten und Einbußen führen. In ähnlicher Weise lässt sich begründen, warum Akteure, selbst wenn sie nicht für die Umsetzung einer Verfassungsänderung verantwortlich sind, die Kosten für das Gesamtsystem, etwa Implementationskosten, möglicherweise berücksichtigen.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
re über unterschiedliche Ressourcen (z.B. Mandate, Informationen, Mobilisierungspotenzial) verfügen, die ihre Verhandlungsmacht konfigurieren, beeinflusst neben ihren Zielen (bzw. der Distanz ihrer policy-Präferenzen) gemäß den rationalistischen und Verhandlungsansätzen ihre Wahl an Interaktionsstrategien. Die Kombination aus diesen Variablen und den individuellen Annahmen über die Wirkungsweise des eigenen Handelns bestimmt demnach das Verhalten der Akteure, infolgedessen die inhaltliche Aushandlung von Verfassungsänderungen und die Wahrscheinlichkeit ihrer Verabschiedung (vgl. Colomer/ Negretto o.J.: 28; Muthoo 2000). Diese grundsätzlichen rationalistischen Überlegungen sind klar, plausibel und gestatten es, trotz nicht beobachteter interner Abläufe der Akteure deren Handeln nachvollziehbar zu machen (Manow/Ganghof 2005: 4f.). Sie werden deshalb als Leitkonzept benutzt. Allerdings sind gewisse Zweifel angebracht. In seiner vergleichenden Analyse der kanadischen und der US-amerikanischen Verfassungspolitik bezweifelte Weaver (2000) bereits die empirische Gültigkeit bestimmter Grundprämissen des rationalistischen Ansatzes, wie die Stabilität der Präferenzen im Zeitverlauf. In Zweifel ziehen lassen sich auch die übliche Reduktion von Verfassungsänderungsprozessen auf ein oder zwei Entscheidungssituationen und die Rückführung auf wenige Variablen (mindestens Distanz der Politikinhalte, Verhandlungsmacht). Die Annahme einer strengen universellen Rationalität, die sich an exakten Bezugspunkten, Maßeinheiten und Indikatoren bei der Entscheidung für ein KostenNutzen-optimiertes Ergebnis orientiert (Lubell/Scholz 2001; Windhoff-Héritier 1991; Mueller 1995: 13), wurde jenseits der Forschung zur Verfassungspolitik vielfach hinterfragt, ebenso die Existenz eindeutiger Präferenzen bzw. politischer Idealpunkte (Ganghof 2003). Darüber hinaus wurde experimentell beobachtet, dass Akteure mehr kooperieren, als rational erklärbar wäre, besonders wenn ernsthafte, realitätsnahe Situationen simuliert wurden (Kiyonari/Tanida/Yamagishi 2000). Wie sich Akteure unter den möglicherweise in der Verfassungspolitik vorfindbaren Bedingungen von Erwartungs-, Mess- und Präferenzunsicherheit verhalten, ist für etablierte Demokratien nicht empirisch-systematisch erforscht.40 Die vorliegende Untersuchung wird daher auch angetrieben von dem Interesse, bei der Sondierung verfassungspolitischer Muster die Gültigkeit der rationalistischen Annahmen zu prüfen und sie gegebenenfalls zu modifizieren.Die theoretischen Annahmen und entwickelten Analyseinstrumentarien hierfür werden im Folgenden vorgestellt. Wie die Untersuchung insgesamt folgt die Darlegung der Logik bzw. Struktur des politischen Prozesses, beginnend also mit der Initiierung eines Verfahrens über die Reaktion der Mitspieler, Interaktionen, bis hin zum Effekt einer Einigung auf explizite Verfassungsänderungen. Ausgangspunkt sind immer Annahmen, die der Forschung zur Rationalwahl, Verhandlungstheorien, dem interaktionsorientierten Neoinstitutionalismus und der collective-choice-Forschung41 entlehnt sind (bes. Olson 1965; Scharpf 2000; Keefer/Stasvage o.J.; Susskind/Cruikshank 1987; Fisher/Ury 1981, Raiffa 1982; Wea40
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Sie können beispielsweise, wenn sie sich nicht sicher sind, ob sie an der Macht bleiben oder diese erlangen, institutionelle Veränderungen zugunsten einer größeren Offenheit und Inklusivität vorantreiben oder akzeptieren, um das Risiko zu mindern, ganz aus der Machtausübung ausgeschlossen zu werden (Colomer 2001: 239). Plausibel könnte hier aber auch jeglicher Verzicht auf Änderungen sein. Letzteres ist möglich, wenn man die an einer Verfassungsänderung Beteiligten als latente Gruppe abstrahiert, deren Mitglieder themengebunden interagieren. Bei Olson (1965) besteht eine latente Gruppe aus vielen Mitgliedern, während kleinere Gruppen „privilegiert“ sind, weil sie den negativen Effekten der Gruppengröße weniger ausgesetzt sind. Phänomene, die die collective-choice-Forschung herausarbeitete, wie das Trittbrettfahrertum, wurden bereits oft auf andere Interaktionssituationen übertragen.
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
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ver 2000: 51 ff.; Muthoo 1999, 2000; Manfredi 1997). Danach werden alternative Annahmen vorgestellt, die aufgrund der entsprechenden Lücke der Verfassungspolitikforschung vorab noch nicht genau spezifiziert werden können. Zu erwarten ist gemäß strikt-rationalistischen Annahmen, dass Akteure strategisch handeln, also vor der Initiierung von Verfassungspolitik (und danach) das Verhalten ihrer Mitspieler antizipieren, Einwänden aus dem Weg gehen, besonders wenn ihre Verhandlungsmacht nicht maximal ausgeprägt ist, und günstige Momente, „Opportunitätsfenster“ nutzen, um ihre Ziele bei möglichst geringen Kosten zu erreichen (Kingdon 1984: 173 ff.). Erwartbare Instrumentarien zur Zielerreichung sind die Verbindung vertrauter und positiv konnotierter Elemente mit neuen Elementen in einem Konzept, um die Risikoaversion der Mitspieler zu dämpfen, sowie die Vermeidung einer klar definierten Zielsetzung der Verfassungsänderung, um Bewertung und Kritik zu erschweren (u.a. Laffin 2000: 534; Hilpert 1997; Heinemann 1999; Olson 1965). Allerdings findet sich in der Literatur auch die Annahme, dass vage, interpretationsflexible Formulierungen eine Einigung erschweren, weil Interpretationsflexibilität das Risiko späterer Auslegungskonflikte und von Gerichtsprozessen mit ungewissem Ausgang erhöht (Manfredi 1997). Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch dazu, ob es für Agendasetzer nützlich ist, eher wertebasierte oder Verteilungs-Aspekte des Vorhabens zu betonen bzw. davon abzulenken. Weniger eindeutig prognostizierbar sind die eigentlichen Motivlagen von Akteuren bei der Initiierung von Politik oder auch bei der Positionierung formal oder informell unternommener Initiativen (Scharpf 2000: 121). Hier muss daher offen danach gefragt werden, um welche Ziele es ging, wie eng sie mit der Tagespolitik zusammenhingen und ob sie sich auf einen substanziellen Gewinn oder einen nichtsubstanziellen Gewinn (z.B. Prozessnutzen) richteten. Der as-if-Rationalismus geht von umfassenden Kosten-Nutzen-Abwägungen der Akteure aus, deren eindeutige Präferenzskalen aber letztlich die Reduktion auf relevante Entscheidungsdimensionen mit klaren Alternativpolen zulassen. Die Eignung dieser Herangehensweise für die Prognose von Entscheidungen soll für die Verfassungspolitik hinterfragt werden. Dafür werden als ein Baustein die jeweils mit der angestrebten Verfassungsänderung zusammenhängenden wichtigsten Problemkomplexe empirisch sondiert. Ziel dieses Analyseschritts ist nicht die umfassende inhaltliche Diskussion dieser Problemkomplexe oder die Entwicklung eines Tableaus theoretisch denkbarer Handlungsoptionen. Vielmehr geht es darum, ein Verständnis für den Grad der Komplexität von einer Initiative betroffener Materien sowie für die wichtigsten Entscheidungs- bzw. potenziellen Konfliktdimensionen zu gewinnen, mithin für die kognitive Beanspruchung der Akteure, für die potenziellen Entscheidungskosten (die ja ceteris paribus mit der Komplexität steigen) und für eventuelle enge oder lockere Verbindungen mit Aushandlungsprozessen zu ganz anderen Materien.42 Wie Komplexität wirkt, dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Einerseits wird Komplexität oft als entscheidungshindernd betrachtet und die „Parzellierung“ oder „Segmentierung“ komplexer Materien als Erfolgsgeheimnis gemeinsamer Entscheidungen herausgestellt (z.B. Hoffmann-Riem 1990: 38), andererseits wird Komplexität als förderlich für eine Einigung ausgemacht, weil man so leichter von einer individuellen zu einer systemorientierten Problemwahrnehmung und zur Einbeziehung neutraler Experten komme, die individuelle Nutzenmaximierungsversuche mit ihren Vorschlägen überbrücken (z.B. 42
Deren Effekte für institutionellen Wandel wurde unter dem Stichwort der „Arenenverkopplung“ oder „Arenenverflechtung“ u.a. von Benz (1992, 2003) problematisiert.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Braun 2007). Auch Koppelgeschäfte sind hier leichter denkbar. Für welche Hypothese die Abläufe in den zu untersuchenden Fällen sprechen, wird zu sehen sein. Nach der Initiierung ist es wahrscheinlich, dass sich zumindest die formal entscheidungsbeteiligten Akteure und jene, die Nachteile zu erwarten haben, zu der Initiative positionieren. Grundsätzlich ist zunächst eher eine Ablehnung als eine Zustimmung zu erwarten, weil rationale Akteure die Glaubwürdigkeit „fremder“ Daten und Wirkungsaussagen vermutlich erst einmal bezweifeln, weil es unwahrscheinlich ist, dass sie einen ebenso großen Nutzen aus der Initiative ziehen wie der Agendasetzer, weil sie risikoaversiv handeln und die mit jedem Wandel verbundenen erhöhten Transaktionskosten meiden. Allerdings sind ausgehend von dem Konzept rationaler Akteure unterschiedliche Verhaltensweisen in Abhängigkeit von der erwarteten Gewinnaussicht und Verhandlungsmacht zu erwarten. Die Bewertung der Verhandlungsmacht geht dabei in dieser Studie über die Taxierung der reinen Mehrheits- bzw. Mandatsverhältnisse hinaus. Sie berücksichtigt als Einflussvariablen bzw. Indikatoren auch die individuellen Aushandlungsspielräume, die beobachtete Ungeduld, das Risikoverhalten u.a.43 Erwartet werden kann, dass rationale Akteure mit einer Aussicht auf nur niedrige Gewinne aus dem Vorhaben selbst (substanzielle Gewinnaussicht) und geringer Verhandlungsmacht sich der Kooperation verweigern und dass Akteure mit niedriger Gewinnaussicht und großer Verhandlungsmacht nur bei deutlicher Veränderung der Vorlage zu ihren Gunsten oder hohem nichtsubstanziellen Gewinn kooperieren (Abb. 4). Abbildung 4:
Kooperationsbereitschaft nach Gewinnaussicht und Verhandlungsmacht hoch
groß
Kooperation nur bei deutlicher Veränderung der Vorlage oder Aussicht auf hohen nichtsubstanziellem Gewinn
große Bereitschaft zur substanziellen Kooperation, geringe Bereitschaft zum Einlenken
klein
Verhandlungsmacht
substanzielle Gewinnaussicht niedrig
(Profilierung durch) Verweigerung der Kooperation
große Bereitschaft zur Kooperation/ inhaltlichem Einlenken
Dagegen lässt sich von einem Akteur mit hoher substanzieller Gewinnaussicht und geringer Verhandlungsmacht erwarten, dass er eine große Bereitschaft zur Kooperation und auch zu inhaltlichem Einlenken zeigt. Ein Akteur mit hoher substanzieller Gewinnaussicht und großer Verhandlungsmacht wird vermutlich kooperieren, aber wenig Bereitschaft zum substanziellen Einlenken zeigen und versuchen, seinen substanziellen Gewinn zu maximie43
Es wird angenommen, dass sich die Verhandlungsmacht eines Akteurs jeweils etwa gleichgewichtig erhöht mit: der Agendasetzungsinitiative bzw. der Initiative eines Angebots, mit seiner politischen Stärke, inklusive Erpressungs- und Mobilisierungspotenzial, mit der Stärke seiner Reputation, mit seiner Machterhaltungsfähigkeit bzw. der Wahrscheinlichkeit, an die Macht zu kommen, mit dem Vorhandensein glaubhafter, hinreichend attraktiver Entscheidungsalternativen (outside option principle), mit steigender Zahl akzeptabler inhaltlicher Ausgestaltungsvarianten (inside option principle), sofern die Außenoption nicht attraktiver ist, mit geringerer Ungeduld im Vergleich zu den Mitspielern, mit geringerer Scheu eines Risikos bzw. des Scheiterns der Aushandlungen, bei größerer Ausstattung mit Wissen im Vergleich zu den Mitspielern (vgl. u.a. Muthoo 1999, 2000; Weaver 2000).
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2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
ren. Die Annahmen sind in der voranstehenden Matrix zusammengefasst, die in der Studie als Analyseinstrument zum Einsatz kommt. Rationale Akteure schöpfen ihre Verhandlungsmacht voll aus, und mit ihrer Verhandlungsmacht müsste ihr individueller Vorteil aus dem Verhandlungsergebnis steigen. Je größer der Machtvorsprung eines Verfassungsänderungsinitiators, desto geringer wären ceteris paribus die inhaltlichen Veränderungen zwischen der Verfassungsänderungsinitiative und der schließlich beschlossenen Änderung bzw. desto weniger wäre er bereit, Abstriche an seiner Initiative in Aussicht zu stellen.44 Bei Initiatoren von Verfassungsänderungen, die eine relativ große Verhandlungsmacht haben, ist entsprechend die Strategie zu erwarten, die von ihnen angestrebte Verfassungänderung ohne Abstriche zu verabschieden. Je geringer dagegen die relative Verhandlungsmacht des Verfassungsänderungsinitiators, desto wahrscheinlicher ist ceteris paribus zunächst ein Kompromiss, dann ein Tauschhandel oder ein gänzliches Scheitern einer Initiative. Hier müssten gemäß den rationalistischen Annahmen die Mitspieler auch bei kleinen inhaltlichen Präferenzabweichungen darauf bestehen, dass diese in der Verfassungsänderung berücksichtigt werden, oder sich ganz gegen die Verabschiedung aussprechen. Ein rationaler Änderungsinitiator akzeptiert aber nur solche Differenzen zwischen seinem Ursprungsvorschlag und der Beschlussgrundlage, die für ihn noch einen Nutzen abwerfen. Persuasion ist ein Mittel zum Zweck, über die Mobilisierung von Zustimmung eigene Interessen durchzusetzen, wird also theoretisch nur dann genutzt, wenn es notwendig ist und günstiger erscheint als andere Mittel der Zustimmungsbeschaffung wie Paket- oder Tauschgeschäfte. Auch diese Annahmen lassen sich zusammenfassen (Tab. 5), um ein Instrument zur späteren systematischen Erfassung und Bewertung der empirischen Befunde zu schaffen. Tabelle 5: Verhandlungsmacht des Initiators und erwartete Aushandlungsstrategien relative Verhandlungsmacht des Initiators
groß bis mittel
angestrebtes Aushandlungsergebnis Konsens Entscheidung ohne Änderungen, aber auch ohne Konsens Konsens
mittel
Kompromiss
Konsens mittel bis gering Tauschhandel
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Unterformen/Hintergrund sachlich-inhaltliche Einigkeit, Überzeugung Drohung durch Initiator Zustimmung aufgrund sachfremder Erwägungen (z.B. prozessualer Nutzen vor Wahlen) Zustimmung aufgrund eines Verfalls des Streitwerts Überzeugung inhaltlicher Kompromiss Ergänzung symbolisch wichtiger Formulierungen anderer Akteure vage, interpretationsflexible Formulierung Überzeugung Erweiterung des Entwurfs durch die Regelung einer anderen Frage im Sinne eines weiteren Akteurs („Paket“) Zustimmung gegen (erhoffte oder tatsächliche) Zugeständnisse in anderen Fragen, inkl. materielle Vergütungen Zustimmung gegen Ausgleichszahlungen
Dies ist natürlich bei umstrittenen Projekten relevanter und leichter erkennbar als bei Vorhaben, bei denen sich die aushandlungsbeteiligten Akteure inhaltlich einig sind. Unterschiedliche Positionen sind aber wahrscheinlicher als ähnliche, sonst müssten sich Kollektivakteure nicht zu hohen Kosten separat organisieren.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Letztlich kann man gemäß einem strikt-rationalistischen, vorhabenfokussierten Ansatz Kollektiventscheidungen auf die Kombination von Gewinnaussicht sowie Verhandlungsmacht der verhandlungsmächtigsten Vetospieler zurückführen. Die Begründung dafür stützt sich auf zwei Argumente: Erstens kann keine gemeinsame Entscheidung die Wünsche jedes einzelnen optimal befriedigen, weil die strukturell nicht optimierbaren Aggregations- und Entscheidungsverfahren die vollständige Übertragung der Einzelpräferenzen auf die kollektive Ebene unter demokratischen Bedingungen grundsätzlich unmöglich machen (Arrow 1963). Zweitens wird sich der Initiator einer verfassungspolitischen Initiative zwecks Minimierung der Entscheidungskosten auf Aushandlungen allein mit den als relevant betrachteten Mitspielern konzentrieren (sofern nicht die Koalition mit einem kleinen Scharnierakteur als taktisches Instrument dabei hilft, die Zustimmung dieses Großen zu erlangen). Im Ergebnis müssten Verfassungsänderungen, sofern sie denn überhaupt stattfinden, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner allein jener Akteure basieren, deren Zustimmung für die Überwindung der Änderungsschwelle tatsächlich vonnöten ist, und alle Akteure, für die dies nicht gilt, dürften in den Aushandlungsprozessen keine Rolle spielen, sofern sie nicht von einem relevanten Akteur instrumentalisiert werden. Die rationalistisch ausgerichtete Forschung zum Einfluss spezifischer Faktoren auf die Einigung brachte weitere Hypothesen hervor, die aber eines anderen als des hier angestrebten Untersuchungsdesigns zur systematischen Prüfung bedürften. Eine solche alternative Anlage hätte unerwünschte Folgen für die systematische Verfolgung der zwei weiteren Leitinteressen und wird daher hier verworfen.45 Nicht berücksichtigt werden außerdem, wie erwähnt, die rationalistischen Überlegungen im Zusammenhang mit institutionellen Parametern: der Anzahl der Vetospieler, Arenenverflechtung in Mehrebenensystemen usw.; diese Merkmale werden in den Vorarbeiten zur Fallauswahl und bei ihr selbst bestmöglich kontrolliert. Kommt man nun auf das bereits angesprochene Bestreben zurück, zentrale rationalistische Annahmen in Bezug auf die Verfassungspolitik in etablierten Demokratien zu prüfen bzw. zu verfeinern oder abzuwandeln, dann richten sich diese möglichen Verfeinerungen oder Modifikationen auf drei Sachverhalte: Erstens erscheint es zweifelhaft, die Analyse von vornherein auf die wichtigsten, mit faktischer Vetokapazität ausgestatteten Akteure zu reduzieren. Zweitens wissen wir insgesamt noch zu wenig (Gigerenzer/Selten 2002), für die Verfassungspolitik faktisch noch nichts Systematisches darüber, wie Akteure im Falle unklarer Präferenzen handeln. Diese Situation blenden rationalistische Ansätze gemeinhin aus. Dass aber in der Realität Präferenzen sich mitunter erst im Prozess selbst herausbilden, wurde in der Forschung zur Alltagspolitik beobachtet (u.a. Cohen/March/Olsen 1972). Wie Präferenzbildung vonstatten geht oder welche Konsequenzen unklare Präferenzen haben, kann in der Studie empirisch beobachtet werden. Drittens ist eine Modellierung einer oder weniger Entscheidungssituationen blind für bestimmte Entwicklungen während des Prozes-
45
So lässt sich die Hypothese „Je kürzer der Zeithorizont, desto größer die Einigungschancen“ nur prüfen, wann die Fälle hinsichtlich der angenommenen unabhängigen Variable Zeithorizont systematisch variieren. Bei „Je größer die Wahrscheinlichkeit von Missrepräsentation, desto geringer die Einigungschancen“ müsste die Wahrscheinlichkeit der Missrepräsentation variieren, bei „Je geringer die Zahl von Verfassungsänderungsvorschlägen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit von Kompromissen und ‚Kuhhandel’, um eine Einigung zu erreichen, oder desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sich Minderheitenkoalitionen gegen einzelne Punkte mobilisieren (alle: Weaver 2000), müsste die Zahl bzw. der Umfang von Verfassungsänderungsvorschlägen variieren usw.
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
47
ses der Aushandlung, die möglicherweise erklärungsträchtig sind. Wie zu sehen sein wird, hängen alle drei Punkte miteinander zusammen: Nach dem bisherigen Ansatz wurden die Akteure vornehmlich als Kollektivakteure mit institutionell definierten Interessen und Präferenzen verstanden. Allerdings sind Kollektivakteure als solche selten beisammen, um die gemeinsame Position zu klären. Eine solche Positionierung bzw. Urteilsfindung ist jedoch notwendig, damit sie handlungsfähig bleiben. Die von Czada (1998) beobachtete „Stellvertreterdemokratie“ kann also auch eine Stellvertreterdemokratie innerhalb von Kollektivakteuren sein (Benz 2007: 115f.). In diesem Fall ist es möglich, dass dem Verhalten der beauftragten Handlungsträger zumindest kurzfristig46 eine besondere Bedeutung zukommt, also die individuelle Rationalität des/der Verantwortlichen das Aushandlungsverhalten des Kollektivakteurs prägt, weil die „Fehlerreduktion“ per echter Kollektiventscheidung vorübergehend nicht stattfindet. Warum dies geschieht, wird mit der Konzentration der Analyse auf Kollektivakteure und die Systemebene ausgeblendet, aber eine relevante Frage ist, ob der Kollektivakteur das Handeln seiner Delegierten tatsächlich kontrolliert oder kontrollieren kann, zumal die Verantwortlichen für ihren bestimmten Aufgabenbereich unter den Bedingungen von Professionalisierung und Zeitknappheit die Interpretation der Wirklichkeit in dem jeweiligen Bereich (framing) durch den Kollektivakteur beeinflussen. Bei Anwendung eines strikt-rationalistischen, vorhabenfokussierten Ansatzes auf Interaktionen zwischen Kollektivakteuren reichen die Handlungsspielräume des Delegierten nur soweit, wie sie mit jeweils feststehenden Präferenzen der Kollektivakteure vereinbar sind. Bei vom Kollektivakteur wahrgenommenen Kollisionen wird es früher oder später eine Kollektivvereinbarung geben, die den entsprechenden Sachverhalt regelt. Infolgedessen würde eine nicht eindeutig formulierte Präferenz des Kollektivakteurs dem Handeln der Delegierten Erklärungsrelevanz für die Einigung auf Verfassungsänderungen verleihen, deren Bedeutung aber vom Grad der Unschärfe der Positionierung abhängt. Es könnte aber auch sein, dass die Delegierten der Kollektivakteure ihr Mandat überstrapazieren und eigene Interessen folgen, die teils von den Interessen des Kollektivakteurs abweichen. Falls der Kollektivakteur als Auftraggeber die Abweichungen seines Beauftragten nicht erkennt (vgl. Czada 1998: 70), etwa weil die Bearbeitung einer verfassungspolitischen Initiative durch unterschiedlichste Akteure in teils parallelen Aushandlungsforen zu für ihn nicht mehr überschau- und steuerbaren „Selbstläuferprozessen“ führt, könnte es hier zu einem verfassungspolitischen Ergebnis kommen, das nicht allein mittels eines bei den Kollektivakteuren ansetzenden rationalistischen Erklärungsmodells erklärbar ist. Letzteres würde auch gelten, wenn der Kollektivakteur den Beauftragten treuhänderische Kompetenzen verleiht.47 Bei allen drei Varianten kommt dem Handeln der Beauftragten ein potenzieller Erklärungsgehalt zu, ohne dass rationalistische Grundannahmen stark verletzt wären. Tab. 6 führt die verschiedenen Kollektivakteure und bei den politischen Akteuren deren Handlungsbeauftragte auf, deren formale oder auch informelle Mitwirkung in den Aushandlungsprozessen auf nationaler Ebene angesichts der Literatur (z.B. Kingdon 1995;
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Ob es langfristig einflussreich ist, hängt davon ab, ob die Entscheidungen jeweils vom Kollektivakteur wahrgenommen, akzeptiert oder gegebenenfalls korrigiert werden. Die Begrifflichkeiten sind der Forschung zum Verhalten von Abgeordneten und zum Einfluss von Wahlrechtsregelungen auf dieses entlehnt. Alternativ wird in der Forschung zur Arenenverkopplung auch zwischen einem gebunden oder freien Aushandlungsmandat von Akteuren unterschieden (s. Benz 1992).
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Beyme 1997; Kaiser 2004) wahrscheinlich oder möglich sein könnte.48 Sie enthält zudem die angenommenen zentralen Interessen und Machtressourcen, die sich jeweils voneinander unterscheiden. Externe Akteure ergeben aufgrund ihrer Heterogenität keine sinnvolle eigene Kategorie und können den jeweiligen Akteurgruppen zugeordnet werden. Die Übersicht lässt keine Aussagen darüber zu, wann sich Akteure auf Verfassungsänderungen einigen, aber Erwartungshaltungen zu ihren inhaltlichen Forderungen und Foki während der Aushandlungen, wenn sie denn beteiligt sind. Tabelle 6: Mögliche aushandlungsrelevante Akteurtypen auf nationaler Ebene Akteur
Zentrale Interessen Umsetzung der Parteiprogrammatik, Machterhalt, dafür Wahlsieg
Politische Akteure 49
- Spitzenpolitiker
50
- Fachpolitiker
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- Regionalpolitiker
Ministerialbürokratie, externe Delegierte der Ministerialbürokratie Gerichte Parteiexterne Sachverständige Interessengruppen
Medien Bürger (Referendum)
48
49 50
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Parteiprogrammatik, Machterhalt der Partei, eigene Wiederwahl Parteiprogrammatik, beste Lösungen in der eigenen Materie, Machterhalt der Partei, eigene Wiederwahl Parteiprogrammatik, Machterhalt der Partei, regionale Haushaltsinteressen und Implementation politischer Vorgaben, eigene Wiederwahl Umsetzung von Vorgaben, Aufrechterhaltung bestehender Strukturen Kohärenz des Rechts und seiner Interpretation, langfristige Problemlösung Langfristige Problemlösung, Berücksichtigung von Komplexität, Statuserhalt, Reputation eigene Programmatik, Lösung praktischer Probleme, Einflusserhalt Weitergabe selektierter und simplifizierter Informationen, Unterhaltung, Rezipientenbindung Artikulation heterogener Interessen, Machtteilhabe
Zentrale Machtressourcen Wählerstimmen, Funktionen, gesellschaftlicher Rückhalt Funktionen mit Aushandlungs- und Entscheidungskompetenz, innerparteilicher Einfluss, Ansehen, Überblickswissen Funktion mit Entscheidungs- und Aushandlungskompetenz, Expertenwissen Funktion mit Entscheidungskompetenz und teils Aushandlungskompetenz, Regional-, Praxisexpertise Expertenwissen, langfristige Kontakte zu Aushandlungsbeteiligten und Betroffenen, Größe/Organisationsgrad, weitgehende Unabhängigkeit von Wahlen Expertenwissen, evtl. Mitwirkungskompetenzen Expertenwissen, evtl. Zugang zu Politik oder Ministerialbürokratie Expertenwissen, teils Sanktions-, Mobilisierungspotenzial, evtl. Zugang zu Ministerialbürokratie Zugang zur Öffentlichkeit Wahl-, Entscheidungskompetenz, Protestpotenzial
Auch Kaiser (2004) hebt in seinem empirischen Vergleich verfassungspolitischer Prozesse in Mehrheitsdemokratien die Bedeutung unterschiedlicher Rollenträger hervor, erfasst sie aber mit Blick auf eine bestimmte ihnen unterstellte Funktion für die Verfassungspolitik (Designer, Campaigner, Entscheider). Gemeint sind Mitglieder, die höchste Funktionen des Kollektivakteurs (inkl. Parlamentsfraktion bzw. parlamentarischen Gruppe) oder/und in der Regierung (Premier, Minister) auf nationaler Ebene innehaben. Gemeint sind Mitglieder, die höchste Positionen im relevanten Fachministerium besetzen, sowie die leitend für die Bereichspolitik verantwortlichen Mitglieder. Der Bereichsminister/die Bereichsministerin hat als Spitzenfachpolitiker/in zwei Rollen. Gemeint sind Mitglieder in hohen regionalen Funktionen (z.B. Ministerpräsident in einem deutschen Bundesland).
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
49
Das zweite Prüfinteresse der Untersuchung bezieht sich auf das Postulat der as-ifRationalwahlforschung und der an ihr ausgerichteten Forschung, dass Akteure klare, stabile und geordnete (hierarchisierte) Präferenzen haben (z.B. Scharpf 2000: 121f.). Selbst wenn man annimmt, dass Akteure stabile übergeordnete Interessen und Ziele verfolgen (Tab. 6), so sind diese vielleicht zu allgemein, um aus ihnen klar definierte institutionelle Präferenzen bzw. Handlungsanweisungen ableiten zu können. Fraglich ist, ob die internen Zielfindungsroutinen von Akteuren und ihre Programmatiken diese Lücke füllen würden. Formulierte Präferenzen können ferner in bestimmten Situationen miteinander kollidieren, so dass eine „Güterabwägung“ stattfinden und die konkrete Präferenz in einer konkreten Situation (neu) austariert werden muss.52 Dies kann dadurch weiter erschwert werden, dass Kosten und Nutzen alternativer verfassungspolitischer Lösungen oder Gewichtungen von Zielsetzungen sich vielleicht schwer quantifizieren lassen, beispielsweise wenn es um Abtreibung, Solidarität oder Vorbildwirkung geht oder wenn die Bewertungskriterien sich nicht aus der Sache selbst oder aus der Programmatik des Akteurs ergeben. Hinzu kommt das Problem der Unsicherheit hinsichtlich der Entscheidungsgrundlagen selbst (Czada 1998: 68). Darüber hinaus könnten zwar Positionen verfügbar, aber die substanzielle Motivation nicht groß sein. Damit ist der Grad des Interesses für die Durchsetzung von Politikinhalten bzw. Normen gemeint, die in einem verfassungspolitischen Vorhaben direkt berührt sind. Diese Motivation stellt als aktivierender Prozess (Fischer/Wiswede 2002: 99) die Verbindung zwischen Interessen, abgeleiteten Zielen und Präferenzen und dem Handeln dar. Angesichts einer anzunehmenden Fülle paralleler Vorhaben oder Ziele könnte die substanzielle Motivation gering ausgeprägt sein, was möglicherweise beeinflusst, ob und wie stark überhaupt Präferenzkonflikte wahrgenommen werden.53 Damit könnten die Entscheidungsdimensionen der Akteure nicht pauschal wie in der Vetospielertheorie als gleichwichtig angenommen werden. Um hier Klarheit zu schaffen, soll systematisch beobachtet werden, wie stark die verschiedenen Entscheidungsdimensionen in den Aushandlungen jeweils thematisiert wurden, worauf sich die Konflikte der beteiligten Akteure richteten und welche Effekte sie für den Verlauf der Aushandlungen hatten. Es kann, wie in der Literatur üblich, zwischen normativ-ideellen Auseinandersetzungen um den restriktiven oder extensiven Umgang mit Rechten sowie Verteilungskonflikten um Protektion oder Redistribution von Gütern und Kompetenzen unterschieden werden. Für Verfassungsänderungsvorlagen, die das Interesse an einer generellen Stabilität der Verfassung ansprechen, müsste theoretisch leichter Zustimmung zu mobilisieren sein als für Umverteilungsvorschläge (Braun 2008; Scharpf 2000; Elster 1991). In der Studie wird nicht nur diese Hypothese geprüft, sondern auch die generelle Charakterisierbarkeit von Verfassungsänderungsvorschlägen als ideell-normativ oder re52
53
Beispielsweise kann das Streben von Parteifraktionen nach Machterhalt mit ihrem Streben nach Vertretung von Wählerinteressen kollidieren oder das Streben von Regierungen nach Umsetzung einer politischen Programmatik mit der Notwendigkeit des generellen Systemerhalts. Oder das Interesse eines Akteurs daran, mithilfe einer Verfassungsänderung ein bestimmtes Ziel zu erreichen, kollidiert mit ihrem Wunsch nach Vermeidung von Konflikten bei Materien, die von einer solchen Verfassungsänderung betroffen würden, z.B. Minderheitenfragen, oder mit ihrem Wunsch, keinen Präzedenzfall für weitere Forderungen zu schaffen. Die verbreiteten (sozial-)psychologischen Motivationstypen (intrinsisch, extrinsisch u.ä.) erfassen diesen Punkt nicht in geeigneter Weise. Motivation ist – ähnlich wie das Konstrukt des Interesses – nicht unmittelbar zu beobachten bzw. zu messen (vgl. Fischer/Wiswede 2002: 99), schlägt sich aber in einem Effekt nieder, nämlich dem des praktischen Engagements. So wie von Äußerungen auf Ziele und Interessen geschlossen werden kann, lässt sich vom gezeigten Aktivitätsgrad (Einbringung eigener Initiativen, Bezugnahme in Reden, Emphase) auf die substanzielle Motivation schließen.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
distributiv reflektiert. Sie geht aber darüber hinaus und beobachtet die konkreteren kognitiven Entscheidungsgrundlagen als mögliche Bezugspunkte divergierender Positionen der Akteure, um die Konfliktlast54 und ihre Entwicklung, die Tiefgründigkeit der Auseinandersetzung, mögliche Positionsverschiebungen und die potenzielle Verunsicherung der Akteure hinsichtlich der relevanten Entscheidungsparameter beurteilen zu können. Dies sind die Messung bzw. Bewertung der von einer Änderungsinitiative betroffenen Sachverhalte, die Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung und Berücksichtigung von Interdependenzen sowie die (unterlassene) Verknüpfung mit weiteren institutionellen Änderungen. Konflikte hierzu in den Aushandlungen erhöhen zwar tendenziell die Rationalität der getroffenen Kollektiventscheidungen, da die analytische Zielgenauigkeit eines rationalistischen Erklärungsmodells davon abhängt, wie viele und welche Effekte von Verfassungsänderungen, Konflikt- oder Wettbewerbsdimensionen und Nebenwirkungen sowie Kosten es berücksichtigt, wie diese gewichtet werden und indirekt auch davon, welche Informationen vorliegen (Simon 1993; Lindblom 1959; Elster 1987; Heinemann 1999). Allerdings behindern sie theoretisch die Einigung auf eine gemeinsame Entscheidung, wenn man annimmt, dass Akteure risiko- und komplexitätsaversiv handeln. Als Baustein für die Erstellung eines Erklärungsmodells für Verfassungsänderungen erscheint es daher vonnöten, die Konfliktgegenstände und eventuelle Veränderungen im Verlauf empirisch zu prüfen. Die aus diesen möglicherweise empirisch beobachtbaren Phänomenen resultierenden kognitiven Probleme könnten die Anwendung eines vorhabenbezogenen rationalistischen Modells infrage stellen, solange man nicht weiß, was im Falle uneindeutiger Präferenzen, Indifferenz oder geringerer substanzieller Motivation verhaltensbestimmend wirkt. Das Problem von Unentschlossenenen bzw. Unmotivierten, das im Falle komplexer, multikonfliktionaler Entscheidungssituationen zu erwarten ist, kennen die collective-choice und die Verhandlungsforschung. Sie können Trittbrettfahrer sein, Mitläufer oder sich ganz dem Prozess entziehen (Olson 1965; Esteban/Ray 2001; Hula 2000: 47).55 Unklar bleibt aber sowohl für gruppeninternes als auch für das Handeln verschiedener Kollektivakteure, was aus dieser uneindeutigen Positionierung für das Verfahren selbst folgt. Zwar wurden theoretisch und empirisch Instrumente sondiert, mit Einwänden und fehlender Zustimmungsmotivation umzugehen,56 doch konnte bislang keine generelle beste Strategie feststellt werden (Marwell/Oliver 1993: 8; 193), und die Suche nach den Erfolgsdeterminanten befindet sich weitgehend im Stadium des Abtestens unterschiedlicher plausibel scheinender Einzelvariablen. Dies ist ein Argument dafür, in der empirischen Analyse nicht allein auf einzelne Entscheidungssituationen und wenige isolierte Variablen abzuheben, sondern Prozesse in den Blick zu nehmen, um Indizien für eventuelle weitere Erfolgsdeterminanten herauszuarbeiten. 54
55
56
Indikatoren für die Konfliktintensität sind die Häufigkeit und Länge von Plenardebatten bzw. der Bezugnahme auf eine Materie in ihnen, die Anzahl der Anhörungen, die Eindeutigkeit der Mehrheiten in der Abstimmung, die Zahl von Einsprüchen oder Gegenentwürfen (vgl. Beyme 1997: 69). Auch der akteurzentrierte Neoinstitutionalismus erfasst als theoretisch mögliche Verhaltensweisen der Akteure nicht nur vorausschauende Berücksichtigung, Verhandlung, einseitige Versuche aktiver Instrumentalisierung, Bekämpfung oder hierarchischer Steuerung, sondern auch passive Kenntnisnahme und Beobachtung (Mayntz/Scharpf 1975: 145-150; Scharpf 2000: 36). Dazu zählen selektive Anreize inklusive Verschiebung vom substanziellen zum prozeduralen Nutzen, die Nutzung der Medien zur Popularisierung einer Initiative, die Mobilisierung einer zunächst kleinen Akteursgruppe, die später andere mitzieht, die gezielte Zurückhaltung oder Verbreitung relevanter Informationen, die Etablierung neuer Kriterien zur Bewertung betroffener Materien, die Ausnutzung von Koalitionsbindungen oder Sanktionen sowie die Setzung einer Frist der Entscheidungserzielung (u.a. Heinemann 1999; Olson 1965, Susskind/McMahon 1990).
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
51
Für die nachfolgende Untersuchung lässt sich dabei aus den bisherigen Überlegungen die Vermutung ableiten, dass bei unklar definierten Präferenzen oder Präferenzhierarchien des Kollektivakteurs, bei internen Zielkonflikten, die zur Abwägung zwingen, sowie bei Themen, die sich einer klaren Quantifizierung von Kosten und Nutzen entziehen, die Delegation des Handelns an Funktionsträger sowie die sequenzielle Diskussion eines Vorhabens in unterschiedlichen Akteurrunden verfassungspolitische Positionsverschiebungen der (Kollektiv-)Akteure begünstigen, weil sie latent abweichende Ziele verfolgen und über unterschiedliche Ressourcen verfügen. Diese Annahme würde mit dem rationalistischen Ansatz kompatibel sein, wenn Stellvertreterhandeln die „Rückfallposition“ kollektiven Handelns ist. Eine Erklärungskonkurrenz könnte sich für den Fall ergeben, dass die Fehlerreduktion des Kollektivakteurs durch eine Delegation der Aushandlung an einzelne vorübergehend aussetzt und diese Handlungsbeauftragten nicht gemäß dem rationalistischen Modell agieren. Darauf, dass letzteres nicht aus der Luft gegriffen ist, verweisen Befunde der psychologischen und sozialpsychologischen Forschung zur Entscheidungsfindung, zu Gruppenprozessen, Rollenkonflikten, Konfliktschlichtung, zur Durchsetzung von Ideen und Innovationen sowie zum Einstellungswandel: Einzelakteure handeln beispielsweise im Alltag fast immer heuristisch, sie verkürzen ihre Entscheidungswege aufgrund von Kapazitätsproblemen über den Rückgriff auf bewährte Informationskurzschlüsse, Voreinstellungen und Annahmen über die Umwelt (Gigerenzer 2006: 119f.).57 Besonders bei uneindeutigen Präferenzen und einer infolgedessen geringeren substanziellen Motivation könnte die Wahl der Heuristiken wichtig für die Entscheidungsfindung der Kollektivakteure und damit den Verlauf des Aushandlungsprozesses sein. Die Fülle der empirisch beobachteten Heuristiken lässt sich vereinfacht in rationale und soziale Heuristiken unterteilen. Zur ersten Gruppe sollen jene gezählt werden, die sich an sachlichen, nonpersonalen Parametern orientieren und grundsätzlich darauf gerichtet sind, hohe Gewinne aus dem Vorhaben selbst oder aus Vereinbarungen zu ziehen, die mit dem Vorhaben verbunden werden (z.B. durch Paket- oder Tauschgeschäfte). Als soziale Heuristiken werden demgegenüber Entscheidungsabkürzungen bezeichnet, die sich an personalen Parametern orientieren; sie nutzen die menschliche Fähigkeit, sozial zu lernen und zu imitieren. In das Spektrum rationaler Heuristiken fällt, dass Individuen aktuelle, erfahrungskonforme und handlungsorientierte Informationen prioritär verarbeiten und sie anders als weniger vertraute bewerten. Soziale Heuristiken sind die Orientierung an der Mehrheit und das „Wie Du mir, so ich Dir“ (tit for tat) bei Aussicht auf iterative Spiele, also die Bereitschaft, suboptimale Gewinne zu akzeptieren, wenn wahrscheinlich ist, dass die Beteiligten wiederholt in gleicher Runde zusammenkommen und sich auf gemeinsame Entscheidungen einigen müssen. Auch Rollenerwartungen und vertrauensbasierte Entscheidungen, die durch Gruppenidentitäten quer zu den normalen Akteurkonstellationen58 gefördert werden, sind als soziale Heuristiken verstehbar und können insofern die Aufge57 58
Heuristiken sind „Urteilstechniken, … die zu einer Reduktion der Komplexität der Urteilsaufgabe beitragen“ (Bierhoff 1993: 262). Klassisch dazu Tversky/Kahneman 1974. Von Beyme beobachtete solche Zusammenhänge in „Agenda-Gruppen“ während des Gesetzgebungsprozesses in Deutschland: „Quer über die Parteien hinweg werden Du-Beziehungen aufgebaut, die in der Abgrenzung zur Außenwelt zu einer ‚Wir-Beziehung’ führen können (Gottweis 1984: 86). In symbolischen Interaktionen handeln sie den Wirklichkeitscharakter ihrer Sonderwelt aus. Zentrale Muster der Gesetzgebungskultur sind Vertraulich-keit, Versachlichung, Machbarkeit, Rechtlichkeit, Akzeptabilität, zeitliche Limitierung“ (Beyme 1997: 45). Ähnliche Beobachtungen, die zu einer Formalisierung des Informalen führten, bei Kunig 1990: 54.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
schlossenheit gegenüber Argumenten Kompromissen, Konsens oder freiwilligem Gewinnverzicht beeinflussen (Gigerenzer 2006: 126; Katz/Kahn 1966; Tversky/Kahneman 1973; Tversky/Kahneman 1974; Abele/Gendolla 1998; Festinger 1957; Anderson/Bower 1973; Fiske 1993; Miller/Campbell 1959). Unabhängig von der Debatte, inwiefern Heuristiken mit welcher Form von Rationalismus vereinbar sind (Gigerenzer 2006) formulieren sozialkonstruktivistische und Diskurstheorien Annahmen, die dem strikten as-if-Rationalismus widersprechen. Sie gehen davon aus, dass Akteure nicht unbedingt stabilen Präferenzskalen folgen, sondern neue Wirklichkeitskonstruktionen entwickeln und ohne Zwang lernen können (Weaver 2000: 57; Rittberger 2001, 2003; Jacquot/Woll 2003; Smith 2006; McLean). Beispielsweise könnten Aushandlungsdelegierte eines Kollektivakteurs im Kontakt bzw. in der Debatte mit den anderen Akteuren ein Verständnis für deren Perspektive auf die Problemlage entwickeln und daraufhin ihre Position ändern. Auch ein solcher Wandel der Positionen während der Aushandlungsprozesse könnte durch unklare Präferenzen des Kollektivakteurs gefördert werden, so dass im Falle der Neupositionierung noch nicht einmal zwangsläufig gegen bestehende Festlegungen verstoßen wird, sondern sie vielleicht im Verlauf der oft langen verfassungspolitischen Aushandlungen mehr oder weniger unbemerkt neu gedeutet werden. Eine positive Atmosphäre, Konstanz der Akteure und Anerkennung stimulieren Lernprozesse und Einlenken gegenüber anderen (Forgas 1994: 198f.; Bierhoff 1993: 113) und könnten insofern die Einigung auf die gemeinsame Überwindung der Schwelle für Verfassungsänderungen fördern. Von der instrumentellen Sozialheuristik unterscheidet sich dieses Lernen durch die intrinsische Motivation der Akteure, die „beste Lösung“ zu finden, also ihr Interesse an der Substanz des (hier verfassungspolitischen) Vorhabens. Soziologische, (sozial-)psychologische und sozialkonstruktivistische Ansätze und die Diskurstheorie gehen nicht von „irrationalen“ Akteuren aus, nehmen aber abweichende Handlungsparameter an bzw. sehen die rationalen Akteure als in Variablenumwelten eingebettet, die ihr Handeln beeinflussen. Das für die nachfolgende Untersuchung Interessante ist nun, dass sich die jeweiligen Prognosen zum Entscheidungsverhalten latent unterscheiden, obwohl beide Deutungsstränge den Grundprinzipien des Rationalismus verpflichtet sind. Das zeigt sich in Abb. 5, in der ihnen bestimmte Auswirkungen auf das verfassungspolitische Verhalten wenigstens für den Fall zugeordnet sind, dass die Präferenzen des Kollektivakteurs unklar sind. Die links angeordneten, aus dem oben geschilderten Idealtypus des vorhabenbezogenen as-if-Rationalismus abgeleiteten Verhaltensannahmen müssten tendenziell zu einer Ablehnung der Initiative anderer bzw. unkooperativem Verhalten führen, die rechts angeordneten zu einer Zustimmung oder zumindest kooperativem Verhalten.59
59
Die Auswahl soll nicht den Anschein erwecken, dass dies das Kondensat der entsprechenden Forschungsansätze wäre. Hier geht es nur darum, bei Konzentration auf einen rationalistischen Ansatz mögliche zusätzliche Beiträge zur Erklärung einer Einigung auf Verfassungsänderungen herauszufiltern. Ähnlich wurde bereits der „Schnelldurchgang“ durch die Ansätze der Verfassungsforschung in Kapitel 1.3 begründet. Beispielsweise ist oft eine Neigung von Akteuren beobachtbar, sich nach der wahrgenommenen Mehrheit oder der gerade dominanten „öffentlichen Meinung“ zu richten, ebenso eine Neigung, Prozesse nicht zu lange auszudehnen, sondern abschließen zu wollen. Aus beidem lässt sich jedoch ohne die Hinzuziehung weiterer Variablen keine eindeutige Prognose zum Zustimmungsverhalten in Form eines Ja oder Nein ableiten.
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2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
Abbildung 5:
Konkurrierende Erklärungen des Abstimmungsverhaltens bei unklaren Präferenzen Verfassungspolitische Initiative
Misstrauen gegenüber „fremden“ Daten, Wirkungsbehauptungen
Kompetenzvertrauen gegenüber anderen
Risikoversion
Eigene Identität, inhaltliches Profil zeigen
Engagement nur bei Eigennutzen
Beharrlichkeit, strategische Stringenz beweisen
KOOPERIEREN
Gewöhnung an eine Idee
UNKLARE PRÄFERENZ
Verständnis für Entscheidungsperspektive anderer
Dazugehören, künftige Interaktionen erleichtern
Konstruktiv sein: Ergebnisse vorweisen
NICHT KOOPERIEREN
Konkurrenzbeziehung
Gegenüber Informationen, die von anderen stammen, deren Erhebung nicht kontrolliert wurde und die möglicherweise den eigenen Deutungen widersprechen, hegt ein striktrationaler Akteur, wie bereits erwähnt, ein natürliches Misstrauen, das die Zustimmungsbereitschaft dämpft. Hingegen kann das Vertrauen in die Kompetenz anderer, die Anerkennung der Leistungen, Erfahrungen und kognitiven Fähigkeiten einer Person gemäß der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung die positive Grundeinstellung zu einem von ihr vorgebrachten Vorschlag stärken. Nicht selbst geprüfte Informationen oder Expertisen werden dann möglicherweise weniger misstrauisch aufgenommen.60 60
Woher das Kompetenzvertrauen oder Ansehen stammt, ob es auf Basis des (professionellen) Status’ des anderen Akteurs oder anderer Variablen vergeben wird, spielt für die hier vorgenommene Untersuchung keine Rolle – ebenso wie etwa bei den rationalistischen Grundannahmen ausgeblendet wurde, warum ein Kollektiv-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
„Der“ Rationalismus nimmt außerdem an, dass Akteure risikoaversiv handeln und also Wandel gegenüber höchst skeptisch sind, sofern sie sich nicht einen deutlichen Nutzen aus ihm versprechen. Allerdings kann das Entscheidungsverhalten durch die Wiederholung einer Idee verändert werden. Weil es unmöglich ist, alle Informationen aufzunehmen und zu prüfen, gibt es die Heuristik, Informationen zu trauen, denen von einer wahrgenommenen Mehrheit getraut wird. Dies kann aber zu Fehlern führen wie dem zuerst von Kahneman/Tversky beobachteten repetition bias. Im Zuge einer zunehmenden Rezeption von Schlüsselreizen, Informationen oder Deutungen aus unterschiedlichen Quellen verschiebt sich die Wahrnehmung von Akteuren; sie können sich schlicht an sie „gewöhnen“, ihre Gültigkeit weniger infrage stellen und ihre Risikoaversion ablegen.61 Fehler können beispielsweise dadurch unterlaufen, dass Medien die Aussage eines politischen Akteurs ohne Angabe der Ursprungsquelle übernehmen und damit den Eindruck erwecken, sie käme von ihnen selbst, oder wenn von einem Akteur gezielt geladene parteiexterne Sachverständige (etwa in einer Anhörung) eine Auffassung vortragen, die seiner Auffassung entspricht. Das Anstoßpotenzial solcher Wiederholungseffekte für die Entstehung einer Deutungskonjunktur war etwa bei der Wahrnehmung einer durch den Bundesrat vorgeblich blockierten deutschen Bundespolitik zu beobachten (Fischer/Große Hüttmann 2001). Die separate Organisation der Akteure erfordert es in strikt-rationalistischer Perspektive, sich von anderen zu unterscheiden, um die Fortexistenz als solche selbständige Organisationseinheit zu sichern, zu legitimieren. Die Abgrenzung von der Position anderer liegt daher im unmittelbaren Interesse rationaler Kollektivakteure, selbst wenn man eine ähnliche Klientel ansprechen möchte. Dies macht bei unklarer Präferenz die Ablehnung der Initiative eines anderen Akteurs wahrscheinlich. Andererseits kann die partielle Überlappung von (verfassungspolitischen) Präferenzen das Verständnis für die Entscheidungsperspektive eines anderen Akteurs und damit die Kooperationsbereitschaft steigern. Komplexe Streitgegenstände erhöhen also zwar ceteris paribus die Wahrscheinlichkeit von Widerspruch, begünstigen aber andererseits möglicherweise, dass sich verschiedene Akteure mindestens in einer Entscheidungsdimension miteinander identifizieren bzw. sich anerkennen.62 Dies kann durch das vielfach empirisch beobachtete Phänomen noch verstärkt werden, dass bei Kontakten zwischen Gruppen (etwa in Ausschüssen) sich überlappende Rollen und das Prinzip der Reziprozität sozialer Interaktion63 tendenziell zum Aufbrechen von Gruppenidentitäten führen (vgl. Brown 2002). Dietmar Braun (2007: 25) vermutet außerdem, dass die Komplexität verfassungspolitischer Vorhabens den Wert wissenschaftlicher Expertise und den Übergang zu einer Problemlösungsorientierung steigere und es erschwere, umfassende Alternativen zu entwickeln. Er sieht darin einigungsbegünstigende Faktoren. Eine Kernannahme des as-if-Entscheidungsrationalismus besteht ferner darin, dass Akteure überhaupt nur dann in wichtigen Belangen aktiv werden, wenn sie daraus einen
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akteur bestimmte politisch-inhaltliche Präferenzen oder eine bestimmte Verhandlungsmacht hat. Nur diese selbst werden (über die Auswertung der Primär- und Sekundärquellen) erfasst bzw. zu taxieren versucht. Das Muster, dass Individuen dazu neigen, diejenigen Informationen stärker wahrzunehmen, die ihre Position bestätigen, ist aufgrund der ja unklaren Position weniger wirkungsmächtig. Da jedoch rationale Akteure komplexitätsaversiv handeln, bedarf die Bereitschaft, wissenschaftliche Expertise und problemlösende Vorschläge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, bestimmter Zugangsvoraussetzungen. Die Aussicht auf einen substanziellen oder nichtsubstanziellen Gewinn könnte solch eine Voraussetzung sein. Das Reziprozitätsprinzip meint, dass Individuen langfristig positiv auf „Vorleistungen“ anderer reagieren und negativ auf Drohungen o.ä. und auf das Eintreten dieses Effekts vertrauen, auch wenn keine konkreten Vereinbarungen darüber getroffen wurden (Bierhoff 1993: 310f.).
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
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(substanziellen oder nichtsubstanziellen) Nutzen ziehen.64 Allerdings stellte die soziologische und sozialpsychologische Forschung ein Bestreben des einzelnen fest „dazuzugehören“, nicht im Abseits zu stehen, sowie im Falle fairer Behandlung oder ausgedrückter Wertschätzung Kooperationsbereitschaft zu zeigen, sofern er von der gemeinsamen Entscheidung nicht erkennbare Nachteile gegenüber dem Status quo erleidet (so De Cremer/Van Hiel 2004; Susskind/McMahon 1990; Forgas 1994: 250 ff.).65 Während also besonders verfestigte und für das Selbstverständnis eines Akteurs zentrale Einstellungen bzw. Positionen eher nicht verändert werden, sind Annäherungen von Akteuren an andere in Fragen, in denen sie keine konkrete Position innehaben oder wenig motiviert sind, wahrscheinlicher. Die Neigung zur Konformität in Gruppen kann durch die Wahrnehmung normativer Zwänge und durch den Einfluss ähnlicher Informationen erklärt werden (Deutsch/Gerard 1955), aber auch durch die Theorie der (als unangenehm empfundenen) kognitiven Dissonanz, die über ihre angenommenen Verhaltensprinzipien der Einfachheit und Effizienz ihrerseits rationalistisch angelegt ist66 (Frey 1979). Der Effekt könnte auch bei politischen Akteuren auftreten, die etwa in einer verkleinerten Aushandlungsrunde zusammenarbeiten. Zuletzt kann man aus dem rationalen Bestreben des Identitätserhalts oder dem Wiederwahlinteresse ableiten, dass Akteure daran interessiert sind, vorhabenbezogen Beharrlichkeit bzw. strategische Stringenz wenigstens über einen überschaubaren Zeitraum zu zeigen, sofern dies nicht der Mitnahme eines plausiblen Gewinns aus dem verfassungspolitischen Vorhaben im Wege steht. Andererseits widerspricht wiederholtes „Nein-Sagen“ dem menschlichen Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und danach, Ergebnisse vorzuweisen, etwas zu schaffen, das sich durchsetzen könnte, wenn die Kollektivakteure das Handeln ihrer Delegierten nicht langfristig kontrollieren. Zudem könnten Akteure daran interessiert sein, durch Zustimmung in weniger bedeutsamen Fragen, bei sogenannten lowcost-Entscheidungen also, die Voraussetzungen für spätere Interaktionen oder konkret Kooperationen zu verbessern. Alle bisherigen Überlegungen, die ergänzend bis konkurrierend zu vorhabenfokussierten rationalistischen Annahmen angelegt sind, lassen eine Konzentration auf bestimmte Aushandlungsmomente, (institutionell definierte) Vetospieler und die Gewinn- und Verlust-Struktur der betreffenden verfassungspolitischen Initiative allein zweifelhaft erscheinen. Alle stehen für die Vermutung, dass zumindest bei unklaren Präferenzen nicht (nur) die sich aus der Nähe der policy-Distanzen ergebenden substanziellen Gewinnaussichten der relevanten Akteure und ihre Verhandlungsmacht die Wahrscheinlichkeit expliziten Verfassungswandels ausmachen, sondern dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Aushandlungsprozesse unterschiedliche Motivlagen und Verhaltensweisen bedeutsam für die Fortsetzung bzw. den Abschluss der Aushandlungen sind. 64
65
66
Der Nutzen kann auch langfristig im Sinne von tit for tat eintreten oder sich darauf beziehen, dass eine Verfassungsänderung zwar nicht sehr gewinnträchtig ist, aber immer noch besser als die Beibehaltung des Status (Abromeit 2007). Dies gilt natürlich auch – und besser mit dem Rationalitätsprinzip vereinbar – innerhalb eines Kollektivakteurs. Es geht aber an dieser Stelle nicht um die Abweichung von einer vorhandenen politischen Linie des Kollektivakteurs zugunsten eines Zugehörigkeitsgefühls gegenüber einem anderen Kollektivakteur, sondern darum, wie sich Akteure bei unklaren Präferenzen des Kollektivakteurs gegenüber (Vertretern von) anderen Kollektivakteuren verhalten. Müssen Individuen längerfristig mit anderen interagieren, die sich z.B. aufgrund ihrer Ziele deutlich von ihnen unterscheiden, dann heben sie diese Dissonanz dadurch auf, dass sie die Interaktionen als attraktiver empfinden als ursprünglich oder ihre Einstellungen bzw. Positionen denen der anderen annähern (Frey 1979: 45f.).
56
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Zusammenfassend lassen sich betreffend das erste und zweite Kerninteresse der vorliegenden Untersuchung die drei in Abb. 6 aufgeführten plausiblen Szenarien verfassungspolitischer Aushandlungsprozesse formulieren. Es ist dann Aufgabe der Analyse selbst herauszuarbeiten, welches dieser Szenarien in etablierten Demokratien üblicherweise auftritt und wie entsprechend ein Modell zur Erklärung erfolgreicher Verfassungsänderungsprozesse aussehen muss. Abbildung 6:
1
Kollektivakteure handeln (pareto-) rational.
Mögliche rationalismusbezogene Befunde der Untersuchung
Handlungsbeauftragte bleiben Delegierte.
Zustimmung zur Verfassungsänderung basiert nur auf Kosten-NutzenÜberlegungen der Kollektivakteure.
Vorhabenbezogene striktrationalistische Modellierung prognostiziert gut.
2
Kollektivakteure handeln im Prinzip (pareto-) rational.
Handlungsbeauftragte verfolgen auch eigene Interessen; ihr Handeln wird vom Kollektivakteur (aus welchen Gründen auch immer) nicht „korrigiert“.
Zustimmung zur Verfassungsänderung basiert nicht nur auf KostenNutzen-Überlegungen der Kollektivakteure.
Vorhabenbezogene striktrationalistische Modellierung muss erweitert werden.
3
Kollektivakteure handeln im Prinzip (pareto-) rational.
Handlungsbeauftragte agieren als soziale Wesen; ihr Handeln wird vom Kollektivakteur (aus welchen Gründen auch immer) nicht „korrigiert“.
Zustimmung zur Verfassungsänderung basiert nicht nur auf KostenNutzen-Überlegungen der Kollektivakteure.
Vorhabenbezogene striktrationalistische Modellierung muss erweitert und teils modifiziert werden.
Dass rationale, kurzfristig kostenarme Entscheidungsfindung nicht zwangsläufig eine systemisch und langfristig gute Entscheidungsfindung ist, zeigt sich an der Beurteilung des Konfliktverhaltens: Extensive Auseinandersetzungen über die Grundlagen der Entscheidungsfindung selbst behindern möglicherweise den expliziten Verfassungswandel, weil sie die Entscheidungskosten in die Höhe treiben und risikoaversives Verhalten in Form einer Ablehnung der Initiative befördern. Andererseits könnten sie systemisch sinnvoll sein, wenn sie asymmetrischer Machtdurchsetzung, kurzfristigem Denken und anderen Fehlern, also Beeinträchtigung langfristig „guter“ demokratischer Politik, vorbeugen. Dies leitet über zum dritten Kerninteresse der Analyse, das Verhältnis zwischen Verfassungspolitik und normaler Politik empirisch zu bestimmen und zu bewerten (nicht aber die Effizienz und Problemangemessenheit der getroffenen Entscheidungen67).
67
Eine solche angemessen tiefgründige Bewertung würde eine andere Anlage der Untersuchung erfordern und daher den Rahmen dieses Buches sprengen.
2.1 Rationalistische Annahmen, Erweiterungen und Gegenannahmen
57
Dafür ist zunächst die Formulierung von Idealtypen gemäß definitorischen Merkmalen notwendig, die in der Analyse berücksichtigt werden, um die Verfassungspolitik charakterisieren zu können (Tab. 7). Demokratische Verfassungspolitik strebt idealiter die Maximierung des Gemeinwohls, die Aufrechterhaltung von Freiheit, Gleichheit und gegenseitigem Respekt an und erfolgt über hochinklusive Deliberation in außerordentlichen Gremien. Die öffentlich-diskursive Verständigung über Ziele, Situations-, Interdependenz- und Effektbewertungen wird von der Theorie der deliberativen (Verfassungs-)Politik als der beste Weg der Erreichung eines Konsenses mit hoher inhaltlicher Güte angesehen – anstelle des nur zweitbesten Kompromisses oder normativ schlechter Tauschgeschäfte, wie sie beim Idealtypus der „normalen Politik“ typisch sind (Arato 1994). Der Diskurs dient dazu, den Konflikt selbst auszuräumen oder zumindest abzumildern, so dass eine Streitschlichtung über institutionalisierte Ausgleichsbzw. Stimmenaggregationsmodelle gar nicht erst notwendig wird. Die Aufrechterhaltung der Kommunikation über die Verfassungsprinzipien ist im Zweifel wichtiger als die Einigung aller Akteure auf bestimmte Verfassungsänderungen. Permanenz und Reflexivität der Gespräche gleicher Bürger mit (im Zweifel durch die Gerichte) gesicherten universellen Rechten sind Prozessmerkmale des Idealtypus demokratischer Verfassungspolitik. Dabei geht es nicht um die rein „physische“ Partizipation, sondern um einen informierten Austausch inhaltlicher Argumente auf hohem Niveau, der von Akzeptanz gegenüber dem natürlichen Pluralismus der Werte und Interessen getragen ist. Alle Beteiligten müssen eine echte Chance darauf haben, dass ihr Argument gehört wird, damit sich im Endeffekt das „beste“ durchsetzt. (Chambers 2001; Habermas 1987, 1992, 1994, 1995; Ackerman 1991: 3-33; Saretzki 1996; Aaken u.a. 2004; Cohen 1989; Gerstenberg 1997; Neyer 2006).68 Der Idealtypus der „normalen Politik“ (bzw. des liberalen Konstitutionalismus) ähnelt den Annahmen rationalen Handelns. Die Akteure, deren Aushandlungskonstellation durch Wahlen herbeigeführt wurde, folgen hier ihren Eigeninteressen, wobei die politische Mehrheit im strukturellen Vorteil ist. Dominante Aushandlungsarena sind die Routinestrukturen zwischen der Regierungsmehrheit und der Oppositon (Parlamentarismus) oder dem Präsidenten und dem Parlament (Präsidentialismus) und nach Politikfeld variierenden Interessengruppen. Zentrale Mechanismen der Ergebniserzielung sind inhaltliche Kompromisse und Tauschhändel oder der Versuch, über glaubhaft gemachte Drohungen oder den Verweis auf Optionen ohne gemeinsame Entscheidung (outside options) die anderen Akteure zu einer Zustimmung oder dem Verwurf einer Initiative zu bewegen. Da niemand zu früh zu viele Zugeständnisse machen will, handelt es sich um ein kurzfristiges, taktischsequenziell geprägtes Spiel, in dem auch nichtsubstanzielle Erwägungen eine große Rolle spielen können, so „normalpolitische“ Steuerungsziele oder ein Ertrag in anderer Sache (Ackerman 1991; Arato 1994). Dieses Verhalten ist bei verhandelnden Kollektivakteuren noch wahrscheinlicher als bei Individuen, weil ihre Repräsentanten nicht das Mandat besitzen, sich von den Argumenten anderer überzeugen zu lassen, sondern die Interessen ihres Entsenders wahren sollen. Eventuelle „Fehler“ werden durch den Kollektivakteur erkannt und ausgeglichen (siehe oben, auch Neyer 2006: 784f.). Diese Idealtypen finden sich diese vorrangig in der theoretisch ausgerichteten Literatur; während in der Praxis meist Mischformen anzutreffen sind (Saretzki 1996). Empirische 68
Die Konzepte der genannten Autoren unterscheiden sich in ihren Ansprüchen an deliberative Politik, deren Voraussetzungen und der Bedeutung, die sie Wahlen, Institutionen oder den Rahmenbedingungen des Handelns beimessen. Hier werden zentrale Aussagen wiedergegeben, in denen sie übereinstimmen.
58
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Studien mit rationalistischer Ausrichtung kennen daher so etwas wie Deliberation durchaus auch, jedoch in definitorisch stark reduzierter Form (Neyer 2006: 785). Der Fokus liegt auf der Gewährleistung von Öffentlichkeit und dem Argumentieren bzw. der Reflexion von Fakten und Meinungen. Wie beim Idealtypus der „normalen Politik“ wird aber Deliberation oder Persuasion nicht als Standardverhalten angenommen, sondern allenfalls als Mittel zum Zweck der Durchsetzung eigener Interessen (Tab. 5; Elster 1991, 1998; Schönlau 2003; King 2003: 25; Schimmelfennig 2001). Für den Zweck, Realität angemessen „messbar“ zu machen, sind die o.g. Idealtypen nützlicher als Typen, die die definitorischen „Einstiegshürden“ sehr niedrig legen. Tab. 7 fasst die jeweiligen Charakteristika zusammen, verzichtet dabei aber auf jene Merkmale demokratischen Konstitutionalismus, die den generellen normativen Anforderungen an „gute Politik“ in Demokratien entsprechen, so Machtbeschränkung, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsschutz, Transparenz, Offenheit, Partizipation, Effektivität und Effizienz. Es sind also nur jene Merkmale genannt, bei denen idealtypisch eine distinkte Ausprägung angenommen wird. Tabelle 7: „Normale Politik“ und Verfassungspolitik als Idealtypen „Normale Politik“ politische Steuerung, Maximierung des individuellen Nutzens Änderungshürde niedrig Routinen: Regierung, Parlament, evtl. Aushandlungsarena Präsident, Interessengruppen Verhandeln (bargaining) unter BerücksichInteraktionsmodus tung von Verhandlungsmacht; Persuasion nur als Mittel zum Zweck Prozess Sequenziell substanzieller/nichtsubstanzieller KomWesen der Einigung promiss oder Einigung ohne Kompromiss (über Tauschhandel, Erpressung o.ä.) * Verfassungspolitik im Sinne des demokratischen Konstitutionalismus Ziel
Verfassungspolitik* Maximierung des Gemeinwohls hoch außerordentliches Gremium intrinsich motiviertes Argumentieren (arguing), Deliberation als Diskurs unter Gleichen permanent-reflexiv substanzieller Konsens
Wie Tab. A 1 im Anhang zeigt, werden nur in den wenigsten etablierten Demokratien wirklich „außergewöhnliche“ Verfahren für Verfassungsänderungen genutzt, auch wenn konstitutionelle Eingriffe oft der Zustimmung zahlreicher Akteure bedürfen: qualifizierter legislativer Mehrheiten, mehrerer politischer Organe oder auch eines Referendums. Fast immer sind die Parlamente zentrale Entscheider. Die Verfahren nehmen zumindest teilweise oder in abgewandelter Form Praktiken der normalen Gesetzgebung auf, und wo andere Verfahren vorgesehen sind, wie Referenden, liegt die Erarbeitung der diesen vorgelegten Änderungsentwürfe in Händen des Parlaments, so dass das zweite Schlüsselkriterium der breiten gesellschaftlichen Deliberation formal nicht abgesichert ist. Stehen alternative Verfahrenswege zur Verfügung, werden oft diejenigen gewählt, die weniger aufwändig und der Tagespolitik näher sind. Insofern entsprechen die meisten Staaten rein institutionell nicht dem Idealtypus deliberativer Verfassungspolitik im demokratischen Konstitutionalismus, sondern dem liberalen Konstitutionalismus, in dem das Geschick der Verfassung von konkreten Machtverhältnissen bzw. von Wahlergebnissen abhängt (Arato 1994: 191). Die Frage stellt sich dann aber ganz besonders, inwieweit sich dennoch Unterschiede zur „normalen“ Politik festmachen lassen und welche Folgen die eventuell fehlenden Unterschiede für den Verlauf der Aushandlungen haben? Für die Untersuchung lassen sich aus
2.2 Untersuchungsdesign
59
den eben angestellten und den theoretischen Überlegungen in Kapitel 1.1 zwei konkurrierende Erwartungen formulieren: Der zugrunde gelegte rationalistische Ansatz und die starke Verbreitung von Verfassungsänderungsverfahren, die zumindest in Teilen Akteure und Routinen der Alltagspolitik ansprechen, begründen die Annahme, dass sich die in den normalen Politikbetrieb eingebetteten Akteure aufgrund von Zeitdruck nur unzureichend auf die Verfassungspolitik konzentrieren, schon gar nicht auf Deliberation. Ihre Machtorientiertheit, ihr Streben nach Durchsetzung eigener politisch-programmatischer Interessen und ihre Unfähigkeit, als von einer Materie Betroffene diese objektiv zu beurteilen, behindern gute Verfassungspolitik. Regierungsdominanz bei der Aushandlung oder eine Entscheidungshoheit der Parlamente über Verfassungsänderungen haben oligarchische Effekte, sie führen zur „frivolen Ausnutzung“ dieser Kompetenz und dadurch zu „Patchwork-Verfassungen“ ohne Legitimation, erhöhen die „konstitutionelle Inflexibilität“ eigentlich flexibler Verfassungen, um einem potenziellen Chaos entgegenzuwirken oder produzieren Kombinationen dieser Effekte. Das Ergebnis dieses eigennützigen Handelns bis hin zu Tauschgeschäften ist dem sachbezogenen Fortschritt nicht dienlich. Es könne außerdem zu einer Tyrannei der politischen Mehrheit kommen (Arato 1994: 172 ff.; Habermas 1994, 1995; Ackerman 1991: 181 ff.). Im Gegensatz dazu kann man annehmen, dass die Besonderheit von Verfassungspolitik gewahrt bleibt: Da Verfassungsänderungen im Vergleich zu Politikfeldentscheidungen mit einer recht breiten Adressaten- und Kostenstreuung verbunden sind und nicht ad hoc beschlossen werden, ist ausgeschlossen, dass populistische „Konjunkturentscheidungen“, affektgeladener Aktionismus (Kahnemann/Tversky 1979), zu oberflächlicher Heuristik zwingende Informations- und Zeitknappheit, asymmetrischer Lobbyismus, Klientelismus oder politikfeldspezifische Interaktionstraditionen die Entscheidung prägen (Buchanan/Tullock 1962: 69). Die Beschränkung des Verfahrens auf tendenziell wenige Akteure, die auch jenseits der konkret zu verhandelnden Verfassungsänderung in relativ stabilen Konstellationen über einen längeren Zeitraum miteinander zu tun haben, durch eine konstitutionell vorgegebene, normative Verpflichtung gegenüber der Verfassung geeint sind und die sich der Wiederwahl stellen müssen, fördert die Deliberation und Gemeinwohlorientierung. Grundsätzlich steigert jede, selbst eine aus simplen „Etikettegründen“ vorgenommene Begründung der eigenen Position durch Argumente die Chance auf eine Replik, damit auf Dialog, längerfristig auf Einsichten und unpaktiertes Handeln (Landwehr 2005; Elster 1991). Auch eine in die Strukturen der normalen Politik eingebettete Verfassungspolitik könnte demnach mit substanziell-inhaltlichen Abwägungen und Konsenssuche vereinbar sein (Bellamy/Schönlau 2003: 4). Welche beider Erwartungen – eventuell wann – empirisch zu beobachten ist, wird die Studie systematisch bewerten.
2.2 Untersuchungsdesign Während der letzte Abschnitt die Vorannahmen der Untersuchung zur Handlungsweise von Akteuren dargelegt hat, geht es in diesem um die Gesamtanlage der Untersuchung selbst: zunächst um die praktische Stellung der Kerninteressen zueinander, anschließend um die Wahl der Untersuchungsmethode, die ihnen allen am besten gerecht wird, dann um die Vergleichsmethodik, nachfolgend um die „Leitpfosten“ der Fallstudien (Beginn und Ende
60
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
des Untersuchungszeitraums, Analysekriterien, berücksichtigte Akteure) sowie die Quellenbasis und zum Schluss um die Anlage des resümierenden Kapitels 7. Wie erkennbar wurde, strebt die Studie die Entwicklung eines Erklärungsmodells für Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien mithilfe eines akteur- und interaktionsorientierten Ansatzes an und verfolgt dabei drei Kerninteressen, die inhaltlich-konzeptionell eng miteinander verknüpft sind. Der rationalistische Ansatz ist leitend für die empirische Sondierung von Interaktionsmustern, die Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien erklären oder zumindest begünstigen, soll aber selbst geprüft und möglicherweise erweitert oder anderweitig modifiziert werden. Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Verfassungspolitik und normaler Politik wiederum bedarf der vorherigen empirischen Beobachtung der Aushandlungen (Abb. 7). Abbildung 7:
Zielsetzungen und angestrebtes Ergebnis der Untersuchung
Erklärung der Einigung auf Verfassungsänderungen mithilfe eines akteur- und interaktionenorientierten Ansatzes Vorannahmen, Analysekriterien
Vorannahmen, Analysekriterien Befunde
Prüfung, evtl. Erweiterung/ Modifikation rationalistischer Annahmen
Befunde
Annahmen
Bestimmung desBefunde Verhältnisses zwischen Verfassungspolitik und „normaler Politik“
Modell der Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien
Bei der Wahl des Untersuchungsansatzes ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der rationalistischen Annahmen eine punktuelle, reduzierte Analyse gerechtfertigt erscheinen lässt, der andere Teil jedoch aufgrund beschränkter verfügbarer Vorarbeiten der Forschung dazu unspezifisch formuliert ist, auf mehr Akteure und eine prozessorientierte Analyse abhebt. Von diesem Teil der Vermutungen wird aber ein besonderer Erklärungsgewinn erhofft. Um allen Interessen und den unterschiedlich angelegten Vorannahmen gerecht zu werden, setzt die Untersuchung methodisch auf eine teilinduktive Vorgehensweise, d.h. sie basiert auf bestimmten allgemein gehaltenen Annahmen bzw. Erwartungen, verzichtet aber auf die Formulierung eines abgeschlossenen Sets spezifischer Hypothesen und nutzt statt dessen theoretisch abgeleitete Untersuchungskriterien, deren Ausprägung sie für alle Fälle im Zeitverlauf der Aushandlungsprozesse prüft. Dies gewährleistet eine erhöhte Offenheit gegen-
2.2 Untersuchungsdesign
61
über möglichen Verfeinerungen oder Ergänzungen der Kriterien, die sich erst aus dem Fallvergleich ergeben. Dass eine prozessorientierte Untersuchung sinnvoll ist, darauf deuten die Politikfeldund Gesetzgebungsforschung (Laffin 2000: 535; Benz 2007: 110 ff.; Cohen/March/Olsen 1972; Hilpert 1998; Beyme 1997; Trampusch 2006; Kingdon 1995) und einzelne Beiträge zur Verfassungspolitik (z.B. Schultze 1997c; Benz 1993) hin. Die vorgenommenen Phaseneinteilungen stellen dabei auf institutionell-organisatorische Charakteristika ab (Agendasetzungsphase, Entscheidungsphase, Implementation o.ä.; Vorverhandlung, Verhandlung, Nachverhandung; Ideenphase, Politikformulierung, politics), auf Lernprozesse (mit „feedback-loops“ u.ä.) oder den Status der Problembewältigung (Problemerkennung, -lösung). In dieser Studie geht es aber um Interaktionsweisen an sich und ihre Effekte auf den Gang der Aushandlungen. Sollen diese Interaktionsweisen teilinduktiv und unter Beobachtung der gesamten – bei Verfassungsänderungen oft längere Zeit währenden – Aushandlungsprozesse erforscht werden, dann ist von vornherein eine Beschränkung auf die qualitative Analyse weniger Fälle unumgänglich. Wenige Fälle aber steigern die Fehlerwahrscheinlichkeit, nämlich das Risiko kausaler Fehlschlüsse oder zu rigider Deutungen (Ragin 1987: 44 f.), und erhöhen dadurch die methodischen Ansprüche an die Fallauswahl. Insbesondere muss einige Mühe darauf verwendet werden, den möglichen Einfluss von Kontext und Institutionen auf die zu untersuchenden Verfassungsänderungen zu kontrollieren, um eine beschränkte Analyse der Akteure und ihrer Interaktionen überhaupt sinnvoll begründen zu können, denn Akteure handeln, wie bereits dargestellt wurde, nicht im „luftleeren Raum“. Daher widmen sich die Kapitel 2.3 und 2.4 ausschließlich dieser Problematik. Im Gegensatz zur sonst üblichen Methodik bei Untersuchungen mit kleinen Fallzahlen, für wichtig erachtete Bedingungen (Systemtyp, regionale Zugehörigkeit, Verfassungstradition o.ä.) konstant zu halten, wird hier ein empirischer Vergleich sehr unterschiedlicher Fälle bzw. die Konkordanzmethode genutzt (Przeworski/Teune 1970; Abromeit/Stoiber 2006: 31f.). Die Ausprägung der wichtigsten für die Erklärung nicht hinzugezogenen institutionellen und Kontextvariablen von Verfassungspolitik soll ein möglichst großes Spektrum abdecken, um dann gemeinsame Motivlagen oder Verhaltenweisen der Akteure für die Erklärung von Verfassungsänderungen zu benutzen. Denn wenn die Themen der Verfassungsänderungen, ihre institutionellen und kontextualen Rahmenbedingungen variierten, bestimmte Motivlagen oder ein bestimmtes Muster im Akteursverhalten aber immer im Vorfeld von Verfassungsänderungen beobachtbar war, so kann eine inhaltlich begründbare kausale Beziehung zwischen beiden Phänomenen plausibel sein. Zumindest aber könnten diese Gemeinsamkeiten demokratieübergreifend typisch für Verfassungspolitik sein, denn die Methode schließt aus, dass festgestellte Ähnlichkeiten im Entscheidungsprozess lediglich Spezifika (beispielsweise regional oder verfassungskulturell) ähnlicher Fälle sind.69 In der Analyse selbst wird die kriterienbasierte dichte Beschreibung in Fallstudien mit Zwischenauswertungen kombiniert. Letztere sind wesentlich aggregierter angelegt, abstrahieren die Gemeinsamkeiten der Fallbeispiele hinsichtlich bestimmter Untersuchungskriterien, die für die Bearbeitung aller drei Kerninteressen wichtig sind, und prüfen jeweils die 69
Zeigen sich in den rationalen Kalkülen und im Verhalten der beteiligten Akteure hingegen keine Gemeinsamkeiten, während trotz dieser Varianz ein gleicher Effekt: eine Verfassungsänderung eintritt, so müssten sowohl eine Kausalitätsbeziehung als auch die Annahme ähnlicher Akteursmuster vorerst verworfen und das Feld für die weitere Ursachensuche geräumt werden (Mill 1967).
62
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
rationalistischen Annahmen. Die Ortung von Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Fälle in der Ausprägung theoretisch abgeleiteter Kriterien führt in Abwesenheit spezifischer Hypothesen zu grundsätzlich ähnlichen Ergebnissen wie ein Hypothesentest, denn was als ähnlich ausgeprägt festgestellt wurde, hat sich als Aussage vorerst bewährt. Zusätzlich aber schafft die Kombination mit den Einzelfallanalysen auch noch ein vertieftes Verständnis für die Abläufe der jeweiligen Verhandlungen und gestattet es besser als variablenorientierte Untersuchungen vieler Fälle, mögliche kombinierte Ursachen für Verfassungsänderungen und kausale Äquivalente zu entdecken (vgl. Ragin 1987: 47, 2000: 32f.). Bei gleichen Ausprägungen des Interaktionsverhaltens bzw. der in den Annahmen vermuteten Einflussgrößen während der gesamten Aushandlungsprozesse könnte man die ergänzend oder konkurrierend formulierten Annahmen verwerfen bzw. von einem geringen Stellenwert für die Erklärung von Verfassungsänderungen ausgehen. In diesem Falle wäre die Einigung auf expliziten konstitutionellen Wandel gut durch reduzierte Rationalwahlmodelle erklärbar. Bei signifikant unterschiedlichen Ausprägungen des Interaktionsverhaltens im Zeitverlauf in allen Fällen könnte sich ein Phasenmodell ergeben, gemäß dem bestimmte Variablen in einer bestimmten Ausprägung vorhanden sein müssen, damit die Schwelle zu einer anderen, durch ein anderes Interaktionsverhalten gekennzeichneten Phase überwunden werden kann. Damit wäre aber keine zielgerichtete, lineare Entwicklung postuliert oder belegt, wie teils an Phasenmodellen kritisiert wird (z.B. Nakamura 1987), sondern es würde eine (empirisch) typische Phasenabfolge vor Verfassungsänderungen festgestellt, die mit bestimmten Bedingungen für eine Einigung auf diese einherginge. Vorab können je nach Bezug der individuellen Gewinnkalkulation der Akteure und der Bereitschaft zum Einlenken zugunsten einer gemeinsamen Entscheidung, d.h. zur Entfernung von der ursprünglichen eigenen Position, folgende idealtypischen Interaktionsorientierungen unterschieden werden (Abb. 8), die ähnlich in Ansätzen der Interaktions- und Konfliktforschung auftauchen.70 Individualistisch nenne ich die Interaktionsorientierung von Akteuren, wenn sie sich jeweils nur an der absoluten Maximierung des Eigennutzens orientieren bis hin zu feindseligem Verhalten. Altruistisch nenne ich die Interaktionsorientierung von Akteuren, die sich zugunsten von Vorteilen eines anderen, evtl. Dritten, oder weiterer Akteure auf institutionellen Wandel einigen und dabei bereit sind, eigene Positionen sehr stark zugunsten von Vorteilen für andere zu verlassen bzw. zu ignorieren. Kompetitiv ist die Interaktionsorientierung, wenn ein Akteur zwar den eigenen Gewinn maximieren will, diesen jedoch relativ zu den Gewinnen anderer bewertet. Hier geht es vorrangig darum, vergleichsweise gut und besser als andere Akteure dazustehen. Kooperativ nenne ich eine Interaktionsorientierung, wenn Akteure sich grundsätzlich bereit dazu zeigen, über gemeinsame Entscheidungen nachzudenken und dabei vom eigenen Nutzen zumindest ein Stück weit zu abstrahieren.
70
Eine gewisse Ähnlichkeit zeigt sich zu Scharpf (2000: 152f.), der aber eine kooperative Interaktionsorientierung nicht kennt, sondern zwischen Solidarität, Altruismus, Feindschaft, Individualismus und Wettbewerb unterscheidet, sowie zu Maki u.a. (1979), die als soziale Motive Altruismus, Kooperation, Individualismus, Wettbewerb, Aggression, Sadomasochismus, Masochismus und Märtyrertum differenzieren.
63
2.2 Untersuchungsdesign
Abbildung 8:
Mögliche Interaktionsorientierungen Bezug der Gewinnkalkulation absoluter Gewinn eines Akteurs
relativer Gewinn
altruistisch
kooperativ
individualistisch
kompetitiv
hoch Bereitschaft zum Einlenken* niedrig
* Einlenken: Positionsverschiebung in Richtung anderer Akteure
Im Prinzip könnte man bei allen Verhaltensweisen zu Kollektiventscheidungen kommen, doch die in Tab. 5 unterschiedenen verfassungspolitischen Ergebnisse des Handelns rationaler Akteure in Abhängigkeit von der Verhandlungsmacht (Konsens, Kompromiss und Tauschhandel) sind in der Verfassungspolitik mit ihren erhöhten Zustimmungshürden sehr wahrscheinlich nur zu erreichen, wenn die relevanten Akteure den Nutzen in Bezug zu mehr als einem Akteur kalkulieren. Insofern ist bei individualistischem Verhalten eine Einigung am wenigsten wahrscheinlich. Abb. 9 fasst die wesentlichen Merkmale der Untersuchungsanlage zusammen. Sie folgt übergreifend der Konkordanzmethode, wenn, wie vermutet, bestimmte Interaktionsorientierungen Effekte auf das verfassungspolitische Ergebnis zeigen. Dies kann auch beinhalten, dass eine bestimmte Abfolge unterschiedlicher Phasen die Einigung auf eine Verfassungsänderung in etablierten Demokratien erklärt, also die Varianz der unabhängigen Variablen einer gleichen Grundstruktur folgt. Die Stärke dieser Methode liegt darin, Annahmen mit hohem Abstraktionsgrad hervorzubringen oder zu testen (Abromeit/Stoiber 2006: 31f.). Die in der Abbildung aufgeführte Nummerierung von I1 bis I3 sowie von Phase 1 bis 3 bezieht sich dabei, wie am Zeitstrahl ersichtlich, auf die möglicherweise empirisch beobachtete zeitliche Abfolge, unterstellt aber keine Linearität der Entwicklung. Abbildung 9:
Anlage der Hauptuntersuchung
Interaktionsverhalten I1 (a, b, c)
Interaktionsverhalten I1 (a, b, c)
Interaktionsverhalten I1 (a, b, c)
Interaktionsverhalten I1 (a, b, c)
Interaktionsverhalten I2 (a, b)
Interaktionsverhalten I2 (a, b)
Interaktionsverhalten I2 (a, b)
Interaktionsverhalten I2 (a, b)
Interaktionsverhalten I3 (a, c)
Interaktionsverhalten I3 (a, c)
Interaktionsverhalten I3 (a, c)
Interaktionsverhalten I3 (a, c)
Realtypus Phase 3 mit I3 (a, c)
Fall 1
Fall 2
Fall 3
Fall 4
Etablierte Demokratien
Dichte Beschreibung in Fallstudien
Zeit
Realtypus Phase 1 mit I1 (a, b, c) Realtypus Phase 2 mit I2 (a, b)
Abstrakte Gemeinsamkeiten
(a, b, c) – Konfiguration beobachteter, für die Erklärung des Prozessergebnisses relevanter Merkmale
64
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Liegen Gemeinsamkeiten im Akteurverhalten im Vorfeld von Verfassungsänderungen vor (ob rationalistisch-punktuell modellierbare oder betreffend den Prozess), dann müssen diese später anhand gescheiterter Verfassungsänderungsversuche geprüft werden, um das Risiko von Fehldeutungen zu senken. Damit wird ausgeschlossen, dass die Bedingungen, die als bedeutsam für die Einigung auf Verfassungsänderungen ausgemacht wurden, möglicherweise gar nicht besonders erklärungsträchtig sind, weil sie genauso auch bei gescheiterten Verfassungsänderungen beobachtbar waren (Ragin 1987: 34 ff.; Aarebrot/Bakka 1991: 64)71 Für diesen Test werden Fälle missglückter Verfassungsänderungen untersucht, die unter möglichst ähnlichen Bedingungen stattfanden wie jene Fälle, die in Verfassungsänderungen mündeten. Da sie bereits auf spezifischen Befunden der Hauptanalyse basiert, ist sie wesentlich knapper umsetzbar und bildet nur einen letzten Schritt zum Abschluss der Analyse (Kapitel 7.4). Die einzelnen Kapitel der Analyse machen im Falle distinkter Interaktionsvarianten diese zur Grundlage der Phaseneinteilung. Die bereits erwähnten Untersuchungskriterien, zu denen hier jeweils fallbezogene und phasenresümierende Aussagen getroffen werden sollen, leiten sich aus den drei Kerninteressen bzw. den entsprechenden Annahmen in Kapitel 2.1 ab (Tab. 8). Tabelle 8: Untersuchungskriterien für die Analyse der Aushandlungsprozesse Akteur Argumente für/gegen die Verfassungsänderung dominante Beurteilungskriterien, Tiefe und Breite der Argumente Risikoaversion oder -akzeptanz Delegation von Verantwortung an einzelne? Merkmale der „normalen Politik“ oder der demokratischen Verfassungspolitik? Sensitivität gegenüber formal nicht Beteiligten Interaktion Konfliktgegenstände, Konflikttypus, Konfliktintensität Kontakte zwischen den Akteuren Kooperationsbereitschaft Art und Bindekraft von Handlungsübereinkünften Delegation von Verantwortung an Sondergremien? Merkmale der „normalen Politik“ oder der demokratischen Verfassungspolitik? Sensitivität gegenüber formal nicht Beteiligten Effekte Vielfalt, Tiefe der Argumentationen bzw. Änderungskonzepte Stabilität der Präferenzen im Zeitverlauf Struktur der durch die Verfassungsänderung Benachteiligten bzw. Begünstigten Gezieltheit des Prozesses Beachtung der Verfahrensprinzipien Merkmale der „normalen Politik“ oder der demokratischen Verfassungspolitik?
Inhaltlich setzt die Hauptuntersuchung mit der verdichteten Vorbereitung einer verfassungspolitisch relevanten Initiative ein, die jedoch nicht formal eingebracht sein muss. Diese etwas vage Festlegung trägt dem Umstand Rechnung, dass Aushandlungsprozesse bereits vor der Einbringung einer Gesetzesvorlage im Parlament beginnen können (Rose 71
Auf die zweite Methode der Gegenprobe, nämlich zu prüfen, ob die ausgemachten „Erfolgsfaktoren“ für Verfassungsänderungen in gleicher Ausprägung immer zu demselben Ergebnis führen, wird verzichtet, weil es sich dabei um ein aufwändiges Verfahren handelt, dass trotzdem allenfalls eine gesteigerte Plausibilität indizieren und nicht den „Wahrheitsgehalt“ der Aussagen „beweisen“ kann.
2.2 Untersuchungsdesign
65
1973; Hogwood/Gunn 1984; De Winter 2003) – ein Punkt, für den gerade institutionalistisch angelegte Untersuchungen blind sind, der aber wichtig für eine adäquate Erfassung der politischen Vorgänge scheint. Das Untersuchungsende markiert, wie sich aus dem ersten Kerninteresse unmittelbar ergibt, die Überwindung der institutionellen Hürde für Verfassungsänderungen, also der letzte formal für das Inkrafttreten der Änderung notwendige Schritt. Analysiert werden die Interaktionen der (Kollektiv-)Akteure auf nationaler Ebene, die sich in ihrer Kommunikation und ihren Handlungen nach außen manifestieren, beispielsweise in Aussagen, Taten, Entscheidungen der den Akteur in den Aushandlungen vertretenden Politiker. Sollten dabei Inkonsistenzen der Argumentation, des Handelns usw. feststellbar sein, etwa ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten von Abgeordneten einer Fraktion, dann interessieren sie nur, sofern von ihnen beobachtbare Effekte für die Verfassungspolitik auf Systemebene ausgehen, etwa wenn strategische „Koalitionen“ zwischen Abgeordneten verschiedener Konfliktparteien entstehen sollten. Interne Präferenzbildungsprozesse, „Flügelkämpfe“ oder Vorgänge in Fraktionssitzungen vor Abstimmungen bleiben weitestgehend ausgeblendet. Als Akteure werden v.a. die entscheidungsbefugten Akteure berücksichtigt. Im Gegensatz zu institutionalistischen Ansätzen, die die Vetospieler (Parlament, Referendum) fokussieren, weil deren Entscheidung kaum mit Abwanderung oder Ausscheren verhindert oder beantwortet werden kann und damit ex-post zumindest vorerst nicht revidierbar ist (Czada 2002), erscheint in der hier gewählten prozessorientierten Erkenntnisperspektive auch das Handeln von Kollektivakteuren innerhalb von Vetospielern, etwa von Fraktionen, von Interesse, sofern es die Agendasetzung oder die Aushandlungen beeinflusste. Relevant sein können auch Delegierte dieser Kollektivakteure in Gestalt von Spitzen- oder Fachpolitikern, wenn sie als solche den Verlauf des Prozesses beeinflussen. Nicht formal entscheidungsbefugte Akteure (Ministerialbürokratie, Justiz, Medien, Interessenverbände, siehe Kapitel 2.1) werden in der Analyse nur dann berücksichtigt, wenn sie den Verlauf und das Ergebnis der verfassungspolitischen Aushandlungen beeinflussten. Wenn beispielsweise Abgeordnete die Öffentlichkeit ansprechen, um ein günstiges Klima für Veränderungen schaffen (Jacobs/Shapiro 2000) oder Reformpläne gezielt nach außen kommunizieren, um andere Akteure unter Zustimmungsdruck zu setzen (Holmes 1993: 22f.), dann ist die Öffentlichkeit kaum mehr als ein Adressat. Machtverhältnisse, Konflikte und Interaktionsprozesse kann man aber nur dort untersuchen, wo angebbare Akteure sich mit angebbaren „Gegnern“ tatsächlich auseinandersetzten (Dahl 1972: 153). Die Untersuchung der Aushandlungsphasen stützt sich auf die Auswertung von Originalquellen zum Aushandlungsprozess, wie Protokolle von Parlaments- oder Ausschusssitzungen, Parteidokumente, Wahlprogramme, Reden zu den verfassungspolitischen Vorhaben, von Sekundärquellen, darunter Medienberichte, wissenschaftliche Beiträge und Ergebnisse von Meinungsumfragen. Prozessbeteiligte standen nur beschränkt zur Verfügung, was eine systematische Auswertung von Interviews unmöglich machte. Die methodischen Probleme von Selbstauskünften gerade bei Motivlagen in einem normativ so wichtigen Feld wie der Verfassungspolitik sowie psychologische Barrieren der objektiv-neutralen Reflexion von Verhalten und Positionsverschiebungen (Ecker 1997; Geppert 1994; Pieters u.a. 2006) lassen den Wert von Interviews für die Beantwortung der gestellten Fragen aber ohnehin zweifelhaft erscheinen. Da die Konkordanzmethode genutzt wird, kann auf Zusammenfassungen der jeweiligen Einzelfälle verzichtet werden, denn sofern sich die Erwartung bestätigt, dass das Verhalten der Akteure bestimmten Mustern folgt, erfüllen die Zwischenauswertungen der Ge-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
meinsamkeiten aller Fälle die Funktion einer solchen Zusammenfassung (3.5, 4.5, 5.5 und 6.5). Sie resümieren jeweils die ähnlichen Ausprägungen der in Tab. 8 aufgeführten Untersuchungskriterien und greifen auch auf die in Kapitel 2.1 formulierten Erwartungen und Analyseinstrumentarien (Matrizen, Tabellen) zurück. Im letzten Kapitel 7 werden zunächst die beteiligten und die faktisch aushandlungsrelevanten Akteure für alle Fallstudien systematisiert (7.1). Danach wird zusammenfassend, auch unter Berücksichtigung der abschließenden Erträge der verhandlungsmächtigsten Akteure aus den verabschiedeten Verfassungsänderungen, die Rationalität ihres Handelns bewertet. Außerdem wird die Bedeutung unklarer Präferenzen diskutiert (7.2). In Kapitel 7.3 werden die Untersuchungsbefunde, also die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Motivlagen, der Entwicklung verfassungspolitischer Aushandlungspositionen und der Verhaltensweisen in den Aushandlungsphasen in einem Modell zur Erklärung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien zusammengefasst. In Kapitel 7.4 wird die Robustheit zentraler Befunde anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen gegengeprüft. Kapitel 7.5 resümiert die Befunde zum Verhältnis der Verfassungspolitik zur normalen Politik und hinterfragt, inwiefern Akteure und Aushandlungen dem in Kapitel 2.1 vorgestellten Idealtypus der deliberativen, demokratischen Verfassungspolitik gerecht wurden.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen Wie ersichtlich wurde, akzeptiert diese Untersuchung, dass Institutionen und Kontext einen Einfluss auf die Verfassungspolitik haben können, blendet sie aber zugunsten einer intensiveren Auseinandersetzung mit Akteuren und ihren Interaktionen aus. Um eine solche Vorgehensweise methodisch rechtfertigen zu können und Aussageverzerrungen zu vermeiden, muss bei den zu analysierenden wenigen Fällen die Ausprägung solcher Variablen gezielt variieren, soweit sie theoretisch und empirisch erklärungsträchtig erscheinen. Da empirische Vergleichsdaten zu Verfassungsänderungen und darauf aufbauende quantitative Analysen bislang weitgehend fehlen, kann sich die Untersuchung bei der Fallauswahl nicht auf bereits vorliegende Studien stützen.72 Sie muss sich also die Mühe machen, in explorativen Voruntersuchungen die empirische Plausibilität theoretisch relevant erscheinender Einflussfaktoren zu testen, wo es doch eigentlich um das Akteurverhalten geht. Was eigene – und umfassende – Forschung wert ist, wird notgedrungen auf engstem Raum gestreift, um eine Mindestgüte der Fallauswahl zu gewährleisten. Da das Ziel der Studie darin besteht herauszufinden, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Akteure sich auf eine Verfassungsänderung einigen, ist die abhängige Variable für die folgenden quantitativen Voruntersuchungen die Anzahl von Verfassungsänderungen in einem bestimmten Zeitraum.73 Um zu klären, welche der unzähligen denkbaren institutionellen und kontextualen „unabhängigen“ Variablen überhaupt kontrolliert werden müssen, könnte man als potenziell wichtig erachtete Variablen in sämtlichen theoretisch denkbaren Varianten miteinander kombinieren. Problematisch an dieser Vorgehensweise wäre jedoch, dass erstens der Einfluss der Variablen nicht erwiesen, seine Stärke unklar ist, es daher 72 73
Ausnahmen bilden die unten skizzierten Untersuchungen zur konstitutionellen Rigidität. Geprüft wurde alternativ jeweils auch der Effekt als unabhängig angenommener Variablen auf die kumulierte inhaltliche Reichweite der Verfassungsänderungen, also das in Kapitel 1.2 eingeführte Kombinationsmaß aus Anzahl und Reichweite der Verfassungsänderungen.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
67
zweitens trotz des großen Aufwandes zu einer verzerrten Fallauswahl kommen kann, dass drittens die Zahl der eingehend zu untersuchenden Fälle bei dieser Variante mit der Zahl der Variablenkombinationen exponentiell steigt, was ja gerade ausgeschlossen werden soll, und damit viertens auch die Wahrscheinlichkeit ungleicher Verteilungen bzw. nicht antreffbarer Kombinationen (Ragin 2000: 80-87). Wesentlich praktikabler und effizienter ist die Methode, zunächst in konventionellen quantitativen Verfahren für die Grundgesamtheit aller Demokratien zu testen, inwieweit sich der theoretische Erklärungswert von Variablen für die Häufigkeit und inhaltliche Reichweite von Verfassungsänderungen im Untersuchungszeitraum empirisch plausibilisieren lässt. Der damit verbundene Informationsverlust durch Verallgemeinerung und die abstrakte Wiedergabe hochkomplexer, historisch gewachsener Gebilde in einfachen Zahlen sind dann akzeptabel, wenn der Mehrwert aus solchen Analysen die notwendigen Verkürzungen ausgleicht. Als ein solcher Mehrwert kann erstens gelten, den eigenen Ansatz ergänzende potenzielle Einflussfaktoren grundsätzlich berücksichtigt zu haben, sowie zweitens, theoretisch plausible, aber empirisch nicht erklärungsträchtige Variablen aus der weiteren Analyse auszublenden, ohne gleichzeitig für die statistisch sich als relevant erweisenden Variablen einen kausalen Einfluss zu postulieren (vgl. Gschwend/Norpoth 2000: 389). Typische empirische Beispiele für die Kombinationen aus den potenziell relevanten institutionellen und/oder kontextualen Variablen führen dann zu einer theoretisch und empirisch plausiblen Auswahl von Untersuchungsfällen für die qualitative Studie zum Akteurverhalten in Verfassungsänderungsprozessen. Geprüft wird im Folgenden der (statistische) Einfluss von elf Variablen auf die Anzahl und die inhaltliche Reichweite von Verfassungsänderungen (Tab. 9). Sie alle gehen entsprechend dem grundsätzlichen Erklärungsansatz davon aus, dass erstens Institutionen und Kontext einen Handlungsrahmen der Akteure konfigurieren, innerhalb dessen diese Nutzen maximierend handeln, Entscheidungskosten abwägen, tragen sowie beschließen, den Rahmen selbst zu ändern. Zweitens wird angenommen, dass Veränderungen in den Rahmenbedingungen prinzipiell die Wahrscheinlichkeit steigern, dass Akteure nach der Veränderung konstitutioneller Regeln streben. Tabelle 9: Zu prüfende institutionelle und Kontextvariablen Variable konstitutionelle Rigidität Bedarf eines Referendums Umfang der Verfassung Alter Unitarismus/Föderalismus Dominanzstruktur Fragmentierung Wahlsystem sozioökonomischer Entwicklungsstand gesellschaftliche Homogenität Verfassungstradition
Herkunft/Zuordenbarkeit der Kausalitätsannahme (Neo-)Institutionalismus, Rationalismus, Einzelfallanalysen (Neo-)Institutionalismus, Einzelfallanalysen (Neo-)Institutionalismus, Rationalismus, Kulturalismus (Neo-)Institutionalismus, historisch-soziologische Ansätze, Rationalismus (Neo-)Institutionalismus, Rationalismus historisch-soziologische Ansätze, Rationalismus Neo-Institutionalismus, historisch-soziologische Ansätze, Kulturalismus
Einem Teil der Variablen, etwa der Änderungshürde, wird in der Verfassungsliteratur sehr häufig, aber kaum geprüft, eine kausale Verbindung zur Chance auf verfassungspolitische Einigungen unterstellt. Das Set derartiger Annahmen ist jedoch recht beschränkt. Tatsäch-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
lich gibt es wenig testbare Prädiktoren für Institutionenstabilität und -wandel – „nicht wegen des notorischen Problems ‚zu viele Variablen und zu wenig Fälle’, sondern weil es bereits an theoretisch gut begründeten Annahmen über stabilisierende und destabilisierende Faktoren fehlt“ (Seibel 2003: 226). Wiederum notgedrungen basiert daher ein anderer Teil der Hypothesen auf allgemeinen ökonomisch, (neo-)institutionalistisch und kulturalistisch inspirierten Überlegungen zur vorstrukturierenden Wirkung von Institutionen und Kontext, wie sie in den Kapiteln 1.3 und 2.1 vorgestellt wurden. Folgende Hypothesen zur vorprägenden Wirkung auf das später genauer zu untersuchende Verfassungsänderungsverhalten von Akteuren lassen sich formulieren: (H 1) Je höher die konstitutionelle Rigidität, desto seltener sind Verfassungsänderungen. Diese häufig anzutreffende Annahme (u.a. Lutz 1995; Acosta Romero 1993: 13; Schultze 1997c: 516; Kaiser 1997; Tsebelis 2000: 443; Manfredi 1997: 132; Weaver 2000; Lhotta 2001: 2) basiert wie einige verwandte nachfolgende Hypothesen auf der theoretischen Argumentation, dass die Kosten für die Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen, die Konsensfindung, die Transaktionskosten aufgrund verhaltensbedingter Risiken und der Maßnahmen zu deren Vermeidung sowie der entgangene Nutzen nicht durchgeführter Aktivitäten (Opportunitätskosten) mit der Zahl der Entscheidungsbeteiligten für jeden Akteur zunehmen. Diese sind nur dann bereit, diese höheren Kosten zu tragen, wenn dem ein höherer Nutzen gegenübersteht – und noch nicht einmal dann immer (Shepsle/Bonchek 1997: 201 ff.). Darüber hinaus steigt mit der höheren Rigidität auch die Wahrscheinlichkeit unhintergehbarer Vetos. Beim Einstimmigkeitsprinzip wird dies auf die Spitze getrieben (Schmidt 1997: 188; Huber u.a. 1993: 728; Börzel/Risse 2000: 7; Colomer 1995).74 (H 2) Bedürfen Verfassungsänderungen eines Referendums, so sind sie seltener. Dag Anckar und Lauri Karvonen stellten die Hypothese auf, dass Plebiszite eine echte zusätzliche Barriere für Verfassungsmodifikationen darstellen, besonders je größer und komplexer der Staat ist (2002: 11). Dahinter steht die Überlegung, dass es schwer ist, die interessenpluralistische Bevölkerung für eine Zustimmung zu konstitutionellen Änderungen zu mobilisieren, deren langfristigen Nutzen sie wegen der Abstraktheit und der Entfernung von den eigenen Alltagsproblemen oft schwer ermitteln kann. Dies scheinen jüngere Beispiele zu belegen.75 Jedes Referendum kann scheitern, besonders angesichts der gestiegenen „gefühlten“ Entfernung zwischen den politischen Eliten und der Gesellschaft in vielen modernen Demokratien. Das Abstimmungsverhalten kann sich dann nicht nur aus der sachlichen Haltung gegenüber der Abstimmungsmaterie ableiten, sondern auch aus der allge74
75
Mit der konstitutionellen Rigidität wurde beispielsweise die niedrige Zahl von acht Verfassungsänderungen in Australien zwischen 1901 und 1988 erklärt. Dort fanden zwar auf Parlamentsbeschluss 44 Referenden über konstitutionelle Modifikationen statt, aber nur acht Vorlagen passierten die nachfolgende Hürde einer Zustimmung durch die Mehrheit der sechs Staaten (Maddex 1996: 13). Die hohe Konsensschwelle in Deutschland wurde ebenfalls als innovationsfeindlich bezeichnet (Schmidt 1992: 90 ff., Hesse/Ellwein 1997: 397; Beyme 1996: 45). So fiel das erste dänische Referendum zum Vertrag von Maastricht negativ aus, die Norweger lehnten 1994 den EU-Beitritt ab, und in mehreren Kandidatenländern blieb lange unklar, ob die Bevölkerung die EUIntegration befürworten würde. In Portugal votierte die Bevölkerung im Referendum 1998 gegen die Freigabe der Abtreibung auf Verlangen. In Irland scheiterten 1992 und 2002 drei Verfassungsänderungsvorschläge an der mangelnden Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
69
meinen Bewertung der innenpolitischen Entwicklung, wie beispielsweise bei der Ablehnung des europäischen Verfassungsentwurfs in Frankreich 2005 (Ritzenhofen 2005). (H 3) Je umfänglicher die Verfassung, desto häufiger finden Verfassungsänderungen statt. Plausibel gemacht wird diese häufig zu lesende Annahme (Grimm 1994: 333 f.; Lutz 1995; Busch 1999: 566) zumeist mit der Wahrscheinlichkeit, dass besonders konkrete Regelungen nicht so elastisch gegenüber den sich wandelnden Rahmenbedingungen sind oder dass Akteure mit einzelnen Regelungen unzufrieden sind. Entsprechend wird der verbreiteten Verfassungstypologie aus kontinentaleuropäischen „Verfassungen als Gesetzbüchern“ sowie knappen Organisationsstatuten im angelsächsischen Raum eine jeweils eigene Änderungswahrscheinlichkeit unterstellt. In letzteren verlaufe „Verfassungswandel zumeist unterhalb der Ebene der formalen Verfassungsänderung“ (Schultze 1997c: 510). Als Beispiel für eine „Überkonstitutionalisierung“ wird nicht selten Deutschland genannt (Jeffery 2001: 127), als exemplarisch für eine hohe Anpassungsfähigkeit die kurze US-amerikanische Verfassung. Auch für Australien wurde die geringe Änderungszahl damit begründet, dass Regierungsstruktur und politischer Prozess teils auch einfachgesetzlich geregelt seien (Maddex 1996: 11). (H 4) Je älter eine Verfassung, desto größer die Änderungshäufigkeit. Das Alter ist keine Einflussquelle an sich, sondern steht als abstrakter Indikator für sich wandelnde Rahmenbedingungen, die eine Anpassung des Textes notwendig machen können (z.B. Lutz 1995; Häberle 1996: 59 ff.). Davon, dass sich Verfassungen oder zumindest ihre Interpretation im Laufe der historisch veränderten Rahmenbedingungen und politischen Konstellationen ändern, gehen praktisch alle Ansätze zur Erklärung des Verfassungswandels aus, wenngleich sie im einzelnen unterschiedliche Faktoren (z.B. Eliten, Gesellschaft, veränderte Präferenzskalen, kultureller Wandel) als treibend benennen. Man kann annehmen, dass mit dem Alter auch die Differenz zwischen Ausgangsbedingungen und gegenwärtigen Bedingungen der Verfassungspolitik und damit der Änderungsdruck oder –anreiz steigen. Systemtheoretisch argumentiert, ist institutioneller Wandel eine Voraussetzung für Stabilität, um im Falle einer Störung des Systemgleichgewichtes die notwendige funktionale Veränderung und Anpassung der betroffenen Strukturen zu gewährleisten (Sandschneider 1994: 24). (H 5) Unitarische Staaten ändern die Verfassung häufiger als föderale Staaten. Eine Begründung liefert die potenziell geringere Zahl von Vetospielern, während bundesstaatliche Systeme eine „Auto-Immunisierung der Verfassungen gegen (formalen) Verfassungswandel“ aufgrund besonders hoher Konsenshürden bzw. zahlreicher Vetopunkte bewirken (Lhotta 2001: 2). In unitarischen Staaten sind die mit einer Verfassungsänderung verbundenen Transaktions- und Entscheidungskosten dagegen niedriger. Zudem sind in unitarischen Staaten mit ihrer einfacheren Struktur die Folgen einer Verfassungsänderung vermutlich leichter abzuschätzen als in föderalen Systemen. Demgegenüber kann für föderale Staaten nicht nur eine höhere Zahl an Vetospielern, sondern auch eine größere Diversität der Interessenlagen angenommen werden. Gerade viele Vetospieler mit wenig kohären-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
ten Positionen reduzieren aber theoretisch die Chancen von Reformen (Tsebelis 1999: 591; Orenstein 2000: 12f.). (H 6) Verfassungsänderungen finden häufiger statt, wenn eine politische Partei im Parlament (bzw. Unterhaus) dominiert. Die häufigsten Arenen der Abstimmung über Verfassungsänderungen sind Parlamente bzw. deren Unterhäuser (s. Tab. A 1). Verfügt dort eine politische Kraft über die absolute Mehrheit der Sitze, so sind die Entscheidungskosten vermutlich deutlich niedriger, auch wenn für Eingriffe in die Konstitution des Gemeinwesens zumeist größere Zustimmungshürden zu überwinden sind als die gegebene relative oder absolute Mehrheit. Es muss weniger Rücksicht auf Einwände genommen werden; politische Richtungswechsel sind besser durchsetzbar. Im Gegensatz zur Hypothese 1, wo das institutionalistische Rigiditätsmaß die volle Ausschöpfung der konstitutionellen Vetokapazitäten unterstellt, werden in dieser und in Hypothese 7 reale legislative Mehrheitsverhältnisse betrachtet. Dies könnte eine Aussage darüber erbringen, ob sich institutionelle Vetostrukturen und reale Mehrheitsverhältnisse „addieren“, oder ob sie in einem subtraktiven Kompensationsverhältnis zueinander stehen, also beispielsweise Supermajoritäten die Handlungsbeschränkungen einer Vetostruktur ausgleichen (Czada 2002: 5; Tsebelis 2000: 446 ff.). (H 7) Je fragmentierter die Sitzverteilung im Parlament (bzw. Unterhaus), desto niedriger die Anzahl der Verfassungsänderungen.76 Ähnlich wie bei Hypothese 5 lässt sich argumentieren: Je mehr Akteure, die zustimmen müssen, desto höher die mit einer Verfassungsänderung verbundenen Entscheidungskosten (Lane/Mæland 2000: 42 ff.) und wahrgenommenen Risiken und desto geringer ausgeprägt die Bereitschaft des einzelnen, diese Kosten zu tragen. Vergleichende empirische Studien zur Staatstätigkeit etablierter liberaler Demokratien in einzelnen Politikfeldern deuten auf eine solche dämpfende Wirkung für den institutionellen Wandel hin (Schmidt 2005). (H 8) In Staaten mit Verhältniswahl finden mehr Verfassungsänderungen statt als in Staaten mit Mehrheitswahl. Abgeordnete in Verhältniswahlsystemen folgen tendenziell stärker der jeweiligen Parteirationalität, zeigen also mehr Partei- bzw. Fraktionsdisziplin als Abgeordnete in Mehrheitswahlsystemen, die sich stärker ihrem Wahlkreis gegenüber verantwortlich fühlen. Obwohl in Proportionalwahlsystemen zumeist mehr Parteien im Parlament vertreten sind, würde dies die mit einer Verfassungsänderung verbundenen Transaktions- und Entscheidungskosten deutlich geringer ausfallen lassen als in einem Majorzsystem. Gleichzeitig kann man theoretisch erwarten, dass sich in Proporzsystemen aufgrund des von der größeren Zahl von Parteien ausgehenden Kooperationszwangs auf längere Sicht ein größeres Vertrauen in die Zusammenarbeit und eine größere Konsensbereitschaft entwickeln, wohingegen in Mehr76
Im Rahmen dieser Untersuchung wird die Art der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht berücksichtigt, da die Gerichte meist keine Initiatoren oder Vetospieler im eigentlichen Verhandlungsprozess sind (siehe Tab. A1). Ob und inwieweit sie die Aushandlungsprozesse beeinflussen, wird stattdessen anhand konkreter Fälle analysiert.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
71
heitswahlsystemen mit häufig zwei Parteien mehr politische Konkurrenz stattfindet.77 Die Bereitschaft, in wichtigen politischen Fragen mit dem politischen Wettbewerber zusammenzuarbeiten oder sich auf eine gemeinsame Position zu einigen, ist dort also theoretisch schwächer ausgeprägt. (H 9) Je höher der sozioökonomische Entwicklungsstand, desto seltener sind Verfassungsänderungen. Dies kann mit der höheren Systemzufriedenheit der Akteure plausibilisiert werden. Modernisierungstheoretische Ansätze unterstellen ebenfalls eine in diese Richtung weisende kausale Verknüpfung zwischen Entwicklungsstand und institutioneller Stabilität. Ökonomisch lautet die Begründung: Wo die politischen Institutionen offenbar prosperitätsfördernde Rahmenbedingungen abstecken, stehen Akteure weniger unter Druck, Änderungen im Gefüge anzustreben als in niedriger entwickelten Staaten. (H 10) Gesellschaftlich homogene Staaten weisen weniger Verfassungsänderungen auf als heterogene Staaten. Die geringere Konfliktwahrscheinlichkeit und die daher potenziell größere Systemzufriedenheit begründen diese Hypothese. In heterogenen Gesellschaften kann die Akzeptanz der in der Verfassungen angelegten Deutungen schneller umstritten (Vorländer o.J.: 3f.), und die Verfassungsloyalität daher ceteris paribus geringer ausgeprägt sein. Es variiert in homogenen und heterogenen Systemen theoretisch also nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Akteure andere Verfassungsregelungen zur Steigerung des eigenen Nutzens anstreben, sondern auch der Wert, den die Entscheidungsbeteiligten der Beibehaltung des institutionellen Status quo beimessen. (H 11) In Staaten mit der Westminster-Verfassungstradition werden weniger Verfassungsänderungen vorgenommen als in anderen Demokratien. Westminsterdemokratien unterscheiden sich von anderen Demokratien durch die commonlaw-Rechtstradition, der eine größere Elastizität der Verfassung gegenüber sozialem und politischen Wandel und Offenheit für informalen Verfassungswandel unterstellt werden kann als anderen Rechtskulturen. Das institutionelle Kriterium der knappen Fixierung könnte einhergehen mit einer bestimmten Verfassungskultur, in der explizite Formulierungen und Änderungen eine geringe Rolle spielen. Diese spezifische Hypothese ermöglicht es zu prüfen, ob ein eventuell bei Hypothese 6 auftretender Zusammenhang vielleicht eine Scheinkorrelation ist, die eigentlich auf jenen Anteil an Demokratien zurückzuführen ist, die dem Westminstertypus zuzurechnen sind. Sie nämlich zeigen eine besondere Neigung dazu, absolute Mehrheiten hervorzubringen. 77
Gegen die Annahme könnte eingewandt werden, dass gleichzeitig Majorzsysteme zumeist zu klaren Mehrheiten führen (Lijphart 1999), sie also im Widerspruch zur Hypothese 6 steht. Dem ist entgegenzuhalten, dass nur in fünf jener zehn voll etablierten Demokratien mit Majorzsystem 1993-2002 eine Partei mehr als 50 Prozent der Parlamentsmandate innehatte. Keine Partei erreichte eine Mehrheit in Papua-Neuguinea, in Australien (1998 bis 2002), Frankreich (bis 2002), Mauritius (1991-1995) und der Mongolei (1996-2000). Heterogene Gesellschaften, soziale Disaggregration und abnehmende Parteibindungen wirken offensichtlich übergroßen Mehrheiten entgegen.
72
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Als Basis der nachfolgenden Hypothesentests dienen die selbst erhobenen Daten in Tab. 1 zu allen voll etablierten, friedlichen Demokratien mit über einer Million Einwohnern im Zeitraum 1993 bis 2002 sowie teils selbst, teils fremd erhobene Daten zu den unabhängigen Variablen. Da die Bewertung der inhaltlichen Reichweite von Verfassungsänderungen durchaus subjektiv und daher methodisch nicht unproblematisch ist, werden im Folgenden vorrangig die Ergebnisse von Berechnungen wiedergegeben, die die Anzahl von Verfassungsänderungen als abhängige Variable betrachten.
Konstitutionelle Rigidität Die Bandbreite formaler Verfassungsänderungsprozeduren ist enorm und umfasst nicht selten sogar alternative Wege betreffend unterschiedliche Artikel bzw. Sektionen eines Dokuments, normale oder schnelle Änderungen oder die Art der Initiierung der Verfassungsänderung (Tab. A 1). Donald S. Lutz (1994, 1995), Arend Lijphart (1999: 219 ff.) sowie Dag Anckar und Lauri Karvonen (2002) konstruierten unterschiedliche Indizes, um die Änderungsrigidität von Verfassungen zu quantifizieren und damit einem Vergleich zu öffnen (Tab. A 2, A 3). Ein von mir entwickelter weiterer Index integriert die Mehrheitsregel mit der Anzahl der Abstimmungsarenen bzw. entscheidenden Akteure. Er differenziert zwischen Werten anstelle von Klassen, wie bei Lutz, nutzt eine relativ einfache Methode der Wertzuweisung für die erforderlichen Mehrheiten, wie bei Lijphart, und berücksichtigt systematisch die verschiedenen Abstimmungsarenen, wie bei Anckar und Karvonen. Trotz ihrer verschiedenen Operationalisierungen und Messmethoden messen die vier Indizes dasselbe latente Konstrukt (Lorenz 2005; Lorenz/Seemann 2007). Der Durchschnitt der standardisierten Werte sowie imputierte Faktorwerte sind Alternativen zu den Indizes, bei denen nicht für alle Länder gleichermaßen Werte vorlagen.78 Tabelle 10: Paarweise Korrelationen zwischen der Änderungsrate und den Rigiditätsindizes
Änderungsrate 1993-2002
Lutz
Lijphart
-0,2 22
-0,05 25
Indizes der Verfassungsrigidität Anckar/Karvonen Lorenz Durchschnittswerte der standard. Indizes -0,51 -0,15 -0,31 38 38 38
Imputierte Faktorwerte -0,24 38
Tab. 10 zeigt einen nur schwachen Zusammenhang zwischen der Rigidität und den Änderungsraten hinsichtlich des Zeitraumes 1993 bis 2002, wenn man die Indizes von Lijphart (r = -0,1), Lutz selbst (-0,2) und mir (-0,2) betrachtet. Der Lijphart-Index resultiert in der schwächsten Korrelation und indiziert keine (lineare) Beziehung zwischen der Schwierigkeit der Änderung und der Modifikationsrate. Entsprechend diesen Befunden erklärt die 78
Faktorwerte werden idealerweise auf Grundlage vollständiger Information hinsichtlich der erklärenden Variablen geschätzt. Imputation ist ein Schätzverfahren auf Basis unvollständiger Informationen. Sie entsprechen in etwa den Durchschnittswerten von standardisierten Indizes. Allerdings werden in der Faktoranalyse diejenigen Indizes stärker gewichtet, die eine höhere Korrelation mit den anderen Indizes aufweisen. Zur Standardisierung von Indizes siehe Wagschal 1999: 260f. Für die Berechnungen wurde das Statistikpaket „Stata“ (Version 7) genutzt. Siehe Goldstein 1996; Little/Rubin 1987. Für Unterstützung bei den Berechnungen danke ich Markus Schrenker und Silke Hans.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
73
konstitutionelle Rigidität die Verfassungsänderungsraten demokratischer Staaten, statistisch gesehen, nicht sehr gut. Nur der Index Anckars und Karvonens scheint die Hypothese über einen inversen Zusammenhang zwischen der Änderungsschwierigkeit und den gegenwärtigen Änderungsraten zu bestätigen (r = -0,5), doch sprechen methodische Überlegungen gegen den Nutzwert seiner Anwendung auf den hier konkret interessierenden Zusammenhang79 (ausführlicher Lorenz 2005). Zwar geht eine hohe Änderungshürde durchaus mit weniger Verfassungsänderungen einher, doch der Einfluss der Rigidität auf die Änderungshäufigkeit im Untersuchungszeitraum ist moderat. Nur die prinzipielle Neigung, die Verfassung zu ändern, erklärt sie statistisch gut.80 Auch eine aktuelle Auswertung der Verfassungsänderungspolitik in allen Demokratien seit 1945 konnte einen Zusammenhang zwischen Rigidität und Änderungshäufigkeit nicht erhärten (Lorenz/Seemann 2007).81
Änderungsratifizierung per Referendum Der Rigiditätsindex von Anckar/Karvonen, der sich von den anderen getesteten Indizes vor allem darin unterscheidet, dass er systematisch nur die Abstimmungsregel und die Notwendigkeit eines Referendums (bzw. die Zustimmung föderaler Einheiten) berücksichtigt, führt als einziger zu dem Ergebnis: Je höher die Rigidität, desto weniger Verfassungsänderungen. Dahinter könnte die eigentliche Aussage stehen: Wenn ein Referendum notwendig ist, finden seltener Reformen statt. Dieser indirekte Schluss bestätigt sich empirisch jedoch nicht. Zunächst einmal ist festzustellen, dass nur sieben der 39 Verfassungen für eine Änderung obligatorische Referenden vorsehen, und zwar jene von Australien, Dänemark, Irland, Südkorea, Spanien, Schweiz (erst seit 2000) und Uruguay (Tab. A 2). Sobald es die bloße Option von Referenden gibt oder diese durch andere Regelungen umgangen werden können, spielen sie in der Realität tendenziell eine geringere Rolle als die anderen Änderungswege. In Österreich etwa nutzten Nationalrat und Bundesrat noch nie ihre Möglichkeit, eine Verfassungsänderung dem Volk zur Abstimmung vorzulegen (Pelinka 1999: 501). Die in der Literatur immer wieder zu lesende Behauptung, die Beteiligung des Volks als Souverän an der Verfassungsänderung sei in den westlichen Demokratien „wesensbestimmend“ oder „meist“ vorgesehen (bspw. Bryde 1982: 52; ; Batt 2006; Busch 1999: 561), erweist sich empirisch als Trugschluss.
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Problematisch sind die ungleiche Verteilung der Fälle den Umstand und Konstruktionseigenheiten des Index, die sich daraus ergaben, dass Anckar/Karvonen die Rigidität als abhängige Variable behandelten. Betrachtet man nur die Wahrscheinlichkeit, ob mindestens eine Verfassungsänderung vorlag oder keine Änderung, dann lässt sich ein Zusammenhang zur Rigidität erkennen. Dazu wurde eine logistische Regression gerechnet und die Wahrscheinlichkeit einer Verfassungsänderung geschätzt. Demnach sinkt mit jeder Standardabweichung der imputierten Faktorwerte die Chance, dass mindestens eine Verfassungsänderung stattgefunden hat, um 31 Prozent. Eine Analyse, die zu anderen Ergebnissen kommen (Rasch/Congleton 2006) greift auf die zweifelhaften Daten von Lutz (1995) zurück. Sie hielten teils eigenen Stichproben nicht stand, fassen sehr unterschiedlich lange Zeiträume zusammen, berücksichtigen nicht nur stabile Demokratien und Länder ganz unterschiedlicher Größe.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Tabelle 11: Verfassungsänderungen in Staaten mit obligatorischem Referendum, 1993-2002 Staat Referendum obligatorisch seit Australien 1901 Dänemark 1953 Irland 1937 Schweiz 1848 Südkorea 1948 Spanien 1978 Uruguay 1967 Quelldaten: eigene Recherchen.
Verfassungsänderungen 0 0 9 19 0 0 2
kumulierte Änderungsreichweite 0 0 9 23 0 0 4
Mit Australien, Spanien, Dänemark und Südkorea änderten vier der Staaten mit obligatorischem Referendum tatsächlich im Untersuchungszeitraum ihre Verfassungstexte nicht, und vier der insgesamt sieben „Nullreformierer“ sind Staaten, in denen eine Verfassungsänderung eines obligatorischen Referendums bedarf. Dies spricht für die Hypothese. Allerdings gab es erstens in diesen Staaten zuvor durchaus Änderungen,82 zweitens fanden in zwei Ländern (Schweiz, Irland) mit Referendum83 sogar überdurchschnittlich viele Verfassungsänderungen statt. Bei Uruguay als drittem Staat mit obligatorischem Referendum und – in diesem Fall zwei signifikanten – Verfassungsänderungen liegt der Mittelwert nur wenig unter dem der kumulierten Änderungsreichweite aller Demokratien. In Anbetracht der sehr geringen Fallzahl und der großen Differenzen der Fälle lässt sich hinsichtlich der Hypothese allenfalls vorsichtig spekulieren, dass die Notwendigkeit eines Referendums bei ungeübtem Umgang der Beteiligten bzw. in einer bestimmten politischen Kultur möglicherweise änderungsdämpfend wirkt, dass aber diese Wirkung dort nicht oder schwächer zu beobachten ist, wo diese oder andere Formen direkter Demokratie bereits länger bzw. häufiger praktiziert werden.84
Regelungsdichte der Verfassung Ähnlich wie bei der Rigidität sind auch hinsichtlich des Umfangs von Verfassungen verschiedene Operationalisierungen möglich. In der Literatur finden sich als Varianten die 82
83
84
In Australien wurden die politisch signifikanten Änderungen bzw. Ergänzungen im Zusammenhang mit der Loslösung von der englischen Krone vorgenommen. In Spanien wurde 1992 das Kommunalwahlrecht für Ausländer im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag eingeführt. Die südkoreanische Verfassung wurde 1952, 1954, zweimal 1960, 1962, 1969, 1972, 1980 und 1987 geändert. Für Dänemark lässt sich mit Blick auf das hier verfolgte Erkenntnisinteresse darauf verweisen, dass zwei Drittel der 89 Artikel der Verfassung von 1953 nahezu identisch mit Klauseln im vorherigen Grundgesetz von 1849 sind (Mors 2002: 23) und dass das Procedere ihrer Verabschiedung identisch mit dem einer Verfassungsänderung war, das selbst auch nicht modifiziert wurde. Insofern könnte man auch von einer signifikanten Verfassungsänderung sprechen. In der Schweiz sind erst mit der totalrevidierten Verfassung von 2000 Verfassungsreferenden obligatorisch, sie waren aber vorher bereits Praxis. Alle Änderungen im Untersuchungszeitraum bis 2000 passierten ein Referendum (Änderungen der Bundesverfassung… 1999). Einen neueren Diskussionsbeitrag zum Versuch, die änderungshemmende Wirkung von Referenden empirisch vergleichend zu untersuchen, legten Tsebelis und Hug (2002) vor. Sie stellen aber noch keine Berechnungen an. Für etablierte Demokratien wäre die Aussagekraft von Befunden, die aus ihrem Ansatz folgen würden, sehr beschränkt, denn sie plädieren dafür, alle Staaten weltweit (inklusive vieler kleinster und autoritärer, eindeutig nicht Rechtsstaatlichkeit achtender) Staaten zu untersuchen. So würde ein erstes methodisches Problem (das der geringen Fallzahl) durch ein anderes ersetzt.
75
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
Textlänge (Lutz 1995), die Anzahl der Artikel (Anckar/Karvonen 2002), die Detailliertheit der Formeln (Bryde 1982: 121) oder allgemein die materielle Regulierungsdichte. Für den Zweck einer begründeten Fallauswahl sind die beiden letzten, in der Anwendung äußerst arbeitsintensiven Methoden nicht sehr sinnvoll. Stattdessen wird für die konstitutionelle Regelungsdichte ein Index-Maß genutzt, das mit der Anzahl der Regelungen den Umfang thematisch voneinander abgrenzbarer Materien85 berücksichtigt sowie mit der Anzahl der Zeilen den Umfang entsprechender Einzelregularien.86 Die Regelungsdichte der 38 quantifizierbaren Fälle liegt bei durchschnittlich 3,2. Die am wenigsten regelungsintensiven Verfassungen verabschiedeten die USA, Polen 1992 (beide 1,3) sowie die Mongolei und Dänemark (1,4). Die mit deutlichem Abstand regelungsintensivste Verfassung findet sich in Papua-Neuguinea (8,2).87 Statistisch zeigt sich zwischen der Regelungsdichte und der Anzahl der Verfassungsänderungen entgegen der Hypothese kein signifikanter Zusammenhang (r = 0,2). Der Veranschaulichung dieses kontraintuitiven Befundes dient die Abb. 10. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich beim Zusammenhang zwischen Regelungsdichte und kumulierter Änderungsreichweite (r = 0,2). Abbildung 10: Verfassungsänderungen und Regelungsdichte
Verfassungsänderungen
25 20 15 10 5 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Re ge lungs dichte
85
86
87
Ihre Zählung orientiert sich an der jeweiligen offiziellen Gliederung. Abweichungen von dieser entstehen v.a. aufgrund gestrichener oder eingefügter Artikel. Es sind die Verfassungen im engeren Sinne (mit Anhängen u.ä.) erfasst, nicht aber normative Akte, die sie auslegen oder ergänzen, z.B. Verfassungsgesetze in Tschechien. Dies ist durch die Beobachtung begründbar, dass es umfangreiche Verfassungen mit relativ wenigen Artikeln gibt und umgekehrt. Irland etwa benötigt für 50 Verfassungsartikel 1.173 Zeilen, Litauen bringt auf ähnlichem Raum (1.152 Zeilen) 154 Artikel unter (Tab. A 5). Die Annahme, besonders umfangreich fielen die Texte in Staaten aus, die sich soeben einer Diktatur entledigt oder konfliktreich die Unabhängigkeit erstritten haben (Ismayr 1999: 9), lässt sich übrigens im internationalen Vergleich nicht halten. Die Daten widerlegen nebenbei auch die These, jüngere Verfassungen seien gegenüber den älteren generell umfänglicher (Sartori 1994: 199). Während sich für die nordamerikanischen und die europäischen Staaten ein kurvilinearer Zusammenhang zwischen Alter und Regelungsdichte zeigt – ganz alte und ganz junge Verfassungen sind weniger regelungsintensiv als die anderen (Lorenz 2004a), verschwindet diese Beziehung weitgehend im globalen Vergleich.
76
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Alter der Verfassung Die Hypothese, dass mit dem Alter einer Verfassung linear die Änderungshäufigkeit steigt, bewährt sich statistisch nur schwach (r = 0,3). Im Untersuchungszeitraum zeigte sich vielmehr ein quadratischer Zusammenhang zwischen beiden, dessen Signifikanz auch die Extremwerte Japan und Australien nicht beeinträchtigen (siehe Tab. A 5): Sowohl an sehr alten als auch an sehr jungen Verfassungen wurden im Gegensatz zu den anderen nur wenige Änderungen vorgenommen. Am einfachsten kann dies ein Streudiagramm veranschaulichen (Abb. 11). Abbildung 11: Verfassungsänderungen und Verfassungsalter
Verfassungsänderungen
25 20 15 10 5 0 0
50
100
150
200
250
Verfassungsalter
Verfassungsänderungen 1993-2002; Verfassungsalter Stand 2003.
Vor allem Verfassungen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurden, weisen viele Änderungen auf. Dieses Phänomen, das durch vier Fälle (Costa Rica, Deutschland, Italien, Ungarn) mit sehr hohen Änderungsraten im Kontrast zu zweien ohne jede Änderung (Dänemark, Südkorea) verursacht wird, hat jedoch unterschiedliche Hintergründe: So verursachte in Ungarn die Anpassung der (im Gegensatz zu anderen Transformationsstaaten) insgesamt beibehaltenen 1949er Verfassung an die postsozialistischen Verhältnisse (Bos 2004: 230 ff.; Körösényi/Fodor 2004: 326f.; Vastagh 2002) mehr Änderungen im Untersuchungszeitraum, in Italien waren konstitutionelle Neuerungen bereits lange immer wieder ohne eine Einigung diskutiert worden (Hine 1997; Cartei 2002), und in Deutschland war eine hohe Zahl an Eingriffen in das Grundgesetz bereits seit dessen Verabschiedung beobachtbar (Tab. A 10), was einen kausalen Zusammenhang mit dem Alter unwahrscheinlich macht. Im Test mit der kumulierten Änderungsreichweite zeigen sich kaum Unterschiede hierzu. Insgesamt sind dem Alter bzw. dem dahinter vermuteten Wandel der gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, ökonomischen und internationalen Rahmenbedingungen, in denen eine Verfassung gilt, allein keine allzu starken Einflüsse auf die Verfassungsänderungspolitik zu unterstellen. Hier wiederholt sich der bereits in der theoretischen Diskussion der Erklärungsansätze für Verfassungsänderungen vorgebrachte Hinweis auf die Bedeutung weiterer Variablen.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
77
Unitarismus bzw. Föderalismus Die Einordnung der Staaten als föderal (nach Campagnolo o.J.) basiert auf relativ hohen Entscheidungsbefugnissen der Gebietseinheiten, impliziert jedoch nicht unbedingt gleichwertige Mitspracherechte auf nationaler Ebene. Dies ist für Spanien relevant, das als föderal bewertet wurde (Tab. A 6). Im Gegensatz zur Hypothese zeigt sich, dass in den 30 unitarischen Staaten die Verfassungen vergleichsweise seltener geändert wurden als in den acht Föderalstaaten. Letztere modifizierten ihre Verfassungen zwischen 1993 und 2002 durchschnittlich 9,5mal, unitarische Länder hingegen nur 5mal. Gerade bei ersteren ist aber angesichts der relativ geringen Fallzahl eine hohe Standardabweichung von 8,9 bei der Interpretation zu berücksichtigen: Es gab föderale Staaten ohne Verfassungsänderungen (USA, Spanien) und mit 21 Modifikationen, was einer klaren Tendenz widerspricht. In Bezug auf unitarische Staaten ist die Standardabweichung deutlich niedriger (4,9). Hinsichtlich der kumulierten Änderungsreichweite liegt der Durchschnitt der föderalen Staaten mit 10,5 nahezu doppelt so hoch wie derjenige der unitarischen Staaten, bei allerdings wiederum hohen Standardabweichungen (9,9 bzw. 5,3).
Dominanz einer Partei Die Dominanz einer Partei wurde festgestellt, wenn eine Partei in einer Wahlperiode im Parlament bzw. der unteren Kammer mindestens 50 Prozent der Mandate innehatte88 (Tab. A 6). Der Mittelwert von 0,3, bezogen auf das gesamte Sample, zeigt an, dass dies durchschnittlich in deutlich weniger als der Hälfte aller Wahlperioden der Fall war. Im Gegensatz zur Hypothese besteht ein signifikanter inverser linearer Zusammenhang: Je häufiger absolute Mehrheiten vorhanden waren, desto niedriger lag tendenziell die Änderungshäufigkeit (r = -0,4) und desto geringer war die kumulierte Änderungsreichweite (r = -0,5). Demokratien, in denen in allen Wahlperioden eine absolute Mehrheit vorlag, wiesen im Durchschnitt sechs Modifikationen (2,3; N = 6) weniger auf als Länder, in denen nie eine absolute Mehrheit vorlag (8; N = 19). Allerdings erklären diese statistischen Zusammenhänge immer nur einen relativ kleinen Teil der Varianz.
Politische Fragmentierung Die politische Fragmentierung ist ein genaueres Maß für die Kräfteverteilung im Parlament/Unterhaus als die Unterteilung in eine vorliegende oder nicht vorliegende absolute Mehrheit. Sie wurde nach Laakso/Taagepera (1979) mit der durchschnittlichen effective number of parties89 gemessen, gewichtet nach der Dauer der jeweiligen Mandatszeit, und 88
89
In solchen Fällen wurde der Wert 1 zugewiesen, ansonsten 0. Teilt man die Summe der Werte durch die Anzahl der Wahlperioden, so gibt dieses Maß den Anteil der Wahlperioden mit einer dominierenden Partei im Untersuchungszeitraum an. Ein Wert von 1 würde bedeuten: Während des gesamten Untersuchungszeitraums gab es eine (aber nicht immer unbedingt dieselbe) dominierende Partei. Ein Wert von 0 für ein Land würde bedeuten, dass es im Untersuchungszeitraum nie eine Partei gab, die über die absolute Mehrheit verfügte. Der Vorteil des Konzepts liegt darin, dass es das Kräfteverhältnis der Parteien untereinander mit erfasst. N = 1/ si2, wobei si der Anteil der Parlamentssitze einer i-ten Partei ist. Die tatsächliche und die effektive An-
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
lag bei durchschnittlich 3,8 (Tab. A 6). Die durchschnittliche effective number of parties korreliert nicht besonders stark, aber dennoch signifikant positiv mit der Änderungshäufigkeit (r = 0,3) sowie mit der kumulierten Reformreichweite (r = 0,4). Das heißt im Gegensatz zur formulierten Hypothese: Je mehr Parteien im Durchschnitt vertreten waren, desto größer war tendenziell die Anzahl der verabschiedeten Verfassungsänderungen und desto größer war die kumulierte Änderungsreichweite. Möglicherweise ist dies damit zu begründen, dass mit zunehmender Gruppengröße auch der Machtanteil des einzelnen Akteurs sinkt und damit die Möglichkeit, dass einer einseitig gegen andere durchsetzt (Lane/Mæland 2000: 42 ff.). Dies würde die allgemeine Konsensbereitschaft steigern.90
Wahlsystem Die Wahlsysteme wurden als Mehrheits-, Proporz- und Mischwahlsysteme erfasst (nach IDEA o.J.; Tab. A 6). In den neun Demokratien mit Mehrheitswahlsystem fanden durchschnittlich 4,1 Verfassungsänderungen statt, in den 25 Staaten mit Verhältniswahl 6,6 und in den vier Ländern mit Mischvarianten durchschnittlich 5,8 Änderungen. Die Majorzländer (mit der geringsten Standardabweichung von 3,7) weichen also deutlicher vom Gesamtmittelwert (5,9 Verfassungsänderungen) ab. Ähnliches gilt hinsichtlich der kumulierten Änderungsreichweite: Hier steht ein Mittelwert von 4,6 für die Majorzstaaten einem Wert von 7,7 der Verhältniswahldemokratien gegenüber. Mischwahlsysteme zeigten eine durchschnittliche kumulierte Änderungsreichweite von 7,3. Der Gesamtmittelwert aller Demokratien beträgt 6,8. Die Zahlen deuten an, dass in Staaten mit Verhältniswahl tendenziell mehr Verfassungsänderungen stattfinden als in Staaten mit Mehrheitswahl. Dieser Unterschied ist aber vorsichtig zu interpretieren, da die Fallzahl der Länder mit Mehrheitswahl wesentlich niedriger liegt und damit trotz der geringeren Streuung der Werte die Gefahr einer verzerrten Aussage größer ist.
Sozioökonomischer Entwicklungsstand Der sozioökonomische Entwicklungsstand wurde über den systemisch angelegten HumanDevelopment-Index gemessen, der über reine Wirtschaftsdaten im Sinne des Bruttoinlandsprodukts hinausgeht. Methodologisch bereinigte, also vergleichbare Zeitreihendaten lieferten die Vereinten Nationen allerdings nur für 1990, 1995 und 2000 (Human Development Report 2002). Aus ihnen lässt sich ein gewichteter Durchschnitt berechnen (Tab. A 6). Dieser gewichtete Durchschnitt der HDI-Werte korrelierte in den 38 untersuchten Staaten insgesamt positiv mit der Anzahl der jeweiligen Verfassungsänderungen und deren kumulierter Reichweite (je r = 0,3). Im Gegensatz zur Hypothese sinkt die Zahl der Verfassungsänderungen in einem Staat also nicht mit einem höheren sozioökonomischen Entwicklungs-
90
zahl der Parteien stimmen überein, wenn sämtliche Parteien den gleichen Stimmenanteil aufweisen. Je unausgewogener die Stimmenanteile, desto niedriger ist die effektive gegenüber der tatsächlichen Parteienzahl. Ähnlich kann eine Nebenbeobachtung interpretiert werden: Mit der effektiven Anzahl der Parlamentsparteien steigt die Regelungsdichte (r = 0,4). Möglicherweise bedurfte in Demokratien mit mehr politischen Akteuren die Einigung auf eine Verfassung der Berücksichtigung ausgefeilterer Regelungen als in anderen Staaten, ohne dass sich dadurch – wie oben gezeigt – die nachfolgenden Eingriffe in das Dokument signifikant erhöhen müssen.
79
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
stand, sondern sie steigt, doch ist der Zusammenhang erkennbar schwach. Gegen einen kausalen Zusammenhang spricht zudem, dass die HDI-Werte gerade der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten sehr nah beieinander liegen, während die Verfassungsänderungswerte dort stark streuen. Bei einem alternativen Test, ob ein Anstieg der HDI-Werte im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Häufigkeit konstitutioneller Änderungen gedämpft hat, zeigt sich kein statistischer Zusammenhang. Dies könnte zwar die eingangs erwähnte Annahme stützen, dass Verfassungsänderungspolitik tendenziell weniger politischen Konjunkturentscheidungen und affektgeladenem Aktionismus unterliegt, doch gerade angesichts des ersten Befundes ist eher zu vermuten, dass die Häufigkeit und die Reichweite von Verfassungsänderungen sich nicht mit der „Makro-Variable“ sozioökonomischer Entwicklungsstand erklären lassen.
Gesellschaftliche Homogenität Ähnlich fällt der Test zum Einfluss der gesellschaftlichen Homogenität auf die Verfassungsänderungen aus. Von den voll etablierten Demokratien sind nach Lijphart (1999: 56) 18 als nichtpluralistisch, zehn Staaten als pluralistisch sowie weitere zehn als semipluralistisch einzustufen (Tab. A 6). Die kumulierte Änderungsreichweite lag in den gesellschaftlich homogenen Ländern bei durchschnittlich 5,4, in den semipluralistischen bei 7,5 und in den pluralistischen Staaten bei 8,7. Dass die letzten beiden Mittelwerte eine höhere Standardabweichung (von jeweils 8) aufweisen, relativiert den geringen Anstieg mit dem Heterogenitätsgrad. Die Mittelwertunterschiede sind nicht signifikant. Staaten mit homogener oder heterogener Gesellschaft zeigen insgesamt kein distinktes verfassungspolitisches Muster, wenn man es an der Anzahl der konstitutionellen Änderungen und ihrer Reichweite misst. Westminstertradition Für die Untersuchung kann die unabhängige Variable in die simplen Kategorien Westminsterstaaten und andere Staaten klassifiziert werden (Tab. A 6). Tabelle 12: Verfassungsänderungen in Staaten mit und ohne Westminstertradition, 1993-2002 Fallzahl
Staaten mit Westminstertradition Staaten ohne Westminstertradition
Mittelwert der Verfassungsänderungen
Standardabweichung
Minimalwert
Maximalwert
8
6,1
7,1
0
13
30
6,6
4,9
0
23
Zwar weisen die traditionellen Westminster-Staaten etwas weniger Verfassungsänderungen auf, doch ist der Unterschied kaum nennenswert, insbesondere in Anbetracht dessen, dass Großbritannien aufgrund seiner nicht quantifizierbaren, aber mehrfach im Untersuchungszeitraum beobachtbaren Verfassungsänderungen (Kaiser 2002: 143) nicht berücksichtigt wurde. Wäre dies der Fall, dann läge der Mittelwert der Verfassungsänderungen auch hier
80
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
höher. Die Annahme, dass Westminsterdemokratien generell seltener ihre konstitutionellen Grundfesten ändern, lässt sich also empirisch nicht bestätigen. Resümiert man die Befunde bis hierher, dann hielten die meisten der theoretisch abgeleiteten Hypothesen den empirischen Tests nicht stand oder ließen sich zumindest nicht eindeutig bestätigen (Tab. 13). Der Einfluss konkreter institutioneller Rahmenbedingungen einer Entscheidung – in diesem Falle Regelungsdichte, Referenden und Änderungsrigidität – wird in der wissenschaftlichen Literatur offenbar überschätzt. Gesellschaftliche Homogenität und ein höherer sozioökonomischer Entwicklungsstand scheinen die konstitutionelle Stabilität ebenfalls nicht zu beeinflussen, misst man sie anhand der Verfassungsänderungsrate und für alle Demokratien. Allenfalls sind sie allgemeine Rahmenbedingungen der Verfassungsänderungspolitik, die deren Themen beeinflussen, oder sie erklären einzelne Fälle. Auf die grundsätzliche Häufigkeit von Modifikationen in etablierten Demokratien wirken sich hingegen andere Variablen entscheidender aus. Tabelle 13: Im All-Demokratien-Vergleich nicht oder uneindeutig bestätigte Hypothesen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Je höher die konstitutionelle Rigidität, desto seltener sind Verfassungsänderungen. Bedürfen Verfassungsänderungen eines Referendums, so finden sie seltener statt. Je umfänglicher die Verfassung, desto häufiger finden Verfassungsänderungen statt. Je älter eine Verfassung, desto größer die Änderungshäufigkeit. Unitarische Staaten ändern die Verfassung häufiger als föderale Staaten. Wenn eine politische Partei im Parlament (bzw. Unterhaus) dominiert, finden häufiger Verfassungsänderungen statt als ohne eine dominante Partei. Je fragmentierter die Sitzverteilung im Parlament (bzw. Unterhaus), desto geringer die Anzahl der Verfassungsänderungen. Je höher der sozioökonomische Entwicklungsstand, desto seltener sind Verfassungsänderungen. Gesellschaftlich homogene Staaten weisen weniger Verfassungsänderungen auf als heterogene Staaten. In Staaten mit der Westminster-Verfassungstradition werden weniger Verfassungsänderungen vorgenommen als in anderen Demokratien.
Doch auch die Nicht-Bestätigung von Hypothesen im All-Demokratien-Vergleich ist für die Weiterentwicklung der Verfassungstheorie von hohem Nutzen, indem sie zeigt, welche konventionellen – theoretisch, ceteris paribus oder hinsichtlich einzelner Beispiele überzeugenden – Annahmen über Wirkungszusammenhänge in ihrer empirischen Prognosefähigkeit infrage gestellt werden müssen, und indem sie Hinweise auf kontraintuitive Zusammenhänge geben kann. So ist es offenbar nicht immer sinnvoll, jene konkreten Regularien zum Ausgangspunkt der Analyse bzw. deren Fallauswahl zu nehmen, die die entscheidungsspezifische Stellung der Akteure zueinander und die zu überwindenen Entscheidungsbarrieren festlegen. Was auf den ersten Blick enttäuschend scheinen mag, kann also gleichzeitig analytische Fehlschlüsse korrigieren und den Raum für neue Interpretationen der Wirklichkeit öffnen. Hierbei weisen die zentralen statistischen Befunde der Hypothesentests selbst den Weg (Tab. 14). Das interessanteste und für die nachfolgende Untersuchung inspirierendste an diesen Befunden ist nicht, dass es beispielsweise in föderalen Staaten oder in Parlamenten ohne dominante Partei mehr konkurrierende Interessen gibt, die den Wunsch nach institutionellen Veränderungen begünstigen, sondern dass unter diesen Bedingungen die dafür notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten überhaupt und häufiger zustande kommen. Alle explorativen Auswertungen deuteten darauf hin, dass Heterogenität von Akteuren bzw. Interessen, zusätzliche Barrieren oder Verhandlungsebenen nicht per se die Änderungsfreudigkeit und die kumulierte inhaltliche Reichweite von Verfassungsmodifikationen senken.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
81
Tabelle 14: Empirische Befunde zum möglichen Einfluss von Institutionen und Kontext Variable Unitarismus/ Föderalismus Dominanzstruktur im Parlament
Rigidität
Alter
Statistischer Zusammenhang Unitarische Staaten ändern ihre Verfassung seltener als föderale Staaten und weisen eine geringere kumulierte Änderungsreichweite auf. Das Vorhandensein einer dominanten Partei mit mindestens 50 Prozent der Mandate im Parlament bzw. im Unterhaus senkt die Änderungshäufigkeit. Umgekehrt gilt: Je größer die durchschnittliche Anzahl der effective number of parties im Parlament bzw. im Unterhaus, desto mehr wurde in die Verfassung eingegriffen. Je höher die Rigidität, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Verfassung überhaupt nicht geändert wird. Tendenziell sinken zwar mit steigender Änderungshürde auch die Anzahl der Verfassungsänderungen und deren kumulierte Reichweite, doch scheinen für deren Erklärung andere Faktoren wesentlicher zu sein. Sowohl an sehr alten als auch an sehr jungen Verfassungen wurden im Gegensatz zu den anderen nur wenige Änderungen vorgenommen.
Tatsächlich lässt sich bei den ersten beiden Befunden, die aus Tests verworfener Hypothesen stammen, ein kausaler Zusammenhang plausibilisieren: Föderalismus und eine größere Fragmentierung der politischen Akteure (aber nicht der Gesellschaft) fördern zwar die Konfliktwahrscheinlichkeit und erhöhen die Entscheidungskosten, gleichzeitig aber kann sich kein Akteur einseitig durchsetzen. Vor die Wahl gestellt, mit anderen zu kooperieren oder sich gegen die Interessen der anderen durchzusetzen, wählen Akteure möglicherweise die kooperative Variante gemeinsam beschlossener Verfassungsänderungen, wenn sie darin die Chance sehen, von den veränderten Spielregeln selbst zu profitieren (was bei Konsens- oder Kompromissvarianten vermutlich der Falls ist) und/oder wenn sie aufgrund des geringen Risikos einer echten Exklusion aus dem politischen Prozess nicht befürchten, bei der Nutzung dieser Chancen durch andere benachteiligt zu werden. Dass die Befunde sich sinnvoll theoretisch begründen lassen, ermöglicht es, sie vorläufig zu akzeptieren und die entsprechenden Variablen in multivariaten Untersuchungen zu berücksichtigen. Das folgende lineare Regressionsmodell, das wegen der relativ kleinen Fallzahl und der Heteroskedastizität der abhängigen Variablen mit robusten Standardfehlern gerechnet wurde, erwies sich als besonders gut in der Vorhersage. Aufgeführt sind die Regressionsergebnisse für die Zeitspanne 1993 bis 2002 (Tab. 15). Die Ergebnisse der Regressionsanalyse müssen als das betrachtet werden, was sie sind: Befunde einer theoretisch inspirierten, aber explorativen Voruntersuchung zum Einfluss von Institutionen und Kontext auf Verfassungsänderungen in nur 38 quantifizierbaren Fällen für einen Zeitraum von nur zehn Jahren, wobei mit der Heteroskedastizität eine Grundannahme der linearen Regression verletzt ist. Differenziertere Aussagen zu statistischen Zusammenhängen bedürfen Tests mit komplexeren Verfahren, mehr Variablen und längeren Zeiträumen, denn es ist nicht auszuschließen, dass einige Variablen in spezifischen Kombinationen doch Erklärungskraft besitzen oder dass alternative Verfahren zu anderen Ergebnissen führen (Ragin 2000: 82 ff.). Gleichwohl gilt für jede Forschung, dass nicht alles auf einmal erklärt werden muss und dass Aufwand und Ergebnis in einem vertretbaren Verhältnis stehen müssen. Für den hier verfolgten Zweck einer begründeten Fallauswahl scheint die genutzte Methodik ausreichend, zumal ihre Aussagen deutlich und Regressionen generell robust gegenüber Voraussetzungsverletzungen sind.
82
2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Tabelle 15: Einfluss institutioneller und Kontextvariablen auf die Häufigkeit und kumulierte Reichweite von Verfassungsänderungen, 1993-2002
Alter Alter² Konstitutionelle Rigidität Unitarismus (Ref.: Föderalismus)
Anzahl der Verfassungsänderungen 0,11 (1,99) -0,000 (1,47) -2,72 (2,88) -8,44
Kumulierte Änderungsreichweite (Index) 0,11 (1,70) -0,000 (1,31) -2,69 (2,79) -9,14
(3,78) -11,82
(3,49) -13,92
(3,58) 8,64
(3,60) 9,56
Absolute Mehrheit (Index von 0-1) Interaktion: Unitarismus*Absolute Mehrheit
(2,39) 11,29 (4,49) Fälle 38 R² 0,57 Lineares Regressionsmodell; unstandardisierte Koeffizienten; robuste t-Werte in Klammern Konstante
(2,23) 13,25 (4,43) 38 0,57
Die stärksten Zusammenhänge lassen sich in einer zweidimensionalen Matrix abbilden: Die Dominanz bzw. Nichtdominanz einer Partei im Parlament (bzw. der unteren Kammer) sowie der unitarische bzw. föderale Charakter des durch die Verfassung konstitutierten politischen Systems könnten einflussreich für die Einigung von Akteuren auf Verfassungsänderungen anstelle impliziten Wandels sein; ihre Ausprägung soll daher bei den zu wählenden Untersuchungsfällen variieren. Die Verteilung der 39 Demokratien zeigt Abb. A 1 im Anhang. In der unten stehenden Abb. 12 ist jeweils der Mittelwert der expliziten Verfassungsänderungen im Zeitraum 1993 bis 2002 angegeben, der anzeigt, wie oft sich Akteure darauf einigten, die höhere Hürde für solche Entscheidungen zu überwinden. Abbildung 12: Potenziell wichtige Rahmenbedingungen für Verfassungsänderungen Vetopunkt-Vertikaldimension
VetopunktHorizontaldimension
unitarisch
föderal
keine dominante Partei im Parlament*
mittel – häufige Einigung auf Verfassungsänderungen (6,1; N = 22)
sehr häufige Einigung auf Verfassungsänderungen (15,4; N = 5)
dominante Partei im Parlament*
seltene Einigung auf Verfassungsänderungen (2,1**; N = 8)
keine – seltene Einigung auf Verfassungsänderungen (2,3***; N = 3)
* bzw. Unterhaus in jeweils mindestens der Hälfte des Zeitraum ** wären die Verfassungsänderungen in Großbritannien quantifizierbar, ergäbe sich ein höherer Wert *** ohne Kanada: 0 Mittelwert der Verfassungsänderungen 1993-2002 in Klammern Eigene Berechnungen und Darstellung.
2.3 Institutionen und Kontext als Handlungsrahmen
83
In den Quadranten fanden Verfassungsänderungen unterschiedlich häufig statt. In föderalen Staaten scheint das Vorhandensein einer dominanten Kraft in der unteren Kammer des nationalen Parlaments Verfassungsänderungen zu hemmen.91 In unitarischen Staaten dämpfen absolute Mehrheiten die Neigung zu Verfassungsänderungen weniger, der Zusammenhang ist hier schwächer. Im Ergebnis fanden in den unitarischen Staaten mit dominanter Partei im Parlament bzw. in der unteren Kammer einige Verfassungsänderungen statt. Häufiger sind sie jedoch, wenn keine Kraft im Parlament bzw. Unterhaus dominiert.92 Insgesamt beeinflussen die (dichotom erfassten) Mehrheitsverhältnisse die Verfassungsänderungspolitik in föderalen Demokratien stärker als in unitarischen. Die mit Abstand meisten Verfassungsänderungen und die größte kumulierte Änderungsreichweite lassen sich in föderalen Systemen mit vielen Vetopunkten beobachten, in denen keine Partei im Parlament dominiert. Dass neben der reinen Häufigkeit konstitutioneller Modifikationen auch ihre inhaltliche Reichweite gemessen wurde, macht es möglich zu prüfen, ob der häufig vorgebrachte Einwand gilt, dass politische Entscheidungen in Verhandlungssystemen wie denen des Quadranten föderal/nicht-dominant immer nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Kompromisspartner erfolge, während in anderen Staaten größere Reformen leichter machbar seien. Tatsächlich liegt der Anteil der signifikanten Verfassungsänderungen und neuen Verfassungen an allen Verfassungsänderungen im Zeitraum dort niedriger (4,3) als im Quadranten unitarisch/nicht-dominant (6,7) und im Quadranten unitarisch/dominant (5,9). Doch sind weiter reichende Verfassungsänderungen offensichtlich auch hier grundsätzlich möglich (Tab. A 4). Zudem ist zu berücksichtigen, dass derart häufige Verfassungsänderungen wie in diesem Matrixfeld selbst bei jeweils kleinen Modifikationen das Wandlungspotenzial auf lange Sicht steigern, so dass große Reformen möglicherweise weniger notwendig sind bzw. kumulativ erfolgen können. Die Vier-Felder-Matrix ähnelt der von Arend Lijphart (1999) entwickelten Typologie von Demokratien gemäß der Konsens-Mehrheits-Dimension sowie dem Zentralisierungsgrad. Sie gewährleistet dadurch unbeabsichtigt eine Anschlussfähigkeit der Untersuchungsergebnisse an eine gängige Systematik der vergleichenden Politikwissenschaft bzw. bestätigt deren heuristischen Wert. Lijphart, der seine Typologie mit anderer Fragestellung erstellte, konzedierte die größte Differenz zwischen den zentralistischen Mehrheitsdemokratien sowie den föderalistischen Konsensdemokratien, die sich hinsichtlich der Verfassungspolitik nicht für alle Demokratien bestätigen lässt. Ungeachtet dieses Unterschieds deuten die Befunde darauf hin, dass das verfassungspolitische Handeln von Akteuren stärker von denselben allgemeinen Dimensionen politischer Systeme (föderal/unitarisch, Mehrheit/Konsens) vorstrukturiert sein könnte als von den konkreten Vorgaben für Verfassungsänderungen. 91
92
Der Unterschied zum Quadranten unitarisch/dominant wird durch Kanada bei nur drei Fällen stark abgemildert. Alle dortigen Modifikationen im Untersuchungszeitraum erfolgten jedoch gemäß einem Verfahren, das das ansonsten typische verfassungspolitische Problem der Regierungspartei auf Bundesebene, die Zustimmung aller Provinzen, v.a. Quebecs, zu mobilisieren, umging. Zu beachten ist, dass in diesem Quadranten nur Fälle sind (USA, Kanada, Australien), für deren Verfassungen gleichzeitig sehr hohe Änderungshürden gelten. Obwohl die Rigidität die Änderungshäufigkeit im All-Demokratien-Vergleich nicht sehr gut erklärt, könnte es möglich sein, dass sie gerade in dieser Kombination änderungshemmend wirkt. Übergroße Mehrheiten sind besonders in Westminsterdemokratien ausgeprägt. Die Westminster-Variable ist aber keineswegs der eigentliche Prädiktor „hinter dem Prädiktor“: Sie steht allein, wie oben beschrieben, in keiner Beziehung zur Häufigkeit von Verfassungsänderungen, und ihre größere Prognosefähigkeit in Kombination mit den anderen Variablen ist ein statistischer Artefakt.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Möglicherweise orientiert sich das rationale Handeln der Akteure weniger an den Eigenschaften und direkten Kosten-Nutzen-Strukturen der Verfassung selbst (Rigidität, Regelungsdichte u.ä.), sondern an jenen des politischen Systems insgesamt. Die Befunde stellen also nicht infrage, dass Institutionen eine Wirkung auf die Akteure entfalten können, sondern verweisen auf die Notwendigkeit, intensiver zu prüfen, was oder welche Institutionen denn tatsächlich die Entscheidungen prägen. Die folgende Analyse der Verfassungsänderungspolitik muss entsprechend berücksichtigen, dass auf das politische System insgesamt abstellende Kosten-Nutzen-Erwägungen oder geübtes Verhalten in der Überwindung von Entscheidungshürden prägend für die Aushandlung und Verabschiedung verfassungspolitischer Entscheidungen sein können.
2.4 Auswahl der zu untersuchenden Fälle Für die Tiefenanalyse der Aushandlungsprozesse werden nun auf Basis der entwickelten Vierfeldermatrix vier Fälle ausgewählt. Diese Verfassungsänderungen sollen hinsichtlich Thema und inhaltlicher Reichweite variieren und gleichzeitig für ihre Staaten (und diese für die Quadranten) als einigermaßen repräsentativ gelten können. Es muss also zunächst aus allen Staaten, die den Feldern bzw. Quadranten der oben erarbeiteten Typologie zuzuordnen sind (Abb. A 1), jeweils einer bestimmt, dann die Entwicklung der Themen und Häufigkeit der dortigen Verfassungsänderungen beobachtet und anschließend ein Beispiel aus dem Untersuchungszeitraum 1993 bis 2002 benannt werden, das nicht zu fern von den jeweiligen Entwicklungslinien liegt. Wichtigstes Selektionskriterium für den ersten Schritt, die Auswahl bestimmter Staaten, ist deren Nähe zum Mittelwert der Verfassungsänderungen des jeweiligen Quadranten; bei mehreren infrage kommenden Ländern sollte außerdem eine möglichst große Varianz bei Variablen gesichert sein, die als potenziell einflussreich für die Verfassungsänderungspolitik infrage kommen. Dadurch können eventuelle Verzerrungseffekte vermieden werden. Im Quadranten der äußerst seltenen Verfassungsänderungen (föderal/dominant) ist Kanada trotz seiner Abweichung vom Mittelwert (2,3) mit sieben Verfassungsänderungen der einzige Staat, der für die Analyse infrage kommt, da nur dort im Untersuchungszeitraum die Verfassung geändert wurde. Die Modifikationen betrafen aber nach offizieller Lesart jeweils nur einzelne Provinzen93 und sind daher mit dem Entwicklungstrend des Quadranten vereinbar, selten die Verfassung auf gesamtnationaler Ebene zu ändern.94 Von den Staaten des Quadranten unitarisch/dominant bietet sich Griechenland für die nähere Untersuchung an. Ebenso wie in Kanada verfügte dort zwischen 1993 und 2002 ständig eine Partei über mindestens 50 Prozent der Parlamentsmandate; das politische System enthält einige mehrheitsdemokratische Elemente. Im Untersuchungszeitraum wurde nur eine Verfassungsänderung verabschiedet, die allerdings 78 Artikel betraf und als signifikant einzustufen ist. Im Gegensatz zu Botsuana, Namibia, Jamaika, die im selben Matrix93 94
Zumindest die Verfassungsänderung zu Nunavut (1999) änderte aber auch – wenngleich nicht signifikant – die Repräsentation auf Bundesebene und damit das föderale Kräfteverhältnis. Die kanadische Verfassung umfasst mehrere Dokumente. Berücksichtigt wurden die Britisch-NordamerikaAkte von 1867, 1871, 1886, 1907, 1915, das Westminster-Statut von 1931 und das Verfassungsgesetz von 1982. Nicht berücksichtigt wurden „quasi-konstitutionelle Akte“, die im Falle von Abweichungen prinzipiell rechtlich bindender sind als andere Gesetze, sofern letztere die Abweichungen nicht explizit gemacht haben. Dazu zählen die Canadian Bill of Rights, der Canadian Human Rights Act und der Official Language Act.
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2.4 Auswahl der zu untersuchenden Fälle
feld liegen, ist Griechenland ein hinreichend großes und damit komplexes politisches System, um bei der Suche nach generalisierbaren Aussagen zur Verfassungspolitik berücksichtigt zu werden. Großbritannien besitzt keine geschriebene Verfassung, was die Übertragbarkeit von Erkenntnissen infrage stellen würde. Ähnliches gilt für Bulgarien, Litauen, Mauritius sowie die Mongolei, die jeweils stärker von den Zuordnungskriterien dieser Ländergruppe abweichen. In der dritten Fallgruppe unitarisch/nicht-dominant ist Irland für die Untersuchung besonders geeignet, da es mit seinen neun Verfassungsänderungen unweit des Mittelwerts (7,1) liegt. Von den ebenfalls in der Nähe gelegenen Staaten Polen (8), Portugal (6), Niederlande (6) und Frankreich (9) unterscheidet sich Irland durch seine Insellage und seine eher gedämpfte politisch-institutionelle Adaptionsneigung.95 Dies mindert das Risiko verzerrter Vergleichsbefunde aufgrund ähnlicher institutioneller Rahmenbedingungen (EUIntegration) wie im bereits ausgewählten Griechenland.96 Historisch durch die Zugehörigkeit zu Großbritannien geprägt, enthält das politische System Irlands heute sowohl mehrheits- als auch verhandlungsdemokratische Elemente. Neben diesem Umstand sorgt auch die Notwendigkeit eines Referendums für Verfassungsänderungen für Varianz in den institutionellen Rahmenbedingungen der Verfassungspolitik. Alle anderen Staaten sind wiederum deutlich weiter vom Mittelwert gelegen. Die Auswahl Deutschlands aus den Staaten des vierten Quadranten föderal/nicht dominant fällt wieder leicht, denn die Bundesrepublik liegt mit 15 Grundgesetzänderungen dem Mittelwert der Ländergruppe von 15,4 klar am nächsten (vgl. auch Abb. A 1). Abbildung 13: Ausgewählte Staaten mit kumulierter Reichweite ihrer Verfassungsänderungen, 1993-2002
keine dominante Partei im Parlament
dominante Partei im Parlament
unitarisch
föderal
Irland (9)
Deutschland (15)
Griechenland (3)
Kanada (1+6*)
* Diese (nach offizieller Lesart alle) Verfassungsänderungen betreffen jeweils nur einzelne Provinzen.
Diese Länderauswahl sorgt im Nebeneffekt auch für Varianz hinsichtlich des Alters der Verfassungen und der Auflagen für Verfassungsänderungen, also derjenigen Variablen, bei denen ebenfalls ein gewisser statistischer Zusammenhang mit den Änderungsaktivitäten festgestellt wurde.97 Damit sind sehr gute Voraussetzungen für einen most-different-cases-
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96
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Beispielsweise unterzeichnete der EU-Staat wie Großbritannien nicht das Schengen-Abkommen sowie die nachfolgenden Vereinbarungen zu Immigration, Visa, Asyl, Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung, die mit dem Amsterdamer Vertrag eigentlich in den Besitzstand der Europäischen Union überführt worden sind (Glaeßner/Lorenz 2005: 22). Gegen die Auswahl Polens spricht das zudem Risiko eines Sondereinflusses der Transformationsproblematik, gegen Portugal die mögliche Verzerrung aufgrund der großen regionalen Nähe zu Griechenland und ein ähnliches Verfassungsalter. Von den vier Staaten besitzt Kanada die älteste Verfassung, deren Herzstück 1867 in Kraft trat, Irland die zweitälteste aus dem Jahre 1937. Das deutsche Grundgesetz trat 1949 in Kraft, die griechische Verfassung nach dem Ende der Diktatur 1975. Gemäß meinem Index sowie dem Durchschnitt der standardisierten Indizes von Lutz, Lijpart, Anckar/Karvonen und Lorenz ist von den vier Verfassungen die irische am leichtesten
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Vergleich bei geringer Fallzahl gegeben. Dass in allen vier Staaten die Häufigkeit von Verfassungsänderungen bei unterschiedlichen Ausgangsniveaus und –bedingungen in den vergangenen Jahrzehnten zu bzw. wieder zunahm, entspricht darüber hinaus dem in Kapitel 1.2 beobachteten Gesamtbild etablierter Demokratien. Das Risiko, unbemerkt nur statistische „Ausreißer“ zu untersuchen, ist demnach auch in diesem Punkt gebannt. Tab. 16 gibt die Änderungsraten für vier Zehn-Jahres-Abschnitte vor dem Untersuchungszeitraum 1993 bis 2002 wieder. Tabelle 16: Verfassungsänderungen in ausgewählten Staaten im historischen Vergleich Verfassung (in Kraft seit) 1953-1962 1963-1972 1973-1982 Kanada (1867) 1 2 2 Griechenland (1975) 0 Irland (1937) 0 1 4 Deutschland (1949) 10 19 3 Quellen: Maton 2004; GrVerf o.J.; Constitution of Ireland o.J.: 1-4; Prüfert o.J.
1983-1992
1993-2002 3 1 6 4
7 1 9 13
Im nächsten Schritt werden nun je ein kanadisches, griechisches, irisches und deutsches Fallbeispiel ausgewählt, die zum einen je mindestens einen der drei gesamtsystemisch relevanten verfassungsrechtlichen Regelungsbereiche Regierungssystem, Verhältnis nationale Ebene – territoriale Einheiten und Repräsentation berühren, um eine gewisse politische Relevanz abzusichern, und die zum anderen die grundlegenden Charakteristika der jeweiligen nationalen Verfassungsänderungspolitik möglichst gut repräsentieren. Erkennbar gab es in jedem der vier Staaten bestimmte Problematiken, die immer wieder Gegenstände von Verfassungsänderungen wurden. Die Entstehung nationaler verfassungspolitischer Themenmuster zu erklären, ist nicht Ziel dieser Untersuchung,98 aber dass es sie in ausgeprägter Weise gibt, sollte sinnvollerweise bei der Fallauswahl berücksichtigt werden, wenn man, wie hier, Verfassungsänderungen in ihrer Breite in Demokratien in ihrer Breite erfassen will. In Kanada nahmen die Verfassungsänderungen im Zeitverlauf deutlich zu. Dabei wurde das traditionelle Thementableau der Autonomie- und Selbstregierungsbestrebungen Quebecs und umfangreicher Institutionenreformen durch neue Themen erweitert, wie Rechte der Ureinwohner, verbesserter Minderheitenschutz oder interregionaler Finanzausgleich (Thunert 1997: 76). Während konstitutionelle Modifikationen lange vornehmlich das Regierungssystem und Repräsentationsfragen berührten, kam seit den 1970er Jahren das Kompetenzverhältnis zwischen nationaler Ebene und den Provinzen hinzu (Tab. A 9). Parallel fanden ausgedehnte Verhandlungsrunden zu Verfassungsreformen und zur verfassungspolitischen Loslösung vom Vereinigten Königreich statt (Weaver 2000: 67). Trotz der Verabschiedung des entsprechenden Verfassungsgesetzes 1982 blieben Streitfragen rund um die gesellschaftliche Diversität bestehen,99 da im Zuge der Debatte immer wieder neue
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zu ändern (4,0 nach Lorenz-Index), es folgen Griechenland (5,0), Deutschland (6,0) sowie Kanada (7,0) (Tab. A1; A3). Sie könnte ganz unterschiedlich erklärt werden, beispielsweise durch das rationale Handeln von Akteuren in jeweils typischen nationalen Machtkonstellationen, durch die Beeinflussung der Wirklichkeitswahrnehmung und des Handelns durch vergangene Ereignisse oder durch die Verankerung bestimmter prioritärer Werte oder Themen in einer Verfassungskultur. Vgl. Kapitel 1.3. Ursache war, dass in Kanada im Gegensatz zu den USA kein Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmächte die Idee einer einheitlichen Nation gefördert hatte. Es entfalteten sich unterschiedliche Sprachen, Kulturen sowie politische und gesellschaftliche Strukturen, zu denen 1763 die vom britischen Kolonialreich eroberte französische Provinz Quebec noch hinzukam. Weder Versuche einer Assimilation noch einer Aner-
2.4 Auswahl der zu untersuchenden Fälle
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Stimmen und Ansprüche laut wurden und sie am Leben hielten (Chambers 2001: 64f.). Mehrere Regierungskonferenzen auf Bundesebene mündeten in umfangreiche Verfassungsänderungspakete, die aber jeweils nicht ratifiziert wurden. Ungeachtet der Nichteinigung auf große Reformen fanden im selben Zeitraum sieben kleinere Verfassungsänderungen statt, die jeweils allein vom Bundesparlament oder mit zusätzlicher parlamentarischer Zustimmung der von ihnen jeweils betroffenen Provinzen bzw. Territorien beschlossen wurden (Thunert 1997; Kanengisser 2005; Russell 2004a). Auch sie berührten nahezu ausschließlich das Kompetenzverhältnis zwischen nationaler Ebene und den territorialen Einheiten im Sinne einer Dezentralisierung bzw. Erweiterung der Provinzverantwortlichkeiten.100 Als Fallbeispiel wird der Constitution Act, 1999 (Nunavut) gewählt, denn er entsprach den verfassungspolitischen Schwerpunkten und betraf gleichzeitig als einzige Verfassungsänderung im Untersuchungszeitraum mit der kodifizierten Repräsentation eines neu geschaffenen Territoriums in den föderalen politischen Vertretungsorganen das kanadische Regierungssystem insgesamt. Das von den Nordwestterritorien abgetrennte Nunavut erhielt durch ihn einen eigenen Senator sowie ein separates Unterhausmandat. Im Verfassungsgesetz von 1867 wurden dafür die Zahl der Senatoren von 104 auf 105 (Art. 21) und die maximale Zahl von 112 auf 113 erhöht (Art. 28) sowie die kanadischen Gebietsbezeichnungen in Art. 51 (2) und die Interpretation des Provinzbegriffs in Art. 23 geändert. Außerdem wurden verschiedene Übergangsregelungen erlassen, so betreffend den Status des amtierenden Senators der Nordwestterritorien nach Inkrafttreten der Abtrennung Nunavuts (Constitution Act, 1999 [Nunavut], Part II). Die griechische Verfassung wurde erst 1975 nach dem Ende der Diktatur verabschiedet. Sie verzeichnete die wenigsten Änderungen, obgleich etliche Regelungen noch auf das vordemokratische Verfassungswerk von 1864 zurückgingen oder aus Verfassungen mit abweichendem Entstehungs- und Wirkungskontext übernommen worden waren (Venizelos 1999: 99; Zervakis 1999: 637 ff.). Bereits seit dem 19. Jahrundert gab es die Tendenz zu wenigen, aber dann jeweils signifikanten und konfliktgetragenen konstitutionellen Änderungen oder zur Installation ganz neuer Verfassungen (Spiliotopoulos 1995; Venizelos 1999: 99 ff.; Zervakis 1999: 637-9; Hellenic Parliament o.J.). Auch die zwei Änderungen der aktuellen Verfassung 1986 und 2001 waren jeweils für das politische Gefüge sehr bedeutungsvoll und textlich umfangreich. 1986 wurde das semipräsidentielle in ein parlamentarisches System umgewandelt; der von nun an dominante Premierminister übernahm vom Präsidenten wichtige Kompetenzen, darunter zur Parlamentsauflösung und Ausschreibung von Neuwahlen. Daneben änderten sich Modalitäten der Personalrekrutierung und Voten. Als griechisches Fallbeispiel kommt nur die Verfassungsänderung vom 16.04.2001 infrage, da sie als einzige im Untersuchungszeitraum lag. Gleichzeitig entspricht sie inhaltlich kennung der Andersartigkeiten über territoriale Neuordnungen konnten die gesellschaftlichen Spannungen beseitigen (Vauteck 2005: 37 ff.; Archer u.a. 1999: 29f., 33). 100 Es wurde die Gleichheit der französischen und englischen Sprachgemeinschaften in New Brunswick verankert, Parlament und Regierung der Provinz wurden verpflichtet, den Status, die Rechte und Privilegien dieser Gemeinschaften zu bewahren und zu fördern. Die Provinz Prince Edward Island wurde befugt, selbständig Mautgebühren für die Nutzung der Konföderationsbrücke zu erheben. Die Regierung von Neufundland erhielt das Recht, die Einrichtung und Unterhaltung von konfessionellen und nichtkonfessionellen Schulen zu kontrollieren. Nach einer weiteren Änderung erlauben die Formulierungen die Einrichtung eines einheitlichen Schulsystems, wobei Religionsunterricht und religiöse Feiertage auf Wunsch der Eltern garantiert sind. Quebec erlangte die Kompetenz, sein Bildungssystem ausschließlich selbst zu bestimmen und konnte die Schulen nun, wie angestrebt, nach sprachlichen Kriterien reorganisieren. 2001 ging schließlich die Region Labrador in den offiziellen Namen der Provinz Neufundland mit ein.
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
der griechischen Verfassungstradition. Die in ihr enthaltenen Neuerungen berührten u.a. das Verfahren von Wahlgesetzänderungen, die Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und Berufstätigkeit, parlamentarische Abläufe, den Status der Verwaltungsbehörden, den Datenschutz, den Wehrersatzdienst aus Gewissensgründen, das Verbot der Todesstrafe in Friedenszeiten, die Unvereinbarkeit der Eigenschaft eines Besitzers, Teilhabers oder Hauptaktionärs eines Medienunternehmens mit der entsprechenden Eigenschaften in einem Unternehmen, das mit Staatsbeschaffungen zu tun hat, sowie das Staatsziel Umweltschutz. Im Vordergrund standen damit Belange des Regierungssystems im engeren Sinne, der Repräsentation sowie Individualrechte. Im Gegensatz zur 1986er Verfassungsreform änderte sich jedoch nicht die prinzipielle Regierungsform. In Irland erfolgte 1959 der erste Versuch, die 1937 verabschiedete Verfassung über ein Referendum zu ändern; wie die beiden nachfolgenden Versuche scheiterte er. Doch seit den 1970er Jahren stieg die Zahl der Verfassungsänderungen per Referendum kontinuierlich an.101 Sie berührten das Regierungssystem, Repräsentationsfragen (Mindestwahlalter, Sitze der Universität im Parlamentssenat) und ethisch-religiöse Themen (Stellung der Katholischen Kirche, Adoption). Seit den 1980er Jahren kamen neuere Themen im Zusammenhang mit europäischen und äußeren Verpflichtungen hinzu.102 Ab 1995 arbeiteten eine Verfassungsprüfgruppe aus Experten sowie parlamentarische All-Parteien-Kommissionen die Verfassung mit dem Ziel durch, ein systematisches Programm formal-technischer und substanzieller Verfassungsänderungen zu erstellen, die die bisherigen Verfassungsänderungen ergänzen sollten. Sie legten detaillierte Bewertungen des Status quo mit Änderungsempfehlungen vor, etwa zu Referenden, Staatsinstitutionen, Grundrechten oder Privateigentum (CRG 1996; All-Party Oireachtas Committee 2005), die allerdings kaum umgesetzt wurden. Als Fallbeispiel der nachfolgenden Untersuchung wird die Sechsundzwanzigste Verfassungsänderung103 von 2002 ausgewählt, denn sie bezog sich mit der Ratifizierung internationaler Vereinbarungen auf ein wiederkehrendes Thema von Verfassungsänderungen und tangierte im Gegensatz zu den anderen modifizierten Materien das Regierungssystem im engeren Sinne. Sie regelte die Ratifizierung des Vertrags von Nizza, dessen Vereinbarungen die nationale Souveränität Irlands unmittelbar berührten. Das deutsche Grundgesetz wurde im Vergleich zu den anderen drei Verfassungen – und entsprechend der oben eingeführten Auswahltypologie – am häufigsten geändert, nämlich außer in der Zeit zwischen 1976 und 1990 sowie zwischen 2002 und 2005 jeweils mehrfach pro Legislaturperiode. Unter der Großen Koalition von 1965 bis 1969 kam es sogar zu zwölf Grundgesetzänderungen. Danach folgten anteilmäßig die zwölfte Legislaturperiode (1990-94) mit sechs sowie die zweite (1953-57), die sechste (1969-72) und die vierzehnte Legislaturperiode (1998-2002) mit jeweils fünf Verfassungsänderungen. Die mit Abstand meisten Neuerungen berührten die Gesetzgebung und das Finanzwesen sowie damit das Kompetenzverhältnis zwischen Bund und Ländern (Lorenz 2007, 2008). Auch im Zeitraum 1993 bis 2003 widmete sich die Verfassungspolitik vorrangig diesen The101 Elvert begründet dies damit, dass sich erst mit den zu dieser Zeit verbesserten einheimischen Ausbildungsbedingungen für Verfassungsrechtler die Auffassung durchgesetzt habe, dass „ein geschriebener Verfassungstext bei Bedarf neuen Verhältnissen anzupassen ist“ (1999: 250). 102 Es erfolgten Modifikationen zum Schutz ungeborenen Lebens, zur Ratifizierung internationaler Vereinbarungen, zur Rolle der regionalen Exekutive und Abhaltung von Lokalwahlen oder zur Freilassung auf Kaution durch Gerichte. Weitere Neuerungen betrafen die Auflösung von Ehen und die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Kinder nichtnationaler Eltern. 103 Im Referendum gescheiterte Vorlagen zählen die Titel der irischen Verfassungsänderungen mit.
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2.4 Auswahl der zu untersuchenden Fälle
men,104 hinzu kamen Änderungen der Individualrechte,105 die Staatsziele Umwelt- und Tierschutz und Neuerungen im Zusammenhang mit Deregulierung.106 Wie bei den anderen drei Staaten zeigte sich also keine deutliche Trendwende der nationalen Verfassungspolitik. Bemerkenswert ist dies, weil der Beitritt der ostdeutschen Länder zur alten Bundesrepublik 1990 das Grundgesetz eher marginal berührte, obwohl gemäß den Vereinbarungen des Einigungsvertrages eine Verfassungskommission eingesetzt worden war (Busch 1999; Glaeßner 2001; Batt 1996). In ihr blieben zahlreiche normativ brisante Fragen, die sich aus dem Zusammengehen zweier ganz unterschiedlicher Gesellschaften mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen an den Staat ergaben, auf der Strecke (Bremers 1997: 21; Heitmann 1993: 12; Kloepfer 1994; Batt 1996).107 Als deutsches Fallbeispiel wird die Grundgesetzänderung vom 20.10.1997 ausgewählt, denn sie betraf mit der Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern (sowie nun Kommunen) einen thematischen „Dauerbrenner“ der deutschen Verfassungspolitik.108 Art. 106 GG, den die Bundesregierung zunächst nur ändern wollte, war vor der Beschlussfassung bereits fünf Mal geändert worden und zählt damit zu den am häufigsten geänderten Verfassungsartikeln. Die Konstitutionalisierung machtsensibler Bereiche schützte offensichtlich nur bedingt vor Eingriffen. Am Ende des Verfahrens änderten Bundestag und Bundesrat auch Art. 28 GG zum wiederholten, nämlich dritten Mal. Daher wird dieser einfachen Verfassungsänderung der Vorzug gegenüber allen anderen im Untersuchungszeitraum gegeben. Tabelle 17: Ausgewählte Fallbeispiele für Verfassungsänderungen in Demokratien Staat
Ausgewählte Verfassungsänderung
Kanada
Constitution Act, 1999 (Nunavut) vom 11.06.1998
Inhalt politische Repräsentation des neuen Territoriums Nunavut auf nationaler Ebene u.a. Parteien-, Wahlfinanzierung, Tätigkeit des Parlaments, Dezentralisierung, Individualrechte
Reichweite
Griechenland
Verfassungsänderung vom 16.04.2001
Irland
Twenty-sixth Amendment of the Constitution Act, 2002 vom 07.11.2002
Erlaubnis an den Staat zur Ratifizierung des Vertrags von Nizza
einfach
Deutschland
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20.10.1997
finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden, Verteilung des Steueraufkommens
einfach
einfach
signifikant
104 Dazu zählten die mehrfache Modifizierung der ausschließlichen und der Rahmengesetzgebung des Bundes, der konkurrierenden Gesetzgebung sowie des Procedere zur Neugliederung der Länder, Änderungen zur Zustimmung des Bundesrates beim Erlass von Rechtsverordnungen, zur Einbringung von Gesetzesvorlagen durch Bundesregierung und Bundesrat, zum Erlass von Rechtsverordnungen durch die Länder oder zur Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern. 105 Ergänzt wurde das Grundgesetz um eine neue Passage zum Asylrecht, um Ausnahmen von der Unverletzlichkeit der Wohnung („Großer Lauschangriff“), die Berechtigung des Bundes zur Sammlung von Unterlagen für den Zweck des Verfassungsschutzes, um die Förderung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern, das Verbot der Verpflichtung von Frauen zum Dienst an der Waffe. 106 Modifiziert wurden die Verwaltung von Post und Telekommunikation, die Umwandlung der Bundespost sowie der Status bestimmter bundesunmittelbarer sozialer Versicherungsträger verfassungsrechtlich modifiziert. 107 Ähnlich wurden von den 1976 vorgelegten umfangreichen Vorschlägen der sechs Jahre tätigen Enquêtekommission Verfassungsreform, die die Grundproblematiken des deutschen Regierungssystems bis heute widerspiegeln, nur sehr wenige umgesetzt (Glaeßner 1999: 191 ff.; DBT 1976). 108 Geändert wurden Art. 28 (2) Satz 3, Art. 106 (3) Satz 1, 106 (6) Sätze 1 bis 3 und 106 (6) Satz 6. In Art. 106 wurde der Absatz 5a eingefügt (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [Artikel 28 und 106]).
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2 Akteure und Interaktionen – Erklärungsansatz und Fallauswahl
Insgesamt weisen die ausgewählten vier Verfassungsänderungen (Tab. 17) eine große thematische Bandbreite auf und belegen damit die Vielfalt moderner Verfassungspolitik, selbst wenn das politische System jeweils etabliert, stabil und seine Legitimation grundsätzlich unumstritten war. Neben der thematischen Vielfalt gewährleisten die vier Fälle eine Varianz der inhaltlichen Reichweite der Änderungen, der prozessualen Vorschriften, der Verfassungsrigidität, der generellen Häufigkeit und der inhaltlichen Ausrichtung von Verfassungsänderungen im politischen System sowie der vertikalen und horizontalen Machtkonstellation auf Systemebene (Tab. 18). Tabelle 18: Basisvariablen der genutzten Konkordanzmethode Fallbeispiel K G I D
variierender Kontext System: Föderalismus/Unitarismus, politische Dominanzstruktur (Vetospieler, Fragmentierung), Häufigkeit, Reichweite von Verfassungsänderungen im Zeitverlauf, Verfassungsalter Fall: Thema, Reichweite der Änderung, Verfassungsrigidität, -änderungsverfahren
vermuteter nicht variierender Kontext
zu erklärendes Phänomen
Motivlagen, Interaktionsverhalten der Akteure
Einigung auf (einzelne) explizite Verfassungsänderung
Betont werden muss, dass die ausgewählten Fälle in Thema und Reichweite jeweils einigermaßen typisch für die Verfassungsänderungen der jeweiligen Staaten sind, nicht aber zwangsläufig für die nationalen verfassungspolitischen Problemlagen. Denn gerade gesellschaftlich und politisch wichtige Themen, die etwa in spezifischen Verfassungsgremien eingehend diskutiert wurden und in explizite Vorschläge mündeten, wurden oft nicht in Form von Verfassungsänderungen umgesetzt. Im Einklang mit dem in Kapitel 1.3 entworfenen Kausalitätstrichter und den Befunden in Kapitel 2.3 liegt dies vermutlich daran, dass die verfassungspolitischen Aktivitäten durch die Makrovariablen Gesellschaft, Geschichte oder Verfassungskultur eben nur vorstrukturiert sind,109 letztlich aber die Motive, Kalküle und Interaktionsmuster von Akteuren erklären, ob und wie systemische „Prädispositionen“ im Verfassungstext abgebildet werden.
2.5 Zwischenbilanz Der in diesem Kapitel vorgestellte akteur- und verhaltenszentrierte Untersuchungsansatz unterscheidet sich von den üblichen interaktionsorientierten policy-Analysen dadurch, dass er nicht nur das Aushandlungsverhalten der Akteure in Abhängigkeit von Gewinnaussicht 109 So führte die ähnlich starke Kollision von Modernisierungstendenzen (auch infolge der europäischen Integration) mit ethisch-religiösen Traditionen in Irland zu verfassungspolitischen Schritten, in Griechenland aber nicht. Eine Selektivität in der Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen ist ebenfalls oft beobachtbar. So gab es in Irland beispielsweise die Änderungen hinsichtlich Abtreibung oder Scheidung, aber die Verfassung enthält bis heute weiter die Norm, die Frau verleihe dem Staat „durch ihr Leben in der häuslichen Gemeinschaft eine Stütze“, weshalb sich dieser „auch bemühe sicherzustellen, dass Mütter nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit gezwungen werden, zum Schaden ihrer häuslichen Pflichten Arbeit aufzunehmen“ (Art. 41.2). Obwohl die Klausel eindeutig nicht mit den aktuellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen übereinstimmt (Gallagher 1999: 93), gab es bislang keine Initiative, sie abzuschaffen.
2.5 Zwischenbilanz
91
und Verhandlungsmacht untersucht, sondern prüft, ob Akteure überhaupt konkrete, gefestigte Präferenzen haben und hinterfragt, was passiert, wenn dies nicht der Fall ist oder sie zwar Präferenzen haben, aber substanziell nicht hoch motiviert sind. Er wird dabei erstens auf die Rückfallposition von Interaktionen rationaler Kollektivakteuren schauen: das Handeln von Delegierten der Kollektivakteure mit unterschiedlichen Interessen und Rollen. Zweitens soll die Konstanz der Präferenzen und die Kosten-Nutzen-Orientierung der Akteure während der gesamten Aushandlungsprozesse beleuchtet werden. Drittens wurde als Kernmerkmal deliberativer Verfassungspolitik ausgemacht, dass Akteure substanzielle Argumente nutzen, auch Einsicht zeigen und im Sinne des Gemeinwohls „aus sich heraus“ aufeinander zugehen. Die Diskussion der theoretischen Unwägbarkeiten führte zu dem Schluss, dass ein teilinduktiver Untersuchungsansatz nötig ist, der wiederum einen Vergleich weniger Fälle sinnvoll macht. Die Analyse wurde so zugeschnitten, dass belegt werden könnte, wenn zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. bei unterschiedlichen Interaktionsorientierungen unterschiedliche Einflussfaktoren relevant dafür sind, ob der Prozess weiterläuft. In den explorativen Voruntersuchungen zur Fallauswahl ergab sich, dass mit der Anzahl politischer Akteure in einem Staat tendenziell die Anzahl der Verfassungsänderungen steigt. Von elf getesteten Variablen erwiesen sich die Föderalismus-Unitarismus-Dimension und die Dominanz-/Nichtdominanz einer Partei im Parlament als potenziell wichtigste, das Aushandlungsverhalten der Akteure vorstrukturierende Einflussgrößen für die Überwindung der Verfassungsänderungshürde. Die begründete mehrstufige Auswahl je einer kanadischen, griechischen, irischen und deutschen Verfassungsänderung als Untersuchungsfälle soll für Varianz hinsichtlich des Themas und der Reformreichweite, des Änderungsverfahrens und seiner Rigidität, der Föderalismus-/Unitarismus-Dimension des politischen Systems, seiner Dominanzstruktur, der generellen Häufigkeit und Reichweite von Verfassungsänderungen dort sowie des Verfassungsalters sorgen. Sollte die nachfolgende Untersuchung ein Muster in den Motivlagen und den Interaktionsweisen von Akteuren ausmachen, das die Einigung auf Verfassungsänderungen erklärt, so wäre ausgeschlossen, dass es sich dabei eigentlich nur um Effekte ähnlicher institutioneller oder weiterer Rahmenbedingungen handelt.
3 Der Start der individualistischen Phase: Dominanz „normalpolitischer“ Eigeninteressen und Änderungsminimalismus in komplexen Strukturen
Dieses Kapitel erläutert, wie es in den vier Untersuchungsfällen zur Verdichtung von Aktivitäten kam, die später in Verfassungsänderungen mündeten. Es verknüpft diese Darstellung gezielt mit einer Skizze der Problemhorizonte dieser Politik und der in Aussicht stehenden Wege zur Verfassungsänderung, denn beide bilden wichtige Parameter einer rationalen Entscheidungsfindung. Vermittelt wird so ein Eindruck von der ursprünglichen Handlungssituation der initiierenden und der später hinzutretenden Akteure, die in zwei von vier Fällen deutlich vor der formalen Initiierung des Verfassungsänderungsverfahrens lag.
3.1 Kanadisches Fallbeispiel (1979) Der Prozess, der 1998 zur Änderung der kanadischen Verfassung durch den Nunavut Act, 1999 führte, wurde bereits 1979 initiiert, und zwar durch die Interessenorganisation der Inuit, die traditionell im Nordosten Kanadas jenseits der Baumgrenze leben. Diese Fläche in der ungefähren Größe Westeuropas macht ein Fünftel des kanadischen Staatsgebietes aus, doch lebten hier weniger als 15.000 Menschen, davon mehr als die Hälfte Kinder unter 18 Jahren (Schmitz 1982). Die Vereinigung der Inuit von Kanada (Inuit Tapirisat of Canada, ITC), die das Vorhaben auf die Agenda setzte, besaß keine Kompetenz zur formalen Einbringung einer Verfassungsänderungsinitiative, doch ohne ihr Wirken wäre der spätere Entwurf der Bundesregierung, der die politischen Entscheidungsinstanzen binnen drei Monaten passierte, gar nicht zustande gekommen, wie die politischen Akteure bekannten (z.B. Siddon 1993). Insofern war die ITC mehr als ein bloßer Impulsgeber, der einen bevollmächtigten politischen Akteur von außen zur Überlegung anregt, dass es sinnvoll, nützlich oder angebracht ist, eine bestimmte Gesetzesinitiative zu starten. Sie allein besaß ein genuines Interesse an dem verfassungsändernden Prozess. Dass die Initiierung nicht im Rahmen eines parlamentarischen Verfahrens erfolgte, war dabei durchaus typisch für das politische System Kanadas. Im Februar 1976 hatte die ITC, die seit 1971 die Inuit auf Bundesebene repräsentierte und gemäß ihrem Programm vielfältige, aber immer über den ethnischen Zugang definierte Interessen vertrat,110 bei der Bundesregierung unter Premier Pierre Trudeau (Liberale Partei 110 Sie war gegründet worden, um das Bewusstsein für Inuit-Rechte in der kanadischen Gesellschaft zu fördern, die Inuit über ihre eigene Situation, Regierungspläne, Ureinwohnerrechte und rechtliche Angelegenheiten allgemein zu informieren, die Inuit-Kultur und –sprache zu bewahren, den Stolz auf das Inuit-Erbe zu fördern, die Inuit in ihrem Recht auf volle Beteiligung an der kanadischen Gesellschaft zu unterstützen, so dass sie über jene sozialen, ökonomischen, Bildungs- und politischen Sachverhalte entscheiden könnten, die sie und zukünftige Generationen betreffen, sowie um alle Inuit der Nordwestterritorien, des arktischen Quebec, Labradors und Manitobas zu vereinen und mit ihnen gemeinsam öffentlich zu agieren (Leslie 2004: 3).
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3 Der Start der individualistischen Phase
Kanadas) erstmals einen Entwurf zu Landrechten und zur Schaffung einer neuen kanadischen Territorialeinheit Nunavut („Unser Land“) eingereicht. Es sollte durch eine Teilung der Nordwestterritorien (Northwest Territories, NWT) zustande kommen und weiter der kanadischen Föderation angehören. Die Zuständigkeit der Bundesregierung für das Kronland wurde nicht infrage gestellt. Allerdings forderte die ITC explizit ein Recht auf Selbstregierung (self-government), das vom gängigen Muster eines öffentlich-repräsentativen, d.h. die gesamte Bevölkerung repräsentierenden und ihr dienenden politisch-administrativen Systems (public government), abwich. Es blieb inhaltlich unausgefüllt und konnte bis hin zur Autonomie viel bedeuten.111 Die Bundesregierung in Ottawa akzeptierte das NunavutKonzept zwar als Verhandlungsbasis, wurde jedoch nicht aktiv. Die ITC selbst zog den Entwurf ein Jahr später aufgrund interner Unstimmigkeiten zurück (Jull 1988: 2; Wherrett 1999: 7; Cameron/White 1995: 96; CBC 1976; University of Alberta 1999). Grundsätzlich blieb sie jedoch bei ihrem Ziel, da sie die Interessen der Inuit von der NWT-Territorialregierung ebenso wenig vertreten sah wie von der Bundesregierung. Ein zweiter Anlauf folgte daher mit dem überarbeiteten Entwurf zur „politischen Entwicklung Nunavuts“. Der Zeitpunkt lag zwar einige Monate nach den Unterhauswahlen am 22.05.1979, die einen Regierungswechsel hin zu den Progressiven Konservativen (Progressive Conservative Party of Canada, PC), bewirkt hatten, und einen Monat vor den Territorialwahlen, doch bestand kein inhaltlicher Zusammenhang mit den Ereignissen. Die ITC erklärte in dem Papier, keine Landvereinbarungen mit der Bundesregierung abzuschließen, solange diese nicht in die Schaffung Nunavuts einwillige. Es beinhaltete einen Zeitplan und teils sehr konkrete Vorschläge für die politisch-institutionelle Ausgestaltung des neuen Territoriums, das nach einer maximal 15-jährigen Übergangszeit in einem zweiten Schritt den Provinzstatus erhalten sollte. Um diese Entwicklung politisch und wirtschaftlich vorzubereiten, war für die Zeit zuvor unter anderem eine eigene Kompetenz zur Kontrolle der Naturressourcen vorgesehen. Das Wahlrecht sollte nur denjenigen zustehen, die mindestens zehn Jahre auf dem Gebiet des Territoriums gelebt haben, Inuktitut sollte als Amtssprache anerkannt werden (CBC 1979). Angesichts der peripheren Lage der Region und der klaren Bevölkerungsmehrheit von rund 85 Prozent Inuit wäre damit faktisch eine weitreichende Selbstverwaltung oder – je nach Ausgestaltung der Kompetenzen – sogar Selbstregierung gegeben gewesen. Die von der ITC-Spitze erarbeiteten Forderungen waren nicht automatisch aus der Programmatik der Vereinigung ableitbar, ließen sich aber mit dieser vereinbaren und wurden von der ITC-Generalversammlung am 15.09.1979 legitimiert. Die Organisation verknüpfte fortan gezielt zwei Materien miteinander: Landvereinbarungen sowie Selbstregierung innerhalb eines eigenen Gebiets. Sie versuchte damit, das erkennbare Bestreben der liberalen, später der konservativen Bundesregierung nach Neuaushandlung von Landvereinbarungen mit den Ureinwohnern positiv für sich zu nutzen. Hintergrund dieses Bestrebens war das Urteil des kanadischen Obersten Gerichtshofs im Calder-Fall 1973. Er hatte einerseits die mögliche Existenz von Ureinwohnerrechten auf Land und Ressourcen anerkannt und damit vorangegangene Urteile des Obersten Gerichtshofs und des Berufungsge111 Public government meint „government with authority over and involvement by all residents”, die in der kanadischen Verfassungsdebatte faktisch nur im Hinblick auf die Ureinwohner diskutierte Selbstregierung „government which applies only to and includes only Aboriginal people” (Cameron/White 1995: 42). Solange die Bundesregierung noch keine Zuständigkeiten an die Territorien und Kommunen abgegeben hatte, war self-government für die Ureinwohner ein Synonym für kommunale oder Bereichsregierung, implizierte aber oft auch die Stärkung der lokalen Entscheidungs- und Kontrollrechte (Dickerson 1992: 168, 171).
3.1 Kanadisches Fallbeispiel (1979)
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richts von British Columbia gekippt, andererseits aber keine einheitliche Auffassung darüber vertreten, ob die klagenden Nisga’a einen solchen Rechtsanspruch besaßen. Die Bundesregierung, die alte Verträge und Gewohnheitsrecht zuvor immer als Landabtrittsvereinbarungen interpretierte,112 wollte eine Klagewelle und Rechtsunsicherheit vermeiden und hatte sofort eine Politik für Verhandlungen über Ureinwohnerlandrechte entworfen, um schnell zu Neuvereinbarungen zu kommen (Dickson 2004: 423; University of Saskatchewan o.J.; ATNS o.J.a). Wichtig für das Verständnis des Falls ist, dass die Forderung der ITC völlig aussichtslos schien: Sie verfügte über keinerlei Anreiz-, Bedrohungs- oder Mobilisierungspotenzial außer einer Zustimmungsversagung in den Landverhandlungen. Dieses Druckmittel war jedoch nicht sehr stark. Keine andere Ureinwohnergruppe verband daher – bis heute – Landansprüche mit Fragen einer territorialen Neuordnung (Merritt 2006). Für die Akteure auf Bundesebene war die Region trotz ihrer Größe nicht sehr interessant: Die Zahl potenzieller Wähler dort war gering. Parteien spielten aufgrund des parteienlosen Konsensussystems auf lokaler und territorialer Ebene ohnehin keine Rolle. Im Norden lag mit der Nordwestpassage eine strategisch wichtige, aufgrund der klimatischen Verhältnisse aber schwer nutzbare Wasserstraße. Wirtschaftlich war das Gebiet ein Problemfall. Darin unterschied es sich vom einzigen Präzedenzfall einer Ausgliederung als Territorium, der Gründung Yukons 1898. Diesem Gebiet hatte die Bundesregierung nach Goldfunden und einer Immigrationswelle Ende des 19. Jahrhunderts Selbstverwaltungsrechte und den Territorialstatus verliehen, um die kanadische Hoheitsgewalt abzusichern. In den ostarktischen NWT gab es keine ähnlichen Interessen. Schwächend im Hinblick auf die Verhandlungsmacht wirkte auch, dass es den Aktivisten der Organisation nach eigenen Aussagen zu dieser Zeit an gründlichen Kenntnissen der politischen Institutionen Kanadas und der Nordwestterritorien, von Parteipolitik, grundsätzlichen Mechanismen und Möglichkeiten demokratischer Regierung und des Rechtssystems sowie an einer differenzierten Bürokratie zur Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten ihrer Forderung fehlte (Townsend 1982). Sprachprobleme und ein relativ begrenzter Erfahrungshorizont der ITC-Spitze kamen hinzu.113 Sie engagierte zwar seit Ende der 1970er Jahre Experten vor allem in Rechtsfragen, doch konnte diese Professionalisierung ihrerseits zu Problemen mit der ITC-Basis führen.114 Die ITC formulierte gezielt „nur“ die Forderung nach Etablierung eines eigenen InuitTerritoriums und verzichtete auf weitere Wünsche, um ihr Anliegen einfach und übersichtlich zu halten (Merritt 1993). Trotzdem berührte diese Forderung auf unterschiedliche Weise verschiedenste Problemkomplexe: das politische, rechtliche und finanzielle Verhältnis zwischen Bund und Territorien, den Umgang mit Minderheiten, die Ausgestaltung von Repräsentation, die Bewältigung von Modernisierungsfolgen und –konflikten, die interne Reform des politisch-administrativen Gefüges der Nordwestterritorien, die Allokation von 112 Ein Interpretationswandel der Justiz selbst ist nicht nachweisbar, da sich kein Hinweis auf frühere Klagen betreffend Ureinwohnerlandrechte fand. 113 Die ITC kommunizierte mit den Vertretern der Bundes- und der Territorialregierung in einer Fremdsprache, musste sich mit Begriffen und Konzepten auseinandersetzen und diese ihrer Basis erklären, die es in der Inuit-Sprache gar nicht gab. Auch die ersten Inuit, die seit 1975 im Territorialparlament saßen, beherrschten nur Inuktitut. Der politisch-administrative Erfahrungshorizont der ITC-Führung beschränkte sich vornehmlich auf die Lokalverwaltung (HoC 1993: 20360; Laing 1982). 114 Das „allgemeine Gefühl“ unter den Inuit, die Berater aus dem Süden besäßen zuviel Einfluss, hatte beispielsweise zur Uneinigkeit über den ersten Nunavut-Forderungsentwurf beigetragen (LAC 1999).
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Finanzen, Gütern und Arbeitsplätzen in den Nordwestterritorien und die Landrechtsverhandlungen. Der erste genannte Komplex war das politische, rechtliche und finanzielle Verhältnis zwischen Bund und Territorien. Die Forderung der ITC stellte die politisch-administrative Struktur Kanadas infrage, wie sie seit dem Beitritt Neufundlands dreißig Jahre zuvor bestand. Gemäß den Verfassungsgesetzen115 bestand die kanadische Föderation seither aus zehn Provinzen sowie aus zwei Territorien (territories) – NWT und Yukon. Beide unterstanden direkt der Bundesregierung, verfügten also anders als die Provinzen nicht über weitreichende Entscheidungskompetenzen in den wichtigsten Politikfeldern116 sowie über eine geringere Verhandlungsmacht. Offen war 1979, was mit den Territorien überhaupt weiter geschehen sollte. Eigentlich hatte die Bundesregierung ihnen ein Übergangscharakter auf dem Weg zum Provinzstatus zugedacht (Dickerson 1992: 3). Eine Strategie gab es aber nicht. Eine von der Bundesregierung in Reaktion auf die gesellschaftliche Unzufriedenheit in den NWT eingesetzte Expertenkommission riet 1966 zwar zu einem Kompetenztransfer, damit die NWT irgendwann einmal den Provinzstatus erlangen könnten. Eine zeitnahe Verleihung dieses Status hatte sie jedoch explizit abgelehnt (GNWT, Department of Aboriginal Affairs… o.J.). Auf der verfassungspolitischen Agenda des Bundes, der mit den großen Verhandlungsrunden im Vorfeld der Patriierung der Verfassung beschäftigt war, stand das Thema nicht. Es war ungewiss, wie weit die Änderungen im politischen, rechtlichen und finanziellen Verhältnis zwischen Bund und Territorien reichen sollten und ob sie irgendwann konstitutionalisiert werden mussten. Dies hätte automatisch die übergeordnete normative Frage aufgeworfen, was den unterschiedlichen Status von Territorien und Provinzen in Kanada überhaupt begründet, und auf diese Frage gab es keine konsensuale Antwort. Gleichzeitig war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Eingehen auf die Forderung der ITC, insbesondere die nach einem späteren Provinzstatus, zu Folgeforderungen der NWT und Yukons führen würde und damit die Bund-Territorien-Provinz-Problematik grundsätzlich auf den Tisch brachte. Das Hinzutreten neuer Provinzen mit jeweils deutlich weniger Einwohnern als in den anderen Provinzen konnte dann wiederum die Basis der Konföderation und der Verfassung erschüttern – gerade mit Blick auf Quebec (vgl. CBC 2004). Der zweite durch die Inuit-Initative berührte Problemkomplex war der rechtliche und politische Status von Ureinwohnern in Kanada. Wie die anderen Ureinwohnervölker Nordamerikas hatten die Inuit ihre Autonomie (und die Kontrolle über ihr Land und die Bodenschätze) nach der Ankunft der europäischen Einwanderer an deren Regierung(en) verloren. Sie mussten sich nicht nur, ohne dass sie dazu ihre Einwilligung gegeben hatten, deren Entscheidungen fügen, sondern wurden auch von einem enormen sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel, der sich in den politischen Entscheidungen manifestierte, „überrollt“. Aufgrund ihrer peripheren Lage geschah dies bei den Inuit später als bei den anderen indigenen Völkern (Hicks/White 2000: 19, 21). Die gesetzgeberische Zuständigkeit für die Ureinwohner und ihre Siedlungsgebiete lag verfassungsgemäß beim Bund bzw. beim kanadischen Parlament (Magnet 2004: 98f.). Ihre Rechtssituation war aber sehr unterschiedlich, denn nur bestimmte Indianergruppen genos115 Formal handelte es sich um britische Gesetze. Mit dem Verfassungsgesetz von 1982 erfolgte die Umbenennung in Verfassungsgesetz von 1867 fortfolgend (Forsey 2005: 8, 12). 116 Gemeint sind Wirtschaft, Steuern, Soziales, Kultur, Bildung, Gesundheit, Polizei, Kommunalverwaltung und Nutzung der natürlichen Ressourcen.
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sen nach der Britisch-Nordamerika-Akte und dem darauf basierenden Indianergesetz (Indian Act) einen Sonderstatus, der ihnen vor allem den Anspruch auf materielle Versorgungsleistungen und Steuererleichterungen zusicherte.117 Die Inuit besaßen einen solchen Status nicht. Dies konnte einerseits als für sie nachteilige Rechtsasymmeterie bewertet werden, andererseits aber auch als Vorteil, da sie damit der „konstitutionellen Stigmatisierung“ als Bedarfsempfänger der Mehrheitsgesellschaft europäischer Zuwanderer und ihrer Nachkommen entgingen. In der Praxis genossen die Inuit weder Sonderrechte, noch waren sie gesellschaftlich anerkannt. Ungeachtet der Statusunterschiede verband alle kanadischen Ureinwohner die Erfahrung, als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu leben und sozioökonomisch marginalisiert zu sein. Kritiker betrachteten beide traditionellen Angebote der Bundespolitik an die Ureinwohner als illegitim: die konstitutionelle Assimilation zum Preis der Lossagung von den eigenen Wurzeln ebenso wie die rechtliche und örtliche Ausgrenzung (Cairns 1999). 1969 hatte die (sozial-)liberale Bundesregierung geplant, den Sonderstatus anerkannter Ureinwohnergruppen abzuschaffen, um sie stärker in die Gesellschaft zu integrieren. Der Protest der Betroffenen, die dies als Versuch der endgültigen Assimilation bewerteten, war stark, erfolgreich, beinhaltete auch die erwähnte Einklagung von Landrechten und mündete in eine breitere Emanzipationsbewegung, die in den 1970er Jahren die nicht anerkannten Ureinwohner, darunter die Inuit, mit erfasste (Schultze 1997a; Russell 1995). Die indigenen Gruppen versuchten Ende der 1970er Jahre zu erreichen, dass allen Ureinwohnern spezifische Rechte in der kanadischen Verfassung garantiert würden. Hinzu kamen individuelle Forderungen nach Land und unterschiedlichen Formen von Selbstregierung, die zumeist im Rahmen der Landverhandlungen vorgebracht wurden und sich auf das betreffende Gebiet bezogen. Es wurden aber auch konfrontative Forderungen nach Abschaffung des Kolonialsystems vorgebracht, verbunden mit der Position, dass Verhandlungen mit Vertretern des kanadischen Regierungssystems an sich schon normativ problematisch seien (Cameron/White 1995: 42f.; Wherett 1999). Aufgrund der Interessenunterschiede und teils offener Konflikte zwischen den Gruppen gab es unterschiedlichste Organisationsformen und mehrere Dachverbände.118 Der Bewusstseinsbildungsprozess führte also nicht automatisch zu kollektivem Handeln zugunsten einer besseren Zielerreichung und einer ähnlichen Bewertung des besten Wegs der Zielerreichung. So war die Forderung nach einem separaten Territorium kein zwingender Effekt des politisch-kulturellen Wandels, sondern, wie erwähnt, eine Besonderheit. Die ITC legitimierte ihre Forderung nach einem eigenen Territorial- bzw. Provinzstatus ähnlich wie andere Ureinwohnergruppen ihre Forderung nach Selbstregierung: mit ihrem aus ihrer Sicht naturgegebenen (inhärenten) Recht auf Besitz und Verfügung über ihr angestammtes Gebiet und auf Selbstbestimmung gemäß den traditionellen indigenen Entscheidungsmechanismen. Dieses Recht habe lange vor der europäischen Besiedlung existiert (Wherett 1999: 2). Im ostarktischen NWT-Gebiet war dabei anders als in vielen anderen Regionen die ethnische Siedlungsstruktur eindeutig und historisch nicht hinterfragbar. Nirgendwo sonst in Kanada lagen die geografischen, sprachlichen und kulturellen Grenzlinien zwischen den 117 Diese Konstellation reflektierte die Bezeichnung des zuständigen Ministeriums und der Parlamentsausschüsse „für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung“. 118 Aufgrund der ethnischen Eigenständigkeit der Inuit gehörte die ITC ihrerseits weder dem Nationalen Indianerrat der nicht anerkannten noch der Nationalen Indianerbruderschaft der anerkannten Ureinwohnergruppen an (ITK/ITC 1999: 10; HoC 1998c: 1815).
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Bevölkerungsgruppen derart dicht übereinander wie hier (NRC o.J.). Aufgrund dieser Eindeutigkeit hätte zwar ein Eingehen auf die ITC-Forderung kaum Probleme mit anderen regionalen Bevölkerungsgruppen verursacht, andererseits konnte der Schritt genau dadurch separatistische Ambitionen und Folgeforderungen befördern – selbst wenn die ITC ihre Territorialforderung nicht wie andere, konfrontativere Ureinwohnerorganisationen mit Verweis auf das in der Charta der Vereinten Nationen erwähnte Selbstbestimmungsrecht der Völker begründete.119 Auch für andere Ureinwohner, die dasselbe Ziel der Selbstregierung auf anderem Wege, nämlich über die Konstitutionalisierung eines Ureinwohnerrechts auf Selbstregierung, erreichen wollten, konnte der von der ITC avisierte separate Weg Konfliktstoff bergen. Denn indem die Forderung die Agenda der Ureinwohnergruppen gegenüber der Bundesregierung um einen weiteren strittigen Punkt ergänzte, konnte sie das gemeinsame Ziel einer Konstitutionalisierung von Ureinwohnerrechten behindern. Ein möglicher strategischer Vorteil der ITC bestand allerdings darin, dass der Weg der Zielerreichung über ein Territorium sich im Vergleich zu Forderungen und Argumentationen vieler Indianergruppen, die den Kolonialismus und das gesamte Gefüge der politischen Institutionen der europäischen Eroberer ablehnten, weit weniger konflikthaft gegen die Mehrheitsgesellschaft stellte. Er stellte eben nicht auf eine neue, in der Verfassung zu verankernde Geschichtsinterpretation und Rechtsherleitung ab, sondern basierte auf der grundsätzlichen Akzeptanz des politischen Systems Kanadas. Trotz der Besonderheiten berührte die ITC-Forderung nichts anderes als den zentralen Verfassungskonflikt Kanadas: Auf Bundesebene herrschte tiefe Uneinigkeit bezüglich der Frage, ob der tiefen Diversität am besten durch gesellschaftliche Integration oder territoriale Autonomie, durch Zentralisierung oder Dezentralisierung zu begegnen sei (Schultze 1997a; Thunert 1997; Kaiser 2002). Dieser Konflikt existierte bereits vor der Verfassungsgebung. Die Britisch-Nordamerika-Akte von 1867, die die Gründung der kanadischen Föderation besiegelte, konstitutionalisierte die damals bestehenden Strukturen im Grunde nur, indem sie auf die Idee von Volkssouveränität oder Selbstkonstituierung als kanadisches Volk verzichtete.120 Die Schwierigkeiten bestanden daher in der Praxis fort, wobei die konstitutionelle Anerkennung der Quebecer sowie seit den 1970er Jahren der Ureinwohner als „Völker“ innerhalb Kanadas mit dem von vielen geforderten Recht auf Selbstbestimmung die größten verfassungspolitischen Probleme waren (Russell 2004b: 10f.). Hinter der Spaltung des kanadischen Staates in franko- und anglophone Provinzen verbarg sich vornehmlich ein soziokultureller Konflikt (Thunert 1997: 103), hinter der Spaltung zwischen Zentrum und Peripherie oft das Problem gravierender Entwicklungsdifferenzen (Schultze/Broschek 2005). Dass bei den Inuit beide Unterschiede und die Ureinwohnerproblematik zusammenkamen, erschwerte das Schneidern einer „besten Lösung“. 119 Zunehmend bezeichneten sich kanadische Ureinwohnergruppen als Völker oder Nationen und verwiesen auf deren Selbstbestimmungsrecht als zwingendes (also durch Verträge oder Gewohnheitsrecht nicht löschbares) Völkerrecht. Ein Aspekt dieses Rechts sei das Recht auf Selbstregierung (Wherett 1999). Das Selbstbestimmungsrecht hatte in der rechtlichen Argumentation der Entkolonialisierungsbewegungen eine wichtige Rolle gespielt. Viele Nicht-Ureinwohner konnotierten Selbstregierung daher mit Souveränitätsbestrebungen außerhalb des politischen Systems Kanadas (Dickerson 1992: 168). 120 Gesichert werden sollten mit ihm erstens verantwortliche Regierung, also die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlamentes, zweitens die Repräsentation auf Bundesebene nach Bevölkerung, also Sitze gemäß dem Anteil der Bevölkerung einer Provinz im Verhältnis zu der Quebecs (eine später in der Praxis durch Kompromisse veränderte Formel), sowie drittens der Schutz der Frankophonen (Vauteck 2005: 57f.)
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Dieser Problemkomplex überschnitt sich teilweise mit dem Komplex des verfassungspolitischen Grundverständnisses der kanadischen Föderation und der Repräsentation. Auf Bundesebene war die Konfliktdimension hier klar: Während in Westkanada die Vision gleicher Provinzen und Regionen vorherrschte, die im kanadischen Bund vereint sind, wurde in Zentralkanada, insbesondere in Quebec, die Auffassung vertreten, Kanada sei ein Zusammenschluss zweier Gründernationen – der englisch-kanadischen und der französischkanadischen Nation -, die von jeweils eigenen Regierungen in Ottawa und Quebec vertreten werden. Entsprechend dominierte in Westkanada das Verfassungsideal einer gleichgewichtigen Repräsentation der Provinzen in Unterhaus und Senat und einer intrastaatlichen Form des Föderalismus, in dem die Provinzen unabhängig von Größe, Ressourcenausstattung, Wirtschaft, nationaler und kultureller Zusammensetzung ihrer Bevölkerung etc. untereinander wie im Verhältnis zum Bund über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen (Schultze 1997a: 4-7). Im französischsprachigen Kanada dominierte hingegen das Ideal eines asymmetrischen, interstaatlichen Föderalismus und umfangreicher Dezentralisierung. Dieser Konflikt führte dazu, dass Quebec auf Bundesebene die unter Trudeau unternommenen Versuche blockierte, die Ansprüche aller kanadischen Bevölkerungsgruppen, darunter der Ureinwohner, verfassungspolitisch in einem Reformkompromiss zu vereinen (Schultze 1997a; Russell 1995). Bei den Inuit selbst stellte die Problemlage sich etwas anders dar. Sie begründeten ihre Territorialforderung damit, dass ihre Interessen weder auf Territorialebene noch auf der Bundesebene angemessen vertreten seien. Gemessen an den Wahlberechtigten pro Repräsentant in den politischen Gremien auf den verschiedenen Ebenen standen sie damals aber besser da als viele andere Bevölkerungsgruppen, darunter andere Ureinwohnergruppen, die fast immer Minderheiten in ihren Wahlkreisen waren. 1976 hatten sie auf Initiative der ITC einen eigenen Wahlkreis auf Bundesebene und damit ab 1979 einen eigenen Repräsentanten im Unterhaus für nicht mehr als 7.000 Wahlberechtigte bekommen. Im Territorialparlament saßen seit 1975 ebenfalls Inuit gemäß ihrem Bevölkerungsanteil von etwa 34 Prozent. Diese Neuerungen gingen für die ITC aber am Kernproblem vorbei, da die Inuit in den weit entfernten politischen Organen trotzdem immer eine Minderheit blieben. Die Repräsentation über das reklamierte Territorium (oder langfristig die Provinz) hinaus in den bestehenden Strukturen des politischen Systems war für sie daher nachrangig und spielte im Zusammenhang mit der Nunavut-Forderung keine Rolle. Ihr Repräsentationsfokus ebenso wie ihr Fokus der kollektiven Identität lag vielmehr auf regionaler Ebene der Ost-NWT, wo sie ethnisch begründete Selbstregierung anstrebte. Anders formuliert, wollte sie politische Entscheidungen dorthin verschieben, wo die Inuit die Mehrheit stellten. Viele Ureinwohner interpretierten die Partizipation in Vertretungsorganen auf regionaler oder Bundesebene sogar als inkompatibel mit dem Selbstregierungsziel, da sie die Anerkennung des illegitimen bestehenden Systems beinhalte (Cairns 2003; Wherett 1999; Abele/Dickerson 1985). Die Bundesregierungen verfolgten demgegenüber das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft, in deren politischen Entscheidungsorganen alle Gruppen repräsentiert sind und deren „öffentliche“ Form des politisch-administratives System seinerseits all deren Interessen berücksichtigt. Sie erkannten in den 1970er Jahren an, dass die Ureinwohnergruppen aufgrund ihrer Größe, Lebensweise und Finanzschwäche, also struktureller Gründe, über weniger Rückhalt im Parlament verfügten, als sie angesichts ihrer Probleme benötigten, leiteten aber daraus nicht den Bedarf grundsätzlicher Änderungen am politischen System ab, sondern begannen, die Ureinwohnerorganisationen in großem Umfang finanziell zu unterstützen, um ihre Fähigkeit zur Interessenvertretung im bestehenden System zu stärken
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(Cairns 2003: 4). Regierung und Parlament in Ottawa gaben außerdem mehr Geld für das politisch-administrative System im dünn besiedelten Norden und für deren Repräsentanten auf Bundesebene aus als üblich, weil sie anerkannten, dass die Verbindung zwischen eingesetzten und gewählten Entscheidern und Bürgern aufgrund von Zeit-, Budget- und Infrastrukturrestriktionen dort prekär war (Nickerson 1982; Schmitz 1982). All diese Maßnahmen orientierten sich letztlich am Status quo der Repräsentation. Im Ergebnis existierte die Gefahr eines faktischen, wenngleich nicht logischen Konflikts zwischen Repräsentation und dem Wunsch nach einer moderaten Form der Selbstregierung innerhalb Kanadas (Borrows 2000; Knight 2001: 1078; Cairns 2003: 8). Der Repräsentationskonflikt überschnitt sich auf spezifische Weise mit dem Modernisierungskonflikt, der zwischen den Bundesregierungen und einem Teil der Inuit-Gemeinschaft verlief. Die Bundesregierung bemühte sich seit den 1950er Jahren um den sozioökonomisch rückständigen Norden, indem sie die Inuit gezielt in Siedlungen mit mietfreien Häusern, Gesundheitsversorgung, Fürsorge und Schulen sesshaft machte sowie zwei zentrale Oberschulinternate einrichtete. Dies führte tatsächlich zu einer erheblichen Verbesserung des Lebensstandards, gleichzeitig aber wurden die Inuit faktisch ghettoisiert und unintendiert zu Kostgängern des Staates gemacht. Da die Bodenschätze aufgrund des Klimas und der entlegenen Lage nur schwach erschlossen waren, es keine Straßen oder Eisenbahn gab, war Erwerbsarbeit kaum vorhanden, die meisten Inuit lebten ganz oder teilweise von verschiedenen Formen der Sozialfürsorge (Schmitz 1982; Irwin 1989; Hicks/White 2000: 21 ff.). Die Modernisierungsbemühungen der Bundesregierung riefen aus unterschiedlichen Gründen Unzufriedenheit bei den Betroffenen hervor. Die einen sahen ihre traditionelle Lebensweise und Kultur bedroht, die anderen kritisierten vorrangig die Arbeitslosigkeit und andere materielle Konsequenzen und wollten nach der Klärung der Eigentums- und Verfügungsrechte auch Standortpolitik betreiben (GN o.J.c: 6 ff.; Jull 1988; Dickerson 1992: 169 ff.). Bei unterschiedlichen normativ-programmatischen Zielsetzungen der Traditionalisten und der Modernisierer überschnitten sich beide nur darin, dass sie die Existenz eines eigenen Territoriums als geeignetes Instrument der jeweiligen Zielerreichung betrachteten. Die Angemessenheit dieses Instrumentariums zur Zielerreichung war jedoch in beiden Fällen nicht eindeutig. Die Einrichtung eines eigenen Territoriums konnte unberechenbare Wechselwirkungen mit dem durch die Modernisierungsmaßnahmen der Bundesregierung angestoßenen rapiden und weitreichenden sozialen, kulturellen und ökonomischen Wandel in der Region haben.121 Seine Effekte, also Erfolge, Risiken und Kosten, waren noch gar nicht abzuschätzen, damit politische „beste Lösungen“ schwer zu entwerfen (Irwin 1989). Die durch die gemeinsame Forderung überdeckten unterschiedlichen sozialen, politischen und ökonomischen Zielvorstellungen der Traditionalisten und Modernisierer konnten in einem eigenen Territorium offen zutage treten und Einigungen behindern. Möglich war auch eine Perpetuierung oder sogar Eskalation ethnischer Konflikte, denn aufgrund der trotz Modernisierungsbemühungen weiterhin deutlich höheren Qualifikationen des kleinen weißen Bevölkerungsteils war dieser für zu besetzende politisch-administrative Führungspositionen prädestiniert (Irwin 1989). Dem „Problemgebiet“ einen eigenen Territorial- oder Provinzstatus zu verleihen, war insgesamt sehr riskant. 121 Dieser Wandel äußerte sich in einem erheblichen Bevölkerungswachstum aufgrund abnehmender Kindersterblichkeit und höherer Lebenserwartung, in sozialer Differenzierung, einem Wandel des Selbstverständnisses, gravierenden Wertekonflikten zwischen den Generationen, Konkurrenz zwischen überliefertem indigenem und kanadischem Recht, Sprachtransformation, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus (vgl. Irwin 1989; Hicks/White 2000: 21-28; Mitchell 1996).
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Umgekehrt waren Zugang zu Bildung, materielle Verbesserungen oder spezielle Förderpolitiken auch ohne eigenes Territorium denkbar. Die ITC hatte die maximale Durchlässigkeit der Bundes- und NWT-Politik für Inuit-Interessen noch gar nicht ausgetestet, als sie ihre verfassungspolitisch relevante Forderung formulierte. Dass Spielräume bestanden, war erkennbar. 1962 erhielten die Inuit das Wahlrecht auf Bundes-, 1966 auf Territorialebene. Die Bundesregierung ermöglichte ihnen einen Zugang zu höherer Bildung und nachfolgend zum politisch-administrativen Bereich. Sie finanzierte gezielt und in großem Umfang die regionalen Inuit-Vereinigungen und die ITC selbst. Auf NWT-Ebene verbesserten sich die Partizipationsmöglichkeiten deutlich. All dies wurde aber weniger als Abbild der Möglichkeiten innerhalb der bestehenden Strukturen wahrgenommen, sondern förderte durch die Bereitstellung von Geld, Bildung und Vernetzung die organisierte Forderung nach dem eigenen Territorium. Genau diejenigen, die von diesen Maßnahmen profitierten, engagierten sich politisch für die Interessen der Inuit und für die Einrichtung eines eigenen InuitTerritoriums (Jull 1988; CBC 2005; Leslie 2004; Irwin 1989). Die von der ITC angestrebte Reform hätte außerdem zu Interferenzen mit den bereits laufenden weitreichenden politisch-administrativen Reformen in den Nordwestterritorien geführt. In Reaktion auf die große Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Politik- und Verwaltungssystem und gefördert durch eine devolutionsfreundliche Haltung des NWTKommissars, überließ die Bundesregierung der (sich auch intern reformierenden) NWTExekutive seit Ende der 1960er Jahre schrittweise Entscheidungen in Politikbereichen und seit Mitte der 1970er Jahre auch bei der Ausgestaltung des politisch-administrativen Systems. Die zuvor in Ottawa angesiedelte, von der Bundesregierung besetzte Territorialregierung siedelte nach Yellowknife über und wurde nach und nach zu einem Organ, das vom Vertrauen des Parlaments abhing. Das kanadische Verfassungsprinzip der verantwortlichen Regierung wurde also auf die Territorialebene übertragen. Auch das zweite Verfassungsprinzip der Repräsentation der Bevölkerung kam zum Tragen, als seit 1975 die Mitglieder der Territorialversammmlung vollständig gewählt wurden. Dies führte zu einer Mehrheit für die Ureinwohnergruppen, die den Wandel des stark zentralisierten NWT-Systems vorantrieben. Wesentliche Machtkonstellationen, so das Kompetenzverhältnis zwischen dem von der Bundesregierung ernannten Kommissar und der NWT-Regierung, dem NWTParlament und der NWT-Exekutive oder die Wahl der Exekutivmitglieder, änderten sich von Jahr zu Jahr und verstießen dabei auch gegen Bundesrecht (Dickerson 1992: 116 ff.; Lewis 1998; Legaré 1998a: 7; Legislative Assembly of the Northwest Territories o.J.). Problematisch war diese Entwicklung für die Territorialforderung der ITC, da sie bereits mit einer erheblichen Unsicherheit in der Region verbunden war. Die Bundesregierung verlor in den NWT zunehmend an Einfluss, obwohl sie keiner Selbstregierung stattgab, sondern nur der Übertragung bestehender Verfassungsprinzipien, und obwohl sie die Reformen rein formal jederzeit rückgängig machen konnte. Und sie finanzierte die Verlagerung von Institutionen, ohne dass sich die Performanz der und die Zufriedenheit mit den politischen Entscheidungen auf NWT-Ebene eindeutig verbesserten. Der Elitenwechsel sowie die Kombination aus Konsenssystem und heterogenen Interessen behinderten einen effizienten politisch-administrativen Prozess. Materielle Konflikte bei Landrechten, Einzugsgebieten und Selbstregierung überschnitten sich mit gruppeninternen Konflikten zwischen Modernisierern und Traditionalisten und mit unterschiedlichen Idealen bezüglich der Ausgestaltung des politischen Systems. Im Ergebnis dominierten auf territorialer Ebene normativ und materiell begründete Auseinandersetzungen über die Gestaltung eines politischen Systems nach Vorbild der zentralisierten südkanadischen Provinzen oder gemäß einem De-
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zentralisierungsmodell, über den Kurs der ökonomischen Entwicklung, Jagd- und Fangpolitik, Energieversorgung und -kosten, die Ausgestaltung des Bildungssystems und den Umgang mit Ureinwohnersprachen (Dickerson 1992: 152 ff.; Legislative Reports 1982b). Das Konsenssystem förderte zwar die argumentative, diskursorientierte Auseinandersetzung mit diesen Problemen, machte die Prozesse aber langwierig und den Ausgang für die Beteiligten völlig unberechenbar (vgl. Lewis 1998; Cairns 1982; Nickerson 1982). Die Durchsetzung eines kohärenten politischen Programms schien unmöglich. Im Falle einer Abtrennung Nunavuts konnten sich die Konflikte hinsichtlich bestimmter Politikfelder und der politisch-institutionellen Ausgestaltung der NWT in deren verbleibendem Rest sogar noch verschärfen, da die Bevölkerung dann in eine indigene und eine nichtindigene Hälfte gespalten wäre. Insofern ließ sich nicht genau bestimmen, ob es für die amtierende oder künftige Bundesregierungen nützlich sein würde, diesen Kurs weiterzuverfolgen und zusätzlich zu den Emanzipationsbemühungen von NWT-Parlament und -Exekutive auch noch eine Territorialreform der NWT und Selbstregierungsbestrebungen in deren Osten hinzunehmen. Auch für die NWT war der Nutzen unklar. Jenseits des politisch-administrativen Systems der NWT konnte die Forderung zu Konflikten im Hinblick auf die Allokation von Finanzen, Gütern und Arbeitsplätzen innerhalb der Nordwestterritorien führen. Der Westteil war zwar dem Ostteil weit voraus, im kanadischen Vergleich aber selbst stark unterentwickelt und von hoher Arbeitslosigkeit gezeichnet. Die Territorialverwaltung und die politischen Institutionen stellten dort seit Beginn der Devolution den wichtigsten Wirtschaftszweig dar (Nickerson 1982; Schmitz 1982; Dickerson 1992: 123 f., 141). Eine teilweise Abwicklung der politisch-administrativen Institutionen infolge einer Territorialreform bedrohte das fragile sozioökonomische Gleichgewicht im NWT-Westen, ohne dass gesichert war, dass dieses Gleichgewicht im neu entstehenden Nunavut gegeben wäre. Vielmehr konnten sich auch die Abkopplung des Ostens von Investitionen und die Ghettoiserung manifestieren und die sozioökonomische Kluft vergrößern.122 Gerade die Aufteilung des wahrscheinlichen Grenzgebiets konnte aufgrund von Infrastrukturplänen und vermuteten Bodenschätzen Verteilungskonflikte produzieren. Klar war, dass sich das von den Inuit besiedelte Areal ohne weitreichende Transferzahlungen und Fördermaßnahmen durch den Bund nicht halten oder weiterentwickeln konnte – ob nun wie bis dahin über die NWT geleitet oder, wie von der ITC angestrebt, direkt an ein Territorium oder später eine Provinz Nunavut. Schon der Haushalt der NWT, die im Westteil wenigstens Steuereinnahmen hatten, stammte fast ausschließlich vom Bund. Der Handlungsspielraum der Akteure wäre auch in einem eigenen Territorium vorstrukturiert gewesen, da die Bundesregierung über die jährlichen Mittel und die Haushaltsposten entschied (Dickerson 1992: 124 ff.; Legaré 1998a: 7; Nunatsiaq News 24.11.2004; Government of Canada 2006a, b). Es war schwer vorstellbar, dass die geringe Wirtschaftskraft der ostarktischen NWT und ihre finanzielle Abhängigkeit von Ottawa keinen Einfluss auf das auszuhandelnde künftige Verhältnis zur Bundesregierung zu dem Gebiet haben würde (Legaré 1998b: 288). 122 Der 1966 vorgelegte Bericht einer Beraterkommission zur politisch-administrativen Entwicklung in den NWT betonte, eine Teilung der NWT würde zur Isolation der Inuit führen. In den 1960er Jahren versuchten – durch die Bundesregierung ernannte – Mitglieder des Territorialrates der NWT ihrerseits, sich des rückständigen Ostteils durch dessen Abtrennung von den NWT zu entledigen, um die eigene politische und wirtschaftliche Entwicklung schneller vorantreiben zu können. Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung scheiterte aber im kanadischen Unterhaus, weil er als egoistisch und nicht repräsentativ für die Wünsche des ostarktischen Teils betrachtet wurde (Cameron/White 1995: 92).
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Der letzte große von der Territorialforderung berührte Problemkomplex waren die Landverhandlungen, die alle Ureinwohnergruppen der Nordwestterritorien mit der Bundesregierung führten. Rechtlich waren die Landvereinbarungen und die Einrichtung eines eigenen Territoriums ganz unterschiedliche Sachverhalte, praktisch gab es jedoch Verknüpfungen. Erst die Landverhandlungen klärten, welche Gebiete als Kronland überhaupt öffentlich verwaltet werden konnten und welche den Ureinwohnern zustanden. Da die Inuit das reklamierte Gebiet als grundsätzlich ihres betrachteten, mussten nach ihrem Willen die Grenzen der Landvereinbarungen und des Territoriums bzw. der späteren Provinz deckungsgleich sein. Dies berührte die Landansprüche der benachbarten Dene und Métis. Sie waren für die Bundesregierung, die im NWT-Westen große Infrastrukturmaßnahmen und einen „Energiekorridor“ plante, strategisch wichtiger. Ihr fehlendes Einverständnis konnte daher potenziell die Einrichtung Nunavuts gefährden und damit wiederum eine Einigung in den Landverhandlungen der Bundesregierung mit der ITC. Und solange die Landverhandlungen nicht abgeschlossen waren, konnte die Bundesregierung der NWT-Regierung kein Kronland zur öffentlichen Verwaltung übergeben, um im Sinne der Devolution ihre Rechte zu stärken (Legaré 1998a: 13). Auch bei diesem Problemkomplex waren normative, materielle und technisch-organisatorische Kalküle eng miteinander verwoben. Der formale Weg der Durchsetzung der Territorialforderung, deren verfassungsrechtliche Relevanz die ITC nicht erkennen ließ, war 1979 unklar. Aus den NWT waren zwar bereits viele Teilgebiete ausgegliedert worden123- als Territorium (vergleichbar also mit der Forderung der ITC) aber nur Yukon. Diese Ausgliederung erfolgte 1898 einfachgesetzlich, die Gesetze zur parlamentarischen Repräsentation der Nordwestterritorien und Yukons auf Bundesebene besaßen hingegen einen konstitutionellen Status. Ungeachtet dieses Status mussten sie damals keine erhöhten institutionellen Hürden passieren, sondern bedurften wie alle Gesetze zur Einrichtung der Provinzen nach Verhandlung mit der jeweiligen Bundesregierung nur der Zustimmung durch das Parlament (Penikett 1988). Seither hatten sich die Konventionen für Verfassungsänderungen innerhalb des föderalen Systems Kanadas aber verändert, insbesondere strebten die Provinzen nach mehr Mitsprache (Forsey 2005: 8 ff.). Gleichgeblieben war nur die explizite Auflage einer Befürwortung durch das britische Parlament. Hinzu kam, dass parallel zur ITC-Initiative ein neues Verfassungsdokument mitsamt künftigen Auflagen für Verfassungsänderungen verhandelt wurde. Gerade dieses Verfahren war aufgrund der engen Verknüpfung mit dem Repräsentationskonflikt sehr umstritten und hatte bei allen bisherigen gescheiterten Versuchen der „Heimholung“ der Verfassung eine wichtige Rolle gespielt (Archer u.a. 1999: 30f.; Forsey 2005: 10; Russell 2004b: 12; Thunert 1997). Die ITC, die in die großen Verfassungsrunden auf nationaler Ebene nicht eingebunden war, konzentrierte sich bei ihrer Initiative ganz auf die Bundesregierung, die für Ureinwohner und nördliche Territorien zuständig war und (neben dem durch ihre Mehrheit dominierten Unterhaus) bei allen Varianten legislativer Prozeduren eine wichtige Rolle spielte. Sie fungierte bei allen politisch-institutionellen Unwägbarkeiten und Dynamiken als konstanter „Pförtner“ zur Bundesgesetzgebung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Initiative der ITC 1979 unter Rationalitätsgesichtspunkten weitgehend aussichtslos erschien, da die Risiken und Kosten ihrer Umsetzung für die Bundesregierung den sicher erwartbaren Nutzen deutlich überstiegen 123 Darunter die späteren Provinzen Alberta und Saskatchewan sowie große Teile der späteren Provinzen Manitoba, Ontario und Quebec.
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und die ITC kaum Verhandlungsmacht besaß, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen (Tab. 19). Inhaltlich waren Alternativen zu Erreichung der ITC-Ziele (Beseitigung der sozioökonomischen Marginalisierung, Berücksichtigung traditioneller kollektiver Entscheidungsmechanismen der Inuit) denkbar, deren Erfolgswahrscheinlichkeit die gewählte Variante angesichts der Rahmenbedingungen (größere Kompatibilität mit politisch-institutionellen Entwicklungen, geringere Kosten und Risiken) überwog. Lediglich die extrem hohe Motivation konnte förderlich für das Vorhaben sein, doch sie ergab sich gerade nicht aus rationaler Voraussicht und umfassender Information, sondern aus einer Gemengelage emotionaler und ideeller Motive, dem allgemeinen Gefühl, „im Recht zu sein“, das die nur bei ganz unterschiedlichen konkreten Zielvorstellungen gerade in seiner Vagheit einte.124 Tabelle 19: Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall K erfolgsförderlich Motivation des Initiators Verhandlungsmacht des Initiators Kooperationsvoraussetzung Kosten/Nutzen für andere
hoch
-
Interesse der Bundesregierung an Landverhandlungen geringes strategisches Eigeninteresse der Bundesregierung an dem Gebiet senkt das Risiko von Interessenkonflikten
erfolgshemmend unkomfortables Verhältnis zur Bundesregierung, geringe politische Stärke (öffentliche Aufmerksamkeit, überregionale Mobilisierungskraft, Wählerzahl), schwache Reputation und Ausstattung mit kognitiven Ressourcen, keine überzeugende Außenoption keine zwingende Verknüpfung zwischen Landverhandlungen u. Territorialforderung kein bis geringer Nutzen, Komplexität der Wirkungszusammenhänge, hohes Risiko (Stabilität, Folgekosten)
3.2 Griechisches Fallbeispiel (1995) Im griechischen Fallbeispiel war es der Premier selbst, der die Änderung der Verfassung auf die Tagesordnung setzte: Der damalige Amtsinhaber Andreas Papandreou kündigte in seiner Neujahrsansprache am 01.01.1995 die Absicht der Regierung an, mit institutionellen und politischen Initiativen fortzufahren, die die Funktion der Verfassung, die Einheit der Nation, die Bedeutung der Politik und die Zukunft des Landes garantieren würden. Dazu zählte der Vorsitzende der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Panellinio Sosialistiko Kinima, PASOK), nach der Präsidentenwahl im Frühling 1995 eine Verfassungsänderung zu initiieren. Sie sei notwendig, um die parlamentarischen Institutionen zu stärken, die Verwaltung zu modernisieren, die Dezentralisierung der kommunalen Selbstverwaltung zu vervollständigen, den Grundrechtsschutz zu stärken und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu klären (Filos 2002: 995). Am 05.04.1995 wurde mit der Bildung des Revisionsausschusses durch den Parlamentsvorsitzenden das parlamentarische Verfahren der Verfassungsänderung formal eröffnet.125 124 Sie war besonders hoch aufgrund der einigenden Grundüberzeugung von der normativen Angemessenheit der Forderung sowie der Unterbewertung der Hemmnisse und Einwände infolge geringer kognitiver Ressourcen. 125 Aufgrund der Verfahrensvorgaben wurde im 1996 und 2000 gewählten Parlament die Verfassungsänderung jeweils formal neu initiiert (Venizelos 2002: 37). Im Gegensatz zu 1995 waren dies aber keine qualitativ neuen politischen Entscheidungen.
3.2 Griechisches Fallbeispiel (1995)
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Papandreou als eindeutiger Urheber der Idee erhoffte sich von der Initiierung der Verfassungsänderung vor allem einen prozeduralen (also nichtsubstanziellen) Nutzen im Kontext der griechischen Tagespolitik; Indizien auf einen engeren Zusammenhang mit der bevorstehenden Wahl des Staatspräsidenten (der ohnehin nur über staatsnotarielle Kompetenzen verfügt) finden sich in der Literatur nicht. Es ging unabhängig von dieser Wahl darum, Papandreous eigene und die Reputation von PASOK zu erhöhen, das Klima zwischen den Parteien durch einen Dialog über die politischen Institutionen zu verbessern, sich von der gefühlten Dominanz der Gerichte zu befreien und der Politik wieder mehr Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu sichern. Diese war seit Ende der 1980er Jahre durch die justizielle Aufarbeitung von Finanzskandalen vor allem aus der Zeit der ersten PASOK-Regierung, privaten Affären der Regierungsmitglieder, Finanz- und Wirtschaftsproblemen beherrscht. Ein Gerichtsverfahren gegen Papandreou selbst wegen Bestechung hatte 1992 mit einem Freispruch geendet. Mehrere Neuwahlen, zuletzt 1993 aufgrund des Parteiwechsels zweier Abgeordneter der damaligen konservativen Regierungspartei Neue Demokratie (Nea Dimokratia, ND)126 sowie die rhetorische Polarisierung zwischen der ND und der linkszentristischen PASOK, die etwa 85 Prozent der Wählerschaft auf sich vereinten, bestärkten im öffentlichen Eindruck unberechenbarer, instabiler und destruktiver Politik. Auf Papandreous Motiv, die Verfassungsänderung vor allem als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Korruptionsskandalen zu nutzen, verweisen erstens die Themen der von ihm gleichzeitig und gleichrangig genannten Regierungspläne, die alle im Zusammenhang mit den erwähnten Prozessen standen: die Einstellung der Strafverfolgung von Politikern, die wegen Skandalen angeklagt worden waren, die Billigung neuer Gesetze hinsichtlich der Ministerverantwortung sowie hinsichtlich der Finanzen von Parteien und Wahlkandidaten (Sotirelis 2001b: 17). Zweitens hatte Papandreou noch 1993 gefordert, es sei zwar eine neue Politik nötig, jedoch auch die Achtung vor der vorhandenen Verfassung und die Wiederherstellung des Rechtsstaates. Eine Verfassungsänderung lehnte die PASOK unter seiner Führung damals strikt ab, Papandreou bezeichnete die Idee als „lächerlich” und bezweifelte sowohl die Existenz irgendeines institutionellen Problems als auch die Zweckmäßigkeit einer Verfassungsänderung zur Problemlösung (Papandreou 1993; Filos 2002: 995). Da weder PASOK als Partei noch ihre Spitze konkrete Vorstellungen über die Inhalte der angekündigten Verfassungsänderung hatten, war drittens ein möglicher substanzieller Nutzen gar nicht zu ermessen.127 Papandreou bediente sich zur Zielerreichung eines durch mehrere Parteien neu entdeckten, aber nicht prioritär verfolgten Themas. Aufgebracht hatte es sein Amtsvorgänger Konstantinos Mitsotakis (ND), der aber ebenfalls keine konkreten Inhalte genannt, sondern vage von einer nötigen „Modernisierung der konstitutionellen Institutionen“ und der Stärkung des Präsidenten gesprochen hatte (Alivizatos 2001b: 155; Sotirelis 2001b: 14).128 Obwohl dem unter ihm im Parlament eingerichteten, aufgrund der scharfen PASOK126 Ende der 1980er Jahre war einer erstmals aus Koalitionspartnern zusammengesetzten Regierung aus der Neuen Demokratie und der Linksallianz eine ND-Regierung unter Mitsotakis gefolgt, bevor PASOK 1993 in erneut vorgezogenen Wahlen die Regierungsverantwortung erhalten hatte. 127 Auch Kostas Simitis, Papandreous innerparteilicher Gegner und Jurist mit Professur an der PantheionUniversität Athen, der für PASOK seit den 1980er Jahren verschiedene Ministerposten innehatte, stellte daher die im engeren Sinne verfassungsrechtliche Motivation Papandreous infrage (Alivizatos 2001b: 155f.). 128 Er hatte im September 1992 auf der jährlichen wichtigen Pressekonferenz anlässlich der Internationalen Messe von Thessaloniki unverbindlich auf die Frage eines Journalisten erklärt, dem Präsidenten (wieder) stärkere Vollmachten verleihen zu wollen, und am 28.01.1993 die Absicht seiner Regierung konkretisiert, nach den Wahlen 1994 eine Verfassungsänderung anzustoßen.
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Proteste nur inoffiziellen Revisionsausschuss ausschließlich hohe ND-Funktionäre angehörten, hatten diese sich noch nicht einmal auf eine grundlegende Richtung einigen können, womit die Initiative damals verebbt war. Unterschiedliche Interessen der Mitglieder – fast alle Minister – für Themen, die jeweils ihre Erfahrungen und ihre Ressorts widerspiegelten, waren dabei erkennbar gewesen (Sotirelis 2001b: 14 ff.).129 Trotz der Nichteinigung und der anfänglichen Ablehnung bzw. Skepsis bei PASOK und den Kommunisten (Alivizatos 2001b: 162f.) schärfte sich seither in den Parteien die Wahrnehmung dafür, dass die Verfassung nicht einfach gegeben, sondern veränderbar war. Auch das damalige Wahlbündnis Linksallianz und die 1993 von der ND abgespaltene rechte Zentrumspartei Politischer Frühling hatten seit Mitsotakis’ Ankündigung Verfassungsänderungen thematisiert (Sotirelis 2001b: 13). Alle Überlegungen unterschieden sich in ihrer inhaltlichen Zielrichtung voneinander und erfolgten abgehoben von der Öffentlichkeit. Trotz der ganz unterschiedlichen Interessen wurde am 15.11.1994 im Parlament die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung allgemein diskutiert. Papandreou riskierte insofern mit seiner Ankündigung wenig, denn er griff die im Raum stehende Idee einer Verfassungsänderung nur auf, legte sich politisch-inhaltlich nicht fest und hielt sich also alle Optionen offen. Der Problemhorizont der Initiative war komplex. Als erstes der fünf Ziele einer Verfassungsänderung nannte Papandreou 1995 die Stärkung des Parlaments. Bislang waren Regierung, Parlamentsmehrheit und Regierungspartei sehr eng miteinander verzahnt. Ähnlich wie in Großbritannien oder Irland bekleidete nahezu ein Drittel der Abgeordneten der Regierungspartei parallel zur Parlamentstätigkeit hohe Regierungsfunktionen, wodurch ein Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Regierung und Regierungsmehrheit im Parlament bestand. Erstere startete die meisten Gesetzesinitiativen, während die Abgeordneten vergleichsweise beschränkte legislatorische Initiativrechte besaßen.130 Da der aus dem Parlament kommende und von dessen Vertrauen abhängige Regierungschef trotz rechtlich geforderter Kollegialität (GrVerf o.J.: Art. 85) mittels der Richtlinienkompetenz und des Vorschlagsrechts zur Ernennung und Entlassung der Regierungsmitglieder durch den Präsidenten die Politik bestimmte und in Ministerien eingreifen konnte, für die sonst das Ressortprinzip galt, war die griechische parlamentarische Demokratie faktisch eine Premierministerdemokratie (Zervakis 1999: 645-50). Zum Zeitpunkt der Initiierung der Verfassungsänderung beherrschte innerhalb des Parlaments die Regierungsmehrheit alle Ausschüsse. Der Opposition war die konstruktive Mitarbeit in der Gesetzgebung nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich er129 So strebte der Vizepremier Kanellopoulos mit langjähriger Regierungserfahrung in vielen Ministerposten eine Reform weg von der premierorientierten Staatsform und allgemein die Modernisierung von Verfassungsklauseln „auf Basis der gesammelten Erfahrung“ an, während Justizministerin Psarouda-Benaki erklärte, hauptsächlich sollten die Wahl und die Kompetenzen des Präsidenten der Republik, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die Auswahl der Richter diskutiert werden (Sotirelis 2001b: 14 ff.). 130 Art. 73 sah vor, dass Gesetzesvorschläge oder Änderungsanträge von Abgeordneten nur dann beraten werden könnten, sofern sie keine Kosten für den Staat, die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften oder sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts verursachten oder dem Vorteil von Einzelpersonen dienten. Fraktionsvorsitzende oder Sprecher von Gruppen dürften jedoch Änderungen von und Zusätze zu Gesetzentwürfen beantragen, die sich auf die Organisation der öffentlichen Verwaltung und von Einrichtungen, die dem öffentlichen Interesse dienten, auf die Dienststellung der Staatsbeamten, der Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei, der Beamten der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften und sonstiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts sowie öffentlicher Unternehmungen bezögen. Siehe als Quelle aller Artikelangaben: GrVerf o.J.
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schwert, so aufgrund des zeitlich und inhaltlich begrenzten Initiativrechts (GrVerf o.J.: Art. 74 VI). Da die Parlamentsmehrheit ihre Regierung zumeist nur intern kritisierte, um sie nicht öffentlich zu destabilisieren, fiel der Opposition die vornehmliche Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle zu. Ihr standen dafür zwar laut Geschäftsordnung (ebd.: Art. 125/1987) Auskunft, Anfrage, Einspruch und die Forderung nach Offenlegung von Dokumenten als Instrumente zur Verfügung, doch behinderten beispielsweise unterschiedliche Mehrheitserfordernisse bei Misstrauens- und Vertrauensanträgen dieses Kontrollrecht, so dass die Opposition besonders die Plenaraussprachen zur öffentlichen Kritik nutzte. Vor dem Hintergrund einer stark ausgeprägten Partei- bzw. Fraktionsdisziplin verhielt sie sich grundsätzlich konfliktorientiert (Zervakis 1999: 645f., 651). Der geringe individuelle Einfluss der Abgeordneten, die zudem selten über Mitarbeiter verfügten, führte dazu, dass sie sich stark auf die Lobbyarbeit „gegenüber der übermächtigen und von der jeweiligen Mehrheitspartei durchsetzten Ministerialbürokratie“ im Interesse ihrer Wählerklientel im Wahlkreis konzentrierten (Zervakis 1999: 644). Die Charakteristika des griechischen Parlamentarismus ähnelten jenen Merkmalen der faktischen Funktionsweise vieler parlamentarischer Demokratien, die immer wieder Gegenstände demokratietheoretisch begründeter Kritik insbesondere an mangelnder Transparenz, Inklusion, Kontrolle werden. Sie waren aber stärker institutionell angelegt, etwa hinsichtlich der beschränkten Initiativ- und Kontrollrechte der Opposition. Eine verfassungsrechtliche Stärkung der parlamentarischen Institutionen konnte zum einen eine Verbesserung der inneren Funktionsweise des Parlaments in dieser Hinsicht bedeuten, zum anderen aber auch eine strukturelle Veränderung der Beziehung zur Exekutive, die dem Parlament ein größeres Gewicht im politischen Prozess gegeben hätte. Beides war ohne die Ausweitung der Rechte der Opposition im Parlament nur bedingt möglich. Beides war aber besonders ohne Machteinbußen der Regierung kaum möglich, sollte die Verfassungsänderung sich nicht in simplen prozeduralen Änderungen der Parlamentstätigkeit erschöpfen. Dies aber war kaum im Interesse Papandreous, widerspricht doch Selbstentmachtung, selbst gradueller Art, rationalen Kalkülen, insbesondere wenn sie ohne äußeren Zwang erfolgt, wie die 1995 erfolgte Ankündigung. Damals verfügte die PASOK über eine komfortable Mehrheit von 170 Parlamentssitzen, während die ND als einzige ernstzunehmende politische Konkurrentin nur 111 Abgeordnete stellte und wegen der Abspaltung des Politischen Frühlings geschwächt war.131 Zudem besaß die Stärkung des Parlaments das Potenzial, den traditionell scharfen Verfassungskonflikt zwischen PASOK und ND um den Grundtypus des Regierungssystems wiederzubeleben. Die ND befürwortete traditionell ein semipräsidentielles System und hatte dieses in der Verfassung von 1974/75 verankert. PASOK war aus Protest dagegen der Verfassungsgebung ferngeblieben und hatte sofort in ihrer ersten Regierungszeit eine Verfassungsänderung initiiert, um die Kompetenzen des damaligen Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis (ND), die dem des französischen Präsidenten ähnelten, zu beschneiden. Diese Verfassungsänderung erhielt zwar die Unterstützung der Kommunisten und unabhängiger Abgeordneter, wurde jedoch von der ND abgelehnt. Der Verfassungskonflikt war nie beigelegt worden. Die Verfassungsinitiative besaß angesichts der Umstände das Potenzial, zur Verhärtung der Fronten zwischen beiden Parteien beizutragen und damit die politische Verunsicherung und Ablehnung in der Bevölkerung zu verfestigen. Bei einem positiven Verlauf der Aushandlungen und einer diskursiven Verständigung über die Verfassung 131 Beides hatte zum Rücktritt Mitsotakis’ vom Parteivorsitz der Neuen Demokratie geführt.
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konnte die Revision aber umgekehrt auch gerade integrierend bzw. identitätsstiftend wirken, den Makel fehlenden Verfassungskonsenses (Filos 2002) beseitigen und die Institution Verfassung gegenüber der noch immer starken Bedeutung von Personen in der Politik stärken (Ladi 2005: 2; Axt 2004: 146f.). Welches dieser ganz unterschiedlichen Szenarien eintreffen würde, war so schwer vorhersehbar wie der jeweilige Nutzen quantifizierbar. Das von Papandreou an zweiter Stelle genannte Ziel war die verfassungspolitische Modernisierung der Staatsverwaltung. Gemäß Art. 101 der Verfassung besaßen die zentralen Verwaltungsbehörden neben ihren besonderen Zuständigkeiten die allgemeine Richtlinienkompetenz und waren für die Koordination und die Kontrolle der Regionalorgane zuständig. Die regionale Staatsverwaltung durfte entsprechend dem konstitutionellen Dekonzentrationsprinzip132 über administrative Angelegenheiten ihrer Region entscheiden. Die Verfassung ließ hier breite Ausgestaltungsspielräume. So machte die Regierung überhaupt erst 1987 von der Möglichkeit Gebrauch, Regionen (periferiaie) einzurichten, um EG-Mittel abschöpfen zu können.133 Die Regionalverwaltungen, deren Leiter sie selbst bestimmte, waren jeweils für Polizei- und Sicherheitsangelegenheiten, Regionalentwicklung, das regionale Management der Regierungspolitik und die Kontrolle der lokalen Körperschaften zuständig und genossen eher beschränkte Befugnisse – insbesondere geringere, als die Verfassung erlaubt hätte. Bis 1994 ernannte die Athener Regierung auch die Gouverneure der über 50 Provinzen (nomoi), die hauptsächlich staatliche Auftragsangelegenheiten erledigten, finanziell gut ausgestattet waren und Ableger der nationalen Ministerien besaßen (Hlepas 2005: 7, 22; Rhodio/van Niestelrooij 2002: 8; Valta 2004: 482). Die Verwaltung war in der Praxis stark zentralisiert, personell überbesetzt und sehr ausgedehnt – auch wegen des sehr hohen Staatsanteils der griechischen Wirtschaft. Beide große Parteien versuchten, ihn informell durch die Durchsetzung mit eigenen Funktionären zu kontrollieren. Die Auswirkungen dieser Strukturen auf die Tätigkeit der Verwaltung und ihr Ansehen in der Bevölkerung waren äußerst negativ. Zu ihnen zählten langwierige Verfahren, Intransparenz, Koordinationsschwierigkeiten, Kompetenzanhäufung, Ineffektivität, bewusste Fehlinformationen, Verwebung mit lokalen klientelistischen Netzwerken und hohe Betriebskosten, die zu öffentlichen Schulden führten (Zervakis 1999: 649 ff., 666; Hlepas 2005: 9; Axt 2004: 146; Valta 2004: 491). Eine administrative Neuordnung konnte zu messbaren Kosteneinsparungen, Performanzsteigerung und mehr Transparenz führen, doch war für solche Reformen aufgrund der vagen Regelungen in der Verfassung deren Änderung nicht unbedingt notwendig. Einfachgesetzliche und sonstige Maßnahmen im Rahmen der Verfassung konnten möglicherweise ausreichen. So wurde bereits seit Ende der 1980er Jahre Personal abgebaut und stark privatisiert (Zervakis 1999: 650). In der Praxis prägte das Eigeninteresse der Initiatoren die Reformen. Mit der letzten großen Reform 1994 waren beispielsweise die dekonzentrierten Provinzverwaltungen in territoriale Körperschaften mit direkt gewählten Räten und Provinzgouverneuren (als Exekutivchefs) umgewandelt worden, die ansonsten ihre Zuständigkeiten behielten. Dabei galt, dass die aktuellen Amtsinhaber als Beamte nicht mehr an die Spitze der neuen Verwaltungen gewählt werden durften. Umfassende Personalwechsel in hohen Ämtern standen also 132 Anders als Dezentralisierung beinhaltet Dekonzentration die Verlagerung vornehmlich administrativer und nicht politischer Entscheidungsrechte auf spezifische Untergliederungen einer Verwaltung. 133 Vor dem Hintergrund der 1988 neugestalteten Struktur- und Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft dienten die Regionen dazu, den Erhalt von Mitteln aus dem EG-Strukturfonds zu ermöglichen, dessen Geld sie vorrangig ausgaben: Die EG-Mittel flossen in den nationalen Regionalentwicklungsfonds und wurden unter Kontrolle des griechischen Innenministeriums an die Regionen verteilt.
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bevor.134 Die Idee zu dieser Reform war vom Innenminister und PASOK-Generalsekretär Apostolos-Athanasios Tsochatzopoulos ausgegangen, der durch die Bereitstellung dieser neuen Posten für Parteipolitiker PASOK-interne Konflikte um die Nachfolge ihres Vorsitzenden Papandreou abmildern wollte, auf die er selbst spekulierte (Hlepas 2005: 16f.). Zum Zeitpunkt der Verfassungsinitiative regte sich vor allem in der Verwaltung selbst und bei ihrer Führung noch immer erheblicher Widerstand gegen diese Reform. Der Trend der griechischen Politik, insbesondere unter PASOK, zentralistische und dezentralistische Elemente miteinander zu kombinieren, wurde teils als Kombination von Nachteilen betrachtet, etwa von „zentralistischem Klientelismus“ und „scheinplebiszitärem Populismus“ (Zervakis 1999: 663). Die typischen Probleme hierarchischer Steuerung bestanden fort, und die parteipolitische Überformung der örtlichen Entscheidungen konnte durch die Dezentralisierung in der praktizierten Form sogar gestärkt werden. Zumindest hatten die bisherigen Reformen an der grundsätzlichen Lage wenig geändert, dass alle Selbstverwaltungsorgane weiterhin staatlich kontrolliert werden konnten: durch den staatlichen Verwaltungsapparat, ihre Abhängigkeit von Finanzmitteln des Staates aufgrund dessen Steuermonopols (Art. 78) und seiner Verantwortlichkeit für das Management der Mittel aus dem EU-Strukturfonds und die Formulierung zu erfüllender Aufgaben durch den Staat. Das unklare und durch die Mehrheitspartei leicht änderbare Kompetenzverhältnis zwischen den einzelnen Körperschaften schuf zudem Verunsicherung, senkte die Verantwortlichkeit der Politik (Zervakis 1999: 656; Hlepas 2005: 16f.). Die initiierte Verfassungsänderung konnte prinzipiell genutzt werden, um hier institutionelle Gegenmaßnahmen zu ergreifen, doch konfligierten in diesen Punkten individuelle und systemische Nutzenkalküle, da mögliche Lösungen der Strukturprobleme, wie effektivere Kontrollmechanismen und eine von den Parteien unabhängige Verwaltung, zumeist das Risiko eines Machtverlusts in Wirtschaft und Regionen beinhalteten. Wie bei den anderen Punkten waren hier aufgrund der knappen Äußerungen Papandreous und der fehlenden (da für die Initiierung noch nicht vorgesehenen) Verfassungsänderungsvorlage Vor- und Nachteile sowie mögliche Effekte kaum zu bestimmen – für alle beteiligten und potenziell betroffenen Akteure. Sehr eng mit der Staatsverwaltungsproblematik verknüpft war das dritte von Papandreou genannte Ziel der „vervollständigten“ Dezentralisierung der örtlichen Selbstverwaltung. Art. 102 der Verfassung legte die Verwaltung der örtlichen Angelegenheiten selbstständig agierenden Körperschaften in die Hände, die auf der ersten Stufe der Kommunen in allgemeiner und geheimer Wahl gewählt wurden. Die Verfassung gab die Möglichkeit einer gesetzlichen Einführung weiterer Selbstverwaltungsstufen und der Besetzung von bis zu einem Drittel der Mitglieder der Leitung der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften der zweiten Stufe aus gewählten Vertretern von örtlichen, beruflichen, wissenschaftlichen und kulturellen Organisationen und der Staatsverwaltung. Da selbst weniger wichtige Entscheidungen oft in Athen oder von dekonzentrierten staatlichen Verwaltungseinheiten getroffen wurden, spielte kommunale Selbstverwaltung in der Praxis keine Rolle. Die fast 6.000 griechischen Kommunen waren finanziell und personell schwach ausgestattet und erfüllten nur wenige Dienstleistungen für die Bürger (Hlepas 2005: 4). Gemessen an dem Ziel einer dezentralisierten Selbstverwaltung, zu dem sich Griechenland 1989 mit der Ratifizierung 134 Die griechische Verfassung verbot in Art. 29 (3) allen Beamten im Staatsdienst, in „juristischen Personen des öffentlichen Rechts“, in öffentlichen Unternehmen und örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften (sowie Richtern, Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei), sich zugunsten einer politischen Partei aktiv zu betätigen oder auszusprechen, um eine Politisierung dieser Institutionen zu verhindern.
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der entsprechenden Charta des Europarates bekannt hatte (Council of Europe 1985), war der Status quo problematisch: aufgrund der geringen Kompetenzen der örtlichen Selbstverwaltungsorgane, ihrer möglichen Kontrolle durch den Staat135 und der finanziellen Abhängigkeit von ihm136 (Valta 2004: 446). Angesichts der Funktions- und Legitimationsdefizite sowie hoher Kosten der Kommunalverwaltung beschäftigte auch diese bereits die „normale Politik“. PASOK ermächtigte als Regierungspartei beispielsweise in den 1980er Jahren die lokalen Körperschaften, auch soziale Dienstleistungen anzubieten und forderte sie dazu auf, kulturelle und lokalwirtschaftliche Entwicklungsinitiativen zu starten. 1989 schränkte eine Reform der Kommunaleinnahmen die Möglichkeit der Regierung ein, über staatliche Zuwendungen politischen Einfluss auszuüben (Hlepas 2005: 14f.; Valta 2004: 438 ff.). Auch hier galt, dass Reformen nicht unbedingt einer Verfassungsänderung bedurften, aber per Verfassungsänderung bestimmte Grundsatzfragen geklärt werden konnten, etwa ob den Gebietskörperschaften finanzielle Autonomie oder ein Recht zur Erhebung von Steuern zugeschrieben werden sollte. Zudem konnte der von der Justiz definierte Rahmen einfacher Gesetzgebung wieder erweitert werden. Griechische Gerichte hatten nämlich mehrfach geurteilt, dass der Staat wichtige Verantwortlichkeiten nicht an die lokale Selbstverwaltung überantworten dürfte, worunter sie auch Städtebau bzw. Baugenehmigungen oder die Einstellung von Lehrern für öffentliche Schulen verstanden (Rhodio/van Niestelrooij 2002: 6; Hlepas 2005: 16). Bei der Ausgestaltung der Verfassungsänderung musste berücksichtigt werden, dass die teilweise Kontrolle der Lokalpolitik durch den Staat und die Ausläufer der zentralen Verwaltung bis in die Regionen nicht nur Folgen der starken zentralistischen Tradition Griechenlands waren, sondern auch als nützliches Instrument dazu dienen konnten, um den lokalen Klientelismus einzudämmen und die Regionen bzw. die lokale Ebene effektiver zu modernisieren (Chondroleou u.a. 2004). Mit anderen Worten: Die Entlassung in die Selbstverwaltung war nicht zwangsläufig die beste Lösung, sofern bestimmte Voraussetzungen auf kommunaler Ebene nicht gegeben waren. Sie barg auch Risiken. Da die Bürger die Effekte des Verwaltungshandelns relativ direkt beobachten konnten und von ihnen betroffen waren und Reformen per se vorübergehend die Transaktionskosten erhöhen, schufen die Reformen auch ein großes Risiko gesellschaftlicher Unzufriedenheit mit möglichen Änderungen. Als viertes Ziel der Verfassungsänderung hatte Papandreou die Stärkung des Grundrechtsschutzes benannt. Dies lenkte das Augenmerk auf bestimmte Abweichungen der griechischen Verfassung von internationalen Standards, besonders hinsichtlich religiöser und ethnischer Minderheiten. Die Verfassung schrieb zwar in Art. 13 die Religionsfreiheit fest, doch der prominentere Art. 3 reflektierte die traditionelle Sichtweise, dass ethnisches Griechentum und der orthodoxe Glauben unmittelbar zusammengehörten und den Genuss der Bürgerrechte begründeten. Er wies der orthodoxen Kirche, der 95 Prozent der Bevölkerung angehören, den Status einer „vorherrschenden“ Religion zu. Diese Sonderstellung 135 Art. 102 der Verfassung schrieb fest, dass dieser die Aufsicht über die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften inklusive möglicher Sanktionen ausübte, „ohne deren Initiative und freie Tätigkeit zu hindern“ – eine unkonkrete und daher schwer sanktionierbare Klausel. Weiter hieß es dort: „Die Disziplinarstrafen einer zeitweiligen oder endgültigen Entfernung aus dem Amt der gewählten Organe der örtlichen Selbstverwatung werden mit Ausnahme der Fälle des Amtsverlustes kraft Gesetzes nur nach zustimmender Stellungnahme eines Rates verhängt, der mehrheitlich aus ordentlichen Richtern besteht.“ 136 Der Staat hatte für die Sicherstellung der Mittel zu sorgen, die die Kommunen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten. Die Zuweisung der durch den Staat erhobenen Steuern und Abgaben sowie deren Verteilung wurden per Gesetz geregelt; die Verfassung enthielt für die Kommunen keine greifbare finanzielle Garantie.
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führte in der Praxis zu ihrer bevorzugten Behandlung durch den Staat, zu finanzieller und anderer Förderung und implizierte die Schlechterstellung der anderen Religionen. Gleichzeitig schrieb Art. 13 der Verfassung fest, dass die Geistlichen aller bekannten Religionen derselben Staatsaufsicht unterlägen und dieselben Pflichten gegenüber dem Staat hätten wie die der vorherrschenden Religion, und verbot die religiöse Bekehrung von Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften (Proselytismus). Die Ungleichstellung der Religionen und die breit auslegbaren Klauseln zu Staatsaufsicht und Bekehrungsverbot standen in einem Spannungsverhältnis zur verfassungsmäßig garantierten Religions-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Nur die orthodoxe Kirche, Judentum und Islam konnten als Rechtspersonen des öffentlichen Rechts auftreten, nicht aber andere konfessionelle Gruppen. Die Angehörigen ethnischer Minoritäten wurden nicht als solche anerkannt und genossen daher nur beschränkt die genannten Freiheiten. Dies betraf am stärksten die größten Minderheiten der Türken und Mazedonier.137 Ihre Selbstidentifizierung als nichtanerkannte, etwa türkische, Minderheit, oder die Benutzung einer anderen, etwa der mazedonischen, Sprache durch Vereinigungen oder Parteien waren illegal, konnten zu strafrechtlicher Verfolgung und zum Verlust der Staatsbürgerschaft führen. Diese Situation widersprach internationalen Vereinbarungen, die Griechenland unterzeichnet hatte.138 Das Problem waren aber nicht immer die Verfassungsregelungen selbst, sondern einfache Gesetze, die durch die Verfassung ermöglicht oder deren traditionelle Sicht befördert wurden.139 Mit der Religionsfreiheit verknüpft war der explizite Ausschluss eines Rechts auf Verweigerung des obligatorischen Militärdienstes aus Gewissensgründen oder auf die Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes, denn zum Zeitpunkt der Verfassungsinitiative lehnten fast ausschließlich Anhänger der Zeugen Jehovas die Wehrpflicht ab. Art. 13 der Verfassung schrieb fest, dass niemand wegen seiner religiösen Anschauungen von der Erfüllung seiner Pflichten gegenüber dem Staat befreit werden oder die Beachtung der Gesetze verweigern durfte, woraus einfachgesetzlich Haftstrafen für Militärdienstverweigerer folgten. Das dritte zu diesem Zeitpunkt von Menschenrechtsgruppen thematisierte Grundrechtsproblem stellte die in Art. 14 verfassungsrechtlich garantierte, praktisch jedoch nicht vollständig gewährleistete Pressefreiheit dar. Mediale Kritik an Ministern und Inhabern öffentlicher Ämter sowie Enthüllungsjournalismus wurden häufig als „Beleidigung“ oder „Verleumdung“ gerichtlich sanktioniert. Art. 15 unterstellte zudem Hörfunk und Fernsehen der unmittelbaren Kontrolle durch den Staat. Dies behinderte beispielsweise die öffentliche Aufklärung illegaler oder halblegaler Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft, die aufgrund der hohen Staatsquote besonders eng miteinander verquickt waren (IHFHR 1999). Das Problem konnte eventuell durch einen stärkeren Schutz der Presse- und Redefreiheit gelöst werden. Eine Alternativlösung war eine bessere Trennung politischer und wirtschaftlicher Funktionen, wenn 137 Griechenland erkannte nur die „Muslime“ in Thrakien formal als (religiöse) Minderheit an, deren Rechte im Lausanner Vertrag von 1923 garantiert waren. 138 Dazu zählten UN-Vereinbarungen (vor der Verfassungsinitiative zuletzt die 1981 verabschiedete Deklaration zur Eliminierung aller Formen von Intoleranz und von Diskriminierung aufgrund von Religion oder Glauben), die im Rahmen des Europarates ratifizierte Europäische Menschenrechtskonvention und OSZEDokumente (zuletzt das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE und die Charta von Paris 1990). 139 Aufgrund des Art. 19 des Staatsbürgerschaftsgesetzes konnte seit 1955 etwa 60.000 nicht-ethnischen (zumeist türkischen) Griechen die Staatsbürgerschaft entzogen werden, wenn sie (auch vorübergehend) im Ausland wohnten. Viele wurden staatenlos. Ein Gesetz von 1990 wies dem Staat zudem das alleinige Recht zu, die Muftis zu ernennen (Greek Helsinki Monitor 1998; IHFHR 1999).
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man die Medien als Wirtschaftsunternehmen betrachtete. Dies konnte verhindern, dass Politik überhaupt Einfluss auf die Medienberichterstattung nimmt. In Anbetracht der eingangs geschilderten Ausgangskonstellation der verfassungspolitischen Initiative war es aber auch möglich, dass die „Opfer“ der Medienberichterstattung, nämlich PASOK-Funktionäre, danach streben würden, ihren Schutz gegenüber der Berichterstattung auszudehnen. Der letzte in der Ankündigung Papandreous erwähnte Problemkomplex war das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das gemäß dem Vorstoß Papandreous „geklärt“ werden sollte. Wie bereits erwähnt, war hierfür Art. 3 der Verfassung zentral, der festschrieb, dass die Religion der Östlich-Orthodoxen Kirche vorherrschende Religion in Griechenland sei, diese in ihrem Dogma untrennbar mit der Großen Kirche in Konstantinopel und jeder anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses verbunden bleibe, sie ihre Führung selbst bestimme und sich selbst verwalte. Die Verfassung deckte eine Einmischung des Staates in die inneren Angelegenheiten der griechisch-orthodoxen Kirche ab, doch ihrerseits nahm auch die Kirche faktisch Einfluss auf die Politik, da sie den erwähnten privilegierten verfassungsrechtlichen Status genoss und organisatorisch und finanziell stärker war als alle anderen gesellschaftlichen Organisationen140 (Zervakis 1999: 659, 661). Die erste PASOKRegierung hatte 1981 bereits die Trennung von Staat und Kirche sowie die Enteignung der Kirche in Aussicht gestellt, diesen Prozess aber aus Angst vor möglichen Risiken nie begonnen (Molokotos-Liederman 2003: 5). Inwieweit die Staat-Kirche-Beziehung nun geändert werden müsste, ließ Papandreou in seiner Ankündigung offen – im Gegensatz zu den anderen Punkten der Verfassungsänderung, deren Richtung zumindest angedeutet wurde. Hinsichtlich aller genannten Themenkomplexe ließen sich angesichts der innergriechischen Rahmenbedingungen also normative und/oder funktional-praktische Gründe für eine Änderung des Status quo finden. Außer bei der Stellung des Parlaments und dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche war aber fraglich, ob die Verfassung dafür unbedingt modifiziert werden musste, die jeweils Raum für unterschiedliche Ausgestaltungen ließ. Alle Themenkomplexe beinhalteten ohne konkreten Druck Machtfragen, wodurch der Initiator selbst ein gewisses Risiko schuf: Das für ihn vorteilhafte politische Machtgefüge konnte zwar ohne die Zustimmung von PASOK selbst nicht verschoben, aber immerhin öffentlich diskutiert und hinterfragt werden. Aufgrund der inhaltlichen Unbestimmtheit der Verfassungsinitiative waren ihre organisatorischen und rechtlichen Implikationen nicht abschätzbar. Hinsichtlich der Staatsverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung erfolgten bereits Reformen, die möglicherweise selbst Impulse für die spätere konstitutionelle Modifikation geben würden. Der prozedurale Ablauf einer Verfassungsänderung war in Griechenland (im Gegensatz zum kanadischen Fall) zwar grundsätzlich, aber durchaus nicht in allen Details klar. Mindestens 50 Abgeordnete konnten eine Änderung bestimmter Verfassungsklauseln initiieren. Beschloss das Parlament in zwei mindestens einen Monat auseinander liegenden Abstimmungen die Verfassungsänderung(en), so entschieden nach der nächsten Parlamentswahl die Abgeordneten in ihrer ersten Sitzungsperiode erneut über die einzelne(n) Verfassungsänderung(en). In mindestens einem der beiden Parlamente musste eine Dreifünftelmehrheit aller Abgeordneten zustande kommen, in der anderen genügte eine absolute Mehrheit. Eine Verfassungsänderung vor Ablauf von fünf Jahren nach dem Abschluss der vorhergehenden war unzulässig (GrVerf o.J: Art. 110). Unklar geregelt war der Umgang mit Änderungsvorschlägen, die nach Initiierung einer Verfassungsänderung im Laufe der 140 So verhinderte sie 1987 mit Massenkundgebungen, einem Boykott und der angedrohten Exkommunikation eines Ministers die Verstaatlichung und Neuverteilung von Teilen ihres Besitzes durch die PASOK-Regierung.
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3.2 Griechisches Fallbeispiel (1995)
Legislaturperiode eingebracht wurden, inwieweit der Wortlaut der zur Abstimmung stehenden Klauseln zwischen den Wahlgängen geändert und inwieweit die Abstimmung über Klauseln zusammengefasst oder getrennt werden konnte. Im griechischen Fallbeispiel traten die beteiligten konstitutionellen Vetospieler also nicht gleichzeitig auf und konnten daher nicht untereinander verhandeln, sondern sie mussten nacheinander tagen. Da die Ausprägung des zweiten Vetospielers vom Votum der Wähler in den Parlamentswahlen abhing, kannte der erste Vetospieler sie nicht, auch wenn eine gewisse Konstanz erwartbar war. Dieses Verfahren enthielt für die Akteure also ein spekulatives Element bzw. schuf ein großes Risiko. Die Fünfjahresregel machte es für die Regierungsmehrheit unmöglich, in einer Phase großer Popularität den ersten beiden Abstimmungen eine Parlamentsauflösung folgen zu lassen, um ein Ergebnis im eigenen Sinne zu fördern. Dies und die konsekutive Vorgehensweise waren darauf angelegt, einen möglichst breiten politischen Rückhalt für Verfassungsänderungen zu sichern. Zusammenfassend lässt sich für den griechischen Fall feststellen (Tab. 20), dass die inhaltliche Unbestimmtheit der Initiative einerseits die Erfolgsaussicht steigerte, weil sie große Gestaltungsspielräume versprach, andererseits aber auch andere Akteure dazu einladen konnte, gegen die Initiative aufzutreten. Kosten und Nutzen der Verfassungsänderungen konnten nicht kalkuliert werden, Risiken waren leicht erkennbar. Die mittelstarke Motivation des Initiators, für den die Umsetzung der Verfassungsänderungsidee kein prioritäres Anliegen war, ließ weder eine förderliche noch eine hemmende Wirkung erwarten. Die Verhandlungsmacht des Initiators war zwar zum Initiierungszeitpunkt groß,141 doch schien unter Berücksichtigung der institutionellen Vorgaben ungewiss, ob der Initiator auch in der für das Zustandekommen der Verfassungsänderung ebenfalls entscheidenden Abschlussphase noch verhandlunsgmächtig wäre. Insofern war ein gewisses Zugehen auf die größte Oppositionspartei durchaus zu erwarten. Grundsätzlich waren die potenziell erfolgshemmenden Faktoren recht schwerwiegend. Tabelle 20: Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall G Motivation des Initiators
Verhandlungsmacht des Initiators
Kooperationsvoraussetzung
Kosten/Nutzen für andere
erfolgsförderlich Agendasetzung, politische Stärke, Machterhaltungsfähigkeit, Vorhandensein glaubhafter Alternativen zur Verfassungsänderung, Breite an inhaltlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten, geringe Selbstbindung, geringe Ungeduld, geringes Risiko der Maßnahme, Wissens- und Organisationsvorsprung in der Vergangenheit artikuliertes Interesse anderer Akteure an einer Verfassungsänderung, inhaltliche Unbestimmtheit der Initiative bietet wenig Angriffsfläche inhaltliche Unbestimmtheit der Initiative eröffnet Spielräume für Gewinnmaximierungsversuche
erfolgshemmend -
Verhandlungsmacht im nachfolgenden Parlament unsicher
starke rhetorische Polarisierung zwischen den beiden größten Akteuren, potenzell hohe Zahl von Betroffenen nichtsubstanzielles Ziel der Initiative (PASOK-Reputationssteigerung) bietet Nutzen aus politischer Kampagne gegen die Initiative
141 Die geminderte Reputation der Regierung bzw. PASOKs schadete ihrer relativen Verhandlungsmacht nicht sehr.
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3 Der Start der individualistischen Phase
3.3 Irisches Fallbeispiel (2001)
Die zu untersuchende Initiative zur Änderung der irischen Verfassung stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Europapolitik der irischen Regierung, aber auch der Regierungen der anderen EU-Mitgliedsstaaten. Der politische und wirtschaftliche Systemwechsel in den sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas 1989/91 hatte der europäischen Integration einen starken Schub gegeben. Nicht nur drängten viele Transformationsländer auf eine institutionalisierte „Rückkehr nach Europa“; die Öffnung der Grenzen in Osteuropa, die weltweite Zunahme des Güter- und Warenverkehrs und transnationaler Unternehmungen schufen zudem einen ganz praktischen Problemdruck, beispielsweise hinsichtlich Migration, sozioökonomischer Unterschiede, Kriminalität und politischer Instabilität (Glaeßner/Lorenz 2005). Auf diesen Problemdruck reagierten die alten EG-Mitglieder zunächst mit verstärkten Integrationsmaßnahmen. Der Vertrag von Maastricht 1992, der die Europäische Union begründete, war ein Meilenstein der Integrationsgeschichte. Danach aber bestimmten unterschiedliche nationale Interessen zunehmend die verknüpfte Diskussion um die Vertiefung und die Erweiterung der Union. Zwar setzte sich die Auffassung durch, dass eine Reform der Entscheidungsverfahren innerhalb der EU eine unverzichtbare Voraussetzung für die politisch angestrebte Osterweiterung sei,142 doch konnten sich die Mitgliedstaaten nur schwer auf weitergehende institutionelle Reformen einigen. Der Vertrag von Nizza, auf den sich die irische Verfassungsänderungsinitiative bezog, regelte Bereiche neu, bei denen sich die vorangegangene Regierungskonferenz von Amsterdam nicht hatte einigen können. Dazu zählten die Zusammensetzung und die Entscheidungsprozesse der Gemeinschaftsorgane sowie andere Maßnahmen, die die Handlungsfähigkeit der Union verbessern und sie dadurch auf die geplante Osterweiterung vorbereiten sollten. Der am 26.02.2001 vom irischen Außenminister Brian Cowen (Soldaten des Schicksals, Fianna Fáil, FF143) unterzeichnete Vertrag veränderte also die formalen Mitwirkungsmöglichkeiten der einzelnen EU-Staaten und damit auch Irlands und ermöglichte eine vertiefte Kooperation (Vertrag von Nizza 2001). Der Premier der irischen konservativ-liberalen Koalitionsregierung, Bertie Ahern (Fianna Fáil), erklärte im Frühjahr 2001, er erwarte, dass die routinemäßige staatsanwaltliche Prüfung die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung ergeben werde, um den Vertrag in Irland ratifizieren zu können (O’Connor 2001a). Später wiederholte die Regierung indes mehrfach, auch gegenüber den EU-Partnern, es sei zunächst geplant gewesen, den Vertrag gemäß Art. 29 (6) nur vom Parlament ratifizieren zu lassen – ohne anschließendes Referendum (Statement by the Minister for Foreign Affairs 2001). Dieser Weg sei nur gewählt worden, weil Generalstaatsanwalt Michael McDowell, Parteigänger des kleinen Koalitionspartners Progressive Democrats (Progressive Demokraten, PD),144 sich an der bisherigen Praxis der Legitimation europäischer Verträge orientiert und eine Änderung der Verfassung empfohlen habe, die sich aus dieser Verfassung selbst nicht eindeutig als notwendig erschließe.
142 Dies schlug sich im Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union zum Amsterdamer Vertrag nieder sowie in einer zusätzlichen Erklärung Belgiens, Frankreichs und Italiens. 143 Im irischen Fall wird auf die Übersetzung der Parteinamen ins Deutsche verzichtet, sofern sie unüblich ist. 144 Der Generalstaatsanwalt ist nicht Mitglied der Regierung. Er wird vom Staatsoberhaupt auf Vorschlag des Premiers ernannt. Der 1999 ernannte McDowell war Jurist, gleichzeitig aber auch in hohen politischen Ämtern tätig: 1989 bis 1992 Chairman des kleinen Koalitionspartners Progressive Demokraten, mehrfach PDAbgeordneter, PD-Sprecher für Außenpolitik, Nordirland und Finanzen.
3.3 Irisches Fallbeispiel (2001)
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Referenzpunkt dieser Ratifizierungspraxis war ein Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 09.04.1987 im Fall Crotty vs. An Taoiseach (Premier). Dort hieß es, dass ein substanzieller Wandel der europäischen Verträge, der so in diesen nicht vorgesehen gewesen sei, einer neuen expliziten Erwähnung in der irischen Verfassung bedürfe, da die vor dem EGBeitritt im Jahr 1972 in Art. 29 (4) erteilte spezifische Zustimmung zur Integration ihn nicht mehr abdecke. Das Urteil bezog sich auf die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 bzw. die Überführung ihrer Inhalte in irisches Recht. Gleichzeitig führte der Oberste Gerichtshof aber auch aus, dass eine Weiterentwicklung der Gemeinschaft im EG-Vertrag bereits angelegt war und verwies damit auf Interpretationsspielräume (McMahon 1993: 148 ff.). Das gemäß dem Urteil notwendige Ratifizierungsverfahren bestand aus der Parlamentsbewilligung und einem anschließenden Referendum, wie sie für Verfassungsänderungen notwendig sind (Constitution of Ireland o.J.: Art. 15, 46, 47). Dieses Verfahren kam 1992 beim Maastricht-Vertrag, 1998 beim Vertrag von Amsterdam und 2001/02 beim Vertrag von Nizza zur Anwendung, wobei jeweils nicht gerichtlich geklärt worden war, ob die institutionellen Veränderungen tatsächlich die Qualität jenes im Urteil erwähnten substanziellen Wandels erreichten. Denn spätestens mit dem Vertrag von Maastricht war das Ziel der Finalität des Integrationsprozesses im EU-Vertragswerk festgeschrieben, alle Verträge hielten immer nur institutionelle Zwischenlösungen fest, „deren neuerliche Prüfung und Reform bereits die Agenda der folgenden Regierungskonferenzen bildet[e]“ (Wagner 1999: 415). Die irische Verfassungspraxis lenkte aber die Aufmerksamkeit auf das in der Vergangenheit genutzte Ratifizierungsverfahren. Generalstaatsanwalt McDowell bewertete den Vertrag von Nizza als eine substanzielle europarechtliche Neuerung, die den Rahmen der in den bestehenden Europaverträgen vorgesehenen Entwicklungsmöglichkeiten überschritt und insofern einer Änderung der irischen Verfassung bedürfte (HoO 2001b: 11).145 War die Regierung zunächst in einer Mischung aus Routine146 und Vorsicht der Vorgabe gefolgt (Staunton 2001a), so schien es nach dem am 07.06.2001 gescheiterten ersten irischen Referendum zum Nizza-Vertrag politisch unmöglich, dessen Ratifizierung ohne die Zustimmung der Bevölkerung nun parlamentarisch durchzusetzen und dabei noch zu riskieren, dass der Hohe Gerichtshof bzw. der Oberste Gerichtshof nach der sehr wahrscheinlichen Klage von Antiintegrationsaktivisten das Verfahren für verfassungswidrig erklären könnte. Dass die Regierung formal keinen neuen Verfassungsänderungsentwurf vorlegte, war lediglich dem Wunsch geschuldet, das künftige Referendum nicht durch voreilige Schritte zu gefährden, denn die Verhandlungsmacht der Regierung war nicht sehr groß147 und die Zustimmung der anderen Akteure zum Vorhaben schien gerade nach der ersten Ablehnung durch die Bevölkerung, die die politischen Parteien geschockt hatte, unsicher (O’Brennan 2003b: 5). Eindeutig hielt die irische Regierung aber weiter an ihrer 145 Möglicherweise wurde die Empfehlung durch die zeitgleichen kritischen Einlassungen der Parteispitze der Progressiven Demokraten zur EU-Politik gefördert; dies lässt sich aber nicht nachweisen. 146 Auch für die Umsetzung internationaler Vereinbarungen zur Abschaffung der Todesstrafe und zum Internationalen Strafgerichtshof 2001 hatte der Generalstaatsanwalt formale Verfassungsänderungen empfohlen; bei anderen Verfassungsreferenden, so zur Vertraulichkeit von Kabinettssitzungen, zum Schutz ungeborenen Lebens oder zur Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte waren Urteile des Obersten Gerichtshofs inhaltlich maßgeblich gewesen (vgl. Gallagher 1999: 84 ff.). 147 Im Unterhaus hatte Fianna Fáil 75 Sitze. Da Fine Gael (54) und Labour (21) zusammen auf dieselbe Zahl kamen, koalierte sie mit der liberalen PD (4). Andere verfügten über 12 Mandate. Für weitere Indikatoren siehe Tab. 22 am Ende des Kapitels 3.3.
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3 Der Start der individualistischen Phase
Zielsetzung der Vertragsratifizierung fest und verdichtete trotz des gescheiterten Referendums im Frühjahr 2001 weiter ihre verfassungspolitischen Überlegungen und Maßnahmen. Ähnlich wie in Kanada sollte der Entwurf der Verfassungsänderung erst formal initiiert werden, als ein Großteil der Aushandlungsgespräche bereits stattgefunden hatte: Am 26.06.2002 brachte der Außenminister die Vorlage im Repräsentantenhaus ein. Die verfassungspolitische Motivlage der Regierung war klar am Tagesgeschäft der „normalen“ Europapolitik ausgerichtet;148 es ging ihr um die formale Legitimierung eines Vertrags, über den sie auf europäischer Ebene seit Beginn der Regierungskonferenz im Februar 2000 verhandelt hatte und in dem sie die nationalen Interessen des damals zweitkleinsten EU-Mitgliedsstaates angemessen gewahrt sah. Sie strebte daher (auch vor dem gescheiterten Referendum) nicht an, die Ratifizierung des Nizza-Vertrags mit einer allgemeiner gehaltenen Ermächtigung zu europapolitischen Entscheidungen des Staates bzw. einer vereinfachten Ratifizierung künftiger EU-Vertragsänderungen zu verknüpfen, obwohl sich dies durchaus angeboten hätte. Nicht nur das Verfahren, auch die Formulierung der Vierundzwanzigsten Verfassungsänderung, die am 07.06.2001 im Referendum gescheitert war und die die Präferenzen der Regierung am Anfang der Aushandlung abbildet, orientierte sich an dem beim Vertrag von Amsterdam 1998 gewählten Muster: In Art. 29 der Verfassung sollte eingefügt werden, dass der Staat den Vertrag von Nizza ratifizieren darf sowie dass er die Optionen und Rechte (discretions), die ihm auf Grund oder gemäß der Artikel 1.6, 1.9, 1.11, 1.12, 1.13 und 2.1 des genannten Vertrags zustehen, nach eigenem Gutdünken ausüben darf, sofern beide Parlamentskammern vorher zugestimmt haben.149 Was den Bezugspunkt der Verfassungsänderung, nämlich den Vertrag von Nizza, anging, so orientierten sich die Koalitionsparteien Fianna Fáil und Progressive Democrats an der Diskussion, den Entscheidungskriterien und Bewertungen, die bei der Aushandlung des Vertrags von Nizza selbst eine besondere Rolle gespielt hatten, richteten sich also vorrangig auf die europäische Ebene sowie die des irischen Staates, nicht aber die seiner Bürgerinnen und Bürger. Im Vergleich zu den Initiatoren verfassungspolitisch relevanter Maßnahmen in den drei anderen Fällen waren aber die vorgebrachten Begründungen umfassender. Außenminister Cowen begründete die Notwendigkeit der Verfassungsänderung v.a. damit, dass die Maßnahmen des Nizza-Vertrages ein effektives Funktionieren der Europäischen Union auch bei einer größeren Anzahl von Mitgliedern ermöglichten und sie damit auf die Erweiterung vorbereiteten. Der historische Erfolg der EU bei der Schaffung von Frieden, Stabilität und Wohlstand eröffne die Chance, die beitrittswilligen Osteuropäer einzubeziehen, während eine Ablehnung des Vertrages die antidemokratische Kräfte fördern und den Wirtschaftsaufbau der Kandidatenländer erschweren würde. Irland habe ein zentrales Interesse an der Erweiterung (und damit am Vertrag), denn kleine Staaten profi148 Dass die Regierungsparteien lediglich an einer routinemäßigen Ratifizierung des Nizza-Vertrags interessiert waren, verdeutlichte neben dem angestrebten Wortlaut die Zusammenlegung des ersten Nizza-Referendums mit anderen Volksabstimmungen, während das ebenfalls geplante Referendum zur Abtreibungssproblematik wegen des „sensiblen Themas“ (Ahern) separat stattfinden sollte (O’Connor 2001a). 149 Im beigefügten Memorandum wurde erläutert, die zweite Einfügung sei notwendig, um dem Staat ausreichend Macht zu übertragen, damit er die konkret benannten, im Vertrag von Nizza vorgesehenen Optionen und Rechte ausüben könne, sollte er sich dazu entschließen (Twenty-Fourth Amendment 2001: 6). Die Ergänzung zusätzlich zur einfachen Ratifizierungserlaubnis hatte der Generalstaatsanwalt erstmals beim Vertrag von Amsterdam der Regierung empfohlen. Er begründete ihre Notwendigkeit damit, dass ansonsten eine intolerable Unsicherheit hinsichtlich der Fähigkeit des Staates entstehen könnte, die Flexibilitätsregelungen des Vertrags zu implementieren und die in den Verhandlungen gesicherten Öffnungsklauseln zu nutzen (HoO 1998).
3.3 Irisches Fallbeispiel (2001)
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tierten generell von einer geregelten internationalen Ordnung, und die offene irische Wirtschaft gewänne besonders von der Vergrößerung des gemeinsamen Marktes auf 550 Mio. Menschen. Daneben betonte Cowen, Irland sollte solidarisch sein mit den Beitrittsländern und deren Bürgern, denn sie benötigten Hilfe in einer Situation, die der Irlands bei Beitritt in die EG 1973 sehr ähnelte. Das Land habe erheblich von der EG/EU profitiert, ökonomisches Wachstum und soziale Fortschritte seien nur durch deren Unterstützung möglich gewesen. Eine öffentliche Zustimmung stärkte nach Fianna-Fáil-Sicht außerdem Irlands internationalen Ruf (HoO 2001a: 12-17). Hinsichtlich der eigentlichen Vertragsinhalte hieß es, Irland sei an effektiven Institutionen und Entscheidungsmechanismen der EU interessiert. Dazu gehöre die Einführung von Mehrheitsbeschlüssen in 30 neuen Bereichen. Die ermöglichte vertiefte Kooperation verhindere, dass ein Staat Vorschläge zum Vorteil der Union blockiere. Da der Vertrag keinen weiteren Kompetenztransfer an die EU festschreibe und die Einstimmigkeit in Steuerfragen beibehalte, steigere er nicht nur die Entscheidungseffizienz, sondern schütze gleichzeitig die irischen Interessen. Ungeachtet des absehbaren Verlustes eines eigenen ständigen Kommissars infolge der Einführung einer Rotation der Kommissionssitze ab 27 Mitgliedsstaaten und der Veränderung der irischen Stimmengewichte in Rat und Parlament handelte es sich aus Sicht der Regierung um ein gutes Gesamtpaket. Irlands Stimmengewicht sei immer noch groß, gemessen an seinem Bevölkerungsanteil. Die Notwendigkeit der Zustimmung der Mehrheit der EU-Bevölkerung stelle einen weiteren Schutz dar. Sicherheitspolitisch sei Irlands Interesse an einer stabilen und inklusiven Sicherheitsumgebung im Rahmen von EU und UN gedient. Die Kapazitäten der EU zu humanitärer Hilfe und Krisenmanagement trügen dazu bei, verletzten aber nicht die Neutralität, weil jede Beteiligung eine souveräne Entscheidung Irlands bliebe. Der Nizza-Vertrag ändere die Regelungen von Amsterdam dazu nicht wesentlich, sondern mache sie nur sichtbarer und kohärenter (HoO 2001a: 12-17). Auch der liberale Koalitionspartner Progressive Democrats argumentierte besonders im Hinblick auf die EU-Osterweiterung, die durch den Vertrag von Nizza ermöglicht werde. Sie böte die Chance für eine friedliche und demokratische Entwicklung der Beitrittsländer und damit auch für Sicherheit und Frieden in Europa insgesamt. Die PD betonte stark, dass Irland von der Hilfe und Solidarität Europas selbst profitiert habe, ein Modell für die Integrationskraft der europäischen Idee sei und die Zustimmung zum Vertrag Solidarität und Großzügigkeit bedeute. Die EU-Erweiterung brächte aber auch ökonomische Vorteile für die alten Mitgliedstaaten, insbesondere neue Märkte. Ohne Veränderung der Entscheidungsfindungsprozesse in der EU sei dies nicht möglich. Die Verhandlungsergebnisse von Nizza seien balanciert und fair. Das beibehaltene Veto in der Steuerpolitik und die Erhaltung der souveränen Entscheidung bei Militäreinsätzen zeigten, dass eine Ratifizierung des Vertrags nicht die Aufgabe nationaler Souveränität bedeute. Nizza verwandle die EU auch nicht in eine Militärallianz (HoO 2001j: 4-8). Trotz der für die Ratifizierung des Vertrags notwendig erscheinenden Minimalversion der Verfassungsänderung berührte das Vorhaben mehrere Problemkomplexe. Dies waren zunächst die Demokratiequalität der Europäischen Union, die EU-Osterweiterung, die Verknüpfung von Erweiterung und innerer Reformierung der EU sowie der Komplex der Repräsentation auf EU-Ebene bzw. des Machtverhältnisses zwischen den Staaten auf EUEbene. Diese Themen spielten – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung und mit verschiedenen Schlüssen – auch in den anderen EU-Staaten eine wichtige Rolle. Bei drei weiteren betroffenen Problemkomplexen unterschied sich die irische Politik deutlich von derjenigen anderer EU-Länder: die militärische Neutralität, die Abtreibungsproblematik und
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3 Der Start der individualistischen Phase
die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Diese Problemkomplexe waren entweder von der Verfassungsänderungsintiiative berührt oder besaßen das Potenzial, die Entscheidungsfindung und den Gang der Aushandlungen zu beeinflussen. Im Hinblick auf ihre Demokratiequalität hatte die Europäische Union objektive Probleme, die der Vertrag von Nizza nicht auflöste: das unklare Kompetenzverhältnis zwischen Mitgliedstaaten und der EU sowie zwischen den EU-Organen, damit unklare Verantwortlichkeiten, Legitimation, Transparenz, Kontrolle und Partizipation (Melissas/Pernice 2002). Es existierte ein latenter Grundkonflikt zwischen Effizienz der Entscheidungsfindung innerhalb der EU, die durch den Nizza-Vertrag erhöht werden sollte, und Partizipation, die mit ihm weiter gesenkt wurde (Tsatsos 2002: 12). Das zeigte sich auch bei der intergouvernementalen Form der Vertragsaushandlung selbst, bei der in Irland (aber auch anderswo) Bürgerbeteiligung keine Rolle spielte. Befürworter der Integration bewerteten die Demokratieprobleme vor allem als Übergangsprobleme, an deren Behebung man arbeite, wie die Deklaration zur Zukunft der Union nach Nizza selbst erkläre. Der normative Konflikt vermischte sich in der Praxis oft mit unterschiedlichen Bewertungen dessen, was realistisch an alternativen Kompromissen erreichbar wäre, insbesondere für einen kleinen Staat wie Irland.150 Zusätzlich war die Positionierung auf der „Partizipation-Effizienz-Achse“ überlagert durch die politische Entscheidung entweder für das prioritäre Ziel der Vertiefung oder der Erweiterung der EU, die wiederum mit ganz anderen, eingangs dieses Kapitels erwähnte Erwägungen verbunden war (Stabilität, Kriminalitätsbekämpfung, Migration). Besonders bei Themen, die individuell Priorität genossen, wurde die Verknüpfung infrage gestellt. So hatte sich die irische Regierung in Nizza gegen die Pläne der größeren Staaten zur Verkleinerung der Kommission gewandt und gefordert, sich mit den Folgen der EU-Erweiterung für die interne Handlungsfähigkeit erst zu befassen, nachdem sie tatsächlich erkennbar seien. Weitreichende institutionelle Neuerungen wie die Kommissionsverkleinerung sollten nicht auf Basis von Spekulationen verabschiedet werden (Lee/Creed 2004: 178). Die Gegenargumentation lautete traditionell, dass eine erweiterte, aber nicht innerlich reformierte (im Sinne effizienter agierende) EU de facto handlungsunfähig wäre. Auch unterschiedliche Repräsentationsvorstellungen wurden oft unter dem Stichwort der Demokratiequalität diskutiert und überlagerten die Positionierung in den genannten Problemkomplexen. Gegenüber standen sich hier die konfligierenden Ideale einer Union gleicher Staaten, des bisherigen, auf Jean Monnet zurückgehenden Modells, sowie einer Repräsentation gemäß Bevölkerungsanteil. Gemäß dem ersten Ideal konnte man kritisieren, das mit dem Nizza-Vertrag geänderte Prinzip erlaube es den großen Staaten, die kleinen zu dominieren. Interessanterweise überschnitten sich hier die Argumentationen der eigentlich basisdemokratisch (also an den Bürgern) ausgerichteten irischen Parteien, z.B. der Grünen, mit den nationalistischen Kräften. Umgekehrt hatten sich in Nizza die Anhänger effizienter Entscheidungsverfahren, die eine Blockade der großen EU-Staaten mit ihrer Bevölkerungsmehrheit durch Kleinstaatenkoalitionen befürchteten und daher eine Berücksichtigung des jeweiligen Bevölkerungsanteils favorisierten, unintendiert dem Partizipationsgedanken geöffnet.
150 Premier Ahern unterschied zwischen dem theoretischen Konstrukt von Souveränität und der „echten Souveränität“ des irischen Volkes, die berücksichtigen müsse, wie man die grundlegenden nationalen Interessen und das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen des Volkes am besten sichere und fördere. Er sei davon überzeugt, dass Irland durch seine „konsequente nationale Politik gegenüber der EU in den letzten dreißig Jahren“ seine „echte Souveränität viel besser gefördert“ habe, „als es durch Abseitsstehen möglich gewesen wäre“ (Ahern 2001a).
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Die Positionierungen hingen aber auch davon ab, wie die Bedeutung der verschiedenen EU-Organe bewertet bzw. gewichtet wurde. Traditionell betrachteten die irischen Parteien die Kommission als wichtigstes Instrument zur Interessenmediation auf EU-Ebene, die verhindern sollte, dass die großen die kleinen Staaten dominieren. Die Nizza-Konferenz einigte sich nach langen Verhandlungen auf eine Verkleinerung zunächst nur zulasten der großen Staaten, die bislang zwei Kommissare gestellt hatten (und die dafür einen Ausgleich bei den anderen Neuerungen erhielten), und strebte ab einer Erweiterung der EU auf 27 Mitglieder die Auswahl der Kommissionsmitglieder nach dem Rotationsprinzip an. Von den Repräsentationsänderungen in Nizza wurde der bevorstehende Verlust eines ständigen Kommissars für Irland als wichtigste Verschlechterung seines formalen politischen Gewichts innerhalb der EU bewertet, zumal die Befugnisse des Kommissionspräsidenten erweitert wurden. Gemessen am irischen Anteil an der Gesamtbevölkerung der EU, schien der irischen Regierung die im Vertrag von Nizza vorgesehene Reduktion von 15 auf 12 Sitze im Europäischen Parlament ab der Europawahl im Juni 2004 und das geänderte Stimmengewicht im Ministerrat von 3 aus 87 (3,5 Prozent) zu 7 aus 237 (3 Prozent) ab dem 01.01.2005151 akzeptabel. In diesen Fragen war sie in Nizza zugunsten eines Kompromisses im Großen relativ flexibel aufgetreten. Sie bezeichnete die neue institutionelle Kräfteverteilung innerhalb der EU als weiterhin gleichgewichtig, vor allem die zentrale Rolle der Kommission, die den kleinen Ländern zugute komme, sei erhalten geblieben (Ahern 2001b). Aufgrund der unterschiedlichen Interessen, Wahrnehmungen und Gewichtungen waren die entsprechenden politisch-institutionellen Reformen auf EU-Ebene so umstritten und nur schwer zu erreichen. Der Kompromiss bestand darin, dass die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen im Rat (anstelle der Einstimmigkeitsregel) den Einfluss des einzelnen EU-Staates schmälerte, insbesondere der kleinen, die irische Regierung aber gemeinsam mit anderen durchsetzte, dass sie neben einer demographisch orientierten Zustimmung (Regierungen der Länder, die mindestens 62 Prozent der Bevölkerung repräsentieren) und der qualifizierten Mehrheit der Stimmen im Rat auch einer Befürwortung durch die Mehrheit der Staaten bedurften (Lee/Creed 2004: 178f., 181). Genau solche Kompromisse und Sonderregelungen in sensiblen Politikfeldern führten aus Sicht von Kritikern dazu, dass mit dem Vertrag von Nizza weder das Ziel der Effizienz- noch das der Demokratieverbesserung angemessen erfüllt wurden (Tsatsos 2002). Der vierte von der Verfassungsänderung betroffene Problemkomplex war die militärische Neutralität Irlands. Die irischen Regierungen folgten traditionell dem Neutralitätspostulat, das nicht in der Verfassung festgeschrieben, aber in der Bevölkerung tief verwurzelt war und zum irischen Selbstverständnis gehörte. Zwar entsandte Irland eigene Soldaten für internationale UN-Friedenstruppen, doch die 1996 von der Regierung aus Fine Gael und Labour befürwortete Beteiligung am NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden für europäische Nicht-NATO-Mitglieder sowie die Beteiligung eigener Streitkräfte am NATOgeführten SFOR-Einsatz in Bosnien lösten eine starke politische Debatte aus (Sloan 1996). Trotz ihrer anfänglichen Ablehnung dieser Politik und des Versprechens, vor einem eventuellen Beitritt zum Partnerschaftsprogramm ein entsprechendes Referendum durchzuführen, behielt Fianna Fáil nach ihrem Wahlsieg 1997 diesen Kurs bei. 1999 schloss sich Irland – ohne vorheriges Referendum – dem NATO-Partnerschaftsprogramm an. Die Regierung lehnte aber eine volle Mitgliedschaft weiter ab und stand der Schaffung einer europäischen Verteidigungspolitik skeptisch gegenüber. 151 Einen guten Kurzüberblick über Verhandlungen, wichtigste Streitpunkte und Ergebnisse gibt Giering 2004.
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Leitend für Irland blieb auch in den 1990er Jahren immer die UNO (Elvert 1999: 279; Weber 2004: 7). Daher wurde bereits in Art. J.4 des Maastricht-Vertrags festgeschrieben und in Amsterdam beibehalten (Art. J.7), dass die Politik der Union nicht „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ berühre. Aufgrund der internationalen politischen Entwicklung und der innerhalb der EU vereinbarten „Petersberg-Aufgaben“152 fiel es der Koalitionsregierung aus Fianna Fáil und Progressiven Demokraten aber schwer, die irische Neutralität aufrechtzubehalten bzw. (neu) zu definieren, wo die Grenze zu militärischen Einsätzen lag. Im ersten öffentlichen Positionspapier zur Verteidigungspolitik überhaupt argumentierte sie, die militärische Neutralität behindere nicht die Nutzung der Verteidigung als geeignetes Mittel der internationalen Politik der UN und im Kontext der EU, speziell der Regelungen im Vertrag von Amsterdam. Die EU-Verträge beinhalteten keine gegenseitigen Sicherheitsgarantien, sondern entfalteten eine sicherheitspolitische Wirkung nur im Sinne politischer Solidarität. Gleichzeitig wurde explizit anerkannt, dass es zur schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik kommen könne, wie in Art. 17 I des EU-Vertrags deklariert (White Paper on Defence 2000: 1.3.7, 2.2.4). In den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza wandte sich die irische Regierung erfolgreich gegen eine Ausdehnung der verstärkten Zusammenarbeit auf Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen (Art. 27b); die erwähnte Klausel zum Verhältnis der EU-Politik zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Staaten wurde beibehalten (Art. 17). Grundsätzlich bewirkte die Streichung mehrerer Klauseln in Art. 17 des EU-Vertrags eine Integration der WEU in die Europäische Union und bestätigte noch einmal die Möglichkeit einer schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, falls der Europäische Rat dies einstimmig beschlösse und die Mitgliedsstaaten den Beschluss annähmen. Dies muss bei der Interpretation der Gemeinsamen Schlusserklärung berücksichtigt werden, die besagte, dass das Inkrafttreten des Vertrags von Nizza keine Voraussetzung für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik darstellte. Sie war es nicht, weil Art. 17 I des EU-Vertrags die Begründung einer solchen unter bestimmten Bedingungen bereits erlaubte (Thym 2001). Schon auf dem Gipfel von Helsinki 1999 war unter den bestehenden Regelungen die Einrichtung der Schnellen Eingreiftruppe beschlossen worden, die je nach Definition von „Neutralität“ durchaus als kollidierend mit dieser interpretiert werden konnte (Keohane 2001, O’Brennan 2003b: 6). Dieser Entwicklung schob der Vertrag von Nizza keinen „Riegel vor“. Obgleich der Vertrag von Nizza nichts mit dieser Problematik zu tun hatte, stand selbst die Abtreibungsproblematik in potenzieller Verbindung mit dem Aushandlungs- und Entscheidungsprozess, denn sie beeinflusste die grundsätzliche Einstellung zur europäischen Integration. Vor dem Hintergrund einer starken Verwurzelung des katholischen Glaubens in der Bevölkerung richteten sich die Befürchtungen auf einen von der europäischen Integration ausgelösten „Verfall der Werte“ sowie eine Unterwanderung irischer Regelungen durch europäisches Recht und „Abtreibungstourismus“. Allein vier von 25 Verfassungsänderungsreferenden hatten zuvor diese Materie berührt. Besonders im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag war öffentlich die Befürchtung artikuliert wor152 Vereinbart wurde die Möglichkeit gemeinsamer humanitärer Missionen und Rettungseinsätze, friedenserhaltender Aufgaben sowie von Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen innerhalb der WEU im Vorfeld des Vertrags von Maastricht. Sie ging dann in die europäischen Verträge ein (Art. J.7: 2 im Vertrag von Amsterdam, Art. 17 [2] im Vertrag von Nizza).
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den, dass durch die Abgabe von Souveränitätsrechten die rigideren irischen Regelungen153 nicht mehr ausreichend vor dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes geschützt wären (McMahon 1993: 153 ff.; Foley/Lalor 1995: 257 ff.). Ähnlich wie bei der Neutralitätsproblematik hatten die irischen Regierungen hier immer auf der Verankerung von Sonderklauseln für Irland bestanden, die aber mit der Realität einer integrierten Union kollidierten und unterlaufen werden konnten. Die anderen EU-Staaten unternahmen ihrerseits explizit nichts, um eine irische Sonderstellung besonders zu stärken, weshalb der Grundsatzkonflikt bestehen blieb.154 Abtreibungsgegner, die bereits diese Rechtslage problematisch fanden und den aktiven Schutz ungeborenen Lebens durch den Staat aufgeweicht sahen, befürchteten ähnlich den Neutralitätsanhängern mit jedem neuen europäischen Vertrag einen weiteren irischen Souveränitätsverlust, der im umfangreichen und schwer verständlichen EU-Vertragswerk unkenntlich gemacht worden sein können und möglicherweise erst nach der Ratifizierung in seiner ganzen Wirkung bemerkt werde. Die Kultur des Schutzes ungeborenen Lebens wurde als Element einer spezifischen nationalen Identität verstanden, die durch eine Souveränitätsabgabe an gesichtslose Menschen auf der europäischen Ebene verlorenzugehen drohe (De Brédún 2001). In den und um die Verfassungsreferenden zeigte sich eine wachsende Politisierung ethisch-religiöser Themen, die ein großes Mobilisierungspotenzial besaßen. Dass die Aktivisten sich dabei jenseits der großen Parteien engagierten, die sich traditionell als sozialstrukturell übergreifende Allerweltsparteien präsentierten und keine tiefgreifenden programmatischen Unterschiede aufwiesen (Sinnott 1995: 295; Farrell 1999: 45; Gallagher 1999: 80), konnte zu unerwarteten Effekten führen, die sich aus der Entscheidungssubstanz selbst nicht ableiten ließen.155 Für die konservativ-liberale Regierung unter Premier Ahern spielten diese normativen Erwägungen und Unsicherheitsgefühle in Nizza keine Rolle. Ihr prioritäres Ziel hatte darin bestanden, eine Ausdehnung der geplanten qualifizierten Mehrheitsentscheidungen auf die Steuerpolitik zu verhindern. Dass sie gemeinsam mit der britischen Regierung die nationale Souveränität in der Steuerpolitik gerettet habe, betrachtete sie als ihren zentralen Verhandlungserfolg. Solche Integrationszurückhaltung in bestimmten Politikfeldern war schon 153 Seit der Verfassungsänderung von 1983 war in Art. 40 (3) verankert, dass der Staat das Recht des ungeborenen Lebens mit gebührender Rücksicht auf das Leben der Mutter anerkennt und sich in seinen Gesetzen verbürgt, dieses Recht zu achten und, soweit dies durchführbar ist, es zu verteidigen und zu schützen. 154 Aufgrund der Befürchtungen setzte sich die damalige Fianna-Fáil-/PD-Minderheitsregierung erfolgreich für eine Klausel im 17. Zusatzprotokoll zum Maastricht-Vertrag ein, dass die europäischen Verträge nicht die Anwendung der irischen Verfassungsvorschriften zum Schutz ungeborenen Lebens berühren. Gleichzeitig erklärten die EU-Vertragsparteien aber zur Rechtsauslegung, dass durch dieses Protokoll nicht die Freiheit eingeschränkt werden solle, zwischen den Mitgliedstaaten zu reisen oder unter Bedingungen, die vom irischen Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht gegebenenfalls festgelegt werden, in Irland Informationen über rechtmäßig in anderen Mitgliedstaaten angebotene Dienstleistungen (gemeint war die Möglichkeit einer Abtreibung) zu erhalten oder verfügbar zu machen (Vertrag über die Europäische Union 1992). Diese Klauseln wurden im Dezember 1992 in Irland als Verfassungsänderungen beschlossen. Ergänzt wurde, dass der Schutz ungeborenen Lebens weder die Reisefreiheit zwischen Irland und einem anderen Staat noch die Freiheit beschränken dürfe, in Irland (gemäß den gesetzlichen Bestimmungen) Auskünfte zu erhalten oder verfügbar zu machen, die sich auf in einem anderen Staat legale Dienstleistungen beziehen. 155 So wurde mit Mary Robinson überraschend die erste von Labour nominierte (danach aber politisch unabhängig auftretende) irische Präsidentin gewählt, weil die Wertorientierung die Parteienaffinitäten kreuzte. Dies reflektierte von den Parteien wenig aufgegriffene säkular-konfessionelle Konflikte (Hardiman/Whelan 1994: 185f.; Sinnott 1995: 278; Farrell 1999: 45).
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3 Der Start der individualistischen Phase
vorher typisch für die irischen Verhandlungspartner auf EU-Ebene. Bereits beim Vertrag von Amsterdam bestand die irische Seite – wie das Vereinigte Königreich – in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik auf einer staying-out-/opting-in-Option, hielt sich also deren weitere Vergemeinschaftung offen. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament 1999 wurde Fianna Fáil sogar führendes Mitglied der (heterogenen) Unabhängigen für das Europa der Nationen, der Fraktion konservativer, nationalistischer und europaskeptischer Parteien im Europäischen Parlament. Ein wichtiger Grund für die Integrationszurückhaltung war die Insellage an der westlichen Peripherie, die einen geringeren Problemlösungsdruck in den eingangs genannten Bereichen erzeugte als in anderen EU-Staaten. Im Falle der Steuerpolitik kamen eine abweichende wirtschafts- und finanzpolitische Programmatik der Regierungsparteien, die große Bedeutung US-amerikanischer Investoren für die irische Wirtschaft und innenpolitische Erwägungen hinzu. Die niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank156 steigerten den durch das anhaltend starke irische Wirtschaftswachstum157 erzeugten Inflationsdruck. Fiskalpolitische Gegenmaßnahmen wären nur durch einen Bruch mit dem Sozialpakt möglich gewesen, was für die Regierung nicht infrage kam, da die gesellschaftliche Mehrheit den seit 1987 alle drei Jahre erneuerten Pakt zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften, der lohn- und steuerpolitische Übereinkünfte beinhaltete, als Garanten von Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit betrachtete (Lee/Creed 2004: 174 ff.). Infolgedessen hatte Irland im Jahr 2000 mit einer Inflationsrate von 6 Prozent die Richtlinien der Stabilitätsprogramme (ECB o.J.) verletzt und von Kommission und ECOFIN-Rat die erste seit Maastricht verhängte Rüge erhalten, verbunden mit der Aufforderung, die Wirtschaftspolitik zu ändern. Dies wurde vom konservativen Finanzminister Charlie McCreevy, der liberalen Vizepremierministerin Mary Harney und anderen Politikern der Regierungsparteien scharf als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Irlands zurückgewiesen.158 Besonders die Liberalen verwiesen auf die stärkere Verwandtschaft der irischen mit der dynamischen US-amerikanischen Wirtschaftsund Finanzpolitik (O’Toole 2001; Lee/Creed 2004: 176f.; Brennock 2001). So komplex der sachpolitische Problemhorizont und so stark die mögliche Interdependenz mit Materien, die in keinem konkreten Sachzusammenhang mit Nizza standen (Abtreibung, Neutralität), so schmal war der Aushandlungsspielraum der verfassungsändernden Akteure in Irland selbst. Es gab zwar Alternativen zum gescheiterten Ratifizierungsentwurf der Regierung, doch jede Änderung am Vertrag von Nizza selbst bedurfte der Neuverhandlung oder zumindest Abstimmung mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Relativ beschränkt war auch der zeitliche Spielraum. Denn da die erste Erweiterungsrunde bereits für 2003 angestrebt wurde, planten die EU-Staaten eine Ratifizierung bis Ende 2002. Der Vertrag von Nizza konnte erst in Kraft treten, sofern ihn alle 15 EU-Staaten ratifiziert hatten, genauer am ersten Tag des zweiten Monats nach Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunde (Europäische Kommission 2002). Die anderen EU-Staaten beeilten
156 Irland übertrug 1999 gemeinsam mit zehn anderen EU-Staaten die Zuständigkeit für die Geldpolitik an die Europäische Zentralbank. 157 Das BIP wuchs zwischen 1994 und 2000 um 10 Prozent pro Jahr – das Dreifache des EU-Durchschnitts. Die Arbeitslosigkeit sank von ca. 18 auf weniger als vier Prozent, und das Pro-Kopf-Einkommen erreichte im Jahr 2000 den EU-Durchschnitt. 158 In Irland wurde interpretiert, der kleine Staat habe auf EU-Ebene in einer entscheidenden wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklungsphase als Präzedenzfall gedient, um präventiv abzuschrecken und andere, größere Staaten wie Italien verurteilen zu können, sollten sie die Richtlinien missachten (Lee/Creed 2004: 174 ff.).
3.3 Irisches Fallbeispiel (2001)
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sich zwar ihrerseits nicht, den Vertrag zu ratifizieren, doch blockierte ein fehlendes irisches „Ja“ potenziell den ganzen Nizza-Prozess und gefährdete den Zeitplan der EU-Erweiterung. Formal ergab sich aus der Entscheidung für eine Ratifizierung per Verfassungsänderung das Verfahren, zunächst eine entsprechende Gesetzesvorlage einzubringen. Dies konnten nur Mitglieder des irischen Abgeordnetenhauses, wobei Premier, stellvertretender Premier und Finanzminister selbst Mitglieder dort sein müssen und faktisch der Großteil der Regierung dem Parlament angehört. Die Vorlage musste durch das Unterhaus und den Senat verabschiedet werden oder als verabschiedet gelten; dazu reichte in beiden Parlamentskammern die Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder (mit Ausnahme des Präsidenten oder des den Vorsitz führenden Mitgliedes). Bei Stimmengleichheit würde die Stimme des Präsidenten oder des Vorsitzenden entscheiden (Elvert 1999: 259). Der Senat konnte die Verfassungsänderung nicht ablehnen, sondern ihre Beschlussfassung allenfalls um maximal 90 Tage aufschieben.159 Anschließend musste die Verfassungsänderung im Referendum gebilligt werden. Dazu reichte es aus, wenn ihr die Mehrzahl der Teilnehmer zustimmte, denn ein Quorum gab es nicht. Im irischen Fallbeispiel gab es also mit dem Abgeordnetenhaus und den Referendumsteilnehmern als Kollektiv zwei starke konstitutionelle Vetospieler. Das Parlament konnte mit den Referendumsteilnehmern zwar kommunizieren, aber schwer verhandeln – nicht nur aufgrund der auf europäischer Ebene bereits festgelegten Inhalte des NizzaVertrags, sondern auch aufgrund der uneinheitlichen Interessen der Wahlbevölkerung, die als solche nur punktuell und ungebunden in Erscheinung trat. Dieses spekulative Moment gewann angesichts des Umstands an Bedeutung, dass in den irischen Referenden aufgrund der niedrigen Beteiligung jeweils nur 30 bis 40 Prozent der Wahlberechtigten über das Schicksal der Verfassungsänderungen entschieden.160 Resümiert man die Ausgangsposition der irischen Verfassungsänderungsinitiative, so war die Verhandlungsmacht des Initiators gegenüber den anderen Akteuren (darunter die Bürger als Kollektivakteur im Referendum) mittelstark ausgeprägt und wirkte sich daher neutral auf den nachfolgenden Prozess aus.161 Auch die Kooperationsvoraussetzungen ließen sich nicht eindeutig als förderlich oder hemmend bewerten. Dasselbe galt für Kosten und Nutzen der Verfassungsänderung für andere irische Akteure. Der Problemhorizont und die betroffenen Materien waren so komplex, dass „Gewinne“ und „Verluste“ sich nicht intersubjektiv eindeutig gegeneinander abwägen ließen; schon einzelne Argumentationen waren umstritten (z.B. EU-Reform als Grundvoraussetzung der Erweiterung). Das einzige, was eindeutig in eine Richtung wies, war die die hohe Motivation der irischen Regierung, die Initiative erfolgreich durchzubringen.
159 Eine Vorlage gilt als vom Senat angenommen, wenn er sie innerhalb von 90 Tagen (oder einer längeren von beiden Kammern für die Gesetzesvorlage vereinbarten Zeit) nicht angenommen hat, sofern das Repräsentantenhaus dies innerhalb von 180 Tagen nach Ablauf der Frist beschließt (Constitution of Ireland o.J.: Art. 20, 23). Das Quorum liegt im Abgeordnetenhaus bei 20, im Senat bei 12 Mitgliedern. 160 Deutliche Ausnahmen hiervon bildeten lediglich die EG-Mitgliedschaft, für die sich 58,4 Prozent der Wahlberechtigten aussprachen, sowie die beiden Referenden im Juli 1979, in denen mit 99,0 bzw. 92,4 Prozent die bei Weitem höchsten Zustimmungsvoten mit der historisch niedrigsten Wahlbeteiligung von jeweils nur 28,6 (!) Prozent einhergingen (Elvert 1999: 260). 161 Der Wissensvorsprung gegenüber anderen Akteuren war nicht eindeutig ein Vorteil, da viele daraus ein Misstrauen gegenüber der Regierung und der EU ableiteten.
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3 Der Start der individualistischen Phase
Tabelle 21: Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall I erfolgsförderlich Motivation des Initiators
erfolgshemmend
hoch
Verhandlungsmacht des Initiators
Agendasetzung, politische Mehrheit, relativ hohes Ansehen, Machterhaltungsfähigkeit
Kooperationsvoraussetzung
grundsätzliche Europafreundlichkeit der Akteure
Kosten/Nutzen für andere
Vermeidung einer EU-Außenseiterposition, Bedarf gestraffter EUEntscheidungsabläufe vor Erweiterung, Solidarität gegenüber Osteuropa
Fehlen glaubhafter, hinreichend attraktiver Entscheidungsalternativen und inhaltlicher Ausgestaltungsvarianten, hohe Kosten eines Nachgebens gegenüber Einwänden, vorgegebener Zeitrahmen der Verfassungsänderung, Risikoscheu (Regierung will auf EUEbene nicht den Ruf und die Vollmitgliedschaft Irlands gefährden) zunehmende Einwände gegen eine weitere EU-Integration Verschlechterung der Repräsentation Irlands in den EU-Organen und Abstimmungsmodi, Verlust der Souveränität über irischen Neutralitätsstatus, Irland wird Nettozahler mit der EU-Erweiterung, weitere kulturelle Überfremdung, negative Folgen der Erweiterung (z.B. Standortwettbewerb)
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995) Im Jahr 1991 konkretisierte die Bundesregierung aus Christlich Demokratischer Union Deutschlands (CDU), Christlich-Sozialer Union in Bayern (CSU) und Freier Demokratischer Partei (FDP) die Idee, in Deutschland die Gewerbesteuer abzuschaffen. Der Plan scheiterte zwar, doch im parlamentarischen Vermittlungsverfahren zum Steueränderungsgesetz 1992, für dessen Notwendigkeit sich die Regierungsseite auf Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich vom 29.05.1990 und 12.06.1990 sowie auf europäische Impulse berufen hatte, setzten die Vertreter der drei Parteien zumindest Entlastungen bei der Gewerbesteuer durch.162 Nach den Bundestagswahlen im Oktober 1994 drängte die FDP erfolgreich darauf, die damals nicht weiter verfolgte Politik wieder aufzunehmen. Laut Koalitionsvereinbarung vom 11.11.1994 wurde „eine Gemeindefinanzreform angestrebt, in der die Gewerbesteuer Schritt für Schritt mit dem Ziel der Abschaffung gesenkt werden soll“ (DBT/BR o.J.163: A1, 17: 3449). Auf dem CDU-Parteitag am 28.11.1994 stellte der Vorsitzende der CDU-/CSUBundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, den Plan in den großen Rahmen avisierter Reformen des Steuersystems, des öffentlichen Dienstes, der Sozialhilfe und Rente, der Privatisierung von Staatsbetrieben und Staatsaufgaben. Dabei handelte es sich nach seiner Argumentation um Instrumente zur Lösung von Problemen, die durch Globalisierung, den Wandel 162 Dazu zählten die Verlängerung der Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer in den neuen Bundesländern bis Ende 1994 unter Beibehalt der Gewerbekapitalsteuer in den alten Ländern sowie ein Ausgleich für die Mindereinnahmen der Kommunen aus Unternehmensentlastungen durch Verringerung der Gewerbesteuerumlage (Bundesgesetzblatt I 1992. 9: 297). 163 Die meisten Originalquellen werden als Fundstellen in der Gesetzesdokumentation des Parlamentsarchivs zitiert (Nummer des Bandes, Nummer des Dokuments: Seite im Dokument), die auch Tischvorlagen, Briefe und andere sonst nicht exakt identifizierbare Papiere enthält.
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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der sozioökonomischen Rahmenbedingungen und die Konsequenzen der deutschen Einheit angewachsen seien. So behindere die doppelte Besteuerung gewerblicher Erträge durch Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie Gewerbesteuer den Wirtschafts- und Investitionsstandort Deutschland zunehmend; die Gewerbesteuer müsse daher – notfalls stufenweise – abgeschafft werden. Die Gemeinden, denen die Gewerbesteuer zustand, dürften aber nicht ohne „angemessenen Ausgleich“ für deren Wegfall bleiben. Damit sie „nicht immer mehr von Finanzzuweisungen der Länder abhängig werden“, sollten dies originäre Einnahmen sein, entweder organisiert über ein eigenes Hebesatzrecht der Kommunen bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer oder über eine Beteiligung an der Mehrwertsteuer (CDU 1994: 39). Entsprechend der Vereinbarung der Koalitionsspitzen, die durch die Parteien angenommen wurde, entstand im Bundesfinanzministerium unter Theo Waigel im Februar 1995 der Referentenentwurf einer Grundgesetzänderung in Art. 106, den die Bundesregierung am 31.03.1995 (kurz nach Einbringung der identischen Vorlage durch die Regierungsfraktionen) an den Bundesrat übersandte. Als ihr übergeordnetes Ziel bezeichnete die Koalition die „Fortsetzung einer wachstumsorientierten, leistungsgerechten, familien- und mittelstandsfreundlichen Steuerpolitik“ (DBT/BR o.J.: A1, 1: 2; 2; 3: 3). Die Bundesregierung verwies konkret auf das Jahressteuergesetz 1996, das die „weitere Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze am Wirtschaftsstandort Deutschland“ bezwecke (DBT/BR o.J.: A1, 2: 3). Die Grundgesetzänderung, deren Notwendigkeit bis dahin nicht erwähnt worden war, sollte die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die beabsichtigte Unternehmensteuer- und Gemeindefinanzreform schaffen, indem sie den Bundesgesetzgeber ermächtigte, eine Beteiligung der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen einzuführen, um ihre Einnahmeausfälle infolge der geplanten Gewerbesteuerreform zu kompensieren (DBT/BR o.J.: A1, 2: 3f.). Die Beteiligung an der Einkommen- oder Körperschaftsteuer war also vom Tisch; die Bundesregierung hatte sich entschieden, die vom Deutschen Städtetag 1992 eingebrachte und mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie abgestimmte Idee der Umsatzsteuerbeteiligung aufzugreifen.164 Initiiert wurde die spätere Grundgesetzänderung also als „technische Folge“ bzw. rechtliche Voraussetzung zur Erreichung eines übergeordneten wirtschafts- und finanzpolitischen Ziels der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP, die nach der Bundestagswahl ihre Maßnahmenpläne routinemäßig neu justierten. Die standortpolitischen Erwägungen waren der Ausgangspunkt des Reformkonzepts und der ergebnisorientierten Auseinandersetzung mit weiteren Problematiken, die in einem sachlichen Zusammenhang mit ihm standen, so jener der Kommunalfinanzen (Singer 1995). Die zeitliche Nähe zu den vorangegangenen Parlamentswahlen bedeutete nicht, dass die Regierungsparteien nun ein durch die eigene Mehrheit geöffnetes „Opportunitätsfenster“ nutzten, denn sie konnten nicht mit einer leichten Zustimmung zu ihrer Initiative rechnen: Um eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu erreichen, war das Regierungslager auf die Mitwirkung der SPD-Fraktion oder zumindest von großen Teilen derselben angewiesen, denn in den Bundestagswahlen 1994 hatte die Fraktion von CDU/CSU 295 (davon 50 die CSU), die der FDP 47 Mandate errungen. Die SPD-Fraktion stellte 252, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen 48 und die PDS 30 Abgeordnete.
164 Der Städtetag bestand aber darauf, die kommunale Gewerbesteuer in ihrem Kern zu erhalten (Singer 1995).
126
3 Der Start der individualistischen Phase
Darüber hinaus war die Stimmenverteilung im Bundesrat unter parteipolitischen Gesichtspunkten für die Regierungsseite prekär.165 Dies betraf nicht nur die geplante Grundgesetzänderung, sondern auch jene steuerpolitischen Maßnahmen, die die Grundgesetzänderung rechtlich absichern sollte, denn jede Modifikation des Gewerbesteuergesetzes bedurfte einer Zustimmung der Länder als der Interessenwalter der Gemeinden (Art. 105 [3] GG). Obgleich parteipolitische Zugehörigkeiten das Entscheidungsverhalten von Landesregierungen nicht determinieren, war es bei nur zehn Stimmen von Ländern mit parteipolitisch bundeskompatiblen Regierungen realistisch, dass die SPD-Opposition versuchen könnte, über den Bundesrat politisch „mitzuregieren“. Tatsächlich scheiterte im Mai 1995 der zunächst von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Entwurf in der Bundestagsabstimmung, und der Städtetag, der das Vorhaben grundsätzlich unterstützte, warnte die Bundesregierung vor einem weiteren Scheitern.166 Der 1995 eingebrachte Regierungsentwurf einer Grundgesetzänderung in Art. 106 GG war zwar knapp formuliert, berührte jedoch – ähnlich den anderen bereits besprochenen verfassungspolitischen Initiativen in Kanada, Griechenenland und Irland – gleich mehrere bedeutende Problemkomplexe der Innenpolitik: die grundsätzliche Anlage der Wirtschaftsund Finanzpolitik angesichts des globalen Standortwettbewerbs, die Steuerpolitik in den neuen Bundesländern angesichts der Beihilfevorschriften der EU, die Funktionsweise des föderalen Steuerverbunds, die Gewährleistung stetiger und ausreichender Kommunalfinanzen sowie die Finanzierung von an die Kommunen delegierten Aufgaben. Beim ersten Problemkomplex, der Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, hatten sich die normativ-programmatischen Ansätze der Parteien im Grundsatz nicht stark verändert, die Rahmenbedingungen der Politik aber sehr. Die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP strebten zu Beginn der 1990er Jahre wie traditionell eine angebotsorientierte und mittelstandsfreundliche Wirtschafts- und Finanzpolitik an, die sich aber aufgrund der wahrgenommenen Globalisierungs- und Entgrenzungseffekte von althergebrachten Modellen unterscheiden sollte. Besonders die Gewerbesteuer als deutsche Besonderheit sollte, da sie sich negativ im internationalen Standortwettbewerb auswirke, zurückgefahren werden (DBT/BR o.J.: A1, 1: 2; 2; 3: 3). Diesem Ansatz folgend, der mit den Interessen der Wirtschaftsverbände vereinbar war, entlasteten die Regierungsparteien mit dem Steueränderungsgesetz 1992 die Unternehmen bei der betrieblichen Vermögensteuer und bei der Gewerbeertragsteuer, 1993 folgten mit dem Standortsicherungsgesetz die Senkung der Körperschaftsteuersätze und des Einkommensteuerhöchstsatzes für gewerbliche Einkünfte. Die von den Regierungsparteien für 1995 geplante sogenannte Dritte Stufe der Unternehmensteuerreform, die sich im Entwurf des Jahressteuergesetzes 1996 niederschlug, beinhaltete nun neben der Freistellung des Existenzminimums von der Einkommensteuer, der Verbesserung des Familienlastenausgleichs und einigen Steuervereinfachungen als eigentliches Herzstück die Senkung der Gewerbeertragsteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. 165 Zum Zeitpunkt der Initiierung verfügten im Bundesrat jene Bundesländer, deren Koalitionsparteien auf Bundesebene der Opposition angehörten, über die Hälfte der Stimmen (34). Die Bundesländer, deren Regierungsparteien auf Bundesebene teils dem Regierungslager, teils der Opposition angehörten, hatten 24 Stimmen. Länder, von denen aufgrund ihrer Regierungskoalition kein Widerspruch gegen die Bundesregierung zu erwarten war, nur zehn Stimmen. 166 Er forderte Bundesfinanzminister Waigel in einem Brief auf, mit allen formalen Gesetzgebungsschritten zu warten, bis erkennbar sei, dass sich die erforderliche Mehrheit finde. Werde die SPD gezwungen, ein zweites Mal dagegen zu stimmen, verbaue dies womöglich eine baldige Lösung (FAZ, 20.06.1995).
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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Besonders die Gewerbekapitalsteuer war CDU/CSU und FDP ein Dorn im Auge. Sie betrachteten sie als substanzvernichtend, da sie unabhängig vom tatsächlichen Ertrag auf das im Betrieb eingesetzte Eigen- und Fremdkapital erhoben wurde. Sie verursachte v.a. bei Unternehmen mit dünner Eigenkapitaldecke und schwachen Erträgen vergleichsweise hohe Kapitalkosten, da sie den Wert eines Unternehmens auch dann belastete, wenn es Verluste machte (Snelting 1997). Dies betraf aus strukturellen Gründen ganz besonders die Betriebe in den neuen Bundesländern und damit den zweiten Problemkomplex. Eine Erhebung der Steuer dort bewertete die Regierungsseite daher als „wirtschaftlich sinnlos“ (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 4; A1, 17: 3442f.). Aufgrund dessen war im Beitrittsgebiet auf die Erhebung der Steuer gleich verzichtet worden. Einer verlängerten Aussetzung hatten Bundestag und Bundesrat 1992 bereits einmal zugestimmt. Das Problem bestand laut Bundesregierung und Regierungsfraktionen darin, dass diese Aussetzung der Steuer als verdeckte Subventionierung interpretierbar war und als solche mit EU-Beihilfevorschriften kollidierte. Sie unterlag einer Genehmigungspflicht und konnte nur ausnahmsweise und übergangsweise erfolgen. Die Europäische Kommission, so die Aussage, würde ab 1996 eine weitere Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern nicht mehr tolerieren (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 4; A1, 17: 3442f.). Allerdings war das EU-Verbot wettbewerbsverzerrender staatlicher Beihilfen nicht ganz eindeutig. Immerhin sah Art. 92 des geltenden EG-Vertrags (konsolidierte Fassung nach Maastricht) Ausnahmen vor, die auch für die Situation in den neuen Bundesländern zutreffen konnten.167 Die Bundesregierung sah indes offiziell keine Spielräume und erklärte, mit der Unternehmensteuerreform das ostdeutsche Struktur- und das EU-Kompatibilitätsproblem gleich mitlösen zu wollen. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer sollte deren Einführung in Ostdeutschland mit den erwarteten erheblichen administrativen Kosten und unternehmerischen Negativeffekten vermeiden (DBT/BR o.J.: A1, 22; Handelsblatt 15.05.1995). Sofern andere Akteure die Beihilfeargumentation akzeptierten, aber einen anderen wirtschafts- und finanzpolitischen Ansatz verfolgten (und dabei politisch konstruktiv sein wollten), mussten sie eine Alternative zu diesem Schritt vorschlagen. Denkbar waren Verhandlungen auf EU-Ebene, um die Regelungen dort zu verändern oder eine Entscheidung des Rats mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission herbeizuführen, die die Beihilfe für zulässig erklärte (Art. 92 [3e] EUV). Denkbar war auch die Aufstockung von Förderprogrammen für ostdeutsche Unternehmen, von denen erhebliche Finanzierungsanteile als Steuer an die Kommunen „durchgespült“ würden, oder die Einführung alternativer kommunaler Steuern, die beim Ertrag der Unternehmen ansetzten. Alle Alternativen waren mit hohen Entscheidungs- bzw. Transaktionskosten verbunden. Es konnte aber auch argumentiert werden, dass Standortwettbewerb nicht automatisch die Abschaffung oder Senkung der kommunalen Gewerbesteuer erzwang. Grundsätzlich ließen sich alternativ die wesentlich ertragreicheren Verbundsteuern stärker als vorgesehen 167 Mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar waren gemäß Art. 92 (2c) „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind“. Als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar konnten angesehen werden: „Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen die Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht; Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamen europäischen Interesse oder zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats“, „Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser... Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“ (Art. 92 [3a-c]).
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3 Der Start der individualistischen Phase
senken, um die Unternehmen zu entlasten, so die Körperschaftsteuer oder die Einkommensteuer für Einzelunternehmer und Personengesellschaften. Solche Alternativen entsprachen nicht dem wirtschafts- und finanzpolitischen (instrumentellen) Ansatz der Bundesregierung bzw. der Regierungsparteien, wären aber vielleicht mit ihren Zielen vereinbar gewesen. Der Standortwettbewerb und europäische Vorgaben besaßen zwar das Potenzial, die traditionellen Gegensätze von angebots- und nachfrageorientierter Politik zu erschüttern – in welchem Maße dies geschah, hing aber davon ab, als wie stark der Konkurrenzdruck oder in diesem Falle konkret die Belastung von Unternehmen durch die Gewerbesteuer bewertet wurden. Überaktionismus angesichts von „Standortpanik“ konnte zu unkalkulierbaren Effekten, einem erhöhten Bedarf späterer Korrekturen und steuerlichen Unsicherheiten führen, die dem Standort ebenfalls abträglich sind. Umgekehrt konnte eine verspätete Anpassung der Wirtschafts- und Finanzpolitik zur schwer revidierbaren Unternehmensabwanderung und wirtschaftlichen Schwächung führen. Problematisch für alle Überlegungen zu Reformen und Alternativen war, dass die Modellrechnungen die Schatten- und Wechselwirkungen der einzelnen Steuerreformen von CDU/CSU und FDP und der parallelen Reformen in anderen Bereichen nur abschätzen konnten. Zum Zeitpunkt der Initiierung der Grundgesetzänderung lagen aufgrund der 1970 abgeschafften Gewerbesteuerstatistik noch nicht einmal gesicherte Daten zu diesem Teil der Reformmaßnahmen vor. Es gab nur Vermutungen darüber, in welcher Größenordnung Gewerbesteuer überhaupt gezahlt wurde, welche Unternehmen – gerade angesichts der vielen bis dahin erfolgten Steuerrechtsänderungen – durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer vornehmlich entlastet würden und ob der Nutzen der Kompensationsleistungen für die Gemeinden die Kosten der Systemumstellung übertreffen würde. Der Plan mitsamt der Gegenfinanzierung war also mit erheblichen Risiken verbunden. Ebenso unklar war daher auch, ob und wie stark gewerbesteuerliche Entlastungen tatsächlich die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt beleben würden. So konnte ein Wegfall der Gewerbekapitalsteuer wegen der zuvor wiederholt vorgenommenen Anhebung der Freibeträge möglicherweise nur einen relativ kleinen Teil der Steuerpflichtigen entlasten, v.a. Banken, Versicherungen und andere Großbetriebe, während die geplante Gegenfinanzierung unter anderem über eine Kürzung der degressiven Abschreibung möglicherweise weitaus mehr Unternehmen längerfristig zusätzlich belastete, die von der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nicht profitierten. Dies konnte nicht nur zu ungleichen Effekten für die unterschiedlichen Steuerzahler und -empfänger führen, sondern hätte der geplanten Aufkommensneutralität der Gewerbesteuerreform widersprochen (DBT/BR o.J.: A2, 32: 303, 316f., 318). Sowohl der erste als auch der zweite Problemkomplex berührten also zwar quantifizierbare Größen, doch waren die Kosten-Nutzen-Kalkulationen äußerst grob, unsicher, unterlagen unkontrollierbaren Interdependenzen (Globalisierung) und basierten teilweise auf Schätzungen (Gewerbesteuer). Dies machte Modellrechnungen und deren Interpretation anfällig für den Rückgriff auf normative Glaubenssätze zur Wirtschafts- und Finanzpolitik. Der dritte Problemkomplex war die Finanzverflechtung im bundesdeutschen Föderalismus. In der Praxis hatte sich ein Modell entwickelt, in dem äußerst komplexe vertikale und horizontale Finanztransfers die Autonomie der einzelnen Akteure immer weiter beschränkten.168 Der als Sondervermögen des Bundes organisierte Fond „Deutsche Einheit“, 168 Verfassungsrechtlich vorstrukturiert, erhielten Bund und Länder festgelegte Anteile an der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer. Hinzu kamen bei den Bundesländern die Einkünfte aus eigenen Steuern
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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der aufgrund der strukturellen Besonderheiten in den neuen Bundesländern bis 1994 den Länderfinanzausgleich in den neuen Bundesländern ersetzte,169 band Bund, Länder und Kommunen in ein zusätzliches Ausgleichssystem ein. Es belastete sie auch danach noch, weil es sich zum größten Teil über die Aufnahme von Schulden finanziert hatte. In Antwort auf die Strukturprobleme in den neuen Bundesländern, aber auch regionale Haushaltsunterschiede in den alten Bundesländern verdreifachte sich allein von 1989 bis 1995 das Volumen des Länderfinanzausgleichs. Die Ausdifferenzierung und quantitative Ausweitung der Bundesergänzungszuweisungen verstärkte das vertikale Element im bundesstaatlichen Finanzausgleich (v.a. in bezug auf die neuen Bundesländer), das den horizontalen Ausgleich überholte und nun ein mehr als doppelt so großes Gewicht erlangte (Mäding 2000). Im Kontrast zur verfassungsrechtlichen Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch die Grundgesetzänderung von 1994 waren die Städte und Gemeinden im gesamtdeutschen Verteilungssystem Anfang der 1990er Jahre benachteiligt. Die Steuerrechtsänderungen zwischen 1991 und 1996 hatten dem Bund Mehreinnahmen in Höhe von 183 Mrd. DM und den Bundesländern Mehreinnahmen von 7,9 Mrd. DM eingebracht, während die Kommunen in dieser Zeit Mindereinnahmen in Höhe von 4,4 Mrd. DM verzeichneten, die besonders durch die Senkung der Gewerbesteuer verursacht waren. Davon, dass der Anteil der Bundesländer an allen Steuereinnahmen von 34,3 Prozent in 1992 auf 41,1 Prozent in 1996 gestiegen war,170 profitierten die Kommunen nicht (DBT/BR o.J.: A2, 32: 308). Im Gegenteil bedeutete der „Solidarpakt“ für die Städte und Gemeinden im alten Bundesgebiet, dass sie allein 1995 zwischen 5 und 6 Mrd. DM zusätzlich aufbringen mussten, um ihren Beitrag zum Schuldendienstes der Länder für den Fonds „Deutsche Einheit“ zu leisten (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 4/2: 4). Die komplexe Finanzverfassung schuf das Potenzial für Verteilungskämpfe. Mehrere Bundesländer, die sich von den durch die CDU-/CSU-geführten Bundesregierungen mit den unionsgeführten Ländern ausgehandelten Finanzausgleichsregelungen übergangen bzw. benachteiligt fühlten, hatten beim Bundesverfassungsgericht bereits Normenkontrollanträge gestellt (Renzsch 1991: 261 ff.). Im Falle der Grundgesetzänderung wurden drei Besitzstände angegriffen: die Gewerbesteuer der Kommunen, das Umsatzsteueraufkommen des Bundes (inklusive EU-Anteil) und der Länder. Hier ging es zwar nur um einen sehr kleinen Anteil, aber um vergleichsweise große Summen, die angesichts der wirtschaftlichen Probleme, der politischen Rahmenbedingungen (divergierende Mehrheitsverhältnisse) und der teils ungesicherten Basisinformationen zu Konflikten führen konnten. Bei den Kommunen und Abgaben sowie Effekte (Nettozahlungen oder Nettogewinne) aus dem horizontalen und vertikalen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern. Die Einnahmen der Kommunen ergaben sich aus selbst erhobenen Steuern, wie der Gewerbesteuer, und Anteilen an Gemeinschaftssteuern sowie aus Zuweisungen des betreffenden Bundeslandes. Hinzu kam ein vertikal organisierter kommunaler Finanzausgleich auf der Ebene des Bundeslandes aus Zweck-, Schlüssel- und Bedarfszuweisungen. Seit der Gemeindefinanzreform 1970 führten die Kommunen außerdem eine Gewerbesteuerumlage an Bund und Land ab, die dazu diente, die überdurchschnittliche Gewerbesteuerkraft vor allem der größeren Städte teilweise abzuschöpfen. Alle Gemeinden erhielten dafür einen Anteil an der Einkommensteuer, der lokale Einnahmedisparitäten minderte (Kopp/Gössl 2003: 17; siehe auch Schuppert 1993). 169 Vierzig Prozent der zweckgebundenen Mittel wurden an die ostdeutschen Kommunen gezahlt. Die Fondsmittel kamen vom Bund und den alten Bundesländern, wobei letztere zunächst 20, ab 1993 40 Prozent ihres Anteils von den eigenen Kommunen erhielten. 170 Der Anstieg ging u.a. auf die Grundgesetzänderung vom 20.12.1993 zurück, die in Art. 106a den Bundesländern im Zuge der Privatisierung der Bundesbahn ab 01.01.1996 einen Anspruch auf einen Betrag aus dem Steueraufkommen des Bundes für den öffentlichen Personennahverkehr zuschrieb (Niedersächsische Allgemeine, 19.04.1995).
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3 Der Start der individualistischen Phase
war der Effekt möglich, dass sie die Gewerbesteuerreform teils selbst mitfinanzierten, weil die Kürzung des Länderanteils an der Umsatzsteuer automatisch die gesetzliche Verbundmasse im kommunalen Finanzausgleich reduzierte.171 Künftige Regierungsmehrheiten und die Länder konnten bestrebt sein, Einnahmeverluste zu minimieren. Denkbar war daher die Einigung auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, was der avisierten Politik der Regierungskoalition widersprach und wiederum eigene, möglicherweise unerwünschte volkswirtschaftliche Effekte nach sich ziehen konnte. Problematisch war für die Kommunen, dass gerade die Gewerbeertragsteuer, die ihnen originär verbleiben sollte, besonders stark von der Konjunkturentwicklung abhing und daher kommunale Einnahmenschwankungen produzierte. Unter diesem Gesichtspunkt hätte die vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und dem wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium empfohlene Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine weitgehend wettbewerbsneutrale, relativ stetig fließende und die lokale Wirtschaftskraft berücksichtigende kommunale Wertschöpfungsteuer eine nützliche Alternative zu den Gewerbesteuerplänen sein können (Wissenschaftlicher Beirat… 1982). Diesen Vorschlag griffen CDU/CSU und FDP mit ihrer Reforminitiative aber nicht auf. Der vierte Problemkomplex bestand ähnlich der Wirtschaftspolitik in einem finanzpolitischen Paradigmenstreit. Hier standen sich das Ideal einer verfassungspolitisch gestützten Förderung von Wettbewerb zwischen Bundesländern bzw. Kommunen und Anreizen für verantwortliche Politik auf der einen und von Solidarität und Gewährleistung einheitlicher Lebensstandards auf der anderen Seite gegenüber. Dem ersten Ideal verpflichtet war, dass die Kommunen über die Gewerbesteuer Standortpolitik betreiben konnten. Ob dieser Mechanismus nach einer Reform, wie sie die Bundesregierung anstrebte, noch funktionieren würde, hing von der Ausgestaltung der Details ab. Zwar konnte ein Interesse der Kommunen an der Ansiedlung von Unternehmen auch über das vorgeschlagene Modell belohnt werden, doch das Ansiedlungsinteresse der Unternehmen hinge gleichzeitig weniger von der Höhe der jeweiligen Gewerbesteuern ab. Die Kommunen gerieten damit tendenziell unter den Druck, Unternehmen mit anderen Standortvorteilen anzuziehen oder zu halten. Eindeutig kalkulierbar waren diese Effekte aber nicht. Die Verfassungspolitik selbst wies nicht auf eine klare Priorität des Gesetzgebers im Sinne des einen oder anderen Paradigmas hin. Die Änderung des Art. 72 (2) im Jahre 1994 – wenige Monate vor der Initiierung dieser Grundgesetzänderung – schwächte das bis dahin geltende verfassungsrechtliche Postulat der „Einheitlichkeit“ auf eine „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse ab, und in Art. 28 (2) GG wurde damals ergänzt, dass die Gewährleistung der gemeindlichen Selbstverwaltung die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung mit umfasst. Beides deutete zwar auf eine Akzeptanz von mehr Heterogenität hin. Doch erstens war trotz dieser Formulierungen die Verfassungslage nicht eindeutig. Sie konnte einmal mehr mit Blick auf institutionelle Autonomie bzw. Verantwortlichkeit für die eigene Einnahmen- und Ausgabenpolitik ausgelegt werden oder aber mehr mit Blick auf Ergebnisautonomie bzw. die Nivellierung von Leistungsunterschieden. Zweitens war das Steuersystem so verflochten und Änderungen mit so komplexen Effekten behaftet, dass
171 Ähnliches zeigte sich beim späteren Jahressteuergesetz 1997: Die hier geplante Abschaffung der Vermögensteuer, die Erbschaftsteuerreform sowie die Senkung des Solidaritätszuschlages, finanziert über die Rückforderung von Umsatzsteueranteilen der Länder durch den Bund, erhöhten den Druck auf die Länder, Einschnitte im kommunalen Finanzausgleich vorzunehmen.
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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jede größere Abweichung vom bisherigen Modell Verteilungskämpfe und Abwehr aufgrund von Risikoaversion provozierte. Dies leitet über zum fünften Problemkomplex, der Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie. Art. 28 (2) GG schützte zwar seit 1994 explizit die Finanzhoheit der Gemeinden als institutionelle Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung, meinte damit aber vor allem die Befugnis zu einer eigenverantwortlichen Einnahme- und Ausgabenwirtschaft im Rahmen eines gesetzlich geordneten Haushaltswesens (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 5). Die zum Initiierungszeitpunkt geltenden Regelungen begründeten keine kommunale Steuerautonomie im verfassungsrechtlichen Sinne, sondern lediglich eine gewisse Verfügungsgewalt über Steuern und Abgaben im Rahmen der bestehenden Normierungen. Diese erfolgten weitgehend auf anderen Ebenen: Die für die Kommunen relevanten Einkommen-, Grund- und Gewerbesteuern waren auf Bundesebene normiert (Art. 106 GG), für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern besaßen die Bundesländer die Gesetzgebungskompetenz (Art. 105 [2a] GG). Die Bundesländer konnten zu einem Großteil selbst entscheiden, wie viel Geld sie wie an die Kommunen weiterleiteten und wie sie den kommunalen Finanzausgleich organisierten, da sich wie aus dem Grundgesetz auch aus den Landesverfassungen keine „objektiven Kriterien zur richtigen Höhe der Finanzausgleichsmasse bzw. der Verbundquote ableiten“ ließen (Lenk/Rudolph 2003). Die Bereitstellung von Mitteln, die nicht aus selbst erhobenen Steuern rührten und über die auf anderen Ebenen entschieden wurde, war teils mit Restriktionen für ihren Einsatz verknüpft und grundsätzlich offen für solche Vorgaben. Eine echte kommunale Finanzautonomie äußert sich nicht allein in der Verfügbarkeit von Geld, sondern beinhaltet auch (Mit-)Entscheidungsrechte betreffend die Normierungen selbst (vgl. Schoch 1997). Die von der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag angeregte Neuordnung der kommunalen Finanzverfassung war für die Regierungsparteien auf Bundesebene aber nachrangig. Obwohl die langfristige Notwendigkeit einer Gemeindefinanzreform durchaus gesehen wurde, hatten sie sich aufgrund eher geringer substanzieller Motivation nicht besonders darum bemüht, Zustimmung für eines der von einer Arbeitsgruppe der Finanzministerkonferenz erarbeiteten Modelle für eine Reformierung der Kommunalfinanzen bei den Betroffenen, den Ländern und Parteien zu mobilisieren (Singer 1995). Ihr Zugang zur Problematik war auch jetzt eher ein praktischer als ein normativer. Die strukturellen Probleme der Finanzautonomie und die Einnahmeschwäche vieler Gemeinden bei Ausweitung der an sie delegierten Aufgaben störte das Gleichgewicht unterschiedlicher Zielsetzungen.172 So war das Gewerbesteuer-Hebesatzrecht ja nicht nur ein Instrument zur Sicherung kommunaler Einnahmen, sondern auch der kommunalen Ansiedlungspolitik. Diese Aufgabe konnte aber besonders in den strukturschwachen Kommunen durch die Schere zwischen geringen Einnahmen und überproportional wachsenden Ausgaben, etwa durch die neuen Sozialhilferegelungen und die Verpflichtung zur Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen, faktisch kaum erfüllt werden, was wiederum die traditionelle Begründung einer Erhebung der Gewerbesteuer aushebelte. Diese bestand gemäß dem Äquivalenzprinzip darin, dass die Unternehmen den Kommunen eine Gegenleistung für deren Infrastrukturleistungen erbringen (Singer 1995). Wurde diese Gegenleistung nicht oder nur 172 Zur damaligen Situation der Kommunalfinanzen, den in der Wissenschaft angestellten Reformüberlegungen und Simulationen siehe Junkernheinrich 1991a, b; Micosatt/Junkernheinrich 1991; Junkernheinrich/Notheis 1996.
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3 Der Start der individualistischen Phase
unzureichend erbracht, so steigerte dies die Wahrnehmung der Unternehmen, dass es sich bei der Gewerbesteuer um eine „ungerechtfertigte“ und im Standortwettbewerb mit anderen Ländern nachteilige Steuer handelte. Der von der Koalition auf den Tisch gebrachte Gesetzesvorstoß orientierte sich weitgehend am formellen verfassungsrechtlichen Status quo und wollte Reformen vorrangig auf lediglich einfachgesetzlicher Ebene vollziehen, um die Einnahmesituation der Kommunen zu verbessern, ohne ihr Einnahmevolumen insgesamt zu erhöhen. Aus dieser Sicht lohnte es sich weniger, eine neue Kommunalsteuer (z.B. die in der Finanzwissenschaft diskutierte kommunale Wertschöpfungsteuer) zu entwerfen, die stetige und ausreichende Einnahmen sichern könnte, oder das gesamte System der Kommunalfinanzen zu überdenken, sondern es schien die einfachste Lösung, die Gemeinden neben der Einkommensteuer an einer weiteren erprobten Gemeinschaftsteuer zu beteiligen. Tatsächlich war es ganz und gar unstrittig, dass die Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der Umsatzsteuer für stetige Einnahmen sorgen würde, denn sie und die Einkommensteuer, an der sie bereits partizipierten, waren die ertragkräftigsten und wachstumsstärksten Einzelsteuern. Da die Umsatzsteuer im Vergleich zur bisherigen Gewerbekapitalsteuer weniger Konjunkturschwankungen unterworfen war, konnte sie die kommunalen Einnahmen stabilisieren und so die die Struktur der Gemeindefinanzen nachhaltig verbessern. Vorausgesetzt, der Gemeindeanteil kompensierte tatsächlich alle Verluste aus der Gewerbesteuerreform, konnte diese Verstetigung das bislang prozyklische Ausgabeverhalten der Gemeinden konjunkturpolitisch verbessern, indem sie in die Lage versetzt wurden, durch antizyklisches Verhalten zur Sicherung der Preisstabilität, der Beschäftigung und des stetigen Wirtschaftswachstums beizutragen (vgl. Färber 1999: 92). Wie hoch der Anteil aber sein musste, um die Verluste auszugleichen, war angesichts der fehlenden Daten streitbar. Die vom Bundesfinanzministerium in Aussicht gestellte Konstruktion eines „orts- und wirtschaftsbezogenen Verteilungsschlüssels“ auf Basis „gemeindescharfer“ Modellrechnungen sollte das finanzielle Eigeninteresse der Gemeinden an der Ansiedlung und Pflege von Gewerbebetrieben bewahren, indem ihre Wirtschaftskraft bei der Umsatzsteuerzuteilung mit berücksichtigt wurde, und gleichzeitig für einen gewissen Finanzausgleich zwischen den Gemeinden sorgen. Diese Kopplung entsprach dem Wesen des Bundesmodells der Finanzverflechtung. Dem Verfassungspostulat gleichwertiger Lebensverhältnisse folgend, waren ein gewisser Ausgleich interregionaler Spill-overs, die Angleichung unterschiedlicher Produktivitäten der regional gebundenen Infrastruktur, die Vermeidung unwirtschaftlicher Wanderungen gewünschte Effekte, ebenso der Ausgleich unterschiedlicher regionaler Bedarfe an öffentlichen und kommunalen Gütern möglich, um ein in Umfang und Struktur optimales öffentliches Güterangebot zu garantieren. Diese konnte dann im besten Falle die Voraussetzungen für ein langfristig stabiles Wachstum der Gesamtwirtschaft schaffen (vgl. Färber 1999: 92). Problematisch war im Hinblick auf die kommunale Finanzautonomie, dass die von der Bundesregierung erwähnte Gemeindefinanzreform sich verfassungsrechtlich in der ab dem 01.01.1996 grundsätzlich möglichen, aber nicht verbindlichen kompensatorischen Umsatzsteuerbeteiligung der Kommunen in Art. 106 (5a) GG erschöpfte (BT-Drs. 13/1685). Dies war das verfassungsrechtliche Minimum, um die Dritte Stufe der Unternehmensteuerreform durchführen zu können. Aus der Formulierung ergab sich für die Kommunen keine Sicherheit auf eine dauerhafte Beteiligung an der Umsatzsteuer. Zudem verpflichtete Art. 106 GG den Steuergesetzgeber nur, einen ausgewogenen und funktionsfähigen bundesstaatlichen Finanzausgleich zu verwirklichen und regelte, welcher staatlichen Ebene die genannten
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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Steuern zufließen, sofern sie eingeführt und erhoben wurden. Er zwang aber weder Bund noch Länder dazu, bestimmte Steuern einzuführen oder beizubehalten. Die Zuweisungsnorm entfaltete also nur dann ihre Wirkung, wenn die Steuern tatsächlich erhoben wurden. Im Falle der Umsatzsteuer war dies faktisch weniger problematisch, weil es unwahrscheinlich war, dass diese abgeschafft werden würde. Relevant war dies aber im Hinblick auf die Gewerbeertragsteuer. Die Reforminitiative der Regierungskoalition machte deutlich, dass die Kommunen keine verfassungsrechtliche Garantie auf diese Steuer hatten. Um die Gewerbeertragsteuer für die Kommunen abzusichern, ohne gleichzeitig die Finanzverfassung grundsätzlich zu reformieren, war es möglich, in Art 28 (2) GG auf die bestehenden Instrumente dieser Finanzverfassung nach Art. 106 GG zu verweisen und das gemeindliche Hebesatzrecht hinsichtlich einer eigenen Steuerquelle als eine Grundlage der finanziellen Eigenverantwortung festzuschreiben. Allerdings beinhaltete eine solche Neufassung nicht das Alleinverfügungsrecht, sondern lediglich eine Beteiligung der Kommunen an einer Steuerquelle. Auch hierdurch konnte also eine echte Finanzausstattungsgarantie der Gemeinden durch den Bund nicht gegeben werden, der sich nach wie vor an den Möglichkeiten und Grenzen des X. Abschnittes des Grundgesetzes orientieren musste. Die Ergänzung konnte zwar im Falle einer bestandsgefährdenden Aushöhlung der kommunalen Finanzausstattung, etwa bei Abschaffung der Gewerbesteuer, eine institutionelle Schutzwirkung entfalten und den Gesetzgeber zu einem Ausgleich verpflichten. Aus einer solchen Klausel leitete sich jedoch kein rechtlicher Anspruch auf eine quantitativ und qualitativ gleichwertige Steuer ab, sollten Bund und Länder die Gewerbesteuer künftig ganz streichen. In Antizipation dieses aufgrund der Äußerungen von CDU/CSU und FDP nicht unwahrscheinlichen Falls konnte eine Umformulierung des Art. 106 GG interessant sein, die alle Möglichkeiten von Ersatzsteuerquellen offenhielt (DBT/BR o.J.: A3, 62: 2 ff.) Hier zeigte sich, dass das Ideal flexibler Verfassungen und konstitutioneller Minima mit Risiken für Akteure einhergeht und umgekehrt ein Bedürfnis nach verfassungsrechtlichen Garantien in komplexen Systemen zu detaillierten Regelungen führen kann. Städte und Gemeinden mit unterschiedlicher Größe und Haushaltslage hatten unterschiedliche Interessen, ebenso die Gemeindeverbände bzw. Kreise, und mussten bestrebt sein, diese möglichst gut abzusichern. Es war aber juristisch nicht eindeutig, ob weitergehende Verfassungsänderungen im Ergebnis überhaupt substanziell über das bis dahin ungeschriebene Verfassungsrecht aus der Auslegung von Art. 28 (2) GG in Verbindung mit einem geänderten Art. 106 GG hinausgingen. Problematisch war neben der grundsätzlichen Absicherung der Kommunalsteuern auch, dass die Teilhabe an einer Verbundsteuer die Abhängigkeit der Kommunen von den politischen Entscheidungen des Bundes sowie der Bundesländer als der verfassungsmäßigen Interessenwalter der Kommunen (Art. 105 [3] GG) gesteigert hätte, da sie keinen Einfluss auf Höhe oder Fälligkeit dieser Bundessteuer haben würden. Dies verdeutlicht noch einmal, dass es der Regierungskoalition nicht vorrangig um die Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie im Wortsinn ging. Auch bei der Gewerbesteuerreform selbst und der mit ihr verbundenen Grundgesetzänderung besaßen die Kommunen keine formalen Mitbestimmungsrechte, sondern wurden verfassungsmäßig über die Bundesländer vertreten. Lediglich sollte den kommunalen Spitzenverbänden gemäß § 69 (5) der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vor der Beschlussfassung im Ausschuss Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, wenn eine Gesetzesvorlage ihre wesentlichen Belange und insbesondere ihre öffentlichen Finanzen unmittelbar berührt. Da sich die Interessen der Kommunen untereinander strukturell teils ähnlicher waren als die Interessen der Kommu-
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3 Der Start der individualistischen Phase
nen und des sie jeweils vertretenden Landes, konnte die nur indirekte Repräsentation über die Bundesländer verzerrend wirken. Dieses Problem der Abhängigkeit von Entscheidungen anderer Ebenen wäre bei der Einführung einer Wertschöpfungsteuer, wie sie der Sachverständigenrat empfohlen hatte, weniger gravierend gewesen. Ebenso war eine kommunale Unternehmensteuer in Form einer einfachen „cash-flow-Steuer“ möglich, die sich auf Ausgaben von Unternehmen bezieht. Dies hätte eine Ausweitung der ohnehin schon komplizierten steuerverbundlichen Mischfinanzierung verhindert, sondern in Richtung eines Trennsystems mit klaren finanziellen Anreizstrukturen zur Wirtschaftsansiedlung wirken und das gemeindliche Selbstbestimmungsrecht stärken können (DBT/BR o.J.: A2, 32: 305; Friedrich o.J.). Alternativ konnte zusätzlich zum Gemeindeanteil an der Einkommensteuer ein eigener Anteil von den Kommunen selbst erhoben werden und dort direkt verbleiben. Die Ermächtigung zur Einführung eines solchen Hebesatzrechts war in Art. 106 (5) GG bereits vorhanden. Alle genannten Alternativen hätten volkswirtschaftliche Effekte gehabt, die wahrscheinlich nicht im Sinne der Regierungskoalition waren (Fehr/Wiegard 2000), aber möglicherweise den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der anderen Akteure entgegenkamen. Den Zielkonflikt zwischen dem Schutz des kommunalen Hebesatzrechtes und der Gewährleistung konjunkturrobuster, ausreichender Steuereinnahmen für die Kommunen konnten sie ebenfalls nicht auflösen, aber jeweils andere Akzente setzen. Der sechste der von der Grundgesetzänderungsinitiative betroffenen wichtigsten Problemkomplexe war die Verknüpfung von Aufgabenzuweisungen mit der Finanzierung dieser Aufgaben. Sie war relevant, weil die Kommunen etwa 80 Prozent der Bundesgesetze sowie fast 90 Prozent der Landesgesetze realisierten. In einem weiteren Verständnis der Problematik ging es hier aber nicht nur um explizite Delegation, sondern auch um die oft verdeckten Effekte von Interdependenzen in unterschiedlichen Politikfeldern. So reagierte der Bund auf den Anstieg der Arbeitslosenzahlen mit der Einführung von Sozialhilfe für Arbeitslose, was die kommunalen Ausgaben für soziale Leistungen in die Höhe trieb, 1995 bei den Städten um 8 Prozent (DBT/BR o.J.: A1, 30, Beig.: 3f.; Handelsblatt 04.04.1995). Zwar sollte die Ausgabenexplosion der Kommunen mithilfe weiterer Maßnahmen, wie der Einführung der Pflegeversicherung 1995, aufgefangen werden, doch gelang dies nur teilweise. Die Gewährleistung stabiler kommunaler Einnahmen war wenig wert, wenn Bund und Länder gleichzeitig, wie erwähnt, Aufgaben und Aufwendungen an die Städte und Gemeinden abwälzten. Hierin bestand ein wichtiger Grund für die akut angestiegene Verschuldung der öffentlichen Haushalte (Schoch/Wieland 1995: 70 ff.; Schoch 1997). Daher verfolgten die Kommunen innerhalb des Systems unterschiedlicher Haushaltsträger für arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen ihre eigenen Strategien. Eine Variante war der Protest und die Vertretung kommunaler Interessen über die Spitzenverbände, eine andere der Versuch, arbeitslose Sozialhilfeempfänger fiskalisch wieder in den Zuständigkeitsbereich der Bundesanstalt für Arbeit zu schieben. Derartige „Drehtüreffekte“ lösten das Grundproblem nicht, sondern perpetuierten es nur (Trampusch 2003; Bruche/Reissert 1985). Auch weitere übliche Maßnahmen, wie die zunehmende Privatisierung kommunalen Eigentums sowie die Drosselung der kommunalen Investitionen (1995 um mehr als 7 Prozent), konnten die Schieflage zwischen Einnahmen und Ausgaben langfristig nicht abdecken, hatten aber gleichzeitig konjunktur- und arbeitsmarktpolitisch problematische Folgen. Eine Lösung des Problems konnte in einer expliziten Ausdehnung des in Art. 104a GG fixierten Konnexitätsprinzips auf die Kommunen sein. Gemäß diesem Grundsatz, dass Aufgabenwahrnehmung und Ausgabenverantwortung bei derselben staatlichen Ebene liegen,
3.4 Deutsches Fallbeispiel (1995)
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hätte der Bund die Zweckausgaben für die Wahrnehmung von Aufgaben durch kommunale Gebietskörperschaften zumindest teilweise tragen müssen, wenn er per Gesetz unmittelbar auf diese durchgreift. Die Kommunen waren im Grundgesetz deshalb nicht erwähnt, weil sie in den Verantwortungsbereich der Bundesländer fielen. Die implizite Einbeziehung sorgte aber offensichtlich nicht für ausreichenden Schutz. Die in den Landesverfassungen festgeschriebene Konnexität deckte ihrerseits nur das Verhältnis zwischen Land und Kommune ab. Die Negativerfahrungen mit dieser Konstellation konnten das Beharren auf detaillierten Festschreibungen in anderen Materien, so der hier initiierten Grundgesetzänderung, fördern. Umgekehrt war zu fragen, inwieweit ein größeres Ausgabenbewusstsein des Bundes und die Beachtung der im Grundgesetz eigentlich schon mitgedachten Konnexität die Finanzsituation der Kommunen bereits nachhaltig verbessert und so den Bedarf struktureller Änderungen (und einer Grundgesetzänderung) zumindest abgemildert hätten. Eindeutiger als eine im Hinblick auf alle Problemkomplexe „optimale“ Verfassungsänderung und eindeutig vor allem im Vergleich zum kanadischen, griechischen und irischen Fallbeispiel war im deutschen das Verfahren der Verfassungsänderung. Entsprechende Gesetzesvorlagen konnten bzw. können durch die Bundesregierung beim Bundestag, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht werden. Vorlagen der Bundesregierung wie in diesem Fall müssen zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden, der das Recht hat, innerhalb von neun Wochen dazu Stellung zu nehmen. Seine frühe Positionierung kann dadurch umgangen werden, dass der Gesetzentwurf durch die Regierungsfraktionen eingebracht wird, doch diese tatsächlich genutzte Variante scheiterte zu Beginn des hier untersuchten Verfahrens im Frühjahr 1995 in der Abstimmung im Bundestag. Zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages sowie des Bundesrates mussten schließlich dem Gesetzentwurf in seiner ursprünglichen oder im Laufe des legislativen Prozesses geänderten Form zustimmen (Art. 76, 79, 23 GG). Der Bundespräsident konnte nur eine staatsnotarielle Funktion ausüben und besaß kein materielles Prüfungsrecht. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Initiative zur Änderung des Grundgesetzes 1995 keine allzu große Aussicht auf Erfolg hatte (Tab. 22). Für die Bundesregierung mit ihrer im Verhältnis zu den anderen Akteuren nur mittelgroßen Verhandlungsmacht genoss sie nicht oberste Priorität. Sie bildete einen durchaus wichtigen, aber nicht den zentralen Teil ihrer politischen Gesamtstrategie. Die politischen Rahmenbedingungen, ganz besonders die Kräfteverhältnisse in Bundestag und Bundesrat, boten ebenfalls nicht den besten Boden für eine Kooperation. Nicht zuletzt waren Einwände anderer Akteure deshalb wahrscheinlich, weil der erwartbare Nutzen der Verfassungsänderung nicht eindeutig, die Zusammenhänge und Effekte komplex und die Risiken durchaus beträchtlich waren. Es war also kein Vorteil, dass das Vorhaben nah an der Alltagspolitik lag und die Materie der Steuerverteilung im Vergleich mit ideellen Abwägungen grundsätzlich die Kalkulation von Kosten und Nutzen begünstigt.
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3 Der Start der individualistischen Phase
Tabelle 22: Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall D erfolgsförderlich
erfolgshemmend
Motivation des Initiators
-
-
Verhandlungsmacht des Initiators
Agendasetzung, politische Stärke, gesellschaftliches Ansehen, Machterhaltungsfähigkeit, größere Ausstattung mit Wissen und Organisationskapazität
Kooperationsvoraussetzung
Verantwortlichkeit der Bundesländer für die Kommunen
Kosten/Nutzen für andere
Vorteil im internationalen Standortwettbewerb, EU-kompatible Anpassung der bundesdeutschen Steuerpolitik an ostdeutsche Rahmenbedingungen, Vermeidung dortiger Verwaltungskosten, gesicherte Einnahmen für Kommunen
politische Kräfteverhältnisse machen die Zustimmung der Opposition notwendig, keine erkennbare Außenoption, hohe Kosten einer Forderungsrücknahme, Ungeduld, Risikoscheu Nutzen der Verfassungsänderungen für Kommunen nicht eindeutig, Kräftekonstellation ermöglicht der Opposition eine Ablehnung der Initiative zur eigenen Profilierung Standortargument streitbar, Alternativen möglich, fehlende Datenbasis des Reformkonzepts, Uneindeutigkeit der volkswirtschaftlichen, finanziellen und kommunalen Effekte (=Risiken), Beeinträchtigung der kommunalen Finanzautonomie, sichtbare Einnahmeverluste von Bund/Ländern*
* bei unverändertem Satz der Mehrwertsteuer
3.5 Zwischenbilanz Wie die Fallanalysen verdeutlichen, wurden alle verfassungspolitischen Initiativen vornehmlich durch Eigeninteressen von Akteuren angestoßen, die sich dem Bereich der „Normalpolitik“ zuordnen lassen. Sie schlugen sich in relativ minimalistischen Änderungsvorschlägen nieder, die aber jeweils komplexe Materien berührten. Diese gerafften Erkenntnisse sollen im Folgenden als Vergleichsbefunde genauer ausgeführt und ergänzt werden. Die Darstellung folgt dabei im wesentlichen der Prozesslogik: Zunächst werden die Bezüge zu den Rahmenbedingungen besprochen, dann die Initiatoren systematisiert, ihre Motivationen sowie deren Verhältnis zur „normalen“ Politik herausgearbeitet und bestimmte Aspekte rationalen Handelns genauer unter die Lupe genommen: inwieweit die Akteure Opportunitätsfenster nutzten und Risiken zu umgehen suchten. In diesem Zusammenhang wird begründet, warum der Terminus „individualistisches Handeln“ das beobachtete Verhalten angemessen charakterisiert. Anschließend werden der Einfluss der Spitzenpolitiker auf das Handeln der Kollektivakteure anhand der selektiven Themenwahl der Verfassungsänderungen plausibilisiert, die Ausformulierung der Initiativen besprochen, dann deren Folgen für die bestehenden Gleichgewichtsstrukturen und für die Möglichkeit rationaler Entscheidungsfindung diskutiert. Abschließend kommen als Übergang zum nachfolgenden Kapitel die jeweiligen in Aussicht stehenden Verfahrenswege zur Sprache. Die Fallanalysen zur Verdichtung verfassungspolitischer Aktivitäten bestätigen die Vermutung, dass eine veränderte Ausprägung jener Variablen, denen in der Literatur zu Verfassungswandel am häufigsten eine ursächliche Bedeutung zugeschrieben wird (Kapitel 1.3), nicht automatisch zu einer entsprechenden verfassungspolitischen Reaktion führten und dass Alternativdeutungen und -lösungen denkbar waren:
3.5 Zwischenbilanz
137
So spielten in Irland und Deutschland direkt bzw. indirekt „externe“ politische und wirtschaftliche Entwicklungen (EU-Regierungskonferenzen, wahrgenommener Globalisierungsdruck, Wegfall des „Eisernen Vorhangs“) eine Rolle; aber die konkrete Auswahl der Reaktion darauf und die Formulierung der politischen Inhalte nahmen die Akteure individuell vor, wobei Alternativdeutungen zum Problemdruck möglich waren. Europäische Übereinkünfte wurden sehr unterschiedlich oder teils nicht (I, G) umgesetzt. Im kanadischen Fallbeispiel war ein politischer Wandel vor der und parallel zur Initiative merklich, doch nicht in dem Sinne, dass der Initiator nun neu eröffnete Entscheidungsspielräume nutzen konnte. Vielmehr war seine Verhandlungsposition sogar besonders schlecht. Zudem griffen andere indigene Akteure, die einen ähnlichen Bewusstseinswandel vollzogen und sogar über mehr Verhandlungsmacht verfügten, nicht zu dieser Maßnahme, sondern formulierten andere Ziele (Landrechte, Selbstregierung) oder leiteten aus demselben Ziel (Selbstregierung) andere Maßnahmen zur Zielerreichung ab. Im griechischen Falbeispiel führte der Premier die Ausmerzung verfassungsrechtlicher Defizite oder das Ausfüllen von Regelungslücken als offizielle Begründung ins Feld, doch seine Initiative kam sehr überraschend, war inhaltlich vage und eindeutig von anderen Kalkülen bestimmt. Insgesamt waren die Initiativen für verfassungspolitisch relevante Maßnahmen in keinem Fall durch Krisenerscheinungen der Verfassung selbst erzwungen. Ein systematischer Zusammenhang mit Wahlen war nicht zu beobachten, ebenso wenig folgten die Initiativen starken Verschiebungen in den Machtkonstellationen. Die Medien stießen die Verfassungsinitiativen nicht an,173 und in ihrer Berichterstattung spielten die Initiativen als solche eine untergeordnete Rolle, während über die dahinter stehenden Ziele teilweise berichtet wurde.174 In allen vier Fällen lassen sich Einflüsse von Gerichtsurteilen bzw. rechtlichen Überlegungen feststellen, doch machten sie nicht zwingend Verfassungsänderungen nötig oder Verfassungsänderungen in der initiierten Form und überstiegen nicht das in einem gewaltenteiligen System erwartbare Maß an Handlungsseffekten.175 Es mag also zwar sein, dass personeller oder Kontextwandel, Machtverschiebungen nach Wahlen, Medien oder andere „Opportunitätsstrukturen“ institutionellen Wandel anregen und fördern, doch sind Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien umgekehrt nicht typischerweise klare Reaktionen auf solche Änderungen. In keinem untersuchten Fall betrieben die Initiatoren Verfassungspolitik strategisch als „eigene Rubrik“ jenseits der „normalen“ Alltagspolitik. Auch die Sicherung des Gemeinwohls stand nicht als Ziel im Fokus. Im Gegensatz zu den Gremien bzw. Runden, die sich im Untersuchungszeitraum in Kanada, in Irland und in Deutschland damit befassten, welche Verfassungsmodifikationen systemisch sinnvoll und normativ wünschenswert waren (Kapitel 2.3), deren Vorschläge aber nicht oder nur teilweise umgesetzt wurden, erfolgten vor oder während der Initiierung der hier untersuchten später verabschiedeten Verfassungsänderungen fast keine Diskussionen über den normativen Stellenwert der Verfassungen und von Verfassungsänderungen. Vielmehr ergaben sich die verfassungspolitischen Initiativen immer aus Versuchen, im Rahmen der „normalen“, der Alltagspolitik, zu steuern (G, I, D) 173 Lediglich in Griechenland waren letztere indirekt wichtig für den Versuch der Regierungsspitze, sich bzw. die Regierungspartei wieder in ein positives öffentliches Licht zu rücken. 174 Eine Ausnahme bildete die Berichterstattung im Fall I kurz vor und nach dem ersten Nizza-Referendum. 175 Eine Ausnahme bildet auf den ersten Blick das irische Fallbeispiel. Man kann aber argumentieren, dass es weniger das EG-Urteil selbst war, das zur üblichen Ratifizierung von EG-Verträgen per Verfassungsänderungen führte, sondern mehr die Interpretation des Urteils durch die politischen Akteure in Zeiten, als sie daraus keine Nachteile zu befürchten hatten, sowie die daraus entstehende Konvention.
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3 Der Start der individualistischen Phase
oder die eigene sozioökonomische Lage zu verbessern (K). Immer bedurfte es also zusätzlich zu bestimmten förderlichen Änderungen der Rahmenbedingungen des Akteurshandelns individuell wahrgenommener politischer oder materieller Anreize, damit es zu verdichteter Verfassungspolitik kam. Immer waren dabei Alternativen zu den angestrebten Verfassungsänderungen theoretisch möglich, um die Ziele zu erreichen. In drei von vier Fällen (G, I, D) wurden die später verabschiedeten Verfassungsänderungsentwürfe – unabhängig von den festgeschriebenen Verfassungsänderungsverfahren, die formal zur Anwendung kamen – durch die Exekutive initiiert und nicht etwa durch die (Regierungs)Fraktionen oder Abgeordnete. In einem Falle (D) waren parallel auch die Regierungsfraktionen mit einer identischen – von den Koalitionsspitzen vorstrukturierten und danach vom Bundesfinanzministerium formulierten – Vorlage initiativ geworden; die Fraktionsinitiative scheiterte aber. Im vierten Falle (K) bedurfte der Initiator faktisch der Zustimmung der Bundesregierung dazu, sollte die Initiative die formalen Zustimmungshürden passieren. In allen Fällen war demnach die Regierung unabhängig von institutionellen Zugangsvoraussetzungen ein wichtiger verfassungspolitischer Initiator bzw. Pförtner.176 Hier setzte sich offensichtlich das Standardmuster der „normalen“ Politik dieser Demokratien durch, dass die Staatsregierung die Agendasetzung sowohl in rechtlichen Fragen als auch hinsichtlich der Ausgestaltung der materiellen Politik dominiert. In Irland stand die Initiative im Zusammenhang mit dem europapolitischen Handeln der Regierung, die die Verfassungsänderung nicht als eigenen Prozess, sondern als formale Ratifizierung des Vertrags von Nizza betrachtete, den sie auf europäischer Ebene intergouvernemental mit ausgehandelt und dem sie ohne Berücksichtigung spezifischer inhaltlicher Voraussetzungen für eine spätere Referendumsbefürwortung zugestimmt hatte. In Deutschland betrieb die Koalitionsregierung Standortpolitik gemäß ihren programmatischen Grundsätzen, und in Griechenland versuchte die PASOK-Regierungsspitze mithilfe der Verfassungsänderung, ihr Bild in der Öffentlichkeit aufzubessern. Die Erreichung konkreter policy-Präferenzen bzw. anderer Ziele, die eng mit dem eigenen Tagewerk verknüpft waren und die Argumentation dominierten, sollte also nur verfassungsrechtlich ermöglicht bzw. flankiert werden. Es dominierten bewährte individuelle Bewertungskriterien der Initiatoren hinsichtlich der konkreten politischen Ziele bzw. Politikfelder. Die Motivation war nicht immer gleich stark ausgeprägt: teils sehr groß (K, I), teils mittelstark (G, D). Ein erheblicher Teil von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien wird also offensichtlich dadurch ausgelöst, dass ein inhaltlicher Gestaltungswunsch, meist von Regierungen, mit bestehenden Regelungen kollidiert bzw. durch die Judikative als kollidierend interpretiert wird. Es folgt ein Versuch politischer Steuerung bzw. der Passbarmachung des Verfassungsrechts zum individuellen Nutzen des Kollektivakteurs (inklusive Durchsetzung der eigenen, individuellen Programmatik). Dabei ging es in allen vier Fällen um einen erwarteten Nutzen aus der mit der initiierten Verfassungsänderung verbundenen Politik, nicht also (nur) aus der Verfassungsänderung an sich. In einem Fall (G) war der kalkulierte prozedurale Nutzen eines Imagegewinns besonders wichtig und beeinflusste ebenfalls die Auswahl der auf die Agenda gesetzten Inhalte.
176 In parlamentarischen Demokratien wie den hier untersuchten gibt es natürlich Überlappungen der Mitgliedschaft im Parlament, der Zugehörigkeit zur Regierung und der Führungsposten der Parteien. Die für die maßgeblichen Formulierungen verfassungspolitischer Initiativen zuständigen Akteure traten aber in den exekutivinitiierten Fällen ausschließlich in ihrer Funktion als Regierungsmitglieder auf.
3.5 Zwischenbilanz
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In allen untersuchten Fällen verdichteten sich die verfassungspolitischen Aktivitäten relativ frei von Überlegungen zum Verhalten der anderen Akteure und infolgedessen zur Erfolgswahrscheinlichkeit dieses Tuns. Der rationalistischen Grundannahme von Antizipation entsprach tatsächlich vorrangig die Formulierung knapper Vorstöße, die darauf gerichtet sein konnte, die Zahl der Einwände anderer möglichst gering zu halten, während die Umstände oft eher einigungswidrig waren und jeden antizipierenden rationalen Akteur abschrecken mussten. Trotzdem ließen sich die Initiatoren weder von sehr unvorteilhaften politisch-institutionellen Kräftekonstellationen abhalten (D, K), noch von einem Verfassungsänderungsverfahren, das als hochgradig rigide und faktisch änderungsverhindernd bewertet wurde (G, Spiliotopoulos 1995; Venizelos 1999: 99f.) oder vom ersten Scheitern eines Versuchs unter ähnlichen Rahmenbedingungen (D, I). Risikoaversion war insofern nicht zu spüren.177 Die Akteure appellierten in den beobachteten Fällen auch nicht an das Interesse ihrer Mitspieler an stabilen Verfassungsregeln und beachteten also auch nicht dieses laut Verfassungsökonomik einigungsförderliche Prinzip. Überall sollten etablierte Verfassungsnormen geändert werden, ohne dass aus Nutzen aus der angestrebten Änderung für die anderen Akteure unmittelbar erkennbar war. In Anbetracht all dieser Beobachtungen muss das Verhalten der Initiatoren von Verfassungsänderungen insgesamt als „individualistisch“ (und wenig verhandlungsstrategisch durchdacht) bezeichnet werden, als vornehmlich an eigenen politischen Interessen und Verantwortlichkeiten und kaum an den Positionen der anderen Akteure, der Medienberichterstattung, an Wahlen oder an Opportunitätsfenstern orientiert. Dies gibt der hier besprochenen Initiierungsphase ihren Namen. Erkennbar individualistisches Handeln in dieser Phase verhindert also nicht automatisch die nachfolgende Überschreitung erhöhter Änderungsschwellen. Nur in zweien der vier Fälle (G, D) lagen der Zeitpunkt der verdichteten verfassungspolitischen Initiative und der formalen Initiative relativ nah beieinander. In den anderen beiden Fällen wurde sie zunächst nicht formalisiert, was an der fehlenden Kompetenz des Initiators dazu (K) und an taktischen Überlegungen (I) lag. Die Einbringung von Verfassungsänderungsentwürfen im Parlament ist also nicht selten ein formaler Akt, der Startpunkt der vorrangig eliteninternen oder von Betroffenen vorgenommenen, nicht aber systematisch inklusiven verfassungspolitischen Beschäftigung mit den entsprechenden Materien lag immer früher. Die parlamentarische Agendasetzung ist im Gegensatz zu diesem Zeitpunkt zwar wesentlich leichter zu bestimmen – ein großer Vorteil gerade bei vergleichenden Studien mit größerer Fallzahl –, doch sie würde in fast allen der hier untersuchten Fälle zu Fehlinterpretationen im Hinblick auf den Zeitpunkt, den tatsächlichen Initiator, die Motivation zur Verfassungsänderungsinitiative und die Durchsetzung von Inhalten gegen Widerstände führen. Obwohl die Analyse sich nur auf Themen erstreckte, die von den später erfolgreichen Änderungsinitiativen berührt wurden und nicht auf die gesamten Problempotenziale der jeweiligen politischen Systeme, so deutete die Rangfolge der auf die Agenda gesetzten Inhalte, besonders aber auch die Nichtberücksichtigung anderer Inhalte darauf hin, dass die Entscheidungsdelegierten „Problemdruck“ bzw. den bei der „Problemlösung“ anfallenden 177 In Irland wurde zwar kein neues Referendum angesetzt, aber es stand außer Frage, dass die Regierung in absehbarer Zeit ein neues anstrebte. Wichtiger für die Argumentation ist: Vor dem ersten Referendum hatte die Regierung das Risiko eines Scheiterns nicht als ernstzunehmendes Entscheidungskriterium berücksichtigt – trotz Warnungen anderer Akteure.
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3 Der Start der individualistischen Phase
Verfassungsänderungsbedarf selektiv wahrnehmen. Zwar waren die Thematiken kompatibel zur jeweiligen politischen Programmatik der Kollektivakteure und zur Verpflichtung gegenüber angenommenen Erwartungen ihrer Wähler bzw. Mitglieder. Allerdings spielten auch andere Materien in den Programmen und Zielvereinbarungen der Akteure eine Rolle, die im System funktionaler Differenzierung mindestens über die Fachpolitiker und ministerien systematisch beobachtet wurden und die ebenfalls in Verpflichtung gegenüber Erwartungen von Wählern und Mitgliedern hätten geändert werden können, die jedoch nicht aufgegriffen wurden (siehe auch Kapitel 2.3). Dies kann nur durch einen eigenen Filtermechanismus erklärt werden: den individuellen Selektionsmodus der gewählten Führungsspitzen als Entscheidungsdelegierte der Kollektivakteure. Alle Initiativen bezogen sich auf Materien, die sie jeweils besonders gut kannten, die sich auf ihre individuellen Erfahrungshorizonte (z.B. bei der ITC-Spitze die Kenntnis lokaler Verwaltung) bzw. ihre Verantwortungsbereiche (z.B. bei der deutschen Regierung die Standortpolitik) bezogen. Ihre Funktion als strategisch denkende und unter Zeitdruck agierende Generalisten strukturierte offenbar ihre Wahrnehmung. Da die praktische Kenntnis von oder Erfahrung mit einer Materie automatisch zu konkreteren Vorstellungen darüber führen, was überhaupt geändert werden, darüber, welcher Nutzen sich daraus ergeben und welche weiteren Effekte dies nach sich ziehen könnte, sind die einer Änderungsinitiative vorgeschalteten kognitiven Leistungen weniger aufwändig als bei anderen Materien und werden bereits im Tagesgeschäft mitgeleistet. Die eigene Betroffenheit durch die Materie sowie an die eigene Funktion geknüpfte Leistungserwartungen anderer steigerte dann den Anreiz, auch aktiv zu werden. Gleichzeitig werden andere Materien oder verfassungspolitische Ideen weniger wahrgenommen und nicht aktiv aufgegriffen. Dieses Handeln wird, bezogen auf die delegierenden Kollektivakteure, dann begrenztrational, wenn es nicht ihren Kosten-Nutzen-Kalkülen entspricht oder wenn es nicht durch weitere Aktivitäten ergänzt wird, die ebenfalls einen Nutzengewinn gestatten würden, aber durch den kenntnis- und betroffenheitsbasierten Reizverarbeitungsfilter der Spitzenpolitik fallen. In zwei von vier Fällen (K, D) wurde die konkrete Formulierung oder zumindest die allgemeine politische Richtung der Politik per Beschluss der Kollektivakteure legitimiert, auch in Irland und Griechenland war das Vorgehen der Regierung faktisch innerparteilich unumstritten, ohne dass aber jeweils zweifelsfrei nachvollzogen werden kann, dass ein umfassender Abgleich der Entscheidungen und Nichtentscheidungen mit der Rationalität des Kollektivakteurs stattfand. Die konkrete Ausformulierung der verfassungspolitischen Vorschläge erfolgte unterschiedlich: in Kanada durch die ITC-Spitze und das ITC-Korporativmitglied Kommission für Nunavut-Landansprüche, in Griechenland durch die Fachpolitiker der Regierungspartei, in Irland durch Beteiligung von Fach- und Spitzenpolitikern der Regierung auf EU-Ebene sowie durch ihren (vom Generalstaatsanwalt angeratenen) Rückgriff auf vergangene Muster bei der Formulierung des Änderungstextes, in Deutschland durch das Bundesministerium. In allen Fällen verlief sie im Rahmen „normalpolitischer“ Routinen und in Kompatibilität mit der politischen Programmatik des initiierenden Kollaktivakteurs bzw. vereinbarten politischen Zielen einer Koalition. Die Formulierungen waren wieder detaillierter als Partei- oder Wahlprogramme, Koalitionsvereinbarungen oder der Beschluss über die Einreichung einer Gesamtforderung und ließen sich also nicht exakt aus diesen ableiten. Sie bedurften aber in den hierarchischen Systemen der Kollektivakteure der Zustimmung der Fach- und Spitzenpolitik und mussten daher deren Rationalität und Wahrnehmungsmustern entsprechen.
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3.5 Zwischenbilanz
Die bisherigen Erkenntnisse lassen sich in einem Schaubild darstellen, das sich auf mit einer besonderen Erfolgsaussicht ausgestattete Regierungsinitiativen bezieht (Abb. 14). In der rechten Spalte der Abbildung sind die Prinzipien vermerkt, nach denen die Vielzahl eintreffender Reize jeweils vor der Agendasetzung verarbeitet wurde. Die Akteure der Subsysteme folgen, wie zu erkennen ist, deren eigenen, hier nicht interessierenden Rationalitätsprinzipien (z.B. Recht, Geld). Die Aufnahme der Reize, die sie permanent an ihre Systemumwelt aussenden, unterliegt den jeweiligen Routinen der „normalen“ Politik, etwa dem jeweiligen typischen Verhältnis zwischen Spitzen- und Fachpolitikern innerhalb der Regierung. Dies entspricht Beobachtungen üblichen menschlichen Handelns (Esser 1990: 234 ff.; 2001: 117 ff.; 295 ff.). Systemübergreifend erkennbar war eine hierarchische Struktur innerhalb der Fachministerien, die dafür sorgt, dass die Verwaltungsrationalität (Kapitel 2.1) durch die spezifischen Interessen bzw. Handlungsmuster der Fach- bzw. Spitzenpolitik in geschilderter Weise überformt wird. Die Ministerien waren insofern nicht eigenständig relevante Akteure. Abbildung 14: Verfassungspolitische Agendasetzung (Regierungsinitiative) Wirtschaft
Politik
Gesellschaft
Werte/Kultur
inter-/supranationaler Kontext
Filter Regierung
Parteirationalität Routinen der normalen Politik; Hierarchie/Verwaltungsrationalität
Steuerungsversuche
Komplexe Materien berührt: Bedrohung von Gleichgewichtslösungen
Routinen der „normalen“ Politik Betroffenheit, Kenntnis
Spitzenpolitiker
Fachpolitiker, Fachministerium
„normale“ Politik
Zentrale Reizverarbeitungsprinzipien:
inkrementalistische Verfassungsänderung Verfassungspolitik
siehe Kapitel 4
Die mit den angestrebten Verfassungsänderungen verbundenen politischen Maßnahmen waren nicht auf weitreichende Reformen des politischen Systems angelegt. Trotz der in den Problemhorizonten aller Fälle aufscheinenden guten Gründe für weitergehende, zusätzliche, konkretere (oder keine) Verfassungsänderungen orientierten sich die Entwürfe jeweils an einer inkrementalistischen Veränderung der bestehenden Institutionen. Nur in einem Fall (G) war der angestrebte Wandel rhetorisch umfassend, aber diffus und ohne reformerisches Gesamtkonzept. Der inkrementalistische Ansatz lässt sich, wie bereits erwähnt, mit dem rationalen Bestreben erklären, das Ausmaß zu erwartender Einwände gering zu halten, aber
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3 Der Start der individualistischen Phase
auch mit Risikoaversion und kurzsichtigem Handeln angesichts knapper Zeit und der Einbettung in die Routinepolitik.178 Allerdings waren sowohl die Übertragung eines Fünftels des kanadischen Staatsgebietes an die Verwaltung durch eine bislang in jeder Hinsicht unterprivilegierte ethnische Gruppe als auch die thematisch vielfältigen politisch-institutionellen Änderungen in Griechenland, die Änderungen der EU-Entscheidungsabläufe und des Machtgefüges der Staaten untereinander im irischen Fallbeispiel sowie die unsicher kompensierte Streichung einer Steuer, die eine wichtige Einnahmequelle der bundesdeutschen Kommunen darstellte und deren Finanzautonomie berührte, durchaus bedeutungsvolle Maßnahmen gestalterischer Politik. Insofern sind die vier Initiativen keineswegs als „low-cost-Entscheidungen“ qualifizierbar, für die in der Literatur bereits festgestellt wurde, dass rationalistische Erklärungsversuche nicht greifen (Esser 1990). Sie wurden daher auch von keinem der in Erscheinung tretenden Mitspieler „auf die leichte Schulter“ genommen. Wie die Vielfalt der von den Entwürfen jeweils berührten Problemkomplexe zeigt, stellen zudem selbst punktuelle, inkrementalistisch angelegte verfassungspolitische Maßnahmen in etablierten Demokratien oft automatisch mit einer gewünschten Steuerung in einem Bereich bewährte Kompromisse (angenommene Gleichgewichtslösungen) in verschiedenen anderen Bereichen infrage. Sie berührten außerdem viele Akteure auf verschiedenen Handlungsebenen innerhalb und außerhalb der Verfassungsgemeinschaft und umfassten – auch innerhalb der einzelnen Problemkomplexe – faktisch kaum voneinander separierbare normativ-programmatische, materiell-distributive und technisch-organisatorische Sachverhalte. Diese Komplexität ging aus den zumeist sehr knapp gehaltenen Argumentationen der Initiatoren selbst nicht hervor (Tab. 23). Das Komplexitätsproblem tritt bei Verfassungen verstärkt auf, da hier auf relativ engem Raum hochaggregierte Kompromisse festgeschrieben sind, die die verschiedenen Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffen. Komplexität bedeutet, dass die Entscheidung (bzw. der Änderungsentwurf) umfangreiche Variablen berührt, die untereinander in Beziehung stehen, und die sich nur teilweise aus der angestrebten Verfassungsänderung selbst ergeben, sondern auch aus intransparenten, dynamischen, nicht kontrollierbaren Verknüpfungen. Dies betraf beispielsweise Repräsentationslösungen auf nationaler und Provinzebene oder die Koinzidenz mit Verfassungspolitik in Grundsatzfragen (K), Entwicklungen auf der EU-Ebene oder die Nichtbedienung der ethisch-moralischen Konfliktlinie durch die großen Parteien (I), die Konjunkturabhängigkeit von Steuereinnahmen auf kommunaler Ebene (D) und mögliche Klagen griechischer Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof aufgrund der Inkompatibilität nationaler Regelungen mit europäischem Recht (G).
178 Dass übergreifende normativ-verfassungstheoretische Überlegungen – wie oben erwähnt – in der Initiierungsphase nicht explizit angestellt wurden, schließt nicht die Möglichkeit aus, dass auch ein kulturell bedingter Respekt vor Eingriffen in die Verfassung vorhanden war. Dieser Punkt lässt sich durch reine Beobachtung und Dokumentenanalyse nicht klären, und die in Kapitel 2.3 formulierten methodischen Einwände sprechen dagegen, sich hier auf Selbstauskünfte der Beteiligten zu stützen.
3.5 Zwischenbilanz
143
Tabelle 23: Von den verfassungspolitischen Initiativen berührte wichtigste Problemkomplexe Fall
K
G
I
D
berührte Problemkomplexe politisches, rechtliches und finanzielles Verhältnis Bund – Territorien (und Provinzen) Sonderrechte für Minderheiten (Ureinwohner) Repräsentationsprinzip Modernisierungsfolgen und –konflikte interne Reform des politisch-administrativen Gefüges der Nordwestterritorien Allokation von Finanzen/Gütern/Arbeitsplätzen in den Nordwestterritorien Verteilungskonflikt um Landrechte in den Nordwestterritorien Kompetenzverhältnis der Verfassungsorgane untereinander interne Organisation des Parlaments, Abgeordnetenrechte Modernisierung der Staatsverwaltung Dezentralisierung der kommunalen Selbstverwaltung Grundrechte der Bürger politisches und rechtliches Verhältnis Staat – Kirche Demokratiequalität der EU Effizienz der EU-Entscheidungsabläufe Verkopplung von EU-Osterweiterung und EU-Institutionenreform grundsätzliche Repräsentation irischer Interessen in der EU Militärische Neutralität (Abtreibungsproblematik) nationale Selbstbestimmung in der Steuerpolitik Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts globalen Standortwettbewerbs Steuerpolitik in den neuen Bundesländern angesichts der Beihilfevorschriften der EU steuerliche Finanzverflechtung im bundesdeutschen Föderalismus Wettbewerb der Kommunen vs. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie Unterbindung von Kostenabwälzungen an die Kommunen
Aufgrund der strukturellen und zufälligen Interdependenzen können auch brisante politische Themen, die systematisch durch das Wahrnehmungsraster von Verfassungsänderungsinitiatoren fallen und/oder Problempotenzial besaßen, doch noch unintendiert auf die Agenda der Verfassungspolitik treten bzw. durch sie berührt werden. Ein Beispiel waren die Kommunalfinanzen in Deutschland bei steigender Ausgabenbelastung durch den Staat, die von dem Wunsch nach Abschaffung der Gewerbesteuer berührt wurden, ein anderes die Ureinwohnerselbstregierung in Kanada, die mit der wahrgenommenen Notwendigkeit neuer Landvereinbarungen mit den Ureinwohnern verknüpft wurde. Umgekehrt besitzen Materien ein Potenzial zur Beeinflussung der Aushandlungen, die gar nicht in substanzieller Beziehung dazu stehen, z.B. die Abtreibungsproblematik in Irland. Wenn dies bereits für minimale Änderungen gilt, dann steigt für weitergehende Verfassungsänderungen wie im Falle der griechischen Verfassungsänderung die Zahl möglicher zu prüfender Alternativen exponentiell. Im Falle unbeschränkter Rationalität müssten alle diese Interdependenzen verarbeitet und fundierte Kosten-Nutzen-Rechnungen hinsichtlich aller Varianten zur Erreichung der Präferenzen angestellt werden. Aber selbst bei jener funktionalen Differenzierung, wie sie moderne Regierungssysteme ausmacht, scheinen die umfassende Kalkulation aller möglichen Effekte und ihre Optimierung auf eine, geschweige denn mehrere Variablen hin unwahrscheinlich. Die Kombination aus den zumeist nichtexotischen Themen der Verfassungsänderungen und dem Einfluss von Standardabläufen der Tagespolitik sorgte im Sinne einer beschränkten Rationalität zwar dafür, dass die Initia-
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3 Der Start der individualistischen Phase
toren inhaltliche Überlegungen zu den Problemhorizonten und möglichen Effekten der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen anstellten, doch in allen Fällen kann an der umfassenden Kalkulation von Kosten und Nutzen hinsichtlich aller betroffenen Materien gezweifelt werden. Wie bei den hier untersuchten Verfassungsänderungsinitiativen entstehen bereits bei der Sammlung und Verarbeitung von Informationen gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse (die gleichzeitig einer einseitigen Kontrolle beispielsweise durch den Premier vorbeugen). Hinsichtlich der Erklärung von Verfassungsänderungen mithilfe des Charakters der betroffenen Materie(n) und der Modellierung von Entscheidungsdimensionen ist daraus zweierlei zu schließen: Zum einen sind in der Praxis ideelle/wertebasierte Vorschläge kaum von distributiv angelegten Vorschlägen zu trennen. Zum anderen führen Erklärungsmodelle, die Entscheidungen lediglich auf die Gewinn- und Verluststruktur der Vorhaben selbst zurückführen, zu Vorhersagefehlern, selbst wenn sie einen multidimensionalen Raum modellieren, denn sie können die die Veränderlichkeit der Entscheidungsparameter gegenüber „Außen“-Einflüssen und die Interdependenz der Entscheidungsdimensionen kaum erfassen. Neben der Komplexität, Interdependenz und Veränderlichkeit der betroffenen Materien stellt sich die schwierige Quantifizierbarkeit als zweites strukturelles Problem abgewogener Kosten-Nutzen-Kalkulationen dar. Die meisten entscheidungsrelevanten Aspekte der jeweils thematisierten sozialen Zusammenhänge entzogen sich einer einfachen Bewertung. Dies galt für die Nunavut-Problematik, die Bedeutung des Vertrags von Nizza für Europa und für Irland und die umfangreichen, diffusen Änderungsinhalte in Griechenland. Je genauer eine Idee in einen Entwurf umgewandelt werden soll, desto schwerer fällt es, Kosten und Nutzen möglicher Alternativen zu quantifizieren. Im Falle Deutschlands gab es zwar aufgrund der inhaltlichen Nähe der angestrebten Verfassungsänderung zur „normalen“ Finanzpolitik umfangreiche Routinen, fachliches Know-how in der Vorbereitung und waren naturgemäß Rechnungen leichter anzustellen, doch fehlten hier wiederum Schlüsselinformationen zur Kalkulation der steuerpolitischen Effekte, und längerfristige Einflüsse etwa der Globalisierung ließen sich nur schätzen. Im Falle Irlands stand zudem aufgrund des bereits fixierten Vertrags von Nizza ein Großteil möglicher Alternativen faktisch nicht zur Verfügung, so dass es zwar konkrete Problemdimensionen gab, aber kaum Aushandlungsmöglichkeiten. Die Bewertungsbasis erschloss sich oft nicht aus der Änderungsinitiative selbst, sondern erforderte zusätzliche kognitive Leistungen der später prozessbeteiligten Akteure, ermöglichte Interpretationsräume und schuf Entscheidungsrisiken. Im Falle Kanadas waren noch nicht einmal die Entscheidungskosten abschätzbar, da das Verfahren künftiger Verfassungsänderungen selbst Gegenstand komplexer politischer Aushandlungen auf Bundes-, Provinz- und Territorialebene war, auf die der Initiator der hier besprochenen Verfassungspolitik wenig oder keinen Einfluss hatte. In Anbetracht dieser absehbaren objektiven Schwierigkeiten einer kognitiven Erfassung, Sinngebung und Präferenzbildung war kein spezifischer Konflikttypus zu erwarten. Grundsätzlich aber schien es mit Blick auf die Merkmale rationalen Handelns eher wenig wahrscheinlich, dass sich andere Akteure auf eine Zustimmung zu den initiierten Verfassungsänderungen einlassen würden, zumal die Kooperationsvoraussetzungen und die Verhandlungsmacht der Initiatoren in den vier Fällen ohnehin schon wenig förderlich für einen Erfolg der Initiative waren. Diese Eckpunkte der Fälle fasst Tab. 24 noch einmal zusammen.
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3.5 Zwischenbilanz
Tabelle 24: Eckpunkte der Initiierung der Verfassungsänderungen Initiator Ziel Motivation relative Verhandlungsmacht Kooperationsvoraussetzung Nutzen für andere zu erwartender Konflikttyp
K ethn. Minderheit Selbstregierung hoch klein uneindeutig uneindeutig uneindeutig
G Regierung Reputation mittel groß – mittel uneindeutig uneindeutig uneindeutig
I Regierung EU-Reform hoch mittel uneindeutig uneindeutig uneindeutig
D Bundesregierung Steuersenkung mittel mittel uneindeutig uneindeutig uneindeutig
Der verfassungspolitische Verfahrensweg selbst war oft nicht genau definiert. In Kanada konnte ein langer außerparlamentarischer Prozess mit der Bundesregierung als wichtigem Verhandlungspartner erwartet werden; das formale Verfassungsänderungsprocedere hing, wie erwähnt, vom Ergebnis der großen Verfassungsrunden auf Bundesebene ab. In der Verfassungspraxis waren unterschiedliche Wege zu Verfassungsmodifikationen gebräuchlich. In Griechenland erschlossen sich bestimmte Verfahrensfragen, die aufgrund der konsekutiven Abstimmung in zwei Parlamenten durchaus bedeutsam sein konnten, nicht aus den Verfassungsregularien. Die Vetospieler (die Parlamente) konnten hier untereinander nicht verhandeln. Das spekulative Element ergab sich aber weniger aus einer unbekannten inhaltlichen Positionierung der Intraorganakteure im nachfolgenden Parlament, die wahrscheinlich ähnlich bliebe, sondern aus der Kräftekonstellation zwischen ihnen. Das Verfahren in Irland war zwar klar, ergab sich aber nicht aus der Verfassung selbst, sondern folgte mehr den eingeübten Praktiken und dem gefühlten gesellschaftlich-politischen Druck auf die Regierungsmehrheit, nach dem ersten gescheiterten Referendum nicht eine andere Legitimationsstrategie zu nutzen. Hier war der gewählte Weg möglicherweise beschwerlicher als formal nötig. Wie im griechischen Fall konnten die beiden Vetospieler (hier Parlament und Referendumsteilnehmer) nur bedingt miteinander verhandeln, da die Wahlbevölkerung uneinheitliche Interessen vertritt, punktuell und ungebunden in Erscheinung tritt. Im deutschen Fall konnten die Vetospieler direkt miteinander kommunizieren, waren jedoch parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzt und folgten unterschiedlichen Rationalitätskalkülen (Parteiinteressen, Landesinteressen). Auch in etablierten Verfassungsdemokratien sind die Regeln von Verfassungsänderungsverfahren letztlich nur teilweise institutionalisiert (und in Maßen konstitutioneller Rigidität abbildbar), sondern ergeben sich auch aus früherem verfassungspolitischem Handeln anderer Akteure, aus der Bereitschaft, ohne konkrete konfliktkanalisierende prozedurale Vorgaben mit anderen zu verhandeln und aus den Routinen des „normalen“ Politikbetriebs. Dies beeinträchtigt die Schätzung von Entscheidungskosten.
4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase: Abwehr, Positionsformierung und Bemühung des Initiators um Kooperationsbereitschaft des (nächst-)wichtigsten Akteurs
Dieses Kapitel zeigt auf, wie die Mitspieler auf die verfassungspolitischen Initiativen reagierten, wie sie sich inhaltlich positionierten und wie es den Initiatoren gelang, trotz der unübersichtlichen mehrdimensionalen Konfliktpotenziale, uneindeutiger Kosten-NutzenBewertungen sowie der Einbeziehung oder Betroffenheit unterschiedlicher Akteure und Handlungsebenen Aushandlungsprozesse in Gang zu setzen.
4.1 Kanadisches Fallbeispiel (1979-1992) Die ITC als Initiatorin des kanadischen Fallbeispiels stand einer übermächtigen Bundesregierung gegenüber, denn diese war als Repräsentantin der politischen Mehrheit „Pförtnerin“ zur Bundesgesetzgebung, politisch sehr stark, konnte die Spielregeln der Aushandlungen bestimmen und verändern, genoss unabhängig von der konkreten Parteienkonstellation auf Bundesebene von beiden Akteuren die größere überregionale Reputation, verfügte aufgrund des eher geringen strategischen Eigeninteresses an dem Gebiet über eine plausible Außenoption und gleichzeitig über inhaltliche Gestaltungsspielräume, sollte sie sich auf Verhandlungen einlassen. Sie war weder an konkrete Vorgaben gebunden, wie auf die Territorialforderung179 zu reagieren sei, noch stand sie unter Handlungsdruck oder musste beim Erhalt des Status quo ein ernsthaftes Risiko scheuen. Und sie war im Hinblick auf die kognitiven und administrativen Ressourcen der ITC haushoch überlegen (HoC 1993: 20360). Es verwundert daher nicht, dass die Bundesregierungen ihren eigenen Interessen folgten und auf die Forderung der ITC nicht eingingen. Die 1979 gebildete konservative PCMinderheitsregierung betrachtete eine eigene Provinz, ja selbst ein eigenes Territorium der Inuit als zu weitreichende Reform. Der Minister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, Jake Epp, räumte zwar ein, dass die Zeiten eines kolonialistischen oder paternalistischen Umgangs des Bundes gegenüber dem Norden Kanadas vorbei seien und die Inuit mehr politische Kontrolle über ihren Alltag und ihr Land erlangen sollten, doch wollte die Bundesregierung keine ethnisch basierten Regionaleinheiten oder politischen Institutionen, weil sie befürchtete, dass dies eine Art „Testlauf“ für die separatistische Bewegung in Quebec sein könnte (CBC 1979). Obwohl die ITC klar machte, dass ihre Forderungen innerhalb des kanadischen politischen Systems realisiert werden sollten, sorgte der scharfe 179 Auch wenn der erste Entwurf der ITC den Übergang zum Projektstatus vorsah, bestand ihre Hauptforderung in der Etablierung eines eigenen Territoriums. Daher wird im Folgenden nicht von der Provinz-, sondern der Territorialforderung gesprochen.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
Verfassungskonflikt auf Bundesebene zwischen Quebec und den Anglokanadiern dafür, dass Forderungen nach mehr Entscheidungsrechten grundsätzlich schnell als Separatismus verstanden wurden (Jull 1998: 7). Wie ihre Vorgängerin war die Bundesregierung zwar dazu bereit, die Landrechte zu regeln, doch über die Forderung nach einer eigenen politisch-administrativen Gebietseinheit sollte allenfalls separat gesprochen werden. Dahinter stand die Vorstellung, dass es unangemessen sei, Landrechte einer Ureinwohnergruppe als Instrument zu nutzen, eine eigene Regierung zu etablieren. Die Konservativen setzten den von den Liberalen begonnenen Devolutionskurs gegenüber der NWT-Regierung fort und stärkten damit faktisch deren Position gegenüber den Inuit (Merritt 1993; Legislative Assembly of the NWT o.J.; Cameron/White 1995: 96). Da sich der Devolutionsansatz und die Bereitschaft zu Landverhandlungen180 im Grundsatz wenig unterschieden und auch die Liberale Partei das ITC-Konzept eines eigenen Territoriums sowie die Verknüpfung von Landverhandlungen und Territorialforderung ablehnte, änderte sich nichts Grundlegendes an der Aushandlungssituation, als sie nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum und Unterhauswahlen im Februar 1980 erneut die Regierungsgeschäfte übernahm. Sie begründete ihre Ablehnung jedoch nicht mit der Furcht vor ethnischem Separatismus. Vielmehr war sie prinzipiell nicht dazu bereit, Kontrolle und Macht über die natürlichen Ressourcen und das Kronland bereits vor der Einrichtung einer Provinz Nunavut abzugeben, wie dies im Nunavut-Konzept vorgesehen war. Der Bund habe ohnehin schon Probleme mit den Provinzen, die Kompetenzen hinsichtlich der Bodenschätze und Ressourcenverteilung besitzen und sie eher im Provinzinteresse benutzten, ohne auf die nationalen Bedürfnisse zu achten (CBC 1979). Weitere Gründe bestanden darin, dass die Bundesregierung wie ihre Vorgängerin die Inuit als nicht bereit dafür befand, ein eigenes territoriales Verwaltungs- und Regierungssystem betreiben zu können und einen Beitrag zur Deckung der Kosten zu leisten (Nunavut Revisited 1990d). Der im März 1980 veröffentlichte Bericht des Sonderbeauftragten des kanadischen Premiers für die Verfassungsentwicklung in den Nordwestterritorien, Charles Drury (Liberal),181 bestätigte der Bundesregierung die Angemessenheit dieses Kurses. Er setzte sich – mit Blick auf die NWT und nicht die Inuit – umfassend mit den meisten der von der Territorialforderung betroffenen Problemkomplexe auseinander.182 Auf dieser Analyse basierend, empfahl er der Bundesregierung, Kompetenzen in bestimmten Bereichen schrittweise an die Kommunalkörperschaften oder die Territorialregierung zu übergeben und in Land-
180 Die politischen Eckpunkte der liberalen Bundesregierung veränderten sich nur graduell. Ihre Ziele blieben auch nach 1980 die Aushandlung fairer und ausgewogener Landabkommen mit den Ureinwohnern, die Gewährleistung, dass diese Abkommen es den Ureinwohnern erlauben, so zu leben, wie sie es wünschen, sowie die Absicherung, dass die Rechte anderer Menschen dabei respektiert werden (Sawchuk 1982). Die Bundesregierung wollten in den Landabkommen die Landrechtsfragen endgültig klären, während die Ureinwohner eher auf eine verfassungsrechtlich verankerte Beziehung zum kanadischen Staat hofften, die für weitere Entwicklungen offen bliebe (Dickson 1999: 428 ff.). 181 Trudeau war mit der Einsetzung 1977 dem Anraten des NWT-Kommissars Hodgson gefolgt, ignorierte aber das Bestreben der Territorialversammlung, die eine eigene Studie zum politischen, sozialen und ökonomischen Status der NWT unter Einbeziehung der Öffentlichkeit erarbeiten wollte. Drury hatte zuvor langjährig verschiedene wichtige Ministerämter in Regierungen der Liberalen Partei inne (Lewis 1998; Cairns 1982). 182 Teilthemen waren die Ureinwohner der NWT, die unterschiedlichen dort eingebrachten Landforderungen, das mit den Inuvialuit erzielte Grundsatzabkommen zu Landrechten, die Rechte der und Politik gegenüber Ureinwohnern in Kanada insgesamt, das Institutionensystem der NWT inklusive der Binnengliederung bis zu den Kommunen sowie die natürlichen Ressourcen und Rechtsverpflichtungen des Bundes in den NWT.
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und Ressourcenfragen gemeinsam mit der NWT-Regierung zu entscheiden. Zur Überführung in den Provinzstatus oder Teilung der NWT riet er nicht (Legislative Reports 1980). Der Drury-Bericht stieß bei der ITC auf Ablehnung und steigerte ihre Motivation, sich für ein eigenes Territorium zu engagieren. Nach der Wahl des NWT-Parlaments im Oktober 1979 verweigerten die Abgeordneten aus den Inuit-Gebieten, unter ihnen ITC-Aktivisten, die aufgrund des Konkordanzsystems erwartete Mitwirkung in der NWT-Exekutive, da sie eine Regierung, die nicht die Teilung der NWT befürwortete, nicht zu stark unterstützen wollten. Sie verzichteten damit auf zwei der fünf vom Parlament zu besetzenden Exekutivposten, nahmen aber an der Wahl selbst und der Parlamentstätigkeit teil (Lewis 1998). Sie waren auch mehrheitlich nicht bereit, den von den anderen Ureinwohnern lobbyierten und vom NWT-Kommissar Parker unterstützten Devolutionskurs und den politisch-administrativen Umbau der NWT im Zeichen von verantwortlicher Regierung und Repräsentation mitzutragen, da dies nicht traditionelle Inuit-Organisationsprinzipien seien.183 Dies berührte einen zentralen Konflikt innerhalb der NWT und auch der anderen indigenen Gruppen. Für die große Mehrheit war die überkommene Beziehung zwischen Bundesregierung und NWT diskreditiert und nicht mehr akzeptabel, aber die Auseinandersetzung über den besten Weg einer Veränderung und mögliche Kollisionen zwischen der Forderung nach einem konstitutionalisierten Selbstregierungsrecht und dem Engagement für eine Verlagerung von Kompetenzen auf NWT-Ebene und verbesserte Partizipationsmöglichkeiten trugen sie in den Vertretungsorganen aus. Keine andere ethnische Gruppe verweigerte sich einer Mitwirkung in der Exekutive (Lewis 1998; Legislative Report 1981a; GN o.J.; University of Alberta 1999; Nickerson 1982). Die unterschiedlichen Positionen hinsichtlich Selbstregierung und Devolution drohten, den begonnenen politisch-administrativen Wandel der NWT und die Behebung der für solche Reformen typischen Übergangsprobleme184 gänzlich zu blockieren, weshalb die Territorialversammlung im November 1979 einen parlamentarischen Sonderausschuss „zur Einheit“ einsetzte. Sein Auftrag lag darin zu bestimmen, mit welchen Mitteln politischer Konsens zwischen den Völkern des Nordens erzielt werden könnte (Legislative Reports 1981b). Erst nachdem der Ausschuss seine Arbeit aufgenommen hatte und das Parlament zugesichert hatte, dass der Nunavut-Plan auf der Agenda bliebe, beteiligten sich Abgeordnete der Inuit an der Regierung (Lewis 1998). Die Jahresversammlung der ITC 1980 bestätigte noch einmal einstimmig die Territorialforderung (Hicks/White 2000: 73). Aufgrund der Diskrepanz der Positionen hielt es der im Oktober 1980 vorgelegte Bericht des parlamentarischen Sonderausschusses für ausgeschlossen, einen Konsens innerhalb der NWT für die Beibehaltung eines gemeinsamen Territoriums zu erzielen, und empfahl explizit dessen Teilung. Er löste, gerade auch aufgrund des Widerspruchs zur DruryEmpfehlung, eine Debatte im NWT-Parlament aus, die sich über fast die gesamte halbjährige Sitzungsperiode erstreckte. Die Ureinwohnergruppen außerhalb des Inuit-Gebietes befürchteten, dass die Teilungsforderung die Durchsetzung ihrer Landansprüche gegenüber der Bundesregierung und einen möglichen späteren Provinzstatus für die NWT behindern 183 Von den Inuit-Abgeordneten im NWT-Parlament lehnte einer ein Territorium Nunavut ab. Er begründete dies damit, dass eine „Rassentrennung“ den kanadischen Verfassungsprinzipien zuwiderlaufe und die von der NWT-Regierung geplante Übertragung von Kompetenzen auf die kommunale Ebene den Inuit eine glänzende politische Zukunft innerhalb der bestehenden Territorialstrukturen verspreche (Hicks/White 2000: 28). 184 Die Verantwortlichkeiten wurden nicht systematisch und nur teilweise verlagert, so dass oft Institutionen auf zwei Ebenen anstatt vorher nur auf einer ohne klare Kompetenzabgrenzungen für bestimmte Politiken und Entscheidungen zuständig waren (Nickerson 1982).
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könnte (Cairns 1982). Die Abgeordneten setzten einen weiteren parlamentarischen Sonderausschuss ein, der eine Studie zu den Folgen der Teilung überwachen sollte, hörten die Ureinwohnergruppen an, die Vereinigung der Kommunen und die Abgeordneten der beiden NWT-Wahlkreise im kanadischen Unterhaus. Nach dieser diskursiven Phase befürwortete das Territorialparlament im Mai 1981 auf Antrag der Inuit-Abgeordneten mit einer klaren Mehrheit von 16:1 grundsätzlich die Teilung der NWT, die Durchführung eines Volksentscheids über die Schaffung eines Territoriums Nunavut und die Einrichtung eines Sonderausschusses zur Verfassungsentwicklung der westlichen NWT. Es handelte sich aber nur um Empfehlungen an die Bundesregierung (Legislative Reports 1981b; Abele/Dickerson 1985: 11; University of Alberta 1999). Die politisch-administrativen Reformen der NWT liefen währenddessen selbst weiter.185 Nachdem der parlamentarische Sonderausschuss zu den Folgen der Teilung am 12.11.1981 einen Bericht zu Kosten und Auswirkungen der Teilung sowie mit vier alternativen Grenzvorschlägen vorgelegt hatte,186 beschloss das NWT-Parlament die Abhaltung eines Volksentscheids zur Teilung sowie die dafür notwendigen allgemeinen Verfahrensregelungen.187 Das Referendum an sich war formal nicht bindend, doch das Parlament verpflichtete sich erstens, bei einem positiven Ausgang die Bundesregierung darum zu ersuchen, die Nordwestterritorien zu teilen. Zweitens verpflichtete es sich, im Falle ihrer Einwilligung die Bundesregierung darum zu ersuchen, eine Bundesgrenzkommission zu ernennen, die sich mit der Bevölkerung der NWT konsultieren und exakte Grenzen des neuen Territoriums empfehlen sollte. Aspekte der Grenzziehung, Landfragen und Ressourcenkontrolle, die die Ureinwohnergruppen des Territoriums jeweils separat mit der Bundesregierung verhandelten, blieben also unberührt. Teilnehmen durften alle wahlberechtigten Erwachsenen, deren Hauptwohnsitz mindestens drei Jahre vor dem Referendumsdatum in den NWT lag (Legislative Reports 1981b; 1982a). Noch bevor der Volksentscheid stattfand, richtete das Territorialparlament im Februar 1982 die Verfassungsallianz (Constitutional Alliance) ein. Ihr Mandat bestand darin, auf Verfassungskonferenzen die Öffentlichkeit im Hinblick auf politische Reformen zu konsultieren, Vorschläge für die politisch-institutionelle Entwicklung zu erarbeiten, nach öffentlicher Ratifizierung zu streben und dann das Ergebnis mit Ottawa zu verhandeln (Northwest Territories Archives u.a. 1990; Baldwin 1983). Sie bestand zunächst aus Mitgliedern des NWT-Parlaments und den Führungsspitzen der NWT-Ureinwohnerorganisationen, wenig später kam noch die NWT-Kommunalvereinigung (und damit Vertreter der Territorialräte) hinzu. Die Verfassungsallianz, die sich in zwei Regionalausschüssen organisierte, sollte diesen die Möglichkeit geben, Gespräche auch miteinander über ihre Anliegen zu führen (Dickerson 1992: 161).
185 1980 wurde die Zahl der vom Parlament gewählten Regierungsmitglieder um zwei auf sieben erhöht, der dem Bundesminister verantwortliche Kommissar und sein Stellvertreter kontrollierten nur noch drei Ressorts, es gab den ersten eigenen Finanzminister (Legislative Report 1981a; Cairns 1982). 186 Der Bericht schätzte die Kosten der Einrichtung einer zweiten Territorialhauptstadt und die Auswirkungen der Teilung für das ökonomische Wachstum und die Weiterentwicklung des parlamentarischen Modells verantwortlicher Regierung. Landrechte, Bodenschätze und weitere Devolution wurden nicht thematisiert (Legislative Reports 1982a). 187 Der Kommissar erhielt das Recht, Volksentscheide zu jedem Thema zu initiieren, das ihm bedeutungsvoll für die NWT erschien und beraumte auf Beschluss des Parlaments, der die Formulierung der zur Abstimmung vorgelegten Frage enthielt, den Volksentscheid an.
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Der Volksentscheid zur Teilung der NWT fand am 14.04.1982 statt und erbrachte in den Inuit-Kommunen eine hohe Zustimmung von 80 bis 95 Prozent zur Teilung. Sie überstimmten de facto den Westteil, wo eine Mehrheit die Teilung ablehnte, aber die Wahlbeteilung niedrig lag. So ergab sich territoriumsweit eine knappe Zustimmung von 56 Prozent der abgegebenen Stimmen. Ablehnend votierten auch viele Bewohner der westlichen InuitSiedlungen, die Nachteile durch die große Entfernung zur erwarteten Hauptstadt Frobisher Bay (ab 1987 Iqaluit) und die Unwägbarkeiten der Grenzziehung fürchteten (CBC 1982a; Nunatsiaq News 01.12.1995; Abele/Dickerson 1985). Aufgrund des Abstimmungsergebnisses bat das Territorialparlament (bei einer Enthaltung) die Bundesregierung, die NWT zu teilen und eine Bundesgrenzkommission einzusetzen. Diese sollte bereits bis zum Frühjahr 1983 eine Grenzlinie empfehlen. Außerdem setzte das Parlament einen Sonderausschuss zur Teilung ein, dem alle Abgeordneten angehörten. Seine Aufgabe bestand darin, Empfehlungen dazu zu erarbeiten, wie die bestehende und künftige Gesetzgebung, Politiken und Praktiken der NWT-Regierung geändert oder weiterentwickelt werden könnten, um die Dualität der Interessen des Ost- und des Westteils zu reflektieren, und mögliche Modifikationen der Haushalts- und Finanzplanung vorzuschlagen, die die östlichen und westlichen Interessen reflektieren und für die Folgen der Teilung vorzubereiten. Er war außerdem autorisiert, Übergangsmaßnahmen in Vorbereitung der Teilung zu empfehlen (Legislative Reports 1982b). Obwohl die Bundesregierung die ITC-Forderung nach einem Inuit-Territorium ablehnte und noch kein eigenes Konzept für die politisch-administrative Zukunft der Region hatte, sah sie sich in Anbetracht der Entwicklungen auf NWT-Ebene genötigt, das Referendumsergebnis vorerst anzuerkennen (Jull 1998: 7). Ende November 1982 erklärte der Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, John Munro, dass er die Teilung der NWT unterstütze, sobald ein Konsens über den zukünftigen Verlauf der Grenzen erreicht worden sei. Weitere Bedingungen dafür, dass sich die Bundesregierung für die Schaffung eines neuen Territoriums gesetzgeberisch einsetzen würde, seien eine anhaltende Unterstützung für die Teilung durch eine Mehrheit der Bevölkerung in den NWT, die Regelung der Landansprüche von Ureinwohnern mit der Tungavik-Föderation von Nunavut (Tungavik Federation of Nunavut, TFN)188 sowie eine Vereinbarung über die Kompetenzabgrenzungen zwischen der Territorialregierung und der regionalen Ebene (CBC 1982b; Loon 1990). Die Bundesregierung hängte die Bedingungen damit sehr hoch, versprach keine Ergebnisse und wies die ITC faktisch an die NWT-Regierung ab. Zwar können die Auflagen durchaus als rationale Voraussetzungen für eine Territorialreform betrachtet werden, doch das geringe Entgegenkommen der Bundesregierung dabei, die Erfüllung dieser Bedingungen zu organisieren, deutete darauf hin, dass sie kein Interesse an dieser Reform hatte. Ungeachtet der anspruchsvollen Bedingungen stoppte die Erklärung den Prozess nicht, sondern wurde von den Territoriumsverfechtern als Chance betrachtet,189 zumal die Konsti188 Die 1982 gegründete TFN ersetzte die ITC-Kommission für Nunavut-Landansprüche in den Landverhandlungen mit der Bundesregierung. Sie wurde von ihr als offizielle Vertreterin der Interessen der Inuit in dieser Angelegenheit anerkannt und war Korporativmitglied der ITC (Cameron/White 1995: 94f.) 189 Peter Ittinuar, der bis 1984 das ostarktische Mandat im kanadischen Unterhaus innehatte, wechselte sofort nach der Erklärung von der Neuen Demokratischen Partei zur Liberalen Partei. Den Schritt begründete er mit der politischen Übereinstimmung in dieser Angelegenheit und damit, dass er in einer Regierungspartei viel mehr bewirken könne als in einer kleinen Partei (Townsend 1982). Dies verdeutlicht den prioritären Stellenwert der Territorialforderung für die Inuit-Repräsentanten gegenüber anderen politisch-programmatischen Themen.
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tutionalisierung von Ureinwohnerrechten trotz großen gemeinsamen Lobbyings nur bedingt gelungen war.190 Die im Verfassungsgesetz von 1982 enthaltene Bürgerrechtscharta verlieh den Inuit zwar den konstitutionellen Status von Ureinwohnern (Aboriginal peoples) und die damit verbundenen Rechte, aus denen sich Ansprüche auf Land und Bodennutzung ableiten ließen (Cameron/White 1995: 96f), doch worin die garantierten Rechte genau bestanden und ob sie die Selbstregierung umfassten, war nicht festgeschrieben. Die gesetzgeberische Zuständigkeit für die Ureinwohner und deren Siedlungsgebiete verblieb beim Bundesparlament. Fast alle Ureinwohnergruppen, darunter die ITC, lehnten das Verfassungsgesetz von 1982 daher ab (Russell 2004b: 14). Dies verband sie mit Quebec, das als einzige Provinz nicht zugestimmt hatte. Auch die umfassenden Kompetenztransfers an die Territorien, die von nun an den Provinzen weitgehend gleichgestellt waren, machten da halt, wo es für die ITC interessant wurde: Sie besaßen weiterhin keine Zuständigkeit bzw. Kontrolle über die Verwaltung von Land und nicht erneuerbaren Ressourcen und keine formalen Teilhaberechte an Verfassungsänderungsprozessen (Dickerson 1992: 3; Cameron/White 1995: 118; Magnet 2004: 98f.; White 1991). Im Hinblick auf das Verfahren einer rechtlichen Umsetzung der ITC-Forderung verschlechterte das Verfassungsgesetz von 1982 sogar die Situation gravierend (Penikett 1988; Nerysoo 1989). Während zuvor faktisch exekutivföderalistische Aushandlungen dominierten (Weaver 1999), wurden nun unterschiedlich inklusive Verfahren festgeschrieben, die je nach Materie die Zustimmung eines, der meisten oder aller Provinzparlamente umfassen konnten.191 In allen Verfahren musste die Gesetzesinitiative auf föderaler Ebene im Unterhaus eingebracht und von beiden Kammern verabschiedet werden, aber nur bei organisatorischadministrativen Verfassungsänderungen zum Bereich der Bundesregierung, des Unterhauses und des Senats reichte dies aus. Das für die Einrichtung eines neuen Territoriums Nunavut notwendige verfassungsrechtliche Verfahren hing also vom Inhalt der Aushandlungsprozesse bzw. der Formulierung der Änderung und ihrer Auslegung ab, die von der ITC angestrebte spätere Verleihung des Provinzstatus bedurfte aber in jedem Falle der Zustimmung von kanadischem Parlament, Senat und von mindestens sieben Provinzparlamenten, die gleichzeitig mindestens 50 Prozent der kanadischen Bevölkerung repräsentieren. Ein moderater Bewusstseinswandel ließ sich in der kanadischen Politik dennoch beobachten und bestärkte die Ureinwohner in ihrer Sicht und ihren Forderungen. Auf den ab März 1983 jährlich einmal stattfindenden Premierministerkonferenzen zu Ureinwohnerrechten, an denen die Ureinwohnerorganisationen teilnahmen, ging es fast ausschließlich um die Konstitutionalisierung eines inhärenten Rechts der indigenen Gruppen auf Selbstre190 Die ITC betrachtete die Präzisierung ihrer Rechte, ihrer Ansprüche auf Land und Ressourcenteilhabe sowie Selbstregierung als unterschiedliche, aber miteinander verbundene Aspekte eines politischen und wirtschaftlichen Emanzipationsprozesses. Ethnische Selbstregierung suchte sie nicht nur über das eigene Territorium, sondern auch über die Konstitutionalisierung des Ureinwohnerrechts auf Selbstregierung zu erreichen. Für beides waren unterschiedliche ITC-Ausschüsse zuständig (GN o.J.a). 191 Die Grundregel erfordert die Zustimmung von Parlament, Senat und mindestens sieben Provinzparlamenten, die gleichzeitig mindestens 50 Prozent der kanadischen Bevölkerung repräsentieren (Part V [38]). Verfassungsänderungen, die bestimmte staatliche Institutionen betreffen, darunter die gleichmäßige Repräsentation der Provinzen auf Bundesebene und das Verfassungsgesetz von 1982, benötigen die Zustimmung von Parlament, Senat sowie aller Provinzparlamente (Part V [41]). Organisatorisch-administrative Verfassungsänderungen zum Bereich der Regierung, des Unterhauses und des Senats können als einfaches Gesetz durch das kanadische Parlament umgesetzt werden (Part V [44]). Verfassungsänderungen, die eine oder mehrere, aber nicht alle Provinzen betreffen, bedürfen der Zustimmung des Parlamentes, des Senats sowie die des Parlamentes der betroffenen Provinz/en (Part V[43]) (Constitution Act, 1982).
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gierung. Besonders der im Oktober 1983 vorgelegte Penner Report beeinflusste die Verfassungsdebatte stark. Dieser Bericht eines Sonderausschusses des Unterhauses zur indianischen Selbstregierung empfahl der Bundesregierung, die Ureinwohner als eine andersartige Regierungsform innerhalb der kanadischen Föderation anzuerkennen und den Prozess der Selbstregierung voranzutreiben.192 Auf Basis der Konferenzvorlage von 1983 wurde am 21.06.1984 die „Verfassungsänderungsproklamation von 1983“ unterzeichnet, die den Rechten, die aus Ureinwohner-Landvereinbarungen resultieren, Verfassungsrang verlieh. Außerdem verpflichtete sie die Bundesregierung und die Provinzregierungen dazu, Repräsentanten der Ureinwohner und der Territorialregierungen auf Verfassungskonferenzen hinsichtlich der Regelungen zu konsultieren, die sie direkt betreffen (Maton 2004; DIAND 1996). Die prinzipielle konstitutionelle Anerkennung von Ureinwohnerrechten, die Bestätigung bestehender Verträge, die Aufwertung der Landverhandlungen und die Bekundungen der Politik beendeten allerdings die Konflikte der Ureinwohner mit dem Bund, den Provinzen und Territorien nicht und brachten die Inuit in ihrer Territorialforderung nicht weiter. Premier Trudeau begrüßte zwar 1984 die Idee eines neuen nördlichen Territoriums (TFN 1989), doch die liberale Bundesregierung verwies gleichzeitig darauf, dass ein Ureinwohnerrecht auf Selbstregierung nur innerhalb der Grenzen der bestehenden Verfassung möglich sei. Sie lehnte daher die Empfehlungen aus dem Unterhaus ab, schrittweise provinzähnliche Kompetenzen an die Ureinwohnergruppen zu transferieren (Newhouse 2002).193 Die konservative Bundesregierung unter Premier Bill Mulroney (PC) setzte diese Politik nach ihrem Amtsantritt 1984 fort, zumal sie befürchtete, dass sich die Inuit im Falle eines eigenen Territoriums an der politischen Entwicklung in anderen arktischen Gebieten orientieren könnten, besonders an Grönland (Merritt 1993).194 Fachminister Crombie unterstützte 1985 bei einem Besuch der NWT die Teilung, ohne den Abschluss der Landverhandlungen in den NWT zur Voraussetzung dafür zu nennen, doch die konzeptionelle Auseinandersetzung der Bundesregierung mit der Politik ihrer Vorgängerin verzögerte die Gespräche mit allen Ureinwohnerorganisationen. Ihr 1985 formulierter Zwei-Wege-Ansatz zur Selbstregierung sah Verfassungsverhandlungen sowie Einzelverhandlungen mit Ureinwohnergruppen und tripartistische Verhandlungen zwischen Bundesregierung, Provinzen und Nicht-Status-Ureinwohnern als Alternativen vor. 1986 engte die Bundesregierung die Spielräume im Rahmen der Landverhandlungen deutlich durch eine Uminterpretation der „Verfassungsproklamation von 1983“ ein. Sie wurde nun dahingehend ausgelegt, dass Selbstregierungsklauseln, die in Landverhandlungen vertraglich vereinbart wurden, erst dann den vorgesehenen verfassungsrechtlichen Schutz genießen, wenn eine entsprechende
192 Das Recht auf Selbstregierung sollte in der Verfassung verankert werden, um Gesetze zur Anerkennung der „Indian governments“ zu ermöglichen. Erstmalig erkannte danach das kanadische Unterhaus parteiübergreifend an, dass die Ureinwohner sich historisch selbst regiert haben und deshalb grundsätzlich ein Recht auf Selbstregierung besitzen (Wherett 1999: 3). 193 Der Penner Report avisierte eine Ureinwohnerselbstregierung innerhalb Kanadas mit einem Set individuell ausgehandelter Rechte und fiskalischer Arrangements und definierte die Kompetenzbereiche von Selbstregierung ähnlich wie die der Provinzen: Bildung, Kinder-, Gesundheitsfürsorge, Soziales, Kultur, Land- und Ressourcennutzung, die Erhebung von Steuern und Abgaben, Wirtschafts- und Standortpolitik, Justiz, Polizei und intergouvernementale Beziehungen (Newhouse 2002: 6). 194 In Grönland, das zu 90 Prozent von Inuit besiedelt ist, war die linksgerichtete Partei Siumut klare politische „Hausmacht“. Es genoss seit einem Referendum 1979 innerhalb Dänemarks weitgehende Autonomie.
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Verfassungsänderung stattgefunden habe (Wherett 1999: 3; Leslie 2004: 5f.).195 Der konstitutionelle Status der Landabkommen selbst wurde aber nicht angezweifelt. Die Strategie der Bundesregierung bestand also in einer allgemeinen und symbolischen Anerkennung von Ureinwohnerrechten – die bei der ITC-Inuit-Führung den fälschlichen Eindruck aufkommen ließ, dass in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Einigung sowohl hinsichtlich der Landverhandlungen als auch des Territoriums Nunavut erzielt werden könnte (Okalik 2000; TFN 1989) – und einer Zurückdrängung konkreter politischadministrativer Reformansprüche. Auf der Ebene der „hohen Verfassungspolitik“ geschah ebenfalls nichts, da sich in den Verfassungsrunden zu Ureinwohnerfragen auf Bundesebene keine Mehrheit von Bundes-, Provinz- und Territorialregierungen für die konstitutionelle Verankerung des Rechts auf Ureinwohnerselbstregierung fand. Von den Provinzregierungen zeigten sich nur die von Ontario, Manitoba und New Brunswick offen für solche Bestrebungen. Auch die vertretenen indigenen Gruppen selbst hatten sehr unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich Selbstbestimmungs-, Bodennutzungs-, Bodenschatz- und Bildungsrechten, definierten Selbstregierung unterschiedlich und verfolgten auf den Konferenzen keine gemeinsame Verhandlungsstrategie (AFN o.J.). Unter diesen Bedingungen versuchte die ITC immer wieder, ihre Forderung nach einem eigenen Territorium im Rahmen der Landverhandlungen zwischen TFN und Bundesregierung einzubringen und beharrte dabei nicht mehr auf der Forderung nach Selbstregierung innerhalb des Territoriums, sondern öffnete sich der aussichtsreicheren Idee einer öffentlichen Verwaltung (Nunavut Revisited 1990a; Cameron/White 1995: 94f.; Merritt 1993). Ihr Ansprechpartner war ein über die Jahre weitgehend konstantes Verhandlungsteam der Bundesregierung. Fachminister und Kabinett spielten eine untergeordnete Rolle; involviert waren aber aufgrund der Breite der verhandelten Materien zahlreiche Bundesministerien unterhalb der Führungsebene.196 Im Gegensatz zu Verhandlungen mit manchen anderen Ureinwohnervölkern fanden diese kontinuierlich, aber jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit statt (Molloy 1993; Fenge/Barnaby 1987; Merritt 1993: 4). Den Verhandlungsrahmen der Bundesregierung markierten zum einen die geschilderten allgemeinen politischen Vorgaben zum Umgang mit Selbstregierungsforderungen, zum anderen das Devolutionskonzept gegenüber den NWT, die gegenüber den Inuit weiterhin gezielt gestärkt werden sollten. Gemäß diesem Grundsatz wurde neben den komplexen Rücksprachen mit und zwischen den Bundesministerien auch die NWT-Regierung regelmäßig konsultiert, bevor das Verhandlungsteam für die Bundesregierung eine Antwort auf die Forderungen der TFN formulierte. Die Territorialregierung sah besonders das ökonomische Risiko einer Teilung: sinkendes Vertrauen in Investitionen, Bedrohung von Arbeitsplätzen im Umfeld der politischen Institutionen in Yellowknife und die Verlagerung öffentlicher Beihilfen Ottawas vom Westteil der NWT in das neue Territorium (Molloy 1993; 195 Damit waren entsprechende Klauseln in den Landabkommen beispielsweise mit den Inuvialuit, die die Verpflichtung der Bundes- und Territorialregierungen zur Aushandlung von Selbstregierungsübereinkünften beinhalteten, verfassungsrechtlich nicht geschützt. 196 Bereits 1982 hatte die liberale Bundesregierung die Aushandlungen an ein Verhandlungsteam delegiert, das ungeachtet des Machtwechsels 1984 und zahlreicher Personalwechsel im Amt des Fachministers für Ureinwohnerangelegenheiten und nördliche Entwicklung beständig blieb. Chefunterhändler Thomas Molloy vertrat in gleicher Funktion auch die Interessen der Bundesregierung in Auseinandersetzungen mit anderen Ureinwohnergruppen. Die Fachminister waren unterschiedlich stark an der Problematik interessiert und kaum in die Aushandlungen mit den Inuit involviert. Es war schwer, die Thematik überhaupt auf die Kabinettsagenda zu bringen. Bis 1993 geschah dies nur dreimal: 1983, 1987 und 1990 (TFN 1989; Molloy 1993).
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Merritt 1993). Im Ergebnis vermied das Verhandlungsteam der Bundesregierung jede Verbindung der sehr detaillierten Landverhandlungen mit territorialen oder politischen Neuordnungsfragen, indem es darauf verwies, dass diese den Rahmen der föderalen Landverhandlungspolitik überschritten. Alle Belange, die über den Besitz und das Management von Naturressourcen sowie Kompensationszahlungen für die vergangene unautorisierte Nutzung des Inuit-Landes durch die Regierung hinausgingen, fielen demnach in den Zuständigkeitsbereich der public government und seien im Rahmen der Verfassungsentwicklungsdiskussionen einzubringen (TFN 1989). Formal wurden die Territorialforderung und die damit verbundenen Themen daher auf Bundesebene bis zu Beginn der 1990er Jahre nicht verhandelt. Inhaltlich gab es aber Verknüpfungen, besonders wenn es um Machttransfers von der Bundesregierung an neu zu bildende Institutionen ging. Gerade in diesen Punkten gingen die Verhandlungen nur sehr langsam voran, denn die Ministerialbürokratie in Ottawa hatte ein äußerst geringes Interesse an institutionellen Veränderungen. Schrittweise einigten sich beide Seiten auf Regeln des Landmanagements, die de facto Regelungen politikfeldspezifischer Entscheidungsprozesse und Verwaltung waren. Es wurden regional angesiedelte Institutionen mit eigenen Entscheidungskompetenzen im Inuit-Gebiet geschaffen, die nach dem Prinzip des public government funktionierten, aber mit Inuit-Quoren verkoppelt wurden. Die Vereinbarungen zur Verwaltung betrafen nicht nur das Land, für das die Inuit Rechte in dem Vertrag erwarben, sondern ergaben ein System gemeinsamer Verwaltung des Inuit- und des Kronlands in den ostarktischen NWT (Hicks/White 2000: 29).197 Die TFN setzte auch durch, dass die Ministerien bei den meisten Entscheidungen und Handlungen, die das Gesamtareal des späteren Nunavut betrafen, die Inuit-Organisationen und die Institutionen der öffentlichen Verwaltung konsultieren mussten (Hicks/White 2000: 31, 33-37). Die ausgehandelten Institutionen waren grundsätzlich normal für Landabkommen, standen in keiner rechtlichen Beziehung zur Territorialforderung und implizierten kein Entgegenkommen in dieser Frage, doch sie schufen prinzipiell günstige Voraussetzungen für eine spätere Territorialreform, weil es bereits die Erfahrung gemeinsamer Bereichsverwaltungsinstitutionen gab. Auf NWT-Ebene fanden die Teilungsgespräche auch nach der Territorialwahl 1983 weiterhin im Wesentlichen im Sondergremium Verfassungsallianz statt. Sie mündeten in verschiedene vorläufige Vereinbarungen zur Grenzziehung und Implementation der NWTTeilung, die letztlich aber immer an Unstimmigkeiten über den zukünftigen Grenzverlauf scheiterten. Dene, Métis und Inuvialuit, die ohnehin keinen direkten Nutzen aus einem neuen Territorium Nunavut zogen, lehnten aus materiell-praktischen Gründen verschiedene Vorschläge für den Grenzverlauf ab.198 Erst nachdem das Territorialparlament Druck ausgeübt hatte, kam es am 15.01.1987 zwischen den Regionalauschüssen Westliches Verfassungsforum (ohne Inuvialuit) und dem Nunavut-Verfassungsforum zu einem aussichtsreichen Abkommen über die Implementation der Teilung, dem aber die Dene-Häuptlinge aus 197 Die neuen Verwaltungskörperschaften durften zwar gesetzlich den Fachministern der Bundes- und der Territorialregierungen nur Empfehlungen aussprechen, besaßen aber ausreichend Kompetenzen und Ressourcen, um faktisch relativ unabhängig von den Ministerien und den Inuit-Organisationen agieren zu können. Das Verhältnis war je nach Materie unterschiedlich geregelt und kompatibel mit dem weiten bestehenden gesetzlichen Rahmen des kanadischen Regierungssystems und den traditionellen Zuständigkeiten der Bundesministerien. 198 So fürchteten die Bewohner des Mackenzietals, dass die von den Inuit vorgeschlagenen Varianten die ethnische Solidarität untereinander auf Kosten der für sie praktischeren Transport- und Kommunikationswege stärken könnten und dass sie von der Beaufortseeküste abgeschnitten würden (vgl. Jull 2000).
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den bekannten Gründen, aber auch aus Enttäuschung über die zuvor ergebnislos geendete letzte Ureinwohnerverfassungskonferenz auf Bundesebene die Zustimmung versagten. Das vorgesehene Referendum entfiel daher.199 Nachdem auch Bemühungen der NWT-Regierung um eine Einigung ergebnislos blieben, stellte die Verfassungsallianz praktisch ihre Tätigkeit ein (Dickerson 1992: 161f.; Jull 1998: 11f.; Merritt 1993; TFN 1989: 2; Allooloo u.a. 1990). Es gab inuitspezifische Entscheidungen, Programme und finanzielle Unterstützung der NWT-Regierung,200 Dezentralisierung zu den Kommunen – aber alles innerhalb der bestehenden Territorialstrukturen (Hicks/White 2000: 29). Die Einwände der Dene waren nicht die einzigen. Trotz eines verbreiteten grundsätzlichen Verständnisses für die Forderung der Inuit und ihren Hintergrund gab es unter den politischen Akteuren der West-NWT Unsicherheit, ob die Bundesregierung den unvermeidbaren Mehrbedarf an finanziellen Zuwendungen leisten oder einfach die bisherigen Zahlungen teilen würde, so dass sich die finanzielle Situation in beiden Territorien verschlechtern würde. Dass die Reform teuer werden würde, spielte in den Überlegungen zur Teilung auf NWT-Ebene eine zunehmende Rolle. Sie verbanden sich mit Befürchtungen, dass nicht alle Fakten dazu auf dem Tisch lägen, dem Zweifel, ob die Verwirklichung des Traums der Inuit vom eigenen Territorium die Kosten und das Risiko wert waren, und der Unsicherheit, ob nach einer Abtrennung des Inuit-Teils in den NWT die Berücksichtung der Lebensbedingungen, Bräuche und Sprachen der Ureinwohner, die dann wieder eine Minderheit wären, ausreichend gesichert wäre. Zweifel und Befürchtungen weckte auch das unklare Verfahren der Teilung – ohne dass aber besondere Anstrengungen unternommen wurden, dieses Verfahren auszuarbeiten (Allooloo 1990; Nunavut Revisited 1990a, 1990b). Die ITC kam Ende der 1990er Jahre mit ihren Bemühungen um ein Territorium Nunavut auf beiden Verhandlungsebenen nicht weiter. Die kanadische Innenpolitik war von ganz anderen Themen dominiert. In den Verfassungsrunden auf Bundesebene konzentrierte sich die Bundesregierung vor allem darauf, Quebec wieder verfassungspolitisch an Kanada zu binden (Russell 1995; Kaiser 2002; Kanengisser 2005), was für die innere Stabilität und die Integrität Kanadas, aber auch für künftige Wahlerfolge eine ganz andere Bedeutung hatte als die Territorialforderung der Inuit. In der Meech-Lake-Übereinkunft spielten Ureinwohnerfragen und der künftige Status der Territorien keine Rolle, das NWT-Parlament protestierte einstimmig dagegen, dass keine Repräsentanten aus dem Norden an den Aushandlungen hatten teilnehmen dürfen (Legislative Reports 1987b).201 Auch die Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und parallele Landverhandlungen mit anderen Ureinwohnergruppen banden die 199 Das Iqaluit-Abkommen sah eine Teilung ab 1991 vor, sofern dem vorgesehenen Grenzverlauf die betroffenen Ureinwohnerorganisationen, die Führungen der Mitgliedsorganisationen der Verfassungsforen, die Territorialversammlung sowie die Mehrheit in einem Referendum zugestimmt hätten. Das Territorialparlament verabschiedete ein gleichnamiges Dokument am 12.03.1987 und empfahl dem Kommissar, einen Volksentscheid zum vorgeschlagenen Grenzverlauf im Mai 1987 durchzuführen. Auf der vierten, der letzten zugesicherten Bundes-Verfassungskonferenz zu Ureinwohnerfragen hatten die Regierungen nur ein Recht auf das Selbstverwaltungsprinzip angeboten und das Bemühen, entsprechende Vereinbarungen in Einzelverhandlungen auf regionaler und lokaler Ebene zu treffen. Dies war den Ureinwohnergruppen nicht genug (Merritt 1988). 200 1985 überließ die Bundesregierung die Entscheidung über die jährlichen Mittel der Territorialregierung (Legaré 1998a: 7; Nunatsiaq News 24.11.2004). 201 Das Ziel einer eigenen Provinz, das auch im NWT-Westen und in Yukon populär war, hätte der Vertrag sogar in weite Ferne gerückt, denn seine Umsetzung hätte gemäß dem vorgesehenen Verfassungsänderungsverfahren erstmals Einstimmigkeit von Bund und allen Provinzen vorausgesetzt. Gleichzeitig sollten die den Provinzen weitgehend gleichgestellten Territorien weiterhin keine Mitentscheidungsrechte erhalten (Nerysoo 1989; Tremblay/Speyer 1987).
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Aufmerksamkeit. Die Bestätigung der konservativen Bundesregierung im November 1988 verhinderte eine politische Akzentverschiebung. Im Bundesministerium für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung galt daher die Handlungsanweisung, die Erwartungen der Territorien und Ureinwohnergruppen „herunterzuschrauben“ (Merritt 1988). Die TFN blieb trotzdem bei ihrer Position, dass die sozialen, ökonomischen und kulturellen Probleme der Inuit innerhalb der existierenden konstitutionellen, politisch-institutionellen Arrangements und mit rein administrativen Maßnahmen nicht gelöst werden könnten, und nutzte 1989 den absehbaren Abschluss der Landverhandlungen für einen neuen Versuch, ihre Forderung durchzubringen. Sie erklärte, solange die Bundesregierung kein klares Statement abgegeben habe, dass die NWT-Teilung dem nationalen Interesse im Norden diene und den Inuit fest garantiere, dass Nunavut geschaffen wird, sei es offen, ob diese eine Landvereinbarung ratifizieren, egal für wie großzügig die Bundesregierung sie halte. Nur ein fundamentaler Umbau der politischen Beziehung zwischen der Regierung und den Inuit werde diese mit der Autorität und den Instrumenten versorgen, ihre Probleme zu bewältigen. Die TFN bezeichnete die Territorialregierung als „letzte Kolonialregierung“ in Kanada; der Bund dürfe den Bürgern der NWT nicht die Demokratie verweigern. Im NWT-Parlament bemühten die Inuit-Abgeordneten sich gleichzeitig, das Thema und die Verfassungsallianz wiederzubeleben (TFN 1989; Allooloo u.a. 1989; Nunavut Revisited 1990a: 2, 10). Angetrieben durch ihren Wunsch, die Landverhandlungen abzuschließen, die sich im Punkt der Gebietspräzisierung mit der Eventualität eines eigenen Inuit-Territoriums überschnitten, beauftragte die Bundesregierung im Januar 1990 den ehemaligen Kommissar der Nordwestteritorien John Parker, eine Kompromissempfehlung zur zukünftigen Grenzziehung zu erarbeiten. Außerdem war sie bereit, in das Grundsatzabkommen mit der NWTTerritorialregierung und der TFN symbolisch einen Art. 4 aufzunehmen, der offiziell nicht Teil des Landkommens war. In ihm unterstützten die drei Vertragsparteien prinzipiell die baldmögliche Schaffung eines Territoriums Nunavut und die Finanzierung des Regierungssystems außerhalb der Vereinbarungen des Landabkommens. Die Territorialregierung und die TFN verpflichteten sich, innerhalb von sechs Monaten einen Prozess zur Implementation der Teilung gemäß dem 1987 gescheiterten Abkommen von Iqaluit zu beginnen. Die TFN erkannte an, dass der Teilungsprozess ein NWT-weites Referendum zur Grenzziehung und eine Übereinkunft der drei Vertragsparteien zur Machtaufteilung beinhalte (Government of Canada 1990). Dieses im April 1990 unterzeichnete Abkommen (agreement) war rechtlich nicht bindend. Faktisch schob die Bundesregierung die Klärung der weiteren Schritte wieder an NWT-Regierung und TFN. Ihre Argumente gegen ein eigenes Inuit-Territorium formulierte sie inzwischen viel differenzierter als noch 1979: Die Verknüpfung von Landverhandlungen und Territorialreform sei indiskutabel, das Konzept eines Territoriums Nunavut mit der selbst ungewissen kanadischen Verfassungsentwicklung nicht vereinbar, die Kosten, organisatorischen und finanziellen Unwägbarkeiten der Einrichtung eines neuen Territoriums, dessen Haushalt sie fast vollständig selbst finanzieren müsste, zu hoch. Zudem mangele es den Inuit angesichts deren Nichtvertretung in den obersten hierarchischen Ebenen des politisch-administrativen Systems der NWT an Professionalität und Erfahrung in der Ausübung solcher Funktionen (Nunavut Revisited 1990a: 8f., 11; 1990b: 2 ff.; 1990e: 2). Erst mehrere unvorhergesehene und im Hinblick auf diesen konkreten Prozess externe Entwicklungen brachten Dynamik in den festgefahrenen Prozess: Im Zuge der öffentlich-
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keitsträchtigen Oka-Krise202 gewann die Bundesregierung den Eindruck, dass hinsichtlich der Ureinwohnerrechte und besonders mit Blick auf Selbstregierung dringender Handlungsbedarf und eine Verantwortlichkeit bestehen, obgleich Premier Mulroney klarstellte, dass diese sich im Rahmen der Verfassung bewegen müsse und niemals „völlige Selbständigkeit und nationale Souveränität“ bedeuten werde (Mulroney 1990: 117, 113). Der Oberste Gerichtshof legte das erste Urteil betreffend die im Verfassungsgesetz von 1982 erwähnten „existierenden Ureinwohner- und Vertragsrechte“ vor und erklärte darin, diese sollten „großzügig“ und „liberal“ interpretiert werden und schützten das Recht der Ureinwohnervölker darauf, Aktivitäten zu betreiben, die integraler Bestandteil ihrer distinkten Kultur seien (Russell 2004b: 24). Seit im Sommer 1990 auch noch die Ratifizierung der Meech-Lake-Vereinbarung von 1987203 scheiterte, stand die Mulroney-Regierung unter besonderem Druck, die Verfassungskonflikte zu lösen. Hinzu kam das Scheitern der abschließenden Dene-/Métis-Landvereinbarung, an deren Aushandlung Bundesregierung und NWT-Regierung beteiligt waren.204 Besonders die Territorialregierung fürchtete, dass das Scheitern aller Landverhandlungen Unzufriedenheit mit den Regierungsinstitutionen und -prozessen und nicht kontrollierbare Effekte nach sich ziehen könnte (Merritt 1993; Hicks/White 2000: 31f.). Die TFN nutzte diese Situation und einigte sich mit der Territorialregierung im Herbst 1990 auf einen Zeitplan zur Etablierung Nunavuts und die Voraussetzungen dafür. Dass mit Dennis Patterson ein ITC-Aktivist Regierungschef war, verschaffte ihr zwar einen Fürsprecher in der NWT-Kabinettsregierung, doch trotzdem kamen TFN und Territorialregierung inhaltlich nicht über den Grad an Übereinstimmung hinaus, der bereits zuvor existiert hatte. Auf Drängen der besonders an der Sicherung ihres materiellen Status’ interessierten NWTRegierung forderten beide gemeinsam von der Bundesregierung Zusicherungen betreffend die Beibehaltung aller bisherigen Transferleistungen an die NWT, die Aufrechterhaltung der Verwaltung bzw. des öffentlichen Sektors im gesamten Gebiet, die Finanzierung der Territorialreform und ihrer Planung sowie die Aushandlung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Nunavut. Weiterhin wurde die Ratifizierung des Landabkommens durch die TFN an die Einbringung eines Bundesgesetzes im Parlament gebunden, das die Einrichtung eines Territoriums Nunavut regelte. Mit einem solchen Gesetz konnte die Erwartungsunsicherheit von Akteuren des NWT-Westens hinsichtlich des Teilungsverfahrens abgemildert werden. Über den vereinbarten Zeitplan setzten NWT-Regierung und TFN die Bundesregierung unter Handlungs- und Entscheidungsdruck (Dickerson 1992: 162f.; Nunavut Revisited 1990a, 1990b, 1990c). Aufgrund der Ballung der genannten, für ihr Image negativen Ereignisse im Zusammenhang mit Ureinwohnerfragen war die kanadische Regierung bestrebt, in diesem Politikbereich Fakten zu schaffen.205 Ihr lag nun mehr daran, die Landverhandlungen mit der TFN nicht scheitern zu lassen. Ein automatisches Entgegenkommen in der Nunavut-Frage 202 1990 führten monatelange Auseinandersetzungen zwischen den Mohawk und der Stadt Oka in Quebec zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei und der kanadischen Armee und forderten drei Todesopfer. 203 Obwohl sich die Provinzministerpräsidenten kurz zuvor auf nachträgliche Änderungen geeinigt hatten, darunter künftige Konferenzen zu Ureinwohnerrechten und zu den Modalitäten der Einrichtung neuer Provinzen, scheiterte das Verfahren an der ausbleibenden Ratifizierung in Manitoba und Neufundland. 204 1988 hatten sich die beiden Ureinwohnergruppen, die NWT-Regierung und die Bundesregierung zwar noch grundsätzlich einigen können, doch 1990 lehnten die Dene in Dettah die abschließende Vereinbarung ab. 205 Ein wesentlicher Schritt war, dass die kanadische Regierung symbolisch wirksam am 26.08.1991 eine Königliche Kommission zu Ureinwohnervölkern einsetzte, in der indigene Gruppen und Siedlernachfahren gemeinsam die Vergangenheit aufarbeiten und einen Plan zur Verbesserung der Beziehungen erarbeiten sollten (Russell 2004b: 25).
4.1 Kanadisches Fallbeispiel (1979-1992)
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implizierte dies nicht. Noch Ende 1990 weigerte sich der Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, Tom Siddon, den Nunavut-Artikel in das Abschließende Landabkommen zu übernehmen, da er befürchtete, dass diese Verknüpfung einen Präzedenzfall für andere Selbstregierungsaspiranten schaffen könnte. Die TFN konnte ihn nur mit Mühen „umstimmen“, indem sie erneut damit drohte, den Inuit die Ablehnung der Ratifizierung anzuraten, indem sie der Regierung den hohen Nachrichtenwert eines erfolgreichen Abkommens als Möglichkeit anempfahl, um aus ihrem Popularitätstief zu kommen, und indem sie erklärte, sie könne auch ein paar Jahre warten und das Abkommen nach dem nächsten Regierungswechsel mit den Nunavut gegenüber aufgeschlosseneren Liberalen unterzeichnen (Amagoalik 2002: 200). Die TFN ging in ihrem Handeln ein gezieltes Risiko ein, um ihre Forderung durchzusetzen (Merritt 1993) – mit Erfolg. Im April 1991 akzeptierte Bundesminister Siddon den Parker-Vorschlag zum künftigen Grenzverlauf zwischen NWT und Nunavut, obwohl dieser nicht bei allen Beteiligten auf NWT-Ebene Zustimmung fand.206 Bundesregierung, TFN und NWT-Regierung entsandten Mitglieder in einen neuen, im Wesentlichen durch die Bundesregierung finanzierten Nunavut-Koordinationsausschuss, der die Territorialreform vorbereiten sollte (Dickerson 1992: 163). Im Dezember 1991 beendeten Bundesregierung, TFN und NWT-Regierung ihre Verhandlungen zum sehr umfassenden Abschließenden Landabkommen (CBC 1991). Neben den im eigentlichen Zentrum stehenden Landregelungen207 versprach die Bundesregierung darin, Verhandlungen zu einer politischen Vereinbarung über die Schaffung Nunavuts zu beginnen. Hierin unterschied sich das Landabkommen am deutlichsten von entsprechenden Abkommen mit anderen Ureinwohnergruppen, die oft nur eine allgemeine Verpflichtung zu Verhandlungen über Selbstregierung enthielten (Cameron/White 1995: 90 ff.). Das Verhandlungspatt im Grundkonflikt konnte mit der formalisierten Absichtserklärung der Bundesregierung tendenziell aufgelöst werden, ohne dass diese von ihrer Position abwich: Beide Materien blieben verfassungsrechtlich separiert. Aus Anlass des Abkommens wurde erstmals seit 1982 über die Inuit-Territorialforderung in den überregionalen Medien berichtet (ATNS o.J.b; Cernetig 1993). Wie bereits das Grundsatzabkommen (Art. 2.6.1) enthielt auch das Abschließende Landabkommen die Klausel, dass ein Referendum der Inuit in Nunavut (Art. 36.1.2 a) die Unterzeichnung der Vereinbarung durch die TFN autorisieren und legitimieren sollte. Für die Bundesregierung hielt das (von der TFN selbst gewünschte) Referendum zur Grenzfrage die Option offen, im Falle eines Negativvotums nicht auf die Forderung nach Einrichtung eines eigenen Inuit-Territoriums einzugehen. Sie gab diesmal anders als im ersten Teilungsreferendum vor, dass eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung der NWT der Grenze zustimmen müsste und nicht nur eine Mehrheit der Wähler. Da nicht abgegebene Stimmen infolgedessen faktisch Nein-Stimmen waren, bemühte sich die ITC besonders darum, die Unentschlossenen und Passiven zu mobilisieren. Tatsächlich befürwortete im Mai 1992 eine Mehrheit der Referendumsteilnehmer der NWT den Vorschlag zum Grenzverlauf. Wieder bewirkte eine Mehrheit der Inuit (85 Prozent der teilnehmenden bzw. 69 206 Der Vorschlag sah eine Grenzlinie vor, die den Forderungen der Dene und Métis entgegenkam, aber trotzdem von den Dene abgelehnt wurde. Aber auch andere Gruppen, darunter die Inuit, waren mit dem nun „von oben“ forcierten Kompromiss nicht sehr zufrieden. 207 Sie überschrieb den Inuit die Kontrolle über 350.000 km² Land inklusive Jagd- und Fischereirechten, für ein Gebiet von 36.000 km² Schürfrechte und garantierte Mitentscheidungsrechte in der Land- und Ressourcenverwaltung. Weitergehende Landansprüche sollten mit einem Betrag von etwa 1,1 Mrd. Dollar in 14-15 Jahren abgegolten werden (Nunavut Land Claims Agreement 1993).
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aller wahlberechtigten Inuit) bei einer überwiegenden Ablehnung im Westteil einen territoriumsweit knapp positiven Ausgang (Hicks/White 2000: 32). Damit war nicht nur eine der nie widerrufenen Auflagen der Bundesregierung von 1982 erfüllt, sondern die Inuit-Seite legitimierte auf diese Weise zehn Jahre nach dem ersten Teilungsreferendum eine kommende kooperative Aushandlung der Territorialreform. Insgesamt hatte sich die Verhandlungsposition der Bundesregierung trotz des Bewusstseinswandels in der Ureinwohnerfrage, trotz des geglückten NWT-Referendums zur Teilung, trotz der Sympathiebekundungen von Spitzen- und Fachpolitikern der beiden Regierungsparteien hinsichtlich des eigenen Inuit-Territoriums seit 1979 nur wenig verändert, weil die Rationalität ihres Verantwortungsbereichs die ohnehin eher geringen politischprogrammatischen Unterschiede zwischen den bundespolitisch wichtigsten Parteien in der Haltung gegenüber den Inuit überlagerte. Es ging ihr um die Gewährleistung von Stabilität im Norden, die Vermeidung von Kosten und Risiken, und sie hatte nicht speziell Nunavut, sondern das ganze Tableau innenpolitischer Themen und Interessen vor Auge. Ihre Politik blieb unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung tendenziell hinter den Reformvorschlägen der verschiedenen Kommissionen zurück (vgl. Nunavut Revisited 1990a: 5 ff., 1990b: 2 ff.). Sie blieb also bei ihrem „Nein“. Auch die ITC (bzw. TFN) war bei ihrem Ziel und der Bewertung des besten Instrumentariums der Zielerreichung geblieben – trotz erheblichen Binnenwandels (Differenzierung, Professionalisierung, Veränderung der Selbstwahrnehmung), trotz des starken Wandels der politischen Rahmenbedingungen der Inuit im Hinblick auf Legitimation, Partizipation, Transparenz und Kontrolle208 sowie der Bewegung in fast allen Problemkomplexen, die durch die Territorialforderung berührt wurden. Dies wurzelte ebenfalls in ihrer spezifischen Rationalität: Was für viele Inuit ein Instrument zur Erreichung des Ziels politischer und kultureller Eigenständigkeit und sozioökonomischer Verbesserungen war, wurde für die ITC/TFN ein Ziel an sich, aus dem heraus sie ihre Existenz legitimierte und das sie dadurch aufwertete, dass sie von der Aushandlung eines neuen Gesellschaftsvertrags (social contract) mit Kanada sprach (TFN 1989: 2). Aufgrund ihres organisatorischen Vorteils konnte sie die Inuit von der Angemessenheit dieser Politik überzeugen.209 Neben dem Hauptkonflikt zwischen Bundesregierung(en) und ITC tauchten fast alle von der verfassungspolitischen Initiative berührten Problemkomplexe (Kapitel 3.5) als Konfliktmaterien in den Aushandlungen bis 1991 auf, jedoch nur, solange und soweit es Akteure mit konkreten einschlägigen rationalen Interessen gab (Tab. 25).
208 Die NWT hatten einen provinzähnlichen Status erhalten. Innerhalb der NWT hatten sich eine repräsentative und verantwortliche (Kabinetts-)Regierung herausgebildet, ein nordisch geprägtes Konkordanzsystem mit starkem Parlament, den Kommunen waren mehr Entscheidungsrechte übertragen worden. Eine 1992 eingesetzte Kommission für Verfassungsentwicklung sollte weitere Reformvorschläge im Dialog mit den Kommunen und der Bevölkerung erarbeiten (Dickerson 1992: 167-181, 163). 209 Seit Mitte der 1980er Jahre übernahm die TFN neben ihrer eigentlichen Aufgabe, der Aushandlung des Landabkommens, auch die politischen Aushandlungen im Zusammenhang mit der Territorialforderung (Nunavut Revisited 1990a: 10f.). Die Bundesregierung finanzierte aufgrund der politischen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen faktisch alle teilungsorientierten Aktivitäten: die Arbeit der NWTVerfassungsallianz, der TFN und die Informationskampagnen zu den Referenden.
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4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
Tabelle 25: Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall K Streitpunkt kausale und zeitliche Verknüpfung von Landabkommen und Territorialfrage/Selbstregierung
Ort des Konflikts Bundesregierung vs. ITC/TFN
Repräsentationsprinzip: public government vs. Selbstregierung
Bundesregierung vs. ITC (und andere Organisationen von Ureinwohnergruppen), Bundesregierung vs. Provinzen, Ureinwohnergruppen untereinander
NWT-Teilung vs. Übertragung von Verfassungsprinzipien auf/ Verlagerung von Kompetenzen an untergeordnete Ebenen
Bundesregierung vs. ITC, Akteure des NWTWestens vs. ITC
Grenzverlauf Kosten, organisatorische Voraussetzungen und Umsetzung
Inuit vs. andere NWTUreinwohnergruppen Bundesregierung, NWTRegierung vs. ITC
Ergebnis 1991 formale Separierung, aber Bereitschaft der Bundesregierung zu NunavutVerhandlungen verfassungsrechtliche Anerkennung der Inuit als Ureinwohner mit unbestimmten Rechten; Anerkennung der ITC und anderer Ureinwohnerorganisationen als Verhandlungspartner in Verfassungskonferenzen auf Bundesebene; Konstitutionalisierung von Rechten in Landvereinbarungen (mit Vorbehalt entsprechender Änderungen an der kanadischen Verfassung), keine Mehrheit auf Bundesebene für ein Recht auf Selbstregierung, kein übereinstimmendes Verständnis der Ureinwohner von Selbstregierung, Bereitschaft der ITC zu public government in eigenem Territorium im NWT-Referendum 1982 Mehrheit für grundsätzliche Teilung, aber im Westteil Ablehnung, dort Zweifel hinsichtlich der konkreten Implementation der Idee (Finanzierung, Verfahren) knappe Zustimmung zu Grenzplan der Bundesregierung auf NWT-Ebene keine Einigkeit
So war die interne Reformierung des politisch-administrativen Gefüges der NWT und deren Umwandlung in eine Provinz ein Thema, aber nicht der normative Stellenwert der Territorialforderung für das grundsätzliche Verhältnis zwischen Bund, Territorien und Provinzen oder zwischen Bund und Ureinwohnern (Doering 1990: 2). Auch die normative Diskussion über die Modernisierungsproblematik und ihre Wechselwirkungen mit einer Territorialreform spielte in den Aushandlungen keine Rolle. Mit Blick auf die Implementation der Teilung gewannen auf NWT-Ebene praktisch-organisatorische und finanzielle Erwägungen an Bedeutung, die mit der ideellen Akzeptanz der ITC-Forderung konfligierten. Diese unübersichtlichen, ungleichgewichtigen und interdependenten Streitpunkte verlangsamten die Aushandlungen und brachten sie zum Erliegen. Dass die Bundesregierung sich 1991 trotz der verfassungspolitischen Unsicherheiten, der zu erwartenden Kosten und der nur ansatzweisen Klärung der Streitpunkte vertraglich dazu bereit erklärte, den Prozess kooperativ fortzuführen, lag an rationalen Erwägungen, die sich nicht aus der Angelegenheit selbst ergaben (Reaktion auf externe Ereignisse, Abschluss der Landvereinbarungen).
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998) Im Gegensatz zum kanadischen Fall, in dem die Initiative von einem sehr verhandlungsschwachen Akteur ausgegangen war, den man leicht ignorieren konnte, hatte in Griechenland der Premier selbst den Verfassungsänderungsprozess initiiert. Dies und die in der Initiative angekündigten Inhalte bewirkten eine ganz andere Wahrnehmung. Alle Parlaments-
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parteien reagierten mit hektischem Aktivismus. Sie unterbreiteten sehr schnell eigene inhaltliche Vorschläge, die im parlamentarischen Revisionsausschuss Beachtung finden sollten.210 Diese Vorschläge berührten über die von Papandreou genannten Themenkomplexe hinaus fast alle änderbaren Verfassungsklauseln (Sotirelis 2001b: 15 ff.).211 Insbesondere die Fraktion der Neuen Demokratie unter Führung des Parteivorsitzenden Miltiadis Evert und die PASOK-Fraktion überboten sich gegenseitig im Umfang der Klauseln, die geändert werden sollten. Thematisiert wurden u.a. die Kompetenzen des Staatspräsidenten, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Transparenz der Parteienfinanzierung, die Stärkung des Parlaments und die Unvereinbarkeit eines Ministeramtes mit dem Abgeordnetenmandat (Alivizatos 2001b: 156, 168 ff.). Die Bewahrung des Status quo war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht handlungsleitend. Mit Blick auf die Verhandlungsmacht war die ND der einzige innenpolitische Akteur neben PASOK, der ernsthaft das Gelingen und die inhaltliche Ausgestaltung der Verfassungsänderung beeinflussen konnte, insbesondere im Falle eines Machtwechsels nach den nächsten Wahlen.212 Das Verhältnis zwischen PASOK und ND sollte denn auch für die hier untersuchte Aushandlungsphase prägend sein. Die kleinen Parteien Linksallianz (Synaspismos), Kommunistische Partei und Politischer Frühling hatten unter Rationalitätsgesichtspunkten keine ernsthafte Aussicht auf die Durchsetzung ihrer Vorstellungen, sondern konnten allenfalls einen nichtsubstanziellen Nutzen aus einer eventuellen programmatischen Profilierung ziehen. Dafür war der Vorgang allerdings zuwenig öffentlichkeitswirksam. Machbarkeitserwägungen trieben die kleinen Parteien zu Beginn dieser Phase aber ebenso wenig an wie zuvor bereits die Initiatorin PASOK. Dass die Parteien binnen so kurzer Zeit so umfangreiche Vorschläge für eine Verfassungsänderung unterbreiteten, lag an der inhaltlichen Vagheit der Änkündigung Papandreous, die der Phantasie der Politiker breiten Raum ließ. Die ND war außerdem daran interessiert, die Optionen zu Beginn der als selten wahrgenommenen verfassungspolitischen Aushandlungen möglichst breit zu halten. Das zweite Kalkül wurde dadurch gestärkt, dass das in Art. 110 der Verfassung vorgesehene Änderungsverfahren von der Idee her auf einen längeren Zeitraum angelegt war, in dem zunächst ein Parlament die „unter Revision stehenden“ Klauseln und das darauf folgende Parlament die konkreten Verfassungsänderungen beschließen musste. Vor dem Hintergrund weitgehend fehlender Erfahrung in der Anwendung dieser Vorgaben – es hatte ja erst eine Verfassungsänderung 1986 gegeben – bewerteten die Parteien dieses Verfahren als besonders anspruchsvoll213 und wollten sich keine Handlungschancen vergeben. 210 Die ND am 09.01.1995, die Linksallianz am 09.02.1995, PASOK selbst am 28.03.1995, die Kommunistische Partei am 07.04.1995. Der Politische Frühling hatte seinen Vorschlag bereits am 09.12.1994 veröffentlicht. 211 Nicht änderbar waren gemäß Art. 110 (1) die „Bestimmungen über die Staatsgrundlage und die Staatsform als parlamentarische Republik“ sowie Art. 2 (1), Art. 4 (1), 4 (4), 4 (7), Art. 5 (1), 5 (3), 13 (1), Art. 26. 212 Die Verhandlungsmacht bezog sich aus ihrer Einbringung reichlicher eigener Änderungsvorschläge, die im Revisionsausschuss zu berücksichtigen waren, aus ihrer politischen Stärke und Reputation, der Chance eines künftigen Wahlsieges, aus vorhandenen Außenoptionen, akzeptablen Ausgestaltungsvarianten aufgrund nicht besonders stark festgelegter Präferenzen, geringer Ungeduld und Risikoscheu sowie (trotz innerparteilicher Schwierigkeiten) organisatorischer Stärke. 213 Griechische Juristen, darunter der PASOK-Chefbeauftragte für die Verfassungsänderung Venizelos, bezeichneten die Auflagen als außerordentlich rigide und langwierig (Spiliotopoulos 1995; Venizelos 1999: 99f.). Diese Behauptung hält dem internationalen Vergleich nicht stand (Tab. A 3). In anderen Staaten gingen die Akteure so routiniert mit obligatorischen Wahlen zwischen den Abstimmungen über Verfassungsänderungen um, dass in Belgien 16, in Schweden 11 und in den Niederlanden 6 Änderungen in zehn Jahren
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
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Das Parlament diskutierte die Verfassungsänderungsvorschläge am 12.04.1995 erstmalig im Plenum und entschied, dass der Revisionsausschuss seine Arbeit bereits ein gutes halbes Jahr später, am 30.11.1995, abgeschlossen haben sollte (VTE 1997; Sotirelis 2001b: 18). Aufgrund der hohen Zahl an Vorschlägen bei eigentlich geringem verfassungspolitischem Enthusiasmus sowie überschattet von der „normalen“ Tagespolitik, begannen die Gespräche aber äußerst zögerlich.214 Erst am 24.10.1995 begann der Ausschuss überhaupt mit der inhaltlichen Arbeit, die formalistisch organisiert war.215 Die Verfassungsänderung genoss ungeachtet der vielen zur Änderung vorgeschlagenen Klauseln für die Parteien, die in vielen Punkten nur unklare institutionelle Präferenzen besaßen, weiterhin keine Priorität. Die inhaltlichen Zielvorstellungen kristallisierten sich erst im Zuge der gemeinsamen Durcharbeitung der Verfassung ab Herbst 1995 langsam heraus. Viele Politiker der beiden großen Parteien betrachteten die Verfassungsänderung ähnlich Papandreou vornehmlich als Instrument, um sich in der Öffentlichkeit gegenüber der als dominant wahrgenommenen Justiz wieder zu behaupten. Der Verfassungsrechtler und PASOK-Chefbeauftragte für die Verfassungsänderung, Evangelos Venizelos, sprach von einer „Wiederbelebung der Politik“. Vor allem die durch den Prozess angeregte Diskussion über die nationalen politischen Institutionen wurde als eigener – nichtsubstanzieller – Nutzen betrachtet. Ein parteiübergreifend als wichtig erachtetes inhaltliches (also substanzielles) Ziel der Verfassungsänderung bestand darin, den Einfluss der Justiz auf die Politik zu mindern, indem sie eindeutig von Legislative und Exekutive abgegrenzt würde (Alivizatos 2001c; Venizelos 1996). Der ehemalige ND-Premier Mitsotakis, der für seine Partei im Revisionsausschuss saß, und Papandreou beurteilten wiederholt und in ungewohnter Übereinstimmung das Hervortreten der (Enthüllungs-)Justiz als Bedrohung der Demokratie, verstanden als der Herrschaft gewählter Volksvertreter (Alivizatos 2001c; VTE, 2000). Uneins waren sich die beiden großen Parteien aber in der Ausgestaltung: Die ND schlug beispielsweise früh die Einrichtung eines Verfassungsgerichtes vor, die PASOK ablehnte.216 Auch bezüglich der Grundrechte zeichneten sich ähnliche Grundpositionen der Parteien ab. PASOK und ND verwiesen seit 1995 zunehmend auf diesen Konsensbereich, um ihren Willen zu einer „Modernisierung“ der staatlichen und sozialen Institutionen zu belestattfanden (Tab. 1). Verfassungsänderungen werden häufig vor regulären Wahlen vorbeschlossen, die keine zusätzlichen Kosten und Risiken erzeugen, und danach verabschiedet. In Dänemark dämpfte eher die konfliktgeprägte Innenpolitik die Durchsetzung von Verfassungsänderungen als die Erforderlichkeit von Neuwahlen. 214 Auf seinen ersten beiden Sitzungen diskutierte der Revisionsausschuss lediglich organisatorische Fragen, die aufgrund des nur vage formalisierten Verfahrens unklar waren. Der Ausschuss entschied, dass das Parlament eine bestimmte inhaltliche Richtung der Änderung bestimmter Klauseln vorschlagen könnte, sofern es eine Dreifünftelmehrheit gäbe (Sotirelis 2001b: 18). 215 Innerhalb eines Monats diskutierten die Ausschussmitglieder auf fünf Sitzungen die individuellen und sozialen Rechte. Systematisch wurden danach auch die anderen Teile der Verfassung in ihrer dortigen Reihenfolge besprochen: auf drei Sitzungen vom 12.12.1995 bis 20.02.1996 die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, die politischen Parteien und das Präsidentenamt der Republik, auf drei Sitzungen vom 05.03. bis 21.03.1996 das Parlament und die Regierung, auf drei Sitzungen vom 28.03. bis 23.04.1996 die rechtsprechende Gewalt, auf zwei Sitzungen am 30.04. und 07.05.1996 die Verwaltung (Sotirelis 2001b: 13-37). 216 Vorgeschlagen hatte PASOK sehr allgemein, die Notwendigkeit einer Revision der Art. 100 und 93 (4) zu beschließen „mit dem Ziel einer passenderen und transparenteren Organisation des Systems der justiziellen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen“. Sie schloss dabei jedoch Art. 93 (2) explizit aus, um die Einrichtung eines Verfassungsgerichtes gar nicht erst zu ermöglichen, wie sie der zuvor vorgelegte Entwurf der ND vorsah (Panagopoulos 2002: 679f.).
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gen (VTE 2000b: 9 ff.). Das Kalkül bestand darin, öffentlich zu zeigen, dass die Politiker der neuesten, auch internationalen Entwicklungen gewahr waren und ihnen folgen konnten (Alivizatos 2001c; Fouskas 1997: 68 ff.), ohne dass ihr eigener Handlungsspielraum dadurch unmittelbar beschränkt wurde. Hinsichtlich der Stärkung des Parlaments, die Papandreou als Ausdehnung der Kompetenzen des Parlaments in den Bereichen Gesetzgebung und Kontrolle konkretisierte (Alivizatos 2001b: 156 ff.), sowie der Verwaltungsmodernisierung zeichneten sich hingegen kaum konkrete gemeinsame Präferenzen ab. Hier und bei den meisten weiteren Vorschlägen divergierten die Ansichten insbesondere der beiden großen und für die Beschlussfassung einzig relevanten Parteien. Ein besonders wichtiges Beispiel für die Uneinigkeit schon „im Großen“ war die als Reaktion auf die aufgedeckten Skandale vorgeschlagene sogenannte „Entflechtung“ politischer und ökonomischer Interessen (Alivizatos 2001b: 156f.; Venizelos 2002: 36 ff.), ein weiteres die Reform des Wahlsystems. Bis 1996 blieb die inhaltliche Vorschlagslage vage. Besonders die fortschreitende Krankheit Papandreous, sein Rücktritt am 16.01.1996, Nachfolgequerelen innerhalb der PASOK und die desolate Wirtschaftslage des Landes destabilisierten die Politik und überlagerten den Prozess der Verfassungsänderung. Papandreous Amtsnachfolger Kostas Simitis strebte tiefgreifende Verwaltungs-, Wirtschafts- und Finanzreformen an, damit Griechenland der Europäischen Währungsunion beitreten konnte, und wollte durch vorgezogene Neuwahlen am 22.09.1996 nicht nur diese Reformen legitimieren, sondern auch seine eigene Machtposition absichern (Axt 1997; Zervakis 1999). Er hatte die Verfassungsänderungsinitiative Papandreous ohnehin bezweifelt und musste sich gegen Widerstände der Anhänger Papandreous und Tsochatzopoulos’ durchsetzen,217 die besonders im PASOKParteiapparat stark waren. Daher verzichtete er darauf, noch vor den vorgezogenen Wahlen im Parlament das Scheitern einer Abstimmung über zu ändernde Verfassungsklauseln zu riskieren, obwohl die Chefbeauftragten der PASOK und der ND für die Verfassungsänderung, Evangelos Venizelos und Ioannis Varvitsiotis, sich jeweils (trotz nach wie vor diffuser verfassungspolitischer Ziele) dafür aussprachen, die Abstimmung durchzuführen. Im Mai 1996 gab PASOK nach einem Treffen mit Mitgliedern der Synode der griechischorthodoxen Kirche auch deren Druck nach und zog ihren Vorschlag zur Änderung des Art. 3 zurück, der auf eine Trennung von Staat und Kirche abgezielt hatte (Sotirelis 2001b: 21). Konfliktthemen sollten vermieden werden (vgl. Kapitel 7.4). In den Parlamentswahlen am 22.09.1996 konnte sich die Regierungspartei klar gegenüber der ND behaupten. Trotz leichter Verschiebungen, des Ersteinzugs der zwei linken Abspalterparteien Linksallianz und Demokratische und Soziale Bewegung (DIKKI) sowie des Ausscheidens des rechtskonservativen Politischen Frühlings änderte sich insgesamt nichts an der grundsätzlichen Verteilung der Verhandlungsmacht.218 Mit den kleinen linken Parteien konnte PASOK nur bei vollständiger Parteidisziplin und Anwesenheit aller Abge217 Wie erwähnt, waren Simitis und Papandreou Gegenspieler innerhalb der PASOK. Nach dem Tod Papandreous im Juni 1996 kandidierte Simitis gegen dessen Vertrauten Tsochatzopoulos für den Parteivorsitz und konnte sich erst nach der Drohung, nicht mehr für den Posten des Premierministers zur Verfügung zu stehen, mit nur 54 Prozent der Stimmen durchsetzen (Axt 1997). 218 PASOK hielt 162 Mandate (acht weniger als 1993), ND 108 (minus 3). Dass sie im Wahlkampf die Notwendigkeit einer wirtschafts- und finanzpolitischen Konsolidierung des Landes und der europäischen Integration betont und sich inhaltlich kaum voneinander abgesetzt hatten (Axt 1997), verschaffte drei kleinen Parteien des linken Spektrums die restlichen 30 Mandate. Die kommunistische KKE erlangte elf Mandate (plus zwei), die Linksallianz zehn und DIKKI neun Sitze. Die Linkallianz war aus einem bereits erwähnten Wahlbündnis kommunistisch-linkssozialistischer Kräfte hervorgegangen und gründete sich 1992 als Partei. DIKKI entstand 1995 als linke Abspaltung von PASOK.
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
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ordneten eine Dreifünftelmehrheit für Verfassungsänderungen gegen die ND mobilisieren. Ihrerseits konnten die kleinen Parteien noch nicht einmal mit der ND gemeinsam die verfassungspolitische Minimalschwelle von 151 Stimmen erreichen. Daher waren Aushandlungsgespräche PASOKs mit der konservativen ND am wahrscheinlichsten, wobei die klauselweise Abstimmung differenzierte Absprachen ermöglichte. Gewisse Überlappungen der Präferenzen ergaben sich bereits aus ihrem Charakter als große Parteien, die über die traditionell mit ihnen verbundenen sozialen Gruppen hinaus gezielt breite neue Wählerschichten anzusprechen suchten, und die ein Selbstverständnis als (potenzielle) Regierungsparteien besaßen. Bei Streitfällen blieb PASOK immer noch ein gezielter Alleingang mit Überwindung der Minimalschwelle, so dass innerhalb der ersten Sitzungsperiode des danach folgenden Parlaments eine Dreifünftelmehrheit beschafft werden müsste, um diese Änderung endgültig zu verabschieden. Nach der Wahl genossen die schwierige Integration und politisch-programmatische Neuorientierung PASOKs nach dem Tod Papandreous und die Stabilisierung der Machtstellung Simitis’ innerhalb der Partei Vorrang.219 Erst am 15.05.1997 setzte der Premier das Thema wieder auf die politische Tagesordnung. Er und Venizelos, weiterhin PASOKChefbeauftragter für die Verfassungsänderung und inzwischen Kulturminister,220 bezeichneten die Verfassungsänderung als „Fortsetzung der politischen Entscheidung des 1993er Parlamentes“ und gaben damit eine Kohärenz vor, die so nicht existierte. Nach dieser Initiative brachten am 04.06.1997 96 PASOK-Abgeordnete, nur einen Tag später 99 NDAbgeordnete formal ihre Verfassungsänderungsvorschläge ein. Erneut folgten die zahlreichen Vorschläge keiner in sich schlüssigen, argumentativ unterfütterten Gesamtstrategie der Überarbeitung der Verfassung (Alivizatos 2001b: 158). Neu war allerdings, dass die Abgeordneten der kleineren Parteien gar nicht erst eigene Vorschläge unterbreiteten. Die nachfolgenden verfassungspolitischen Auseinandersetzungen waren bis zum Ende der individualistischen Phase politisch nachrangig, fanden weitgehend zwischen PASOK und ND im Revisionsausschuss statt und wurden bis 1998 kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Der am 12.06.1997 nach Beschluss des Parlamentsvorsitzenden konstituierte parlamentarische Revisionsausschuss trat erst ein halbes Jahr später, am 04.11.1997, zur ersten inhaltlichen Diskussion zusammen. Er arbeitete die Verfassung fast genauso durch wie der vorherige Revisionsausschuss, widmete den wenig umstrittenen individuellen und sozialen Rechten, der Regierung, dem Präsidenten und der rechtsprechenden Gewalt aber weniger Zeit, während die Tätigkeit der Parteien und die Wahlen inklusive Wahlhindernisse, also Themen, die die Abgeordneten selbst betrafen, deutlich mehr Raum erhielten. Dezentralisierung und örtliche Selbstverwaltungskörperschaften traten formal erstmals auf die Tagesordnung, wurden aber gemeinsam mit dem Thema Verwaltung (wie 1996) auf nur zwei Sitzungen abgehandelt (Sotirelis 2001b: 13-37). Als substanzielle verfassungspolitische Zielsetzungen der PASOK bezeichnete ihr Chefbeauftragter Venizelos nun in teilweiser Abweichung von der ursprünglichen Ankün219 Anfang Oktober 1996 war zum ersten Mal seit acht Legislaturperioden ein zweiter Wahlgang erforderlich, um seinen Wunschkandidaten ins Amt des Parlamentspräsidenten zu wählen, denn er erhielt zunächst nicht die Mehrheit seiner Fraktion (Zervakis 1999: 644f.). 220 Venizelos, (seit 1993 freigestellter) Professor für Verfassungsrecht an der Universität Thessaloniki, war seit 1990 Mitglied des PASOK-Zentralkomitees, wurde 1993 erstmals ins Parlament gewählt, war stellvertretender Minister für das Premierministeramt, seit 1994 Minister für Presse- und Medienangelegenheiten, daneben seit 1993 Regierungssprecher. 1995 wurde er Minister für Transport und Kommunikation, im Januar 1996 Justizminister. Im September 1996 wurde er erneut ins Parlament gewählt.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
digung Papandreous die Durchsetzung von fünf Prinzipien: Als erstes nannte er die Sicherheit des Individuums, worunter er beispielsweise Sozial- und Rechtsstaatlichkeit oder Höchstgrenzen der Untersuchungshaft subsummierte. Das zweite Prinzip war die Bürgerbeteiligung, worunter jedoch nicht die Möglichkeiten der politischen Partizipation fielen, sondern vornehmlich Verwaltungsmodifikationen, Dezentralisierung und die Änderung der Stellung von Beamten. Das dritte Prinzip war die Auflösung der „Verflechtung“ zwischen Politik und Wirtschaft. Es sollte durch mehr Transparenz im Staatssektor und in den Beziehungen zwischen Staat und wirtschaftlichen Interessen erreicht werden, etwa durch neue Medien- oder Ämterunvereinbarkeitsregelungen. Das vierte Ziel PASOKs bestand in der Überschreitung des Mehrheitsprinzips durch Förderung des politischen Konsenses, das fünfte Prinzip in der „europäischen Perspektive“ des Landes (Venizelos 1998a: 15). Da es im griechischen Fallbeispiel um eine extrem umfangreiche Verfassungsänderung ging, werden im Folgenden die Positionen der Kollektivakteure zunächst gemäß dieser Ziel- oder Prinzipienliste zusammengefasst, bevor der Abschluss der Gespräche im Ausschuss und das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten 1998 zur Sprache kommen. Als wichtigstes Ziel der Verfassungsänderung nannte PASOK im Gegensatz zu 1995 die populäre Stärkung der Individualrechte, hinsichtlich derer sich die Parteien im Grundsatz, wie erwähnt, weitgehend einig waren. Unter PASOKs Leitung einigten sich die Parteien im Revisionsausschuss darauf, mehrere schon existierende bzw. in der Verfassung angelegte Regelungen zu verbürgen bzw. nicht angewandte überkommene Regelungen zu beseitigen. Dies betraf beispielsweise die Beschränkung der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit oder die Todesstrafe. Die vorgesehenen Verfassungsänderungen beschränkten kaum den Aktionsradius der Parteien, schrieben zumeist die bestehende griechische Rechtspraxis verfassungsrechtlich fest (die Todesstrafe war beispielsweise jahrzehntelang nicht mehr verhängt worden) und brachten sie dadurch auch in formale Übereinstimmung mit internationalen oder EU-Vereinbarungen (etwa dem 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Abschaffung der Todesstrafe vom 28.04.1983). Ähnlich wie bei der Todesstrafe galt dies für den avisierten Schutz der Person vor biomedizinischen Versuchen und das Recht auf Datenschutz, auf die als Beispiele für eine „Modernisierung“ der Verfassung prominent verwiesen wurde. Diese Änderungen fanden nicht nur die uneingeschränkte Unterstützung der ND, sondern oft auch von der Linksallianz und DIKKI. Darüber hinaus gab es einen breiten Konsens hinsichtlich der Festschreibung des Sozialstaatsprinzips. Kein Akteur wollte den in der Verfassung verankerten Etatismus wenigstens abmildern.221 Solche Staatszielbestimmungen sind immer schwer materiell einklagbar, doch da das Sozialstaatsprinzip ohnehin bereits in der bestehenden griechischen Verfassung angelegt, wenngleich nicht explizit erwähnt war (Venizelos 2002a; Filos 2002: 998 ff.; Chryssogonos/Contiades 2004: 32), hatte seine explizite Fixierung einen besonders deklarativen, symbolischen Charakter. Für PASOK war sie bedeutungsvoll, um die Inkohärenz der Regierungspolitik starker sozialer Einschnitte (um die EU-Konvergenzkriterien erfüllen zu können) mit dem sozialistischen Parteiprogramm zu kaschieren und auf den Weiterbestand
221 Art. 106 (1) postulierte, dass der Staat zur Sicherung des gesellschaftlichen Friedens und zum Schutze des allgemeinen Interesses die wirtschaftliche Tätigkeit im Lande plant und koordiniert; er suche dabei die wirtschaftliche Entwicklung in allen Bereichen der nationalen Wirtschaft zu sichern.
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
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dieses ideellen Ziels trotz der praktisch notwendig erscheinenden gegenläufigen Maßnahmen hinzuweisen.222 Dass die Verankerung des Sozialstaatsprinzips und die Beibehaltung des Etatismus mit dem PASOK-Ziel einer Ausweitung der Rechte konfligieren konnte, zeigte sich an der Haltung PASOKs gegenüber dem ND-Vorschlag, verfassungsrechtlich explizit die Einrichtung privater nicht gewinnorientierter Hochschulen zu ermöglichen. Die ND als quasi alleinige Verfassungsgeberin hatte nach dem Ende der Diktatur ein Verbot nichtstaatlicher Universitäten konstitutionalisiert. Inzwischen suchten angesichts zunehmender grenzüberschreitender Bildungsaktivitäten ausländische Universitäten Wege, sich dieser Regelung anzupassen und erzeugten dadurch einen unintendierten Effekt: Sie sahen sich aufgrund des Verbots gezwungen, mit griechischen privaten gewinnorientierten Bildungsunternehmen zu kooperieren, was die instrumentelle Wirkung der Klausel aushöhlte. PASOK lehnte die von der ND vorgeschlagene Reaktion darauf, eine Liberalisierung des Bildungssystems, als Einschränkung der sozialen Rechte ab (Venizelos 1999: 105) und gab damit ebenfalls ihre ursprüngliche Position aus der Zeit der Verfassungsschreibung auf, als sie für eine Zulassung nichtstaatlicher Universitäten gewesen war. Die Großparteien „tauschten“ also ihre Präferenz. Von den im Problemhorizont erwähnten brisanten Grundrechtsfragen wurde trotz der im Revisionsausschuss diskutierten umfänglichen Änderungen lediglich – auf Initiative PASOKs – der Wehrersatzdienst aus Gewissensgründen debattiert, den die ND aus ideologischen Gründen ablehnte. PASOK hatte bereits im Juni 1997 parallel zu den Verfassungsgesprächen ein Gesetz verabschiedet, das diese Materie regelte und war damit einer Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 1987 nachgekommen (Council of Europe 1987). Die ethnisch-religiöse Thematik wurde hingegen weder von PASOK noch von der ND wirklich problematisiert. Sie einigten sich zwar darauf, die Bestimmungen zur Religionsfreiheit zu konkretisieren und dabei über die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention hinauszugehen (Venizelos 1999: 106). Nicht ändern wollten sie aber den wichtigen Art. 13 (2) zur Religionsausübung, obwohl der Europäische Gerichtshof Griechenland im Zusammenhang mit dieser Regelung wegen des Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilte223 und obwohl die Offenheit und Weite der Regelung starke juristische Interpretationsprobleme schuf (Filos 2002: 998f.). Die Verwaltungsreform nannte PASOK, wie an Venizelos’ Aussagen ersichtlich, nicht mehr als eigenes Ziel, sondern ordnete sie der neuen, populäreren Zielsetzung einer „Bürgerbeteiligung“, die nach der Sicherheit des Individuums an zweiter Stelle rangierte, als ein Instrument unter. Sie verfolgte den Plan einer „Regionalisierung“, die zwar eine Übertragung bestimmter administrativer Aufgaben an regionale und gewählte Einheiten beinhaltete, doch sollten diese weiter Teile der Staatsverwaltung und gegenüber der Zentralregierung verantwortlich bleiben (Valta 2004: 453). Intendiert war hier also eine Form der Dekon222 Zu den von der Simitis-Regierung ergriffenen Maßnahmen zählten neben Privatisierung und Deregulierung konkret ein Stopp von Lohnerhöhungen und Neueinstellungen, eine sehr geringe Wiederbesetzung freiwerdender Stellen und die Streichung von Zulagen im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen, die Abschaffung von Steuerfreibeträgen und die Wiedereinführung der Kapitalertragsteuer (Axt 1997a). 223 1996 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Fall betreffend die Zeugen Jehovas, dass Griechenland Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt habe. Des Weiteren bemängelte er, dass die Gesetzgebung eine weitreichende Störung der Ausübung der Religionsfreiheit durch politische, administrative und kirchlichen Autoritäten zulasse sowie rigide oder tatsächlich prohibitive Bedingungen für die Praktizierung des religiösen Glaubens durch einige nicht-orthodoxe Bewegungen stelle. Es gebe zudem eine klare Tendenz vonseiten der administrativen und kirchlichen Einrichtungen, diese Bedingungen zu nutzen, um die Glaubensaktivitäten außerhalb der orthodoxen Kirche zu beschränken (IHFHR 1999).
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
zentration. Gleichzeitig sollten die kommunalen Verwaltungsorgane dezentralisiert werden, aber weiterhin finanziell durch den Staat kontrollierbar sein. Die entsprechenden Reformmaßnahmen waren darauf gerichtet, die Kriterien für den Beitritt zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einhalten zu können, die nur durch eine höhere Effizienz der staatlichen Institutionen und finanzielle Einschränkungen im Bereich öffentlicher Ausgaben zu erreichen war (Griechische Botschaft o.J.: 14; Valta 2004: 440). Da PASOK als Regierungspartei diese Reformen bereits einfachgesetzlich vollzog und sie mit der bestehenden Verfassung größtenteils kompatibel waren, bestand der Nutzen der Verfassungsänderung „lediglich“ darin, Struktur und Tätigkeit der Verwaltung verfassungsrechtlich zu präzisieren. Gerade diese Präzisierung führte aber zu Dissonanzen mit der ND über die Details, etwa hinsichtlich der juristischen Zuständigkeit für und des Umgangs mit Verwaltungsstreitigkeiten (Art. 94) sowie der Errichtung, personellen Besetzung und Kontrolle unabhängiger Behörden (Art. 101 bzw. 101A). Die mit der Reform verbundene Bereitstellung neuer per Wahl zu besetzender Ämter war jedoch ein Anreiz für die ND (und PASOK-interne Kritiker), sie grundsätzlich zu unterstützen. Als zweites neu formuliertes Leitziel der Verfassungsänderung, an dritter Stelle der Liste, stellte PASOK die Auflösung der „Verflechtung“ zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft heraus, das zuvor nicht rhetorisch exponiert worden war. Nach dem Ableben Papandreous und dem Wechsel hin zu jüngeren, eher technokratischen Politikern wurde diese Problematik inzwischen neutraler betrachtet. Unter Simitis erlangte das Ziel einen hohen politischen Stellenwert. Grundsätzlich einigten sich die Parteien darauf, in der Parteienfinanzierung und bei der Medienregulierung die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft zu präzisieren sowie die Anwendung der Positivbestimmungen der Presse (Art. 14, 15) auf Rundfunk und Fernsehen auszudehnen, ohne dabei aber die konstitutionell fixierte „unmittelbare staatliche Kontrolle“ aufzugeben. PASOK hatte bereits 1995 ein Gesetz verabschiedet, das die Beteiligung an mehr als zwei verschiedenen Branchen der Informationsmedien verbot. Die vorgesehene Rundfunkaufsichtsbehörde existierte ebenfalls bereits, so dass PASOK hier die eigene politische Linie fortsetzte (Filos 2002: 1013f.). Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der „Entflechtung“ bestanden aber größere Differenzen, es gab starke Widerstände der Verwaltung, der Gewerkschaften, der Wirtschaft und von Abgeordneten, die von den diskutierten Regelungen persönlich betroffen waren.224 Die ND war tendenziell an einer stärkeren Trennung von Politik und Wirtschaft, einer Stärkung der Justiz bei der Strafverfolgung und der Festschreibung unabhängiger Behörden interessiert.225 PASOK hingegen betrachtete das Parlament (de facto die Parlamentsmehrheit) als Quelle der Demokratie und wollte, abgeleitet aus diesem Idealmodell, ausschließlich ihm ein Recht auf Strafanzeige gegen amtierende und ehemalige Minister wegen Straftaten zu Amtszeiten einräumen und nicht der (nicht gewählten) Justiz. Die häufigen Neuregulierungen zur Finanzierung der Parteien und Wahlkämpfe in der jüngeren griechischen Vergangenheit zeugten aber davon, dass PASOK und ND gerade in den Punkten der Problematik, denen sie unmittelbare Effekte auf die eigene Stellung im politischen 224 Positionsunterschiede ergaben sich beim Umgang mit „Verleumdungen“ in den Medien, der Offenlegung der Medienfinanzierung (Art. 14), der Finanzierung der Parteien und den politischen Rechten der Beamten und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst (Art. 29), der Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandats mit anderen Tätigkeiten (Art. 57) und der Kontrolle neuer unabhängiger Behörden, darunter des 1997 bereits eingeführten, selbst nicht umstrittenen Ombudsmannes (Art. 101 bzw. 101A). 225 Sie wollte die Justiz sowohl hinsichtlich Straftaten von Ministern als auch der Kontrolle des Privatvermögens von Politikern stärken und eine von der Politik unabhängige Zentralbank in Art. 106 festschreiben.
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
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System zuschrieben, keine stabilen konkreten Präferenzen hatten (Diakogiannis 2001a: 12; Kalliagkopoulos 2001h). Die „Stärkung des Parlaments“, die Papandreou 1995 als prioritäres Ziel der Verfassungsänderung genannt hatte, tauchte nicht mehr als eigener Punkt auf und ging noch am ehesten in der an vierter Stelle der verfassungspolitischen Reformprinzipien neu aufgeführten „Förderung des politischen Konsenses“ auf. Sie wurde faktisch zurückgestutzt auf die Rationalisierung der parlamentsinternen Abläufe, z.B. durch die stärkere Verlagerung von Beratungen in Ausschüsse. Bestimmte Regelungen sollten nicht (mehr) in der Verfassung getroffen, sondern dort nur durch Verweis auf explizite Regelungen in der Geschäftsordnung des Parlaments erwähnt werden. Hier zeichnete sich ein Konsens zwischen PASOK und ND ab. Nur die kleinen Parteien waren gegen diese Änderungen, weil sie besonders für jene Unsicherheiten schuf, die wie sie keine unmittelbare Aussicht darauf hatten, eine Mehrheit der Mandate zu erlangen und damit die Geschäftsordnung zu beeinflussen. Besonders breit wurden in diesem Kontext die Wahlmodi diskutiert, die die Abgeordneten konkret betrafen. Hier ging es beispielsweise um die verfassungsrechtliche Normierung des Verfahrens von Wahlgesetzänderungen (Art. 54), die die großen Parteien PASOK und ND traditionell als Instrumente im politischen Wettbewerb nutzten. Den eher technischen Vorschlag der ND, die Zahl der in einem Wahlkreis vergebenen Mandate der jeweils aktuellen Bevölkerungszahl anzupassen, unterstützten auch PASOK-Abgeordnete. Hinsichtlich der Wahl des Präsidenten ergaben sich, wie angesichts des verfassungspolitischen Problemhorizontes zu erwarten (Kapitel 3.2), deutliche Positionsunterschiede. PASOK hatte ursprünglich vorgeschlagen, das Verfahren (Art. 32) leicht zu modifizieren. Die notwendige Mehrheit sollte ab dem dritten Wahlgang im Parlament gesenkt werden, um die bei zwei gescheiterten Abstimmungen vorgesehenen Neuwahlen zu vermeiden. In der Begründung hieß es, dieses Vorgehen sei in allen europäischen parlamentarischen Systemen, wie Deutschland oder Italien, üblich (Venizelos 1999: 103). Die ND verkoppelte ihre Haltung zu diesem Vorschlag mit ihrer traditionellen Forderung, die Kompetenzen des Präsidenten wieder zu erweitern, um eine bessere Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebungsinitiativen der jeweiligen Regierungspartei zu ermöglichen. Dies stand für PASOK nicht zur Disposition. Die kleinen Parteien lehnten eine Veränderung des bestehenden Verhältnisses zwischen Parlament, Regierung und Präsident ohnehin ab, weil sie Risiken eines Wandels fürchteten und aus den Vorschlägen der großen Parteien, die sie inhaltlich nicht beeinflussen konnten, keinen Nutzen zogen. PASOK zeigte sich zwar institutionell kreativ, um eine Zustimmung zu ihrem Vorhaben zu sichern,226 doch den im März 1998 formulierten allgemeinen Vorschlag des Revisionsausschusses zur Änderung des Art. 32 lehnten ND, DIKKI und Linksallianz in einer Mischung aus Risikoaversion und prinzipieller Ablehnung bei diesem ideologischen Thema ab (Sotirelis 2001b: 24, 84-114, 147-170). Das letzte, ebenfalls neue offizielle verfassungspolitische Prinzip bzw. Ziel PASOKs, die Europäisierung, wurde aus außen- und innenpolitischen Interessen heraus „draufgesattelt“. Die Regierung verfolgte unter Simitis eine im Vergleich zur Vorgängerriege unter Papandreou wesentlich deutlicher auf die EU ausgerichtete Politik und näherte sich damit 226 Am 25.11.1997 schlug der PASOK-geführte Revisionsausschuss vor, das Staatsoberhaupt direkt zu wählen, um es zumindest symbolisch aufzuwerten. Die ND sprach sich aber für die Beibehaltung des aktuellen Verfahrens aus, sofern nur die Kompetenzen des Präsidenten erweitert würden. Auch Venizelos schlug nun die Beibehaltung des Verfahrens vor, jedoch sollten in dem Verfassungsartikel die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung einer neuen Parlamentswahl vom Wahlakt getrennt geregelt werden, um das politische System nicht unnötig zu destabilisieren. Bislang waren beide Sachverhalte miteinander verknüpft.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
der traditionell europafreundlichen ND (Axt 1997; 2004: 153f.) an, begründete die Integrationsoffenheit aber mit den „nationalen Interessen“ (Bilios 2003: 30).227 Aktuell wollte sie sich trotz ungünstiger wirtschafts- und finanzpolitischer Eckdaten für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion empfehlen, die ihr in der ersten Runde verweigert worden war.228 Dafür nutzte sie u. a. Mittel der symbolischen Politik. Auch innenpolitisch konnte der Verweis auf das bei der Verfassungsänderung verfolgte Europäisierungsprinzip einen Imagegewinn herbeiführen, da die griechische Bevölkerung sich seit Ende der 1980er Jahre sehr proeuropäisch zeigte. Obwohl „Modernisierung“ seit der Etablierung der Dritten Republik im politischen Diskurs eine große Rolle spielte, erhielt sie unter Simitis den Status einer inhaltlich unspezifischen „Ersatzideologie“, die dazu diente, vielfältige Interessen zu integrieren, sich stilistisch und inhaltlich von der alten Parteilinie unter Papandreou abzusetzen und die Regierungspolitik zu legitimieren229 (Fouskas 1997; Alivizatos 2001c; Bilios 2003; Featherstone 2005; Zervakis 1999: 661f.; Cassimati 2003). Die Europäisierungs- und Modernisierungsrhetorik sollte den tiefen Einschnitten einen übergreifenden ideellen Sinn verleihen,230 die Perspektive einer griechischen Teilhabe an der Europäischen Währungsunion in der zweiten Runde die Politik, Verwaltung und Bevölkerung unter Druck setzen, die Regierungsmaßnahmen zu akzeptieren und umzusetzen (vgl. Axt 1997a). Angesichts ihres proeuropäischen politischen Profils hatte die ND keinen Grund, sich gegen Europäisierungsbemühungen zu stellen. Obwohl die Integration Griechenlands in eine supranationale Organisation wie die EU keine Verfassungsänderung erforderte (Papadimitriou 1995a), einigten sich PASOK und ND daher darauf, in Art. 28 und Art. 80 die Einbindung in die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu erwähnen und in Art. 70 die Regierung zu verpflichten, Fragen und Angelegenheiten, die von EU-Organen zu regeln sind, dem Parlament vorzulegen. Welche Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse damit verbunden waren, sollte aber nicht konstitutionalisiert werden und damit faktisch der Regelung durch die Mehrheitspartei unterliegen. KKE und DIKKI als Parteien mit antieuropäischem Profil waren dagegen, die mögliche Verlagerung nationaler Kompetenzen auf Gemeinschaftsorgane in der Verfassung festzuschreiben, um die Unabhängigkeit des Landes zu bewahren (Filos 2002: 1020f.). Außerhalb der genannten Bekenntnisse zur europäischen Integration waren unter den vorgeschlagenen Änderungen wenig konkret europäisch beeinflusste Vorhaben. Nur die Festschreibung des Umweltschutzes, die Regionalisierung und Dezentralisierung standen sonst – auf den ersten Blick – in einem engeren Zusammenhang mit der EU. Doch wollte PASOK mit der Änderung der Umweltschutzpassage in Art. 24 nicht so sehr die Schutzbe227 Der nun dominierende pragmatischere PASOK-Flügel bewertete die umfangreichen Vorteile höher, die die EU-Mitgliedschaft Griechenland in finanzieller Hinsicht (seit 1994 lag der Anteil der Mittel aus dem europäischen Strukturfonds bei 3,7 Prozent des BIP) sowie in den Auseinandersetzungen mit der Türkei brachte. 228 Diese Strategie zahlte sich aus, denn trotz großer Fortschritte bei den Konvergenz-Kriterien war eine Zustimmung zur Teilnahme Griechenlands fraglich. Der Europäische Rat von Santa Maria da Feira interpretierte die Kriterien im Juni 2000 letztlich flexibel, politisch, um Griechenland den Beitritt zur Währungsunion zum 01.01.2001 zu ermöglichen (Axt 2000). 229 Die vielfach genutzte Modernisierungsrhetorik und die geäußerte Bereitschaft zur Anpassung an westlicheuropäische Institutionen und Werte verbanden sich zu einer positiv konnotierten argumentativen Einheit, die teils mit traditionalen Elementen, wie dem Klientelismus, kombiniert werden konnte. 230 Ohne sich dabei auf die Seite der einen oder anderen großen Partei zu stellen, unterstützte Präsident Kostis Stefanopoulos (parteilos) erstmals am 29.06.1997 die Verfassungsänderung. Er erklärte, eine effektive Demokratie müsste immer wieder auf das Thema ihrer Modernisierung zurückkommen und ihre Institutionen überprüfen (Sotirelis 2001b: 23).
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stimmung selbst ändern, sondern eher dem rechtschöpfenden Aktivismus der Justiz Einhalt gebieten, der sich vor dem Hintergrund eines nur fragmentarischen und pragmatischen Umweltrechts entwickelt hatte und ihre Entscheidungsspielräume einengte231 (Chryssogonos/Contiades 2004: 22, 27, 31f., 40; Ladi 2005: 9). Mit der Ausgestaltung von Regionalisierung und Dezentralisierung in der Verfassung wollte PASOK das Ziel erreichen, die Funktionsweise der Verwaltung zu verbessern, das Verhältnis zwischen der kommunalen Selbstverwaltung und der dekonzentrierten staatlichen Verwaltung verfassungsrechtlich zu präzisieren232 sowie durch die Stärkung der Regionen die Repräsentation nationaler Interessen innerhalb der EU zu verstärken (Sotirelis 2001b: 68, 82; Valta 2004: 453; Cassimati 2003; Filos 2002: 1026). Eine verfassungsrechtliche Verankerung des Kommunalwahlrechts für EU-Bürger beispielsweise wurde nicht diskutiert, und die geschilderte Problematik der Religionsfreiheit zeigte, dass PASOK und ND sogar Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof hinnahmen, um ihre eigenen verfassungsrechtlichen Vorstellungen durchzusetzen. PASOK lehnte zudem die von der ND vorgeschlagene Festschreibung einer unabhängigen Zentralbank (bzw. der Delegation von Aufgaben an eine unabhängige europäische Zentralbank) in der Verfassung ab, obwohl die Zentralbanken der Euro-Interessenten bis zum Ende der zweiten Stufe der Europäischen Währungsunion unabhängig von politischen Einflüssen werden mussten und die Regierung entsprechende Schritte unternahm (vgl. Ladi 2005; Ioakimidis 2001). Unerwähnt blieben in der verfassungspolitischen Prinzipienliste PASOKs die angestrebten Modifizierungen der Judikative. PASOK ging es hier besonders darum, die in der bestehenden Verfassung bereits angelegten Normen zu präzisieren (so zur Unabhängigkeit der Justiz), Normen existierender Gesetze in der Verfassung zu berücksichtigen (so zur Veröffentlichung von Minderheitsmeinungen bei Gerichtsentscheidungen, die seit 1993 gesetzlich geregelt war), oder die Rechtspraxis zu konstitutionalisieren. Kenntnisse dieser Materie waren schon dadurch gewährleistet, dass im Revisionsausschuss Juristen in einflussreichen Positionen saßen.233 Oft berührten die vorgeschlagenen Neuregelungen der Justiz Legislative und Exekutive nicht und beinhalteten daher für sie keine Nachteile, was überlappende Positionen der Parteien vereinfachte. Nur die KKE wandte sich gegen die meisten Neuerungen. In politisch wichtigeren Punkten zeigten sich jedoch auch bei den anderen Akteuren Differenzen: So hatte PASOK kein Interesse daran, der von der ND unterstützten Forderung des griechischen Richterbundes nachzukommen, die Justiz stärker gegen Eingriffe von seiten der Regierung zu schützen (Zervakis 1999: 666). Bei Einigkeit im grundlegenden Ziel, die Gegenstände zu klären, in denen die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gerichtlich geprüft werden kann, blieb die Forderung der ND nach Einrichtung 231 Dies geschah auf Basis der Ausarbeitungen der griechischen Rechtsprechung, die seit 1992 den damals auf der Klimakonferenz in Rio de Janeiro erstmals breit propagierten – und erst später auf europäischer Ebene im Vertrag von Amsterdam festgehaltenen – Grundsatz der „nachhaltigen Entwicklung“ angewandt hatte. 232 Sie sollte das fixieren, was PASOK seit den 1980er Jahren bereits einfachgesetzlich durchsetzte, zuletzt 1997 mit der großen Reform der Regionalverwaltung und der lokalen Selbstverwaltung. 233 Dazu zählten der bereits erwähnte Venizelos, Ioannis Varvitsiotis, Parlamentsabgeordneter und Chefbeauftragter der ND für die Verfassungsänderung und der ND-Fraktionssprecher Prokopis Pavlopoulos. Auch Dimitris Tsatsos, PASOK-Mitglied des Europäischen Parlaments, und Andreas Loverdos, 1996/97 PASOKStaatssekretär im Ministerium für Inneres, Öffentliche Verwaltung und Dezentralisierung, dort Mitschöpfer der Verwaltungsreform von 1997 und des Ombudsmann-Amtes, sind zu diesem Kreis zu zählen. Außer dem auf das Verfassungsrecht spezialisierten Juristen Varvitsiotis waren alle Genannten (unter anderem) Professoren für Verfassungsrecht.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
eines Verfassungsgerichtes nicht mehrheitsfähig. PASOK argumentierte (wie hinsichtlich des Rechts auf Erhebung einer Anklage gegen amtierende Minister), die zentralisierte Instanz eines Verfassungsgerichtes würde die richterliche Natur des Urhebers der Kontrolle nicht mehr gewährleisten, sondern einem „Richterparlament“ ähneln. Sie sprach sich für die Beibehaltung einer dezentralen Verfassungsmäßigkeitskontrolle aus, wobei aber jeder Senat des Staatsrates, des Areopags oder des Rechnungshofes das Recht erhalten sollte, dem entsprechenden Gerichtsplenum die obligatorische Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesbestimmungen zuzuweisen, falls es diese als verfassungswidrig ansähe (Panagopoulos 2002: 679). Die Linksallianz unterstützte die PASOK-Variante, die keine aktuellen internationalen Vorbilder kannte. Auch hinsichtlich der von PASOK und ND angestrebten modifizierten Wahl der Präsidenten der Obersten Gerichte, die in Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeitskontrolle an Bedeutung gewann, herrschte keine Einigkeit (Venizelos 1999: 106f.). Wie Tab. 26 veranschaulicht, verschoben sich die verfassungspolitischen Ziele PASOKs bzw. die ausgehandelten inhaltlichen Schwerpunkte der Verfassungsänderung in der individualistischen Phase erheblich, ohne dass dies das Ergebnis notwendiger Kompromisse war, denn gefördert durch die prozeduralen Vorgaben, die zunächst nur einen Beschluss über die zu ändernden Klauseln, aber noch keine engültige Formulierung vorsahen, sowie aufgrund der politischen Kräftekonstellation waren die Gespräche bis zu diesem Zeitpunkt vor allem darauf gerichtet, die individuellen Zielsetzungen der Akteure durchzubringen. Hintergrund der Verschiebungen bei PASOK waren vielmehr ihre unklaren substanziellen Präferenzen. Sie öffneten die Verfassungspolitik dem Einfluss nichtsubstanzieller Kalküle der „normalen“ Innen- und Außenpolitik. Überschneidungen der Präferenzen und Änderungsinhalte ergaben sich eher „zufällig“ im Zuge der Durcharbeitung der Verfassungsinhalte im Revisionsausschuss. Auf Positionsunterschiede reagierten die Beteiligten tendenziell, indem sie auf ein nächstes Thema der Verfassungsänderung auswichen. In der gesamten individualistischen Phase dominierten im griechischen Fall bei der Spitzenpolitik nichtsubstanzielle Erwägungen, während die Positionen hinsichtlich vieler Inhalte der Verfassungsänderung teils ungeklärt, teils gezielt offen waren. Ausnahmen bildeten Themen, bei denen die Akteure auf erprobte verfassungspolitische Positionen zurückgriffen, wie hinsichtlich des Präsidentenamts. Unabhängige Expertenurteile spielten keine Rolle; die Parteien griffen vornehmlich auf eigene Experten zurück (vgl. Ladi 2005). Zum Abschluss der Ausschussarbeit 1998 kristallisierten sich zwar als grundlegende und konsensfähige Ziele der Verfassungsänderung der Ausbau des Grundrechtsschutzes sowie eine Neuregelung des Prozesses der parlamentarischen Entscheidungsfindung heraus (Alivizatos 1998: 6), doch fällt die Neigung der Parteien ins Auge, ohne Druck kaum überschaubar viele Einzelklauseln zu ändern. Einerseits entsprach dieses Verhalten (trotz des jeweils nichtreformerischen Charakters der Einzeländerungen) nur bedingt den rationalchoice-Annahmen von Risikominimierung und Zustimmung zu institutionellem Wandel nur bei eindeutig überwiegendem Nutzen. Andererseits entspricht rationalem Handeln, dass PASOK im wesentlichen nur das auf Verfassungstextebene zu bestätigen bzw. zu fixieren suchte, was auf übergesetzgebender, gesetzgebender oder rechtsprechender Ebene schon vollzogen war (Chryssogonos/Contiades 2004: 32), was ihr politisch-programmatisch passte und keine Machteinbußen erforderte.234 234 So lehnte PASOK den Vorschlag der ND ab festzuschreiben, dass die kommunalen Selbstverwaltungsorgane das Recht hätten, Referenden zu gesellschaftlichen Themen lokaler Bedeutung abzuhalten und dass der
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4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
Tabelle 26: Verschiebung verfassungspolitischer Ziele des Initiators im Fall G Zielsetzungen 1995 Stärkung des Parlaments Verwaltungsmodernisierung Dezentralisierung der kommunalen Selbstverwaltung Stärkung des Grundrechtsschutzes Klärung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche
Rang
Zielsetzungen 1998 Förderung des politischen Konsenses
Rang
Veränderung der Zielsetzung
4
beschränkt zu faktischer Rationalisierung parlamentarischer Prozesse
Bürgerbeteiligung
2
zusammengefasst mit neuem Fokus; altes Ziel wird ein neues Instrument
4
Sicherheit des Individuums
1
erweitert (individuelle und soziale Rechte)
5
-
1 2 3
Entflechtung Politik – Wirschaft Stärkung der europäischen Perspektive
Verzicht 3
hinzugefügt
5
hinzugefügt
Die kleinen politischen Akteure des linken Spektrums, die zuvor skeptisch gegenüber der Verfassungsänderung gewesen waren und im 1996 gewählten Parlament keine eigenen Verfassungsänderungsvorschläge eingereicht hatten, formulierten ihre Positionen anhand der von der PASOK und der ND vorgelegten Papiere. Sie hatten auf den Gang der Gespräche keinen Einfluss, zumal die Überlappungen zwischen den Parteipositionen von PASOK und ND zunehmend darauf hindeuteten, dass PASOK die Karte einer Themenkoalition mit den kleinen Parteien nicht ausspielen musste (Kalliagokopoulos 2001j). Die KKE äußerte sich bewusst ideologisch gegen die beiden großen und zunehmend populären Parteien, um ihr eigenes politisches Profil zu schärfen. DIKKI zeigte sich den Vorschlägen PASOKs gegenüber nicht gänzlich abgeneigt, war aber auch bestrebt, mit einem eigenen Profil unzufriedene Anhänger der alten Stammpartei anzuziehen. Die Linksallianz hingegen wollte sich vornehmlich von der KKE absetzen und reagierte positiver als diese auf die ganze Idee der Verfassungsänderung. Möglichkeiten substanzieller Einigkeit zeigten sich besonders hinsichtlich der Grundrechte und der Arbeitsweise des Parlaments (Alivizatos 2001b: 162f.).235 Der Revisionsausschuss stimmte am 04.03.1998 intern über die zu ändernden Klauseln ab und legte am 30.03.1998 dem Parlament seinen Abschlussbericht vor, in dem er die Modifizierung von 120 Klauseln (betreffend 72 Artikel) vorschlug. Darunter waren auch Minderheitsvorschläge, so die Änderung der Verfassungsmäßigkeitskontrolle in Art. 93 (4), der im Ausschuss keine Partei als solche zustimmte, sondern nur einzelne Abgeordnete, oder die nur von der Linksallianz aus ideologischen Gründen unterstützte Änderung der Verfügungsgewalt über Erz- und Kohlebergwerke in Art. 18 (1). Knapp einen Monat späStaat die notwendigen Ressourcen für die Erledigung des Auftrags der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften garantierte (Sotirelis 2001b: 58, 87, 112), obwohl Dezentralisierung und eine breite Mitwirkung der Bevölkerung am politischen Prozess ihrer Programmatik entsprachen und dem europäischen Subsidiaritätsgedanken entgegenkamen (Cassimati 2003: 15). 235 Unter den von verschiedenen Parlamentarien eingebrachten zusätzlichen Änderungsvorschlägen war beispielsweise einer von 32 Abgeordneten der ND, 15 Abgeordneten der PASOK, vier Abgeordneten von Linksallianz, zwei Abgeordneten der DIKKI und fünf unabhängigen Abgeordneten, die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Verfassung zu verankern.
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ter, am 29.04.1998, debattierte das Parlament erstmals im Plenum über die Verfassungsänderung. Danach standen die individuellen und sozialen Rechte (mehrfach), das Präsidentenamt sowie das Wahlsystem (mehrfach) auf der Tagesordnung von Plenarsitzungen (Sotirelis 2001b: 13-37). Die Plenaraussprachen waren nicht sehr ausführlich, doch beriet das Parlament die Verfassungsänderung insgesamt ausführlicher als normale Gesetze, bei denen es als Zustimmungsarena für Regierungsvorlagen fungiert (Zervakis 1999: 650f.). Die Aussprachen widmeten sich vorrangig den öffentlichkeitswirksamen und positiv besetzten Themen (Grundrechte), den traditionell ideologisch-konflikthaften Themen (Präsidentenamt) und – wie schon im Revisionsausschuss – am ausgeprägtesten einem Thema, das die Abgeordneten selbst betraf, nämlich dem Wahlrecht (Alivizatos 2001b: 202). Aufgrund der Vorverhandlungen zwischen den Beauftragten der Kollektivakteure, des strukturell bedingten Informations- und Zeitmangels, unüblicher Mitarbeiter und Konsultation externer Interessengruppen waren die Entscheider in hohem Maße von den Informationen, der Fachkompetenz und den bereits geleisteten Vorarbeiten abhängig (vgl. Zervakis 1999: 650), auch wenn in einigen Fällen in den Sitzungen der PASOK-Fraktion, die jeweils am Tag vor der entsprechenden Parlamentsdiskussion stattfanden, die Parteiposition noch verändert wurde. Dies galt etwa beim Umweltschutz in Art. 24 und den Kompetenzen des Staatsrates in Art. 95 (Alivizatos 2001c). In den Abstimmungen votierten die meisten Abgeordneten, wie in der „normalen“ griechischen Gesetzgebung üblich, gemäß den offiziellen Positionen der Parteien. In der ersten Plenarabstimmung am 20.05.1998 waren sich trotz ihrer ideologisch-programmatischen Unterschiede sogar bei 35 Klauseln alle vier abstimmenden Parteien einig. Sie umfassten in Übereinstimmung mit den während der Aushandlungen entwickelten Parteipositionen vornehmlich Grundrechtsänderungen bzw. -erweiterungen, Neuregelungen der Justiz, politische Rechte von Staatsangestellten, die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften und die Arbeitsweise des Parlaments – zumeist also Klauseln, die die Parteien selbst weder direkt bevor- oder benachteiligten und für die allgemeine Funktionalitäts- und Modernitätserwägungen sprachen. Wie bereits in den Verfassungsgesprächen distanzierten sich die Linksallianz und DIKKI in ihrem Abstimmungsverhalten jeweils stärker von ihrer Herkunftspartei (KKE bzw. PASOK), als dies programmatisch-ideologisch begründbar war. Aus Protest gegen aus ihrer Sicht fehlende Mitwirkungsmöglichkeiten nahm die KKE nicht an den Abstimmungen teil. Im Ergebnis stimmten für die Änderung von 84 Klauseln jeweils mehr als drei Fünftel der Abgeordneten und von sechs weiteren Klauseln jeweils mehr als die mindestens erforderliche Häfte. In der folgenden Abstimmung am 24.06.1998 votierten für die Änderung von 83 Klauseln jeweils mehr als drei Fünftel und von sieben Klauseln jeweils mehr als die Hälfte (Tab. A 13). Diese Klauseln wurden Gegenstände der nachfolgenden verfassungspolitischen Aushandlungen (Pavlopoulos 1998: A 26).
4.2 Griechisches Fallbeispiel (1995-1998)
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Tabelle 27: Übereinstimmende Bereitschaft zur Änderung von Verfassungsklauseln, Fall G 1998 PASOK ND SYN DIKKI ND 85 (82)* SYN 77 79 (77)* DIKKI 39 37 (35)* 41 KKE 0 0 0 0 Gesamtzahl der Klauseln, über deren Änderung abgestimmt wurde: 120 Lesebeispiel: Bei 85 Klauseln waren sowohl PASOK als auch die ND für eine Änderung. * Die Zahl in Klammern betrifft die zweite Abstimmung, vor der die ND in drei Fällen ihr Votum änderte.
Das Abstimmungsverhalten wich in einigen Punkten deutlich von den vorherigen Parteivoten im Ausschuss ab. Dies war dies ein signifikanter Unterschied zur Tagespolitik. Größere Abweichungen von mindestens 60 Stimmen (20 Prozent aller Abgeordneten) zwischen den gemäß den Parteivoten erwartbaren und den tatsächlich abgegebenen Stimmen ergaben sich bei immerhin elf Klauseln. In fünf Fällen ließen sie die Änderung einer Klausel unerwartet scheitern: Parteiinterne Differenzen, die Ursache des abweichenden Stimmverhaltens, stoppten die von PASOK mitbefürwortete Änderung dreier Klauseln zur Gründung nichtstaatlicher Universitäten, des Amtseids des Präsidenten bzw. der Abgeordneten (Tab. A 14). In zwei Fällen sorgte das abweichende Verhalten dafür, dass Klauseln nur die minimale Zustimmungshürde überwanden, davon einmal knapp: Einer verfassungsrechtlichen Neuregulierung der Ratifizierung internationaler Verträge Art. 36 (2) hatten PASOK und ND im Ausschuss zugestimmt, doch wurde die erwartbare Stimmenzahl von 270 um 115 Stimmen verfehlt. Der Neuregulierung zur Veröffentlichung von Minderheitsmeinungen bei Gerichtsentscheidungen in Art. 93 (3) hatten PASOK, ND, DIKKI und die Linksallianz zugestimmt, doch wurde hier das zu erwartende Votum um 111 Stimmen verfehlt. Trotz der Zustimmung der vier Parteien im Ausschuss überwand diese Klausel daher nicht die eigentlich komfortabel erreichbar scheinende Dreifünftelmehrheit, die nun im nachfolgenden Parlament beschafft werden musste, um die Klausel ändern zu können (Tab. A 14).236 Neben den beiden genannten Klauseln überschritten drei weitere nur die minimale Zustimmungssschwelle, hier allerdings aufgrund differierender Positionen der Parteien und nicht der Abgeordneten: Art. 4 (6) betreffend die allgemeine Wehrpflicht, Art. 28 betreffend den Abschluss internationaler Verträge und die Einschränkung der nationalen Souveränität, Art. 32 betreffend die Wahl des Präsidenten, Art. 80 betreffend den öffentlichen Haushalt sowie Art. 100 betreffend die Prüfung der materiellen Verfassungswidrigkeit von Gesetzen durch den Obersten Sondergerichtshof. Viele der Klauseln mit abweichendem Stimmverhalten der Abgeordneten und fehlender Zustimmung der ND waren im Vergleich zu den konsensual beschlossenen Revisionsklauseln politisch-ideologisch aufgeladener, ihre Änderung weniger mit neutralen Funktionalitätserwägungen begründbar (Tab. A 13). Mehrere Faktoren führten zur insgesamt aber breiten Zustimmung zu den vorgeschlagenen Klauseln: erstens die oft allgemeinen Formulierungen zur Richtung der jeweiligen Verfassungsänderung, die relativ wenig Angriffsfläche boten und später auf unterschiedli236 Viermal änderte das abweichende Stimmverhalten nichts am gemäß den Parteivoten erwarteten Ausgang der Abstimmung: Die Abschaffung der Todesstrafe und die modifizierte Ernennung der Richter des Rechnungshofes erhielten trotzdem eine Dreifünftelmehrheit, während die nur von der ND unterstützte Modifizierung der Zahl der Abgeordneten, die im ganzen Staatsgebiet gewählt werden, sowie die von keiner Partei befürwortete Änderung der Verfassungsmäßigkeitskontrolle in Art. 93 (4) nicht die nächste Aushandlungsstufe erreichten.
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che Weise ausformuliert werden konnten (Alivizatos 2001a: 12; Botopoulos 2000: 16), zweitens der von PASOK angestrebte wenig reformerische Charakter der einzelnen Verfassungsänderungen, drittens die Inhalte der zu ändernden Klauseln, die die Abgeordneten, die Parteien oder ihre Programmatiken oft nicht direkt betrafen, was negative Effekte für sie eindämmte. Für die ND als einzigen ernstzunehmenden Mitspieler galt zudem, dass viele ihrer Zielsetzungen sich mit denen von PASOK überlappten, weil beide großen Parteien danach trachteten, möglichst breite Wählergruppen anzusprechen und sie als Regierungsparteien über ähnliche praktische Erfahrungen im Umgang mit bestimmten Verfassungsregelungen besaßen. Darüber hinaus hatte die ND seit der Übernahme des Vorsitzes durch Kostas Karamanlis am 21.03.1997 deutlich an gesellschaftlicher Popularität gewonnen. Sie hegte aufgrund der positiven Umfrageergebnisse 1997/98 die Erwartung, dass sie die folgende Parlamentswahl gewinnen würde (Alexakis 1998: 67). In diesem Fall hatte eine bereits erreichte Dreifünftelmehrheit den Vorteil, dass sie die „unter Revision stehenden“ Klauseln und damit einen Großteil der Verfassung neu gestalten konnte (Alivizatos 2001a: 12). Nur 14 der 90 zur Änderung freigegebenen Klauseln waren von der Opposition vorgeschlagen worden, darunter die Regelungen zur Zahl der zu wählenden Abgeordneten eines jeden Wahlkreises. Von den 34 Klauseln, bei denen das Abstimmungsverhalten von PASOK und ND divergierte, verblieben nicht überraschend neun der elf im Aushandlungsprozess, die PASOK befürwortete. Die zwei übrigen – zu den Eiden des Präsidenten und der Abgeordneten – scheiterten am von der Parteilinie abweichenden Wahlverhalten der PASOK-Abgeordneten selbst. Hingegen fielen alle 23 Klauseln heraus, die die ND ändern wollte, aber PASOK nicht. Ein Teil der Vorschläge stand im Zusammenhang mit ihrer verfassungspolitischen Präferenz eines semipräsidentiellen Systems, ein anderer Teil war durch die aufgedeckten Skandale inspiriert worden, darunter die Klauseln zum Verlust des Abgeordnetenmandats, zur Immunität von Abgeordneten, zur Gründung von Parteien, zu Verantwortlichkeiten von Ministern. Dies waren aber Vorschläge, die für PASOK oder ihre Politiker Nachteile in der Ausübung von Macht bedeuten konnten. Weitere Verfassungsklauseln, deren Änderung scheiterte, betrafen die Regelungen der journalistischen Freiheit (Art. 14), des Verbots des Rechtsmissbrauchs (Art. 25 [3]), die Festschreibung einer unabhängigen Zentralbank in Art. 106 (7) sowie zu Regeln des Völkerrechts (Art. 100 [1]).237 Dass das zustimmende Votum die große Kompromissbereitschaft der Parteien bewiesen hätte (Venizelos 1999: 103), ist daher übertrieben. Ebenso erwies sich die theoretische Erwartung, dass der Einfluss der Opposition in der Verfassungspolitik deutlich größer wäre als in der „normalen“ Gesetzgebung, weil sie wegen der erforderlichen Dreifünftelmehrheit in den ersten beiden Abstimmungsgängen eine gewichtige Rolle spielen könnte (Zervakis 1999: 647), in der Praxis als trügerisch. PASOK war ein Konsens mit der ND zwar willkommen und sie stellte ihn positiv in der Öffentlichkeit heraus, um ihn zur Legitimation ihres Handelns im Sinne eines nichtsubstanziellen, prozessualen Nutzens zu verwerten, doch war er nicht ihr vordringliches Ziel (Mandrou 2000: A32; Venizelos 2002: 20 ff.). Insgesamt wurden in der individualistischen Aushandlungsphase nicht nur alle sechs von der ursprünglichen verfassungspolitischen Initiative betroffenen Problemkomplexe 237 Das Scheitern bestimmter Verfassungsänderungen war nicht mit dem Scheitern ihrer Inhalte gleichzusetzen: So wie ein Großteil der vorgesehenen Änderungen einfachgesetzlich oder in der Praxis bereits ohne Widerspruch zur bestehenden Verfassungen vollzogen worden war, ließen sich manche Projekte, bis hin zur gescheiterten Zulassung privater Universitäten, künftig auch mit einer Verfassung in der beschlossenen Änderungsversion vereinbaren (Gilson 2006).
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durch Akteure thematisiert, sondern es ergaben sich auch in allen Konfliktgegenstände (Tab. 28). Aufgrund der Ziel- und Themenverschiebung war zudem neues Konfliktpotenzial hinzugekommen, das sich hinsichtlich der Geltung des Völkerrechts und der Ratifizierung internationaler Verträge auch im Abstimmungsergebnis niederschlug. Im Falle eines allgemeinen Konsenses in den Abstimmungen konnte die in den nächsten Parlamentswahlen siegreiche Partei vermutlich allein den neuen Inhalt der betroffenen Klauseln gestalten, während sie in den Fällen, in denen die Klauseln nur die minimale Zustimmungshürde überwunden hatten, auf eine tatsächliche Aushandlung mit einer oder mehreren anderen Parteien angewiesen war. Dabei ist bedeutungsvoll, dass die Streitpunkte vielfältig und recht konkret waren und sich nicht bestimmten allgemeinen Konfliktdimensionen zuordnen lassen sowie dass teilweise auch parteiintern keine klaren Positionen vorherrschten. Auf den Änderungsstatus derjenigen Themen, bei denen sich die Präferenz- und Akzeptanzzonen der Parteien oder teils der Fraktionsmitglieder bis 1998 nicht oder kaum überlappten (vgl. Diakogiannis 2001a: 12) wirkten sich die Abstimmungen folgendermaßen aus: Tabelle 28: Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall G Streitpunkt Wehrdienstverweigerung Gründung nichtstaatlicher Universitäten Verflechtungsproblematik Wahl des Präsidenten Aufwertung der politischen Stellung des Präsidenten Geltung des Völkerrechts, Ratifizierung internationaler Verträge Zuständigkeit für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit Recht der lokalen Selbstverwaltung, Referenden abzuhalten
Ort des Konflikts PASOK, SYN, DIKKI vs. ND
Ergebnis 1998 Minimalhürde überwunden
fraktionsintern (PASOK, ND)
im ersten Wahlgang gescheitert
PASOK vs. ND und fraktionsintern PASOK vs. ND
allgemeiner Konsens über Verfassungsmodifikationen Minimalhürde überwunden
ND vs. PASOK, SYN, DIKKI
im ersten Wahlgang gescheitert
PASOK vs. ND und fraktionsintern
Minimalhürde knapp überwunden
PASOK, SYN vs. ND, DIKKI
Minimalhürde überwunden
ND vs. PASOK
allgemeiner Konsens über die Änderung des Art. 102
Da die Einigung in den Abstimmungen gerade in wichtigen Fragen nicht durch politische Kompromisse zustande gekommen war, erschien es 1998 ungewiss, welchen weiteren Verlauf das Verfassungsänderungsverfahren gerade hier nehmen würde. Obgleich das Parlament, das 1998 über die zur Revision stehenden Klauseln abstimmte, danach weiter im Amt blieb, ruhten die Gespräche über die Inhalte der Verfassungsänderung. Die Akteure nutzten den Ausschuss nicht zur deliberativen Auseinandersetzung über Streitfragen und die noch weitgehend ausgeblendete inhaltliche Ausformulierung der Änderungen, sondern warteten die nächsten Parlamentswahlen ab, die das politische Kräfteverhältnis für die entscheidende letzte Aushandlungsphase bestimmen sollten, und konzentrierten sich auf die aus ihrer Sicht prioritären Themen – die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Außenpolitik. Auch dies verdeutlicht noch einmal, dass es nicht zu einem echten Diskurs über substanzielle Inhalte und Normen gekommen war, sondern die Akteure jeweils vornehmlich individualistisch eigene Positionen vertraten.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
4.3 Irisches Fallbeispiel (2001) Die verfassungspolitisch hochmotivierte irische Regierung war auf zwei Ebenen mit Akteuren konfrontiert, die sich positionieren konnten: Im Parlament sah sie sich einer fast gleich starken, aber zergliederten Opposition gegenüber, im notwendigen nationalen Referendum musste später die unberechenbare, aber entscheidungsmächtige Bevölkerung dem Vorhaben zustimmen. Die größte Oppositionskraft Fine Gael („Gälische Sippe“, FG) war wie Fianna Fáil grundsätzlich proeuropäisch eingestellt. Beide erreichten in den Parlamentswahlen zusammen stets etwa 65 bis 70 Prozent der Stimmen, unterschieden sich politisch-programmatisch wenig und ließen in ihrer Politik jeweils ein Selbstverständnis als Regierungspartei (im Wartestand) erkennen. Wie Fianna Fáil betrachtete Fine Gael die europäische Integration traditionell als Instrument, um den auch nach der 1921 erlangten Unabhängigkeit weiter starken Einfluss Großbritanniens auf die innere Entwicklung Irlands zu mildern (NFOE 2001a: 5; 2002a: 12). Gleichzeitig nahm sie die erheblichen finanziellen und ökonomischen Vorteile der Integration wahr, die ihren Teil zum rasanten irischen Wirtschaftsboom der 1990er Jahre beigetragen hatten (Lee/Creed 2004: 172 ff.).238 Fine Gael bewertete die in Nizza erreichten Ergebnisse und die Entscheidungssituation anders als die Regierung. Der damalige Parteichef Bruton hatte im Dezember 2000 das Verhandlungsergebnis als eines der schlechtesten jemals von der irischen Regierung in der EU erzielten bezeichnet, und der außenpolitische Sprecher Jim O’Keeffe die Kosten des Vertrags für Irland herausgestellt (Gilland 2002a: 528). Zwar milderte die Partei ihre Formulierungen in der Folgezeit etwas ab, um den Erfolg der Ratifizierung nicht zu gefährden, doch betonte sie weiter, es seien bessere Verhandlungsergebnisse im Hinblick auf die Kommission und das Stimmgewicht in Rat und Parlament möglich gewesen. Deshalb sei eine Zustimmung zum Vertrag nicht so selbstverständlich wie bei früheren Verträgen. Da aber die grundsätzliche Richtung der Vertragsinhalte im Interesse Irlands und der EU sei, befürwortete sie die Vertragsratifizierung. Der neue Parteivorsitzende Michael Noonan und O’Keeffe erklärten im Frühjahr 2001, der Nizza-Vertrag sei ein Zeichen für „work in progress“, ein wichtiger Schritt in Richtung Erweiterung. Würden die Strukturen und Institutionen der EU nicht verändert, käme sie nicht mehr voran. Sie hoben als Pro-Argument hervor, dass der Vertrag weder eine europäische Armee noch eine verbindliche moralische Wertegrundlage schaffe. Fine Gael war sich dessen bewusst, dass Irland, das von der EU immer profitiert hatte, mit der bevorstehenden EU-Erweiterung zum Nettozahler würde. Dem stellte sie aber den volkswirtschaftlichen Nutzen aus den expandierenden Exporten in die erweiterte Union gegenüber (HoO 2001a: 20f.; 2001i: 1). Sie kritisierte nicht nur die Regierung für deren Verhandlungsdefizite, sondern auch die Gegner des Nizza-Vertrags. Insbesondere den Grünen warf sie vor, den Menschen Lügen zu erzählen und die Europadebatte seit dem EG-Beitritt gezielt zu verdrehen (HoO 2001f.: 2). Die traditionell zweitgrößte Oppositionspartei, die sozialdemokratische Labour Party (Arbeitspartei, LP) hatte sich erst seit Anfang der 1990er Jahre als proeuropäische Kraft 238 Seit dem Beitritt zur EG 1973 profitierte Irland von den erheblichen Subventionen in die Landwirtschaft, Investitionen in Verkehr und Bildung aus den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds sowie dem Zugang zum europäischen Binnenmarkt, der gemeinsam mit der irischen Standortpolitik für hohe Auslandsinvestitionen sorgte.
4.3 Irisches Fallbeispiel (2001)
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positioniert, als die finanziellen und ökonomischen Effekte der Integration besonders positiv sichtbar wurden (Lee/Creed 2004: 172 ff.). Auch ihr Parteivorsitzender Quinn hatte noch im Dezember 2000 den Vertrag von Nizza als „desaströs“ und „entsetzlichen Rückschlag“ bezeichnet (Gilland 2002a: 528), dann aber die Formulierung etwas abgeschwächt. Er bewertete nun nur noch manche Aspekte des Vertrags als „Desaster“ oder „suboptimal“, besonders den Verlust des eigenen Kommissars. Ähnlich wie Fine Gael plädierte Labour für die Ratifizierung. Unter der gegebenen Voraussetzung, dass Nachverhandlungen nicht möglich seien (HoO 2001b: 2), hielt sie es für besser, einen „imperfekten“ Vertrag zu haben als keinen. Die Kernentscheidung, so Labour, betreffe die EU-Osterweiterung, und diese unterstütze sie. Eine Ablehnung des Nizza-Vertrages würde die Beitrittsländer für lange Zeit von den sozialen Schutzmechanismen der EU ausschließen und damit die Ausbeutung von Arbeitern weiter ermöglichen, anstatt sie zu verhindern (HoO 2001j: 26f.). Irland habe von der EG- bzw. EU-Mitgliedschaft finanziell, wirtschaftlich und in sozialen Bereichen (Arbeitsmarkt, Menschenrechte, Bildung) profitiert und solle nun anderen diese Vorteile zugestehen. Die EU sei außerdem erfolgreich in der Schaffung und Sicherung des Friedens in Europa; die Institutionenreform von Nizza sei ein weiterer Schritt in dieser Entwicklung und sollte deshalb unterstützt werden. Zwar bewertete die Partei es als Risiko, dass sich Entscheidungskompetenzen von den demokratischen irischen Institutionen nach Europa verlagerten; die adäquate Antwort darauf sah sie aber in der Schaffung demokratisch kontrollierter regionaler und globaler Institutionen, die globale Märkte und internationale Unternehmen kontrollieren (HoO 2001j: 26), nicht in der Ablehnung des Vertrags. Obwohl Labour betonte, es gehe nicht allein um den wirtschaftlichen Erfolg und die Eigeninteressen Irlands, sondern auch um die sozialen Errungenschaften Europas, argumentierte sie in mehreren sensiblen Punkten ebenfalls sehr national-kalkulierend im Hinblick auf die irischen Interessen und die Souveränität. So hieß es, die Erweiterung eröffne neue Möglichkeiten für die irische Wirtschaft. Es sei gut, dass der Vertrag keine Steuerharmonisierung erlaube, denn angesichts der Aufgabe wichtiger makroökonomischer Instrumente müssten Staaten ihre Souveränität in der Steuerpolitik behalten, zumindest bis auf weiteres. Außerdem sei Steuerwettbewerb ein positives Instrument der Wirtschaftsförderung. In sicherheitspolitischer Hinsicht vertrat Labour die Auffassung, der Vertrag werde an der militärischen und außenpolitischen Zurückhaltung Irlands nichts ändern. Trotz Einrichtung einer Schnellen Eingreiftruppe bestünde keine Gefahr für die Neutralität, weil jeder Einsatz souverän vom irischen Parlament beschlossen werden müsse (HoO 2001a: 22-25; 2001b: 13; 2001n: 17; O’Toole 2001; O’Connor 2001c). Nach der negativen Reaktion der Bevölkerung auf das Vorhaben im Referendum verschärfte Labour indes deutlich ihren Ton, kritisierte die verfehlte Strategie der Regierung, betonte die fehlende Zurechenbarkeit von europäischen Entscheidungen und andere Demokratiedefizite der EU und zeigte Verständnis für Zweifel am gesicherten Neutralitätsstatus Irlands. Sie wiederholte ihre seit langem immer wieder (HoO 2001a: 23; 2001c: 20f., 22, 24; 2001f: 12; 2001j: 26) vorgebrachte Forderung nach einem Europaforum, um dort das Verhältnis Irlands zu Europa und die Zukunft Europas diskutieren zu können, wie dies auch in der an den Nizza-Vertrag angehängten Deklaration zur Zukunft der Union angeregt wurde. Neben ökonomischen wollte Labour auch kulturelle und sprachliche Aspekte thematisieren (Dáil Éireann 2001).
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
Außerdem brachte Labour eine eigene Gesetzesvorlage ein, die zwei zentrale Konfliktpunkte betraf: das Demokratie- (insbesondere Transparenz- und Zurechenbarkeits-) Defizit und die Neutralität. Gemäß dem Entwurf sollten die irischen Minister das Parlament über Vorhaben auf europäischer Ebene unterrichten und sich mit ihm im Vorfeld der dortigen Beratung über Vorlagen zu Direktiven, Regulierungen, Richtlinien, Entscheidungen oder Konventionen konsultieren müssen, die im EU-Ministerrat getroffen werden oder von den EU-Mitgliedsstaaten angenommen bzw. umgesetzt werden sollten. Ferner sah die Vorlage gesetzliche Regelungen vor, wie mit Vorschlägen zu gemeinsamen Aktionen in bezug auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfahren sei. Irische Streitkräfte sollten nur an UN-geführten Einsätzen und nur nach Befürwortung durch das Parlament teilnehmen (European Union Bill 2001; Dáil Éireann 2001). Die Grünen, die nur zwei Abgeordnete stellten, aber ein relativ großes gesellschaftliches Mobilisierungspotenzial in Europafragen besaßen, argumentierten gänzlich gegen die Ratifizierung des Vertrags von Nizza: Bei ihm gehe es gar nicht um die Erweiterung, sondern um eine Vertiefung der EU, denn die Regeln zur Kommission und zum Stimmgewicht träten unabhängig von der Erweiterung in Kraft. Die Maßnahmen bedeuteten einen Verlust an Demokratie und bewirkten eine Zweiklassenmitgliedschaft. Entscheidungskompetenzen würden von dem irischen Volk an „Bürokraten, Minister und Lobbyisten“ abgegeben; das Parlament verlöre seine Macht. Im Gegensatz zur Regierung sahen die Grünen mit dem Verlust des irischen Vetos auf über 30 Gebieten, dem Verlust des Rechts auf einen Kommissar und dem geringen Stimmgewicht in Rat und Parlament die irischen Interessen verletzt. 90 Prozent aller EU-Regelungen könnten nach dem Vertrag ohne Vetomöglichkeit und ohne Zutun des Europäischen Parlaments getroffen werden, die großen Staaten würden gestärkt, und nur sie könnten (zu dritt) Entscheidungen blockieren. In der Kommission büße Irland durch Verlust des irischen Kommissars an Einfluss ein. Seien die irische Kontrolle über die eigene Wirtschaftspolitik im Rahmen der Euorpäischen Wirtschafts- und Währungsunion und europäischen Richtlinien bereits jetzt beschränkt, so bewirke der Verlust des Vetos im Bereich internationaler Handelspolitik, Deregulierung und Freihandelspolitik den Verlust nationaler Kontrolle und führe zu weiterer Globalisierung. Zudem bemängelte die Partei, dass der Vertrag eine Abkehr von der irischen Neutralität darstelle; dies hatte sie bereits beim Vertrag von Amsterdam erklärt. Er mache Verteidigung zu einem EU-Thema und hebe den Unterschied zwischen WEU und EU auf. Die Beteiligung an der Schnellen Eingreiftruppe der EU sei faktisch die an einer europäischen Armee. An der Erweiterungspolitik selbst kritisierten die Grünen, bei ihr stehe der Markt im Mittelpunkt, was zu ökonomischen und sozialen Problemen in den Beitrittsländern führe (HoO 2001b: 8-14; Irish Times 15.05.1998). Auch die Sozialistische Partei (1 Abgeordneter) sprach sich gegen die Vertragsratifizierung aus. Inhaltlich begründete sie dies damit, dass Nizza und der Erweiterungsprozess keine Vorteile für Arbeiterklasse, Arme und Bauern in Osteuropa brächten. Vielmehr gehe es um die Schaffung eine riesigen Wirtschaftsblocks, der die Profitmöglichkeiten multinationaler Konzerne vergrößere. Die Erweiterung sei an Deregulierung und Privatisierung geknüpft, was dem Interesse dieser Unternehmen diene. Die von den Nizza-Anhängern ins Feld geführten positiven Erfahrungen des irischen Beitritts zur EG seien kein brauchbares Argument, da die gegenwärtige weltwirtschaftliche Situation viel unsicherer sei. Nizza schaffe außerdem eine neue militärische Macht für diesen Wirtschaftsblock, um mit anderen auch militärisch zu konkurrieren. Der Vertrag konsolidiere und erweitere, getrieben
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durch die Waffenindustrie, die Militarisierung der EU; es werde eine europäische Armee geschaffen. Bereits jetzt sei die EU undemokratisch: Entscheidungsprozesse würden von mächtigen Lobbygruppen und Unternehmen beeinflusst (HoO 2001j: 18-20). Von den Parlamentsparteien sprach sich als dritte Sinn Féin (Wir selbst, SF) gegen die Verfassungsänderung aus. Auch sie stellte nur einen Abgeordneten, besaß aber durchaus eine referendumsrelevante gesellschaftliche Mobilisierungskraft. Mit der Entwicklung der EU sah sie die demokratische Kontrolle der Innen- und Außenpolitik immer mehr abhanden gekommen; Nizza stelle einen weiteren Schritt in diese Richtung dar. Ähnlich den Grünen kritisierte die Partei, Nizza sei kein Vertrag über die EU-Erweiterung, sondern verändere die grundlegenden Strukturen der EU, u.a. durch Mehrheitsentscheidungen, Wegfall des Rechts auf einen Kommissionssitz pro Land sowie eine Stimmrechtsgewichtung im Rat, die große Staaten bevorzuge. Diese Veränderungen geschähen unabhängig von der Erweiterung. Es gehe vielmehr um Zentralisierung zugunsten der großen Staaten. Die vorgesehene vertiefte Kooperation bedeute eine Abkehr von der Idee einer Partnerschaft unter Gleichen. Mit Bezug auf die eigenen prioritären Parteiziele betonte Sinn Féin, eine europäische Integration auf unterschiedlichem Niveau vergrößere die Teilung zwischen Irland und NordIrland. Eine Ablehnung der Verfassungsänderung sichere aber auch ein besseres Ergebnis für die Beitrittsstaaten (HoO 2001i: 6-9). Einen wichtigen Kritikpunkt bildete auch bei Sinn Féin der von ihr wahrgenommene Verlust der Neutralität, den sie – wie die Grünen – bereits beim Vertrag von Amsterdam gesehen hatte (Irish Times 15.05.1998). Die von den großen Staaten dominierte EU werde von einer Handelspartnerschaft zu einer Weltmacht mit eigener Armee (der Schnellen Eingreiftruppe). Der Nizza-Vertrag erodiere damit die irische Neutralität und die Möglichkeit souveräner Außenpolitik. Die Schaffung von Supermächten habe bereits in der Vergangenheit zu Kriegen und Ausbeutung geführt (HoO 2001i: 6-9). In diesem Zusammenhang brachte der Parteivorsitzende Caoimhghín Ó Caoláin am 05.04.2001 einen Entwurf einer Fünfundzwanzigsten Verfassungsänderung ein. Sie sah eine neue Klausel in Art. 29 vor, der gemäß der irische Staat eine Politik der Nichtmitgliedschaft in militärischen Allianzen aufrechterhält (Twenty-fifth Amendment of the Constitution Bill, 2001). Die Grünen, die Sozialistische Partei und zwei unabhängige Abgeordnete (Seamus Healy, Tony Gregory) unterstützten den Vorschlag ebenso wie die außerparlamentarische Friedens- und Neutralitätsallianz, doch die großen Parteien lehnten ihn ab. Die Argumentationen im Parlament verdeutlichten unterschiedliche politische Prioritäten und insbesondere divergierende Bewertungsmaßstäbe. Dass die beiden stärksten Akteure trotz individualistischer Positionen, die sich an ihren politisch-programmatischen Profilen orientierten, für die verfassungsrechtliche Verankerung des von der Regierung ausgehandelten Nizza-Vertrags aussprachen, war durch einige ähnliche Interpretationen begründet: Am häufigsten waren sich die Befürworter in der Bewertung einig, dass die Vertragsratifizierung eine Europapolitik fortsetze, von der Irland stark profitiert habe.239 Etwa gleichhäufig rangierten danach drei Motive:240 Zunächst ein erwarteter positiver volkswirtschaftlicher Effekt der EU-Osterweiterung (Markterweiterung), dann die Sicherung von Frieden 239 Finanziell durch Mittel aus dem Struktur- und Agrarfonds, ökonomisch durch den Zugang zum Binnenmarkt für die exportorientierte irische Wirtschaft, psychologisch durch gewonnenes Selbstvertrauen, kulturell durch die Festigung der eigenen Identität wie durch intensiven Kontakt mit anderen Kulturen innerhalb der EU, politisch durch gewachsenes Ansehen und Einfluss in Europa. 240 Zugrunde gelegt wurden die Aussagen der jeweiligen Abgeordneten in den Parlamentsdebatten im Frühjahr/Sommer 2001.
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und Stabilität und damit von Wohlstand in Europa sowie nachfolgend eine Gemengelage aus Solidarität mit den EU-Beitrittskandidaten, dem Wirken als Vorbild ihnen gegenüber sowie dem Erweis von Dankbarkeit gegenüber der EU. Angesichts des Nutzens, den Irland aus der EU gezogen hat, wurde es als Verpflichtung gesehen, nun anderen die gleichen Möglichkeiten zukommen zu lassen. Fast alle Befürworter nahmen an, dass die Nizza-Reformen grundsätzlich unabdingbare Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der EU nach der Osterweiterung seien. Dieser Punkt wurde etwa so häufig thematisiert wie das Ziel einer günstigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in den ostmitteleuropäischen Staaten, für die ihr Beitritt garantiere. Deutlich seltener, eher in Reaktion auf die Gegner des Nizza-Vertrags und wieder in ähnlichem Muster gingen die Befürworter auf die Neutralitätsfrage ein. Sie argumentierten, darum gehe es im Vertrag nur am Rande, es handele sich um Detailänderungen. Dem Bedarf an extraterritorialem Krisenmanagement mit irischer Beteiligung werde im Rahmen der UN Genüge getan und es bedürfe auch nach der Ratifizierung des Vertrags weiter der Zustimmung des irischen Parlaments. Für die Bewertung der Entscheidungssituation war bedeutsam, dass alle Befürworter der Verfassungsänderung Nachverhandlungen zum Nizza-Vertrag auf europäischer Ebene nicht als Option sahen. Auch diejenigen, die die Verhandlungsergebnisse als nicht optimal kritisierten, argumentierten in der Regel, dass der Vertrag trotzdem angenommen werden müsse, um seine Vorteile nicht zu gefährden. Diese Wahrnehmung sorgte in Kombination mit Parteien- und Koalitionsdisziplin auch dafür, dass die nizzakritischen Minister und Spitzenpolitiker der Progressive Democrats sich offiziell für die Ratifizierung aussprachen.241 Ein Punkt, in dem sich die Argumentationen der Nizza-Befürworter untereinander recht deutlich unterschieden, war der Schutz irischer Interessen. Das Ergebnis der Regierungsverhandlungen zur Reform der europäischen Institutionen wurde verschieden gedeutet. Fianna Fáil und PD sahen einen fairen Interessenausgleich, hoben das gewahrte Veto in der Steuerpolitik und den gewahrten Kommissionssitz (bei bis zu 27 Mitgliedstaaten) hervor. Fine Gael und Labour hingegen argumentierten nicht, der Vertrag schütze die irischen Interessen, sondern kritisierten die Verhandlungsstrategie der Regierung und behaupteten teils sogar, dass das Ergebnis die irischen Interessen gefährde. Offensichtlich gewichteten sie die Vorteile der Verfassungsänderung deutlich höher als diese Nachteile. Einig waren sich die Befürworter im Wesentlichen darin, dass das veränderte Stimmengewicht in Rat und Parlament Irland nicht schade, da es ein höheres Stimmengewicht behielt, als ihm nach EU-Bevölkerungsanteil zustünde. Es fällt auf, dass in den Abwägungen der Parteien neben den ökonomisch angelegten Kriterien (mehr Arbeitsplätze, Wachstum, Exporte, Infrastrukturentwicklung) Gemeinschaft und Solidarität eine wesentliche Rolle spielten. Besonders Außenminister Cowen setzte sich für einen neuen Zugang zu den „internationalen Beziehungen“ (sic!) ein, der die spezifischen Traditionen und Interessen Irlands berücksichtige, und betonte, dass die volle Beteiligung Irlands an der EG/EU die Basis gelegt habe für ein „wunderbares Anwachsen des nationalen Selbstbewusstseins, der sich im Erblühen des kulturellen und künstlerischen 241 Sie befürchten eine Überstülpung der Bürokratie bzw. der „sozialdemokratischen“ Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU über Irland (Brennock 2001). Von der Fianna Fáil sprachen sich Finanzminister Charlie McCreevy und der Minister für Künste, kulturelles Erbe, gälischsprachige Regionen und die Inseln, Síle de Valera, im Frühjahr 2001 regierungsintern dafür aus, der weiteren politischen Entwicklung der EU auf Kosten der nationalen Souveränität eine Grenze zu setzen, von den PD äußerten sich Vizepremier und Wirtschaftsministerin Mary Harney und Generalstaatsanwalt Michael McDowell sehr kritisch.
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Lebens zeige“. Die Erwartung der Kritiker früherer Zeiten, dass Irland im europäischen Mainstream untergehen werde, habe sich nicht bestätigt (zit. nach Brennock 2001). Ein altes Argument gegen die Integration wurde hier also offensiv umgedeutet und ein nicht quantifizierbarer Nutzen Irlands hervorgehoben. Zwar wurde gemutmaßt, die Regierung hätte gezielt die Strategie genutzt, die nichtökonomischen Vorteile des Vertrags von Nizza zu betonen, da Irland nach der EUOsterweiterung nicht mehr aus dem Strukturfonds profitiere, sondern Nettozahler würde (Brennock 2001), doch rückten alle Befürworter der verfassungsändernden Ratifizierung schwer quantifizierbare ideelle Nutzenarten (Effizienzerhöhung, Dankbarkeit, Solidarität, Vorbildwirkung) in den Mittelpunkt und schlossen von vergangenen Erfahrungen trotz erheblich gewandelter Rahmenbedingungen auf die Zukunft.242 Überdies waren ja auch die Einwände der Nizza-Gegner schwer kalkulierbar oder schwer durch Fakten zu belegen, sondern beruhten teils auf Ängsten, so die Annahme der Entstehung eines europäischen Militarismus. Die Gegner der Verfassungsänderung folgten zwar den Darstellungen der Befürworter in einigen Punkten (z.B. Bewertung der Lage in den ostmitteleuropäischen Staaten), interpretierten aber den Inhalt des Vertrags von Nizza abweichend. Sie sahen insbesondere keinen unmittelbaren Bedarf an einer Institutionenreform vor der Osterweiterung der EU und wollten beide Fragen voneinander entkoppeln. Sie sahen mit dem Vertrag die nationalen Interessen Irlands gefährdet, da er den Einfluss Irlands in der EU beschneide und seine Souveränität in bestimmten Bereichen gefährde (Verlust eines Kommissionssitzes, Ausbau von Mehrheitsentscheidungen u.ä.). Im Gegensatz zu Befürwortern des Vertrags, die ähnliche Punkte bemängelten, sahen sie entweder diese Nachteile nicht durch die Vorteile aufgewogen oder sie gewichteten ihre Ziele anders oder aber sie legten andere Bewertungsmaßstäbe an. So wurde die Kommissionslösung als Verlust, von den Befürwortern des Nizza-Vertrags als relativer Status-quo-Erhalt gedeutet.243 Nach der Wahrung der nationalen Souveränität und eines hohen Maßes an demokratischer Selbstbestimmung waren die Neutralitätsfrage und die Furcht vor einer Militarisierung der EU die wichtigsten Gründe für eine Ablehnung der Verfassungsänderung. Auch hier unterschied sich die Interpretation derselben Vertragsregelungen, wobei die Gegner aktuelle, nicht im Vertrag enthaltene, aber durch diesen abgedeckte Entwicklungen mit berücksichtigten. Sie wandten sich insbesondere gegen die Pläne zur Einrichtung der als Armee bewerteten Schnellen Eingreiftruppe und gegen das am 22.01.2001 vom Rat eingerichtete Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK). Die bereits durch den Vertrag von Amsterdam bedrohte irische Neutralität werde so weiter verletzt. Vor dem Hintergrund der geschilderten Interpretations-, Gewichtungs- und Maßstabsdifferenzen korrelierten letztlich die Positionierungen entlang zweier latenter Zielkonflikte: Inklusion (contra Verfassungsänderung) vs. Effizienz (pro) sowie Selbstbestimmung (contra) vs. Integration (pro). Gerade angesichts der Nuancierungsmöglichkeiten in der Ent242 Dass die Kalkulationen sogar in wichtigen Punkten mitunter höchst spekulativ waren, verdeutlichte die Argumentation des Senators Joe Costello (Labour), die Möglichkeit vertiefter Kooperation gefährde nicht die irischen Interessen, weil eine Kooperation gegen Irlands Interessen unwahrscheinlich sei (HoO 2001n: 17). 243 Die Grünen etwa werteten die Institutionenreform als einen (unnötigen) Rückschnitt von Partizipation und Demokratie, der mit dem Schicksal der Ostmitteleuropäer nicht unmittelbar kausal verknüpft sei, während Labour sie als eine aus den Umständen erwachsende Notwendigkeit betrachtete, um (unter anderem) Demokratie, Stabilität und Wohlstand nach Osteuropa zu bringen. Die Sozialisten bezweifelten wiederum die Vorteile der EU-Erweiterung für die dortige Bevölkerung.
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scheidungsbewertung fiel auf, dass die Muster der öffentlichen Deutungen und Präferenzen klar an den Parteilinien ausgerichtet war. Gemäß ihrem Anteil dominierten im Parlament die Befürworter der Verfassungsänderung eindeutig. Die politischen Positionen unterschieden sich nur hinsichtlich der „richtigen“ Gründe für eine Zustimmung, der Bewertung des Verhandlungsgeschicks der irischen Regierung, der Vorgehensweise bei der Ratifizierung, hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung der EU und diverser anderer Themen, die an die Diskussion des Vertrages anknüpften, im engeren Sinne aber nichts damit zu tun hatten. Angesichts der grundsätzlichen Nähe der Pro-Nizza-Parteien und des Ausschlusses von Nach- oder Neuverhandlungen auf EU-Ebene konzentrierten sich die Regierung, die größeren Parlamentsparteien, aber auch die Medien und Umfragen darauf, zunächst die Einwände der Bevölkerung gegen den Nizza-Vertrag und mithin die Verfassungsänderung herauszufinden. Weder die Regierungsparteien noch die anderen Nizza-Befürworter wollten ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen eine weitere innenpolitische Niederlage erleiden.244 Außerhalb des Parlaments befürworteten die großen und etablierten Akteure die Vertragsratifizierung,245 während die organisierten Gegner nicht zum Establishment zählten.246 Die Positionen der Befürworter entsprachen in etwa denen der parlamentarischen Befürworter. Die – heterogenen – Gegner befürchteten im Wesentlichen drei aus dem Vertrag resultierenden Verluste: den Verlust von Geld, Macht und Einfluss Irlands in einer unübersichtlichen und von den großen Staaten dominierten EU, den Verlust der Neutralität sowie den Verlust des Abtreibungsverbots, da dieses nicht in der in Nizza unterzeichneten Europäischen Charta der Grundrechte enthalten war (Gilland 2002a: 528f.).247 Die beiden ersten Befürchtungen waren auch von den Grünen, Sinn Féin und den Sozialisten artikuliert worden, die dritte kam als Einwand hinzu. Alle Befürchtungen richteten sich darauf, dass der Vertrag nicht absehbare und nicht kontrollierbare Effekte haben könnte, denen rechtzeitig in den raren und vielleicht künftig nicht so wiederkehrenden Momenten von Mitwirkungsmöglichkeiten vorgebeugt werden müsste. Das Misstrauen stützte sich u.a. darauf, dass Premier Ahern 1999 sein Versprechen gebrochen hatte, vor einem Beitritt zum NATOPartnerschaftsprogramm ein entsprechendes Referendum durchzuführen (O’Brennan 2003b: 6) und auf die faktische Aufweichung des Abtreibungsverbots seit dem Vertrag von Maastricht (s. Kapitel 3.3). Auf die Einstellungen in der Bevölkerung, die der Verfassungsänderung zustimmen musste und sie im ersten Referendum 2001 ablehnte, lassen repräsentative und Tiefenbefragungen aus dieser Zeit Rückschlüsse zu. Sie deuten darauf hin, dass die ablehnenden 244 Erstmalig seit Verabschiedung der Verfassung 1937 war zuvor im (ersten) Nizza-Referendum ein Verfassungsänderungsentwurf gescheitert, der die Unterstützung sowohl der Regierungs- als auch der größten Oppositionspartei genoss (Gallagher 1999: 81f.). Auf eine gezielte Ablehnung deutete, dass parallel die Ratifizierung des Statuts von Rom zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes sowie die Abschaffung der Todesstrafe befürwortet worden waren. 245 Dazu zählten die Europäische Bewegung, der Gewerkschaftskongress, die Wirtschafts- und Unternehmerkonföderation, die Bauernvereinigung, die Handelskammern und die Irische Bischofskonferenz. 246 Dazu zählen die euroskeptische Nationale Plattform, die Gruppe „Nein zu Nizza“ und die Dachorganisation der Neutralitätsverfechter „Friedens- und Neutralitätsallianz“. 247 Zwar gehörte die Charta nicht zum Vertrag und war insofern nicht unmittelbar entscheidungsrelevant, doch hatten das Europäische Parlament und manche EU-Staaten schon angestrebt, sie aufzunehmen „und ihr damit – als Kernelement einer künftigen europäischen Verfassung – eindeutig rechtliche Bindungswirkung zu verleihen“ (Läufer 2002: 17). Dass sich diese Idee auf der Regierungskonferenz nicht durchsetzte, hieß nicht, dass dies nicht künftig geschehen konnte.
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Iren vor allem deshalb gegen das Vorhaben waren, weil sie einen Verlust nationaler Kontrolle über die eigene Entwicklung und jede Änderung am irischen Neutralitätsstatus ablehnten, eine Militarisierung der EU fürchteten, weil sie die Reform der Entscheidungsmodalitäten und Repräsentation der EU-Mitgliedstaaten ablehnten, weil sie das Demokratiedefizit kritisch sahen, weil sie einen zu großen Einfluss des Europäischen Gerichtshofes auf das irische Recht fürchteten, skeptisch hinsichtlich der EU-Osterweiterung waren oder eine kulturelle Überfremdung durch das EU-Wertesystem befürchteten (Lee/Creed 2004). Es ging also nicht nur um die expliziten Vertragsinhalte. Nur eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Iren befürwortete Entscheidungen auf europäischer anstelle der nationalen Ebene. Hier und hinsichtlich der Befürwortung der konkreten EU-Politik sowie der Etablierung einer europäischen Verfassung lag Irland 2001 im unteren EU-Mittelfeld. Gerade das starke Bewusstsein der spektakulären irischen Wirtschaftsentwicklung (OPTEM 2001: 25) hatte die Maßstäbe der Wahrnehmung der EG/EU in der Bevölkerung gewandelt. Das nationale Selbstbewusstsein führte teils zu einem „ökonomischen Nationalismus“ (HoO 2001f: 2). In der Medienöffentlichkeit wurde kritisiert, dass die EU mit hohen Steuern und einer ausgedehnten Bürokratie das irische Wachstum hemme und die am schwachen Wirtschaftswachstum der restlichen EU-Staaten ausgerichtete europäische Zinspolitik den Verstoß gegen die Stabilitätskriterien überhaupt erst verursacht habe. Wahrgenommen wurde auch, dass Irland keinen finanziellen Nutzen mehr aus der EU ziehen würde, wenn es mit der Erweiterung Nettozahler würde (Lee/Creed 2004). Auf die Konfliktträchtigkeit der Neutralitätsproblematik, aber auch uneindeutige Positionen in der Bevölkerung in dieser Frage verweisen alle Befunde von Umfragen: Trotz einer Mehrheit von etwa 70 Prozent für den Erhalt der Neutralität hatten 1996 etwa 77 Prozent die Beteiligung am NATO-Partnerschaftsprogramm und am SFOR-Einsatz in Bosnien befürwortet (Sloan 1996), und es verbreitete sich die Ansicht, dass eine Mitgliedschaft in der EU nicht bedeuten dürfe, nur Nutznießer zu sein und die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten, so im Bereich der Sicherheit und Verteidigung, abzulehnen. Allerdings sollte die Armee unter der Führung der irischen Regierung bleiben (OPTEM 2001: 146). Nur 25 Prozent der Befragten waren 2001 der Ansicht, Entscheidungen zur europäischen Verteidigungspolitik sollten auf EU-Ebene getroffen werden; 45 Prozent sprachen sich für verteidigungspolitische Entscheidungen auf nationaler Ebene aus. (European Commission 2000; 2001: 62; 2002a: 50, 53; OPTEM 2001: 40, 63, 168, 185). Zudem gab es einen starken Wunsch in der Gesellschaft danach, selbst über die Beteiligung am gesteigerten Engagements wie dem NATO-Partnerschaftsprogramm zu entscheiden; die damalige Entscheidung der Regierung wurde daher kritisch gesehen (Gilland 2001: 156) Dieses Thema wurde nicht nur durch die Pro-Neutralitäts-Dachorganisation PANA aktiv aufgegriffen und in der öffentlichen Wahrnehmung zu halten gesucht,248 sondern spielte auch in den Medien eine Rolle. Im Gegensatz zu dem Beharren des Premiers darauf, dass im Nizza-Vertrag Außen- und Verteidigungsbelange untergordnete Details seien, wurde dort auch über die Furcht vor einer unbemerkten und von der irischen Regierung nicht ehrlich kommunizierten Abschaffung des irischen Neutralitätsstatus berichtet (Hennessy 2001).
248 Die 1995 gegründete Friedens- und Neutraliätsallianz wandte sich gegen die Transformation der EU in einen „mit Kernwaffen bestückten föderalen Superstaat“ und jede Form der Beteiligung an Militärallianzen wie WEU oder NATO und ging davon aus, dass das Engagement im Rahmen der UN und der OSZE Irlands Sicherheitsinteressen angemessen sei (Gilland 2001: 154f.).
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Mit der Demokratie in der EU waren im Herbst 2001 nur 65 Prozent der Iren zufrieden (ein Jahr zuvor 58 Prozent). Am meisten vertraute die Bevölkerung dem Europäischen Parlament (Frühjahr 2001: 65 Prozent; Herbst 2001: 70 Prozent), in dem Irland, gemessen am Bevölkerungsanteil, im Falle einer Vertragsratifizierung vorerst kaum Einbußen in der Vertretung hinnehmen musste – auch wenn die Nizza-Gegner darauf hinwiesen, dass Irland bei nur zwölf von möglichen 732 Mandaten im Europäischen Parlament 20 Prozent seiner Mitglieder dort verlöre (De Brédún 2001). Die Europäische Kommission genoss das zweitgrößte Vertrauen (Frühjahr: 61; Herbst: 64). Ähnlich wie die Pro-Nizza-Parteien unterstützte die Bevölkerung überwiegend die Idee eines politisch eher neutralen europäischen Kommissars als Vermittler zwischen verschiedenen nationalen Interessen und wünschte sich eine Kommission als neutrale und unabhängige Problemlöserin auf übernationaler Ebene. 45 Prozent meinten, EU-Entscheidungen sollten nach der geplanten Erweiterung durch eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten getroffen werden, 34 Prozent waren für die Beibehaltung der Einstimmigkeit (European Commission 2000; 2001: 40, 62; 2002a: 50, 53, 57f.; OPTEM 2001: 40, 63, 168, 185). Die Positionierung zur EU-Osterweiterung war tendenziell positiv. Diese Grundeinstellung ließ sich nicht durch Nutzenkalküle erklären: Nur etwa 40 Prozent der Iren erwarteten positive Erweiterungseffekte, wie ökonomisches Wachstum, Frieden – womit Irland hier im unteren Mittelfeld der EU-Staaten lag. Unsicherheiten wurden konkret benannt, so die Furcht vor der Reduktion der EU-Strukturentwicklungsmittel, vor Konkurrenz (Verlagerung von Betrieben in die neuen Mitgliedsstaaten nach deren Beitritt) und vor einem Immigrantenzustrom. Trotzdem stimmten 59 Prozent der EU-Erweiterung im Frühjahr 2001 zu, nur 18 Prozent waren dagegen. Damit lag Irland hier innerhalb der EU auf Platz 2 nach Griechenland (European Commission 2001: 53, 59; OPTEM 2001: 157). Ähnlich wie bei den Pro-Nizza-Parteien waren ideelle Erwägungen für die Einstellung gegenüber der EU-Erweiterung wichtig; häufig wurden Empathie oder Solidarität und ein Verständnis für Schwierigkeiten in den Kandidatenländern artikuliert (OPTEM 2001: 157). Insgesamt zeichnete sich bei einer allgemeinen Zufriedenheit mit der Mitgliedschaft in der EU eine Präferenz des Status quo und Zurückhaltung gegenüber den angestrebten Vertragsänderungen ab, während nur etwa ein Drittel der Bevölkerung eine weitere Integration sowie eine stärkere Rolle der EU für Irland und den eigenen Alltag begrüßte. Die aktive Unterstützung der europäischen Integration in Verfassungsreferenden hatte seit Jahren prozentual abgenommen (Elvert 1999: 260; Took/Donnelly o.J.). Den Integrationsgegnern war es vor jedem Referendum gelungen, mehr Menschen für ihre Position zu mobilisieren.249 Trotzdem nahmen über 60 Prozent der Iren 2001 an, dass es zu einer verstärkten Rolle der EU in absehbarer Zeit kommen werde (European Commission 2002a: 48f.). Die Bedeutung der eigenen Zustimmung zu diesem Prozess schätzten sie offenbar als eher gering ein. Relevant für die Grundstimmung in der Bevölkerung war, dass trotz einer grundsätzlichen Europafreundlichkeit das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa nur moderat aus-
249 Darunter waren offensichtlich viele, die eine Mitgliedschaft in der EU nicht grundsätzlich ablehnten, denn der Anteil solcher Gegner an der irischen Bevölkerung fiel in den 1990er Jahren auf nur etwa 4 Prozent. Aufgrund der Kampagnen der Integrationsgegner, die risikoaversives Verhalten förderten, sank die Zustimmung zur EG-/EU-Mitgliedschaft deutlich vor jeder Referendumsratifizierung der wichtigen europäischen Verträge und stieg erst danach wieder an. Diese Entwicklung stoppte erst Ende 1999, als nach einem Zustimmungshoch von 82 Prozent die Zahl der Unterstützer der EU-Mitgliedschaft auf (im europaweiten Vergleich noch immer hohe) 72 Prozent im Frühjahr 2001 weiter fiel (European Commission 2000: 34; 2001: 21).
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geprägt war.250 Die als wichtig für die verfassungspolitische Entscheidungsfindung erwähnten ideellen Werte, wie Solidarität, basierten also weniger auf einer spezifisch europäischen Identität, sondern eher auf religiösen Werten und der Identifikation mit „schwachen Außenseitern“ in einem Europa der Starken aufgrund der irischen Geschichte. Die wichtigsten irischen Akteure deuteten die gesellschaftliche Stimmung im Sommer 2001 so, dass die Bevölkerung ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung nicht so sehr aufgrund substanzieller Einwände verweigere, sondern der Regierung vor allem einen grundsätzlichen „Denkzettel“ verpassen wolle, weil sie sich als „Stimmvieh“ behandelt sehe, das erst dann formal beteiligt werde, wenn die Inhalte längst verhandelt sind und sich die „Eurokraten“ bereits auf die nächste Regierungskonferenz konzentrieren, ohne die Ratifizierung abzuwarten. Die Äußerungen Aherns darüber, dass seine Kollegen die Notwendigkeit eines irischen Referendums zum Vertrag von Nizza „seltsam“ fänden, mögen dies bestärkt haben (vgl. FitzGerald 2001; Lee/Creed 2004; O’Brien 2001a; O’Connor 2001b). Eine weitere Deutung, die keine substanzielle Ablehnung annahm, ging dahin, dass Unkenntnis bzw. eine wahrgenommene Unkenntnis des Inhalts und der politischinstitutionellen Hintergründe des Vertrags von Nizza Wahlenthaltung oder auch Furcht vor dem Ungewissen und damit die Ablehnung fördert. Die Inhalte des Vertrags waren, obgleich oft nur Minimalkompromisse, tatsächlich sachlich sehr komplex und für den Laien schwer verständlich; eine qualifizierte Entscheidung über ihre Ratifizierung bedurfte daher mindestens der Grundkenntnisse der Europäischen Union. Der Wissensstand der irischen Bevölkerung über Aktivitäten der EU und die Geschichte war (auch im europäischen Vergleich) relativ groß, der über die institutionellen Zusammenhänge aber weitaus schwächer ausgeprägt.251 Die zweideutigen und EU-kritischen Aussagen von Ministern und die vorangangene Kampagne der Referendumskommission, die gesetzlich verpflichtet war, Pro- und Contrapositionen zu verbreiten, wirkten daher verunsichernd. Viele Iren hatten offenbar Schwierigkeiten damit, die zur Verfügung stehenden Informationen zu gewichten und zu verarbeiten, weil es ihnen an Hintergrundwissen mangelte oder sie zumindest diesen Eindruck hatten. Gegenüber den anderen EU-Staaten begründete die irische Regierung die Ablehnung des Nizza-Vertrags durch die Bevölkerung damit, dass diese die militärische Neutralität des Staates in Gefahr sehe. Erweiterungsfeindlichkeit spiele keine Rolle. Beides lässt sich durch die geschilderten Befunde der Befragungen plausibilisieren. Die EU-Außenminister lehnten auf ihrem Treffen in Luxemburg am 11.06.2001 aber jede Neuverhandlung des mühevoll vereinbarten Kompromiss-Vertrags von Nizza ab. Für die Bewältigung des irischen Ratifizierungsproblems boten sie ihre Unterstützung, aber keine Vertragsänderungen etwa betreffend die militärische Zusammenarbeit und den irischen Neutralitätststatus an. Im irischen Parlament erklärte Außenminister Cowen diese Position als unhintergehbar (Statement by the Minister for Foreign Affairs 2001; Staunton 2001c). Nach dieser Klarstellung von seiten der europäischen Akteure entschloss sich die irische Regierung Ende 2001 zu zwei Maßnahmen, die eine Verhaltenszäsur markierten. Zum einen erklärte sie sich bereit, dem Parlament moderate Mitsprache bei EU-Entscheidungen 250 Dies galt mit Ausnahme der höheren sozioökonomischen Gruppen und war durch die Insellage, die Wahrnehmung eines Sprach- bzw. Verständigungsproblems, die Bedeutung, die den Beziehungen zu den englischsprachigen Ländern USA und Vereinigtes Königreich zugeschrieben wurde, sowie die noch relativ kurze Unabhängigkeit begründet (OPTEM 2001: 40). 251 In der Selbsteinschätzung bewertete die Bevölkerung ihn als nicht ausreichend bzw. gering, so dass sie hier im EU-Vergleich an drittletzter Stelle lag (OPTEM 2001: 63 ff.; European Commission 2001: 71). In Alltagsdiskussionen spielten EU-Belange fast keine Rolle (OPTEM 2001: 63 ff.).
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einzuräumen. Es sollte vor Abstimmungen in der EU-Kommission über neue EU-Gesetze unterrichtet werden, und die in der entsprechenden Plenardiskussion vorgebrachten Argumente sollten dann bei der Formulierung der irischen Position in der Kommission berücksichtigt werden. Ende August 2001 unterstützte Ahern grundsätzlich, aber nicht im Detail die Idee des von Labour eingebrachten sowie vom Gemeinsamen Europaaussschuss der Parlamentskammern befürworteten Gesetzes, das die Minister verpflichten sollte, den Ausschuss vor der Abstimmung über jegliche Initiative auf EU-Ministerratstreffen zu konsultieren und hohe Beamte der Europäischen Kommission verpflichtete, vor dem Ausschuss zu erscheinen, um Direktiven und Regulierungsmaßnahmen zu erklären, die die irische Bevölkerung betreffen (Dundon 2001; Gilland 2002b: 2; European Union Bill 2001). Zum anderen plante der Premier die Einrichtung eines Nationalen Europaforums, das sich am Nordirlandforum für Frieden und Aussöhnung und am nationalen Wirtschafts- und Sozialforum orientierte.252 Damit ging er auf die Forderung von Labour und Fine Gael nach mehr Zeit für Diskussionen und mehr Informationen für die Bürger sowie auf die Kritik der Oppositionsparteien generell an einem mangelnden Interesse der Regierung an den Bürgern ein. Nach dem Regierungswillen sollte das Forum dem Austausch zwischen Parteien und Gruppen, Befürwortern und Gegnern des Vertrags dienen, aber auch der Öffentlichkeitsarbeit zum europäischen Integrationsprozess, der Ausräumung von „Desinformation“ und unbegründeter Ängste (Staunton 2001b, 2001c; Irish Times, 13.06.2001). Wichtig war dabei, dass die Regierung auf die Formulierung einer Beratungsvorlage verzichtete, ihre inhaltliche Offenheit auch in Konfliktpunkten signalisierte und sich bereiterklärte, mit den wichtigsten Oppositionsparteien Aufbau und Aufgabenstellung des Forums zu erörtern. Premier Ahern selbst erklärte, die Regierung werde zu einem neuen gemeinsamen Standpunkt kommen, wenn das Forum seine Arbeit beendet und sie sich detailliert mit seinen Ergebnissen auseinandergesetzt habe. Ihre künftigen europapolitischen Positionen wolle sie weitgehend auf der Grundlage der nationalen Debatte formulieren (Ahern 2001b). Dies wertete das Forum trotz seiner fehlenden Legitimation und Kompetenzen auf und räumte anderen Akteuren die grundsätzliche Chance ein, Einfluss auf die Verfassungsänderungsvorlage zu nehmen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch Äußerungen des Premiers, die Verständnis für EU-Skeptiker in der Bevölkerung beinhalteten,253 sowie durchaus kritische Aussagen zur EU. Sie sollte offener, transparenter und bürgernäher werden. Ihre Entwicklung müsse der Realität Rechnung tragen, dass sich „die Menschen überall in Europa und auch in Irland am unmittelbarsten und stärksten“ mit ihrem eigenen Land und ihren eigenen nationalstaatlichen Institutionen identifizierten. Die EU solle anerkennen, dass dem UN-Sicherheitsrat weiterhin die Hauptverantwortung für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit in der Welt
252 In der Presse wurde auch auf ein ähnliches Forum in Dänemark verweisen, auf dem anlässlich des dänischen Nizza-Referendums über 40 Organisationen und Interessenvertretungen ihre Sicht auf die EU darlegten. Der Konvent zur Erarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta im Vorfeld von Nizza war kein Vorbild. 253 Premier Ahern erklärte, man müsse die „ganz realen Ängste und Sorgen der Bürger“ bezüglich der künftigen Entwicklung Europas einbeziehen und berücksichtigen, dass die EU „als schwer durchschaubar, schwer erreichbar und undemokratisch empfunden“ werden könne. Es gelte, der Bevölkerung Europa näherzubringen, sie über die Funktionsweise der EU und die Rolle Irlands zu informieren und den Bezug der irischen Bürger zur EU zu verdeutlichen. Da diese nun einmal sehr komplex sei, müsse man die europapolitischen Positionen der Regierung „erläutern und rechtfertigen und um Unterstützung werben“, sich mit den „realen Tatsachen“ und „der Wahrnehmung“ auseinandersetzen (Ahern 2001b).
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zukomme, und ihre Zusammenarbeit mit der UNO in den Bereichen Konfliktprävention und Krisenmanagement intensivieren (Ahern 2001b). Mit diesen Maßnahmen und Aussagen hatte die irische Regierung recht zielgenau die politischen Konfliktpotenziale im Blick, ohne ihre politische Position zu verschieben: Tabelle 29: Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall I Streitpunkt Schutz irischer Interessen innerhalb der Organe und EUEntscheidungsverfahren Wahrung der demokratischen Selbstbestimmung, Repräsentation irischer Interessen
Ort des Konflikts Regierungsparteien vs. Oppositionsparteien; innerhalb der Wahlbevölkerung Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Transparenz der EU-Politik, Zurechenbarkeit der Entscheidungen, Kontrolle
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
militärische Neutralität Irlands Verkopplung der EU-Osterweiterung mit der EUInstitutionenreform
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Ergebnis 2001 Neuverhandlungen des Vertrags von Nizza ausgeschlossen; aber Gesprächsbereitschaft der Regierung Neuverhandlungen des Vertrags von Nizza ausgeschlossen; aber Gesprächsbereitschaft der Regierung Neuverhandlungen des Vertrags von Nizza ausgeschlossen; Angebot parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle in EU-Politik Neuverhandlungen des Vertrags von Nizza ausgeschlossen; aber Gesprächsbereitschaft der Regierung Regierung sieht kausale Verknüpfung, stellt Erweiterung nicht infrage
Vergleicht man die wichtigen Streitpunkte dieser Phase mit den von der verfassungspolitischen Initiative berührten Problemkomplexen (Tab. 23), dann wurde nur einer dieser Komplexe nicht zum Gegenstand von Konflikten: Die nationale Selbstbestimmung in der Steuerpolitik, die der Regierung auf europäischer Ebene besonders wichtig gewesen war, wurde in den Argumentationen weder positiv noch negativ besonders erwähnt. Hatte die Regierung in der Öffentlichkeit den Vertrag von Nizza prioritär als Instrument zur organisatorischen Vorbereitung der EU-Osterweiterung begründet und sich auf deren Sinn konzentriert, so thematisierten die anderen Akteure vor allem Souveränität, Sicherheitspolitik, Repräsentation und Demokratie. Die Argumentationen der Parteien sowie die Positionsbeschreibungen in den Medien zeigten dabei jeweils eine deutlich irische Perspektive an, d.h. eigene Bewertungen und Kriteriengewichtungen innerhalb der komplexen Problemdimensionen. Die Gegner der Verfassungsänderung warfen der Regierung aber auch vor, der Bevölkerung wichtige Informationen vorzuenthalten oder ihre Darstellung zu verfälschen, insbesondere hinsichtlich des Neutralitätsstatus’ und des Stimmengewichts Irlands innerhalb der EU (z.B. De Brédún 2001; Cassidy 2001). Damit wurde also auch die Datenbasis an sich infrage gestellt. Insgesamt änderte die Regierung an der Schwelle zur kooperativen Phase nicht ihre Argumente und die Bewertung einzelner Punkte, aber mittels der In-Aussicht-Stellung von Kooperation ihr Verhalten gegenüber der Gesellschaft als kollektivem Vetospieler. Dabei wandte sie sich vor allem an die Unentschlossenen und Passiven, anstatt an die dezidierten, organisierten Nizza-Gegner. Die vom EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi im Rahmen eines Irland-Besuchs Ende Juni 2001 erwähnte Alternative, die EU auch ohne den Vertrag von Nizza auf Grundlage eines leicht abgeänderten Amsterdamer Vertrages zu erweitern, um so ein Negativvotum Irlands zu umgehen (Staunton 2001e), griff sie nicht
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auf.254 Die Gesellschaft nahm ihrerseits die Idee des Nationalen Europaforums sehr positiv auf (Kapitel 5.3). Angesichts dieses grundsätzlich kooperativen Verhaltens kann man urteilen, dass die individualistische, auf pure Interessendurchsetzung orientierte Aushandlungsphase spätestens im Herbst 2001 mit der Eröffnung des Forums endete.255
4.4 Deutsches Fallbeispiel (1995-1996) Auch die deutsche Bundesregierung konnte nicht auf einen einfachen und übersichtlichen Aushandlungsprozess hoffen. In einem politischen System mit vielen politischen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen und traditionell starken Interessenverbänden hatte sie es jedoch mit dauerhaft sehr gut organisierten Gegenspielern zu tun. Dies schwächte einerseits ihre Verhandlungsmacht, andererseits aber standen ihr kein mächtiger zweiter Akteur oder Akteursblock gegenüber, sondern unterschiedliche Einzelakteure, die bei uneinheitlichem Verhalten ihre Verhandlungsmacht gegenüber dem verfassungspolitischen Initiator untereinander latent schächen konnten. Rasch meldeten sich die von der Grundgesetzänderungsinitiative betroffenenen kommunalen Spitzenverbände offiziell zu Wort.256 Dies waren der Deutsche Städtetag (DST), der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DSGB) und der Deutsche Landkreistag (DLT). Zwar waren sie grundsätzlich offen für die Reform, weil angesichts der kommunalen Haushaltslage gerade für die Kämmerer das fiskalische Deckungsziel gegenüber der Sicherung eigener Hebesatzrechte dominierte (Singer 1995), doch wandten sie sich dagegen, dass die Bundesregierung in ihrer Vorlage keine verfassungsmäßige Garantie für die verbleibende Gewerbeertragsteuer vorsah. Außerdem forderten sie Klarheit hinsichtlich der technischorganisatorischen Umsetzung der Gewerbesteuerreform, die der parallel eingebrachte Entwurf des Jahressteuergesetzes 1996 regelte.257 Dazu zählten sie Eckregelungen mindestens zum (Übergangs-)Schlüssel der Verteilung des gemeindlichen Umsatzsteueranteils, zum Umgang mit „Verlierergemeinden“ bzw. eine Härtefallregelung, zum generellen Finanzierungsvolumen sowie zum Ausgleich für Gemeinden in den neuen Ländern, in denen keine Gewerbekapitalsteuer erhoben wurde und deren Gewerbeertragsteuer aufgrund der schlechten regionalen Wirtschaftslage wesentlich geringer ausfiel als in den westlichen Bundesländern. Grundsätzlich forderte der Städtetag die Einrichtung einer Kommunalkammer, damit die Interessen der Kommunen nicht nur freiwillig, sondern garantiert bei der politischen Entscheidungsfindung Berücksichtigung fänden (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3442). Obwohl die Spitzenverbände keine Vetokapazität hatten, waren sie als Interessenvertretungen der Kommunen – also wichtiger Politikimplementierer an den Wählerwohnorten 254 Wie eine solche „leichte Änderung“ des Amsterdamer Vertrags aussehen sollte, damit sie nicht ebenfalls rechtlich oder faktisch der Zustimmung in einem Referendum bedurft, dazu äußerte sich Prodi nicht. 255 Möglicherweise war die Bevölkerung bereits im Sommer 2001 kooperationsbereit, doch lässt sich dies nicht nachweisen. 256 In der Bundesrepublik ist ein Kontakt mit den betroffenen Akteuren bereits im vorparlamentarischen Stadium üblich (Beyme 1997). Es gab sie auch in diesem Falle. So hatten bereits vor der Einbringung der Initiative durch die Bundesregierung der Deutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund eine Zustimmung nur für den Fall angekündigt, dass sie eine Garantie für die verbleibende Gewerbeertragsteuer erhielten (DBT/BR o.J.: A1, 14: 251; A1, 22: 35f.). Die für alle Interessierten sichtbare Erstpositionierung erfolgte jedoch erst mit den veröffentlichten Standpunkten der Verbände. 257 Nach dessen Aufsplittung im späteren Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform, und zwar vor allem als Änderungen des Gemeindefinanzreformgesetzes und des Finanzausgleichsgesetzes.
4.4 Deutsches Fallbeispiel (1995-1996)
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– durchaus bedeutsam. Die Bundesregierung ging daher auf die Kritik und Forderungen von ihrer Seite ein, deren Stoßrichtung nicht überraschte, sondern bereits in der Entwurfsphase klar gewesen war. (Trotzdem hatte die Bundesregierung zunächst individualistisch agiert und die Einwände nicht vorausschauend umgangen). In Schreiben und im Bundestag signalisierte Bundesfinanzminister Waigel den kommunalen Spitzenverbänden Ende Mai 1995 erstmals in vier Punkten Gesprächsbereitschaft: im Hinblick auf eine verbindliche Beteiligung an der Umsatzsteuer (Art. 106 GG), einen gesetzlichen Verlustausgleich für einzelne Gemeinden auch über das Jahr 1999 hinaus, die Prüfung innerhalb der Koalition, ob eine stärkere Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer im Grundgesetz möglich sei, und den Ausgleich ihrer fiktiven Gewerbesteuern für die Gemeinden in den neuen Bundesländern. Außerdem kündigte er Gespräche über die technisch-organisatorische Umsetzung der Reform, nicht aber das Kompensationsvolumen an (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3437f.). Im Bundestag verwiesen die Regierungsfraktionen im Frühjahr 1995 darauf, dass die vorgesehene Umsatzsteuerbeteiligung für die Gemeinden in der „gesicherten Übergangszeit“ bis 1999 sogar eine Überkompensation beinhalte und daher die kommunale Selbstverwaltung stärke; „Verteilungswirkungen zwischen den Gemeinden“ sollten „möglichst gering gehalten werden“. Bundesfinanzminister Waigel selbst sprach von einer „abgesicherten Besitzstandswahrung“ (DBT/BR o.J.: A1, 16: 6; A1, 17: 3437).258 Angesichts der fehlenden statistischen Daten darüber, wie viel Gewerbesteuern die Gemeinden jeweils überhaupt einnahmen, waren diese Aussagen sachlich problematisch. Grundsätzlich erklärte die Regierungsseite, zur Gewährleistung von Art. 28 (2) Satz 3 GG reichte es aus, wenn die Gemeinden ausreichend finanzielle Grundlagen hätten, mit denen sie im Sinne ihrer verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungsrechtes eigenverantwortlich tätig würden, das müssten nicht ausschließlich eigene Finanzquellen sein. Mit der Gewerbeertragsteuer (die die Koalition allerdings reduzieren wollte) bleibe ihnen zudem eine verfassungsrechtlich notwendige eigene Finanzquelle (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3446f.). Trotz der signalisierten Gesprächsbereitschaft dominierten innerhalb der Bundesregierung die prozedural-inhaltlich begründeten Bedenken gegenüber einer Änderung am Wortlaut der Grundgesetzänderung: Die Einführung einer verbindlichen Umsatzsteuerbeteiligung hätte den Gemeinden einen materiellen Anspruch verliehen, ohne dass klar war, ob die Mehrheit der SPD-geführten Bundesländer im Bundesrat die später zu verabschiedende zustimmungspflichtige einfachgesetzliche Gewerbesteuerreform tatsächlich beschließen würde. Die Regierungsmehrheit betrachtete eine konsekutive Vorgehensweise als nicht umgehbar, da die einfachgesetzlichen Regelungen nicht gegen das geltende Grundgesetz verstoßen dürften,259 und befürchtete, durch eine verfassungsrechtlich verbindliche Umsatzsteuerbeteiligung der Kommunen gegenüber der Bundestagsopposition und den Ländern erpressbar zu werden, da diese ihre nachfolgende Zustimmung zu den Steuergesetzen an in258 Die Darstellung der Positionierungen folgt der tatsächlichen zeitlichen Abfolge. Aufgrund des zuvor von den Regierungsfraktionen initiierten Gesetzgebungsvorhabens im identischen Wortlaut, das jedoch am 12.05.1995 in der parlamentarischen Abstimmung scheiterte, erklärten sich die Bundestagsparteien vor den Bundesländern. Es wäre verfälschend, erst die Haltung der Länder darzustellen, obgleich der Bundesrat bei Regierungsinitiativen wie dieser formal seine Stellungnahme abgeben kann, bevor der Bundestag sich mit dem Gesetzentwurf befasst. 259 Der kanadische Fall zeigt, dass solche eindeutig miteinander verknüpften Materien auch in Paketgesetzen gemeinsam verabschiedet werden können. Diese Überlegung wurde hier aufgrund der bisherigen deutschen Rechtspraxis nicht in Erwägung gezogen, auch wenn die Grundgesetzänderung in den später diskutierten verschiedenen Gesetzesentwürfen immer als Teil II nach den einfachgesetzlichen Änderungen auftauchte.
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haltliche Auflagen koppeln konnten. Diese Steuergesetze waren für die Regierungsmehrheit politisch weitaus wichtiger als die Grundgesetzänderung (DBT/BR o.J.: A1, 22: 38). Innerhalb der Regierungskoalition wandte sich die FDP, in deren Sicht gesamtwirtschaftliche Erwägungen dominierten, gegen die stärkere verfassungsrechtliche Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer. Der FDP-Fraktion missfielen die von Finanzminister Waigel angekündigten finanziellen Zugeständnisse gegenüber den Gemeinden, besonders die Garantie einer „Besitzstandswahrung“ und des Ausgleichs für Verlierergemeinden. Jede Besitzstandsverbesserung für die Gemeinden müsste eine stärkere Beanspruchung der Bundesländer bedeuten, was ihr nicht sinnvoll und praktikabel schien (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3441). Die FDP-Bundestagsfraktion beharrte auf ihren zwei Kernargumenten für das vorgeschlagene Reformkonzept (Standortsicherung, neue Bundesländer) und erwähnte wie die CDU/CSU, dass die Umsatzsteuerbeteiligung den Gemeinden wieder praktische finanzielle Handlungsspielräume verschüfe (DBT/BR o.J.: A1, 22; A1, 17: 3442f.). Diese Abwehr von seiten der FDP und der rationale Verzicht auf verfassungsrechtliche Einschränkung künftiger Handlungsspielräume der Regierungsmehrheit sorgten dafür, dass die Bundesregierung bei dem eingebrachten Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes in seinem ursprünglichen Wortlaut blieb. FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle erklärte außerdem, die SPD dürfe die Grundgesetzänderung nicht aus parteipolitischen Gründen blockieren (Die Welt 09.05.1995), und zeigte damit ähnlich wie die anderen Akteure eine Sicht auf die Verfassungspolitik, die deren Ideal nicht entsprach, sondern durch „normalpolitische“ Kalküle und Praktiken geprägt war.260 Die SPD war in der Tat verhandlungsmächtig, ihre Position aber nicht strategisch kalkuliert. Ihr Vorsitzender Scharping plante zu diesem Zeitpunkt eine grundlegende programmatische Erneuerung im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, unter anderem mit dem Ziel von mehr Offenheit gegenüber unternehmerischen Interessen. Diese relative Offenheit gegenüber einer sachlichen Umpositionierung traf jedoch mit taktisch-prozessualen Erwägungen zusammen, insbesondere denen einer stärksten Oppositionspartei mit indirekter Vetokapazität im Bundesrat – dem zweiten institutionellen Mitspieler der Bundesregierung. Darüber hinaus wollte sich die SPD im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik gegenüber Bündnis 90/Die Grünen abgrenzen, die aufgrund programmatischer Ähnlichkeiten einerseits als möglicher Koalitionspartner auf Bundes- und Länderebene infrage kam, aber anderserseits zunehmend traditionelle SPD-Wähler „abwarben“. Grundsätzlich zeigte sich die Fraktion wenig geschlossen (Deupmann 1995a, 1995b). In diesem Falle demonstrierte sie außer bei der Gewerbeertragsteuer keine Kompromissbereitschaft. SPD-Finanzexperte Volker Kröning betonte außerdem, der Gesetzentwurf berühre neben den Gemeinden vor allem die Bundesländer, da sie gemeinsam mit dem Bund den Ausgleich über die Umsatzsteuerbeteiligung tragen müssten. Er falle in eine „Phase verschärfter Verteilungskämpfe in den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern“ (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3440). Insofern überraschte nicht, dass sich die Positionen der SPD und der SPD-geführten Länder ähnelten. Die SPD-Fraktion erklärte sich selbst, um die eigene Verhandlungsmacht noch symbolisch zu vergrößern, während des gesamten Aushandlungsprozesses und insbesondere an wichtigen Verhandlungspunkten immer wieder zur Sprecherin „der Opposition“ und auch „der Länder“, die unmittelbar für die Finanz-
260 Gemeint ist, dass die Plausibilität der Einwände kaum in Erwägung gezogen wurde, was einen substanziellen Diskurs über die „beste“ verfassungspolitische Lösung behinderte.
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ausstattung der Gemeinden und den kommunalen Finanzausgleich verantwortlich seien (z.B. DBT/BR o.J.: A1, 17: 3439f.; A1, 30: 298, 324; A3, 48: 22; DBT 1997b: 14505). Die SPD-Fraktion sowie der saarländische Ministerpräsident und SPD-Verhandlungsführer im Bundesrat, Lafontaine, argumentierten im Bundestag, angesichts der finanziellen und organisatorischen Risiken für die Gemeinden wolle sie mit einer Grundgesetzänderung nicht die „Katze nicht im Sack kaufen“. Die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer sei zwar attraktiv, doch die Zusagen der Koalition seien schwer nachzuprüfen und die Grundgesetzänderung selbst ein „Einfallstor“ für den gerade mit der letzten Verfassungsänderung gewonnenen Autonomiegewinn der Gemeinden (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3439f.). Wie die Regierungsmehrheit misstraute also auch die SPD-Fraktion im Bundestag ihrem wichtigsten Gegenüber und sah in der konsekutiven Verabschiedung von Grundgesetzänderung und zugehöriger einfachgesetzlicher Regelungen ein Risiko, das sie so niedrig wie möglich halten wollte. Darüber hinaus kritisierte die SPD-Fraktion, dem in der Gesetzesbegründung erwähnten „orts- und wirtschaftsbezogenen“ Verteilungsschlüssel für den gemeindlichen Umsatzsteueranteil fehle die konzeptionelle und datentechnische Grundlage. Die herausgestellte Planungssicherheit für die Gemeinden sei fiktiv, solange die Regierung selbst nicht wüsste, wie sie den orts- und wirtschaftsbezogenen Verteilungsschlüssel sowie die angekündigten „gemeindescharfen Modellrechnungen“ in der Übergangsphase überhaupt realisieren sollte. Stattdessen forderten SPD-Fraktion und SPD-regierte Länder die Regierungsparteien auf, einen Gesetzentwurf für die grundlegende Reform des Gemeindefinanzsystems vorzulegen. Die Bundesregierung gebe vor, kritisierte sie, den Städten und Gemeinden finanziell helfen zu wollen, plane aber zugleich neue Lasten für sie durch eine Befristung der Arbeitslosenhilfe. Die Fraktion deutete zwar an, dass die SPD Entlastungen der Unternehmen bei der Gewerbesteuer sowie einer Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden offen gegenüberstünde, sprach sich aber klar gegen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer aus, weil sie nur einem kleinen Teil der Unternehmen zugute käme, ihre Gegenfinanzierung aber viele belastete (DBT/BR o.J.: A1, 22; A1, 17: 3437 ff.; Handelsblatt 15.05.1995). Die Finanzprobleme der Kommunen konnten laut SPD auch ganz anders gelöst werden: anstelle der Gewerbesteuerreform durch die hälftige Beteiligung des Bundes an den Kosten der Sozialhilfe. – Dies stieß auf sofortigen Widerstand besonders der FDP, die eine Umverteilung zu Lasten der Steuerzahler befürchtete (Handelsblatt, 24.04.1995). Die Fraktion von Bündnis 90/Grünen lehnte die Koalitionspläne ebenfalls ab, da der Verlust des gemeindlichen Hebesatzrechtes ein Verlust für die Demokratie und die demokratische Eigengestaltung in den Gemeinden wäre. Zudem bestünde dann kein Anreiz mehr zu einer eigenständigen Wirtschaftsförderung der Kommunen, v.a. einer ökologischen Steuerung. Eventuell sei sogar eine Umsatzsteuererhöhung zur Finanzierung der Reform nötig, die dann den Gemeinden angelastet würde. Zudem kritisierte sie das Fehlen eines Schlüssels zur Verteilung der Umsatzsteuer auf jede einzelne Kommune. Allerdings signalisierte die Fraktion im expliziten Kontrast zur SPD ihre generelle Zustimmung zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer sogar bereits ab dem 01.01.1997, falls die Gewerbeertragsteuer substanziell erhalten bliebe und die Gegenfinanzierung nach Gesprächen mit den kommunalen Spitzenverbänden verbessert würde. Darüber hinaus forderte die Fraktion recht allgemein eine Neufassung des Konnexitätsprinzips „in den nächsten Monaten und Jahren“ (DBT/BR o.J.: A1, 22; A1, 17: 3440 ff.). Bündnis 90/Die Grünen zeigten sich im Mai 1995 also substanziell kompromissbereiter als die SPD-Fraktion.
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Die PDS, die nur als parlamentarische Gruppe im Bundestag vertreten und dort weitgehend isoliert war, lehnte die Regierungspläne wie die Oppositionsfraktionen als unausgewogen und unausgereift ab. Sie befürwortete zwar eine Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden und eine Abschaffung der Gewerbesteuer, doch müsse dabei die finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden garantiert bleiben, damit diese die finanziellen Konsequenzen ihres Ausgabeverhaltens vor den Wählern politisch zu vertreten hätten. Das Konzept sollte präzisiert und – hier argumentierte die PDS wie die SPD – in eine allgemeine Reform der Kommunalfinanzierung eingebettet werden, an deren Aushandlung die kommunalen Spitzenverbände und die Gewerkschaft ÖTV zu beteiligt wären. Ähnlich wie die SPD kritisierte die PDS auch die soziale Unausgewogenheit der Reform: Die geplante Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen für investierende Unternehmen lehnte sie ab, da dies besonders die kleinen und mittelständischen Unternehmen träfe, die die meisten Arbeitsplätze schüfen, die Reform aber nur Großunternehmen entlastete (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3444f; A1, 30, Beig.). Beide Parteien beriefen sich auf Aussagen von Experten zur Struktur der Gewerbesteuerzahler. Die Kompromissbereitschaft der PDS-Gruppe war aufgrund parteiprogrammatischer Gründe ebenso wie sachlicher Erwägungen recht klein. Alle Oppositionskräfte im Bundestag brachten vor und in der ersten Lesung politischprogrammatische und technisch-organisatorische Kritik an der Grundgesetzänderung vor. Die Überweisung an den federführenden Rechtsausschuss, den Finanz- und den Innenausschuss am 21.06.1995 gelang nur durch gezielte organisatorische Vorsorge durch die Regierungsmehrheit.261 In den Ausschüssen der Bundesrats, der eine Stellungnahme zur Gesetzesvorlage der Regierung formulieren konnte, verhielten sich im Mai/Juni 1995 die Vertreter des CSUregierten Landes Bayern, von Thüringen (Große Koalition) und Sachsen (CDU) prinzipiell wohlwollend gegenüber der Grundgesetzänderung und den dahinter stehenden Plänen und stimmten den Regierungsplänen zu. Gleichwohl nahmen Baden-Württemberg (Große Koalition) und Thüringen eine zentrale Forderung der kommunalen Spitzenverbände auf und beantragten im Finanzausschuss, die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer verbindlich verfassungsrechtlich abzusichern. Baden-Württemberg forderte darüber hinaus, den Begriff „Realsteuern“ in Art. 106 (6) durch die eindeutigen Begriffe „Grundsteuer und Gewerbesteuer“ zu ersetzen, um verfassungsrechtliche Eindeutigkeit zu gewährleisten.262 Es ist fraglich, ob die unionsgeführten Länder mit der Zustimmung zur geplanten Grundgesetzänderung ihrer verfassungsrechtlichen und finanzwirtschaftlichen Verantwortung für die Kommunen gerecht wurden, da sie die Forderungen der kommunalen Spitzenverbände nicht oder nur ergänzend berücksichtigten. Die Zustimmung widerspricht auch dem Kalkül individueller materieller Vorteilsnahme, denn die Regierungspläne führten zu einer Neuverteilung des Steueraufkommens zwischen Bund, Ländern und nun auch Kom261 Alle anderen Parteien unterstützten den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die zweite und dritte Lesung vorzuziehen und das Gesetzesvorhaben dort scheitern zu lassen. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP verhinderten die für die Annahme eines solchen Antrags nach § 80 (2) der Geschäftsordnung des Bundestages nötige Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordneten durch zahlreiches Erscheinen; nach dem Votum verließen viele derjenigen, die abgestimmt hatten, den Saal. 262 Juristisch war unklar, ob nach einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer die verbleibende Gewerbeertragsteuer als objektbezogene bzw. Realsteuer zu klassifizieren wäre, da eine solche sich auf einen Gegenstand bezieht. In diesem Fall, so die Befürchtung, enthielte das Grundgesetz keine Zuordnung der Gewerbeertragsteuer zugunsten der Gemeinden. Dem konnte sollte durch die Umformulierung vorgebeugt werden. Diese Änderung erforderte Folgeänderungen in Art. 106 GG und vergrößerte damit den Umfang der Verfassungsänderung (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 5).
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munen. Die Länder nahmen Einnahmeverluste aus der Gewerbesteuerumlage und den Mindereinnahmen aus dem Umsatzsteueraufkommen hin, insbesondere da die Bundesregierung ankündigte, die Mehrwertsteuer nicht zur Aufstockung der Verteilungsmasse erhöhen zu wollen. Zudem ließ der Plan des Bundes, die Verteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils gemäß einem bestimmten Schlüssel sowie die Ausgleichszahlungen an „Verlierergemeinden“ über die Länder abzuwickeln, einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand mit weiteren Kosten und Bindung personeller Kapazitäten erwarten. Der grundsätzliche Konflikt zwischen den auf die langfristigen Strukturen des gesamtdeutschen Finanzausgleichs gerichteten Überlegungen der Bundesregierung und den Interessen der ökonomisch starken südlichen Bundesländer (Färber 1999) wurde in dieser Verhandlungssituation nicht artikuliert, die vergangenen Verteilungskämpfe, zuletzt bei der Anpassung der Finanzverfassung an die neuen Rahmenbedingungen im vergrößerten Deutschland (Mäding 2000), waren nicht bemerkbar. Im Gegensatz dazu warteten insbesondere Hamburg (SPD, STATT-Partei) und Nordrhein-Westfalen (SPD) in den Bundesratsausschüssen mit sehr umfangreichen Einwänden gegen die Grundgesetzänderung auf und beantragten die Ablehnung durch den Bundesrat. Sie begründeten dies mit den finanziellen Unwägbarkeiten aufgrund fehlender Daten, riskanten Folgen für das komplexe System des bundesstaatlichen und kommunalen Finanzausgleichs sowie der Wahrscheinlichkeit einer Mehrwertsteuererhöhung, um die Einnahmeausfälle von Bund und Ländern bei der Umsatzsteuer zu kompensieren, was zulasten der Verbraucher gehe und Großbetriebe begünstige. Zudem lehnten sie mit Verweis auf die Haltung der Gemeinden (die allerdings so eindeutig nicht war) generell eine Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ab (DBT/BR o.J.: A1, 7: 10f.; 10: 41f.). Diese Einwände überraschten weniger als die Konformität der unionsgeführten Länder, denn gerade die sozialdemokratisch regierten Länder mussten mit langfristigen Einnahmeeinbußen für eine Politik rechnen, die ihren programmatischen Vorstellungen nicht entsprach und deren positiven Effekte nicht garantiert waren. Alle vier mit ihr befassten Bundesratsausschüsse begründeten ihre negative Haltung gegenüber der Grundgesetzänderung letztlich damit, dass der Bundesrat die von der Bundesregierung beabsichtigte Unternehmensteuer- und Gemeindefinanzreform insgesamt ablehnte und es daher der mit ihr zusammenhängenden Grundgesetzänderung nicht bedürfe (DBT/BR o.J.: A1, 49). Der Rechts- und der Wirtschaftsausschuss erhoben zusätzlich „erhebliche verfassungspolitische Bedenken“ gegen eine Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer, „wenn diese mit einem Abbau der Gewerbesteuer verbunden sind und damit den Wegfall des Hebesatzrechtes und eine Einschränkung der finanziellen Eigenverantwortung (Art. 28 [2] Satz 3 GG) zur Folge hat“. Der geplante Schritt der Regierung wäre ein schwerwiegender Eingriff in die Finanzautonomie der Gemeinden, die auf Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission erst 1994 verfassungsrechtlich gestärkt worden sei (DBT/BR o.J.: A1, 8: 12).263 In ihren Stellungnahmen äußerten die Länder also ebenso wie die Opposition im Bundestag konkrete sachlich begründete Kritik, verfolgten aber auch parteipolitische Motive, die offensichtlich die individuelle Wahrnehmung von Kosten und Nutzen mit formten. 263 Es sollte, so hieß es, „letztlich die (mit ca. 40 % aller gemeindlichen Steuereinnahmen) einzig bedeutsame Steuerquelle der Gemeinden, deren Aufkommen diese über die Hebesätze selbst beeinflussen können, beseitigt werden und zwar zugunsten der Beteiligung an einer Steuer, deren Aufkommen allein durch die Bundesgesetzgebung bestimmt wird“ (DBT/BR o.J.: A1, 8: 12).
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Die Positionierung der Bundesländer zur Grundgesetzänderung harmonierte aber nicht nur mit der parteipolitischen Zusammensetzung der jeweiligen Landesregierungen, sondern auch mit dem jeweils zweiten zentralen Kalkül: den finanziellen Interessen bzw. der Haushaltslage (Abb. 15).
Nichtzustimmung zur Grundgesetzänderung
Abbildung 15: Verschuldungsgrad und Nichtzustimmung der Länder im Fall D, Mai 1995 5 4 3 2 1 0 0
50
100
150
200
250
Verschuldungsgrad
Nichtzustimmung: Summe der Neinvoten (je 1 Punkt), Enthaltungen (je 0,5) und Zustimmungen (je 0) in den Abstimmungen der vier beteiligten Bundesratsausschüsse Verschuldungsgrad: Schuldenstand am Jahresende 1994 in Prozent der Ausgaben desselben Jahres Quelldaten: Tab. A 16; Die Welt, 19.04.1995 (Verschuldungsgrad der Länder)
Für die Länder, deren Verschuldung zu Beginn der 1990er Jahre rasant angestiegen war,264 ließen die Gewerbesteuerkompensationspläne der Bundesregierung und deren parallele Aktivitäten weitere finanzielle Belastungen befürchten. In dem aus der Grundgesetzänderung resultierenden Konflikt um die Verteilung der Umsatzsteuer korrelierten 1995 Verschuldungsgrad und Abstimmungsverhalten stark (r=0,7): Je verschuldeter das Land, desto schwächer stimmte es in den vier Bundesratsausschüssen der geplanten Grundgesetzänderung bzw. einer möglichen Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden zu. Für die schwächer verschuldeten unionsgeführten Bundesländer waren die Einnahmeverluste leichter zu verkraften; eine mögliche, aber nicht garantierte künftige Haushaltsverbesserung der Gemeinden so zu finanzieren und gleichzeitig wirtschaftspolitische Effekte zu erzielen, die der eigenen Parteiprogrammatik entstammten, barg für sie ein wesentlich geringeres Risiko. Die haushaltspolitischen Interessen der Landesregierungen führten 1995 immer wieder auch zu öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen der SPD und den SPD-geführten Ländern. Besonders der niedersächsische Ministerpräsident und wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Gerhard Schröder, Heide Simonis (Schleswig-Holstein) und Henning Voscherau (Hamburg) betonten ihre Verantwortung gegenüber den eigenen Landeshaushalten und die Absicht, im Bundesrat notfalls gegen die Steuerpolitik der SPD-Fraktion zu votieren, während der saarländische Ministerpräsident Lafontaine und sein Amtskollege Johannes Rau (Nordrhein-Westfalen) die steuerpolitischen Positionen der SPD-Fraktion im Bundesrat unterstützten (Hannoversche Allgemeine 26.6.1995; Griffin 1995; Wille 1995). In 264 Die der alten Bundesländer betrug Ende 1994 mit gut 414 Milliarden DM ein Drittel mehr als fünf Jahre zuvor (Niedersächsische Allgemeine, 19.04.1995).
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Verteilungskonflikten wie im Zusammenhang mit der Grundgesetzänderung war die eigene Finanzlage offensichtlich ein gewichtiges Argument für die politische Positionierung und teils prioritär gegenüber der Sorge um die eigenen Gemeinden. Diese abweichenden Kalküle bewirkten einen erheblichen Koordinationsbedarf zwischen der SPD-Parteispitze unter Rudolf Scharping und den SPD-regierten Ländern sowie die (zwischenzeitliche) Absetzung Schröders als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD. Die sachlichen und finanziell begründeten Einwände verbanden sich erkennbar mit parteipolitischen Erwägungen der Landesregierungen. Dies zeigte sich beispielsweise im Rechtsausschuss265 sowie daran, dass es in den Ausschussabstimmungen kaum Enthaltungen gab. Nahezu alle Unterschiede im Abstimmungsverhalten der Bundesländer in den Bundesratsausschüssen, weniger in den Einzelargumentationen, gingen mit den parteipolitischen Zugehörigkeiten der jeweiligen Fachministerien einher,266 auch die von der Gesamtkorrelation Verschuldungsgrad – Abstimmungsverhalten abweichenden Voten von Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz lassen sich unter Hinzuziehung der parteipolitischen Ausrichtung ihrer Regierungsparteien (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und SPD, FDP) erklären. Klarer als bei den mehr oder weniger stillschweigend die Grundgesetzänderung befürwortenden CDU-/CSU-regierten Bundesländern wiesen die Äußerungen des saarländischen Ministerpräsidenten und finanzpolitischen Sprechers der SPD, Oskar Lafontaine, auf diesen Zusammenhang mit der Parteipolitik hin. Er erweiterte die bisher geschilderte sachpolitische Argumentation gegen die Grundgesetzänderung in der Plenaraussprache des Bundesrates am 02.06.1995 um weitere Aspekte: Er kritisierte nicht eingehaltene Zusagen in den Solidarpaktverhandlungen (Wille der Koalition, die verbredete Umsatzsteueraufteilung zwischen Bund und Ländern aufzukündigen) und die Missachtung der Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei der Behandlung des Jahressteuergesetzes 1996. Zudem verwies er auf die Vetomacht des Bundesrates und die „berechtigte Wahrnehmung der Interessen der Gemeinden“ durch seine Mehrheit (DBT/BR o.J.: A1, 14: 241), bezog sich aber insgesamt nicht vornehmlich auf den Entwurf der Grundgesetzänderung, sondern des Steuergesetzes („Buckel-Tarif“, Grundfreibetrag; Steuerentlastungen für kleine und mittlere Einkommen, einheitliches Kindergeld), wobei sich Unterschiede zur SPD-Fraktion zeigten.267 Insgesamt war in Bundestag und Bundesrat eine große Fülle sachpolitischer Argumente und unterschiedlicher Positionen zu verzeichnen (vgl. DBT/BR o.J.: A1, 14: 246, 248). Dabei griffen die inhaltlichen Einwände gegen die Gewerbesteuer- und Grundgesetzpläne erkennbar auf die Kritik von seiten der kommunalen Spitzenverbände zurück. Obwohl sie 265 Der Rechtsausschuss soll nicht über die Inhalte einer Vorlage debattieren, sondern vornehmlich ihre Rechtsförmigkeit und die Beachtung der Rechte des Bundesrates prüfen. Hatten im Unterausschuss Recht noch die Vertreter von acht Ländern einer in dieser Hinsicht positiven Empfehlung zugestimmt, so stieg die Zahl der ablehnenden Stimmen im Rechtsausschuss eine Woche später auf neun: Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Schleswig-Holstein wechselten vom Ja zum Nein, Bremen, und Thüringen von der Enthaltung zum Nein. Bei allen Wechslern handelte es sich um SPD-regierte Bundesländer oder mit SPD-geführte Justizressorts. 266 Dies fällt besonders bei Baden-Württemberg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ins Auge. Einzig das Verhalten der Vertreter FDP-geführter Ressorts war uneinheitlich: Sie votierten im Falle Bremens (Koalition mit der SPD, Bündnis 90/Grünen) gegen die Gesetzesvorlage, im Falle von Rheinland-Pfalz (Koalition mit der SPD) für den Entwurf der „schwarz-gelben“ Bundesregierung. 267 Die SPD-regierten Länder forderten Kostengrenzen für die im Jahressteuergesetz 1996 geplante steuerliche Freistellung des Existenzminimums und die Änderungen im Familienleistungsausgleich, während die SPDFraktion sogar ein höheres Existenzminimum mit Grundfreibetrag forderte, das weitere Kosten verursacht hätte.
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keine eigentlichen verfassungspolitischen Akteure waren, beeinflusste die Nutzung ihrer Daten, Bewertungen und Argumente durch die eigentlichen Akteure den Fortgang der Auseinandersetzungen. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen und parteiunabhängigen Skepsis der Kommunen gegenüber der geplanten Reform (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3442) variierte jedoch auch die Haltung dieser Verbände selbst zur Grundgesetzänderung – verursacht durch unterschiedliche Wahrnehmungen, Interpretationen und Interessen.268 Die Fülle der Einwände der verschiedenen Akteure war für die Bundesregierung erdrückend. Hatte sie zuvor noch das Verfahren um jeden Preis vorantreiben wollen, so verzichtete sie nun darauf – auch aufgrund der Differenzen innerhalb der Koalition, die die Aushandlungsspielräume einschränkten. In der ersten der beiden für den 21. und 23.06.1995 geplanten Lesungen des Entwurfs deutete Bundesfinanzminister Waigel gegenüber den politischen Verhandlungspartnern erstmals in der politischen Arena offen Kompromisse an und stellte die weiteren Lesungen erst für den Herbst 1995 in Aussicht – in Abhängigkeit allerdings von den parallelen Verhandlungen über die Unternehmensteuerreform (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3438). Die zweite Lesung wurde kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Erst nachdem sich die Parteien und die Bundesländer zu dem Entwurf erklärt hatten, legten die Verbände ihre Position stärker fest. Der Deutsche Städtetag erklärte sich zu Gesprächen mit dem Bundesfinanzministerium und mit den Ländern bereit, um die notwendige Zustimmung des Bundesrates zur Grundgesetzänderung zu erreichen und die sich für die Finanzausgleichsgesetze der Länder ergebenden Auswirkungen abschätzen zu können (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 4/3). Die finanzielle Notlage seiner Mitglieder sowie die 1995 bereits das dritte Jahr sinkenden Gewerbesteuereinnahmen bewirkten dies. Städtetag und Landkreistag forderten aber eine Indikativformulierung der gemeindlichen Umsatzsteuerbeteiligung in der Verfassung. Außerdem sollten das Konnexitätsprinzip auf das Verhältnis Bund – Gemeinden (Gemeindeverbände) ausgeweitet und Modellrechnungen zur technischen Umsetzung inklusive des Verteilungsschlüssels vorgelegt werden, um die Risiken und Belastungen für die Betroffenen kalkulieren zu können, denn das Regierungskonzept basierte auf unsicheren Schätzungen. Darüber forderte der DLT aus Eigeninteresse, auch die Gemeindeverbände (den Kreisbereich) in der Grundgesetzänderung zu berücksichtigen.269 Der Deutsche Städte- und Gemeindebund, in dem die meisten Kommunen organisiert sind, brachte ähnliche Kritikpunkte vor, zog aber aus ihnen einen anderen Schluss: Er lehnte die Umsatzsteuerbeteiligung als Kompensation für eine Absenkung der Gewerbesteuer „zur Zeit“ ab. Die technisch-organisatorische Umsetzung sei nicht klar; umfangreiche Präzisierungen und Ergänzungen seien nötig. Der DSGB forderte vor allem einen Verteilungsschlüssel mit Ausgleichswirkungen zwischen den Gemeinden sowie eine angemessene Berücksichtigung der strukturschwachen Kommunen. Zudem postulierte er ein Junktim zwischen der Zustimmung zur Gewerbesteuerreform und der Änderung des Art. 104a GG
268 So forderte der DLT (unter explizitem Widerspruch des DSGB), auch die Landkreise am Umsatzsteueraufkommen zu beteiligen, um ihr Recht auf Selbstverwaltung durch eine eigene Steuerertragsquelle abzusichern. Dies solle jedoch nicht zu Lasten der gemeindlichen Steuermasse gehen, sondern ihr Anteil sollte auf den Länderanteil angerechnet werden. Der DST und der DSGB forderten wiederum gemeinsam, im Falle der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer müsste die Bemessungsgrundlage für die Gewerbeertragsteuer geändert und die Gewerbesteuerpflicht auf die freien Berufe ausgeweitet werden. 269 Der DLT vermutete, dass die Finanzverfassung mit Blick auf die Kommunen nach der Grundgesetzänderung in absehbarer Zeit nicht nochmals geändert würde. Daher solle man die Gemeindeverbände rechtlich gleich mit erfassen, selbst wenn dieses Recht dann aktuell nicht realisiert würde (DBT/BR o.J.: A1, 22: 36f., Anl.).
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199
mit dem Ziel einer expliziten Ausdehnung des Konnexitätsprinzips auf das Verhältnis zwischen Bund und Kommunen (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 4/8 u. 4/9; A2, 32: 774). Im Vorfeld zum und im Vermittlungsverfahren zum Jahressteuergesetz 1996 berücksichtigten das Bundesfinanzministerium bzw. die Regierungsfraktionen die Änderungswünsche der SPD-Fraktion und der Bundesländer (sowie damit indirekt der Kommunen) zum Teil, indem in Überschlagsmodellen unterschiedliche Gemeindeanteile (2,2 und 2,7) an der Umsatzsteuer in ihren Auswirkungen auf die Haushalte getestet wurden (DBT/BR o.J.: A1, 30, Anl. 2: 53). Die Regierungsparteien zeigten außerdem Gesprächsbereitschaft bei der Rückführung der degressiven Abschreibung zur Gegenfinanzierung der Gewerbesteuerreform, die neben den kommunalen Spitzenverbänden auch der Deutsche Industrie- und Handelstag ablehnte. Ihrerseits stellte die SPD-Fraktion ihre Zustimmung zu einem modifizierten Grundgesetzänderungsentwurf, der einen verbindlichen kommunalen Umsatzsteueranteil enthielt, im Gegenzug für die Einführung einer Ökosteuer in Aussicht (DBT/BR o.J.: A3, 53: 3; Singer 1995). Mit der ökologischen Steuerreform versuchte die SPD, eines ihrer politischen Kernprojekte270 in den Steuerverhandlungen mit dem Bund durchzusetzen. Ein Kompromiss hätte die wirtschafts- und finanzpolitischen Ansätze beider Großparteien miteinander verknüpft, kam jedoch wegen der Ablehnung durch die FDP im Vermittlungsausschuss nicht zustande. Die SPD ließ daraufhin die Beratungen zur Grundgesetzänderung vertagen, um die von der CDU/CSU angedeuteten Änderungen am Gesetzentwurf abzuwarten. Die Gewerbesteuerreform wurde unter dem Arbeitstitel „Restantengesetz“ aus dem Jahressteuergesetz 1996 ausgekoppelt, auf das sich die Verhandlungspartner einigten. Vor der Beratung darüber sollte die Erhebung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern für ein weiteres Jahr ausgesetzt werden. Dies wurde im Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 1996 im Dezember 1995 geregelt.271 Die Bundesländer setzten sich in dem Vermittlungsverfahren bei der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs zulasten der Kommunen durch, die fast dreimal so stark belastet wurden wie zunächst angesetzt, und erwirkten eine Anhebung ihres Umsatzsteueranteils um 4,6 auf 48,6 Prozent (DBT/BR o.J.: A1, 30, Anl. 2: 53). Zur Kompensation der gemeindlichen Aufkommensverluste aus der Einkommensteuer trafen die Bundesländer dann individuelle Regelungen (Lenk/Rudolph 2003: 9 ff.). Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bemerkte zu Recht, im Vermittlungsausschuss habe „der Bundesfinanzminister, weil er auf den Bundesrat angewiesen ist, den Ländern Ausgleiche ein[ge]räumt“, während „diese aber mit ihren Kommunen – und zwar gleichgültig, wer regiert – oftmals Schlitten fahren“ (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3441). Die kommunalen Spitzenverbände, besonders der Deutsche Städte- und Gemeindebund, betonten, dass nicht die von ihnen vorgebrachten substanziellen Einwände und Forderungen die zentralen Gründe fehlender Einigung seien (Singer 1995). 270 Anders als die Bundesregierung wollte die SPD zur Standortsicherung nicht vorrangig steuerpolitisch beitragen, sondern über die sozialverträglichere Absenkung der Lohnnebenkosten. Sie käme allen Betriebe und Arbeitnehmern zugute und sei daher besser als die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, von der nur maximal 20 Prozent der Betriebe profitierten. Zur Gegenfinanzierung schlug die SPD „eine mäßige Belastung des Energieverbrauchs vor, weil alle Energie verbrauchen und an dieser Belastung teilhaben“ (Lafontaine 1995). 271 Das am 11.10.1995 verkündete Jahressteuergesetz 1996 basierte auf dem am 27.03.1995 von den Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingereichten Entwurf. Das am 28.12.1995 verkündete, ebenfalls zustimmungsbedürftige Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 1996 ging auf den textidentischen Gesetzentwurf zurück, den die Bundesregierung am 31.03.1995 (gemeinsam mit dem Entwurf der Grundgesetzänderung) eingebracht hatte.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
Das Zwischenresultat des Aushandlungsprozesses erbrachte für die wichtigsten beteiligten politischen Akteure dennoch einen relativen Nutzen, obgleich keiner von ihnen das für ihn bestmögliche Ergebnis erzielte und in der Grundgesetzänderung selbst keine Bewegung zu verzeichnen war: Die SPD-Fraktion erreichte für sie wichtige steuerpolitische Ziele in Form von Teilkompromissen, was einem nichtsubstanziellen Nutzen gleichkam, da es um andere Steuern bzw. Steuerpläne als die hier untersuchte Initiative ging. Außerdem verhinderte sie unerwünschte Gesetzgebungsregelungen, da die Initiative selbst nicht verabschiedet wurde (was allerdings angesichts der Machtverhältnisse ohnehin zu erwarten war). Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen setzten ebenfalls einen Teil ihrer steuerpolitischen Pläne durch. Zudem schafften sie es, dass trotz des engen Verhandlungsrahmens der SPD die Gespräche zur Grundgesetzänderung nicht nochmals scheiterten, sondern mit der Auskopplung aus dem Jahressteuergesetz 1996 ausgesetzt wurden. Die Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in Ostdeutschland um nur ein weiteres Jahr machte die Fortsetzung der Gespräche in absehbarer Zeit notwendig. Die FDP erzielte einen Nutzen, indem sie Kompromisse der CDU/CSU bei der Ökosteuer verhinderte, und die Bundesländer setzten sich im Verteilungskampf durch. Nachdem die Zustimmung der SPD zur Grundgesetzänderung weder im Sinne eines Koppelgeschäfts (Gewerbesteuer – Ökosteuer) noch über Änderungen im Gesetzentwurf der Regierung „in der Sache“ herbeigeführt worden war, band die SPD auf ihrem Parteitag in Mannheim vom 14. bis 17.11.1995 ihre Zustimmung zur Gewerbesteuerreform der Bundesregierung an die Erfüllung der bislang noch immer heterogenen inhaltlichen Auflagen der kommunalen Spitzenverbände sowie zusätzlich an das Einverständnis der Bundesländer (DBT/BR o.J.: A3, 38: 23, 25f.). Damit kam sie auf ihre ursprüngliche Position zurück, explizit ergänzt um den Zustimmungsbedarf der Bundesländer. Die kommunalen Spitzenverbände lieferten zwar sachpolitische Argumente und Informationen, auf die sich die Parteien beriefen, konnten sich jedoch zugunsten individualistischer Maximalforderungen erst sehr spät auf einen (fragilen) gemeinsamen Standpunkt verständigen. Erstmals einigten sie sich am 22.11.1995 auf eine gemeinsame Position zur Grundgesetzänderung. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund verschob dafür erheblich seine Position. Die Spitzenverbände akzeptierten die Beteiligung an der Umsatzsteuer272 und knüpften ihre Zustimmung zum Ersatz der Gewerbekapitalsteuer nun an die Erfüllung bestimmter Bedingungen, darunter die verbindliche Festschreibung in Art. 106 GG sowie eine verfassungsrechtlich eindeutige Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer. Unter Berufung auf die Übereinstimmung mit den Ministerpräsidenten der SPD-geführten Länder forderten sie eine Ausdehnung der Grundgesetzänderung auf Art. 28 (DBT/BR o.J.: A2, 32: 773)273 sowie bedeutende praktische und finanzielle Zusicherungen.274 Um die 272 Andere Ersatzfinanzierungsleistungen, wie die Absenkung der Gewerbesteuerumlage, die Anhebung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer oder die Realisierung des Hebesatzrechtes beim Einkommensteueranteil, lehnten sie inzwischen ab. 273 Die Absicht der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen, den Vorschlag Baden-Württembergs im Bundesrat aufzugreifen und in Art. 106 GG das Wort „Realsteuern“ durch die Worte „Gewerbesteuer“ und „Grundsteuer“ zu ersetzen, reichte ihrer Ansicht nach dazu nicht aus. Sie begrüßten daher den Ländervorschlag, die mit Hebesatzrecht ausgestattete wirtschaftsbezogene Gemeindesteuer durch Ergänzung von Art. 28 GG abzusichern. 274 Dazu zählten eine „besitzstandswahrende“ Übergangsregelung, eine Steuerkraftverbesserung für strukturschwache Städte und Gemeinden über den endgültigen Verteilungsschlüssel sowie die Garantie, dass ein Finanzierungsbeitrag der Länder zum kommunalen Umsatzsteueranteil nicht zu Minderungen beim kommunalen Finanzausgleich führe.
4.4 Deutsches Fallbeispiel (1995-1996)
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eigene Position in den Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium zu stärken, die sich vor dem Hintergrund fehlender Informationen auf die Höhe des zu ersetzenden Gewerbekapitalsteueraufkommens konzentrierten, übernahmen die kommunalen Spitzenverbände dezidiert den Vorschlag der rheinland-pfälzischen Landesregierung von drei Prozent des Umsatzsteueraufkommens als Kompensationsleistung. Der Städtetag, der als erster die Gewerbekapitalsteuerpläne und die Verfassungsänderung im Grundsatz befürwortet hatte, wich aber auch von dieser Position ab. Die Gewerbeertragsteuer müsse ein Übergewicht gegenüber der gemeindlichen Umsatzsteuerbeteiligung behalten, schon um einer mit der gemeindlichen Finanzautonomie nicht zu vereinbarenden Aushöhlung des Gewerbesteuerhebesatzrechts zu begegnen. Gleichzeitig formulierte er einen gemeindlichen Mindestanteil von 2,3 Prozent an der Umsatzsteuer, mit dem er deutlich die – von ihm formal mitgetragene – gemeinsame Forderung der drei kommunalen Spitzenverbände unterschritt (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 4/6). War der Bedarf der Verfassungsänderung von der Bundesregierung und den Regierungsfraktionen ausschließlich aus ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen abgeleitet worden, deren Umsetzung sie rechtlich ermöglichen sollte, so reflektierten die vielen, für die bundesdeutsche „normale“ Politik üblichen Akteure, die vielen Konfliktpunkte, die Uneindeutigkeit und teils fehlende Kohärenz der Positionen (Bundesfinanzminister, SPD) in der Summe anfangs gut die tatsächliche Ursache-Wirkungs-Komplexität des Regierungsvorhabens. Fast alle von der Verfassungsänderungsinitiative berührten Problemkomplexe (Kapitel 3.4) wurden in der individualistischen Phase thematisiert, wenngleich nicht in allzu großer argumentativer Tiefe. Nur wie eine angemessene Steuerpolitik in den neuen Bundesländern aussehen konnte und wie möglicherweise mit einer gesamtnationalen Konzeption auf die veränderten Rahmenbedingungen reagiert werden könnte, wurde nicht weiter debattiert. Wichtig ist, dass sich keine Blöcke aus Regierung und Opposition gegenüberstanden, sondern jeder Akteur zunächst individualistisch auftrat. Da selbst nur die Bundesländer, nicht aber die Bundestagsfraktionen von den Auswirkungen ihrer Entscheidung für oder gegen die vorgeschlagene Grundgesetzänderung betroffen waren und da zentrale Informationen nicht vorlagen, war die Kosten-NutzenKalkulation bei den Parteien bzw. Fraktionen unklar und von nichtsubstantiellen Erwägungen geprägt. Die Bundesländer und die Kommunen waren latent eher an Verteilungs- und Umsetzungsfragen interessiert, wobei die Bundesländer versuchten, ihre Position in Einklang mit den Positionen der Parteien zu bringen.275 Sowohl die stärkste Oppositionskraft SPD als auch die Bundesländer als solche waren gleichzeitig geneigt, ihre Zustimmung zu der (inhaltlich zu modifizierenden) Verfassungsänderung mit Zugeständnissen des Initiators in anderen politischen Materien zu verkoppeln. Letztlich führten die Komplexität betroffener Materien, eigennutzenorientierte Machtpolitik und kaum auflösbare ideelle Grundsatzkonflikte zu einer Pattsituation. Grundsätzlich forderten die Oppositionskräfte und die Kommunen, die ja im Gegensatz zu den Initiatoren der Verfassungsänderung nicht unter unmittelbarem Handlungsdruck standen, Zeit oder eine Verschiebung der Gespräche, um die Effekte anderer haushaltsrele275 Dies äußerte sich in einer Zustimmung mit Einwänden oder parallelen Vermittlungsinitiativen oder in einer schriftlichen Ablehnung mit sachlichen Argumenten, die aber in der mündlichen Aussprache teils mit sachfremden Bemerkungen zu anderen Materien der Tagespolitik verbunden wurden, und bestätigte einen differenzierten Zusammenhang zwischen Finanzpolitik der Länder und Parteipolitik (Kock 1975: 89; Lehmbruch 2000: 150).
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
vanter Maßnahmen abzuwarten, ein durchdachtes Gesamtkonzept erarbeiten zu können bzw. um kein Einfallstor zu öffnen, dessen Effekte man nicht kalkulieren könnte, und um inhaltliche und organisatorische Fragen der Grundgesetzänderung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu klären (DBT/BR o.J.: A3, 53: 2; A1, 17: 3443 ff.; FAZ, 20.06.1995). Tabelle 30: Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall D Streitpunkt Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts globalen Standortwettbewerbs steuerliche Finanzverflechtung im bundesdeutschen Föderalismus Wettbewerb der Kommunen vs. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (inkl. praktische Umsetzung) Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie (inkl. Kompensationsvolumen) Unterbindung von Kostenabwälzungen an die Kommunen
Ort des Konflikts Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPD, SPD-geführte Bundesländer, Bündnis 90/Die Grünen, PDS Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPDgeführte Bundesländer, SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS Bundesregierung, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPD, SPD-geführte Bundesländer, PDS
Ergebnis 1996 keine Einigung
keine substanzielle Einigung Verhandlungssignal des Bundesfachministers
Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS, Bundesländer
Verhandlungssignal des Bundesfachministers
Bundesregierung, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS
keine Einigung
Erst durch die Einigung der Ministerpräsidenten der Länder auf ihrer Sonderkonferenz im Mai 1996 ergab sich eine neue Chance auf Auflösung der Konfliktsituation. Sie schlossen nun erstmals eine Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 01.01.1996 nicht mehr aus, sofern der Bestand der Gewerbesteuer im Grundgesetz verankert würde und eine volle Kompensation für die Kommunen und Länderhaushalte erfolgte, also die zentralen Forderungen der Kommunen erfüllt würden (DBT/BR o.J.: A2, 32: 774; A1, 30: 43). Grund der Bewegung war das Ziel der Länder, in Verhandlungen mit dem Bund die finanziellen Verluste aus der geplanten Rückübertragung von Umsatzsteueranteilen der Länder an diesen (zur Senkung des Solidaritätszuschlages) und aus dem Wegfall der Vermögensteuer ab 1997 (infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 22.06.1995) auszugleichen. Während sie bei der Gewerbekapitalsteuer und der Grundgesetzänderung Kompromissbereitschaft signalisierten, weigerten sie sich, ganz auf die für sie viel wesentlicheren Einnahmen aus der Vermögensteuer und auf die Umsatzsteueranteile zu verzichten (Lauer 1995; Badische Zeitung 13.05.1996). Die Schwelle zur kooperativen Phase wurde also nicht durch die Auflösung oder zumindest in Aussicht stehende Lösung der Konflikte überwunden, sondern infolge der Aussicht auf die mögliche Erlangung eines nichtsubstanziellen Nutzens. 4.5 Zwischenbilanz Wie die Initiatoren der Verfassungsänderungen verfolgten auch die anderen involvierten Akteure in der untersuchten Phase eine jeweils sehr auf sich selbst bezogene Strategie der Gewinnmaximierung und der kognitiven Auseinandersetzung mit der Initiative. Vorrangig ging es ihnen darum, eigene Themen und politisch-institutionelle Präferenzen zu platzieren.
4.5 Zwischenbilanz
203
Die substanzielle, inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative kam erst langsam in Gang. Die Akteure antizipierten in dieser Phase nicht erkennbar das Verhalten der anderen und waren nicht vordergründig auf einen Wettbewerb der Ideen oder auf die Bildung von Interessenkoalitionen zur besseren Zielerreichung bedacht. Angesichts dieses Verhaltens überlappten sich die Akzeptanzzonen allenfalls zufällig aufgrund politisch-programmatischer Nähe zueinander in einer oder mehreren Entscheidungsdimensionen, die in der Positionierung dominierten, beispielsweise in Griechenland und Irland. Umgekehrt führte die politisch-programmatische Nähe in einer oder mehreren von der Verfassungsänderung betroffenen Problemdimensionen nicht automatisch zu einer ähnlichen Grundsatzentscheidung für oder gegen das Projekt des Initiators. Daher lässt sich weiterhin von einer Aushandlungsphase sprechen, die durch eine individualistische Interaktionsorientierung gekennzeichnet war.276 Im Folgenden wird argumentiert, dass es unter diesen Bedingungen verkürzt wäre, den Verlauf und das Ende der individualistischen Phase allein durch Machtkonstellationen und Parteienwettbewerb zu erklären. Zwar beeinflussen beide die Voraussetzungen zur Überwindung der Schwelle zur nächsten Phase, doch der Parteienwettbewerb ist eine zu diffuse Variable, um den Verbleib bestimmter Aushandlungsinhalte zu erklären. Die Positionen der Akteure bildeten sich nämlich in vielen Punkten erst während der Phase heraus, wobei sich ihre substanziellen und nichtsubstanziellen Kalküle wandelten. Um diese Argumentation zu unterfüttern und den weitergehenden Interessen der Studie gerechtzuwerden, werden die Vergleichsbefunde gemäß den in den Kapiteln 2.2 und 2.1 eingeführten Kriterien in der Reihenfolge Akteur, Interaktion, Ergebnis resümiert. Wie im Fazit zum vorangegangenen Kapitel werden am Ende die Effekte der Phasenmerkmale für die Rationalität der Kollektiventscheidung und Verfahrensaspekte (die Einhaltung des formalen Weges) bewertet. Alle Fallanalysen vermittelten den Eindruck, dass die Mitspieler des Initiators kognitiv damit überfordert waren, rasch die Komplexität der Entscheidungssituation zugunsten einer kohärenten Position zu verarbeiten. Dies war aber möglicherweise weniger durch ein schwaches Potenzial als durch ihr offensichtlich geringes Interesse an einer konstruktiven „Problemlösung“ sowie durch Risikoaversion begründet.277 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Akteure hinsichtlich vieler von der Initiative betroffener Problemdimensionen oder für die konkrete Interdependenzkonstellation unter den gegebenen Rahmenbedingungenjeweils noch gar keine durchdachten inhaltlichen Präferenzen ausgebildet hatten, obwohl keine der hier untersuchten verfassungspolitischen Initiativen zunächst „exotisch“ schien. Außerdem taten sich, wie die Tabelle belegt, Präferenzkonflikte auf, es mussten nichtintendierte Nebeneffekte von Instrumentarien zur Erreichung bestimmter Ziele berücksichtigt werden, es wurden neue Instrumente zur Erreichung von Zielen wahrgenommen oder neue Einwände gegen Instrumente zur Erreichung von Zielen, darunter Urteile von Gerichten. Dies erzwang aus rationalistischer Sicht bei allen Beteiligten einen Bedarf an politischinstitutionellen Neuüberlegungen. (Tab. 31). 276 Die hier vorgenommene Erklärung weicht in einigen wichtigen Punkten von spieltheoretischen Ansätzen und dem Modell des unkooperativen Spiels ab, so hinsichtlich des Stellenwerts der kognitiven Durchdringung der Initiative und der nicht erkennbaren oder schwach ausgeprägten Antizipationsbestrebungen. Daher wird auch eine eigene Terminologie genutzt. Zur Erinnerung: Alle Phasenbezeichnungen in diesem Buch heben auf die Charakterisierung des Akteurverhaltens ab, das, so die Erwartung, zu bestimmten verfassungspolitischen Effekten führt, nicht aber auf die Charakterisierung der Effekte selbst oder der Formalia. 277 Auch die Vermeidung von Kosten ist ein rationaler Grund für Einwände, aber Verhalten und Argumente der Akteure deuten nicht darauf hin, dass diese umfassende Kosten-Nutzen-Analysen angestellt hatten.
204
4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
Tabelle 31: Beispiele für rational notwendige politisch-institutionelle Neuüberlegungen Auslöser keine inhaltlichen Präferenzen
Präferenzkonflikte
unintendierte oder unberücksichtigte Effekte früherer Entscheidungen
neuere Instrumente zur Zielerreichung
neuere Einwände gegen erwogene oder alte Instrumente zur Zielerreichung
Beispiele K: Forderung einer Ethnie nach einem eigenen Territorium G: Verwaltungsstruktur, Stellung der Kommunen, Justizsystem I: maximale Repräsentation nationaler Interessen in einer erweiterten EU D: Beteiligung der Kommunen am Umsatzsteueraufkommen K: Multikulturalität vs. nationale Integrität G: Trennung von Politik und Wirtschaft vs. etatistische Mehrheitsdemokratie I: EU-Vertiefung vs. EU-Erweiterung vs. nationale Neutralität D: Gemeindefinanzautonomie vs. Standortpolitik vs. Strukturpolitik in den neuen Bundesländern K: Wachstum von Selbstregierungsbestrebungen infolge Förderpolitiken G: Herausbildung gewinnorientierter Bildungsträger nach Verbot privater Hochschulen I: EU-Regelwerk erlaubt die Etablierung der Schnellen Eingreiftruppe und die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik D: Gewerbesteuer behindert in den neuen Bundesländern die Entstehung neuer bzw. Sanierung kapitalschwacher Unternehmen K: Konstitutionalisierung eines Selbstregierungsrechts der Ureinwohner oder Selbstregierungsvereinbarungen unterhalb der Verfassungsebene G: symbolische Modernisierung und „Europäisierung“, um den Beitritt zur Europäischen Währungsunion trotz ungünstiger Voraussetzungen zu erwirken I: Mitsprache des Parlaments vor Regierungsentscheidungen auf EU-Ebene D: Einführung einer Ökosteuer K: Mitbestimmungsbestrebungen der Provinzen hemmen die Konstitutionalisierung eines Selbstregierungsrechts der Ureinwohner G: Beitritt zur EWU erfordert politisch unabhängige Zentralbank I: Gerichtsurteil zur Referendumskommission beschränkt deren Handlungskorridor D: Ausnahmeregelungen in den neuen Bundesländern von der EU nicht mehr akzeptiert, Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer beeinflusst die Wahrnehmung steuerpolitischer Handlungsspielräume
Dass in Tab. 31 jeweils nur Beispiele angeführt werden, verdeutlicht, dass die Komplexität und Dynamik der Entscheidungsmaterien weitaus größer war als in der Literatur zur Verfassungspolitik oft reflektiert und die Akteure kognitiv und programmatisch unter Stress setzte. Potenzielle individuelle Wahrnehmungsrestriktionen hinsichtlich der Komplexität wurden dadurch aufgebrochen, dass in der Summe der Akteure in allen Fällen faktisch alle Parameter rationalen Handelns (zumeist als Konfliktpunkte) angesprochen wurden. Dadurch wurden zugleich mögliche Gewissheiten der Akteure hinsichtlich ihrer eigenen Positionierung zur Initiative bzw. des möglichen Nutzens aus ihr latent erschüttert. So kamen trotz der jeweils minimalistischen, die Offenlegung möglicher Konfliktpunkte vermeidenden Formulierung der verfassungspolitischen Initiativen die nicht wenigen von den verfassungspolitischen Initiativen berührten Problemdimensionen in allen Fällen zur Sprache. Überdies wurden auch die zugrunde gelegten Informationen, die instrumentelle Güte der angestrebten politisch-institutionellen Neuerungen und die organisatorisch-finanzielle Fragen angesprochen, wenngleich oft in knapper Form – also in der Summe alle für eine rationale Entscheidung bedeutungsvollen Punkte. Bei der systematischen Erfassung der Konfliktpunkte in Tab. 32 zeigt sich für diese erste Phase keine Varianz der Fälle.278 278 Trotz fehlender Varianz ist die Tabelle abgedruckt, um die Systematik zu den nachfolgenden Kapitelfaziten (Kapitel 5.5, 6.5) zu wahren und die Befunde zu den jeweiligen Konfliktmaterien in den Phasen visuell zu unterstützen.
205
4.5 Zwischenbilanz
Tabelle 32: Bezug divergierender Positionen der Akteure in der individualistischen Phase Ziel der verfassungspolitischen Maßnahme an sich
K G I D
X X X X
Messung, Bewertung der betreffenden Sachverhalte X X X X
Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung, Berücksichtigung von Interdependenzen X X X X
(Unterlassene) Verknüpfung mit weiteren institutionellen Änderungen X X X X
Verteilung von Gütern, Kompetenzen u.ä.
X X X X
Zusammengenommen mit der Komplexität der jeweiligen Vorhaben schuf die Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilungskriterien und Zielhierarchie gleichzeitig ein Rationalitätsproblem: Eine rationale Wahl kann nur aus bedeutungsvollen Alternativen erfolgen, die also miteinander vergleichbar und ähnlich bewertbar sind (Shepsle/Bonchek 1997: 29; Landwehr 2005: 46). Selbst bei vollständigem Informationsfluss und möglicher Beschränkung auf den Kern der politisch-programmatischen Entscheidung (also ohne Berücksichtigung der Umsetzung) ließ sich aber beispielsweise im deutschen Falle keine objektive Gewichtung zweier Dimensionen, wie etwa steuerpolitischer Präferenzen (Dimension 1) gegenüber Kommunalfinanzmodellen (Dimension 2), vornehmen. Die Natur von Verfassungen als hochaggregierte soziale Konstrukte sorgte aber dafür, dass in keinem Falle nur zwei Entscheidungsdimensionen vorhanden waren, sondern jeweils sechs bis sieben Problemkomplexe betroffen waren und als Entscheidungsdimensionen ins Spiel kamen. Dass in fast allen Fällen von der Initiative Betroffene schon in dieser frühen Phase Probleme ansprachen, die der Abwägung in abstrakten politisch-programmatischen Zielkonflikten eigentlich nachrangig sind (konkrete Formulierung, Umsetzung, Verteilungsfragen) oder die Bewertungsgrundlagen der Kosten-Nutzen-Rechnungen anzweifelten, vereinfachte die Überlegungen nicht. Die Äußerungen und das Handeln der Kollektivakteure sowie ihre oft nicht sehr starke Kohäsion deuteten in der individualistischen Phase darauf hin, dass es ihnen schwer fiel, sich dort zu positionieren, wo bewährte Deutungsansätze nicht zur Verfügung standen, dass es ihnen außerdem schwerfiel, die durch das konkrete Vorhaben berührte UrsacheWirkungs-Konstellation zu bewerten sowie sich bei Präferenzkonflikten zu entscheiden. In allen Fällen brachten sie viele Einwände gegen die hinter der Verfassungsänderung stehenden politischen Pläne vor, ohne dass diese jeweils sehr tiefgründig oder konzentriert auf den eigentlichen Kern der Verfassungsinitiative vorgetragen wurden oder stabil blieben. Sie äußerten sich infolgedessen zumeist unklar, bedienten sich nicht in sich geschlossener Argumentationen, sondern einer Summe unterschiedlicher Einzelüberlegungen. Ebenso oberflächlich war zumeist der Verweis auf Handlungsalternativen.279 Es wäre daher, wie bereits erwähnt, zu verkürzt, das Verhalten in dieser Phase allein auf Machtkonstellationen und Parteienwettbewerb (um die Durchsetzung von Politiken und Besetzung von Ämtern) zurückzuführen, sondern es war auch und stark durch Positionie279 Die Fallstudien zeigen sehr gut, dass die Akteure sich eben nicht nur und nicht vornehmlich unklar positionierten, um sich möglichst viele Optionen offenzuhalten (außer G), sondern weil sie tatsächlich keine spezifische Positionen hatten und diese unklare Positionierung für sie keinen unmittelbar sichtbaren Nachteil mit sich brachte. Denn bei Punkten, zu denen es „Positionsroutinen“ gab, bezogen sie schon Stellung (z.B. angebots- und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik in Deutschland oder Neutralitätsproblematik in Irland).
206
4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
rungsprobleme gekennzeichnet. Richtig ist aber, dass diese Positionierungsprobleme den Rückgriff auf eine Verhaltensroutine der „normalen“ Politik förderte, nämlich sich voneinander abzusetzen und nicht, gemeinsam mit einem politischen Kontrahenten oder einer unterstellten Einheit, die kostenintensive Forderungen vortrug (K), eine konstruktive Lösung des vom Initiator gesehenen Problems zu entwerfen.280 Das Positionierungsproblem und Kohäsionsdefizit wurde organisatorisch dadurch „gelöst“ bzw. ausgeglichen, dass das Verhalten der Kollektivakteure als solche in dieser Phase letztlich durch die Spitzenpolitiker bestimmt wurde, darunter teils die Spitzen der Fachund Regionalpolitik (K, G, D). Standen den Akteuren bzw. in der Rückfallposition den Führungsspitzen bewährte Positionen zu bestimmten, von den verfassungspolitischen Initiativen betroffenen Problemdimensionen zur Verfügung, dann griffen sie in der ersten Reaktion auf die Initiative erkennbar auf diese zurück. Insofern schien bei ihnen die intrinsische, programmatisch-ideelle Motivation durchaus handlungsleitend zu sein (wo sie denn klar war), während sich die von der Initiative perspektivisch Betroffenen von Anfang an besonders für die Umsetzung und Verteilungsfragen interessierten. Für die normative Bewertung der Verfassungspolitik insgesamt ist aber relevant, dass sich die ideellprogrammatische Motivlage der politischen Akteure zumeist nicht auf verfassungspolitische Grundfragen bezog, sondern – wie bei den Initiatoren – auf die hinter den verfassungspolitischen Initiativen stehenden konkreten Vorhaben. Immerhin war trotz des individualistischen, auf sich selbst bezogenen Verhaltens der Akteure auch eine Zustimmung zu einer verfassungspolitisch relevanten Initiative möglich, sofern sich die politisch-programmatischen Überlappungen in einer oder mehreren als zentral erachteten Entscheidungsdimension(en) zufällig überlappten, etwa in Irland (Fine Gael). Das Verhalten Labours im selben Fall zum Ende der individualistischen Phase hin zeigt aber, dass angesichts des konkurrierenden Interesses an Responsivität und Profilierung eine Zustimmung – zumindest nach außen – keineswegs gewiss ist. Policy-Kohärenz der Akteure (bzw. ihre Nähe im Wettbewerb um die Durchsetzung politischer Inhalte) ist daher eine angesichts der Mehrdimensionalität typischer verfassungspolitischer Entscheidungssituationen in etablierten Demokratien problematisch nachweisbare und allein nicht hinreichende Variable zur Erklärung der Fortsetzung der Aushandlungen. Bei einer uneindeutigen Nutzenwahrnehmung tendierten die Akteure bzw. ihre Spitzen zunächst zur Abwehr der Initiative bzw. zur Beibehaltung des Status quo, was einer Grundannahme rationalen Handelns entspricht. Allerdings erlangten kurzfristige nichtsubstanzielle Nutzenkalküle im Zusammenhang mit der aktuellen Tagespolitik ebenfalls rasch an Bedeutung. Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass uneindeutige Bewertungsmaßstäbe die Akteure bereits in der Erstpositionierung anfällig für die Verknüpfung initiativbezogener Einwände und Forderungen mit substanziell oder prozedural deutlicher nützlich erscheinenden anderen Vorhaben machten, auch wenn das zur Debatte stehende Kernanliegen angesichts uneindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und Nutzen aus Sicht der Mitspieler vorerst mit Risiken behaftet sein musste. Dass die Akteure dabei jeweils kein „neues Fass öffneten“, sondern parallele Vorhaben aufgriffen oder Vorhaben, die gerade im Gespräch waren (z.B. Ökosteuer in D), ist möglicherweise einer beschränkten Wahrnehmung geschuldet, in der aktuelle Ereignisse vergangene Ziele und Forderungen und abstrakte Kalkulationen überlagern. 280 Problemlösung meint im Folgenden immer, dass ein Problem behoben werden soll, das der Initiator als solches formuliert. Ob es sich um ein tatsächliches Problem handelt, soll hier nicht diskutiert werden.
4.5 Zwischenbilanz
207
Die politisch-programmatische Nähe sowie die Betroffenheit von bzw. Kenntnis der Hintergründe der verfassungspolitischen Initiative bei den Akteuren282 förderten eine eher langfristig orientierte, intrinsisch-substanzielle Motivation an dem Verfahren bzw. den die Akteure interessierenden Entscheidungsdimensionen (ohne sie zu erzwingen), während die Aussicht auf Prozessnutzen oder Tauschgeschäfte die tendenziell kurzfristig angelegte, nichtsubstanzielle Motivation stärkten. Bei den verhandlungsschwachen kleinen Akteuren verbanden sich beide Motivationsformen bisweilen unmittelbar, wenn die ideellprogrammatische Abweichung vom Initiator überbetont wurde, um das eigene Profil zu stärken.283 Wie Tab. 33 zeigt, war jedoch bei keinem wichtigen Akteur neben dem Initiator die sichtbare Summe beider Motivationen besonders hoch; die höchste Motivation zeigten von allen Fällen nur zwei Kleinstparteien, die die konkrete Initiative komplett ablehnten (I). Tabelle 33: Verfassungspolitische Motivation der Nichtinitiatoren Fall Motivation A1 Motivation Dritter (A2-An) K gering, aber zunehmend (Bundesregierung) gering G mittel (ND) mittel, aber abnehmend I gering (Bevölkerung)* mittel (FG, Lab), stark (Grüne, SF) D gering, aber zunehmend (SPD, SPD-geführte Länder) mittel (Grüne, PDS) * gemessen an der Wahlbeteiligung im Nizza-Referendum 2001. A1 = Akteur mit der (nächst-)größten Verhandlungsmacht neben dem Initiatior
Die vorgangsbezogenen Kontakte zwischen den Akteuren erfolgten in der individualistischen Phase zunächst punktuell, es gab also keinen andauernden Gesprächsprozess. Ob dieser punktuelle Kontakt trotz fehlender Kooperationsbereitschaft zu einem sequenziellen Kontakt, also einer Abfolge punktueller Kontakte wurde,284 hing zunächst weniger von der Bereitschaft der Nichtinitiatoren ab, nicht aus dem Aushandlungsprozess auszusteigen, sondern mehr von der Fähigkeit des Initiators, eine Art Konfliktschlichtungsverfahren zu institutionalisieren, z.B. durch Ausschussüberweisung (G, D) oder Kontakte zwischen (Land-) Verhandlungsteams (K). Dies war aber noch keine Erfolgsgarantie, da die Nichtinitiatoren keine oder allenfalls bindungsschwache Handlungsübereinkünfte akzeptierten. Daher verblieben die Interaktionen in der individualistischen Phase in den Interaktionsmustern der „normalen“ Politik und verliefen nicht über einen Sonderkanal „Verfassungspolitik“.285 In allen Fällen gab es eine gewisse Routine in der Vorgehensweise. Explizit hervorzuheben ist, 282
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Dies ließ sich besonders gut im kanadischen (ITC), griechischen (bei Themen, die die Abgeordneten betrafen) und irischen Fall (Fine Gael als eine der beiden traditionellen Regierungsparteien mit eigener europapolitischer Erfahrung) beobachten. Die Bedeutung von Nebennutzenerwägungen angesichts uneindeutiger substanzieller Kosten-NutzenErwägungen schlug sich beispielsweise im unterschiedlichen Verhalten der drei kleinen Parteien im griechischen Parlament nieder, die eigentlich keine große Distanz untereinander im politisch-programmatischen Spektrum aufwiesen. Sequenziell bezieht sich hier nicht auf die schrittweise Einbringung und Auswahl von policy-Vorschlägen oder die Wirkung von Rückkopplungseffekten (Pierson 2004: 58 ff.; Trampusch 2006), sondern auf das taktische „Hin und her“ von zwei Akteur(grupp)en. Es charakterisiert die Interaktion in Abgrenzung von der nachfolgenden kooperativen Phase, in der diese Abfolge von Positionierungen mit teils großen zeitlichen Lücken nicht mehr eindeutig beobachtbar ist, sondern es zu kontinuierlichen Gesprächen kommt. Das gilt auch im griechischen Fallbeispiel, wo der Revisionsausschuss im Grunde ein normaler Parlamentsausschuss war, und im kanadischen, wo die Regierung Landverhandlungen mit unterschiedlichen Ureinwohnergruppen führte und generell Regierungsverhandlungen im Vorfeld von formalen Verfassungsänderungsverfahren typisch sind. Zudem verwies die Bundesregierung die ITC an die NWT-Regierung und lenkte die Konfliktaustragung damit in die Bahnen der „normalen“ Territorialpolitik.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
dass die Muster und Themen der normalen Politik die an ihr orientierten substanziellen und nichtsubstanziellen Nutzenerwägungen der Akteure und damit den Verlauf der Aushandlungen viel stärker beeinflussten als Medien,285 Wahlen286 oder weiterer Kontext. Im Verlauf der punktuellen Kontakte zwischen den Akteuren ließ sich recht schnell ein klarer Trend zur Komplexitätsreduktion erkennen,287 der also der ersten extensiven Ansammlung von Einwänden mit dem Effekt eines kollektiven „Brainstormings“ entgegenlief. Begründet war dieser Trend durch die inhaltliche Komplexitätsaversion des Initiators und sein Interesse an niedrigen Entscheidungskosten, das eine soziale Komplexitätsreduktion bewirkte. In sozialer Hinsicht verlief die Komplexitätsreduktion folgendermaßen: Die Akteure neben dem Initiator besaßen zunächst kein Interesse daran, die im Hinblick auf die Erfolgsaussicht des Vorhabens unklare Situation aufzulösen oder Deutungshierarchien in Form geschlossener Argumentationen zu etablieren: Sie standen ja nicht unter Handlungsdruck. Der Initiator konnte es sich als einziger Akteur nicht leisten, die Gemengelage zu unübersichtlich und zu kompliziert zu finden, um den Nutzen einer Änderung des Status quo zu erkennen, denn er wollte sein Steuerungsziel erreichen bzw. die Initiative durchbringen. In allen Fällen konzentrierte er sich nun auf denjenigen Akteur mit der (nächst-) größten Verhandlungsmacht bzw. darauf, dessen Einwände zu entkräften.288 Die mit geringerer Verhandlungsmacht ausgestatteten politischen Akteure ignorierte er, selbst wenn sie aufgrund moderater Positionen als potenziell kompromissförderliche Scharnierakteure infrage kamen. In dieser Hinsicht wurde also nicht strategisch antizipiert. Aufgrund des entscheidungsökonomisch (im Sinne verfahrensökonomisch) begründbaren Verhaltens der verfassungspolitischen Initiatoren waren Dritte – abgesehen von ihrem Beitrag zur Sammlung der Argumente für und gegen die verfassungspolitische Initiative – eher unbedeutend für den Fortgang der Aushandlungen. Beobachtbar war in allen vier Fällen, dass sich diese Dritten zunehmend entweder dem Initiator oder dem Akteur mit der (nächst-)größeren Verhandlungsmacht zuordneten. Je länger der Prozess anhielt, desto stärker orientierten sie sich in ihrer Positionierung an den Argumentationen der beiden Hauptakteure und also weniger an möglichen ideologischen Maxima.289 Neben dem heuris-
285 Dies mag auch daran liegen, dass in allen vier Fällen die Verfassungsänderungsinitiativen als solche in der Medienberichterstattung keine nennenswerte Rolle spielten (auch in Irland trotz des vorangegangenen ersten Nizza-Referendums). Alle Akteure waren in ähnlicher Weise von den medialen Bedingungen (Agendasetzung, priming, framing) beeinflusst und differierten trotzdem in ihren Themensetzungen und Argumentationen. 286 Nur im grieschischen Fallbeispiel wurden Teile der Verfassungsänderung in einem Wahlkampf thematisiert, aber ohne inhaltlichen Einfluss und wegen ihrer Nachrangigkeit ohne deutlichen Einfluss auf die politische Kräftekonstellation nach den Wahlen. 287 Im irischen Fallbeispiel lässt sich diese Abfolge nicht so eindeutig nachweisen, weil die individualistische Phase aufgrund des von der Ratifizierungsfrist ausgehenden Handlungsdrucks auf die Regierung weitaus kürzer war als in den anderen Fällen. 288 Im kanadischen Fallbeispiel wandte sich die ITC an die Bundesregierung und erst nach deren faktischen Verweis an die NWT-Regierung (vorübergehend) an diese. Im griechischen setzte sich die PASOK-Spitze mit der ND auseinander, im irischen suchte die Regierung den Dialog mit den positiv gestimmten und den passiven Bevölkerungsteilen, im deutschen konzentrierte sich die Bundesregierung auf die SPD-Fraktion und die SPD-geführten Länder. 289 Theoretisch könnte sich beides überlappen, wenn der Akteur mit der (nächst-)größeren Verhandlungsmacht neben dem Initiator eine ideologisch basierte Gegenposition einnimmt. In den untersuchten Fällen war dies aber nicht der Fall, sondern Zustimmung oder Ablehnung basierten auf der geschilderten Summe unterschiedlichster Argumente für oder gegen die Initiative.
4.5 Zwischenbilanz
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tischen Nutzen der Komplexitätsreduktion erbrachte dieses Verhalten den Nutzen, die Kosten-Nutzen-Balance des eigenen Handelns an das Verhalten des Initiators anzupassen. Ob der Akteur oder die Akteurgruppe, die sich als Gegenspieler des verfassungspolitischen Initiators herauskristallisierte, auf derselben oder einer anderen Entscheidungsebene angesiedelt war, spielte keine Rolle: Die Initiatoren richteten sich eher nach den wahrgenommenen Machtverhältnissen als nach institutionellen Feinvorgaben. So waren zwar die mit formalen Entscheidungsrechten ausgestatteten Akteure in Kanada vor allem im Parlament zu suchen, doch spielten sie im sequenziellen „Schlagabtausch“ mit dem Initiator keine Rolle. Ebenso meldeten sich in Deutschland die typischen vielen Akteure mit Einwänden, Zweifeln und eigenen Forderungen zu Wort, ordneten sich aber einer der beiden Seiten zu. Dies bestätigt eine vielfach getätigte Beobachtung menschlichen Handelns, die als „dyadischer Instinkt“ bezeichnet wurde, nämlich die Neigung, soziale Komplexität durch Einteilung der Akteure in zwei Gruppen zu reduzieren (Wilson 1998: 206; Esser 2001: 265). Für die Erklärung der verfassungspolitischen Aushandlungen ist dabei besonders relevant, wonach sich die beiden Akteurgruppen „konstituierten“. Dies waren, wie erwähnt, nicht inhaltlich sich gegenüberstehende, zumal in sich gefestigte Positionen, sondern den Initiator bzw. initiatorenaffine Akteure auf der einen sowie Akteure um den verhandlungsmächtigsten Akteur auf der anderen Seite. Sofern der Initiator auch der verhandlungsmächtigste Akteur ist, steht ihm der nächstverhandlungsmächtige Akteur bzw. eine Gruppe um diesen gegenüber. Inhaltlich manifestierte sich die Komplexitätsreduktion darin, dass die beiden sich gegenüberstehenden Akteure bzw. Akteurkoalitionen jeweils bestimmte Problemdimensionen fokussierten und andere ausblendeten. Referenz war dabei immer die Vorlage oder Intention des verfassungspolitischen Initiators, die gegebenenfalls angegriffen oder punktuell mit dem Vorschlag von Koppel-, Paket- oder Tauschgeschäften verknüpft wurde. Konkrete Alternativen zur Erreichung des vom Initiator angestrebten Ziels wurden hingegen nach der allerersten Reaktion auf die Initiative nur noch selten vorgeschlagen oder gar konzeptionell vertieft, so dass die ersten Einwürfe potenziell wegweisend wurden. Trotz der Entscheidungskomplexität und des Tableaus unterschiedlichster Argumente verengte sich die individuelle Positionierung letztlich auf ein durch die Spitzen der jeweiligen Akteure bestimmtes Ja oder Nein zur Initiative, dem dann die passenden Argumente nachgeordnet wurden.290 Auf diese Verengung der Aushandlungen reagierten ihrerseits erneut die weniger verhandlungsmächtigen Akteure mit Positionsanpassungen oder Motivationsverschiebungen. Dies wurde beispielsweise im griechischen Fall sehr deutlich. Dieses Verhalten entsprach der typischen menschlichen Neigung zur binären Codierung (Esser 2001: 264 f.), hier zunächst in der einfachsten Form eines Ja oder Nein zur Initiative. Nach einer je nach Bedeutung der Initiative (oder mit ihr verkoppelter Verfahren) für die Akteure teils sehr langen Zeit individueller Positionsbestimmung entfalteten Verhandlungsmacht und heuristisch bestimmte individuelle Nutzenkalküle also doch ihre gemeinsame Wirkung auf den Fortgang der Aushandlungen. Damit bestätigte sich die grundsätzliche Plausibilität der eingangs formulierten Erwartungen (Kapitel 2.1: Tab. 5) an die Bereitschaft der Akteure zu Gesprächen – bei den geschilderten Zweifeln an der Qualität der Kosten- Nutzen-Kalkulationen. Aufgrund uneindeutiger Nutzenerwartungen oder eines 290 Heuristisch war sie deshalb, weil die Entscheidungen recht oberflächlich begründet blieben, Komplexität und Interdependenz zumindest in den Außenäußerungen nicht umfassend thematisiert und die Schritte und Handlungen der Mitspieler weiterhin kaum sichtbar antizipiert wurden.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
nichtsubstanziellen Kalküls (Profilierung) verhielten sich einige Nichtinitiatoren zeitweise oder länger uneindeutig und bestätigten insofern zunächst nicht klar die Prognosen. Dies waren die NWT-Regierung (Fall K), DIKKI (Fall G), im irischen Fallbeispiel die Bürger und Labour291 sowie im deutschen die SPD-geführten Bundesländer und die kommunalen Spitzenverbände. Diese Akteure waren in der individualistischen Phase tendenziell statusquo-orientiert, also latent gegen die verfassungspolitische Initiative (Abb. 16). Abbildung 16: Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren am Ende der individualistischen Phase
groß
K: Bundesregierung G: ND (teils) I: D: SPD Profilierung durch Verweigerung der Kooperation
K: G: ND (teils) I: Fine Gael D: große Bereitschaft zur Kooperaton/ inhaltlichem Einlenken
klein
Verhandlungsmacht
substanzielle Gewinnaussicht niedrig hoch Kooperation nur bei deutlicher Veränderung große Bereitschaft zur substanziellen der Vorlage oder hohem nichtsubstanziellem Kooperation, geringe Bereitschaft zum Gewinn Einlenken
K: Dene/Métis K: G: KKE G: Linksallianz I: Grüne, SF, Sozialisten I: D: PDS D: Bündnis 90/Grüne substanzielle Gewinnaussicht: Nähe zur eigenen Programmatik, überlappende Präferenzen nichtsubstanzielle Gewinnaussicht: Wahrscheinlichkeit eines Tausch-, Koppelgeschäfts oder Prozessnutzens
Warum aber entwickelte sich trotz des letztlich doch auf die eigene Gewinnmaximierung ausgerichteten individualistischen Verhaltens der Akteure überhaupt ein – wenngleich vorerst eher formaler und nicht kooperativer – Aushandlungsprozess? Warum führte die ablehnende Haltung des zweiten wichtigen Akteurs gegenüber der Initiative nicht zum Gesprächsabbruch? Besonders in den Fällen in Kanada und Irland,292 wo das Verhältnis zwischen den zentralen Kollektivakteuren asymmetrisch und der Aushandlungsprozess nicht formalisiert war, scheint dies überraschend. Immerhin waren hier die Nichteintritts- bzw. Austrittskosten nicht sehr hoch. Aber auch in Deutschland, wo die Regierungsseite dank eigener Stimmenmehrheit eine Ausschussüberweisung durchsetzen konnte, war dies keine Garantie für eine faktische Beibehaltung der Gespräche, wie viele in den Ausschüssen „verrottenden“ Gesetzentwürfe belegen. Trotz des größeren Formalisierungsgrades des Verfahrens waren auch in Griechenland und Deutschland die Akteure nicht an Vereinbarungen gebunden. Die Aufrechterhaltung der Gespräche lässt sich damit begründen, dass in drei Fällen (G, I, D) der Mitspieler des Initiators293 mit der (nächst-)größten Verhandlungsmacht in mindestens einer Entscheidungsdimension einen substanziellen Nutzen erwartete – aber nur, wenn man darunter auch die Durchsetzung eines vielleicht nicht angestrebten, aber 291 Labour war zunächst dem Quadranten rechts unten zuzuordnen, doch veränderte die Partei nach dem gescheiterten erste Nizza-Referendum 2001 ihre Position. 292 Es gab ein formales Verfahren und der Nizza-Vertrag selbst setzte eine Ratifizierungsfrist fest, aber die irische Regierung hatte noch keine Verfassungsänderungsvorlage formal eingebracht. 293 In Irland ist der Anteil nichtzustimmender Teilnehmer am Referendum 2001 gemeint.
4.5 Zwischenbilanz
211
akzeptablen politisch-institutionellen Outputs fasst. Weil aber dieser Nutzen schwer kalkulierbar und oft eben nicht eindeutig war, lag in der Spekulation auf einen nichtsubstanziellen, also nicht inhaltlich auf die konkrete verfassungspolitische Initiative bezogenen, Gewinn immer ein wichtiges zusätzliches Motiv für die Beibehaltung oder Aufnahme von Gesprächen – im vierten Fall (K) war es sogar das dominante Motiv.294 Solche bereits in den Erstreaktionen angedeuteten sachfremden Überlegungen wurden im Verlauf der individualistischen Phase gezielt weiterverfolgt, d.h. die Verhandlungspositionen waren während der Phase nicht statisch-stabil, sondern dynamisch. Die Initiatoren selbst wichen in allen Fällen (also unabhängig von ihrer Verhandlungsmacht) kaum und allenfalls im Verlauf der Interaktionen von ihren Initiativen ab. Das geschilderte Engagement dabei, eine Zustimmung zur eigenen Initiative zu mobilisieren, ging also mit einer gewissen „Dickköpfigkeit“ in der Sache selbst einher. Erst nach längerer Taxation der oft inkohärenten Position des (nächst-)verhandlungsmächtigsten Mitspielers zeigte der Initiator eine grundsätzliche Bereitschaft zum Einlenken. Die Form der Abweichung von der Ursprungsinitiative zum Ende der individualistischen Phase bestätigte einerseits die in Kapitel 2.1 formulierten Erwartungen an rationales Handeln bei unterschiedlicher Ausstattung mit Verhandlungsmacht, wie die einfachen Kreuze in der nachstehenden Tab. 34 anzeigen. Andererseits müssen die Ausgangsüberlegungen nach der empirischen Untersuchung ergänzt werden, da die fett markierten Verhaltensweisen den Erwartungen widersprachen. Mit den Erwartungen stimmte überein, dass PASOK (G, große Verhandlungsmacht) auf die inhaltliche und argumentative Durchsetzungsfähigkeit setzte, ergänzt um vage, interpretationsflexible Formulierungen, da sie die Kräftekonstellation nach den bevorstehenden Wahlen nicht kannte. Die irische Regierung (mittlere Verhandlungsmacht) setzte ebenfalls erwartungskonform auf symbolisches Handeln und deutete ihre Bereitschaft zu inhaltlichen Kompromissen an. Ähnliches galt für die deutsche Bundesregierung (mittlere Verhandlungsmacht), die Kompromissbereitschaft signalisierte, sich jedoch ebenfalls nicht festlegte. Ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Ökosteuer-Tauschgeschäft hatte die FDP innerhalb der Koalition frühzeitig einen Riegel vorgeschoben. Die ITC (K, geringe Verhandlungsmacht) verhielt sich ihrerseits rational, indem sie auf ein Koppelgeschäft setzte und ihre Forderung mit dem Fortgang der Landverhandlungen mit der kanadischen Bundesregierung verknüpfte. In allen Fällen widersprach aber der Prognose, dass die Initiatoren unabhängig von der Ausprägung ihrer Verhandlungsmacht versuchten, die anderen Akteure durch Argumente zu überzeugen, sowie dass sie sich die Mühe machten, ihre Positionen inhaltlich zu begründen. Diese Aussage ist zum einen normativ bedeutsam: Akteure sind nicht reine Nutzenmaximierer, sondern auch daran interessiert (und sei es, weil sie sich dazu gezwungen sehen), ihr Handeln inhaltlich zu legitimieren. Zum anderen war dies für den Fortgang der Aushandlungen wichtig, weil sich die Präferenzen und Positionen der Akteure eben nicht klar und absteckbar zeigten, sondern angesichts der Komplexität der Materien und der uneindeutigen Bewertungsgrundlagen durchaus fluide waren. Dies minderte die Wahrscheinlichkeit ideologischer „Barrikadenkämpfe“ und steigerte die Wahrscheinlichkeit inhaltli294 In Kanada hatten die Bundesregierungen keinerlei substanzielles Interesse an der Territorialforderung der ITC und blockten (trotz veränderter politischer Kultur und trotz Selbstbindung an das Ergebnis eines Referendums auf NWT-Ebene) alle entsprechenden Bestrebungen über Jahre ab. Sie waren jedoch am Abschluss paralleler Verhandlungen interessiert, den die ITC mit ihrer Territorialforderung verkoppelte.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
cher Anknüpfungspunkte in mindestens einer Entscheidungsdimension, damit die Möglichkeit, dass vorgebrachte Argumente für die Angemessenheit des Vorhabens von den anderen Akteuren ernsthaft zur Kenntnis genommen und später aufgegriffen wurden. Die Bewertungsuneindeutigkeit und Mehrdimensionalität sind also Einigungserschwernisse, wenn die Akteure ein besonderes Interesse an Einwänden und Kritik haben, sie können aber auch einigungserleichternd wirken. Tabelle 34: Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der individualistischen Phase relative Verhandlungsmacht von I*
rational anzustrebendes Aushandlungsergebnis Konsens
Maßnahmen von I müssten sich entsprechend richten auf
tatsächliches Verhalten K G I D (X)
substanzielle Einigkeit Drohung durch Initiator groß bis mittel Entscheidung ohne ÄndeZustimmung aufgrund sach(G) rungen, aber auch ohne fremder Erwägungen Konsens Zustimmung aufgr. eines Verfalls des Streitwerts Konsens Überzeugung X X inhaltlichen Kompromiss X X Ergänzung symbolisch wichtiger mittel (I, D) X Kompromiss Formulierungen anderer Akteure vage, interpretationsflexible X Formulierung Konsens Überzeugung X Paketgeschäft Zustimmung gegen Zugeständmittel bis gering (K) X (X) Tauschhandel nisse in anderen Fragen Zustimmung gegen Ausgleichs(X) zahlungen Fett markiert sind die Maßnahmen, die den Erwartungen an rationales Handeln (Kapitel 2.1) nicht entsprachen.
Trotz der Beibehaltung der Gespräche führte die geschilderte Konstellation in allen Fällen (also unabhängig von der jeweiligen Vetopunktkonstellation oder von Kontextbedingungen) zu einem Patt. Erst die Kombination aus marginalem Einlenken des Initiators und der Wahrnehmung neuer Gewinnmöglichkeiten beim (nächst-)wichtigsten Akteur infolge eines (perzipierten) Wandels der Rahmenbedingungen ermöglichte ein Aufbrechen dieses Patts (Tab. 35). Hier kommen also durchaus die Rahmenbedingungen als Erklärungsvariablen für Verfassungspolitik ins Spiel – aber nur mittelbar und nicht systematisch in einer bestimmten Ausprägung.295 In drei von vier Fällen (K, I, D) waren nichtsubstanzielle Erwägungen bedeutsam für die Änderung der Interaktionsorientierung, in zwei Fällen substanzielle (G, I). Den obigen Befund zur Rolle des Argumentierens und Überzeugens stärkt, dass sich die Akteure auch im Falle nichtsubstanzieller Erwägungen angesichts ihres Einlenkens auf die Überzeugungskraft von Argumenten beriefen, die der Initiator ins Feld geführt hatte.
295 Im kanadischen Fallbeispiel bewirkten unvorhergesehene Ereignisse, im griechischen die Kombination aus institutioneller Vorgabe und Machtkonstellation nach den Wahlen, im irischen das symbolische Kooperationsangebot des unter Druck gesetzten Initiators und im deutschen die Haltung der Bundesländer angesichts eines parallelen innenpolitischen Verfahrens diese veränderte Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten.
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4.5 Zwischenbilanz
Tabelle 35: Motive für die Ablehnung, Beibehaltung der Gespräche und Übergang zur kooperativen Phase Fall
Motiv für Ablehnung (A1)
Motiv für Beibehaltung der Gespräche mit I
hinzukommendes Motiv, das eine Verhaltensänderung bewirkt Chance auf nichtsubstanziellen (Prozess-) Nutzen angesichts paralleler Ereignisse bei Kooperation
K
teils ideell, teils materiell* (Bundesregierung)
Verknüpfung mit einem parallelen wichtigen Verfahren
G
teils ideell, teils technischpraktisch (Neue Demokratie)
teils substanzieller Nutzen, teils Prozessnutzen (Reputationserhöhung)
Chance auf substanziellen Nutzen angesichts der Machtverhältnisse nur bei Kooperation
I
teils ideell, teils materiell (Bevölkerung)
-**
Chance auf substanziellen/nichtsubstanziellen Nutzen bei Annahme des Kooperationsangebots
formale Zäsur
Politische Übereinkunft zu Nunavut Konstituierung des Revisionsausschusses nach Wahl des „verfassungsändernden“ Parlaments Regierung unterstützt Gesetzesinitiative für parlamentarische Kontrolle der EU-Politik, Etablierung des Europaforums Ministerpräsidenten der Bundesländer signalisieren Kooperationsbereitschaft
teils ideell, teils teils substanzieller Chance der Bundesländer technischpraktisch, Nutzen, teils Inteauf nichtsubstanziellen D teils materiell resse an TauschgeNutzen (Tauschgeschäft) (SPD***) schäft bei Kooperation A1 = (nächst-)verhandlungsmächtigster Akteur neben dem Initiator I = Initiator * kein Nutzen, unnötige Kosten, darunter externe Effekte (mögliche Symbolwirkung für Separatisten) ** keine Gespräche *** SPD-Fraktion und SPD-geführte Bundesländer
Im Rückblick lässt sich für die individualistische Phase der untersuchten verfassungspolitischen Aushandlungen feststellen, dass die Bedeutung von Antizipation oft überschätzt wird. Ähnlich wie bei den Initiatoren, die nicht „Opportunitätsfenster“ zu nutzen suchten, sondern eher unter entscheidungswidrigen Umständen ihr Thema auf die Agenda gesetzt hatten, waren die weiteren Akteure nicht sehr vorausschauend, sondern testeten erst einmal in einem schrittweisen Prozess ohne Plan aus, was möglich ist. Die Bedeutung von Komplexität, der Uneindeutigkeit von Bewertungskriterien und nachfolgend Präferenzen für die Positionierung der Akteure scheint hingegen latent unterschätzt zu sein, wo die programmatische oder Politiknähe von Akteuren als Variable zur Erklärung von Verhaltensmustern bzw. politischem Wandel dient. In Ermangelung treffenderer Alternativen erweist sie sich jedoch auch in dieser Untersuchung als geeignetste, wenngleich Intuition und Ex-PostKonstruktionen fördernde „Näherungsvariable“.296 Abb. 17 veranschaulicht im Anschluss an Abb. 14 in Kapitel 3.5 die geschilderten Interaktionsmerkmale.297
296 Messen lässt sie sich schwer, zumal die verfassungspolitischen Initiativen selten direkte Anknüpfungspunkte an die Programmatiken aufweisen. Geschätzt werden muss daher wohl – wie es die Akteure selbst scheinbar tun – der Interaktionseffekt von faktischer Nähe der Politik und Erwägungen des Parteienwettbewerbs. 297 Den Begriff der kognitiven Komplexitätsreduktion benutzt, bei abweichender Aussage und Modellierung, auch Glasl (1997) in seinem Phasenmodell der Konflikteskalation.
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4 Die Fortsetzung der individualistischen Phase
Abbildung 17: Verfassungspolitik in der individualistischen Phase Minimalistische Initiative Initiator I A3 A2 A5 A6 Akteur A1 A4 Einwände gegen Initiative
substanzielle, nichtsubstanzielle Konflikte zw. I und A1
„normale“ Politik
Verfassungspolitik
nichtformalisierte Entscheidung zur Kooperation ohne Konfliktauflösung
Kognitive Komplexitätsextension: interne Positionierungsschwierigkeiten (Unsicherheiten erwirken Abwehr) und individualistische Nutzenkalküle führen zu extensiven Einwänden; kaum gegenseitige Kenntnisnahme Kognitive Komplexitätsreduktion: dualistische Akteurkonstellation gemäß Verhandlungsmacht sequenzialistische Sondierung von Präferenzüberschneidungen, nichtsubstanziellen Gewinnmöglichkeiten
A1 = Akteur neben dem Initiator I mit (nächst-)größter Verhandlungsmacht. Die Größe der Kästchen um die Akteure indiziert deren Verhandlungsmacht.
In allen beobachteten Fällen wechselten die beteiligten Akteure ihre Interaktionsorientierung nicht durch die Auflösung von Konflikten, schon gar nicht bei Wertfragen, die ihnen wichtig waren. Vielmehr zeigte sich jeweils eine ähnliche Koinzidenz von Umständen, die daher als Voraussetzung angenommen werden: Der (nächst-)verhandlungsmächstigste Akteur befürwortete erstens mindestens ein mit der Verfassungsänderungsinitiative verbundenes Ziel des Initiators oder beider konkrete Präferenzen überlappten sich in mindestens einer von ihm als wichtig erachteten Entscheidungsdimension (ohne dass zwangsläufig das Ziel übereinstimmen musste). Zweitens signalisierte der Initiator die Bereitschaft zu Gesprächen und Einlenken. Drittens hielt der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur ein Tausch- oder Koppelgeschäft oder anderen nichtsubstanziellen Nutzen für realistisch. Die Mehrdimensionalität der verfassungspolitischen Entscheidungssituationen und angedeutete Zugeständnisse in Verteilungsfragen (anstatt die Verschiebung solcher Fragen auf später)
4.5 Zwischenbilanz
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förderten also in allen beobachteten Fällen die Kooperationsbereitschaft. Der Weg dorthin führte durch die „normale“ Tagespolitik hindurch, wobei sich aus dem Verhaltensmuster eine gewisse „Zufälligkeit“ möglicher Querverbindungen zwischen den verfassungspolitischen Vorhaben und gerade auch auf der politischen Agenda stehenden sachfremden Vorgängen ergab. Der Wechsel zu einer anderen Interaktionsorientierung lässt sich in allen Fällen recht eindeutig benennen, war aber nie durch verbindliche Vereinbarungen markiert, die die Durchsetzung der vom Initiator angestrebten verfassungspolitischen Maßnahme garantierten. Für die Rationalität und Güte der Verfassungspolitik hatten die Prozesse folgende Effekte: Es gab eine extensive, aber nicht sehr tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Vorhaben, seinen Hintergründen und Folgen. Die reale Komplexität der Initiative wurde zunächst gut abgebildet, dann aber nur mehr in sehr reduzierter Form. Im Verlauf der Phase verengte sich die Auseinandersetzung bei aller formalen Partizipation und Inklusion auf zwei sich gegenüberstehende Akteure bzw. Blöcke und deren Grundsatzpositionen, nicht aber bestimmte Problemdimensionen. Dass die Präferenzen der Akteure im Zeitverlauf nicht eindeutig und stabil blieben, konnte in der Öffentlichkeit (die es aber nur beschränkt gab) den Eindruck der Unübersichtlichkeit und fehlender Prinzipien stärken. Uneindeutig blieb in den Auseinandersetzungen die Struktur der durch die Verfassungsänderung Benachteiligten bzw. Begünstigten, was eine Bewertung durch die Betroffenen und die kritischen Öffentlichkeit sowie deren eventuelle Beteiligung erschwerte.298 Ebenfalls von Bedeutung ist hier, dass sich die Auseinandersetzungen in der individualistischen Phase vornehmlich auf die hinter der Verfassungsänderungsinitiative stehende materiellen Politik bzw. die einfachgesetzlichen Maßnahmen richteten und die normative Relevanz des verfassungspolitischen Vorhabens selbst kaum reflektiert und öffentlich sichtbar wurde. Gegen die formalen Verfahrensprinzipien wurde nicht verstoßen, sie wurden aber in dieser für den weiteren Verlauf der Aushandlungen sehr wichtigen Phase oft durch im Verfassungsänderungsprocedere nicht vorgesehene Kontakte quasi-ersetzt (K, I) oder ergänzt (D). In einem Fall (G) waren sie teils unklar und selbst Gegenstand der Gespräche im parlamentarischen Revisionsausschuss.
298 An einer Offenlegung war der Initiator nicht interessiert, um Konflikte zu vermeiden, und die anderen Akteure spekulierten eher über die Auswirkungen.
5 Die kooperative Phase: Veränderte Entscheidungsperzeption, soziales Handeln und Selbstläuferprozesse
Dieses Kapitel zeichnet eine auf den ersten Blick verblüffende Entwicklung nach: In allen untersuchten Fällen kontrastierten die Interaktionsorientierung und Entscheidungsperzeption der Akteure deutlich mit der vorangegangenen Aushandlungsphase. Es wird beschrieben und erklärt, wie es trotz der unaufgelösten Konflikte, der teils hohen Zahl involvierter und betroffener Akteure auf unterschiedlichen Handlungsebenen und uneindeutiger KostenNutzen-Bewertungen dazu kam, dass die Mitspieler sich den Initiatoren annäherten und mit diesen auf Entscheidungsvorlagen verständigten.
5.1 Kanadisches Fallbeispiel (1992-1998) Seit dem Abschluss der Landverhandlungen Ende 1991299 und dem NWT-Referendum über die Grenzlinie im Mai 1992 besaß das Verhältnis zwischen Bundesregierung, TFN und Territorialregierung eine andere Qualität, obwohl sich weder die Machtkonstellation noch die inhaltlichen Positionsunterschiede verändert hatten und obgleich die Verpflichtung der Bundesregierung zur Aushandlung einer politischen Übereinkunft zu Nunavut kein formaler Bestandteil des Landabkommens im Sinne der Ureinwohnerrechtsklausel im Verfassungsgesetz von 1982 war. Trotzdem stellten die Bundesregierung und die NWTRegierung nicht infrage, dass es ein Territorium Nunavut geben würde. Alle drei Akteure konzentrierten sich darauf, die politisch-institutionelle Ausgestaltung des Territoriums, sein Verhältnis zum Bund sowie die Implementation der Reform kooperativ auszuhandeln. Die neue Qualität der Beziehungen war der Wahrnehmung geschuldet, dass die Weichen bereits gestellt seien, sowie dem ehrgeizigen Zeitplan, der die Etablierung Nunavuts bereits zum 01.04.1999300 vorsah und einen Handlungsdruck erzeugte (Dickerson 1992: 162f.; Cameron/White 1995: 95f.). Erstaunlich ist angesichts der vielen zuvor eingebrachten Argumente gegen die Territorialreform und angesichts der Machtrelevanz der zu treffenden Vereinbarungen, dass die Aushandlung der Politischen Übereinkunft zu Nunavut nur sechs Monate dauerte und es keine echten Konflikte gab. Die Bundesregierung war daran interessiert, die Reform gesetzlich vorzubereiten und bewertete die Forderungen der TFN als vernünftig, praktikabel bzw. ange299 Das Landabkommen musste noch durch die Inuit im Referendum ratifiziert und als ein eigenes Gesetz vom kanadischen Parlament verabschiedet werden. 300 Basierend auf den Gesprächen mit der Bundesregierung, hatte die TFN der Territorialregierung dieses Datum vorgeschlagen, um Planungssicherheit zu haben (Cameron/White 1995: 98). Nach deren Zustimmung wurde es Bestandteil der Forderungen von Territorialregierung und TFN an die Bundesregierung, die das Datum akzeptierte.
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5 Die kooperative Phase
messen. Sie war trotz ihrer vorherigen Einwände einverstanden damit, dass die Regierung Nunavuts bereits mit dem 01.04.1999 die volle regionale Verantwortung für Zuständigkeiten erhalten sollte, die zuvor bei der NWT-Territorialregierung lagen. Um einem gesetzlichen Vakuum in der Übergangsphase vorzubeugen, wurde aber geregelt, dass vorerst alle NWTGesetze bis zu ihrem Widerruf oder ihrer Änderung durch die Nunavut-Territorialversammlung weiterhin für Nunavut gelten sollten, sofern sie nicht inkonsistent mit dem noch zu verabschiedenden Nunavut-Gesetz seien (Art. 2.2; Cameron/White 1995: 102). Die TFN akzeptierte ihrerseits die Vorgabe der Bundesregierung, dass das in einem Bundesgesetz zu fixierende politisch-administrative System Nunavuts dem Muster des NWT-Gesetzes „mit der gegebenenfalls angebrachten Modernisierung und Klarstellung“ entsprechen sollte (Nunavut Political Accord: Art. 2.1).301 Damit bestand der wesentliche Unterschied für die Inuit gegenüber dem Status quo darin, dass sie selbst auf dem Gebiet die Mehrheit stellten und für sie relevante Entscheidungen nicht mehr durch eine weit entfernte Regierung getroffen würden. Die TFN akzeptierte das repräsentative politischadministrative System bewusst mit der Begründung, dass es angesichts von 85 Prozent Inuit in Nunavut faktisch eine „Form von Selbstregierung“ bedeute (Cernetig 1992). Weitere Spielräume ergaben sich aus der Klausel, dass das später zu verabschiedende NunavutGesetz Regelungen zur Übertragung von Verwaltung und Kontrolle des öffentlichen Landes an die Nunavut-Regierung beinhalten sollte (Nunavut Political Accord: Art. 4.3). Mitsprache sicherte sich die TFN dadurch, dass die kanadische Regierung, die das Nunavut-Gesetz im Parlament einbringen sollte (Art. 3.1), sich vorher mit der TFN und der NWT-Regierung in allen Angelegenheiten konsultieren musste, die durch das Gesetz geregelt würden (Art. 2.3), und dass Änderungen im Hinblick auf die Territorialreform ohne sie nicht möglich waren.302 Eine in der Übereinkunft vorgesehene tripartistische NunavutImplementationskommission303 mit genau definierten operativen Kompetenzen sollte die Teilungsplanungen nach der Verabschiedung des Nunavut-Gesetzes überwachen (Part 6). Ihre Aufgabe bestand außerdem darin, Empfehlungen für das Design der zukünftigen politisch-administrativen Strukturen Nunavuts zu unterbreiten, über deren Umsetzung allerdings die Bundesregierung entschied (NIC 1996: 4f.). Ein sehr wichtiges Thema der Aushandlungen waren, wie sich schon zuvor angekündigt hatte, die Kosten der Reform. Auch hier lenkte die Bundesregierung aber ein und erklärte sich bereit, die hohen finanziellen Aufwendungen für den Aufbau und die Tätigkeit des politisch-administrativen Systems Nunavuts zu tragen (Part 8)304 – trotz ihres erklärten Ziels, die Staatsausgaben kürzen zu wollen, trotz großer Unterschiede in den Schätzungen und trotz der Aussicht darauf, dass das strukturschwache Nunavut während des Übergangs301 Die Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive Nunavuts sollte grundsätzlich der in den NWT entsprechen (Art. 4.1), und die Nunavut-Regierung sollte genügend Kompetenzen besitzen, um ihre aus dem Abschließenden Landabkommen folgenden gesetzlichen Verpflichtungen zu erfüllen (Art. 4.2). Hinzu kamen konkrete Vorgaben für die Kompetenzen der ersten Nunavut-Regierung (Part 7). 302 Das Nunavut-Gesetz sollte gemeinsam mit dem Landabkommengesetz initiiert werden, sofern die TFN nicht einem anderen Datum zustimme (Art. 3.1). Jede Änderung an Art. 4 des Landabkommens bedurfte einer Revision der Politischen Übereinkunft durch die Vertragsparteien (Art. 10.2). 303 Ihr sollten drei Mitglieder der TFN sowie der NWT-Regierung und drei Repräsentanten der Bundesregierung angehören. Der Kommissionschef mit konkret benannten Aufgaben sollte nach dem Einstimmigkeitsprinzip bestimmt werden. Später wurde die TFN organisatorisch durch die NTI ersetzt (siehe unten). 304 Eine Studie ergab, dass die Anfangskosten sich auf ca. 500 Mio. kanadische Dollar belaufen würden. Außerdem sei mit zusätzlichen jährlichen Kosten von mindestens 160 Mio. kanadischen Dollar zu rechnen. Eine überarbeitete Fassung kam zu geringeren Kostenerwartungen (340-350 Mio.).
5.1 Kanadisches Fallbeispiel (1992-1998)
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prozesses noch stärker von bundesstaatlichen Transferleistungen abhängig sein würde. Grundsätzlich sollten die Prinzipien der NWT-Finanzierung gelten (Cameron/White 1995: 97-100). Offensichtlich war die Bundesregierung nach der Grundsatzentscheidung für die Einrichtung des Territoriums nun an einem handlungsfähigen politisch-administrativen System Nunavuts interessiert, auch wenn dies mit erhöhten Kosten verbunden war und der Nutzen der Reform weiterhin nicht wirklich geklärt war. Nur vier Tage nach dem Scheitern der verfassungspolitischen Übereinkunft von Charlottetown im kanadaweiten Referendum305 unterzeichneten am 30.10.1992 der Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, Tom Siddon, der NWTMinister für Intergouvernementale Beziehungen und Ureinwohnerangelegenheiten, Stephan Kakfwi, und TFN-Präsident James Eetooklook die Politische Übereinkunft zu Nunavut. Obgleich es inhaltlich keine Verbindung zwischen beiden Ereignissen gab, war für die TFN das Charlottetown-Desaster ähnlich wie schon das Scheitern der Meech-Lake-Übereinkunft durchaus günstig. Die Bundesregierung fühlte einen enormen Druck, ureinwohnerpolitisch zumindest symbolisch zu agieren, um politische Proteste von seiten der Ureinwohnergruppen zu vermeiden, denn diese konnten den Eindruck gewinnen, dass die kanadische Gesellschaft gegen die verfassungsmäßige Anerkennung ihrer Rechte sei. Außerdem hatte sie nichts mehr zu verlieren: Nachdem bereits die Einführung der Mehrwertsteuer ihre Popularität rapide gesenkt hatte, war nach dem Charlottetown-Debakel für alle Akteure klar, dass die Konservativen keine Chance mehr hatten, die sich bereits abzeichnenden nächsten Parlamentswahlen zu gewinnen. Der Nunavut-Prozess, der lange Zeit keinen besonderen politischen Stellenwert genossen hatte, wurde daher zum letzten Prestigeprojekt der amtierenden Bundesregierung (Hicks/White 2000: 30f.; Merritt 2006).306 Für die Zeit vom 02. bis 05.11.1992 war bereits das von der TFN gewünschte Referendum zum Abschließenden Landabkommen anberaumt, in dem alle Wahlberechtigten auf dem Nunavut-Gebiet über 16 Jahren über die Ratifizierung entscheiden sollten. Bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent stimmten 85 Prozent der Wähler zu. Der umfangreiche „Landdeal“ wurde als sehr erfolgreich empfunden (Cameron/White 1995: 97f, 99f.; Nunatsiaq News 01.12.1995). Offensichtlich sah ihre Kosten-Nutzen-Kalkulation anders aus als die von Kritikern, die das Landabkommen als Enteignung und Entrechtung bezeichneten307 (Kulchyski 2007), oder von einigen Dene-Führer der West-NWT, die fanden, dass die Inuit 305 Die im April 1992 getroffene Übereinkunft zwischen der Bundes-, den Provinz- und Territorialregierungen sowie Ureinwohnergruppen, darunter die TFN, beinhaltete eine Neuaufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Provinzen bzw. Territorien, die Harmonisierung von Regelungen zwischen den Territorialeinheiten, Änderungen an der Funktionsweise des Regierungssystems des Bundes, die Inklusion der Ureinwohner in Aushandlungsprozesse bei bestimmten Angelegenheiten sowie die Ausdehnung der Materien, bei denen Verfassungsänderungen einer einstimmigen Entscheidung von Bund und Provinzen bedürften. Selbstregierung durch Ureinwohner wurde im Prinzip anerkannt, jedoch Definition und Form nicht präzisiert. 306 Bundesminister Siddon erklärte, mit der Politischen Übereinkunft sei ein neuer Partner zur kanadischen Familie hinzugekommen, und die Inuit zählten nun – mit Blick auf das Landabkommen – zu den größten Landbesitzern der Welt (Cernetig 1992). 307 Die Kritik richtete sich auf die Klausel, dass die „Inuit hereby cede, release and surrender to Her Majesty The Queen in Right of Canada, all their Aboriginal claims, rights, title and interests, if any, in and to lands and waters anywhere within Canada” (An Agreement between… 1993: Art. 2.7.1.). Diese auch in anderen Landabkommen genutzte Formel sollte eine eindeutige Rechtssicherheit gewährleisten. Im Gegenzug garantierte der Vertrag den Inuit dauerhaft bestimmte, konstitutionell geschützte Rechte und Vorteile (Hicks/White 2000: 33). Zusätzlich wurde explizit erklärt, dass die Vertragsinhalte nicht die verfassungsmäßigen Rechte der Inuit als kanadische Bürger und als Ureinwohner berühren (An Agreement between… 1993: Art. 2.7.3.).
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mit ihrer Akzeptanz eines public-government- anstelle eines Ureinwohnerselbstregierungsystems viel zuviel gegeben hätten (Cameron/White 1995: 92). Besonders der hohe ideelle Wert der außergewöhnlichen Etablierung eines Ureinwohnerterritoriums, das noch dazu den Namen in der eigenen Sprache trug, schlug hier zu Buche. Für die TFN war dies der „Beitritt zur kanadischen Konföderation“ (Platiel 1993). Zudem waren weitergehende Alternativangebote der Bundesregierung unwahrscheinlich. Die Nunavut-Übereinkunft enthielt die erste rechtsverbindliche Verpflichtung der Bundesregierung zur Schaffung eines neuen Territoriums und war die Grundlage für die nachfolgende Nunavut-Gesetzgebung. Von einer Verfassungsänderung wurde auch jetzt noch nicht gesprochen. Die Bundesregierung erklärte mit Blick auf das Scheitern von Charlottetown explizit, mit dem Abkommen sei der Beweis angetreten, dass Ureinwohner auch ohne Verfassungsänderung Rechte erhalten könnten. Die TFN betonte ihrerseits, dass für die Schaffung Nunavuts keine Verfassungsänderung nötig sei (Cernetig 1992). Dies war nicht nur deshalb kurzsichtig, weil die politische Repräsentation des neuen Territoriums verfassungsrechtlich ermöglicht werden musste,308 sondern es verkannte auch die verfassungspolitische Relevanz des Vorgangs selbst: Es stimmte zwar, dass weder die Politische Übereinkunft noch das auf seiner Basis zu verabschiedende Nunavut-Gesetz Teil des NunavutLandabkommens und damit Verfassungsrecht im Sinne des Verfassungsgesetzes von 1982 (Art. 35) war, aber die Existenz des Territoriums war untrennbar verbunden mit diesem Abkommen.309 Der Aufbau des politisch-administrativen Systems Nunavuts wurde durch eine Kombination aus verfassungsrechtlich abgeleitetem Landabkommen, daraus abgeleiteter Politischer Übereinkunft zu Nunavut sowie dem wiederum daraus abgeleiteten NunavutGesetz definiert. Diese Rechtskonstruktion bot einen relativen Schutz vor einseitiger Änderung des Status quo, denn eine solche setzte faktisch umfassende Absprachen mit dem Territorium und den Provinzen voraus. Das spätere Nunavut-Gesetz konnte aufgrund der Konstruktion sogar als mit einem spezifischen impliziten, protokonstitutionellen Status ausgestattet interpretiert werden, so dass jede spätere Änderung ein Sonderprocedere unter Einbeziehung der betreffenden Bevölkerung erfordern würde (Cameron/White 1995: 120-123). Dass über die verfassungspolitisch relevanten Vorgänge positiv, aber punktuell in den Medien berichtet wurde (die sich vor allem mit der Charlottetown-Probematik und den Präsidentschaftswahlen in den USA befassten), spiegelten die Ergebnisse einer zu diesem Zeitpunkt durchgeführten repräsentativen Meinungsumfrage wider. Nur 26 Prozent der Kanadier wussten demgemäß von den Landverhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Inuit, aber immerhin 47 Prozent kannten – bei regionalen Schwankungen – die Politische Übereinkunft. 74 Prozent der Befragten meinten, es sei eine gute Idee, dass die Inuit ihr eigenes Territorium bekämen,310 33 Prozent gaben allerdings an, dass sie weniger positiv gegenüber der Nunavut-Übereinkunft eingestellt gewesen wären, wenn sie von der 308 Die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung erklärte sich aus der fehlenden Erwähnung Nunavuts in den kanadischen Verfassungsdokumenten. Als künftiges Territorium hatte es verfassungsrechtlich Anspruch auf politische Repräsentation, dem aber nicht automatisch, sondern nur mit einer Verfassungsänderung entsprochen werden konnte. 309 Die Existenz der Politischen Übereinkunft zu Nunavut rechtfertigte sich aus dem Art. 4 des Landabkommens (Nunavut Political Accord: Art. 1.1.). 310 In Quebec war die Unterstützung geringer (62 Prozent), in Ontario am höchsten (83). Grund für diese regionalen Unterschiede waren verschiedene Auffassungen darüber, was Selbstregierung bedeutet. 59 Prozent hielten die Größe der NWT für einen guten Grund für eine Teilung, um die Effektivität der Regierung zu erhöhen. 81 Prozent befanden die Tatsache, dass das Gebiet schon immer den Inuit gehört habe, für einen guten Grund, ein neues Territorium zu gründen.
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Höhe der zu erwartenden Kosten gewusst hätten (Decima Research 1992). Sie reagierten damit ähnlich wie zuvor die Bundes- und die NWT-Regierung bei der Abwägung zwischen (nicht quantifizierbaren) ideellen Werten und finanziellen Kosten, was auf ein in dieser Sache gut funktionierendes Repräsentationsprinzip hindeutet. Die Bundesregierung entwarf das Nunavut-Gesetz in Absprache mit der NWTRegierung und der ITC/TFN recht eilig, denn sie wollte es noch in der laufenden Legislaturperiode durchs Parlament bringen. Es war die Verfassung des künftigen Territoriums, regelte das Übergangsprocedere auf Nunavut-, NWT- und Bundesebene und die Bildung verschiedener Gremien und Kommissionen dafür. Wie bei den anderen Territorien sollte das politisch-administrative System Nunavuts formal jederzeit durch die Bundesregierung verändert oder abgeschafft werden können und die Territorialverfassung wesentliche Verantwortung beim Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung belassen, der formal über das Verhältnis zwischen dem durch die Bundesregierung ernannten Kommissar, der Exekutive und der Legislative entscheiden konnte311 (Lenz/Schultze 2001: 319; Cameron/White 1995: 100f.; 118-123). Da die ITC davon ausging, dass ein Territorium automatisch auch auf Bundesebene repräsentiert würde und sie annahm, dass die Bundesregierung die Repräsentation Nunavuts auf Bundesebene und Übergangsregelungen sicherstelle, kümmerte sie sich nicht um diese verfassungspolitischen Fragen (HoC/Standing Committee 1998a: 1705-1710). Kurz vor der Amtsübergabe des Premiers und PC-Vorsitzenden Mulroney an seine Nachfolgerin Kim Campbell unterzeichneten er, NWT-Premierministerin Nellie Cournoyea und TFN-Präsident Paul Quassa am 25.05.1993 das inzwischen von den Inuit ratifizierte Landabkommen. Erstmals war damit die Spitze der Bundes- und der Territorialregierung überhaupt direkt in den Prozess involviert. Kurz darauf brachte die Bundesregierung das Nunavut-Landabkommengesetz und das Nunavut-Gesetz als zwei der letzten Gesetzesvorlagen der Legislaturperiode im Parlament ein. Beide passierten problemlos das parlamentarische Verfahren.312 Alle Parteien, darunter die in der individualistischen Phase noch ablehnenden Liberalen, befürworteten die Gesetze. Diese große Unterstützung überraschte, da das Klima im Parlament zu dieser Zeit aufgrund des Wahlkampfes sehr gereizt war (Cameron/White 1995: 100). Sie lässt sich im Nachhinein dadurch erklären, dass sich im Laufe der langen Zeit und spätestens unter dem Eindruck der Oka-Krise die Einstellungen aller politischen Akteure gegenüber den Ureinwohnern und ihren Ansprüchen gewandelt hatten. Selbst diejenigen, die der Forderung der Inuit nach einem eigenen Territorium zunächst ablehnend gegenüber standen, hatten sich inzwischen schlicht an den Gedanken gewöhnt, dass dies überhaupt möglich sein könnte (Merritt 1993). Dass die TFN keine politische Souveränität, sondern eine Territorialstruktur anstrebte, die institutionell ähnlich zu der der NWT sein konnte, wurde nun anders interpretiert, nämlich dergestalt, dass der Bundesebene relativ geringe Kosten und Risiken durch die Gebietsreform selbst entstünden. Die meisten Ausgaben ergaben sich ja aus den von der Reform unabhängigen, ohnehin verfassungsrechtlich notwendigen Landvereinbarungen, und im Gesamthaushalt machten die zu erwartenden Mehrausgaben für Nunavut einen verhältnismäßig kleinen Anteil aus. Was vorher für den Status quo sprach, nämlich der geringe parteipolitische Nutzen eines Eingehens auf die Forderungen und das zurückhaltende Auftre311 Dass die Praxis weit von dieser institutionellen Festlegung abweichen würde, ließ der faktisch provinzähnliche Status der NWT und Yukons erwarten. 312 Im Unterhaus gab es formal drei Lesungen an einem Tag, im Senat zwei Aussprachen.
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ten der TFN, wurde nun ebenfalls anders gewichtet: Von einem Territorium Nunavut, in dem es wie in den NWT keine Parteien gab, sondern ein bundesfreundliches Konkordanzsystem herrschte, ging kein „Quebec-Risiko“ aus. Wie im Nunavut-Gesetz selbst gab es in den Plenaraussprachen zu beiden Gesetzespaketen keinen Hinweis auf eine für deren Umsetzung notwendige Verfassungsänderung.313 Der trotz der langen Vorgeschichte letztlich geringe zeitliche Vorlauf der Gesetzgebung, das relativ geringe Wissen der Akteure um die rechtlichen Parameter sowie die Aussicht auf sechs Jahre Übergangszeit bis zur Etablierung Nunavuts, in der Defizite noch beseitigt werden könnten, waren Gründe für dieses Verhalten (Merritt 2006). Wie die ITC selbst „übersahen“ alle Akteure, dass die verfassungspolitischen Voraussetzungen für die Umsetzung des Nunavut-Gesetzes gar nicht geschaffen waren (HoC/Standing Committee 1998a: 1705-1710). Die Professionalisierung der Politik und die funktionale Differenziertheit von Zuständigkeitsbereichen inklusive vertikale und horizontale Gewaltenteilung führte hier also nicht zu einer eindeutig höheren Qualität des legislativen Ergebnisses, sondern eher zu Koordinations- und Informationsdefiziten. Neben der Unkenntnis der Materie und der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie der Aufschiebung von Maßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt bestand ein weiterer Grund für den Vorgang darin, dass einige zentrale Beteiligte die spätere Verfassungsänderung als bloße Formalie betrachteten (Merritt 2006). Nach dem Machtwechsel auf Bundesebene hin zu den Liberalen unter Premier Jean Chrétien verzögerte sich der weitere Aushandlungsprozess. Erst im Dezember 1993 ernannte Ron Irwin, neuer Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, die ordentlichen Mitglieder der tripartistischen Nunavut-Implementationskommission, einer Art Nunavut-Regierung „im Wartestand“ (Cameron/White 1995: 101). Neun der zehn Mitglieder waren Inuit, alle hatten ihren ständigen Wohnsitz in Nunavut. Sie bestimmten einstimmig den ITC-Aktivisten John Amagoalik314 zum Kommissionschef (Legaré 1998: 277f., Anm. 15). Ein ähnlicher ethnischer und Erfahrungshintergrund musste zwar – wie die Vorgeschichte auf NWT-Ebene zeigte – nicht automatisch dazu führen, dass die Akteure zu einer gemeinsamen Entscheidung kamen, doch sie förderte vor dem Hintergrund einer als gegeben akzeptierten Grundsatzentscheidung für die Etablierung Nunavuts einen vertrauensvollen Arbeitsstil bei der an diese Kommission delegierten Aushandlung der Einzelheiten.315 Wesentlich trug zur kooperativen Form der Zusammenarbeit bei, dass die NWTRegierung die Entscheidung der Bundesregierung und des kanadischen Parlaments für die Territorialreform akzeptierte und pragmatisch bei der Umsetzung mitwirkte.316 Sie war an einem erfolgreichen Übergang interessiert, an der Beseitigung rechtlicher Grauzonen, der Regelung möglichst aller technischen Teilungsfragen und einem rechtzeitigen Abschluss 313 Nur indirekt formulierte der Bundesminister für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung in der zweiten Lesung des Nunavut-Gesetzes am 04.06.1993, dass sich aus dem vorliegenden Gesetzesentwurf die Notwendigkeit weiterer Änderungen (housekeeping legislature) ergebe, um die Trennung der NTW und die Etablierung eines neuen Territoriums gesetzlich zu reflektieren (House of Commons 1993: 20394). 314 Amagoalik war von 1981 bis 1985 und 1988 bis 1991 Präsident der ITC, 1986 bis 1987 Vorsitzender der Nunavut-Regionalgruppe des Verfassungsforums und 1991 bis 1993 politischer Berater der TFN. 315 Ähnliches ließ sich bereits bei den Aushandlungen zwischen dem Verhandlungsteam der Bundesregierung, der TFN und der NWT-Regierung beobachten. Dort ergab sich die Annäherung nicht aus dem ähnlichen sozialen oder ethnischen Hintergrund, sondern aus der Konstanz der Kontakte über einen langen Zeitraum und die Herausbildung auch persönlicher Beziehungen (Molloy 1993). 316 Sie hatte auch sofort eigene Bemühungen reintensiviert, die eigene NWT-Verfassung im Dialog mit den Ureinwohnergruppen neuzukonzipieren und wollte diesen Prozess ebenfalls bis zur Teilung beendet haben.
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des Verfahrens bis zum 31.03.1999 (Canada 1998). Obwohl wichtige Punkte erst noch ausgehandelt werden mussten, nahmen die Beteiligten den Prozess so wahr, wie die Kommission betitelt war: als Implementation. Ab Januar 1994 fanden jährlich fünf bis sechs Treffen der Kommission statt, die sich auch um Kontakt zur Bevölkerung bemühte.317 Daneben wurden die Positionen von Gewerkschaften und anderen intermediären Organisationen während des Aushandlungsprozesses gehört (HoC/Standing Committee 1998a: 1555). Dies entsprach dem steten Engagement der ITC für mehr Bürgernähe der Politik (Jull 1998: 7f.), aber auch dem Muster der Verfassungspolitik auf Bundesebene.318 Die Arbeit mündete in ein erstes Diskussionspapier zur Gestaltung der politischen Institutionen Nunavuts und Prinzipien zur Hauptstadtwahl, das im Juni 1994 veröffentlicht wurde (Cameron/White 1995: 100f.; Legaré 1998: 277f., Anm. 15). Aber erst der im November 1994 vorgelegte erste Bericht eines ganz anderen Gremiums, nämlich des parallel vom NWT-Parlament eingesetzten Gemeinsamen Sonderausschusses zur Teilung,319 erwähnte den Bedarf einer Änderung der kanadischen Verfassung (Legislative Reports 1994; Northwest Territories/Legislative Assembly 1994: iii). Die Implementationskommission nahm den Hinweis auf und verwies eher am Rande ihres im März 1995 vorgelegten ersten offiziellen Berichts an das Bundesministerium für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, die NWT-Regierung und die Nunavut-Inuit-Kapitalgesellschaft (Nunavut Tunngavik Inc., NTI)320 auf die fehlende Erwähnung Nunavuts in entscheidenden Teilen der kanadischen Verfassung.321 Änderungen an den Verfassungsdokumenten sollten zum einen die Repräsentation Nunavuts im kanadischen Senat gewährleisten, zum anderen die Anwendung der Kanadischen Bürgerrechtscharta im Verfassungsgesetz von 1982 auf die künftige Regierung und das künftige Parlament Nunavuts322 (NIC 1995: 5, 91). Der Bericht ging davon aus, dass für die Verfassungsänderungen
317 1995 bis 1996 organisierte die Implementationskommission 62 öffentliche Beratungen und Diskussionsrunden, vor allem in den Nordwestterritorien und speziell auf dem Gebiet des späteren Nunavut. Sie dienten dazu, die Öffentlichkeit über die Einzelheiten der Implementation zu informieren und die Meinungen der Bürger bezüglich der zukünftigen Gestaltung Nunavuts aufzunehmen (NIC 1995: 9, A-9). 318 Verfassungskonferenzen waren eine typische Aushandlungsform auf Bundesebene. Nach dem Scheitern der Meech-Lake-Übereinkunft, das auch auf mangelnde Beteiligung der Parlamente und der Bürger zurückgeführt wurde, gab es Bemühungen, den Willensbildungsprozess auszuweiten. Beim Charlottetown-Verfahren war dies der Fall, etwa hinsichtlich der Ureinwohnergruppen (Kanengisser 2005; Thunert 1997: 77; Schultze 1997a). 319 Der im Februar 1994 eingesetzte Ausschuss hatte den Auftrag, die Teilungspläne zu überprüfen, der Exekutive und Legislative weitergehende Regelungen zu empfehlen und für einen kontinuierlichen Informationsfluss zu sorgen. Er bestand zu gleichen Anteilen aus westlichen und östlichen Abgeordneten und Kabinettsmitgliedern und sollte eng mit der Nunavut-Implementationskommission zusammenarbeiten. 320 Die NTI entstand 1993 als Nachfolgeorganisation der TFN und war wie sie Korporativmitglied der ITC. Das Nunavut-Gesetz erkannte sie als Repräsentantin der Inuit-Interessen an, die für diese über die Einhaltung der Vertragsklauseln und die Etablierung Nunavuts wachen sollte. Die NTI benannte als ihr Ziel, dabei das ökonomische, soziale und kulturelle Wohl der Inuit zu stärken. Ihr zehnköpfiges Direktorium wurde von den wahlberechtigten Inuit gewählt. 321 Der Bericht sprach Empfehlungen zur Etablierung eines dezentral organisierten politisch-administrativen Systems aus, die sich grundsätzlich an den NWT und der dortigen Diskussion (und beispielsweise nicht an dem mehrheitlich von Inuit besiedelten Grönland) orientierten (Cameron/White 1995: 101-105). Die Vorschläge berührten viele praktische Fragen der Reform, beispielsweise das Wahlsystem, die Trennung von gemeinsamen Vermögen, Verbindlichkeiten von Nunavut und den NWT, die Ausbildung von Regierungsund Verwaltungsbeamten, das Bildungssystem und eine arbeitnehmerfreundliche Struktur der Verwaltung. 322 Die Anwendung der Charta bezog sich explizit auf das „Parlament und die Regierung von Kanada im Hinblick auf alle in den Kompetenzbereich des Parlaments fallenden Angelegenheiten, einschließlich aller An-
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das Verfahren der Grundregel (7/50) notwendig wäre, also mindestens sieben Provinzen zustimmen müssten, die mindestens 50 Prozent der kanadischen Bevölkerung repräsentieren. Die Kommission sah keinen Grund, warum diese die empfohlenen Verfassungsmodifikationen ablehnen sollten – obwohl es zuvor von seiten Manitobas und Saskatchewans Bemühungen gegeben hatte, die Etablierung Nunavuts zu blockieren. Der Grund dafür waren Ansprüche dortiger Ureinwohnergruppen auf Gebiete gewesen, die sich mit dem von der TFN geforderten Gebiet überschnitten (Cameron/White 1995: 100). Ohne Bezugnahme auf diese Umstände empfahl der Bericht, die Bundesregierung sollte gemeinsam mit der NWTRegierung so schnell wie möglich mit den Provinzregierungen kommunizieren, um ihre Bereitschaft zu eruieren, die Nunavut betreffenden Verfassungsänderungen zu unterstützen, da erfahrungsgemäß selbst nichtkontroverse Änderungen kaum Chance auf Umsetzung hätten (NIC 1995: 91). Laut Implementationszeitplan sollten die entsprechenden Anstrengungen im Zeitraum zwischen Mai und August 1995 aufgenommen werden (NIC 1995: 94). Ähnlich wie für die Kommission selbst waren in der Öffentlichkeit der NWT konkrete und praktische Fragen der Teilung wichtiger, besonders die viel stärker diskutierte Hauptstadtfrage, während Verfassungsfragen keine besondere Rolle spielten.323 Verfassungspolitische Dynamik entstand eher auf der Bundesebene, nämlich im Hinblick auf das Ureinwohnerrecht auf Selbstregierung. Mit der Charlottetown-Übereinkunft war die vorgesehene Konstitutionalisierung dieses Rechts vorerst gescheitert. Die liberale Bundesregierung entschied sich jedoch nach Konsultationen mit Ureinwohnergruppen, Provinz- und Territorialregierungen, es ohne verfassungsrechtliche Verankerung zu implementieren, und stützte sich in der Begründung dafür auf den 1992 vorgelegten Bericht der Königlichen Kommission zu Ureinwohnervölkern, der die verfassungsrechtliche Anerkennung eines solchen Rechts empfohlen hatte. 1995 verpflichtete sie sich im Bruch mit ihrer früheren Politik, Selbstregierungsarrangements auch im Rahmen der Landverhandlungen auszuhandeln und bestimmte Teile entsprechender Abkommen als Vertragsrechte gemäß Art. 35 des Verfassungsgesetzes von 1982 zu schützen, sofern die anderen Akteure einwilligten.324 Sie erklärte sich bereit, bei Aushandlungen mit den Inuit-Gruppen und anderen Regierungen eine Vielzahl von Varianten der public government zu berücksichtigen. Zudem schlössen „selfgovernment arrangements in a public government context” nicht die Berücksichtigung anderer Arrangements zu einem künftigen Zeitpunkt aus, sofern alle betroffenen Parteien sich einig seien (Government of Canada 1995; Russell 2004b: 25). Die Verfassungspolitik der Bundesregierung in Reaktion auf Charlottetown war jedoch nicht kohärent: Während sie an dieser Stelle verfassungspolitische Änderungen vereinfachte, die ihr wichtig schienen, erschwerte sie sie an anderer Stelle faktisch, weil sie den verfassungspolitischen Willenbildungs- und Verhandlungsprozess für mehr Akteure öffnen wollte. Daher schaltete sie der Einbringung einer Verfassungsänderung im kanadigelegenheiten betreffend Yukon und die Nordwestterritorien“ sowie die Parlamente und Regierungen der Provinzen (Constitution Act, 1982: Art. 32 [1]). 323 Im Sommer erarbeitete die Implementationskommission eine kriterienbasierte Entscheidungshilfe zur Hauptstadtfrage für Bundesminister Irwin, der jedoch überraschend ein konsultatives Referendum ansetzte, das am 11.12.1995 gemeinsam mit den Kommunalwahlen stattfand und zugunsten Iqaluits ausging (Nunatsiaq News 01.12.1995). 324 Die ausführliche Regelung bestimmter Sachverhalte wurde aber oft aus dem Landabkommen in Nebenabkommen (side agreements) ausgelagert, um sie später klären zu können, Pattsituationen in Verhandlungen aufzubrechen und um ihren verfassungsrechtlichen Schutz zu vermeiden (Dickson 2004: 428 ff.). Dieser Schutz bezog sich also allenfalls auf bestimmte Grundsätze, nicht die Details.
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schen Parlament in bestimmten Fällen eine Zustimmung der Provinzen vor.325 Im Rahmen der Senatsdebatte über die entsprechende Gesetzesinitiative hinterfragte die NWTTerritorialregierung im Januar 1996, ob die Bundesregierung berücksichtigt habe, dass das Gesetz die für die Etablierung Nunavuts notwendige Änderung der Grundrechtecharta unmittelbar berühre und wie damit umzugehen wäre. Die weiteren für die Territorialreform notwendigen Verfassungsänderungen seien hingegen durch ein verfassungsänderndes Gesetz von Unterhaus und Senat erreichbar (Kakfwi 1996). Wie ersichtlich, berücksichtigte die NWT-Regierung anders als die Implementationskommission neben der Ermöglichung eines Senatssitzes für Nunavut auch die Zuschreibung eines Unterhaussitzes im Verfassungsgesetz von 1867 (Art. 51 [2]), worauf sie die Kommission dann auch in ihrer Antwort auf deren ersten Bericht im Mai 1996 hinwies (GNWT 1996a: 36). Wieder reagierte die NIC auf einen substanziellen Hinweis von Seiten der NWT. Sie ergänzte in ihrem zweiten Bericht an Bundesregierung, Territorialregierung und NTI vom November 1996 den Bedarf einer entsprechenden weiteren Änderung des Verfassungsgesetzes von 1867 (NIC 1996: 237) und schlug gleich die einfachste und kostenneutrale Lösung vor: eine Splittung der bisherigen zwei NWT-Mandate in eins für die NWT und eins für Nunavut. Damit strebte sie wie bei der Forderung nach einem Senator nur das Mindestmaß an Repräsentation an. Erneut empfahl der Bericht, Bundes- und NWT-Regierung sollten so bald wie möglich mit den Regierungen der Provinzen, nun aber auch Yukons, über die verfassungspolitischen Pläne sprechen (NIC 1996: 237f.). Die NWT-Regierung warnte in ihrer Antwort auf den zweiten Bericht der Implementationskommission im Dezember 1996, dass es schwierig sein könnte, kurzfristig die von dieser erneut empfohlene Änderung an der Bürgerrechtscharta durchzusetzen, da sie der Unterstützung durch die Provinzen bedürfe. Damit griff sie den nur im ersten Kommissionsbericht erwähnten, aber heruntergespielten Zweifel an der Machbarkeit dieser Verfassungsänderung auf. Im Gegensatz zur NIC betrachtete sie das 7/50-Verfahren als riskant, obwohl sie inzwischen wusste, dass die Bundesregierung zumindest doch nicht dazu verpflichtet sein würde, bereits vor der Einbringung der entsprechenden Verfassungsänderungsinitiative die Zustimmung der meisten Provinzen dazu einzuholen (An Act… 1996; Constitution Act, 1982). Da es innerhalb der Kompetenzen des Bundesparlaments läge, Nunavut sowie dem verbleibenden Rest der NWT jeweils einen Senatsposten und ein Unterhausmandat zuzuerkennen, präferierte sie, sich vor dem 01.04.1999 nur auf die dafür erforderliche Bundesgesetzgebung zu konzentrieren (GNWT 1996b: 33). Darüber hinaus wies die NWT-Regierung an prominenter Stelle auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Interessen der NWT und Nunavuts hin (Verfassungsreform vs. administrative Neuordnung und Bedarf der Alimentierung). In vielen, auch sehr wichtigen, Punkten bestünden noch Sorge oder Uneinigkeit (GNWT 1996b).326 Diese im umfangreichen Bericht aufgelisteten Konfliktpunkte berührten vor allem praktische und finanzielle Fragen und nicht die Verfassungsänderungen. Auf ihre Weise entsprach aber auch die Empfehlung zur Verfassungspolitik dem praxisorientierten Ansatz, denn sie war auf eine garan-
325 Nur wenn Ontario, Quebec, British Columbia sowie mindestens zwei Atlantik- und Prärieprovinzen zustimmten, sollte die Bundesregierung eine Verfassungsänderungsinitiative einbringen können (An Act… 1996; Kaiser 2002: 145). 326 Die NWT-Regierung begrüßte die NIC-Pläne zwar im Grundsatz, kritisierte aber den aus ihrer Sicht suboptimalen Informationsfluss, die indirekte Kommunikation und die einseitige Entscheidungsfindung von seiten der Implementationskommission.
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tierte rechtzeitige Verabschiedung der Verfassungsänderung, die Einhaltung des Zeitplans und niedrige Entscheidungskosten bedacht. Mit ihrer Argumentation zur verfassungspolitischen Vorgehensweise orientierte sich die Territorialregierung an der Praxis der Bundesregierung, manche (mit eigener Mithilfe) immer rigider werdenden Verfassungsänderungsverfahren einfach zu umgehen. Seit dem Machtwechsel hin zu den Liberalen 1993 und spätestens nach dem zweiten gescheiterten Referendum über die Souveränität Quebecs 1995 wurden relativ viele inkrementalistische Verfassungsänderungen, für die kein anspruchsvolles Sonderprocedere nötig war, intergouvernemental ausgehandelt.327 Hinzu kamen verfassungspolitisch relevante intergouvernmentale Vereinbarungen über einfache Bundesgesetze, wie das erwähnte Gesetz betreffend Verfassungsänderungen, oder über einfache Verpflichtungserklärungen der Bundesregierung, wie bei der Implementation des Ureinwohnerrechts auf Selbstregierung (vgl. Kaiser 2002; Thunert 1997). Die Bundesregierung griff auch in diesem Fall den Vorschlag auf und führte keine Gespräche mit den Provinzexekutiven zu Nunavut. Auch für sie standen explizit die organisatorischen und finanziellen Fragen der Teilung im Vordergrund. Sie befasste sich dabei vor allem mit den Punkten, die zuvor gegen die Territorialreform und ihren Nutzen gesprochen hatten und die sich in der Praxis als Probleme bestätigten.328 An diesem Punkt des Prozesses spielte die globale Kosten-Nutzen-Kalkulation aber keine Rolle mehr. Niemand stellte trotz der Probleme die Grundsatzentscheidung infrage; die Bemühungen richteten sich allein auf die kooperative Abmilderung von Schwierigkeiten und Konflikten. Ohne konkrete Bezugnahme auf die Empfehlung der NIC zur Änderung der Charta erklärte Bundesminister Irwin im März 1997, die Bundesregierung erkenne an, dass ein Minimum an Repräsentation jeder Provinz und jedes Territoriums im Unterhaus und im Senat eine Grundvoraussetzung des kanadischen Föderalismus sei und sie die nötigen Schritte unternehmen werde, um die Angelegenheit einer separaten Repräsentation Nunavuts und der Nordwestterritorien in beiden Kammern vor dem 01.04.1999 zu klären (Irwin 1997). Die Idee, Parlament und Regierung Nunavuts explizit verfassungsrechtlich auf die Befolgung der kanadischen Grundrechtecharta zu verpflichten, wurde danach bewusst nicht mehr weiterverfolgt (Merritt 2006; HoC/Standing Committee 1998a: 1650). Hier zeigte sich einmal mehr ein unintendierter Effekt der kanadischen Verfassungspolitik: Zwar wurde mit der Verabschiedung des Verfassungsdokumentes von 1982 die Politik verrechtlicht und so im Prinzip einer stärkeren Kontrolle durch die Bürger unterworfen (Schultze 1997a). Weil die politischen Akteure die Änderungshürden aber nun als hoch und Verfassungsänderungen riskant wahrnahmen, umgingen oder unterließen sie sie einfach. So ergaben sich Inkonsistenzen in der Verfassung oder wurden Kompensationsmechanismen revitalisiert, denen gerade entgegengewirkt werden sollte. Mit dem Auftrag, die Gesetzgebungsaktivitäten inhaltlich vorzubereiten, richtete das Bundesministerium für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung Ende 1996 eine Arbeitsgruppe ein, die aus Vertretern der Bundesregierung, der NWT-Regierung, der 327 Unter Nutzung der weniger anspruchsvollen Provinzregel waren 1993 mehr Autonomierechte für zwei Provinzen festgeschrieben worden, weitere Verfahren zugunsten Neufundlands und Quebecs ware im Gange. 328 Beispielsweise standen trotz Bemühungen nicht genug qualifizierte Inuit für die neuzuschaffenden Institutionen, v.a. die Führungspositionen, bereit, so dass entgegen den eigentlichen Intentionen der Inuit Personal „von außen“ eingesetzt werden musste, und die Bundesregierung weigerte sich, mehr Geld für jene dezentralen Institutionenmodelle bereitzustellen, die nach Ansicht der Inuit eher ihren Traditionen und Bedürfnissen entsprachen, aber nach ihrer Kalkulation mehr kosteten als sonst üblich (Irwin 1997).
5.1 Kanadisches Fallbeispiel (1992-1998)
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NTI und der Nunavut-Implementationskommission bestand. Im April 1997 folgte Bundesminister Irwin dem Personalvorschlag der Nunavut-Regionalgruppe im NWT-Parlament und ernannte John Anawak zum Übergangskommissar für Nunavut.329 Auch der Übergangskommissar und Vertreter der NIC nahmen – allerdings seltener – an den Treffen der Arbeitsgruppe teil. Dieser Kreis beriet bis Anfang 1998 auf etwa 26 Treffen und Telefonkonferenzen auf Basis von Vorlagen des Bundesministeriums über Änderungen am Nunavut-Gesetz von 1993 und am Verfassungsgesetz von 1867. Die Vorlagen basierten ihrerseits zu großen Teilen auf den Empfehlungen der Nunavut-Implementationskommission und orientierten sich an einer Duplizierung des politisch-administrativen Systems der bisherigen Nordwestterritorien ohne allzu große Abweichungen (Merritt 2006; HoC/Standing Committee 1998a; GN o.J.). Allen Beteiligten waren die zahlreichen Mängel des ersten Nunavut-Gesetzes, seine fehlerhafte und nur teilweise Implementation, das fehlende Monitoring und die Managementprobleme bewusst (HoC/Standing Committee 1998a; Leslie 2004: 17f.). Dies sorgte für ein erhöhtes gemeinsames Interesse an einer möglichst umfassenden und verbesserten Regelung der von der Territorialreform berührten und mit ihr verbundenen Materien. Ungeachtet der Positionsunterscheide der drei Akteure in vielen praktischen Punkten war die Kompromissbereitschaft zugunsten des rechtzeitigen Abschlusses des Verfahrens sehr ausgeprägt. Die Gespräche waren nicht-hierarchisch und durch die gleich bleibende, kleine Zahl der Verhandlungsteilnehmer geprägt. Trotzdem galt, dass die Bundesregierung, die durch Vertreter der Ministerialbürokratie unterhalb der Fachministerebene vertreten war, die Hauptverantwortung trug. Sie trieb die Gespräche voran, um sie zum Abschluss zu bringen, war bemüht, rechtliche Grauzonen auszuschließen und behielt inhaltlich das letzte Wort (Merritt 2006). Die Verhandlungsmacht der liberalen Bundesregierung, die im Juni 1997 (wenngleich mit Verlusten bei Zugewinnen der meisten anderen Parteien) bestätigt wurde, blieb im Laufe der Zeit unverändert groß. Durch das strikte Herunterbrechen der Problematik auf solche Einzelfragen und den Pragmatismus verwischte die Verbindung des Nunavut-Prozesses mit übergeordneten normativen verfassungspolitischen Fragen auch hier. Die Vielzahl noch ungeklärter praktischer und rechtlicher Detailfragen, die im regelungsintensiven Nunavut-Gesetz geklärt werden konnten oder sollten, band die Aufmerksamkeit der Arbeitsgruppe.330 Der Politikwechsel der Regierung hinsichtlich der Aushandlung von Selbstregierungsmodalitäten, der im Prinzip neue Spielräume eröffnete, spielte in den Beratungen keine Rolle, auch die Verfas329 Anawak akzeptierten alle drei Seiten: Er war Inuk, besaß als langjähriger Abgeordneter für den NunavutWahlkreis im kanadischen Unterhaus Erfahrung in der Bundespolitik, gehörte der Bundespartei der Liberalen an, engagierte sich für ein Territorium Nunavut, vertrat aber nicht immer die Positionen des engen internen Kreises der Nunavut-Aktivisten. Der Vorsitzende der Nunavut-Regionalgruppe im NWT-Parlament, Ed Picco, war selbst Mitglied der Liberalen Bundespartei (Phillips 1997). 330 Dieses regelte die Wahl zum Nunavut-Territorialparlament vor dem 01.04.1999, die Gültigkeit von nach NWT-Recht gewährten Rechten, Privilegien, Genehmigungen u.ä., die Übertragung bestehender Pachtverträge auf dem Gebiet Nunavuts von der Bundesregierung an die Regierung von Nunavut, die Machtausstattung des Übergangskommissars für Nunavut, das Recht des Governors in Council, Eigentum von den NWT an Nunavut zu übertragen, sollten keine Vereinbarungen zwischen den Territorien zustande kommen, die Übertragung von Vereinbarungen zwischen der Regierung der NWT und Angestellten im öffentlichen Sektor auf das zukünftige Nunavut, Mechanismen zur Festlegung und Übertragung der Zuständigkeit der NWTbzw. Nunavut-Gerichte und deren Verwaltung sowie die Duplizierung bestimmter Gesetze, die bereits in den NWT galten, für Nunavut, ebenso des Schemas der Regierungsverwaltung, öffentlicher Ämter und Gremien (HoC 1998c: 1545).
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5 Die kooperative Phase
sungsänderungen wurden nie diskutiert (Merritt 2006). Dies lag daran, dass den Beteiligten die Änderungen am Nunavut-Gesetz wesentlich dringlicher schienen, und dass sie die Verfassungsänderungen als Automatismus wahrnahmen (ebd.) – obwohl sie mit ihrem eigenen Handeln, der Umgehung des anspruchsvollen Verfassungsänderungsverfahrens, belegten, dass sie eben kein Automatismus waren. Tabelle 36: Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall K Streitpunkt Verknüpfung von Landabkommen und Territorialfrage
Repräsentationsprinzip: public government vs. Selbstregierung
NWT-Teilung vs. Devolution/ Dezentralisierung Kosten, organisatorische Voraussetzungen und Umsetzung
Ort des Konflikts Bundesregierung vs. ITC/TFN
kein Konflikt in den Aushandlungen, ansonsten Bundesregierung vs. Provinzen, Ureinwohnergruppen untereinander
Ergebnis 1998 gemeinsames Problembewusstsein, Verständnis für je andere Sichtweise, formal separiert, faktisch verknüpft gemeinsames Problembewusstsein, Verständnis für je andere Sichtweise, Selbstverpflichtung der Bundesregierung zur Anerkenung des Ureinwohnerrechts auf Selbstregierung, Grundsatzentscheidung der ITC für Akzeptanz von public government in Nunavut nicht infrage gestellt
kein Konflikt
Grundsatzentscheidung der Bundesregierung für Teilung nicht infrage gestellt
Bundesregierung vs. NWTRegierung vs. ITC, NunavutImplementationskommission
Kompromisse nach eingehenden Verhandlungen
Weder die NTI noch die Bundesregierung oder die NWT-Regierung verfolgten letztlich größere verfassungspolitische Ambitionen, die sie eher mit den gescheiterten Verfassungsrunden auf Bundesebene assoziierten. Der verfassungspolitische Stellenwert, den der Nunavut-Prozess hatte und stärker noch hätte haben können, wurde nicht nachweisbar reflektiert. Aufgrund dieser Anordnung der Verfassungspolitik konnte der Sinn der Verfassungsänderung am Ende der kooperativen Phase schwer politisch debattiert werden (es war eindeutig, dass jede Provinz und jedes Territorium ein Recht auf ein Mindestmaß an Repräsentation auf Bundesebene hatte), sondern allenfalls die dahinter stehenden Pläne der Territorialreform. Die Verfassungspolitik erfüllte hier die Funktion einer rechtlichen Ermöglichungstechnologie, während die normale Politik konstitutionalisiert wurde – wenngleich nicht auf reformerisch-innovative Weise, sondern eher organisch-gradualistisch. Wichtig ist auch, dass die vielen Konfliktpunkte nicht mit der Priorität inhaltlich-substanzieller Gewinnoptimierung gelöst wurden, sondern dass ein prozedurales Ziel: die Herbeiführung einer rechtzeitigen Entscheidung (Gesetzgebung) leitend war (vgl. HoC 1998b-g; SoC 1998a-d).
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000) Im griechischen Fall hatten die Akteure ihre Verfassungsgespräche nach den ersten beiden Abstimmungen 1998 nicht fortgesetzt, sondern die nächsten Wahlen und die von ihnen herbeizuführende Neuverteilung der Verhandlungsmacht abgewartet. PASOK durchlebte in dieser Zwischenzeit infolge ihrer Reformpolitik ein Popularitätstief und wurde in den Europawahlen 1999 nur zweitstärkste Kraft. Trotz der kritischen Stimmungslage entschied
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000)
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sich Premier Simitis Anfang Februar 2000 dazu, die regulär im Herbst anstehenden Parlamentswahlen vorzuziehen, um eine starke Regierung mit erneuerter Legitimation für die anspruchsvollen Verhandlungen über den Beitritt Griechenlands zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu haben und der EU zumindest für die kommenden Jahre eine stabile griechische Wirtschafts- und Finanzpolitik in Aussicht stellen zu können. Er spekulierte angesichts wohlwollender, aber nicht eindeutiger Reaktionen der EU-Partner auf den Beitrittswunsch seiner Regierung darauf, damit die Chancen einer Zusage zu verbessern (ANA 2000d, 2000e).331 Im Wahlkampf konzentrierte sich PASOK darauf, der Regierungspolitik den „Makel einer ‚sozialen Schieflage’ zu nehmen“ und verteilte gezielt „Wahlgeschenke“, die aufgrund der verkürzten Wahlkampfphase aber überschaubar blieben (Axt 2000; ANA 2000c). Simitis stellte den erhofften WWU-Beitritt und die neue Qualität der griechisch-türkischen Beziehungen als besondere Leistungen heraus (ANA 2000f). Am 02.03.2000 erklärte der Premier zwar während der Bekanntmachung des PASOK-Wahlprogramms, dass eine Verfassungsänderung in gegenseitigem Einvernehmen das ganze politische System aufwerten könnte, womit das Motiv des nichtsubstanziellen, prozessualen Nutzens wieder auftauchte, doch im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen PASOK und ND standen ganz andere Themen. Da die Programme der beiden großen Parteien sich in den wichtigsten innenpolitischen Fragen der europäischen Integration, NATO-Einsätze in Jugoslawien, Staatsumbau bzw. Privatisierungen und Abschiebungen nicht stark voneinander unterschieden, erfolgte der Wahlkampf v.a. über materielle Versprechungen der Parteien332 und die symbolische Profilierung über „Erfahrung“ (PASOK) und „Erneuerung“ (ND) (Axt 2000; Tassis 2003: 13; ANA 2000g). Die den Abstimmungen über die Verfassungsänderung(en) zwischengeschalteten Wahlen erfüllten letztlich nicht die ihnen vom Verfassungsgeber zugedachte Funktion eines Quasi-Plebiszits über die initiierten Änderungsinhalte. PASOK setzte sich in den Wahlen mit 43,8 Prozent der Stimmen nur äußerst knapp gegenüber der ND durch (42,7 Prozent), stellte aber aufgrund des Modus der Umrechnung der Stimmen in Mandate mehr als die Hälfte der Abgeordneten, nämlich 158 (vier Abgeordnete weniger als vorher). Sie konnte also ganz allein jene 83 Klauseln ändern, die 1998 eine qualifizierte Dreifünftelmehrheit erhalten hatten und nun die absolute Mehrheit von 151 Stimmen benötigten. Die Neue Demokratie steigerte sich um 17 Mandate auf 125, doch nur bei jenen sieben Verfassungsklauseln, deren Änderung einer Mehrheit von 181 Abgeordneten bedurfte, war die Regierungsfraktion auf eine Kooperation mit ihr angewiesen. Die Kalkulation, durch die Ermöglichung einer Dreifünftelmehrheit 1998 später selbst die Verfassung ändern zu können, hatte sich für die ND nicht erfüllt. Während PASOK sich in der Gunst ihrer Stammwähler behaupten konnte, misslang ihrer linken Abspaltung DIKKI der Wiedereinzug ins Parlament; ihre politische Profilie331 Hatte die Regierung noch im Januar 2000 Parlamentswahlen vor der endgültigen Zusage zum Beitritt Griechenlands zur EWU auf dem EU-Gipfel in Portugal im Juni ausgeschlossen, weil sie erst dann ihr Programm erfüllt habe und sich der Bewertung der Wähler stellen wollte (ANA 2000a, 2000b), so entschied sich Simitis am 04.02.2000 überraschend für den gegenteiligen Schritt. Während die ND ihn aus den von PASOK genannten Gründen als sinnvoll bewertete, lehnten die anderen Parteien ihn wegen der Sprunghaftigkeit, des taktischen Kalküls oder aufgrund ihrer Ablehnung des Beitritts zur EWU an sich ab (ANA 2000e). Der gerade von PASOK und ND neu gewählte Staatspräsident Stephanopoulos (parteilos) stimmte der Parlamentsauflösung und den Neuwahlen zu; das neue Parlament sollte bereits im April zusammentreten. 332 Es ging beispielsweise um Steuererleichterungen, die Senkung des Strompreises, um Einkommensverbesserungen und die Sanierung der Versicherungskassen.
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5 Die kooperative Phase
rung gegen die Ursprungspartei war von den Wählern nicht belohnt worden.333 Von den gegen die EU-Integration eingestellten Akteuren war damit nur noch die KKE im Parlament vertreten, die von der gesellschaftlichen Stimmung gegen den von PASOK und der ND unterstützten NATO-Einsatz im Kosovo profitierte und wie zuvor elf Abgeordnete stellte. Auch die durch Richtungskämpfe für oder gegen eine engere Kooperation mit PASOK gezeichnete Linksallianz erlangte infolge unausgeprägter Profilierung in einem dualistischen Wahlkampf nur noch sechs (minus vier) Mandate. Beide kleinen Parteien besaßen also vor dem Hintergrund einer insgesamt gesunkenen politischen Fragmentierung für das formale Gelingen des Verfassungsänderungsprozesses keine Bedeutung. Vielmehr konnte PASOK angesichts der Kräftekonstellation den Großteil der Verfassungsänderungen nach eigenen Vorstellungen gestalten (Chiotis 2000: A24). Nach den Wahlen benannte Premier Simitis den Ausbau des Sozialstaates und weniger Bürokratie als aktuelle Aufgaben der neuen Regierung. Zugleich strebte diese an, die Neuformulierung der „unter Revision stehenden“ Klauseln zu präzisieren und „effektiv zu formulieren“, um Implementierungsprobleme und den Eindruck eines Versagens zu vermeiden. Ein weiteres Ziel bestand darin, für die Verfassungsänderung den größtmöglichen Konsens zu gewinnen (Chiotis 2000: A33; Venizelos 2002: 25). Der PASOK-Chefbeauftragte für die Revision Venizelos widmete sich ganz dieser Aufgabe und amtierte in dieser kurzen Zeit vorübergehend nicht als Minister.334 In einem grundsätzlich etwas entspannteren innenpolitischen Klima, das nach dem Abtritt der älteren „Vater- und Führerfiguren“ (Zervakis 1999: 637) infolge der stärkeren Kompromissorientierung der Parteivorsitzenden Simitis und Karamanlis entstanden war (Venizelos 2002: 37), betrachtete es Venizelos als seine Mission, eine möglichst breite Akzeptanz der Verfassungsänderung zu mobilisieren. Zwar formulierte PASOK, den Gewohnheiten der „normalen“ Gesetzgebung folgend, die grundlegenden Inhalte der Verfassungsänderung, doch Venizelos verstand sich als Koordinator eines schwierigen und komplexen Prozesses, der neben den inhaltlichen Punkten auch darauf gerichtet war, in vielen Diskussionen, Kontakten und Treffen Zustimmung zu erwerben (Venizelos 2002: 20 ff.). Er trug dabei als sinngebende Metageschichte für die Vielzahl einzelner Änderungen vor, das gemeinsame Ziel der Parteien bestehe darin, den Populismus und die von Skandalen geprägte Atmosphäre der 1980er Jahre endgültig zu überwinden und nicht nur das Land (im Sinne Simitis’), sondern auch die Verfassung im Bewusstsein der hohen Verantwortung konsensual zu modernisieren. Dieses Anliegen sprach andere Akteure an (Venizelos 2000; Alivizatos 2001b: 168 ff.). Die Sicht wurde durch Veröffentlichungen weiterer prominenter PASOK-Rechtsexperten gestärkt, so Andreas Loverdos und Dimitris Tsatsos (Loverdos 2000; Tsatsos 2001). Ihre Deutungen des verfassungspolitischen Vorhabens griffen auf aktuelle Entwicklungen der Innenpolitik zurück, die zuvor nicht revisionsleitend gewesen waren, und bemühten sich um die Verdeutlichung einer konzeptionellen Kohärenz, die es nicht gegeben hatte.335 333 Zum Teil ließen sie sich trotz Unzufriedenheit mit der Politik vom taktisch ausgerichteten PASOK-Slogan überzeugen: „Wer links von uns wählt, wählt ND“. 334 Zuvor Kulturminister, amtierte Venizelos vom 19.02.1999 bis zum 13.04.2000 als Entwicklungsminister. Nach den Arbeiten im parlamentarischen Revisionsausschuss wurde er am 20.11.2000 wieder Kulturminister. 335 So nannte der Verfassungsrechtler und PASOK-Europaabgeordnete Tsatsos sieben historische Herausforderungen für das griechische politische System: (1) die privatwirtschaftlichen Interessen als Gefahr für die Demokratie, (2) die Zuverlässigkeitskrise des politischen Prozesses und der parlamentarischen Institutionen, (3) die Rolle der Medien im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung, (4) die Krise des Sozialstaates, (5) die Tatsache, dass Griechenland zu einem Einwanderungsland geworden ist, (6) den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt, der nicht nur die Verbreitung von Informationen, sondern auch Dilemmata
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000)
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Die formale Diskussion der Änderungsvorlagen konzentrierte sich auf den parlamentarischen Revisionsausschuss, dessen parteimäßige Zusammensetzung der Sitzverteilung im Parlament entsprach. Er traf am 30.08.2000 erstmals zu inhaltlichen Diskussionen zusammen336 und schloss diese nach 21 Sitzungen in sieben Wochen am 19.10.2000 ab. Eine für die Professionalität der Arbeit sprechende personelle Kontinuität, die der Chefbeauftragte PASOKs in der Besetzung der Revisionsausschüsse gewahrt sah (Venizelos 2002: 63f.), galt am ehesten für die ND, von deren Ausschussmitgliedern 70,4 Prozent bereits im vorangegangenen Ausschuss gesessen hatten. Bei PASOK hatten hingegen nur 31,8 Prozent der Mitglieder bereits zuvor an den Aushandlungen teilgenommen, darunter aber die entscheidenden Führungspersonen, besonders Venizelos selbst. Auch der Parlamentsvorsitzende Apostolos Kaklamanis (PASOK), der in dieser Funktion am Ausschuss teilnahm, amtierte bereits seit 1993.337 Während die prominentesten PASOK-Abgeordneten als Minister tätig waren und dem intensiv tagenden Ausschuss daher nicht angehörten, entsandten die anderen Parteien vor allem bekannte Abgeordnete. Im Ausschuss kamen die verschiedenen Sichtweisen gut zu Wort. Die Fähigkeit, die Diskussionen zu beeinflussen, hing dabei nicht nur von der (innerparteilichen) Machtstellung ab, sondern auch von der wahrgenommenen Fachkompetenz, dem Auftreten und Vertrauensbeziehungen. Dies galt nicht nur für den moderat auftretenden Venizelos, der in seiner Funktion ein hohes Ansehen erwarb (das als persönliches Motiv seinerseits kooperationsantreibend wirken kann), sondern auch für die anderen Akteure.338 Trotz der vielen inhaltlichen Differenzen gelang es in der kooperativen Phase, eine für Griechenland untypische Vertrauensbeziehung und parteiübergreifende Zusammenarbeit zumindest zwischen den beiden großen Akteuren PASOK und ND herzustellen, die davon absahen, sich, wie sonst üblich, der Täuschung zu bezichtigen. Die ND-Spitzenfachpolitiker Pavlopoulos und Varvitsiotis gaben selbst bei Konfliktthemen nicht konfrontative, sondern gemischte, sachlich ausgerichtete Stellungnahmen zum Verfassungsänderungsvorhaben ab (Pavlopoulos 2000; Varvitsiotis 2001), während Experten, die (aktuell) keine politischen Ämter innehatten, sich eher skeptisch äußerten (Alivizatos 1998, 2000, 2001a-c; Sotirelis 2001a-c;
schaftlichen Fortschritt, der nicht nur die Verbreitung von Informationen, sondern auch Dilemmata hinsichtlich der Bioethik mitbrächte, sowie (7) die europäische Integration im Rahmen der Globalisierung und das Schicksal der institutionellen, der kulturellen und der nationalen Dimension des Staatswesens (Eleftherotypia 2001; Tsatsos 2001: 16). 336 Der gegenüber vorher um neun auf 41 Abgeordnete verkleinerte Revisionsausschuss konstituierte sich am 01.06.2000. 337 Insgesamt saßen von den 49 Teilnehmern des 1997 eingesetzten Ausschusses nur noch 20 und damit weniger als die Hälfte im neuen Revisionsausschuss. Die Wiedervertretungsrate der ND im 2000 konstituierten Revisionsausschuss entsprach der Wiederwahlrate ihrer Abgeordneten, die von PASOK wich deutlich von ihrer Wiederwahlrate (72,2 Prozent) ab. KKE und Linksallianz stellten je ein Mitglied, ersteres war neu, letzteres ein Rückkehrer (Zahlen nach Diakogiannis 2000: 8; VTE 1997; 2000). 338 Der Chefbeauftragte der ND für die Verfassungsänderung, Ioannis Varvitsiotis, ehemaliger Minister, verfügte beispielsweise über innerparteilichen Einfluss und hatte in der Vergangenheit auch für den Vorsitz der Partei kandidiert. Trotz seiner einflussreichen Position nutzte er seine Funktion nicht, um sich zum Schlüsselakteur der ND zu entwickeln. Der ND-Fraktionssprecher und Verfassungsrechtler Prokopis Pavlopoulos verfügte hingegen über relativ geringen innerparteilichen Einfluss und war in der Zeit der Verfassungsänderung zunächst schwächer als Varvitsiotis, entwickelte sich jedoch aufgrund seiner parlamentarischen Funktion, seiner Fachkenntnisse, seiner dynamischen Ausstrahlung und seiner Vertrauensbeziehung zu Kostas Karamanlis ebenfalls zu einem einflussreichen Akteur.
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5 Die kooperative Phase
Makrydimitris 2000).339 Dies, die Seltenheit und daher wahrgenommene besondere Bedeutung der Verfassungsänderung verursachten im Ausschuss Begeisterung für die eigenen gestalterischen Möglichkeiten und einen „Revisionsmaximalismus“, den PASOKVerhandlungsführer Venizelos zu bremsen versuchte (Venizelos 2002: 121f.).340 Die avisierten Inhalte der Verfassungsänderung änderten sich nun nicht mehr derart stark wie in der individualistischen Phase. Dies lag zum einen daran, dass die recht allgemein gehaltenenen Revisionsvorschläge des vorangegangenen Parlaments relativ frei umgesetzt werden konnten und dass zweitens die Änderung der meisten diskutierten Klauseln 1998 von beiden großen Parteien befürwortet worden war. Ein grundlegender Wandel der verfassungspolitischen Themen war daher schwer vermittelbar. Allerdings blieben die diskutierten Verfassungsänderungen vielfältig, komplex und oft zu spezifisch, um sich aus grundsätzlichen parteiprogrammatischen Konfliktdimensionen ableiten zu lassen. Bei einigen Modifikationen, die normativ-ideologisch geprägt waren (z.B. Wehrersatz, Religion, Bereitschaft zur EU-Integration) und die die persönlichen Interessen der Abgeordneten berührten (Unvereinbarkeitsklauseln), blieben auch im neuen Parlament die Positionen der Parteien als Kollektivakteure latent fragil. In 17 der 21 Sitzungen führte der Revisionsausschuss inhaltliche Diskussionen über die Änderungsinhalte, wie zuvor im Wesentlichen in der Reihenfolge ihrer Regelung in der Verfassung. Deutlich mehr Sitzungen als im vorangegangenen Ausschuss widmeten sich aber zentralen politischen Institutionen, nämlich dem Präsidentenamt (4), Parlament und Regierung (6) sowie dem Wahlsystem (3), obwohl diese von den zu ändernden Klauseln nur einen kleinen Teil ausmachten (Angaben in Sotirelis 2001b). Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche (Art. 3, 13) sowie die Transparenz im politischen Leben traten außerdem als eigenständige Sitzungsthemen auf die Tagesordnung. Dabei konnte Art. 3 gar nicht geändert werden, weil PASOK ihren entsprechenden Vorschlag ja bereits 1996 mit Zustimmung der ND zurückgezogen hatte. Ebenfalls wieder diskutiert wurde eine Zulassung nichtstaatlicher Universitäten, die 1998 bereits im ersten Wahlgang gescheitert war. Bei allen ausführlicher und eigenständig diskutierten Themen gab es bei den Ausschussmitgliedern ein besonderes Interesse, war jedoch auch latent umstritten, ob verfassungspolitische Maßnahmen nötig waren und wie sie aussehen sollten. Einig waren sich die politischen Akteure wie bereits 1998 darin, den Schutz von Individualrechten zu erweitern (ausgenommen Wehrersatz und Immigrantenrechte), das Verfahren der politischen Entscheidungsfindung sowie das Recht auf passive Wahl zum Staatspräsidenten leicht zu modifizieren. Diese Änderungen waren schon allein aufgrund der Betroffenheit und der Erfahrungswerte der Akteure relativ leicht zu erschließen und verursachten bei niemandem konkrete Kosten, so dass alle Kollektivakteure im Ausschuss hier kooperationsbereit waren und letztlich den Formulierungen im Ausschuss zustimmten.341 PASOK machte die konsensgetragene Erweiterung von Individualrechten, die ur339 Der Verfassungsrechtler Alivizatos bezeichnete etwa die Verfassungsänderung nach der Parlamentswahl 2000, als die Intentionen PASOKs deutlicher wurden, als „gefährlich“, da sie das Problem der Verflechtung von Politik und Wirtschaft nicht löse, sondern sich auf bloße Deklarationen beschränke (Alivizatos 2000: 12). 340 Im Zeitraffer wiederholte sich hier möglicherweise der für den Beginn verfassungspolitischer Verhandlungen festgestellte Mechanismus der Komplexitätsextension (Kapitel 4.5). 341 Die Klauseln umfassten in Art. 5a: das Recht auf Informationsgewinnung (sofern gesetzliche Einschränkungen nicht „absolut notwendig und aus Gründen der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung der Kriminalität oder des Schutzes der Rechte und Interessen Dritter gerechtfertigt sind“) und Förderung des Individualrechts auf Beteiligung an der Informationsgesellschaft durch den Staat; in Art. 5c: das Recht auf Schutz des Gesundheit und der genetischen Identität; in Art. 6 (4): das Verbot, die Höchstgrenzen der
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000)
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sprünglich als letztes von fünf Revisionszielen genannt worden war, endgültig und außenwirksam zum Schwerpunkt der Verfassungsänderung. Sie verwies darauf, europäische Maßgaben342 berücksichtigt zu haben, was sich beispielsweise am Verbot der Todesstrafe zeige, und stellte die Verankerung des sozialen Rechtsstaates in Art. 25 (1) als Rahmen zum Schutz aller Grundrechte heraus (Venizelos 2002: 131; 2002a: 528). Dass dieser wichtigste Teil der Verfassungsänderung, der mit der politischen Neupositionierung PASOKs seit 1996 harmonierte, sozialdemokratische Werte mit „moderner“ Wirtschaftspolitik und kulturellem Liberalismus bzw. Postmaterialismus zu verknüpfen (Bilios 2003: 21), bei den anderen Akteuren Unterstützung fand, reflektierte die Verfestigung bestimmter normativer Grundeinstellungen in den Parteien. Da sich dem individuellen Grundrechtsschutz auch einfachgesetzliche und andere Maßnahmen PASOKs gewidmet hatten, nahm die Verfassungsänderung hier großteils existierende Regelungen343 auf (Chryssogonos/Contiades 2004: 32; Filos 2002: 998) – allerdings wiederum nur in dem Maße, wie sie die politische Macht PASOKs nicht einschränkten und ohne starke Widerstände in Griechenland durchsetzbar schienen (s. Kapitel 4.2). Dies zeigte sich etwa daran, dass PASOK Abstand von ihrem Plan nahm, Art. 5 um einen zweiten Absatz zu den Rechten von Immigranten zu ergänzen. Dieser Änderung hatten 1998 neben ihr DIKKI, die Linksallianz und selbst einige ND-Abgeordnete zugestimmt, wodurch nun nur noch eine absolute Mehrheit notwendig war. Trotzdem beschränkte sich die Regierungsmehrheit auf einfachgesetzliche und weitere Schritte und umging verfassungspolitische Konflikte.344 Einen parteiübergreifenden Konsens aller Mitglieder des Revisionsausschusses fanden Ergänzungen in Art 38 (2) zur Nachfolge des Ministerpräsidenten für den Fall seiner Unfähigkeit zur Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen. Bis dahin berücksichtigte die Verfassung nur die Fälle seines Rücktritts oder Todes. Die Regelungen sahen grundsätzlich wie zuvor eine eher notarielle Beteiligung des Präsidenten und eine bedeutendere des Parlaments an dem Verfahren vor, waren jedoch detaillierter (und teils sehr kompliziert) forsundheit und der genetischen Identität; in Art. 6 (4): das Verbot, die Höchstgrenzen der Untersuchungshaft durch die sukzessive Verhängung dieser Maßnahme für Teilstraftaten derselben Sache zu überschreiten; Art. 10: die Verpflichtung von Behörden, innerhalb von 60 Tagen Anträge auf Informationen und auf die Ausgabe schriftlicher Dokumente zu beantworten; Art. 14 (5) und (7): das Recht auf Widerruf unrichtiger Veröffentlichungen und Sendungen durch die Medien und zivilrechtliche und strafrechtliche Haftung von Kommunikationsmitteln; in Art. 21 (5) und 21 (6): die demografische Politik als Staatspflicht und das Recht behinderter Personen auf Maßnahmen, welche ihre Autonomie, ihre berufliche Tätigkeit und ihre Teilnahme an dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes sicherstellen; in Art. 116 (2) die „Vornahme von positiven Maßnahmen zur Förderung der Gleichheit zwischen Männern und Frauen“ durch den Staat sowie die Ergänzung in Art. 31, dass zum Staatspräsidenten wählbar ist, wer mindestens fünf Jahre griechischer Staatsbürger und väterlicher- oder mütterlicherseits griechischer Abstammung ist. 342 Venizelos nannte konkret die Ziele und Inhalte des Nizza-Vertrags und die Europäische Menschenrechtskonvention. 343 Dazu zählten 1997 die gesetzliche Etablierung ziviler Ersatzdienstleistungen für Wehrdienstverweigerer sowie des Amtes des Ombudsmannes oder 1998 die Abschaffung der Todesstrafe per Gesetz, die gesetzliche Einführung der öffentlich-rechtlichen Nationalen Kommission für Menschenrechte (die allerdings erst 2001 von der Regierung eingesetzt wurde) sowie die Streichung des Art. 19 im Staatsbürgerschaftsgesetz, der die Ausbürgerung von Personen nichtgriechischer ethnischer Herkunft erlaubte, die ins Ausland reisten. 344 1999 hatte ein Präsidialdekret die Rechte von Asylsuchenden ausgeweitet und die UNHCR-Standards der Asylprozeduren berücksichtigt, 2000 beschloss das Parlament ein neues Einwanderungsgesetz, das sich an den Richtlinien der UN-Konvention zum Status von Flüchtlingen von 1951 und seinem 1967er Protokoll orientierte, außerdem startete die nach 1998 zweite Regierungskampagne zur Legalisierung illegaler Immigranten.
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muliert. Dies entsprang der Erfahrung mit der letzten Amtszeit des damals todkranken Andreas Papandreou, als der politische Prozess im premierministerdominierten System gelähmt war und gleichzeitig Unklarheit bestand, wie mit der Situation rechtlich zu verfahren sei. Drei weitere im kompletten Konsens der im Ausschuss sitzenden Kollektivakteure formulierte Änderungen stellten auf Funktionalitätsverbesserungen versprechende Modifikationen des politischen Systems ab.345 Ebenso wie die Präferenzüberschneidungen der Parteien in den genannten Themen bestanden in dieser Phase des Verfassungsänderungsprozesses aber auch die teils deutlichen Positionsunterschiede bei wichtigen Streitpunkten der Gespräche bis 1998 fort: dem Recht auf Wehrdienstverweigerung, der Verflechtungsproblematik, der Geltung des Völkerrechts, der Zuständigkeit für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen sowie der Ausgestaltung der Dezentralisierung. Auf Widerstand traf weiterhin das Vorhaben PASOKs, die in Art. 4 (6) enthaltene Wehrpflicht, die mit der Gewissensfreiheit kollidierte, zu lockern und ein verfassungsmäßiges Recht auf die Ableistung eines Alternativdienstes aus Gewissensgründen zu erlauben. Ein entsprechendes Gesetz hatte die Partei bereits 1997 durchgesetzt. Die ND blieb bei ihrer ablehnenden Haltung und ließ sich als Partei trotz ihrer traditionell europafreundlichen Haltung auch nicht durch das Argument überzeugen, dass die geltende absolute Wehrpflicht Standards des Europarates nicht genüge (Filos 2002: 1000). Letztlich lenkten beide großen Parteien ein und einigten sich auf eine Neuformulierung in Form (nur) einer „Auslegenden Erklärung“ zum entsprechenden Verfassungsartikel, die aber PASOK entgegenkam.346 Vor dem Hintergrund einer übereinstimmenden Grundhaltung in Politik und Gesellschaft, dass die Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen ein virulentes Problem darstellte, entbrannten hitzige Diskussionen über die Art der Lösung dieses Problems in den Bereichen Parteienfinanzierung (Art. 29), Vereinbarkeit des Abgeordnetenmandats mit anderen Tätigkeiten (Art. 57) und Medienregulierung (Art. 14). Die Medien reagierten auf diese Auseinandersetzungen, die nicht klar entlang der Parteilinien stattfanden, mit einer besonderen Berichterstattung und trieben sie dadurch weiter an. Zudem war bei bestimmten Punkten auch eine politisierte Darstellung in dem Sinne erkennbar, dass manche Positionen verstärkt oder einseitig verbreitet wurden. Dies betraf v.a. die Diskussion um die „Verflechtung“ politischer und wirtschaftlicher Interessen. Regierungsnahe Medien behaupteten, es gäbe keine Beziehung zwischen PASOK-Politikern und unternehmerischen Interessen. Andere Medien und die Opposition vermuteten eine Verflechtung, die die Verfassungsänderung zugunsten der oben erwähnten Interessen beeinflussen könne, so im Fall des Art. 14 (9) hinsichtlich des Eigentumsstatus der Kommunikationsmittel (Kalliagkopoulos 2001a). Die Kombination aus einer Präferenzüberlappung im Grundsatz mit parteiunabhängigen Differenzen über die institutionelle Umsetzung führte dazu, dass die Parteispitzen ers345 Dazu zählten in Art. 22 (3): die gesetzliche Regelung des Abschlusses von Tarifverträgen öffentlicher Beamter und Beamter öffentlicher Selbstverwaltungskörperschaften oder sonstiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts; in Art. 95 Änderungen zur Aufgabenwahrnehmung und zum Delegationsrecht des Staatrates sowie die Pflicht der Verwaltung, sich allen Gerichtsentscheidungen zu fügen (nicht mehr nur den Aufhebungsentscheidungen) sowie Modifikationen in Art. 100A betreffend die gesetzliche Regelung der Zusammensetzung und Funktion des juristischen Rates des Staates, den Dienststatus der dortigen Amtsträger und Beamten und weitere Regelungen (Gehalts-, Rentenzahlungen u.ä.). 346 Sie besagte, die Vorschrift des Abs. 6 schließe nicht aus, dass durch Gesetz das obligatorische Angebot anderer Dienste innerhalb oder außerhalb der Streitkräfte vorgesehen wird für Personen, die einen belegten Widerspruch aus Gewissensgründen gegen den bewaffneten oder allgemeiner gegen den Militärdienst erheben.
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tens ihre konkreten Zielvorstellungen hier lange im Unklaren beließen – teils absichtlich, teils aufgrund interner Abstimmungen, und dass zweitens die Gespräche relativ offen verliefen und beide großen Parteien im Revisionsausschuss zugunsten von Kompromisslösungen bei allen drei Themen einlenkten (Chiotis 2000: A33). Auch hier war ein inhaltliches Zurückweichen von seiten PASOKs nicht notwendig, da sie die Regelungen mit eigener Mehrheit verabschieden konnte. Im Ergebnis einigten sich die Parteien auf Regelungen für eine transparente staatliche Parteienfinanzierung, für die Entflechtung von Medien und (staatsnaher) Wirtschaft347 sowie auf die Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandates mit einer anderen beruflichen Tätigkeit. Die von Venizelos zunächst ohne Rücksprache mit den Parteien formulierten Klauseln, die die Unvereinbarkeit teils auch auf Verwandte direkt betroffener Personen (z.B. Eigentümer, Vertragspartner) ausdehnten, waren insgesamt recht rigide, fanden aber die Zustimmung im Ausschuss (Eleftheriadis 2005: 323). Auch die Auseinandersetzungen um Art. 28 (1) zur Geltung des Völkerrechts und 36 (2) zur Ratifizierung internationaler Verträge fanden bei innerparteilichen Präferenzunterschieden statt, wenngleich diese nicht so stark ausgeprägt waren wie bei der Unvereinbarkeitsproblematik. Der ND, deren Zustimmung die Änderung beider Artikel bedurfte, war es wichtig, die nationalen Interessen zu wahren und Souveränitätseinbußen überschaubar zu halten, während die PASOK-Regierung in Abwendung von ihrer traditionellen Europapolitik weiterhin integrationsfreundliche und stärker mit der EU-Politik harmonierende Klauseln anstrebte. Im Art. 28 (1) wollte sie den Passus streichen, dass die Anwendung des Völkerrechtes und internationaler Verträge gegenüber Ausländern stets unter der Bedingung der Gegenseitigkeit erfolgt, doch lehnte die ND-Spitze die Änderung ab. Hintergrund der Meinungsdifferenzen348 waren die in der „normalen“ Politik heiß debattierten Probleme der Migration (v.a. illegaler Einwanderer), der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und territorialer Streitigkeiten mit der Türkei (Axt 1997a, b). Unterschiedliche Vorstellungen vertraten die beiden größten Akteure auch hinsichtlich Neuregelungen der Justiz. Diese leiteten sich teils aus ihren divergierenden politischen Grundeinstellungen dazu ab, welche Rolle die Justiz innerhalb des Verfassungsgefüges spielen sollte (Kapitel 4.2), teils aus ihren rationalen Interessen als Regierungs- bzw. Oppositionspartei. Bislang besaß beispielsweise die Regierungspartei die Möglichkeit, über die Nominierung der Präsidenten der drei Obersten Gerichte und ihrer Stellvertreter Einfluss auf die Justiz zu nehmen, was die ND als Oppositionspartei ablehnte. Während PASOK ihre Vorschläge oft mit dem Ziel einer „Rationalisierung“ von Verfahrensabläufen begründete (Venizelos 2002a: 532f.349), mutmaßte die ND zunächst, sie wolle die juristischen Kontrollorgane gezielt schwächen (Diakogiannis 2001a: 12; vgl. auch Panagopoulos 2002). Trotzdem zeigte sie sich im Ausschuss bei den meisten Klauseln, die ihrer Zustimmung gar nicht bedurften, einem Kompromiss oder einer Unterstützung der Regierungspläne gegenüber of-
347 Verboten werden sollte, als Eigentümer, Hauptaktionär oder Geschäftsführer eines Kommunikationsmittelunternehmens gleichzeitig Eigentümer, Hauptaktionärs oder Geschäftsführer eines Unternehmens zu sein, das Auftragnehmer, Lieferant oder Dienstleister des Staates ist. 348 Hinsichtlich der entsprechenden Änderungen in den Absätzen 2 und 3 stimmten beide Parteien überein. 349 Dies galt beispielsweise für die von PASOK vorgesehene Neuregelung des Art. 95 (3). Sie sah vor, dass durch Gesetz die Entscheidung über Gruppen von Angelegenheiten aus der Aufhebungszuständigkeit des Staatrates entsprechend ihrer Besonderheit oder ihrer Wichtigkeit den ordentlichen Verwaltungsgerichten zugewiesen werden könne.
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5 Die kooperative Phase
fen.350 In einigen Fällen ergänzte sie zusätzliche eigene Abstimmungsvorschläge, denen PASOK nicht zustimmte. Kleinere Formulierungskompromisse gab es bei Art. 86 (Ministerverantwortung), 94 (Zuständigkeiten der Gerichte), obwohl PASOK diese allein verabschieden konnte. Im Falle des Art. 93 (3), bei dem die Mehrheitspartei auf die Zustimmung der ND angewiesen war, um die Klausel ändern zu können, verzichtete sie auf jede inhaltliche Vorgabe und verwies in dem Artikel auf die einfachgesetzliche Regelung der Aufnahme einer etwaigen Minderheitsmeinung in ein Gerichtsurteil und dessen Veröffentlichung. Ausgangspunkt der Verhandlungen über Verwaltung, Dezentralisierung und örtliche Selbstverwaltungskörperschaften (Art. 102) waren das Ende 1997 vom Parlament verabschiedete Gesetz über die Errichtung kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften sowie PASOKs Ziel, die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften zweiter Stufe und die Selbstständigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften aller Stufen in ihrer Verwaltung und ihren Finanzen verfassungsrechtlich zu konsolidieren sowie die Beziehungen zwischen der Dezentralisierungsstruktur der Verwaltung und den einzelnen Stufen der örtlichen Selbstverwaltung besser verfassungsrechtlich zu regeln. Diese Formulierungen, die sich schon im Bericht des parlamentarischen Revisionsausschusses vom 21.06.1996 fanden, tauchten praktisch unverändert im am 04.06.1997 beim Parlament eingereichten schriftlichen Vorschlag der PASOK zur Verfassungsänderung sowie dem 1998 vorgelegten Vorschlag des Revisionsausschusses auf (Sotirelis 2001b: 58, 68, 82, 169). PASOK bezeichnete sie als notwendig, um die Selbstverwaltungskörperschaften zu fördern und ihr Verhältnis zur dezentralen staatlichen Verwaltung präzisieren zu können. Sie strebte eine symbolische Aufwertung des in der Verfassung enthaltenen Dekonzentrationsprinzips an, die Behebung der Funktionsdefizite der Verwaltung und eine Eindämmung ihrer Kosten, lehnte dabei aber die von der ND weiterhin vorgeschlagene Möglichkeit lokaler Referenden explizit ab, um eventuelle Risiken der Dezentralisierung gering zu halten. Die ND hatte bereits im vorangegangen Parlament konkrete Vorschläge unterbreitet, die seit 1997 ebenfalls im Wesentlichen unverändert geblieben waren.351 Sie teilte grundsätzlich das von PASOK avisierte Ziel einer allgemeinen Dezentralisierung, wollte das Prinzip symbolisch stärken, Funktionsdefizite der Verfassung beseitigen sowie über Referenden zusätzliche Möglichkeiten politischer Einflussnahme außerhalb nationaler Parlamentswahlen schaffen. Außerdem meldeten sich bei dieser Problematik auch die von den Plänen betroffenen Verbände der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften zu Wort, die in einer Stellungnahme am 19.09.2000 die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung und des Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der Beteiligung des Landes an der europäischen Integration forderten sowie – wie die ND – die Ermöglichung lokaler Referenden als Instrument, um die Perspektive einer effektiven örtlichen Demokratie zu fördern (Sotirelis 2001b: 33; Ladi 2005: 12). Sie griffen damit die von der Regierungspartei zur Legitimierung ihrer Reformpolitik benutzte 350 So bei der Thematik der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen (Art. 100), der Art und Weise, wie Strafverfahren gegen aktuelle oder ehemalige Minister eingeleitet und durchgeführt werden sollten (Art. 86), sowie den Kompetenzen des Staatsrates. 351 Der erste Satz des Abs. 5 sollte neu formuliert werden: „Der Staat beaufsichtigt – durch seine regionale Organe- die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften, indem er sie ausschließlich auf ihre Gesetzmäßigkeit kontrolliert, ohne ihr freies Handeln zu stören“. Der erste Satz des Abs. 6 sollte lauten: „Der Staat garantiert die notwendigen Ressourcen für die Erledigung des Auftrags der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften“. Im vierten Absatz sollte ergänzt werden: „Die Organe der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften können für gesellschaftliche Themen lokaler Bedeutung Referenden abhalten, wie das entsprechende Gesetz vorsieht“ (Sotirelis 2001b: 87, 112).
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000)
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europäische Integration auf, um die Forderung nach maximaler Ausweitung ihrer eigenen Kompetenzen und Unabhängigkeit zu begründen. Über die Verbände hinaus war das gesellschaftliche Interesse an der Problematik äußerst gering (Ladi 2005: 12). PASOK nahm die meisten ND-Vorschläge in abgewandelter Form auf, lehnte die Referenden aber als zu weit entfernt von der griechischen Realität ab. Bei dieser Entscheidung war die Stellungnahme des Staatsrates bedeutungsvoll, während weitere, parteiunabhängige Expertisen nicht eingeholt wurden (Ladi 2005: 11f.). Beide Parteien einigten sich darauf, in die Verfassung eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften bei der Verwaltung der örtlichen Angelegenheiten einzufügen und ihnen auch Selbständigkeit in ihren Finanzen zuzuschreiben. Die alte Regelung, dass der Staat die Aufsicht über die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften ausübe, ohne deren Initiative und freie Tätigkeit zu hindern, wurde dahingehend umformuliert, dass seine Aufsicht nur eine Gesetzmäßigkeitskontrolle umfasst und die Initiative und freie Tätigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften nicht behindern dürfe. Hervorzuheben ist allerdings, dass PASOK in wichtigen Punkten unklare Formulierungen wählte oder Regelungen in die leicht zu verabschiedenden oder zu ändernden einfachen Gesetze verlagerte, so etwa das „Ausmaß und die Kategorien der örtlichen Angelegenheiten sowie deren Verteilung auf die Stufen der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften“. Ebenso sollte der Staat den Körperschaften der örtlichen Selbstverwaltung einfachgesetzlich die Ausübung von Zuständigkeiten übertragen können, die eine Staatsaufgabe bildeten. Zugleich bestätigte der neue Kompromissentwurf das Steuermonopol des Staates und seine Verantwortlichkeit dafür, Mittel bereitzustellen, die zur Erfüllung der Aufgaben und Ausübung der Zuständigkeiten der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften erforderlich sind. Wie und wer die Höhe der „erforderlichen Mittel“ festlegte, wurde nicht präzisiert. Die gefundene Kompromissformulierung entsprach also dem von beiden Parteien angestrebten Ziel einer Dezentralisierung, ihre Formulierung oder auch Nichtformulierung bediente jedoch gleichzeitig das Interesse PASOKs an einer weiterhin großen politischen Gestaltungsmöglichkeit und wenig Machtabgabe. Da der Entwurf nicht die Möglichkeit beinhaltete, lokale Referenden einberufen zu können, formalisierte die ND bei genereller Zustimmung zur Änderung des Art. 102 ihren Vorschlag für die Aufnahme einer entsprechenden weiteren, ergänzenden Klausel in diesem Artikel. Der Konflikt um die Wahl des Präsidenten blieb bestehen. Der ND-Vorsitzende Karamanlis hatte auf einem Parteikongress im Januar 2000 vorgeschlagen, eine Direktwahl des Präsidenten durch die Bürger einzuführen, was einen kompletten programmatischen Bruch darstellte, denn für die ND war eine Direktwahl seit ihrer Gründung ein Tabu gewesen. Der Vorstoß setzte nicht nur auf die erhoffte Popularität solcher Wahlmöglichkeiten, sondern dahinter stand auch die Idee, dass man sich so dem traditionellen verfassungspolitischen ND-Ziel eines stärkeren Präsidenten in einem System aus checks und balances nähern könnte, da die unmittelbare demokratische Legitimation des Präsidenten seine faktische Rolle als Mittler und Autoritätsperson sowie langfristig auch seine rechtlichen Kompetenzen stärken würde (Alivizatos 2001b: 196, 200f.). PASOK aber erklärte sich nicht mehr zu einer Direktwahl bereit, sondern sprach sich wieder wie ursprünglich für das modifizierte Procedere einer Wahl des Präsidenten durch im Parlament aus. In diesem Punkt war ein Kompromiss zwischen den Parteien zum einen sachlich nicht möglich, zum anderen aus Gründen der ideologischen Profilierung nicht opportun oder erstrebenswert. In der Diskussion verknüpfte die ND die von PASOK angestrebte Neuregu-
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5 Die kooperative Phase
lierung in Art. 32 immer wieder mit einer Diskussion über die Kompetenzen des Staatsoberhauptes (Art. 36), die später auch zweimal als eigener Tagesordnungspunkt im Parlamentsplenum debattiert wurden. Sie konnte sich dabei auch auf Aussagen von Verfassungsrechtlern stützen, die eine Erweiterung der präsidialen Kompetenzen im Sinne eines „checks-and-balances“-Systems befürworteten (Makrydimitris 2000: 1215 ff., 2001: 14). Dieses Thema war auch das einzige, zu dem sich Präsident Konstantinos Stefanopoulos inhaltlich äußerte.352 Motiviert war er dazu als selbst Betroffener und als jemand mit einschlägiger Erfahrung aus dem Amt. Er begrüßte zwar seit 1997 öffentlich die Verfassungsänderung, positionierte sich aber ansonsten nicht hinsichtlich ihrer Ausgestaltung. Unterschiedliche Positionen vertraten die Parteien außerdem zu einigen von PASOK angestrebten politischen Verfahrensänderungen, die im Gegensatz zur ursprünglich deklarierten Zielsetzung einer Aufwertung der parlamentarischen Institutionen die größte Partei im Parlament und damit faktisch die Regierung stärkten. Zu nennen sind hier die Abschaffung des Art. 76 (8) betreffend das Wiedereinbringungsverbot für einmal im parlamentarischen Plenum oder Ausschuss abgelehnte Gesetzentwürfe, Art. 101 A (2) betreffend die Ernennung der Mitglieder der unabhängigen Behörden sowie Art. 103 (9) betreffend die Regelung der Berufung und Zuständigkeiten des als unabhängige Behörde fungierenden „Ombudsmannes“. Bei Art. 101A einigten sich die Parteien auf eine Neuformulierung, die die eigentliche Regelung dem Gesetz bzw. der Geschäftsordnung des Parlaments überlässt. Ähnliches unternahm PASOK von sich aus auch bei anderen Fällen, so dass insgesamt in den Vorschlägen für die Verfassungsänderungen häufig auf eine Regelung durch Gesetze verwiesen wurde, für die aber oft noch kein Entwurf vorlag (Filos 2002). Dies und die wie bereits bis 1998 praktizierte Zurückhaltung bei manchen inhaltlichen Formulierungen hatten mehrere Gründe: Erstens verzichtete die Regierungsfraktion gerade bei heiklen Fragen auf konkrete Regelungen, um die Zustimmung der ND, deren „Abweichlern“, aber auch Zustimmung aus den eigenen Reihen zu ermöglichen, zweitens um sich selbst Gestaltungsspielräume zu belassen, wo die eigenen institutionellen Vorstellungen noch immer unklar waren (Kalliagkopoulos 2001; Tabakopoulos 2001). Dieses Kalkül traf drittens mit verfassungsrechtlichen Idealvorstellungen zusammen. So unterstrich der Verfassungsrechtler und ND-Fraktionssprecher Prokopis Pavlopoulos (2000: 10), dass die Verfassungsänderung nicht zu präzise sein sollte, da der Auftrag des „verfassungsändernden“ sich von jenem des einfachen Gesetzgebers deutlich unterscheide. Die neuen Klauseln dürften schon aus juristischen Gründen nicht wie gewöhnliche Gesetze aussehen. Diese verfassungspolitische Zurückhaltung bedeutete aber gleichzeitig einen Gestaltungsvorteil bzw. Machtvorsprung für die jeweils regierende Partei und konnte später ein Spielfeld für die Interpretation durch Gerichte markieren, insbesondere wenn Sachverhalte auch einfachgesetzlich nicht geregelt waren. Insofern verursachten gerade inhaltlich unkonkrete Verfassungsänderungsvorschläge für die ND potenziell durchaus große Kosten im Sinne eines Risikos, das nur mit dem Nutzen eigener Vorteilsnahme im Falle künftiger Wahlsiege aufgewogen werden konnte. Ähnlich zweischneidig waren die anderen Extreme einiger äußerst detaillierter, umfangreicher Regelungen, z.B. in Art. 90 (Oberster Richterrat), Art. 86 (Ministerverantwortung), Art. 14 (Finanzierung von Medien) und Art. 57 (Un352 Am 17.05.1999 erklärte er, dass der Präsident nicht direkt vom Volk gewählt werden sollte. Da es sich um ein vorwiegend „moralisches“ und nicht um ein politisches Amt handelte, sollte es nicht zum Anlass von Auseinandersetzungen werden, zumal die Kompetenzen des Präsidenten nicht erweitert würden, was eine Direktwahl noch hätte begründen können (Sotirelis 2001b: 21-29).
5.2 Griechisches Fallbeispiel (2000)
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vereinbarkeit des Abgeordnetenmandats), die ebenfalls häufig Ergebnisse intensiver Gespräche bei Konflikten im Revisionsausschuss waren. – Sowohl vage als auch sehr ausführliche Regelungen wurden also als Wege genutzt, um bei Positionsunterschieden zu einer Einigung auf eine verfassungsrechtliche Formulierung zu gelangen. Insgesamt strebten die beiden verhandlungsmächtigsten Akteure PASOK und ND in dieser Phase weiter nach einem möglichst großen substanziellen Nutzen, waren jedoch zur Kooperation bereit und stellten einmal getroffene Grundsatzentscheidungen nicht mehr infrage. So wurden für fast alle Klauseln, die 1998 als änderbar beschlossen wurden – damals noch mit dem Kalkül, möglichst viele Handlungsspielräume zu bewahren -, nun auch tatsächlich Umformulierungen erarbeitet, selbst wenn der Nutzen nicht eindeutig war. Dadurch ließen sich auch in der kooperativen Phase die Verhandlungspositionen der Akteure nicht klar bestimmten zentralen Konfliktdimensionen zuordnen. Häufig ermöglichten aber sich überlappende Präferenzen der beiden zentripetal ausgerichteten Großparteien einen Konsens. Neben der normativ am Gemeinwohl orientierten und europäische Entwicklungen zur Kenntnis nehmenden Erweiterung der individuellen Rechte, für die im Ausschuss alle vier Parlamentsakteure waren, betraf dies Klauseln, die als Ausfüllung verfassungsrechtlicher Regelungslücken mit bereits auf übergesetzgebender, gesetzgebender oder rechtsprechender Ebene vorhandenen Regelungen, als Beseitigung von Dysfunktionalitäten oder als neutrale technische Verbesserungen (z.B. viele Neuregelungen zur Justiz) wahrgenommen wurden (Filos 2002: 1025; Panagopoulos 2002: 677). Auffallend war, dass PASOK sich bei jenen Klauseln am stärksten auf Neuformulierungen und Vorschläge der ND einließ, die sie allein und ohne Kompromisse verabschieden konnte, v.a. dort, wo sich keine deutlichen Vor- oder Nachteile zwischen verschiedenen Regelungs- bzw. Formulierungsvarianten ergaben (u.a. Giovaras 2001: A20). Hier war Konsens zu geringeren Kosten möglich. Auch die ND war häufiger zum Einlenken bereit, als angesichts der traditionellen konfrontativen Beziehung zwischen ihr und PASOK zu vermuten gewesen war. Trotz eines noch immer sichtbaren rationalistischen Kalküls handelte es sich dennoch um Abweichungen von einer strikten substanziellen Gewinnmaximierungsstrategie. Die Spitzen-Fachpolitiker besonders der beiden großen Akteure verband das Interesse daran, in der gegebenen kurzen Zeit ein „technisch“ (verfassungsrechtlich) gutes Ergebnis in Form von Vorlagen zu erzielen, denen die Zustimmung möglichst vieler gewiss war. Den Formulierungen stimmten teilweise sogar die beiden schwachen Akteure Linksallianz und KKE zu (vgl. Sotirelis 2001b: 234-252). Diese grundsätzliche Zugewandtheit der Akteure hatte aber ihre Grenzen (weiterhin) dort, wo eine genau formulierte Parteiposition existierte (z.B. Semipräsidentialismus, Parlamentarismus) oder die Spitzenpolitik zu einem Thema eine Parteiposition vorgab (z.B. Wahl des Präsidenten). Daher wurden die meisten wichtigen Konflikte der individualistischen Phase trotz der Einigungsbereitschaft bei vielen Artikeln auch in der kooperativen Phase nicht aufgelöst (Tab. 37). Dies waren zumeist normativ-ideologische Themen, die sich nicht auf technisch-organisatorisch-pragmatische Detailregelungen „herunterstufen“ ließen und/oder die von einem der relevanten Akteure als profilbildend wahrgenommen wurden. Die ND kombinierte ihre Zustimmung zu fast allen Klauseln mit 13 ergänzenden Vorschlägen, die dazu dienen sollten, sich in diesen Punkten von PASOK abzusetzen.
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5 Die kooperative Phase
Tabelle 37: Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall G Streitpunkt Wehrdienstverweigerung Verflechtungsproblematik Wahl des Präsidenten Geltung des Völkerrechts und Ratifizierung internationaler Verträge Zuständigkeit für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit Recht der lokalen Selbstverwaltung, Referenden abzuhalten
Ort des Konflikts PASOK, SYN vs. ND PASOK vs. ND und fraktionsintern PASOK vs. ND
Ergebnis 2000 keine Einigung Kompromisse für detaillierte Regelungen keine Einigung
PASOK vs. ND
keine Einigung
PASOK, SYN vs. ND
Kompromiss
ND vs. PASOK
keine Einigung
War die Verfassungsänderung zuvor jahrelang ein rein parlamentarischer Prozess gewesen, der auch wegen seiner langen Dauer und der inhaltlichen Unübersichtlichkeit der Änderungen die Öffentlichkeit nur wenig interessierte, trat sie nun etwas stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei selektiv auf einzelne Inhalte, wie der Schutz der Wälder und später die Transparenz der Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Interessen, Medien und Politik (Bistika 2000; Kalliagkopoulos 2001a; Georgiopoulou 2001). Die medial vermittelte Konkretisierung der zuvor vagen Pläne und die nahende Entscheidung motivierten gesellschaftliche Gruppen und die Wissenschaft, sich zu Wort zu melden (Venizelos 2002: 48f.).353 Da die öffentliche Aufmerksamkeit ihren Höhepunkt erst erreichte, kurz bevor und nachdem der Revisionsausschuss im Herbst 2000 seinen Entwurf der Verfassungsänderungen vorgelegt hatte (Sotirelis 2001b: 33; Venizelos 2002: 48f.), waren inhaltliche Änderungen kaum noch möglich. Die Argumente und Stellungsnahmen wurden im Revisionsausschuss zudem nur berücksichtigt, sofern Parlamentsabgeordnete sie einbrachten und sie unterstützten.354 Anders als bei der besser organisierten (durch die Verfassungsänderungen direkt betroffenen) Justiz, die sich frühzeitig aktiv mit den Plänen auseinandergesetzt hatte,355 flossen die gesellschaftlichen (Partikular-)Interessen daher kaum in die Ausschussdebatten zur Verfassungsänderung ein. Trotzdem war hier eine latente Emanzipation der gesellschaftlichen Organisationen erkennbar, die traditionell finanziell und organisatorisch weitgehend vom Staat bzw. dem Bestreben der Parteien beeinflusst waren, sie zu steuern oder in eigene Strukturen einzubinden (Zervakis 1999: 659 ff.).
353 So formulierten die Verbände der kommunalen Selbstverwaltung, Arbeiterverbände, einige prominente Rechts- und Politikwissenschaftler, Umweltschutzvereine, Initiativen für den Schutz der Menschenrechte, Behindertenorganisationen, Anwaltsvereine, Unternehmer- und Eigentümerverbände ihre Positionen zur Verfassungsänderung. Sie bezogen sich dabei zumeist auf einzelne Themen (z.B. Umweltschutz, Datenmissbrauch, Unvereinbarkeitsklausel, Wehrersatzdienst), die jeweils ihre Interessen betrafen (Venizelos 2002: 21). 354 Beispielsweise diskutierte der Ausschuss zwar die Forderung von Menschenrechtsorganisationen, das Proselytismusverbot in Art. 13 (2) abzuschaffen, formulierte jedoch keine entsprechende Änderungsvorlage (Ta Nea 2000). 355 Der Areopag hatte bereits 1998 vor den ersten Abstimmungen im Parlament eigene Vorschläge für die inhaltliche Ausgestaltung unterbreitet. Weitere Beratungen fanden vor den Parlamentswahlen am 07.03.2000 und nach der Vorlage des Abschlussberichts statt. Ein Sonderausschuss des Staatsrates und das Verwaltungsgericht zweiter Instanz brachten 1999 eigene Vorschläge ein, das Berufungsgericht Athens 2000. Die Stellungnahmen betrafen die Rechtsprechung sowie die Beziehung zwischen der Judikative und den anderen Gewaltenzweigen (Sotirelis 2001b: 26-34). Obwohl nicht formal in der Verfassung vorgesehen, war dieses Verfahren eingebürgert, da die höchsten Gerichte Gesetzesänderungen später im Rahmen ihrer Rechtsprechung interpretieren mussten (Venizelos 2002: 75-79).
5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)
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Bemerkenswert waren die gemischten Einstellungen der Bevölkerung zu dem Vorhaben, die nicht eindeutig in die Richtung der einen oder anderen Partei neigten. Im Januar 2001 fand erstmals eine repräsentative Umfrage zur Verfassungsänderung statt. Gemäß ihren Befunden war die Öffentlichkeit über die wichtigsten Themen der Änderung gut informiert oder konnte sich zumindest dazu positionieren. 69,5 Prozent der Befragten sprachen sich wie die ND gegen die Konstitutionalisierung des Rechtes auf Wehrdienstverweigerung aus. 83 Prozent waren für die verfassungsrechtliche Verankerung unabhängiger Behörden und 58,3 Prozent für die Institutionalisierung der Unvereinbarkeit des Besitzes eines Medienunternehmens mit dem Besitz eines Unternehmens, das Lieferungen an den Staat übernimmt. Damit zeigte sich eine ähnliche Grundtendenz wie im Ausschuss für Maßnahmen gegen die Verflechtung. 73,3 Prozent sprachen sich, wie von der ND gefordert, für die Direktwahl des Staatspräsidenten durch die Bevölkerung aus. 68,3 Prozent befürworteten wie PASOK eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze allein durch die obersten Gerichte (Kontiadis 2001).356 Mindestens hinsichtlich der Wehrdienstverweigerung und der Wahl des Staatspräsidenten hätte also eine einseitige Lösung der Konflikte zwischen den politischen Akteuren durch einen Mehrheitsbeschluss im Parlament dafür gesorgt, dass die Verfassung die normativen Grundvorstellungen der gesellschaftlichen Mehrheit nicht repräsentierte. Abschließend ist festzuhalten, dass im griechischen Fallbeispiel die vom Verfassungsgeber mit der Verteilung auf zwei Parlamente intendierte vertiefte verfassungspolitische Normendebatte auch in der kooperativen Phase nur beschränkt stattfand; vielmehr konzentrierte sich die Diskussion innerhalb des insgesamt langwährenden formalen Verfahrens wieder faktisch auf ein kleines Zeitfenster. Die Arbeit des Revisionsausschusses sollte rasch abgeschlossen werden, um eine rechtzeitige Verabschiedung der Klauseländerungen innerhalb der laufenden Sitzungsperiode (gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben) zu gewährleisten. Dies war besonders bei den politisch sehr relevanten Themen (Rolle und Wahl des Präsidenten, Verfassungsgerichtsbarkeit) verfassungspolitisch bedeutungsvoll (Alivizatos 2001b: 163; 2001c). Hier zeigt sich bereits eine Parallele zu dem beobachteten beinahe zwanzig Jahre währenden verfassungspolitischen Aushandlungsprozess in Kanada, während dessen übergeordnete verfassungspolitische Fragen ebenfalls eher am Rande gestreift wurden.
5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002) Die Aushandlungen im Rahmen der kooperativen Phase fanden im irischen Fall zunächst in unterschiedlichen Gremien statt, sie berührten sich aber zum Ende hin. Die eine Debatte erfolgte im Rahmen des Europaforums, mithilfe dessen die Regierung versuchte, einen Kontakt zur schwer zu fassenden, da aus vielen Kollektivakteuren und Individuen zusammengesetzten Gesamtbevölkerung als Entscheider im Referendum aufzunehmen; Premier Ahern eröffnete es am am 18.10.2001 selbst und ging damit noch einmal symbolisch auf
356 Ein ähnliches (hier uneindeutiges) Stimmungsbild wie unter den Parteien zeigten sich auch hinsichtlich der Zulassung nichtstaatlicher Universitäten: 43,8 Prozent der Befragten waren dafür, 39,3 dagegen.
242
5 Die kooperative Phase
die Gesellschaft zu (Ahern 2001c). Den anderen Ort bildeten die „normalen“ politischen Organe. Beide waren der Öffentlichkeit zugänglich.357 Das Europaforum stand unter dem Vorsitz von Maurice Hayes, einem parteilosen, in Konfliktschlichtung erfahrenen Senator.358 Es erhielt für die erste, maximal dreimonatige Phase die Aufgabe, sich mit den Implikationen der und Vorbereitungen auf die EUErweiterung zu beschäftigen sowie mit den Fragen zur Zukunft Europas, die im Dezember 2001 auf der Tagesordnung des Gipfels des Europäischen Rates in Laeken standen. Auf diese Aufgaben hatten sich die ausrichtende Regierung, die teilnehmenden Parteien und Organisationen359 bereits im Sommer 2001 verständigt. Zu Entscheidungen im Sinne eines Verfassungskonvents war das Europaforum nicht ermächtigt. An den Veranstaltungen auf nationaler, aber auch regionaler Ebene sowie über schriftliche Einsendungen an das Forum beteiligten sich neben den organisierten Akteuren viele Bürger als Einzelpersonen (Brown 2003: 4; NFOE 2001b, 2002c, 2002d). Die Treffen waren gut besucht und die Aussprachen oft „leidenschaftlich und intensiv“ (O’Brennan 2003b: 8). Die Gegner des Nizza-Vertrags, die im Parlament nur schwach vertreten waren, weil sie in den großen etablierten Parteien keinen organisatorischen Ausdruck fanden (Kapitel 3.3), kamen deutlich zu Wort.360 Das Forum tagte bis März 2002 etwa einmal wöchentlich, wobei im Januar 2002 anstelle dreier Plenarsitzungen landesweit Regionaltreffen stattfanden (NFOE o.J.; NFOE 2002d). Trotz seiner Öffentlichkeit war das Europaforum mehr ein Instrument interpersoneller Kommunikation zwischen den Anwesenden als als ein Instrument, um die Medien und über diese eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, denn in den Medien spielten die Forumdebatten zumindest mit konkretem Bezug auf den Nizza-Vertrag keine Rolle.361 Die inhaltlichen Argumente, die im Rahmen des Forums vorgebracht wurden, unterschieden sich kaum von denjenigen, die bereits in der individualistischen Phase von der Regierung und den Parteien genutzt worden waren. Dies galt besonders für diejenigen Akteure, die sich bereits für die avisierte Verfassungsänderung positioniert hatten.362 Grüne, Sinn Féin und Sozialisten lehnten ein neues Referendum zur Verfassungsänderung gänzlich ab, entzogen sich jedoch nicht der Debatte und zeigten daher dennoch ein durchaus kooperatives Verhalten. Als zentrale Einwände gegen den Nizza-Vertrag benannten sie wie die unabhängigen Gegner weiter das Demokratiedefizit der EU, unklare Kompetenzabgrenzun357 Das Europaforum fand öffentlich statt, die Ergebnisse wurden in Berichten publiziert, darunter im Internet. Plenaraussprachen im Repräsentantenhaus, Sitzungen des Europaausschusses und des Senats wurden im Fernsehen übertragen und sind (außer Ausschussitzungen) im Internet dokumentiert (Quellenangaben im Text). 358 Hayes war von Premier Ahern für den Senatorenposten nominiert worden. Er war zuvor u.a. Ombudsmann und Vorsitzender der Community Relations Commission in Nordirland. 359 Am Forum nahmen die Parlamentsparteien (außer Fine Gael) mit ihren Spitzen- und Spitzenfachpolitikern sowie die irischen Abgeordneten des Europaparlaments teil. Eine spezielle Beobachtergruppe umfasste außerdem mehr als 40 intermediäre Akteure mit Rederecht auf allen Treffen und Konsultation, darunter Sozialpartner, Aktivisten für und gegen den Nizza-Vertrag, nicht im Parlament vertretene registrierte Parteien und Parteien aus Nordirland. 360 Eine Liste eingeladener Akteure erstellte die Regierung zunächst selbst. Danach wurden jedoch alle Akteure aufgefordert, sich bei dem Forum zu melden, sofern sie an einer Teilnahme interessiert seien. 361 Es wurde punktuell berichtet, so anlässlich der Eröffnung durch den Premier oder der Vorlage der Berichte. 362 Lediglich nuancierten die Fianna-Fáil-Politiker etwas stärker materielle und außenpolitische Vorteile Irlands aus der EU-Integration und die Deutung, dass die EU nur erfolgreich bleiben könne, wenn sie in Sachen Mitgliedschaft, institutioneller Kapazität und Relevanz für den Alltag wachse (NFOE 2001: 3 ff.), während bei den anderen Pro-Parteien „weiche“ Argumente weiterhin sehr wichtig blieben. Nur Labour erklärte dabei explizit, dass die Zeit der finanziellen Unterstützung durch Europa vorbei sei (ebd.: 6).
5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)
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gen zwischen EU und nationalen Parlamenten sowie die Verletzung des irischen Neutralitätsstatus (NFOE 2001: 9-14). Nachverhandlungen schienen ihnen als bester Weg, die Probleme zu mildern oder aus dem Weg zu räumen. Herausgearbeitet wurde im Verlauf der ersten Forumsphase, dass das, was in Brüssel passiere, relevant für Irland sei, und dass irische Werte und Prinzipien die europäische Politik beeinflussen sollten und könnten. Die Vorteile Irlands aus der EU-Mitgliedschaft hätten Irland dabei geholfen, der Abhängigkeit von Großbritannien zu entwachsen und selbstbewusster zu werden. Die Debatte konzentrierte sich dann auf den Sinn und die Methoden europäischer Integration und auf die Rolle Irlands im zukünftigen Europa (NFOE 2002a: 7, 12f.). Das Hauptthema der meisten Beiträge war aber die EU-Erweiterung. Grundsätzlich stimmten ihr die Teilnehmer der Veranstaltungen und Absender schriftlicher Eingaben zu. Übereinstimmend betrachteten sie die Erweiterung als moralischen und politischen Imperativ, als Chance auf die Erschließung neuer Märkt für irische Unternehmen, sahen in ihr keine Gefahr für die irische Identität und befanden, eine enge EU-Integration in sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht müsse erhalten werden (NFOE 2002a: 6 ff., 13). Es gab jedoch Bedenken, ob die Beitrittsländer oder die EU selbst bereit seien für die Erweiterung, welche Belastung die EU-Regulationen für sie darstellten, ob die Erweiterung eines legalen Rahmen wie des Nizza-Vertrags überhaupt bedürfe und ob Irland der Herausforderung gewachsen sei, seine Wettbewerbsstellung zu verteidigen (NFOE 2002a: 7 ff., 13, 18; NFOE 2002b: 6f.). In der zweiten Phase des Forums wurde neben der weiterhin diskutierten Erweiterung die Binnenstruktur der EU stärker thematisiert und die Frage, wie man in den europäischen Institutionen Einfluss geltend machen könne. Einerseits zeigte sich ein Trend dazu, geteilte Souveränität grundsätzlich als notwendig zu akzeptieren, um auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren zu können (NFOE 2002b: 8), andererseits wurde die Befürchtung formuliert, Irlands Soveränität könnte in einem föderalen Superstaat geschwächt werden (NFOE 2002a: 13). Die im Vertrag von Nizza vorgesehene neue Stimmverteilung wurde zumeist als sinnvoll für Irland bewertet. Dies galt im Wesentlichen auch für die vereinbarten qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, die bisher, so der Tenor, nie irische Interessen geschädigt hätten. Gefordert wurden aber effektivere Diskussionen über die EUGesetzgebung, mehr Transparenz bei Entscheidungen und eine Balance zwischen kleinen und großen Mitgliedsstaaten. Verfechter des Vertrags betonten, dass er viele Sicherheitsklauseln enthalte, um kleine Staaten oder solche, die nicht vertieft zusammenarbeiten wollen, zu schützen (NFOE 2002b: 9, 11, 17). In der Debatte über ein angemessenes Verhältnis zwischen kleinen und großen Staaten innerhalb der EU wurde der Wunsch nach einer starken Kommission als Motor europäischer Interessen, Vermittlerin zwischen nationalen Interessen und Interessenvertreterin der kleinen Staaten wiederholt und ihre Zusammensetzung im Hinblick auf Repräsentation und Arbeitsfähigkeit diskutiert. Kritisiert wurde, dass die Kommission ihre Macht manchmal zu rigide anwende und nationale Unterschiede nicht ernst nehme. Auch die künftige Zusammensetzung der Kommission im Hinblick auf Repräsentation und Arbeitsfähigkeit war ein kontrovers diskutiertes Thema (NFOE 2002b: 11 ff.). Wichtig waren den Forumteilnehmern besonders die irischen Interessen und die Ebene Irlands selbst. Einigkeit bestand dahingehend, dass der Nationalstaat weiterhin bedeutungsvoll sei und die nationalen Parlamente eine wichtigere Rolle spielen müssten. Es wurde kritisiert, dass die Strukturen und Prozesse im irischen Parlament keine effektive Diskussion
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5 Die kooperative Phase
der EU-Gesetzgebung gewährleisten. Die Regierungsseite verwies hier darauf, dass entsprechende Verbesserungsvorschläge bereits von Regierung und Parlament diskutiert würden. Die kompetenzielle Aufwertung des Parlaments in EU-Angelegenheiten sowie die Aufwertung der Zivilgesellschaft könnten, so der Tenor der Debatte, größere Legitimation und Akzeptanz für die EU bringen, mit deren Entscheidungen sich viele Bürger nicht identifizierten, weil sie nicht das Gefühl hätten, an ihnen teilzuhaben (NFOE 2002b: 13f., 16 ff.). Diskutiert wurden ferner Folgen und Perspektiven der bisherigen EG-/EU-Mitgliedschaft Irlands, des Nizza-Vertrags und der EU-Erweiterung für einzelne Politikbereiche, wie Umweltschutz, Landwirtschaft, Fischerei, Standortpolitik, Handel, Gleichberechtigungspolitik, Jugenpolitik, Kulturpolitik, aber auch für Nordirland (NFOE 2002a: 13; 2002b: 24-32). Dabei wurden wie bereits 2001 im Parlament nicht immer, aber zumeist positive Effekte ausgemacht (NFOE 2002a: 13; 2002b: 7). Die Teilnehmer betonten die Notwendigkeit politischer Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der nationalen Kulturen und Sprachen (NFOE 2002b: 27-30) und diskutierten breit und kontrovers die europäische Sozialpolitik, die Irland vorangebracht habe, deren Beibehaltung aber bedroht sei. Dabei ging es um die Rolle der Frau in der Gesellschaft, um sozialen Schutz und Gesundheitspolitik (ebd.: 21 ff.). Mit Abstand am stärksten von allen Themen beschäftigten die Teilnehmer aber die Neutralitätsproblematik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses bereits zuvor wichtige Konfliktthema hatte angesichts aktueller europäischer und globaler Entwicklungen363 in der Wahrnehmung vieler Beteiligter offensichtlich einen sehr hohen Stellenwert. Auch in den schriftlichen Einsendungen an das Forum war dies ein wichtiges und kontroverses Thema (NFOE 2002a: 18, 27; NFOE 2002b: 33-38). Grundsätzlich zeigte sich ein gewisser Stolz auf die Beteiligung Irlands an UN-Friedensmissionen und sein humanitäres Bewusstsein, das im Rahmen der UN weitergeführt werden sollte. Strittig war, ob die Teilnahme an europäischen Krisenmanagement- und humanitären Operationen damit vereinbar sei und ob die EU den hohen moralischen Ansprüchen solcher Einsätze gerecht werden könne. Im Laufe der Debatte kristallisierte sich die Forderung nach einer Doppelstrategie heraus: Zum einen sollte inneririsch geklärt werden, was militärische Neutralität beinhalte und in welcher Beziehung sie zu europäischen Verpflichtungen steht. Zum anderen sollte die Regierung sicherstellen, dass Nizza und die vorangegangenen (sic!) europäischen Verträge eine Abkehr von der traditionellen Neutralität weder erfordern noch suggerieren oder implizieren, dass es keinen Plan gebe, einer Verteidungsallianz beizutreten und dass die Bedingungen für spezifische Einsätze (UN-Mandat etc.) sich nicht ändern. Die Regierung sollte dies als irische Perspektive umfassend und genau erklären, während die EU-Partner ihrerseits bestätigen sollten, dass der irische Neutralitätsstatus voll respektiert werde. Die Ehrenhaftigkeit von Friedens- und Konfliktpräventionseinsätzen und der Beteiligung irischer Truppen an diesen sowie die Einbindung in die UNO sollten durch die zu entwerfen363 Der Europäische Rat verpflichtete sich im Juni und im Dezember 2001 (Göteborg, Laeken), die EU für Krisenbewältigungseinsätze vorzubereiten, ohne sich mit der NATO zu duplizieren. Die Schaffung entsprechender Strukturen wurde vorangetrieben – auch unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11.09.2001, des nachfolgenden Einmarsches der USA und verbündeter Staaten in Afghanistan und der Etablierung der Internationalen Schutztruppe unter NATO-Führung. Zwar konnte von einer homogenen Strategie angesichts unterschiedlicher Interessenlagen und Zielvorstellungen der EU-Staaten nicht die Rede sein, doch wurden Vereinbarungen mit der NATO zur Kooperation im Krisenmanagament und in der Konfliktprävention angestrebt. Ein Engagement der EU in Mazedonien nach dem Ende der NATO-Einsätze zeichnete sich ab (Fröhlich 2002; Rühl 2001).
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de Lösung des Problems nicht infrage gestellt werden (NFOE 2002a: 18, 27; NFOE 2002b: 33-38). Damit setzte sich bei aller Kritik am uneindeutigen militärpolitischen Status Irlands infolge der EU-Integration und der inhaltlichen Diskrepanzen nicht die Idee durch, den Neutralitätsstatus in der irischen Verfassung zu verankern (NFOE 2001: 9, 14).364 Obwohl sich offensichtlich eine Debatte um die Hintergründe der Verfassungsänderung entspann, ging sie – bereits aus organisatorisch-prozessualen Gründen365 – nicht sehr in die Tiefe, sondern eher in die Breite. Besonders viele Bürger betrachteten das Europaforum als Möglichkeit, auch in anderen Dingen angehört zu werden. So hatten die meisten schriftlichen Einsendungen mit dem Nizza-Vertrag substanziell nichts zu tun. Auffallend war die weiterhin enge Verflechtung der Überlegungen zu Vertiefung und Erweiterung, wobei die wenig umstrittene EU-Erweiterung an sich nicht mehr ganz so stark die inhaltliche Diskussion bestimmte. Als Einwände gegen die Ratifizierung des Nizza-Vertrages bzw. die Verfassungsänderung wurden wie schon im Parlament die Aspekte Militarisierung, demokratische Entscheidungsfindung und Souveränität angesprochen, wobei sie in den Aussprachen nicht dominierten und nur ein Viertel der schriftlichen Einsendungen gegen den Vertrag gerichtet war (NFOE 2002a: 18). Insgesamt brachte das Europaforum kaum neue Argumente hervor, sondern erfüllte die ihm von der Regierung zugedachte Funktion: Es diente eher als Anhörung im weiteren Sinne, als Vergewisserung über die Stimmung im Land, als Mittel, um den Bürgern den Nizza-Vertrag zu erklären und durchaus auch einen gewissen Zustimmungsdruck zu erzeugen (Lee/Creed 2004: 179f.). Die irische Perspektive auf die EU war in den Diskussionen dominant.366 Letztlich ging es den Akteuren im Forum darum, die eigenen, national geprägten ideellen und materiellen Problematiken herauszuarbeiten und der Regierung als „Hausaufgabe“ aufzugeben, sie sowohl innenpolitisch (Einbeziehung des Parlaments u.a.) als auch intergouvernemental und im Europäischen Konvent abzuarbeiten. Bereits bei der Eröffnung des Forums im Herbst 2001 hatte Sinn Féin erklärt, sie hege keine Illusionen, dass es sich bei dem Forum nur um ein Instrument handelt, das den Erfolg eines zweiten Referendums garantieren solle (NFOE 2001: 11). Tatsächlich hielten die großen Parteien an ihrem Ziel der Vertragsratifizierung bereits während der laufenden Debatte im Europaforum offen fest. Premier Ahern machte am 12.12.2001 öffentlich, dass er ein entsprechendes zweites Referendum erwäge; die Regierung traf aber noch keine offizielle Entscheidung. Ahern betonte die politische Bedeutung einer Ratifizierung in der von den Vertragspartnern festgesetzten Frist bis zum 31.12.2002. Andernfalls sei eine Erweiterung der EU nicht möglich. Sinn Féin warf Ahern daraufhin vor, der demokratischen Entscheidung des Volkes im ersten Referendum nicht die nötige Achtung entgegenzubringen (Connolly 2001). Für die Nizza-Befürworter war dieser Aspekt nachrangig; im Ende 2001
364 Diese ursprünglich von Sinn Féin eingebrachte Idee (Kapitel 4.3) hatten anlässlich der Forumseröffnung die Grünen und Seamus Healy (parteilos) noch einmal explizit beworben. 365 Die Agenda des Forums war sehr breit, so dass für die Einzelthemen immer nur einzelne Sitzungen zur Verfügung standen, zu denen auch noch Gäste aus anderen EU-Staaten und Kandidatenländern eingeladen wurden. Bei den landesweiten Treffen variierten dann die Teilnehmer stark. 366 Die Erklärung des Europäischen Rates in Laeken, in der ein großer Teil der von den irischen Nizza-Gegnern angesprochen und von den Befürwortern akzeptierten normativen und Effizienzprobleme der EU angesprochen und Reformbedarf eingestanden wurde (Erklärung von Laeken 2001: 3), spielte in den Argumentationen beispielsweise keine herausragende Rolle. Dies mag auch daran liegen, dass die öffentliche Ablehnung von als abgehoben und unverständlich interpretiertem „Eurospeak“ Konjunktur hatte; alle Parteien versuchten, in ihren Äußerungen die Brücke zu den „normalen Bürgern“ zu schlagen.
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einsetzenden Wahlkampf für die (regulären) Parlamentswahlen sprachen sich alle großen Parteien für ein erneutes Referendum aus (Gilland 2002b: 3). Auch der Zwischenbericht zum Forum im Januar 2002 vermerkte eine gewisse Frustration der Teilnehmer darüber, dass ein neues Referendum zur Ratifizierung des NizzaVertrags in derselben Form erwogen werde; Kritiker bezeichneten dieses Vorgehen als undemokratisch (NFOE 2002a: 9, 18). Allerdings notierte der Abschlussbericht im März 2002 starken Dissens auch hinsichtlich der Alternative, den Nizza-Vertrag neu zu verhandeln. Unter anderem gab es Warnungen, dass Neuverhandlungen nicht unbedingt im Sinne der kleineren Staaten sein würden (NFOE 2002b: 14). Der Fokus dessen, was riskant und unsicher schien, verschob sich nun etwas vom Vertrag selbst und seinen Effekten weg hin zu den Folgen einer Nichtratifizierung des Vertrags, was der Sicht der großen Parteien näher war. Parallel zu den Entwicklungen im Rahmen des Europaforums betrieb die Regierungsmehrheit „klassische“ Politik, denn sie vertraute nicht auf den positiven Effekt des Forums allein. Sie beteiligte sich weiterhin aktiv an der Politik auf EU-Ebene, drehte im Inneren an institutionellen Stellschrauben und bemühte sich um die Einbindung Fine Gaels, die nicht am Europaforum teilnahm, in die Europapolitik und den Ratifizierungsprozess. Das institutionelle „Finetuning“ bestand darin, dass die Regierung am 11.12.2001 auf einen Bericht des Allparteienausschusses zu Verfassungsfragen über die Referendumsproblematik reagierte und eine Änderung des Referendumgesetzes initiierte. Besonders die Aufgabe der Referendumskommission, selbst bei Vorlagen, zu denen sich kaum Gegner fanden (z.B. dem Nordirlandabkommen), gleichgewichig Argumente pro und contra zu sammeln sowie Informationen für die Bevölkerung politisch neutral zusammenzufassen, um eine öffentliche Debatte anzuregen und die Entscheidungsfindung zu erleichtern, hatte schon längere Zeit für Unzufriedenheit gesorgt (Gallagher 1999: 82).367 Diese Regelung ging auf ein Urteil des Obersten Gerichts von 1995 zur Finanzierung von Informationskampagnen vor Referenden zurück.368 Die großen Parteien bewerteten sie als verwirrend und entscheidungshinderlich. Entsprechend hatte sich der Verfassungsausschuss gegen eine gleichgewichtige Argumenteverbreitung durch die Referendumskommission und damit explizit gegen die Rechtsprechung der Gerichte ausgesprochen (The All-Party Oireachtas Committee… 2001: 14, 25). Die Regierung reagierte mit Blick auf die von ihr geplanten Referenden zum NizzaVertrag sowie zur Abtreibungsproblematik schnell, beschränkte sich aber im Vergleich zu den Kommissionsempfehlungen auf relativ minimalistische Maßnahmen unterhalb der Verfassungsebene. Gemäß der Gesetzesänderung sollte die Referendumskommission nur noch allgemein dafür zuständig sein, den Gegenstand der Referendumsvorlage zu erklären, ein öffentliches Bewusstsein für das Referendum zu fördern und das Elektorat zur Abstimmungsteilnahme anzuregen (Referendum Bill 2001).369 Diesen Änderungen stimmten in367 Nach einem großen Anteil ungültiger Stimmen in einem Referendum über die Lokalregierung am 11.06.1999 hatte Senator Quinn die Problematik auf die parlamentarische Agenda gesetzt (Seanad Éireann 1999). 368 Die Europaabgeordnete Patricia McKenna (Grüne) hatte erfolgreich gegen die vom Parlament befürwortete, aber aus Sicht des Obersten Gerichtshofs verfassungswidrige Verwendung von Steuergeldern für die Regierungskampagne zugunsten der Zustimmung zum Scheidungs-Verfassungsreferendum geklagt (IRLII o.J.). Die Regierung gab vor den anschließenden Verfassungsreferenden zunächst keine öffentlichen Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit aus, was zu einer geringen Bürgerbeteiligung führte. 1998 reagierte sie darauf mit einem Gesetz, das eine neutrale, aus öffentlichen Geldern finanzierte Referendumskommission vorsah. 369 Beibehalten wurde, dass die Referendumskommissionen zeitlich befristet und unabhängig agierte, aus Repräsentanten aller Gewaltenzweige zusammengesetzt war, jeweils durch den Minister für Umwelt und lokale Verwaltung einberufen wurde und organisatorische Unterstützung durch das Sekretariat des Ombuds-
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folge ihrer ähnlichen Problemperzeption auch Fine Gael370 und Labour zu (O’Brien 2001b; HoO 2001q). Daneben bemühte sich Fianna Fáil, wie erwähnt, darum, den nächstmächtigen Akteur Fine Gael in den europapolitischen und Verfassungsänderungsprozess einzubinden. Dass die Partei nicht am Europaforum teilnahm, ergab sich nicht aus einer prinzipiellen Kooperationsverweigerung, sondern aus ihrer Geringschätzung dieser Art der öffentlichen Aussprache, die aus ihrer Sicht nicht zu einem kohärenten politischen Konzept führte.371 Weiterhin sah sie die Ablehnung der Verfassungsänderung durch die Bevölkerung nicht vorrangig durch substanzielle Einwände hinsichtlich Souveränität und Neutralität begründet, sondern durch schlichte Unwissenheit und Unentschlossenheit. Fine Gael hing der Idee an, dass gute Politik auf repräsentativem Wege, durch kompetente Politiker möglich sei und warf den Nizza-Gegnern Panikmache und Manipulation vor. Gleich parallel zur Eröffnung des Europaforums im Oktober 2001 hatte der Gemeinsame Europaausschuss beider Kammern bei John Bruton (Fine Gael) einen Bericht über die Zukunft Europas in Auftrag gegeben. Die Regierungsparteien, denen die absolute Mehrheit im Repräsentantenhaus fehlte, unterstützten damit wie bereits bei der Bestellung des Ausschussvorsitzenden Bernard Durkan einen Vertreter der größten Oppositionspartei und verliehen ihm damit einen höheren Status und Zugang zu Informationen.372 Ein großes Risiko gingen sie allerdings dadurch nicht ein, denn erstens stellten sie im Ausschuss bzw. in beiden Unterausschüssen die meisten Vertreter,373 zweitens unterschied sich in der Europapolitik der grundsätzliche Ansatz beider Parteien kaum, und drittens hatte der Ausschuss nur eine beratende Funktion. Für Bruton, einen klaren Verfechter der europäischen Integration, sprach, dass er aus seiner Amtszeit als Premier der „Regenbogenkoalition“ von FG, Labour und Demokratischer Linker (1994-1997) Erfahrung im Vermitteln unterschiedlicher Positionen besaß und seit Januar 2001 nicht mehr an der Spitze seiner Partei stand. In dem Bericht sollte Bruton konkrete Vorschläge unterbreiten, wie die nationale Souveränität, die Transparenz, Effizienz, Mitwirkung der nationalen Parlamente, Legitimation, Partizipation und die Identifikation der Bürger mit den europäischen Organen erhöht und die Verträge vereinfacht werden könnten. Außerdem sollte er Empfehlungen für die Bindekraft der europäischen Grundrechtecharta, zum EU-Entscheidungssystem, zur Rolle von Europol und der Kommission abgeben. Der Bericht sollte ähnlich wie beim Europaforum einen rein konsultativen, nichtbindenden Charakter haben, die Debatte vornehmlich „stimulieren und informieren“ (Office of the Houses 2002) und Gespräche Fine Gaels mit den anderen Akteuren in Gang halten. Der Ausschuss allein traf sich in der kooperativen Phase
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mannes erfuhr. Die Verfassungskommission hatte darüber hinaus Änderungen an der parlamentarischen Geschäftsordnung und der Verfassung vorgeschlagen (The All-Party Oireachtas Committee… 2001: 37f.). FG bezeichnete die Folgen des McKenna-Urteils hinsichtlich der Ausgestaltung des Referendumsverfahrens mehrfach als „konstitutionelle Scharade“ (z.B. HoO 2001f.: 2; 2002v). Das Forum, so der FG-Sprecher für auswärtige Angelegenheiten, Jim O’Keeffe, könne die Arbeit der Regierung und des Parlaments nicht ersetzen. Das Forum, das „wie Duffys Zirkus“ durch das Land reise, um antieuropäischen Ansichten eine Plattform zu geben, werde die Sache nicht voranbringen, zumal die Zeit dränge (HoO 2002v: 2f.). So erhielt die FG Zugang zu verschiedenen europäischen Treffen zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Angelegenheiten und traf sich mit hochrangigen Vertretern der EU und anderer EU-Mitgliedsstaaten. Von den 14 Unterhausmitgliedern des Ausschusses kamen 7 von FF, 5 von FG, einer von Labour und einer war unabhängig. Von den fünf Senatoren waren zwei aus der FF, zwei von FG und einer von Labour (HoO/Joint Committee… 2002: 57f.). Der Außenminister oder ein von ihm benannter Delegierter besaß außerdem als ex-officio-Mitglied gemäß Art. 84 (1) der Parlamentarischen Geschäftsordnung Stimmrecht.
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häufiger als wöchentlich (Parliamentary Bulletin 2001: 39f., 2002: 30), um berichtrelevante Fragen zu diskutieren; hinzu kamen weitere Unterredungen. Im Parlament und darüber hinaus verwies die Regierung nach dem Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 darauf, dass die dort abgegebene Erklärung die Demokratie-, Effizienz- und Strategieprobleme der EU viel breiter und offener thematisiert habe als noch in Nizza und also anerkenne sowie dass mit der Einrichtung des Europäischen Konvents ähnlich wie beim irischen Europaforum in die Problemlösung erstmals in großem Umfang Akteure in die europäischen Aushandlungen einbezogen wurden, die zuvor ausgeschlossen waren oder zumindest keinen direkten Zugang gehabt hatten374 (Vergés Bausili 2003: 2). Der Premier kündigte Ende Januar 2002 – schon in Reaktion auf die Entwicklungen im Europaforum – an, dass es eine Deklaration zur Neutralität Irlands geben werde. Außerdem verwies er auf die Wahl Pat Cox’ zum Präsidenten des Europaparlaments und die Beförderung von Iren auf die höchste Ebene der Europäischen Kommission. – Mit Talent und Exzellenz, so die Aussage, könne man eine geringe Größe und geringere institutionelle Mitwirkungsgarantien ausgleichen (HoO 2002u, 2002v). Auch die (späte) Bestimmung der irischen Vertreter beim Europäischen Konvent, der ab dem 28.02.2002 tagte, war vom Inklusionsgedanken geprägt. Die Regierungsmehrheit reagierte auf die Argumentation Labours, dass ein Vertreter der Regierung bzw. ihrer Parteien genug sei und die Parlamentsvertreter aus den größten Oppositionsparteien (also Fine Gael und Labour) kommen sollten.375 Im Parlament stimmte Fianna Fáil der Nominierung Brutons sowie des Abgeordneten im Repräsentantenhaus und im Europaparlament, Proinsias de Rossa (Labour), zu, und der Premier bestätigte die Repräsentanten am 27.02.2002.376 Im Gegensatz zum Konvent zur Grundrechtecharta im Jahr 2000 war damit Labour und als Ersatzkandidat sogar der Nizza-Gegner Grüne Partei auf EU-Ebene repräsentiert; während der Koalitionspartner Progressive Democrats nur versuchen konnte, über den Regierungsvertreter eigene Interessen durchzusetzen. Die Fine-Gael-Spitze kritisierte zu dieser Zeit, die Regierung habe keinerlei nationale Strategie, kein Konzept zur Stellung Irlands in Europa, das ihre Verhandlungen auf europäischer Ebene leiten könnte (z.B. HoO 2002u). Obwohl diese Aussage vorrangig auf den Wahlkampf im Vorfeld der für den 17.05.2002 anberaumten Parlamentswahlen gemünzt war und eine Profilierung der Partei über den von Bruton erarbeiteten Bericht vorbereitete, schien die Fianna-Fáil-/PD-Regierung tatsächlich viel zu sehr von der Tagespolitik auf 374 Zuvor war dies nur im „kleinen“ Konvent zur Erarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta praktiziert worden. Am Konvent nahmen Mitglieder des Europaparlaments, Repräsentanten der nationalen Parlamente und der Regierungen von EU-Mitglieds- und –Kandidatenländern sowie Repräsentanten der Kommission teil. Beobachterstatus ohne Sitz im Präsidium genossen Repräsentanten des Ausschusses der Regionen, des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der europäischen Sozialpartner sowie der europäische Bürgerbeauftragte. 375 Labour argumentierte, die landesweiten Treffen des Europaforums hätten klar gezeigt, dass die Bürger befürchteten, in einem regierungsdominierten Europa die Kontrolle über die demokratische Entscheidungsfindung zu verlieren. Der Konvent sei ein begrüßenswertes zivilgesellschaftliches Forum, um Änderungen an den europäischen Verträgen vor und nicht erst nach ihrer Fixierung zu debattieren. Den Sinn einer Labour-Beteiligung sah sie darin, dass sie proeuropäisch sei, aber eine eigene Perspektive auf die Integrationsproblematiken verträte (HoO 2002v: 4; Rossa 2002a, 2002b). 376 Vertreter waren der Abgeordnete und Finanzstaatsminister Martin Cullen (Fianna Fáil, ab Juni 2002 Pat Carey) und John Gormley (Grüne). Bruton wurde einer der Vizepräsidenten im zwölfköpfigen Konventspräsidium. Die Regierung nominierte den ehemaligen Finanzminister und EU-Agrarkomissar Ray MacSharry; sein Nachfolger ab Juli 2002 war der Staatsminister für Europaangelegenheiten Dick Roche (beide Fianna Fáil). Weitere Iren auf dem Konvent waren John Cushnahan (Vertreter eines Repräsentanten des Europaparlaments) und David O’Sullivan, Generalsekretär der Europäischen Kommission.
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internationaler und nationaler Ebene377 und der Einwerbung von Unterstützung für das nächste Nizza-Referendums gebunden,378 um spezifische konzeptionelle Anstrengungen zu unternehmen. In konzeptioneller Hinsicht legte Fine Gael am 30.01.2002 vor: Der umfassende Bericht Brutons im Rahmen des Europaausschusses entwarf ein Gesamtbild der europäischen Integration und umriss die Stellung Irlands. Im Gegensatz zur Rhetorik der Parteispitze hob er aber Positionen hervor, die mit denen von Fianna Fáil übereinstimmten, und trug die Sicht des Autors und des Ausschusses nicht konfrontativ vor.379 Hier war also eine trotz des Wahlkampfes deutlich kooperative Verhaltensweise beobachtbar. Der Bericht umriss die europäischen und globalen Rahmenbedingungen des Regierens und betonte, dass eine periphere oder assoziierte Beziehung Irlands zur EU infolge eines abgelehnten Nizza-Vertrages oder von opt-out-Klauseln, um seine Akzeptanz zu sichern, das Land zurückwerfen und der Durchsetzung seiner strategischen politischen und ökonomischen Interessen schaden würde. Irland sei in und durch Europa kulturell und psychologisch erstarkt. Eine EU-Erweiterung ohne Änderungen am europäischen Vertragswerk sei nicht möglich (HoO/Joint Committee… 2002: 3 ff., 48). Insofern entwarf er praktische Ideen, wie die notwendigen Verbesserungen auf europäischer Ebene möglich wären und baute dabei erkennbar auf den europapolitischen Erfahrungen Fine Gaels aus ihrer Zeit in Regierungsverantwortung auf. Realpolitik, die Durchsetzung irischer Interessen und Augenmerk für die Wirtschafts- und Standortpolitik waren Kennzeichen, die sie von den kleinen Parteien abhob.380 Verbesserungen in bezug auf die Strukturierung der EU und der Gütekriterien demokratischer Institutionen, zu denen sich der Bericht äußern sollte, sah der Bericht mit dem Post-Laeken-Prozess in Form der EU-Konventsberatungen auf dem Weg (ebd.: 19). Im Zusammenhang mit dem verfassungspolitischen Aushandlungsprozess schlug das Papier zwei konkrete Punkte vor: Zum einen sollte eine weitere irische Verfassungsänderung stattfinden, um Referenden zur Ratifizierung inkrementalistischer EU-Verträge (wie des Nizza-Vertrags) deutlich einzuschränken.381 Dies entsprach dem eher repräsentativ-
377 Zu nennen sind hier die organisatorischen Vorbereitungen zur Einführung des Euro, die umfassenden Reaktionen und internationalen Absprachen nach den Terroranschlägen des 11.09.2001 und die Vorbereitung des Abtreibungsreferendums. 378 Dabei gelang es ihr u.a., die Wirtschafts- und Unternehmerkonföderation erstmalig für eine aktive, umfassende Werbekampagne zugunsten der Ratifizierung eines europäischen Vertrags zu gewinnen. Der Verband argumentierte im Gegensatz zu den Akteuren des linken Spektrums, dass die irischen Arbeitsplätze auch der künftigen Generationen, der Lebensstandard und unternehmerische Investitionsentscheidungen nicht durch die weitere Integration bedroht seien, sondern gerade von einer vollen Einbindung Irlands in die EU abhingen (O’Brennan 2003: 11f.). 379 Die Abweichungen wurden oft nicht explizit hervorgehoben, und Kritik an der Regierungspolitik, etwa am Verstoß des irischen Finanzministers gegen die Auflagen des ECOFIN-Rats, wurde recht moderat formuliert (HoO/Joint Committee… 2002: 36). 380 So forderte Bruton mit Blick auf die irische Wirtschaftspolitik eine Differenzierung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts für verschiedene Szenarien ökonomischer Entwicklung (HoO/Joint Committee… 2002: 35f.). 381 Die „unnötig restriktive Formulierung“ der Verfassungsänderung zum EG-Beitritt von 1973, die die Referenden zur Ratifizierung von EU-Verträgen in Kombination mit dem Gerichtsurteil im Crotty-Fall verursacht habe, sollte abgeschwächt werden. Gemäß dem Vorschlag wären die Bürger nur dann zu konsultieren, wenn Irland Vertragsverpflichtungen in einem neuen Tätigkeitsbereich oder einem „qualitativen Wandel der Natur der Aktivitäten in der Europäischen Union“ zustimme. Normale inkrementale Weiterentwicklungen gegebener Regeln oder Verpflichtungen sollten die irische Regierung und das Parlament herbeiführen bzw. ratifizieren können; als Zwischenvariante für mittelgroße EU-Vertragsänderungen sah der Bericht neben ei-
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elitenorientierten Politikansatz Fine Gaels und ihrer Bewertung, warum die Bevölkerung den Vertrag (zunächst) abgelehnt hatte.382 Außerdem empfahl der Bericht ähnlich dem sich abzeichnenden Tenor des Europaforums eine Deklaration zur Neutralität, in der bestätigt würde, dass der Vertrag von Nizza und jeder andere EU-Vertrag nicht zum gegenseitigen militärischen Beistand verpflichten, dass Mitgliedstaaten wie Irland die komplette Freiheit in Verteidigungsangelegenheiten behalten und es keinen Vorschlag gebe oder er geplant sei, dies zu ändern. Daneben schlug der Bericht ein ganzes Maßnahmenpaket vor, das v.a. auf die Ausweitung der parlamentarischen Mitwirkung gerichtet war: Die nationalen Parlamente der EUMitgliedsstaaten sollten über deren Fachausschüsse bzw. diese über die nationalen Regierungen bereits frühzeitig am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligt werden. Der Bericht forderte deutliche operative und institutionelle Verbesserungen des Verfahrens von seiten der irischen Regierung, eine wesentlich bessere personelle, materielle und administrative Ausstattung des Ausschusses sowie eine Aufwertung seines Status’ inklusive Kompetenzen (ebd.: 24-27).383 Diese Vorschläge waren sehr genau formuliert, zeugten vom Wissen, den Erfahrungen des Ausschusses sowie seinem Eigeninteresse daran, das Scheitern der NizzaRatifizierung zu benutzen, um den eigenen Einfluss zu vergrößern (Rossa 2002: 6). Sie bauten auf den Diskussionen auf, die im Ausschuss angesichts der von Fianna Fáil offiziell unterstützten Labour-Gesetzesinitiative geführt wurden, aber angesichts der Auseinandersetzungen über Kompetenzen und Finanzaustattung des Ausschusses vorerst ergebnislos geblieben waren. Im Februar 2002 kam es erstmals zu expliziten Verknüpfungen zwischen den Debatten der normalen Politikarena und des Europaforums. Wechselseitig wurden die jeweiligen Berichte vorgestellt und diskutiert. Dabei stellten sich ähnliche Problemdiagosen und in vielen Punkten grundsätzlich ähnliche Bewertungen heraus. So unterstützte nicht nur das Europaforum die EU-Osterweiterung, sondern in einem nachfolgenden Bericht auch der Europaausschuss des Parlaments. Etwa zeitgleich verbreitete sich die Idee, das Europaforum fortzusetzen, um dort Themen zu diskutieren, die auf dem Europäischen Konvent verhandelt würden. Ein regelmäßiger Kontakt mit den Konventsvertretern und die Fortsetzung landesweiter Miniforen wurden avisiert (Europäischer Konvent 2002: 3). Im Wahlkampf positionierten sich alle Parteien explizit zur Ratifizierung des Vertrags von Nizza. Dabei gab es keine Veränderungen im Grundsatz pro/contra. Eine Neuverhandlung des Vertrages oder einzelner Teile betrachteten Fianna Fáil, Progressive Democrats, Fine Gael und Labour weiterhin als ausgeschlossen. Insofern bestand für sie eine Alternative zur Ratifizierung des Vertrags in einer verhinderten oder verzögerten EU-Erweiterung. ner einfachen Mehrheit im Senat eine Dreifünftelmehrheit im Abgeordnetenhaus vor (HoO/Joint Committee… 2002: 4). 382 Die zunächst fehlende Zustimmung der Bevölkerung zur Ratifizierung eines nicht sehr weit reichenden Vertrags wurde auf das Gefühl mangelnder Beteiligung an EU-Entscheidungen, geringer Identifikation mit den dortigen Entscheidungsträgern, den Wunsch nach Artikulation einer allgemeinen Frustration über den Mangel an Zurechenbarkeit von governance sowie auf fehlende Informationen über die „extrem undurchsichtigen“ und komplizierten“ europäischen Entscheidungsprozesse zurückgeführt (ebd.: 4). Der allerdings so nicht explizit vorgetragene Zusammenhang zwischen Beobachtung und Vorschlag bestand darin, dass die Bevölkerung unangemessen über die Vertragsratifizierung entscheide und ihre Zustimmung ohnehin unnötig sei. 383 Dazu zählten verbindliche Zuarbeiten durch die Regierung anstelle externer Juristen, das Recht zur Einberufung von Ministern und EU-Kommissaren, um bestimmte Fragen zu klären, „beträchtlichen Einfluss“ auf die Politik im Rahmen der ersten Säule der EU, in der die Kommission das exklusive Initiativrecht hat, weitere verbindliche Arrangements zu Entscheidungsprozessen im Rahmen der zweiten und dritten Säule.
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Da ihnen dies nicht akzeptabel schien, waren sie sich darin einig, ein zweites Referendum abzuhalten, gleichgültig, welche Regierung aus den Parlamentswahlen hervorgehen würde. Den Einwand, es sei undemokratisch, solange Referenden durchzuführen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt sei, versuchten sie durch den Verweis auf die geringe Wahlbeteiligung von nur 35 Prozent im ersten Referendum zu entkräften, die die demokratische Legitimation des Ergebnisses zweifelhaft mache (O’Brennan 2003b: 8). Grüne, Sozialisten und Sinn Féin lehnten die Ratifizierung des Vertrags weiterhin scharf ab und sahen ihre Befürchtungen in den aktuellen Entwicklungen immer wieder bestätigt.384 Aus Sorge, ihnen einen Wahlvorteil zu verschaffen, verwarf die Regierung Überlegungen, das NizzaReferendum für denselben Tag anzusetzen wie die Parlamentswahlen. Sie war dabei auch sensibilisiert von einem erneuten gescheiterten Referendum: der Ablehnung der Verfassungsänderung zum Schutz ungeborenen Lebens am 06.03.2002. Im April 2002 veröffentlichte der Premier ein Papier zur Europapolitik, mit dem er symbolisch dem Fine-Gael-Einwand eines fehlenden Konzepts entgegentreten wollte. Die inhaltlichen Argumente für die Ratifizierung des Nizza-Vertrags änderten sich in diesem Konzept nicht, in dem es mehr um die Benennung der grundlegenden Ziele und politischen Prioritäten der irischen Europapolitik ging. Die fehlende Zustimmungseuphorie wurde mit dem eigenen Versagen erklärt, die Öffentlichkeit „effektiv“ für europäische Belange zu begeistern. Der Premier kündigte u.a. an, im Herbst das Verfassungsreferendum über die Ratifizierung des Nizza-Vertrags abhalten zu wollen, sofern man sich auf eine adäquate Deklaration zu Irlands traditioneller Politik militärischer Neutralität geeinigt habe. Damit ging er auf eine Forderung anderer Akteure ein (Ahern 2002a). Den Vorschlag einer in Europafragen generalbevollmächtigenden Verfassungsänderung nahm die Regierung hingegen nicht auf und vermied damit eine von der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung abweichende Position, die zweifelsohne zu erheblichen Protesten geführt hätte. Von den Konfliktpunkten zwischen Befürwortern und Gegnern der Verfassungsänderung spielte die Neutralitätsproblematik auch im Wahlkampf die wichtigste Rolle, zumal kurz vor den Wahlen, am 13.05.2002, erstmals der formelle Verteidigungsministerrat der EU in Brüssel tagte und der Europäische Rat im Juni Dauervereinbarungen zwischen EU und NATO auf den Weg bringen sollte, um die Übernahme des NATO-geleiteten Mazedonien-Einsatzes durch die EU im Herbst vorzubereiten.385 Die Pro-Parteien starteten eigene Initiativen, um den Vorwurf zu entkräften, die Neutralität werde aufgegeben, und entwickelten Formulierungen für eine irische Neutralitätsdeklaration (De Brédún 2002a), obwohl es noch immer keinen Konsens darüber gab, was Neutralität inhaltlich genau bedeutete.386 Fine Gael sprach sich explizit für die Beteiligung irischer Soldaten an Einsätzen der (von den dezidierten Neutralitätsverfechtern gegeißelten) Schnellen Eingreiftruppe der EU aus, sofern das Parlament dieser zugestimmt habe (Defence [Amendment] Bill, 2002) und 384 Beispielsweise sahen sich die Grünen durch die militärpolitischen Aktivitäten oder durch das „elitistische“ Verhalten jener Grünen Parteien in Europa (besonders die deutsche), die die EU-Integration und Föderalisierung begrüßten und alternative Sichtweisen wie die der Grünen in Irland, Dänemark, Großbritannien und Schweden ausschlössen, in ihrer Befürchtung eines von den Großen dominierten, militarisierten, föderalen Superstaates bestätigt (HoO 2002v: 7). 385 Diese Vereinbarungen wurden durch den gescheiterten Kompromiss zwischen Griechenland und der Türkei verhindert. Innerhalb der EU streben v.a. Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Verteidigungspolitik und Beistandsklausel an. 386 Außenminister Cowen erklärte im Parlament, wenn man echte Neutralität wolle, dann sei eigentlich schon die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen problematisch (HoO 2002v: 9).
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unterschied sich damit von der zurückhaltenderen Positionierung Fianna Fáils und Labours in diesem wichtigen Punkt. Bereits im Bericht für den Europaausschuss hatte Bruton eine realistische, integrationsorientierte Perspektive vertreten,387 doch die Sicht der Partei war zu differenziert, um pointiert nach außen dargestellt werden zu können.388 Labour votierte weiter für den Vertrag von Nizza, aber für die maximale Absicherung bei den zentralen Unwägbarkeiten, die die Gegner geäußert hatten: durch frühzeitige Einbindung und Mitwirkung des irischen Parlaments in Europabelangen und einen besonderen Bestandsschutz für die Neutralität. Das Wahlergebnis perpetuierte die Momentaufnahme einer politischen Polarisierung zwischen zwei Blöcken. Einerseits erhielt Fianna Fáil 80 der 166 Mandate (plus drei) und verfehlte damit nur knapp die absolute Mehrheit. Ihr ehemaliger Koalitionspartner, die Progressiven Demokraten, verdoppelte seine Sitze von vier auf acht. Beide entschieden sich wieder für eine Koalition und waren nun bei der Durchsetzung ihrer Gesetzesvorhaben im Parlament nicht mehr auf die Unterstützung durch parteifremde Abgeordnete angewiesen. Andererseits belohnten die Wähler die kleinen Parteien, die sich im Wahlkampf deutlich vom Regierungsbündnis abgesetzt hatten. Die Grüne Partei erhielt sechs Mandate (plus vier), Sinn Féin fünf (plus vier) und die Sozialistische Partei unverändert ein Mandat. Auch Labour gewann moderat hinzu und erhielt 21 Mandate (plus vier). Die größte Oppositionspartei Fine Gael verlor hingegen 23 Mandate, stellte nur noch 31 Abgeordnete und geriet in eine innerparteiliche und Existenzkrise.389 Außerdem zogen 14 unabhängige Abgeordnete in das Parlament ein (plus acht). Die Verhandlungsmacht der alten und neuen Regierungskoalition stieg zwar mit diesem Wahlergebnis, doch für das Vorhaben, den Nizza-Vertrag per Verfassungsänderung zu ratifizieren, war die Stimmungslage nicht eindeutig positiv. Premier Ahern erklärte daher die Europäische Union zur „obersten Priorität“ für die Regierung. Diese versuchte, ihre bisherige politische Linie weitestgehend beizubehalten, aber gleichzeitig auch, auf die Gegner zuzugehen. Im Koalitionsvertrag vom 04.06.2002 fanden sich ein umfassendes Bekennntnis zur europäischen Integration, die Eckpunkte der bisherigen Argumentation390 sowie das Ziel, die explizit erwähnten, in der Nizza-Debatte thematisierten Konflikte durch 387 Er kontextualisierte die institutionellen Entwicklungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf EUEbene und versuchte auf diese Weise, die Entscheidungen dort nachvollziehbar zu machen. An die Schaffung einer europäischen Armee sei nicht gedacht, es gebe keinen Beistandspakt und die gemeinsame Europäische Verteidigungsinitiative sei bei aller Komplexität des entstehenden institutionellen Apparats zur Gewährleistung der Schnellen Eingreiftruppe doch recht moderat. Man solle hier in der Bewertung realistisch sein. 388 Einerseits hatte Bruton betont, Irland könne nicht erwarten, dass andere Staaten die militärische Antwort auf aktuelle Gefahrenlagen formulierten, um Frieden wiederherzustellen und zu gewährleisten, andererseits wandte er sich dagegen, wie in Laeken vorgeschlagen, die GASP und die Petersberg-Aufgaben weiter auszubauen (HoO/Joint Committee… 2002: 37-40). 389 Obgleich das irische Parteiensystem generell durch eine relativ hohe Volatilität gekennzeichnet ist und es daher regelmäßig zu Stimmenschwankungen der Parteien kommt (Farrell 1999: 40f.), war dies ein historischer Einbruch für Fine Gael; Parteichef Michael Noonan trat zurück. Erst nach dem Führungswechsel entschied sich die Partei, sich an den folgenden Aktivitäten des Europaforums zu beteiligen. 390 Die Integration sei für den Schutz irischer Interessen, die Prosperität und die Gewährleistung internationaler Sicherheit und Stabilität von enormer Bedeutung. Es gebe keine Alternative zu einer EU-Vollmitgliedschaft. Der Vertrag von Nizza diene dazu, die in Amsterdam begonnene Vorbereitung der EU auf ihre Erweiterung abzuschließen und damit die historische Möglichkeit zu nutzen, die politische Teilung des Kontinents zu überwinden. Die im Vertrag vorgesehenen institutionellen Änderungen sicherten ein effektiveres Funktionieren der EU nach der Erweiterung und erhielten die Machtbalance weitgehend aufrecht. Irlands Position innerhalb der Institutionen sei voll geschützt. Es werde daher ein neues Referendum am Ende des Jahres geben.
5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)
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aktives Engagement innerhalb der EU zu lösen.391 Anders beim für beide Parteien programmatisch wesentlichen Punkt der Fiskalpolitik, die laut Koalitionsvertrag weiter den Nationalstaaten überlassen bleiben musste (An Agreed Programme… 2002: 7f.). Außerdem legte sich die Regierung im Koalitionsvertrag auf Reformen des Unterhauses fest, die eine verbesserte Überprüfung der EU-Gesetzgebung und von EUEntwicklungen gewährleisten sollten, um die Bedenken hinsichtlich der Zurechenbarkeit und Transparenz von Entscheidungen auszuräumen. Sie ging damit in einem weiteren von anderen Akteuren geforderten Punkt auf diese zu. Dies ist insofern bemerkenswert, als es sich v.a. um eine innerparlamentarisch bzw. von den Parteien vorgebrachte Forderung handelte, die im Europaforum nicht so eine große Rolle gespielt hatte. Im Parlament aber war eine Mehrheit für die vertragsratifizierende Verfassungsänderung ja sicher. Die Regierung hätte nicht zwangsläufig eigene Handlungsspielräume einengen müssen, um das Referendum durchzubringen. Obwohl im Parlament noch über die Inhalte eines entsprechenden Gesetzesentwurfs debattiert und entschieden werden musste, konstituierte sich mithilfe der Regierungsparteien bereits ein Sonderausschuss für Europäische Angelegenheiten. Am 01.07.2007 trat ein erweitertes Mitwirkungssystem in europäischen Belangen in Kraft, das sich infolge des noch fehlenden Gesetzes zunächst nur auf Regularien für alle Ministerien beschränkte (Rossa 2002; O’Brennan 2003b: 8f.; HoO 2002s).392 Besonders ernst nahm die Regierung nach eigenem Bekunden den im Abschlussbericht des Europaforums und im Bruton-Bericht betonten Wunsch, für Sicherheit in der Neutralitätsfrage zu sorgen (HoO 2002s: 2), obwohl hier kaum Spielräume bestanden und sie von ihrer bisherigen Politik auch nicht grundsätzlich abzuweichen bereit war.393 Nach intensiven bilateralen Gesprächen mit Premiers und Außenministern anderer EUMitgliedstaaten gab sie kurz vor dem Treffen des Europäischen Rates in Sevilla ihre offizielle Entscheidung für ein zweites Referendum bekannt (De Brédún 2002b, 2002c; Coghlan 2002; Hennessy 2002a) und bekräftigte damit – v.a. gegenüber den EU-Partnern – ihre Bereitschaft zur Ratifizierung des Vertrags von Nizza, um noch einmal positiv auf deren Zustimmung zu zwei von ihr entworfenen Deklarationen hinzuwirken. Die am 21.06.2002 auf dem Gipfel besprochenen Deklarationen sollten dazu dienen, „zweifelsfrei zu klären“, dass der Vertrag von Nizza keine Bedrohung für die traditionelle irische Politik militärischer Neutralität darstellt (HoO 2002s: 2). 391 So erklärten FF und PD, Irland werde sich aktiv am Konvent über die Zukunft der EU beteiligen und sich gegen Bestrebungen wehren, die existierende Integration durch rein intergouvernementale Kooperation zu ersetzen oder wichtige Gemeinschaftspolitiken, wie im Agrarbereich, der Regional- und Sozialpolitik, extensiv zu renationalisieren. Die Unterstützung der europäischen Integration impliziere keine Befürwortung für einen europäischen „Superstaat“ oder für ein „ambitioniertes föderalistisches Projekt, das weit von der öffentlichen Meinung entfernt ist“. 392 Die Minister mussten fortan den Ausschuss mit einer Zusammenfassung und Relevanzbewertung aller neuen Gesetzgebungsvorschläge der Europäischen Kommission versorgen. Der Ausschuss, an dem (wie bisher) jederzeit auch die irischen Abgeordneten des Europaparlaments und Mitglieder der irischen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates (ohne weitergehende Mitwirkungsrechte) teilnehmen konnten, erhielt das Recht, nach eigenem Ermessen Minister oder Vertreter vorzuladen, um mit ihnen über die auf Ratstreffen besprochenen Themen zu debattieren, insbesondere im Vorfeld von Treffen der EU-Minister, oder öffentliche Anhörungen abzuhalten. Darüber hinaus setzte die Regierung Parlamentsaussprachen nach wichtigen Ereignissen auf europäischer Ebene an. 393 Im Koalitionsvertrag war fixiert, dass Irland an den „Petersberg-Aufgaben“ teilnehmen werde, die von der UN gedeckt seien, mit der UN und mit EU-Partnern mit UN-Mandat beim Schutz von Menschenrechten und der Vermeidung ethnischer und humanitärer Konflikte kooperieren und an der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik zur Friedenssicherung mitwirken werde (An Agreed Programme… 2002: 7f.).
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5 Die kooperative Phase
In einer eigenen Deklaration bekräftigte die Regierung Irlands Verpflichtungen gegenüber der GASP, erklärte sein Recht auf eine Politik der militärischen Neutralität und das Recht auf eine eigene souveräne Entscheidung darüber, ob irische Truppen an EUgeführten humanitären oder Krisenbewältigungsaufgaben im Auftrag der UNO teilnehmen. Irland sei nicht durch eine gegenseitige Beistandsverpflichtung gebunden und beteilige sich nicht an Plänen zum Aufbau einer europäischen Armee; Einsätze der irischen Streitkräfte seien nur bei Einsätzen mit gültigem UN-Mandat möglich und bedürften der Zustimmung des Parlamentes und der Regierung. In Abs. 5 der Nationalen Erklärung verpflichtete sich die irische Regierung „feierlich“ selbst, einen eventuellen Beschluss der EU über den Übergang zu einer gemeinsamen Verteidigung (der ohnehin nur einstimmig gefasst werden konnte) und „einen künftigen Vertrag, der eine Abkehr Irlands von seiner traditionellen Politik der militärischen Neutralität mit sich bringen würde“, einem Referendum vorzulegen. Der Europäische Rat bestätigte seinerseits in einer eigenen Deklaration, dass diese Gegebenheiten sich mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza nicht änderten (Rat der Europäischen Union 2002: Anl. III, IV). Obwohl die irische Erklärung als rein politisches Signal394 lediglich bestätigte, was EU-rechtlich ohnehin klar und in Irland verfassungspolitisch „gesetzt“ war (Gilland 2002b: 2f.; Hennessy 2002a; De Brédún 2002c), lag nun jenseits des umfangreichen europäischen Vertragswerks auf drei Seiten eine für das Rechtsgefühl potenziell wichtige, durch den Europäischen Rat bestätigte Kurzfassung vor, auf die sich die irische Regierung berufen konnte. Ahern erklärte, mit den Deklarationen habe die Regierung die im Abschlussbericht des Europaforums geforderte Rückversicherung erwirkt und es herrsche nun rechtzeitig Klarheit in einer Materie, die Gegenstand „beträchtlicher Missverständnisse und von Missinformation“ gewesen sei. Die Regierung habe zugehört und unternehme nun innerhalb und außerhalb des Europaforums, auf nationaler und europäischer Ebene erhebliche Anstrengungen, um die Bedenken auszuräumen. Als weitere wesentliche Ergebnisse des SevillaGipfels stellte Premier Ahern die Entscheidung für mehr Transparenz im Ministerrat, die Reduktion der unterschiedlichen Formationen des EU-Ministerrats und die Einrichtung eines Wettbewerbsrates auf den Vorschlag Irlands hin heraus (HoO 2002s). Die Gegner des Nizza-Vertrags bezeichneten die Deklarationen als wertlos, da rechtlich nicht bindend; sie seien außerdem „unehrlich“, weil sie eine bindende Wirkung vorgaukelten (so Gormley/Grüne in HoO 2002s; Hennessy 2002a; De Brédún 2002c). Die Grünen verwiesen in diesem Zusammenhang auf den starken Wandel der irischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, etwa die neuen Beteiligungen an UN-Aktionen, auch wenn Fianna Fáil Kohärenz vorspiele. Sinn Féin schloss sich dem an und argumentierte, wenn der NizzaVertrag nichts am Neutralitätsstatus ändere und die Regierung diesen befürworte, dann solle sie ihn doch konstitutionalisieren (HoO 2002s). Labour erinnerte wieder an das gebrochene Versprechen Aherns, einem Beitritt zum NATO-Partnerschaftsprogramm ein Referendum vorzuschalten sowie an ihre eigene, schon 2001 erhobene Forderung nach verfassungsrechtlicher Festschreibung eines Rechts des Volkes auf Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder Abschaffung der militärischen Neutralität: Man müsse dem Volk eine belastbare rechtliche Grundlage dafür geben, dass es selbst über die Verteidigungspolitik des Landes entscheide und sie kontrolliere und dürfe es den künftigen Generationen nicht nehmen, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen. 394 Die Nationale Erklärung Irlands sollte der irischen Ratifizierungsurkunde zum Vertrag von Nizza beigefügt werden, sofern das Volk diesem in einem Referendum zustimmen würde.
5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)
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Sowohl die Regierung als auch Labour reagierten auf den Status quo nach Sevilla. Labour, die noch 2001 der Verfassungsänderungsinitiative der Regierung zugestimmt hatte, brachte über ihren Vorsitzenden Ruairí Quinn am 26.06.2002 einen eigenen Entwurf einer Verfassungsänderung ein, der das Engagement innerhalb der UNO, aber auch die Neutralität fixieren sollte (HoO 2002t).395 Sie griff damit einen zentralen Punkt der Nizza-Gegner auf,396 nahm aber gleichzeitig Eckpunkte der Regierungspositionen auf und betätigte sich insofern erneut als „Scharnierakteur“. Auch diese Regierung sprach sich ja durchaus für die Aufrechterhaltung der Neutralität aus und bekräftigte in der Nationalen Erklärung gleich zu Beginn Irlands Verbundenheit mit den Vereinten Nationen, deren Sicherheitsrat mit der Erklärung die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen werde. Am selben Tag brachte Außenminister Cowen die Regierungsvorlage der zur Abstimmung zu stellenden Verfassungsänderung ein, die nach der parlamentarischen Sommerpause im September 2002 erstmals im Repräsentantenhaus debattiert werden sollte. Hatte die Regierung noch kurz zuvor argumentiert, gerade weil sich mit Nizza nichts ändere, sei es eben auch unnötig, eine entsprechende Verfassungsänderung vorzunehmen (HoO 2002s), so schwenkte sie nun um: Die Vorlage enthielt zusätzlich zu der im ersten NizzaReferendum gescheiterten Formulierung den Absatz: „Der Staat darf keine vom Europäischen Rat getroffene Entscheidung zur Etablierung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gemäß Art. 1.2 des in Abs. 7 dieses Artikels genannten Vertrags annehmen, sofern diese gemeinsame Verteidigung den Staat [Irland, AL] einschließen würde“ (Twenty-sixth Amendment… 2002: 6). Diese Zusatzklausel war ein substanzielles Zugeständnis an die Neutralitätsbefürworter und wesentlicher als die Sevilla-Deklaration, da der Bevölkerung eine verfassungsrechtliche Garantie darauf gegeben wurde, dass sich ein gebrochenes Parteiversprechen wie beim Beitritt zum NATO-Partnerschaftsprogramm für den Frieden nicht wiederholen würde (O’Brennan 2003b: 7).397 Gleichzeitig gestattete es diese Erweiterung der Verfassungsänderung aber auch, die Neutralitätsbefürworter unter Zustimmungsdruck zu setzen. Die Regierung verwies auf den Umstand, dass die entsprechende Klausel nur dann in die Verfassung komme, wenn die gesamte Verfassungsänderung (also auch die Zustimmung zum Nizza-Vertrag) angenommen würde (Government of Ireland 2002a). Der Schritt war insofern sowohl das Ergebnis eines verstärkten Verständnisses für die Befürchtungen der Nizza-Gegner als auch der Versuch eines den eigenen Interessen förderlichen Koppelgeschäfts. 395 Danach sollte in Art. 29 der irischen Verfassung ergänzt werden: „Irland darf jede Verpflichtung, die aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen oder aus einer unter ihrer Ägide ausgeführten Aktion akzeptieren oder weiterhin akzeptieren. Unbeschadet der vorangegangenen Bestimmungen dieser Klausel und ungeachtet der Bestimmungen aller in den nachfolgenden Klauseln dieses Artikels erwähnten Instrumentarien darf Irland kein Mitglied irgendeiner Organisation oder irgendeiner Vertragspartei irgendeines internationalen Abkommens oder Arrangements sein, durch das es gebunden wird, seine militärische Hilfe zur Verteidigung eines anderen Staates oder anderer Staaten unter irgendwelchen Bedingungen zu leisten, die die Freiheit des Staates einschränken, in jedem Fall selbst zu bestimmen, ob er sich an einer solchen Aktion engagiert oder weiter engagieren wird.” 396 Zwar enthielt der von Labour 2001 eingebrachte Gesetzentwurf zur Einbeziehung des Parlaments (European Union [Scrutiny] Bill) Passagen zur Verteidigungspolitik, aber dabei handelte es sich um eine eine andere und deutlich mildere Form militärpolitischer Bindung der Regierung. 397 Die Bürger durften gemäß der Vorlage über die Beteiligung an einer europäischen Verteidigungspolitik mitbestimmen, weil die entsprechende Klausel in diesem Fall aus der Verfassung gestrichen werden müsste. Dies ging nur über ein Referendum.
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5 Die kooperative Phase
Mit Blick auf die bevorstehende Option der Bevölkerung, sich an der Entscheidung über die Initiative direkt zu beteiligen, ist festzustellen, dass in der kooperativen Phase eine größere Öffentlichkeit erreicht wurde als zuvor. Dies geschah über das Europaforum, das nach fast drei Monaten Unterbrechung im Kontext der Wahlen im Juni zweimal zusammentraf (nun auch unter Beteiligung Fine Gaels) und dann eine Sommerpause einlegte, durch die zunächst eher schleppende, dann aktivere Medienberichterstattung über das Europaforum sowie durch die Wahlkampfberichterstattung der Medien, in der die nationalen Auseinandersetzungen über den Vertrag von Nizza eine große Rolle spielte.398 Charakteristisch war für die kooperative Phase insgesamt, dass die Regierungsseite von ihrer konventionellen Politik im Laufe der Zeit etwas abging, sich aber vor allem um die operative Politik der Problembewältigung sorgte, dass es zu Konvergenzen zwischen der innerparlamentarischen und der Debatte im Europaforum kam, dass im Zuge dieser Konvergenz auch Fine Gael ihre abweisende Haltung gegenüber dem Europaforum ablegte, sowie dass die Mehrheit der Akteure sich auf die aus ihrer Sicht wichtigsten Entscheidungsdimensionen bzw. Problematiken (Neutralität, Transparenz, Partizipation, Interessenvertretung bei einem kleinen Land) verständigte und dort aufeinanderzuging. Auch wenn bisweilen, wie bei der Neutralität, Grundproblematiken nicht wirklich gelöst wurden399 und sich das Engagement vorerst auf den konkreten Ratifizierungsprozess konzentrierte, 400 trug die Entwicklung in der kooperativen Phase doch zu einer langfristigen Verhaltensänderung der Regierung in europapolitischen Belangen bei.401 Zum Ende der Phase hin griff der Premier die inhaltlich-argumentative Entwicklung auf und bemühte sich, sie in ein Regierungskonzept der Europapolitik einfließen zu lassen und ihr zusätzlich zu konkreten Maßnahmen (Neutralitätsdeklarationen, veränderter Abstimmungstext, Einbeziehung des Parlaments in Europaangelegenheiten) öffentlich eine übergeordnete Sinngebung zu vermitteln: Hatte sich dieser Versuch noch in der ersten Phase darauf bezogen, die historische Bedeutung der Vertragsratifikation für Europa und für Irland sowie den moralischen Imperativ eines Ja zur EU-Osterweiterung über das Ja zu Nizza herauszustellen, so wurde nun zusätzlich zu dem Genannten die Sicht der irischen Bevölkerung wesentlich stärker angesprochen. Die Regierung habe ihre Lektion gelernt, sei aktiv geworden, und sie sei an der Auffassung der Bürgerinnen und Bürger interessiert.
398 Die Sitzungen des Europaausschusses waren ebenfalls öffentlich, aber in dieser Hinsicht hatte es keine Änderung gegeben. Die Arbeit des Europäischen Konvents war in dieser Zeit (bis zur Ratifizierung des Nizza-Vertrags durch Irland) übrigens kein Thema in der Medienberichterstattung (Vergés Bausili 2003: 4). 399 Die kooperative Haltung führte bis hin zur Kuriosität, dass die Fianna-Fáil-Repräsentanten der Regierung und der Abgeordneten ausgewechselt wurden, aber nichts für den Austausch de Rossas (Labour) unternommen wurde, der weiterhin das irische Abgeordnetenhaus repräsentierte, obwohl er in den Parlamentswahlen sein Mandat nicht hatte halten können. Auch dass FF nur über den Regierungsrepräsentanten gesichert im Konvent vertreten war, wurde trotz der komfortablen Machtsituation nicht geändert. 400 Diese Aussage bezieht sich besonders auf Fianna Fáil, Fine Gael, Labour und Grüne. Die irischen Repräsentanten wurden erst später als ihre Kollegen auf dem Europäischen Konvent aktiv, zuvor war ihre Aufmerksamkeit durch den Ratifikationsprozess gebunden (Vergés Bausili 2003: 4). 401 Sie war (auch nach erfolgter Ratifizierung) eher an einer Konservierung des Bestehenden als an weiterer Integration interessiert, skeptisch gegenüber der Entwicklung der europäischen Agenda, die zu schnell und fern von der öffentlichen Meinung erfolge, sprach sich gegen die Fixierung einer verbindlichen Grundrechtecharta aus, unterstützte aber alle Bemühungen, Demokratie, Zurechenbarkeit von Entscheidungen und Transparenz in der EU zu stärken. Sie befürchtete außerdem die Herausbildung einer Euphorie für eine schnelle und weitgehende Integration auf dem Konvent und Kontrollverluste aufgrund nachfolgender Eigendynamiken (Vergés Bausili 2003: 4 ff.).
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5.3 Irisches Fallbeispiel (2001-2002)
Insgesamt hatte sich trotz der geringen Handlungsspielräume der Regierung hinsichtlich der Konfliktthemen einiges in der kooperativen Phase getan, wie Tab. 38 anzeigt. Es hatte sich ein über die politischen Eliten im engeren Sinne hinausgehender Dialog entwickelt (O'Brennan 2004), der durchaus in Maßnahmen mündete. Auch wenn eine breite medienvermittelte Öffentlichkeit für das Thema nicht entstand,402 erschöpfte sich die Debatte in diesem Fallbeispiel doch immerhin nicht in technischen Details, sondern berührte Normfragen und erreichte dabei mehr Menschen und eine größere substanzielle Tiefe als in den beiden zuvor behandelten Beispielen in Kanada und Griechenland. Tabelle 38: Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall I Streitpunkt
Ort des Konflikts
Schutz irischer Interessen innerhalb der EU-Organe und EU– Entscheidungsverfahren
Regierungsparteien vs. Oppositionsparteien; innerhalb der Wahlbevölkerung
Wahrung der demokratischen Selbstbestimmung, Repräsentation irischer Interessen
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Transparenz der EU-Politik, Zurechenbarkeit der Entscheidungen, Kontrolle
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
militärische Neutralität Irlands
Regierungsparteien, Fine Gael, vs. Labour, Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Verkopplung der EUOsterweiterung mit der EUInstitutionenreform
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Ergebnis Juni 2002 Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, Verweis auf den Konvent und die geplante Beseitigung von Defiziten, Erstellung eines europapolitischen Konzepts mit Blick auf die irischen Bedürfnisse Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, Einbeziehung von Nichtregierungsakteuren in die Formulierung der irischen Europapolitik, Vergabe von Vertretungsposten an sie Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, Regierung verpflichtet sich zur europapolitischen Transparenz, erweiterte Kontrolle durch das Parlament geplant Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, Neutralitätsdeklarationen Irlands und der EU, veränderter Text der Verfassungsänderung Regierung stellt kausale Verknüpfung heraus, Erweiterung als moralischer und politischer Imperativ (NFOE 2002e: 2)
Hinsichtlich der Grundeinstellungen und Problemwahrnehmungen zeigten sich Ähnlichkeiten zwischen der Summe der politischen und gesellschaftlichen Akteure und der Bevölkerung insgesamt: Diese war weiter grundsätzlich positiv gegenüber der EU sowie deren Erweiterung eingestellt und zeigte ein im EU-Vergleich relativ hohes Vertrauen in die EUInstitutionen, verband dies jedoch nicht mit starken europäischen Gefühlen bzw. einer europäischen Identität. Im EU-Vergleich war sie deutlich reservierter gegenüber einem supranationalen Ansatz der Verteidigungspolitik (wenngleich nicht prinzipiell gegen gemeinsame Schritte) sowie der Flüchtlings- und Immigrationspolitik. Die Furcht vor negativen Konsequenzen der Europäisierung für die Wirtschaft und den Wohlstand war in der iri402 Nur anlässlich konkreter Ereignisse, wie des Sevilla-Gipfels und der vorgelegten Verfassungsänderung, berichteten die Medien über den Status quo der verfassungspolitisch relevanten Entwicklungen.
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5 Die kooperative Phase
schen Bevölkerung deutlich schwächer ausgeprägt als in der EU insgesamt. Stattdessen sprach das Unbehagen hinsichtlich der Dominanz durch Entscheidungen der großen Staaten und des Verlusts der nationalen Identität und Kultur latent gegen ein Ja zur weiteren Integration (EORG 2002: 1-8).403 Weiter bestand trotz aller Maßnahmen auch das für die Entscheidungsfindung relevante Problem des (gefühlten) mangelnden Wissens über EUAngelegenheiten. Dass es nicht ohne weiteres behoben werden konnte, zeigte sich an dem bekundeten unterdurchschnittlich niedrigen Interesse der Bevölkerung an EU-bezogenen Medienbeiträgen (EORG 2002: 3f.). Insofern war unklar, ob die Konfliktschlichtung zwischen den politischen und gesellschaftlichen Akteuren von der Bevölkerung als Referendums-Kollektivakteur überhaupt wahrgenommen, verstanden und in die Entscheidungsfindung einbezogen wurde.
5.4 Deutsches Fallbeispiel (1996-1997) Im deutschen Fallbeispiel hatten die Bundesländer mit ihrem an eigenen Interessen orientierten Kompromissangebot im Mai 1996 wieder Bewegung in die verfahrenen Aushandlungen gebracht. Sie banden ihre Zustimmung zur Grundgesetzänderung faktisch an eine Einigung zwischen Regierungsmehrheit und kommunalen Spitzenverbänden, signalisierten aber anders als die SPD, die ja eine ähnliche Festlegung getroffen hatte, ein stärkeres Interesse an einer Einigung. Vor dem Hintergrund einer innenpolitischen rhetorischen Polarisierung zwischen CDU/CSU und FDP auf der SPD bzw. den SPD-geführten Ländern auf der anderen Seite404 markierte dieser Schritt den Beginn einer Verhaltensänderung. Die Bundesländer strebten keine Maximalreform und keinen Systembruch an, sondern unterstützten bei Priorität eigener Interessen die mit diesen kompatiblen Forderungen der eher an der Umsetzung der Reform interessierten und materiellen Kalkülen folgenden Kommunen. Wie zu sehen sein wird, folgte diesem für den Übergang zur kooperativen Phase in allen Fällen wichtigen Kalkstein jedoch ein Prozess, in dem SPD und der SPD-geführten Länder zunehmend auch von eigenen Interessen abstrahierten. Während die SPD-Fraktion angesichts der Dominanz anderer innenpolitischer Themen vorerst nicht in Erscheinung trat, war dies die Zeit der substanziell höher motivierten kleinen Akteure und der Betroffenen. Für PDS und Bündnis 90/Die Grünen stellte die Aufwertung des Problems der Kommunalfinanzen gegenüber den wirtschafts- und steuerpolitischen Zielsetzungen einen Anreiz dar, sich an der Diskussion zu beteiligen. Die Gruppe der PDS forderte in ihrem Antrag auf Konzipierung einer umfassenden Gemeindefinanzreform vom 07.05.1996 die Beibehaltung der Gewerbesteuer als Bindeglied zwischen örtlicher Wirtschaft und kommunalen Finanzanforderungen, bezog dies 403 Die Befragungen fanden vom 29.03.2002 bis zum 25.04.2002 statt. 404 Im Januar 1996 war die Bundesregierung (v.a. die FDP) wegen pessimistischer wirtschaftlicher Erwartungen in ein Stimmungstief geraten; Schröder war erstmals populärer als Bundeskanzler Kohl (Saarbrücker Zeitung, 04.01.1996). Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder hatten daraufhin Arbeitsgruppen, u.a. zum Thema Finanzen, eingesetzt, um gemeinsame Konzepte für die Standortsicherung und gegen die Beschäftigungskrise zu erarbeiten, doch nach den für die SPD negativ verlaufenen Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und in Schleswig-Holstein setzte sie wieder auf formale politische Aushandlungsverfahren im Bundestag. Die Mehrheit der SPD-Länder könnte dann entweder im Bundesrat mitmachen oder müsste sich der öffentlichen Diskussion über ihr Blockadeverhalten stellen (Frankfurter Rundschau, 27.03.1996). Im Mai 1996 scheiterte das Bündnis für Arbeit, in das die Bundesregierung große Hoffnung gesetzt hatte.
5.4 Deutsches Fallbeispiel (1996-1997)
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jedoch auf beide Teilsteuern. Die Einnahmen aus der Gewerbeertragsteuer sollten durch die Ausdehnung der Gewerbesteuerpflicht erhöht, die Gewerbekapitalsteuer sollte beibehalten werden. Darüber hinaus sei der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer von 15 auf 20 Prozent zu erhöhen und eine gesetzlich garantierte Investitionspauschale für die ostdeutschen Kommunen bis zum Jahr 2002 festzuschreiben. Zudem forderte die PDS die Stärkung der kommunalen Erhebung von Grundsteuer für eine ökologische Steuerung. Sie strebte eine Änderung des Art. 106 GG an, aber mit spezifischen Inhalten: Die Übertragung von Aufgaben vom Bund an die Länder und Gemeinden sollte in Art. 106 (8) GG an die Bereitstellung der dafür erforderlichen finanziellen Mittel gebunden werden, und Abs. 5 sollte enthalten, dass der Anteil der einzelnen Gemeinde an der Einkommensteuer jeweils hälftig entsprechend der Einwohnerzahl und der Anzahl der Arbeitnehmer ermittelt wird, um Wohnort- und Arbeitsortsprinzip miteinander zu verkoppeln (DBT/BR o.J.: A1, 24: Beig. 2). Dies hätte eine sehr detaillierte verfassungsrechtliche Ausgestaltung zugunsten der Gemeinden bedeutet. In einem eigenen Antrag vom 12.06.1996 unterbreitete auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen Vorschläge für eine Reform der Kommunalfinanzen. Sie bezeichnete die Pläne der Bundesregierung zur Senkung der Gewerbesteuer erneut als unausgereifte Minimallösung, die die vielen Schwächen der Gewerbesteuer nicht beseitige, gleichzeitig aber auch keine grundlegenden Verbesserungen für die Finanzausstattung der Gemeinden bringe (DBT/BR o.J.: A1, 24: Beig. 1, 1-2). Sie forderte neben der obligatorischen Umsatzsteuerbeteiligung der Kommunen in Art. 106 GG die von Ländern und Kommunen vorgeschlagene Festschreibung einer kommunalen, mit Hebesatzrecht ausgestalteten wirtschaftsbezogenen Steuerquelle in Art. 28 GG und eine engere Verzahnung zwischen Ausgabenkompetenz, Aufgabenverursachung und Ausgabenverantwortung auch hinsichtlich der Kommunen in Art. 104a GG. Die Senkung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer lehnte sie ab, da sie dem politisch wünschenswerten Interessenausgleich zwischen örtlicher Wirtschaft und kommunalen Finanzanforderungen diene. Um die Einnahmen aus ihr zu erhöhen, sollte die Gewerbesteuerpflicht bei Verringerung der Gewerbesteuerbelastung für die Einzelunternehmen sogar ausgedehnt werden. Darüber hinaus übernahm auch die grüne Fraktion alle zentralen Forderungen der kommunalen Spitzenverbände zur technisch-organisatorischen Umsetzung der Reform, ergänzte sie aber um die Forderung nach einer Stärkung der kommunalen Erhebung von Grundsteuer und – ähnlich der PDS – von Umweltabgaben für den Zweck einer ökologischen Steuerung (DBT/BR o.J.: A1, 24: Beig. 1, 3-7). Die kommunalen Spitzenverbände griffen die neuen Impulse auf, beriefen sich aber nur auf die Bundesländer, nicht auf die Vorschläge der verhandlungsschwächeren Akteure. Im Juni 1996 betonten sie in einem Schreiben an den Bundestags-Finanzausschuss ihre Offenheit auch für eine „von der Mehrheit der Länder präferierte Revitalisierung der Gewerbesteuer“ und forderten „nun auch in Übereinstimmung mit den Ministerpräsidenten der Länder – eine eindeutige verfassungsmäßige Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer“ (DBT/BR o.J.: A2, 32: 774). Gleichzeitig lenkten sie in den Beratungen mit der Bundesregierung und der zuständigen Arbeitsgruppe der CDU-/CSU-Fraktion ein, unter den bereits genannten Bedingungen nicht nur die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu akzeptieren, sondern auch die Gegenfinanzierung der Gewerbesteuerausfälle durch eine Absenkung der degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens. Dieser Punkt, in dem das Bundesfinanzministerium 1995 Kompromissbereitschaft gezeigt hatte, verblieb auch deshalb im Konzept, weil sich in den zwischenzeitlichen Gesprächen keine tragfähigen sachlichen Alternativen ergeben hatten.
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Der Deutsche Städtetag legte seinerseits Zahlen seiner Mitgliedstädte vor, um das Aufkommen der Gewerbekapitalsteuer besser schätzen und die Finanzierungs- und Ausgleichsmodelle entsprechend anpassen zu können. Die Zahlen überstiegen die Annahmen des Bundesfinanzministeriums und ergaben inklusive der zugesicherten Verlustausgleichsregelung sowie der angezielten Steuerkraftverbesserung für die strukturschwachen Städte und Gemeinden einen gemeindlichen Umsatzsteueranteil genau jener 3 Prozent, wie sie die rheinland-pfälzische Landesregierung (SPD, FDP) bereits im Juni 1995 gefordert hatte (DBT/BR o.J.: A2, 32: 775f.). Wie bei den kommunalen Spitzenverbänden insgesamt entsprach dies der Strategie, sich nach vorerst informellem Lobbying gegenüber relevanten politischen Akteuren auf deren jeweils am günstigsten für die eigenen Interessen ausfallende Stellungnahmen zu berufen. Während der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses des Bundestages zum Jahressteuergesetz 1997, das wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung des Vermögens und der Erbschaft vom 22.06.1995 prioritär gegenüber den Weiterverhandlungen zur Gewerbesteuer war (DBT/BR o.J.: A2, 32),405 wartete auch die CDU-/CSUFraktion am 26. und 27.06.1996 mit einem Kompromissvorschlag zur Grundgesetzänderung auf, der, so die Aussage, bereits die Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände fand: Die verbindliche Aufnahme der Kommunen als dritte Beteiligte an der Umsatzsteuer in Art. 106 GG oder auch noch in Art. 28 GG sei unstrittig, so CDU-Steuerexperte Friedrich Merz. Die juristisch notwendige Anpassung des Begriffes der „Realsteuern“ an diese Änderung stelle nur noch ein technisches Formulierungsproblem dar (DBT/BR o.J.: A2, 32: 294). Damit gingen das Bundesfinanzministerium und die Fraktion der CDU/CSU auf wesentliche Forderungen der kommunalen Spitzenverbände, von Baden-Württemberg, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein, während sie sich hinsichtlich der finanziellen Entschädigungsleistungen und der allgemeinen Problematik der Kommunalfinanzen nicht entscheidend bewegten. Das Entgegenkommen sollte die steuerpolitischen Gesamtverhandlungen, in denen es nur am Rande um die Gewerbesteuer ging, positiv beeinflussen. Die kommunalen Spitzenverbände forderten in der Anhörung vehement nur noch eine Kompensation der Gewerbesteuerverluste über eine Mehrwertsteuerbeteiligung, „nichts anderes, auch keine Absenkung der Gewerbesteuerumlage, die auch schon diskutiert worden ist, oder gar die Realisierung des Hebesatzrechtes bei der Einkommensteuer.“ Das seien „Folterinstrumente“ (DBT/BR o.J.: A2, 32: 321). Angesichts ausbleibender Fortschritte bei der Grundgesetzänderung befürchtete sie, dass die Regierungskoalition auf andere Kompensationsvarianten auswich. Die größten Probleme sahen die Kommunen aber bei der technischen Organisation der Umsatzsteuerbeteiligung, so dem Verteilungsschlüssel, der Ost-West-Verteilung und dem gesamten Kompensationsvolumen (ebd.: 315 ff.). Die Spitzenverbände des Handwerks und des Einzelhandels sprachen sich für den Ansatz der Bundesregierung aus, die Steuermittel so an die Gemeinden zu verteilen, dass dort noch ein Interesse an der Ansiedlung mittelständischer Betriebe existierte (ebd.: A2, 32: 310). Die SPD war von der Ankündigung einer Einigung zwischen Bundesregierung und Kommunen vollkommen überrascht und betonte „bei aller Bedeutung von Direktverhand405 Das Urteil enthielt Grundsätze zum verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum, zu wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten und der Gewährleistung der sozialen Symmetrie, die in bezug auf die konkrete Situation eine Abschaffung der Vermögensteuer nahe legten und damit den Handlungskorridor der politischen Entscheidungsträger verengten, und setzte das geltende Vermögensteuergesetz ab 31.12.1996 außer Kraft, sollte bis dahin keine verfassungsmäßige Neuregelung getroffen sein.
5.4 Deutsches Fallbeispiel (1996-1997)
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lungen zwischen Bund und Gemeinden und aller Wertschätzung der Ergebnisse, die… offenbar erzielt worden sind“, dass die Länder für die Gemeinden verantwortlich seien und es daher „nur eine Einigung im Dreieck zwischen Koalition, kommunalen Spitzenverbänden und SPD geben“ könne (DBT/BR o.J.: A1, 30: 298). Mit ihrer Entscheidung, die Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände zur Grundgesetzänderung und Gewerbesteuerreform zur Voraussetzung für die eigene Zustimmung zu machen, hatte sie die Aushandlungen ein Stück weit an das Bundesfinanzministerium und Kommunen delegiert, die dort auf Arbeitsebene und ohne Kontrolle oder Einflussnahme durch das Parlament stattfanden.406 Gleichzeitig hatte sie infolge dieser Verlagerung noch immer keine eindeutige interne Position zur Sache erarbeitet und zeigte sich daher zu intensiveren Verhandlungen erst nach der Sommerpause bereit (ebd.: 298, 324). SPD und SPD-geführte Ländern würden der Grundgesetzänderung aber nur zustimmen, „wenn wir… auch ein Einvernehmen über die Folgeregelungen – man kann auch sagen, über die dem vorausgehenden Regelungen – auf den Tisch gelegt bekommen“ (ebd.: 324). Wieder ging es also nicht nur um die Änderung des Verfassungstextes allein, aber im Gegensatz zur individualistischen Phase stärker um das mit dieser verbundene Gesamtvorhaben und weniger um innenpolitische Tauschgeschäfte im größeren Maßstab. Kurz vor den im September 1996 begonnenen Gesprächen zum „Restantengesetz“ (das inzwischen als „Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform“ firmierte) und zur Grundgesetzänderung legten die Regierungsfraktionen im Bundestag einen Änderungsantrag zum ursprünglichen Verfassungsänderungentwurf der Bundesregierung vor. Er enthielt drei Modifikationen bzw. Ergänzungen, nämlich die obligatorische Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden, deren abgesicherte Ertragshoheit sowie die ausdrückliche Aufnahme der Umsatzsteuer in die Bemessungsgrundlage für (Kreis-)Umlagen. In einem Punkt ruderten CDU/CSU und FDP aber im Vergleich zur Ankündigung Merz’ in der Anhörung zurück: Aufgrund der Intervention von seiten der FDP, die schon einer Änderung des Art. 106 GG nur „im Interesse der Sache“ zustimmte (DBT/BR o.J.: A3, 38: 23), lehnten Bundesregierung und Koalitionsfraktionen inzwischen eine Änderung des Art. 28 GG wieder gänzlich ab, weil die vorgesehene Änderung des Art. 106 GG im Zusammenwirken mit dem geltenden Art. 28 GG für die Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer ausreichend sei (ebd.: 22). Auch die SPD und die SPD-geführten Ländern wurden aktiv. Auf Initiative des Saarlands unter Ministerpräsident Lafontaine griffen die SPD-geführten Länder im Bundesrat und die SPD-Fraktion im Bundestag ihre im Mai 1995 eingebrachte, später von der PDS und Bündnis 90/Die Grünen (mit je eigenen Modifikationen) übernommene Idee wieder auf, die Kommunalfinanzen ganz neu zu regeln. Der Bundesrat beschloss am 27.09.1996 mit SPD-Mehrheit den Vorschlag zur Einsetzung einer Gemeinsamen Gemeindefinanzreform-Kommission von Bundestag und Bundesrat, am 09.10.1996 reichte die SPD-Fraktion im Bundestag einen identischen Antrag ein (DBT/BR o.J.: A1, 26, Beig. 1, 2). An ihren Zustimmungsbedingungen für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer hielt die SPD darin fest. Der Bundestagsfinanzausschuss beriet seit September 1996 intensiv über das hinter der Grundgesetzänderung stehende einfachgesetzliche Vorhaben einer Gewerbesteuerreform. 406 Das Bundesfinanzministerium handelte gemäß den Vorgaben der Regierungskoalition, bereitete aber maßgeblich (durch Modellrechnungen, Informationslieferung, Expertenaussagen u.ä.) die Entscheidungsvorlagen vor.
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Hier ging es nicht um die Auseinandersetzung über große politische Fragen, sondern die Akteure konzentrierten sich auf konkrete Punkte der Gesetzgebung, die zu ändern wären unter der Annahme, dass die Gesetzesvorlagen denn beschlossen würden. Dabei zeigte sich, dass die auf der öffentlichen Anhörung zum Jahressteuergesetz 1997 vorgebrachten Aussagen der Sachverständigen und der Verbände die Entscheidungsperzeption bei allen Fachpolitikern die Wahrnehmung gestärkt oder verfestigt hatten, dass die Besteuerung des Gewerbekapitals sachlich problematisch ist, besonders im Falle einer Einführung in den neuen Bundesländern. Dies war besonders bei der SPD ein wichtiger Schritt (vgl. Kapitel 4.4). Die präferierten Lösungsansätze indes unterschieden sich weiter. Die SPD-Fraktion forderte erneut die verfassungsmäßige Absicherung der nach einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer verbleibenden Gewerbeertragsteuer. Dafür, dies zu erreichen, hielt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen neben der vorgesehenen Änderung des Art. 106 GG eine Änderung des Art. 28 GG für erforderlich (DBT/BR o.J.: A2, 36: 46; A3, 38: 22), wie sie zunächst die Länder formal vorgeschlagen und dann die kommunalen Spitzenverbände weiter promotet hatten. Das Bundesfinanzministerium argumentierte hingegen, es sei „systemfremd“, in Art. 28 GG, der bereits einen umfassenden Schutz der Gemeinden in ihren finanziellen Angelegenheiten gewährleistet, eine einzelne Steuer festzuschreiben, was zudem den Spielraum des Gesetzgebers unvertretbar einschränkte (DBT/BR o.J.: A3, 44: 34). Es erstellte aber auf Veranlassung aus der SPD-Fraktion eine Formulierungshilfe, die Folgeänderungen in Art. 106 GG erfordert hätte (DBT/BR o.J.: A3, 50, Anl. 2).407 Zudem thematisierte die SPD-Fraktion im Finanzausschuss die Höhe des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer und die Auswirkungen einer Umsatzsteuerbeteiligung der Kommunen auf das Umsatzsteueraufkommen der Länder (DBT/BR o.J.: A3, 38: 17). Hintergrund war der weiterhin herrschende Dissens zwischen Regierungsseite, Opposition und Kommunen hinsichtlich der Angemessenheit der den Modellrechnungen jeweils zugrunde gelegten Daten. Die Opposition kritisierte die verspätete Einbringung von Formulierungshilfen und Daten, da sie zu Termindruck zulasten der intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung führe, während die Bundesregierung darauf verwies, dass die (mehrheitlich SPDgeführten) Bundesländer die nötigen Daten zur Gewerbesteuer nicht zur Verfügung stellten. Beide Oppositionsfraktionen setzten sich dafür ein, in den weiteren Ausschussberatungen erneut Vertreter der kommunalen Spitzenverbände anzuhören, um die Konflikte besser lösen zu können (DBT/BR o.J.: A2, 33: 16). Die Gruppe der PDS war im Bundestagsfinanzausschuss sehr aktiv, aber isoliert, obwohl sich ihre Positionen teilweise mit denen der Oppsitionsfraktionen überlappten: Sie forderte, die Koalitionsvereinbarung über die gänzliche Abschaffung der Gewerbesteuer aufzuheben und wollte einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nur im Rahmen einer durchgreifenden Reform der Gemeindefinanzen zustimmen. Zudem trat sie als Anwältin ostdeutscher Interessen auf und setzte sich dafür ein, dass die neuen Bundesländer durch die bevorstehende Reform nicht benachteiligt würden (DBT/BR o.J.: A3, 38: 25, 28). Bis Dezember modifizierte sie ihre Position und benannte als Bedingungen für ihre Zustimmung einen kommunalen Umsatzsteueranteil von 2,3 Prozent, eine institutionelle Absicherung der verbleibenden Gewerbesteuer und den mittelfristigen Verzicht auf kompensatorische Verbrauchsteuererhöhungen (DBT/BR o.J.: A3, 45: 24).
407 Die Formulierung lautete: „Durch Bundesgesetz ist zugunsten der Gemeinden eine mit kommunalem Hebesatzrecht ausgestattete Gewerbesteuer als Bestandteil ihrer finanziellen Eigenverantwortung zu regeln.“
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Parallel zu den sachlich-substanziellen Aushandlungen zwischen den Finanzexperten benutzten die SPD-Spitze und die SPD-geführten Länder die Grundgesetzänderung in den Aushandlungen im Vermittlungsausschuss zum Jahressteuergesetz 1997 und im Bundestags-Finanzausschuss erneut auch als Verhandlungsressource bei sachfremden Materien. Die SPD-Fraktion band ihre Zustimmung zur Gewerbesteuerreform an die Beibehaltung der Vermögensteuer (u.a. DBT/BR o.J.: A3, 37; A1, 20: 16836).408 Der saarländische Ministerpräsident und (inzwischen) SPD-Vorsitzende Lafontaine bot aber auch Kompromisse bei der Streichung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer sowie bei der Kürzung der Lohnfortzahlung für Beamte an, um die Verschiebung der bereits beschlossenen Kindergelderhöhung um ein Jahr zu stoppen (u.a. DBT/BR o.J.: A3, 38: 23). Die CDU-/CSUFraktion lehnte beides ab – aus politischen Gründen und infolge ihrer Abneigung gegen „erpresste“ Tauschgeschäfte.409 Während die Aushandlungen zwischen der Regierungsmehrheit auf Bundesebene und der SPD aufgrund vieler Konflikte im Kleinen und der zwischenzeitlichen Angebote von Tauschgeschäften noch nicht zu einem Ergebnis kamen, erreichten die Verhandlungen zwischen Bundesregierung und kommunalen Spitzenverbänden im Herbst 1996 ihren Höhepunkt; auch die Bundesländer waren nun stärker einbezogen. Die Verhandlungen zwischen dem Bundesfinanzministerium und den Bundesländern sowie den kommunalen Spitzenverbänden als den Betroffenen wiesen einen weitaus höheren Grad an Tiefenschärfe auf als die Verhandlungen im Finanzausschuss des Bundestages410 und richteten sich insbesondere auf die finanzielle, technische und organisatorische Umsetzung einer möglichen Gewerbesteuerreform, um konkurrierende Ansätze zu den Berechnungsgrundlagen sowie um die im deutschen Steuerverbund und angesichts der spezifischen Ost-West-Regelungen äußerst komplizierten Umsetzungsregeln zur Reform. Hier unterschieden sich die Positionen noch erheblich. 408 Die SPD-Bundestagsfraktion argumentierte, die Beibehaltung der privaten Vermögensteuer sei nicht nur ein Ziel an sich, da sie eine soziale Schieflage des Jahressteuergesetzes verhindere, sondern es gehe auch darum, dass eine vollständige Kompensation für die Nichterhebung dieser Steuer für die Länder noch nicht erreicht sei. Diese Fragen hätten „sachliche und politische Querverbindungen zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer“ (DBT/BR o.J.: A3, 45: 22f.). 409 Sie betrachtete die Vermögensteuer als ebenfalls „substanzverzehrende Steuer“, die sie ja gerade abschaffen wollte (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16836). Das Junktim Vermögensteuer – Gewerbekapitalsteuer bezeichneten Vertreter als „sachfremd“ mit dem Unterton der Unredlichkeit eines solchen Angebots (DBT/BR o.J.: A3, 45: 25). 410 Da die Größe des Gewerbesteueraufkommens, das ersetzt werden sollte, nach wie vor unbekannt war, schätzte das Bundesfinanzministerium einen für die Gemeinden als Kompensation vorgesehenen Anteil am Umsatzsteueraufkommen, der auch Verlustausgleichszahlungen für Gemeinden mit besonderen Einnahmeverlusten aufgrund der Systemumstellung beinhaltete. Die alten Länder (einschließlich Berlin/West) sollten aus diesem Topf einen Anteil entsprechend der Einnahmeausfälle nach den Regelungen zur Gewerbesteuerreform mit Auswirkungen auf die Gewerbesteuer erhalten, der Anteil der neuen Länder (einschließlich Berlin/Ost) sollte sich aus der Summe ebendieser Einnahmeausfälle und der fiktiven Einnahmeausfälle bei der Gewerbekapitalsteuer bemessen. Die diesen Ausfällen entsprechenden Anteile am Kompensationsvolumen sollten von den Ländern größtenteils nach bundesgesetzlich vorgegebenem Schlüssel verteilt werden, ein bestimmter Anteil zunächst einbehalten und dann zur Abmilderung von Härtefällen nach Maßgabe landesgesetzlicher Regelungen verteilt werden. In den neuen Ländern sollte die Verteilung des Gemeindeanteils sofort erfolgen, da das Ministerium hier nicht mit einzelnen „Verlierergemeinden“ rechnete. Vom Übergangsschlüssel sollte später auf einen fortschreibungsfähigen Schlüssel umgestellt werden (DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 2: 6ff.). Der letztendlich fixierte Verteilungsschlüssel, der sich auch an den wirtschaftlichen Beschäftigtenzahlen der Gemeinden orientierte, weil hierfür wenigstens Daten vorlagen, konnte für die neuen Bundesländer aufgrund der mangelnden Qualität dieser Daten nicht angewendet werden; für sie wurde eine eigene Vergaberichtlinie entworfen.
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5 Die kooperative Phase
Die Aushandlungen mit den Bundesländern und den Kommunen besaßen in weiten Teilen den Charakter eines Verteilungsspiels, und alle vorgesehenen Umverteilungen können als Kompensationzahlungen zur Sicherung eines ansonsten fehlenden bzw. unzureichenden Zustimmungswillens interpretiert werden: Das Bundesfinanzministerium warb zwar nicht mehr mit einer angeblichen Überkompensation der zu erwartenden Steuereinbußen für die Gemeinden, beharrte aber auf einem Umsatzsteueranteil der Kommunen von 1,9 Prozent. Es plante eine Härtefallregelung, die aus dem schon vorhandenen Kompensationsvolumen finanziert werden und deren Umsetzung allein den Ländern obliegen sollte, wollte also nicht nur die Mittel gering halten, sondern auch Verantwortung abschieben. Die Bundesländer wiederum strebten neben der vorgesehenen Kompensationsmasse einen allein vom Bund zu finanzierenden Härtefallfonds aus dem Bundesanteil an der Gewerbesteuerumlage an. Hinsichtlich des Kompensationsvolumens selbst, das in den Verhandlungen zwischen Bund und kommunalen Spitzenverbänden eine bedeutende Rolle spielte, legten sie sich noch nicht fest. Die Spitzenverbände wiederum waren strikt gegen den vom Bundesfinanzministerium vorgesehenen Steueranteil und sowohl gegen die von ihm als auch gegen die von den Bundesländern vorgesehene Härtefall-Variante, da sie befürchteten, dass die Länder diese Gelder nicht voll an sie weitergeben würden.411 Die neuen Bundesländer und Berlin forderten ihrerseits einen höheren Anteil an der Kompensationsmasse als bisher vorgesehen oder eine Dynamisierung des Anteils (DBT/BR o.J. A3, 38, Anl.1-4). Trotz ihrer Einwände waren die kommunalen Spitzenverbände an einer Einigung interessiert, denn als am Gesetzgebungsprozess formal nicht Beteiligte befürchteten sie, die Gewerbeertragsteuer könnte irgendwann ganz abgeschafft werden, ohne dass die Interessen der Kommunen ausreichend abgesichert wären.412 Zudem schürte die Regierungsmehrheit die Furcht vor einer – angesichts der vorangegangenen Umstände nicht unrealistischen – Regelung offener Fragen im Vermittlungsausschuss. Dieser hatte zuvor die Interessen der Kommunen zugunsten parteipolitischer bzw. Länderinteressen deutlich erkennbar vernachlässigt (Oberreuter 1999: 2). Sie erklärte außerdem, dass gerade die besonders umstrittenen Ausgleichsregelungen für die Kommunen im Falle einer späteren Aushandlung im Rahmen der geplanten Großen Steuerreform sehr viel schwieriger oder gar nicht zu verhandeln wären und dass sie dann wegen der nächsten Bundestagswahlen auch 1998 nicht beschlossen würden (DBT/BR o.J.: A3, 38: 22, 27f.). Infolge dieser Überlegungen hinsichtlich eines Scheiterns des Vorhabens verzichteten die kommunalen Spitzenverbände im Herbst 1996 auf ihre Forderung nach einer Änderung des Art. 28 GG – allerdings nur, „wenn man sich über die Bedeutung der vorgeschlagenen Änderung des Art. 106 klar sei, … die in Verbindung mit Art. 28 (2) Satz 3 GG eine Versicherung der Gemeinden gegen eine kompensationslose Abschaffung der Gewerbeertragsteuer darstelle“ (DBT/BR o.J.: A3, 38: 29). Sie warteten außerdem mit dem neuen Vorschlag auf, die verbleibende Gewerbesteuer zusätzlich zu den bisherigen Plänen in Art. 106 (6) Satz 2 GG verfassungsrechtlich abzusichern,413 beharrten jedoch nicht auf diesem 411 Sie forderten daher anstelle der Härtefallregelung ein um 2,75 Mrd. DM höheres Kompensationsvolumen bzw. eine Erhöhung des Umsatzsteueranteils auf 3 Prozent. Der Deutsche Städtetag erwartete einen Anteil von mindestens 2,3 Prozent (DBT/BR o.J. A3, 38, Anl.1-4). 412 Tatsächlich erschöpften sich die Antworten der Regierungsseite auf ihre ständige Nachfrage nach dem Zeitpunkt der geplanten Abschaffung immer wieder darin, dieses Ziel werde „derzeit nicht weiterverfolgt“ (u.a. DBT/BR o.J.: A3, 38: 22; A3, 43: 26). 413 Die Formulierung sollte lauten: „Eingriffe in die Gewerbesteuer bedürfen einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat“.
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Vorschlag, als das Bundesfinanzministerium und die Regierungsfraktionen ihn ablehnten und auch die Oppositionskräfte ihn nicht aufgriffen. Dasselbe galt für ihre weiterhin erhobene, in den Verhandlungen aber nicht vertiefte Forderung nach einer Konkretisierung des Konnexitätsprinzips in Art. 104a GG (DBT/BR o.J.: A3, 44: Anl. 4/1). Der DLT forderte nachwievor, aber ebenfalls nicht entschlossen, die Ermöglichung einer Umsatzsteuerbeteiligung der Kreise in Art. 106 (5a) GG (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 2). Die Einigung zwischen Bundesregierung und Kommunen wurde auf öffentlichkeitswirksamen Treffen des Bundesfinanzministers Waigel mit den Verbandspräsidenten sowie von Bundeskanzler Kohl mit dem Präsidenten des Deutschen Städtetags, Gerhard Seiler (CDU), zur Schau gestellt (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 5). Sie zwang die politischen Akteure, die sich ja teils an die Zustimmung der Spitzenverbände gebunden hatten, zu einer Reaktion. Die Regierungsseite versuchte, mit ähnlichen Droh-Szenarien wie bei den kommunalen Spitzenverbänden (Scheitern, Vermittlungsausschuss, Große Steuerreform) das spezifische Interesse von Fachpolitikern und Verbandsexperten an der inhaltlichen Substanz und der Umsetzbarkeit der Einzelmaßnahmen anzusprechen sowie ihr Bestreben, sich Entscheidungsmacht nicht von anderen, insbesondere den Parteispitzen, nehmen zu lassen (z.B. DBT/BR o.J.: A3, 44, Anl. 43; A3, 38: 22). Aber auch unabhängig davon appellierten Bundesfinanzministerium und die Fraktionen von CDU/CSU und FDP, die die Aushandlungen rasch beenden wollten, wiederholt an die Einigungsbereitschaft aller Beteiligten (z.B. DBT/BR o.J.: A3, 38: 24). Als sich die Modelle zur Umsetzung der Gewerbesteuerreform im Herbst 1996 konkretisierten, bemühten sich die westdeutschen und die ostdeutschen Kommunen erstmals explizit, ihren jeweiligen (während der Übergangsphase unterschiedlichen) Anteil am gemeindlichen Umsatzsteueraufkommen zu erhöhen, und am 27.11.1996 formulierten auch die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer erstmals gemeinsame Standpunkte. Auf ihrer 16. Regionalkonferenz forderten sie, alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, damit die Gewerbekapitalsteuer nicht in den neuen Ländern eingeführt werden müsste (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 2). Dieses Verhalten weist noch einmal auf die gegenüber den Bundestagsparteien divergierende, stärker auf Pragmatismus und die eigenen Haushalte als auf politisch-ideologische Ziele oder eine übergreifende Solidarität gerichtete Rationalität der Länderexekutiven hin. In Westdeutschland führte sie dazu, dass die Länder, bislang vorrangig mit den Verhandlungen über Ausgleichszahlungen des Bundes für die Abschaffung der privaten Vermögensteuer (einer Ländersteuer) sowie über die Erbschaftsteuer befasst, sich unabhängig von ihrer Regierungszusammensetzung in der Gewerbesteuerfrage offiziell weiterhin bedeckt hielten. In Ostdeutschland führte sie zur erwähnten gemeinsamen Initiative. Dabei fällt auf, dass die Sondersituation in den neuen Bundesländern mit vielen verschuldeten und einnahmeschwachen Betrieben zwar ein wichtiges legitimatorisches Argument der Bundesregierung, von CDU/CSU und FDP für die Gewerbesteuerreform gewesen war, das die anderen Parteien akzeptierten, dass aber die ostdeutschen Kommunalinteressen in den Aushandlungsprozessen selbst bis Ende 1996 praktisch keine Rolle spielten. Lediglich die Gruppe der PDS wies wiederholt auf spezifische ostdeutsche Bedürfnisse hin und forderte 1996 vom Bundesfinanzministerium eine detaillierte Kalkulation der Reformeffekte auch für die ostdeutschen Kommunen und Länder. Die multidimensionalen Auseinandersetzungen konnten also durchaus mit der Unterthematisierung von Teilproblematiken einhergehen.
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Wegen der kritischen Position der SPD-Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (Brandenburg) und Reinhard Höppner (Sachsen-Anhalt) zur Einführung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern und der wirtschaftsfreundlichen Haltung von Gerhard Schröder (Niedersachsen) und Kurt Beck (Rheinland-Pfalz) hielt das Bundesfinanzministerium eine Zustimmung der Länder zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer für möglich, wenn die Kommunen der Maßnahme zustimmten (DBT/BR o.J.: A3, 47: 25). Diese Option war ein Anreiz für das Bundesfinanzministerium und die Regierungsfraktionen, gegenüber den kommunalen Spitzenverbänden beim Ausgleichsvolumen und Verteilungsschlüssel einzulenken, während die Kommunen auf eine Härtefallregelung und ihre verfassungsrechtlichen Forderungen verzichteten (DBT/BR o.J.: A3, 43: Anl. 2; A3, 44: 33; A3, 38, Anl. 1: 2). Darüber hinaus bot die Regierungsseite nun einen erhöhten Umsatzsteueranteil von 2,1 Prozent als Kompromiss im Streit um die unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen an, der den Schatteneffekt aus der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Reduzierung der degressiven Abschreibung für Ausrüstungsinvestitionen berücksichtigte (DBT/BR o.J.: A3, 47; DBT 1997b: 14521). Dies war zuvor nicht erfolgt, um im Verteilungsstreit die Ansprüche der Kommunen möglichst niedrig zu halten. Möglicherweise handelte es sich aber auch um eine verdeckte Kompensationszahlung im übertragenen verhandlungstaktischen Sinne. Grundsätzlich sollte die Gewerbeertragsteuer inzwischen weniger stark abgesenkt werden, als zunächst geplant. Dies war zwar kein Zugeständnis gegenüber jenen Kräften (wie Bündnis 90/Die Grünen), die ihre Revitalisierung gefordert hatten, weil die Bundesregierung dadurch in erster Linie eine trotz der Konjunkturflaute aufkommensneutrale Reform gewährleisten wollte,414 doch kam dies gleichzeitig den Positionen der Reformgegner entgegen. Nachdem auf dessen Bemühungen hin die Europäische Kommission gegenüber dem Bundesministerium für Finanzen signalisiert hatte, die weitere Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer stillschweigend zu dulden,415 sah das Gesetzesvorhaben schließlich auch eine Umsetzung der Reform und kommunale Umsatzsteuerbeteiligung erst ab 01.01.1998 vor. Noch im Änderungsantrag der Regierungsfraktionen zur Grundgesetzänderung vom Herbst 1996 war von Januar 1997 die Rede gewesen. Hier kamen die Regierungsfraktionen und das Bundesfinanzministerium der SPD-Fraktion entgegen, die die Gewerbesteuerreform frühestens ab 1998 wünschte. Um Handlungsdruck zu erzeugen, wurde die Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern ab 01.01.1997 trotzdem formal eingeführt – unter dem „stillschweigenden Vorbehalt“, „daß die Steuer zwar gilt, aber nicht kassiert wird – bis zu ihrer bundesweiten Abschaffung“ (Schmid 1997).416 Parallel zu den einfachgesetzlichen Gewerbesteuerregelungen trieb die Regierungsmehrheit auf Bundesebene die Beschlussfassung zur Grundgesetzänderung voran. Sowohl der Finanz- als auch der Innenausschuss des Bundestages empfahlen am 19.02.1997 mit 414 Die Gewerbesteuerausfälle sollten u.a. über eine Absenkung der degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens refinanziert werden. Die erwarteten Mehreinnahmen durch die Verringerung dieser Abschreibung um fünf Prozent sanken aber wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung, worauf das Bundesfinanzministerium mit der Neuplanung bei der Gewerbeertragsteuer reagierte (DBT/BR o.J.: A2, 35: 48f.; A3, 38: 23). 415 Die Bereitschaft zur Duldung wurde Ende 1996 auf Anfrage der Opposition vom Parlamentarischen Staatssekretär im Bundeswirtschaftsmministerium, Heinrich L. Kolb, angedeutet und dann vom Parlamentarischen Staatssekretär beim aushandlungsrelevanteren Bundesfinanzministerium, Hauser, bestätigt (DBT/BR o.J.: A3, 47: 26). 416 Nur die Berliner Finanzsenatorin Anette Fugmann-Heesing (SPD) plante aufgrund der leeren Kassen eine Erhebung der Steuer im Ostteil der Stadt und löste damit starke öffentliche Kritik von seiten des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) aus.
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den Stimmen der Regierungsfraktionen die Annahme der Verfassungsänderung in der inzwischen vereinbarten Fassung – also mit einem verbindlichen Umsatzsteueranteil der Gemeinden (Art. 106 Abs. 5a GG) sowie mit formal-juristisch begründeten Ergänzungen zur Originalvorlage.417 Der Innenausschuss verband dies mit der Empfehlung, in Art. 106 GG die Gewerbeertragsteuer abzusichern (DBT/BR o.J. A1: 27). In diesem Ausschuss, der den Entwurf erstmals überhaupt am 09.10.1996 thematisiert, aber die Beratung zweimal vertagt hatte, kritisierte die SPD, dass „nur noch eingeweihte Kreise und einzelne Personen die einzelnen Verhandlungsgegenstände und Streitpunkte des Gesetzgebungsverfahrens verstehen“ und den Interessen der Gemeinden nicht hinreichend Rechnung getragen werde (DBT/BR o.J. A1, 26: 41), jedoch setzten die Ausschussmitglieder dem mit ihren viel knapperen, argumentativ oberflächlichen Beiträgen auch nichts entgegen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmte im Finanzausschuss für, im Innenausschuss gegen die mit dem Gesetz verknüpfte Grundgesetzänderung, was ihr Verhalten in den Aushandlungen sehr gut repräsentierte. Sie war mit Änderungen in der finanzpolitischen Entscheidungsdimension weitgehend einverstanden, nicht aber mit denen in der Entscheidungsdimension der Kommunalfinanzen, zudem entsprachen Umsetzung und Verteilungsregelungen nicht ihren Vorstellungen.418 Dass allerdings diese differenzierte Sicht auf die komplexe Materie zu unterschiedlichen Ergebnissen in beiden Ausschüssen führte, verweist auf die Rolle der Ausschussvertreter bzw. eine nicht maximale Kohäsion der Parteipolitik und auf die Bedeutung regelmäßiger Aussprachen unter Fachpolitikern. Sowohl die partielle Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen als auch die Zustimmung von Seiten der FDP erfolgte trotz sachlicher Kritik an der Grundgesetzänderung und der Art ihrer Aushandlung (z.B. DBT/BR o.J.: A3, 55: 4). Die SPD-Fraktion begründete mit ähnlicher Kritik ihre Ablehnung des Gesetzentwurfes (bei Stimmenthaltung Volker Krönings im Finanzausschuss). Sie bemängelte, die Bedingungen der kommunalen Spitzenverbände seien nicht erfüllt und das Gesamtvorhaben stellte „den Einstieg in den Ausstieg aus der gesamten Gewerbesteuer ohne finanzielle Perspektive für die Gemeinden“ dar. Auch wenn die kommunalen Spitzenverbände eine Festschreibung der Gewerbeertragsteuer in Art. 28 GG nicht mehr gefordert hätten, sei eine solche Maßnahme für sie von großer perspektivischer Bedeutung. Die Argumentation richtete sich darauf, dass den Kommunen angesichts der Sorge um die konkrete Umsetzung der Reform der Blick für die großen Zusammenhänge und ihre Stellung im Gesamtsystem der Bundesrepublik fehlte. Die SPD veranlasste im Finanzausschuss eine Abstimmung über die von ihr vorgeschlagene Ergänzung des Art. 28 (2) GG um den vom Bundesfinanzministerium in ihrem Auftrag formu-
417 Aus politikwissenschaftlicher Sicht technische Änderungen waren die Umformulierungen in Art. 106 Abs. 6 Satz 1-3 und 6, die der eindeutigen Kenntlichmachung der Gewerbeertragsteuer als Realsteuer mit den notwendigen Folgeänderungen dienten (konkret und mit Begründung in DBT/BR o.J.: A1, 95: 76). 418 Die Zustimmung begründete sie damit, dass es notwendig sei, hinsichtlich der von ihr gewünschten Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer voranzukommen und die Umsatzsteuerbeteiligung der Gemeinden zu verwirklichen. Das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform lehnte die Fraktion jedoch in beiden Ausschüssen sowie in der Bundestagsabstimmung ab, weil die Forderung der kommunalen Spitzenverbände nach einem Beteiligungssatz von 2,3 Prozent des Umsatzsteueraufkommens nicht erfüllt sei und es nicht ihren Vorstellungen hinsichtlich einer umfassenden Gemeindefinanz- und Unternehmensteuerreform entspreche. Letzere solle eine strukturelle und quantitative Verbesserung der Gemeindefinanzen, kalkulierbare kommunale Einnahmequellen, die Sicherung der kommunalen Finanzautonomie und die Erhaltung der Gewerbeertragsteuer gewährleisten (DBT/BR o.J.: A3, 49: 26 ff., A3, 35; DBT 1997b: 14518f.). Im Innenausschuss begründete sie damit auch die Ablehnung der Grundgesetzänderung (DBT/BR o.J.: A1, 26: 41).
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lierten Satz.419 Die Stimmen ihrer eigenen Fraktion (ebenfalls bei Stimmenthaltung Krönings), der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS reichten aber für eine Mehrheit nicht aus. Auch aufgrund ihrer parteininternen Uneinigkeit über die Notwendigkeit einer Änderung des Art. 28 GG brachte die SPD später keinen entsprechenden Gesetzesentwurf ein (DBT/BR o.J.: A3, 49: 20f., 24; DBT 1997b). Hinsichtlich der Rückführung der degressiven Abschreibung (AfA) reaktivierte die SPD-Fraktion den zuvor von den kommunalen Spitzenverbänden (und dem Bundesverband der Deutschen Industrie) vorgebrachten Einwand, diese Maßnahme zur Gegenfinanzierung der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer sei in den neuen Bundesländern für die Unternehmen ungünstiger als die Erhebung der Steuer. Sachlich eindeutig war dieser Einwand jedoch nicht, denn die ostdeutschen Betriebe nutzten aufgrund der relativ niedrigen Gewinne kaum die degressive, sondern v.a. die lineare Abschreibung zur steuerrechtlichen Wertminderung von Anlagevermögen (Snelting 1997). Insgesamt hatten sich in der kooperativen Phase die Positionen der Bundestagsparteien trotz der formal ausgebliebenen Einigung inhaltlich deutlich aneinander angenähert, soweit sie im Bundesfinanzausschuss artikuliert wurden. Eine parteiübergreifende Aufgeschlossenheit gegenüber sachlichen Argumenten zeigte sich insbesondere hinsichtlich der Gewerbekapitalsteuer, aber auch der Ausgestaltung der Grundgesetzänderung. Jenseits der konkreten Entscheidungen wurden häufig ähnliche Punkte (Formulierungen, Umsetzung, Kalkulation der Reform, Diskussionsprozess in den Ausschüssen) problematisiert; die Kenntnis der Materie und ihrer Komplexität schien bei allen Beteiligten ausgeprägter. Diese Annäherungen führten dazu, dass das Abstimmungsverhalten der Fachpolitiker derselben Partei nicht automatisch gleich war, dass Positionen changierten und immer wieder überarbeitet wurden (z.B. PDS). Aufgrund des inhaltlichen Einlenkens der CDU/CSU unterstützte die FDP die vorgesehenen verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Änderungen vornehmlich noch aus Koalitionsdisziplin. Auch im deutschen Fall kam es in der kooperativen Phase also zu Veränderungen bei allen Konfliktthemen und allen beteiligten Akteuren, besonders im Hinblick auf die Problemwahrnehmungen. Sie schlugen sich in Änderungen der einfachgesetzlichen Regelungen sowie im Umsetzungsmodell nieder, während die Verfassungsänderungsvorlage selbst nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand (Tab. 39). Obwohl die Verhandlungen von Sachverstand zeugten und durchaus in die Tiefe gingen, war ersichtlich, dass sie sich weitgehend auf die vorgelegten Entwürfe der Bundesregierung bzw. der Regierungsfraktionen konzentrierten und nicht die ganze Vielfalt möglicher Optionen zur Bearbeitung der Problematiken in den verschiedenen Entscheidungsdimensionen widerspiegelten, die in Kapitel 3.4 skizziert wurden. Die Akteure griffen auf relativ wenige bereits genannte Schlüsselvorschläge und Argumente zurück, etwa hinsichtlich der Formulierungen in Art. 106 und in Art. 28 GG oder der Höhe des Ausgleichsvolumens, die im Zeitverlauf nur unwesentlich vertieft oder abgewandelt wurden. Dies unterstreicht noch einmal die bereits in den anderen Fallanalysen getätigte Beobachtung, dass die Ursprungsformulierungen der Initiatoren und ersten Positionsformulierungen zentraler Mitspieler den Gang der inhaltlichen Auseinandersetzung mit verfassungspolitischen Vor419 Der Vorschlag der SPD-Fraktion für eine zusätzliche Grundgesetzänderung in Art. 28 Abs. 2 GG lautete, wie erwähnt: „Durch Bundesgesetz ist zugunsten der Gemeinden eine mit kommunalem Hebesatzrecht ausgestattete Gewerbesteuer als Bestandteil ihrer finanziellen Eigenverantwortung zu regeln“ (DBT/BR o.J.: A3, 50, Anl. 2).
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5.5 Zwischenbilanz
haben tendenziell vorstrukturieren, auch wenn sie unter der Bedingung von Präferenzunsicherheit zustande gekommen waren. Tabelle 39: Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall D Streitpunkt Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts globalen Standortwettbewerbs steuerliche Finanzverflechtung im bundesdeutschen Föderalismus Wettbewerb der Kommunen vs. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (inkl. praktische Umsetzung)
Ort des Konflikts Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP, CDU-/CSUgeführte Bundesländer vs. SPD, SPD-geführte Bundesländer, Bündnis 90/Die Grünen, PDS Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP, CDU-/CSUgeführte Bundesländer vs. SPDgeführte Bundesländer, SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS Bundesregierung, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPD, SPD-geführte Bundesländer, PDS
Ergebnis Februar 1997 Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung nicht konzeptionell in den engeren Aushandlungen thematisiert; Kompromiss in differenziertem und umfassendem Ausgleichsmodell (damit Perpetuierung der Verflechtung) Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, Kompromissmodell
Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie (inkl. Kompensationsvolumen)
Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS, Bundesländer
Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung; kleine Systemveränderung, aber Zugeständnis hoher Kompensationen an die Kommunen
Unterbindung von Kostenabwälzungen an die Kommunen
Bundesregierung, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS
Entstehung einer gemeinsamen Problemwahrnehmung, aber keine Maßnahme
Angesichts der abweichenden Interessen und Forderungen der unterschiedlichen Verbände der Kommunen sowie der Bundesländer kam dem Bundesfinanzministerium als Koordinatorin der Aushandlungsgrundlagen eine eminente organisatorische Bedeutung zu. Bei Fragen der technisch-organisatorische Umsetzung der Reform verließen sich die bundestagsinternen Akteure auf die Absprachen zwischen dem Bundesfinanzministerium, den kommunalen Spitzenverbänden und den Ländern und berieten die dort ausgehandelten Vereinbarungen eher nach. Diese professionelle Arbeitsteilung bei sachlich anspruchsvollen und komplexen Fragen schuf eine gewisse Abhängigkeit, führte aber nicht automatisch zu einer Zustimmung der anderen Akteure. Das zentrale praktische Problem für die Bundesregierung als Initiatorin bestand am Ende der kooperativen Phase darin, dass die SPD trotz der Annäherungen ihre Zustimmung zur Grundgesetzänderung weiter verweigerte, weil sie in ihren Augen den Interessen der Kommunen nicht ausreichend gerecht wurde.
5.5 Zwischenbilanz Das Verhalten der Akteure in der hier untersuchten Phase ist gemäß der in Kapitel 2.2 eingeführten Typologie als grundsätzlich kooperativ zu bezeichnen: Sie zeigten sich bereit dazu, über gemeinsame Entscheidungen nachzudenken und dabei vom eigenen Nutzen zu abstrahieren. Der Bruch zur vorangegangenen Phase war dabei eklatant. Obwohl die Akteure keinen der vielen Kritikpunkte aufgelöst hatten, stellten sie den Sinn der Initiative nun
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5 Die kooperative Phase
kaum noch prinzipiell in Abrede,420 sondern richteten ihre Diskussionen vornehmlich darauf, wie aus dieser Initiative das Beste gemacht werden könnte. Und dies, obwohl es keine Handlungsübereinkünfte gab, die eine solche Einstellung erzwangen. Grundsätzlich blieben der Initiator und der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur als Kollektivakteure die Hauptverhandlungspartner. Auffallend sind jedoch zwei Veränderungen gegenüber der individualistischen Phase: Erstens ging die Änderung des Interaktionsverhaltens und der Entscheidungsperzeption mit einer ganz oder teilweisen Übergabe der Aushandlungsverantwortung von der Spitzenpolitik (teils inklusive Spitzen der Fachund Regionalpolitik) an die Fachministerialbürokratie (K), Fachpolitiker (G, I, D) bzw. Regionalpolitiker (K, D) einher, die in kleineren akteurübergreifenden Gremien tagten und/oder regelmäßige informelle Kontakte pflegten. Zweitens waren die Akteure mit geringerer Verhandlungsmacht in der kooperativen Phase stärker in die Diskussionen eingebunden als zuvor. Dies galt auch für von der Initiative Betroffene, die formal keine gesicherte Mitsprachemöglichkeit besaßen, aber vom Initiator und/oder dem (nächst-)stärksten Akteure einbezogen wurden, um Sachverhalte zu klären oder um den eigenen Standpunkt zu untermauern (K, I, D). Es würde täuschen, in der Rolle der Fachdelegierten der Kollektivakteure und der latenten Erweiterung der Mitsprache das zentrale Mittel der verfassungspolitischen Konfliktlösung zu sehen. Tatsächlich waren es ja die Akteurspitzen, die überhaupt erst den Weg zu dieser Phase geebnet hatten, und die Fachdelegierten waren eingebunden in innerparteiliche bzw. innerfraktionelle Diskussionsprozesse und strategische Erwägungen. Allerdings waren sie gleichzeitig auch die mit einem Vorsprung an Sachverstand und Netzwerkzugang ausgestatteten Mittler zu ihren Kollektivakteuren und beeinflussten damit – ob bewusst oder unbewusst – deren interne Diskussionsvoraussetzungen. Die Delegation der Aushandlungen an die Fach- bzw. Regionalpolitiker scheint daher durchaus ein wichtiger Katalysator für die dreidimensional angelegte Konfliktschlichtung421 gewesen zu sein, die in dieser Aushandlungsphase beobachtbar war: Die kognitive Konfliktschlichtung manifestierte sich darin, dass die Akteurdelegierten über zunehmend mehr Informationen und ein größeres Komplexitäts- und Tiefenverständnis verfügten als die Akteure in der individualistischen Phase und sich dadurch ein Teil der Differenzen auflöste oder entschärfte. In allen Fällen standen in den verkleinerten Runden zusätzliche Materialien und Entscheidungshilfen zur Verfügung, die oft vom zuständigen Fachministerium zusammengestellt wurden, aber auch auf vorhabenbezogene Einwände Bezug nahmen oder etwa alternative Kalkulationen enthielten. Die Fälle verweisen darauf, dass der (tatsächliche oder wahrgenommene) Zugang zu umfassenden Informationen und Fachkompetenz grundsätzlich das Misstrauen gegenüber einer Initiative dämpfen. Die Konfliktschlichtung in der rationalistischen Dimension erfolgte über das, was typischerweise als Verhandlung verstanden wird, nämlich einen Prozess aus Forderungen, Verteidigung und Nachgeben. Hierauf wird später näher eingegangen. Die Konfliktschlichtung in der sozial-diskursiven Dimension schließlich funktionierte aufgrund der regelmäßigen Kommunikation in einer kleineren Gruppe und bei sich teils überlappenden Rollenverständnissen ihrer Teilnehmer (als Experten der Akteure mit typischen Interessen und ähnlichem Status in ihrer jeweiligen Organisation, siehe Tab. 6). Dies
420 Einzig im deutschen Fall war diese Haltung fragil und stabilisierte sich erst im Laufe der Phase. 421 Konfliktschlichtung ist explizit nicht gleichzusetzen mit Problemlösung.
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5.5 Zwischenbilanz
versetzte sie in die Lage, ihre Deutungen der Entscheidungssituation und die Forderungen anders zu diskutieren, als dies in der individualistischen Phase üblich war. Typisch war für die kooperative Phase in allen Fällen die moderate bis deutliche Abnahme der artikulierten Konflikte. Wie erwähnt, wurde das Ziel der verfassungspolitischen Maßnahme an sich nun tendenziell nicht mehr infrage gestellt. Dies bedeutete gleichzeitig, dass weiterhin überwiegend keine echten Normendebatten geführt wurden, selbst wenn die Themen dies geboten hätten. Im Zentrum standen hingegen ergebnisorientierte Auseinandersetzungen hinsichtlich der Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung und der Berücksichtigung von Interdependenzen. Vor allem von den Betroffenen weiterverfolgt wurden in allen Fällen Konflikte über die Verteilung von Gütern und Kompetenzen (Tab. 40). Tabelle 40: Bezug divergierender Positionen der Akteure in der kooperativen Phase Ziel der verfassungspolitischen Maßnahme an sich
Messung, Bewertung der betreffenden Sachverhalte
Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung, Berücksichtigung von Interdependenzen K X G X I (X) X X D X X (X) Kritikpunkt wenig verhandlungsmächtiger Akteure
(Unterlassene) Verknüpfung mit weiteren institutionellen Änderungen
X X
Verteilung von Gütern, Kompetenzen u.ä.
X X X X
Etwas weniger häufig konflikthaft diskutiert wurden die Grundlagen der Messung und Bewertung der betreffenden Sachverhalte und die Notwendigkeit einer Verknüpfung der Maßnahme mit weiteren institutionellen Änderungen. Man könnte die Entwicklung der Konfliktpunkte als eine Verschiebung hin zu einer – grundsätzlich einigungsförderlichen – Problemlösungsorientierung interpretieren (vgl. Braun 2007), die aber nicht die Erstellung eines reformerischen Gesamtkonzepts im Sinn hatte. Für diese Verschiebung spricht weniger die Zahl der Konfliktgegenstände als deren Wesen. In allen Fällen handelten die Akteure in der kooperativen Phase sozial, da bzw. indem der Sinn ihres Tuns – auch – auf das Verhalten anderer bezogen war und sich an ihm orientierte (vgl. Weber 1972: 1). Es zeigten sich jene sozialheuristischen Phänomene, die in Abb. 5 (Kapitel 2.1) unter Rückgriff auf sozialpsychologische Überlegungen den rationalistischen Handlungsparametern für unklare Entscheidungssituationen gegenübergestellt worden waren. Trotz der Konflikte existierte zumindest zwischen den Delegierten der verhandlungsmächtigsten Akteure ein gewisses gegenseitiges Kompetenzvertrauen,423 tatsächlich gewöhnten sich die Akteure im regelmäßigen Umgang mit ihr an die Idee der verfassungspolitischen Initiative und entwickelten ein Verständnis für die Entscheidungsperspektive der Initiatoren, teils auch der anderen Akteure. Infolgedessen veränderte sich das Verhalten der Akteure in der kooperativen Phase und wich von den vorhabenbezogenen rationalistischen Prognosen, die ja am Ende der individualistischen Phase noch zutrafen, ab. Abb. 18 kennzeichnet die Verhaltensverschie423
Unter den Akteuren, die nicht bereits zuvor im selben oder ähnlichen Gremien tagten, stieg das Kompetenzvertrauen im Laufe der Zeit, wie sich an den Äußerungen festmachen lässt (weniger Misstrauensäußerungen, weniger Vorwürfe fehlender Kompetenz und Professionalität, weniger Forderungen danach, dass etwas von Sachverständigen geprüft werden solle oder Expertisen vorzulegen seien).
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5 Die kooperative Phase
bungen, die nicht durch Verschiebungen der substanziellen Gewinnaussichten erklärbar sind, durch Pfeile. Neben den dort erfassten Akteuren zeigten sich auch jene, deren Interaktionsverhalten zum Ende der individualistischen Phase nicht eindeutig war, kooperationsbereit im Sinne der obigen Definition. Wie die Matrix veranschaulicht, waren die substanziellen Gewinnaussichten anders als unter rationalistischen Prämissen prognostiziert (Abb. 4) nicht mehr ausschlaggebend für die Beibehaltung und den Ausbau des kooperativen Verhaltens, und nichtsubstanzielle Nutzenkalküle spielten in der kooperativen Phase keine Rolle, sofern sie nicht von den Spitzen der Akteure ins Spiel gebracht wurden. Dies war nicht sehr oft der Fall (G, D). Die Fachpolitiker selbst hatten kein Mandat, solche Nebennutzen von sich aus zu verhandeln. Es ist daher noch einmal hervorzuheben, dass die beobachtbaren Nutzenkalküle in der kooperativen Phase keinen deutlichen Anschluss an die Schlusskalkulationen der individualistischen Phase zeigten, die zur Überwindung der Schwelle geführt hatten. Abbildung 18: Verändertes Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren in der kooperativen Phase substanzielle Gewinnaussicht
groß klein
Verhandlungsmacht
niedrig
hoch
unkooperativ
kooperativ
K: Bundesregierung G: ND (teils) I: D: SPD
K: G: ND (teils) I: Fine Gael D: -
unkooperativ
kooperativ
K: G: KKE, Linksallianz I: Grüne, SF, Sozialisten D: PDS
K: G: I: Labour D: Bündnis 90/Grüne
substanzielle Gewinnaussicht: Nähe zur eigenen Programmatik, überlappende Präferenzen nichtsubstanzielle Gewinnaussicht: Wahrscheinlichkeit eines Tausch-, Koppelgeschäfts oder Prozessnutzens Lesebeispiel: Das Verhalten der kanadischen Bundesregierung verschob sich in Richtung des erwartbaren Verhaltens eines sehr verhandlungsmächtigen Akteurs mit hoher substanzieller Gewinnaussicht.
Im Gegensatz zur substanziellen Gewinnaussicht war die Verhandlungsmacht des einzelnen Akteurs, wie die Abb. 18 zeigt, weiter sehr bedeutsam für den Gang der inhaltlichen Verhandlungen – teils über Folgeeffekte, wie den höheren Organisationsgrad in Gestalt einer eigenen (z.B. Ministerial-)Bürokratie, die Vorlagen und Informationen bereitstellte. Das kanadische Fallbeispiel könnte dabei indizieren, dass eine geringe Verhandlungsmacht (nur) dann teilweise kompensierbar ist, wenn der betreffende Akteur über einen vorhabenbezogenen Informationsvorsprung verfügt und deutlich höher motiviert ist als die Mitspieler; bei nur einem Fall bleibt dies aber eine hier nicht prüfbare Spekulation.423 423 Ebenfalls prägend für die Verhandlungen wirkt sich aus, wenn sich die anderen Akteure langfristig an der Vorlage bzw. Intention eines eigentlich verhandlungsschwachen Initiators orientieren. Die Agendasetzung als Machtressource wurde aber schon in der Variable der Verhandlungsmacht berücksichtigt (Kapitel 2.1).
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5.5 Zwischenbilanz
Die vorhabenbezogen-rationalistischen Prognosen zum Aushandlungsverhalten der verfassungspolitischen Initiatoren trafen in der kooperativen Phase ebenfalls nicht komplett ein (Tab. 41). Tabelle 41: Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der kooperativen Phase relative Verhandlungsmacht von I*
rational anzustrebendes Aushandlungsergebnis
Maßnahmen von I müssten sich entsprechend richten auf
tatsächliches Verhalten K G I D
Konsens
substanzielle Einigkeit Drohung durch Initiator groß bis mittel Entscheidung ohne ÄndeZustimmung aufgrund sachfrem(G) rungen, aber auch ohne der Erwägungen Konsens Zustimmung aufgr. eines Verfalls des Streitwerts Konsens Überzeugung X X X inhaltlichen Kompromiss X X X X Ergänzung symbolisch wichtiger mittel (I, D) X X Kompromiss Formulierungen anderer Akteure vage, interpretationsflexible X Formulierung Konsens Überzeugung X Paketgeschäft X Zustimmung gegen Zugeständmittel bis gering (K) (X) Tauschhandel nisse in anderen Fragen Zustimmung gegen AusgleichsX X zahlungen * In Klammern sind die Fälle angegeben, in denen die Verhandlungsmacht entsprechend ausgeprägt war. Fett markiert sind die Maßnahmen, die den Erwartungen an rationales Handeln (Kapitel 2.1) nicht entsprachen.
Abweichungen ergaben sich aus dem jeweils erkennbaren Interesse der Initiatoren an substanzieller Einigkeit, Überzeugung und Persuasion, während Entscheidungen ohne Änderungen, aber auch ohne Konsens nicht angestrebt wurden.424 In allen Fällen waren die Bemühungen des Initiators sehr aufwändig und verließen teils den Rahmen der „normalpolitischen“ Routinen (K, G, I). In Kanada wirkte die ITC an den verschiedenen neugeschaffenen Gremien mit und kommunizierte auch bilaterial mit der Bundesregierung. In Griechenland bemühte sich der Vorsitzende des Revisionsausschusses Venizelos um Konsens mit allen Beteiligten und Betroffenen. In Irland engagierte sich die Regierung umfassend auf drei Ebenen (Parlament, Europaforum, EU-Ebene) für eine Konfliktbeilegung; in Deutschland bestand neben der Aushandlung in den Parlamentsausschüssen, besonders im BundestagsFinanzausschuss, ein Geflecht informeller Kontakte aller Beteiligten, besonders aber des Bundesfinanzministeriums, zu den von der Initiative Betroffenen und den Bundesländern. In allen vier Fällen gelang es den Initiatoren, in den verkleinerten Aushandlungsrunden durch ständige Wiederholung von Schlüsselaussagen eine die Interessendifferenzen (und damit Konflikte) überschirmende Sinngebung zu forcieren, die sich einer KostenNutzen-Quantifizierung entzog. In Kanada verfestigte sich die von den Inuit von Anfang an 424 Nur in einem Fall (D) wurden angesichts des wahrgenommenen Zeitdrucks und der sich verhärtenden Konfrontation zwischen zwei Akteurblöcken in der Innenpolitik Drohgebärden genutzt – allerdings „nur“ gegenüber den nicht formal an den Aushandlungen beteiligten kommunalen Spitzenverbänden (an die mehrere andere Akteure wiederum ihre Zustimmung gekoppelt hatten). Sie wurden auf die Risiken einer Einigung im Vermittlungsausschuss hingewiesen.
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5 Die kooperative Phase
verbreitete Botschaft, mit der Territorialreform werde der Traum dieser ostarktischen Ureinwohner erfüllt, die eine ganz eigene Kultur und aufgrund der widrigen Lebensumstände ein schweres Schicksal hätten. In Griechenland bewarb Venizelos die Verfassungsänderung in der kooperativen Phase immer wieder damit, sie gestatte es dem Staat als erstem europäischen Land, die Herausforderung des digitalen Zeitalters bewältigen, es gehe darum, die Verfassung erstmals politisch und historisch zu legitimieren, zu modernisieren und an internationale Entwicklungen anzupassen, um einen adäquaten institutionellen Rahmen für Griechenland im 21. Jahrhundert zu haben. In Irland wiederholte die Regierungsseite immer wieder, in der Verfassungsänderung gehe es darum, die europäische Teilung endgültig zu überwinden und die osteuropäischen Staaten in die Union einzubeziehen. Dafür müsse man auch mal in der Durchsetzung eigener nationaler Interessen zurückstecken. In Deutschland drängten die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen darauf, es gehe neben der Steuerreform als finanzpolitisches Instrument vor allem darum, die über kurz oder lang EU-rechtlich notwendige, aber strukturschädigende Erhebung einer bestimmten Steuer in den neuen Bundesländern abzuwenden. Diskutiert wurde demgegenüber weniger, ob diese Botschaften mit den hinter den verfassungspolitischen Vorhaben stehenden Maßnahmen bzw. Gesetzen wirklich konzeptionell harmonierten bzw. die deklarierten Ziele tatsächlich realisiert würden. Im Zuge der aktuellen Wiederholungen durch den stärker motivierten Initiator verschob sich bei den weniger substanziell motivierten Mitspielern die Sicht auf das Vorhaben (repetition bias). Gleichzeitig kristallisierte sich in den regelmäßigen Diskussionen heraus, welche der Entscheidungsdimensionen bzw. welche Aspekte des Vorhabens dem (nächst-)mächtigsten Akteur neben dem Initiator wichtig waren: die praktische Umsetzung der Territorialreform und die Geringhaltung von Kosten (Fall K), das Verhältnis zwischen den Gewalten und das Wohl der Abgeordneten (G), die Neutralitätsproblematik (I) und die Finanzausstattung der Kommunen (D). Für die Akzeptanz der Sinnerzählung des Initiators war es förderlich, wenn er im Gegenzug diese Hauptinteressen des (nächst-)mächtigsten Akteurs akzeptierte. Es ging in den Aushandlungsrunden daher nicht nur um die Durchsetzung konkreter Präferenzen (die ja weiter oft nicht gefestigt waren), sondern auch um die faktische oder symbolische Anerkennung des Themas, für das sich die wichtigsten Mitspieler einsetzten. Tatsächlich geschah dies in jedem der untersuchten Fälle in dieser Phase. Gleichzeitig genossen die restlichen Entscheidungsdimensionen weit weniger Aufmerksamkeit. Im Effekt begannen die Akteure in der kooperativen Phase, sich mit den Perspektiven der Mitspieler überhaupt auseinanderzusetzen und die Mehrdimensionalität der Konfliktstrukturen zu akzeptieren.425 Die Teilnehmer der verkleinerten Aushandlungsgremien bildeten eine ähnliche Sicht auf die Problematik, ein Set gemeinsamer Annahmen heraus (framing; Esser 2001: 259 ff.). Es entstand eine Gruppendynamik, der sich auch die kleinen Akteure nicht entzogen. Letztlich widersprach das Handeln aller Akteure in der kooperativen Phase der rationalistischen Maxime, sich nur bei einem in Aussicht stehenden Eigennutzen zu engagieren. Dass sich – oft selbst in Konfliktfragen – eine ähnliche Problemwahrnehmung entwickelte und die substanziellen Fragen weit weniger mit nichtsubstanziellen Erwägungen verknüpft wurden, erleichterte es, die verbliebenen Konfliktpunkte zwischen den Akteuren 425 Dass es Interdependenzeffekte der Initiative gibt, wurde zuvor durchaus wahrgenommen, doch diese wurden gemäß den eigenen Interessen gehändelt, manche Konflikte, eventuelle Probleme daher als nachrangig bewertet, während andere Akteure sie stärker gewichteten.
5.5 Zwischenbilanz
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anzugehen. Dies geschah in der Art einer segmentierten, oft formalisierten Abarbeitung des Vorschlags oder einzelner Aspekte des Vorhabens. Sie wurde durch den verhandlungsmächtigsten Akteur gesteuert, doch in allen Fällen verzichtete ihr Vertreter (Ausschussvorsitzender, Verhandlungsführer, Forumsvorsitzender o.ä.) darauf, konfrontativ für (s)eine Seite Partei zu ergreifen. Als besonders Motivierter bemühte sich v.a. der Initiator um die Sondierung und Formulierung von Kompromissen, aber in allen Fällen kam im Zweifel einem dritten Akteur mit etwas abweichender Verhandlungsposition bzw. seinen Vorschlägen Bedeutung zu: der NWT-Regierung (K), dem Linksbündnis (G), Labour (I) und Bündnis 90/Die Grünen (D). Darin unterschied sich diese Phase deutlich von der vorangegangenen, in der nur das Verhalten der beiden mächtigsten Akteure ausschlaggebend für den Fortgang der Aushandlungen gewesen war. Im kanadischen Fallbeispiel bezogen sich die Verhandlungen im Sinne des Forderns und Nachgebens nur auf die Kosten, organisatorischen Voraussetzungen und die Umsetzung der Reform; die drei anderen Konfliktdimensionen spielten keine Rolle mehr (Tab. 36). Hier kam es nach intensiven Verhandlungen zu einem Kompromiss, für den die Bundesregierung sorgte und finanziell aufkam; auch bei den institutionellen Regularien zeigte sie sich offen gegenüber Forderungen der Inuit zur Ausgestaltung ihres Territoriums, soweit sie kompatibel mit dem (flexiblen) politischen System Kanadas waren. Im griechischen Fallbeispiel fanden sich beim weitaus größten Teil der vom Initiator angestrebten Klauseländerungen Kompromisse, teils mithilfe vager Formulierungen, teils tatsächliche inhaltliche Kompromisse (etwa zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen). Beide verhandlungsmächtigsten Akteure zeigten sich hier offen für Vorschläge des jeweils anderen. Allerdings waren die meisten dieser Klauseländerungen zuvor nicht wirklich umstritten gewesen. In Punkten, in denen die ND substanziell motivierter war, weil sie sich politisch-programmatisch darüber profilieren wollte und es um die Machtverteilung ging, fand sich diese Einigkeit nicht so leicht. In vier der aus der individualistischen Phase verbliebenen sechs Konfliktmaterien konnten sich die beiden größten Akteure daher nicht auf einen Kompromiss verständigen (Tab. 37). Hinsichtlich der Entflechtung politischer und ökonomischer Interessen einigten sie sich indes auf detaillierte Regelungen, die tendenziell für alle Bürger, aber speziell die Abgeordneten, durchaus auch Restriktionen gegenüber dem Status quo bedeuteten. Im irischen Fallbeispiel gab es am Ende der kooperativen Phase bei allen Konfliktmaterien eine gemeinsame bzw. ähnliche Problemwahrnehmung, und in allen ging die Regierung auf die wahrgenommenen Wünsche und Forderungen wichtiger anderer Akteure ein, insbesondere der Bevölkerung (veränderte Vorlage, Sevilla-Deklarationen, europapolitisches Konzept, Inklusion, europapolitische Kontrollrechte für das Parlament; Tab. 38). Die vielen Maßnahmen beinhalteten allerdings keine wirklich bedeutenden politischinstitutionellen Modifikationen der ursprünglichen verfassungspolitischen Initiative selbst. Im deutschen Fallbeispiel bildete sich in der kleineren parlamentarischen Aushandlungsrunde ebenfalls in fast allen Streitpunkten eine ähnliche Problemwahrnehmung heraus. Dies führte trotzdem in zwei Materien nicht zu einer Einigung, da sie in den konkreten Aushandlungen keine Rolle spielten (Standortwettbewerb, grundsätzliche Kostenabwälzungen an die Kommunen). Die drei weiteren verbliebenen inhaltlichen Konfliktmaterien wurden durch die Ausdehnung von Kompensationszahlungen bzw. die Einigung auf komplexe redistributive Maßnahmen zu lösen versucht (Tab. 39). Die ursprünglich zentral zur Legitimation herangezogene wirtschaftliche Problemsituation in den neuen Bundesländern,
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5 Die kooperative Phase
die auch haushaltspolitische Implikationen für die Kommunen hatte, wurde in der Diskussion unterthematisiert. Aufgrund des Interesses der Akteure, ein Ergebnis in Form eines (veränderten) verfassungspolitischen Entwurfes vorzulegen, entwickelte der Prozess der Verfassungsänderung in der kooperativen Phase eine Eigendynamik, die sich zugunsten einer Fortsetzung des Prozesses ohne ständigen Abgleich mit den Nutzenkalkülen der Kollektivakteure auswirkte. Man könnte hier von einem gewissen Kontrollverlust der Kollektivakteure sprechen. Während also einerseits eine Folge der veränderten Interaktionsorientierung darin bestand, dass die am Aushandlungsprozess Beteiligten fähig und willens waren, unterschiedliche Nutzendimensionen zu akzeptieren und miteinander „zu verrechnen“ (Prittwitz 2007: 125) und dadurch eine gemeinsame Entscheidung vorzubereiten, barg dieser Vorgang eine Fehlerquelle: Die Kosten-Nutzen-Bilanzierung wurde durch die intervenierende – kooperative – Interaktionsorientierung beeinträchtigt (ebd.: 108). Dies galt besonders für die nicht sehr stark substanziell motivierten Nichtinititiatoren.426 Obwohl der verhandlungsmächtigste Akteur angesichts seines Organisationsgrades und Informationsvorsprungs den anderen oft überlegen war und er in allen Fällen entschied, wann der Zwischenstand der Aushandlungen formell fixiert wurde, entsprachen auch seine Entscheidungen nicht unbedingt dem Nutzenmaximierungskalkül, wie das kanadische Beispiel zeigt. Dass es die Reform geben würde, nahmen seine Delegierten als gegeben hin, und sie waren zu weit mehr Entgegenkommen gegenüber den Inuit bereit, als notwendig gewesen wäre. Aus den Fallstudien lässt sich die Behauptung ableiten, dass in der kooperativen Phase nicht mehr die Verhandlungsmacht und die substanziellen Gewinnaussichten die Rationalität der Entscheidungsfindung prägten, sondern die Verhandlungsmacht und die (substanzielle) Motivation. Wer weniger in der verhandelten Sache motiviert ist, verliert leichter die ursprüngliche Position aus den Augen und scheint empfänglicher für soziale Mechanismen in verkleinerten, regelmäßig tagenden Aushandlungsrunden. Damit ergab sich in allen vier untersuchten Fällen am Ende der kooperativen Phase das Phänomen, dass der Status quo der Aushandlungen dem (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur neben dem Initiator keine besonderen substanziellen Gewinnaussichten versprach – trotz seiner Verhandlungsmacht und dem in der individualistischen Phase noch gezeigten Willen, diese auch auszuschöpfen: Im kanadischen Fallbeispiel setzten die Inuit ihre Vorstellungen de facto komplett und ohne Kosten durch, während die Bundesregierung allenfalls einen ideellen Nutzen aus dem Vorhaben zog, aber mit erheblichen Kosten und Risiken zu rechnen hatte. In Griechenland versprach der Stand der Dinge der Regierung einen hohen Nutzen in Form innen- und außenpolitischer Profilierung, während die ND als „Nur-Mitentscheiderin“ hieraus nicht im selben Maße einen eigenen Gewinn ziehen konnte. Für beide waren die Kosten der Entscheidung eher gering und nur hinsichtlich der Entflechtungsregelungen potenziell relativ hoch. In Irland versprach die Vorlage der Verfassungsänderung einen hohen europapolitischen Nutzen für die Regierung zu von ihr – zumindest öffentlich – als relativ niedrig bewerteten Kosten, während die Wahlbevölkerung allenfalls ein ideeller eigener Ertrag, eher aber Verluste und Risiken erwarteten. Von den angekündigten verbesserten Kontrollmög426 Darauf, dass es sich hier um einen Effekt bestimmter Vorgänge in regelmäßigen konstanten Verhandlungsrunden handelt, verweist beispielsweise im deutschen Fall, dass die die Bundesländer, die nicht in eine solche Runde eingebunden waren, stärker vorhabenbezogenen rationalen Motiven folgten als die Akteure im Bundestagsfinanzausschuss.
5.5 Zwischenbilanz
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lichkeiten des Parlaments konnte sie nur indirekt profitieren. In Deutschland war der Gewinn für die Bundesregierung aufgrund inhaltlicher Kompromisse, so bei der Konstitutionalisierung eines kommunalen Anteils am Umsatzsteueraufkommens, nicht maximal, aber sehr groß, während die SPD und die SPD-geführten Länder wieder allenfalls ideell (Absicherung der Kommunalfinanzen) von dem Vorhaben profitieren konnten und als Verantwortliche für die Kommunen teils mit Risiken rechnen mussten, die auf sie zurückfallen konnten.428 Die Feststellung sehr ungleichgewichtiger Kosten-Nutzen-Aussichten zuungunsten der kooperativen substanziell nicht hoch motivierten Mitspieler träfe dann nicht zu, wenn man davon ausginge, dass es infolge von Lerneffekten zu bewussten Neukalkulationen gekommen war. Tatsächlich ließen sich in allen Fällen Ansätze einer neuen Leitidee (Benz 2005a; Baumgartner/Jones 1993; True u.a. 1999) erkennen. Dies waren Devolution und Anerkennung der Rechte von Ureinwohnern (K), Europäisierung und Modernisierung (G), Abbau des Demokratiedefizits (I), negative Effekte der Gewerbekapitalsteuer und Bedarf gesicherter Kommunalfinanzen (D). Insofern veränderte sich in der kooperativen Phase möglicherweise die sinnstiftende Wirklichkeintsinterpretation (Braun 1998: 801). Dies ist aber schwer belegbar, insbesondere für die Kollektivakteure als Ganze, und scheint mit Blick auf die Fallstudien insgesamt auch nur teilweise plausibel. So reichte ein etwaiger in den 1990er Jahren vollzogener Bewusstseinswandel der politischen Akteure im Hinblick auf Ureinwohnerfragen eben nicht aus, um der Forderung der Inuit nach einem eigenen Territorium nachzugeben. Nur ein Teil des veränderten Umgangs mit der verfassungspolitischen Initiative lässt sich daher durch solche Lerneffekte erklären. Zudem kann der Begriff Lernen missverständlich sein, wenn die veränderte Wahrnehmung nicht aus einer bewussten Einsicht heraus folgt, sondern ein (unbewusster) Effekt des repetition bias oder der Sozialheuristik weniger substanziell Motivierter in kleinen Akteurrunden ist. Ein letzter Baustein, der das Phänomen suboptimaler Vereinbarungen am Ende der kooperativen Phase erklärt, besteht darin, dass sich die Akteure in allen Fällen mit ihren Bewertungen und Änderungswünschen sehr stark an der Intention bzw. Vorlage des Initiators orientierten. Dies kann mit der Fähigkeit des Initiators erklärt werden, über Appelle die Austragung der Konflikte unter Verweis auf den Bedarf zielorientierten konstruktiven Handelns zu kanalisieren (bes. K, G, D), aber auch mit Entscheidungsökonomie oder ergebnisorientiertem Pragmatismus. Die Tendenz, die ersten Informationen und Zahlenwerte („Anker“) als Ausgangspunkt kognitiver Prozesse zu nehmen und nachfolgende neue Informationen vornehmlich in Bezug zum Anker zu betrachten, anstatt die Entscheidungssituation jeweils grundlegend neu zu durchdenken, war bereits am Ende der individualistischen Phase angelegt (Abb. 17). Diese als anchoring429 bekannte rationale Heuristik (Tversky/Kahneman 1974: 1128 ff.) war in der kooperativen Phase deutlich zu beobachten. Alternativen 428
429
Hier ist zu beachten, dass CDU/CSU und FDP einseitig beschlossen, die Gesetzesvorlage zu verabschieden. Die Änderungen am Vorhaben waren aber in den Verhandlungen mit der SPD, den SPD-Ländern und den Kommunen herbeigeführt worden. Abweichend wird in der sozialpsychologischen Literatur mit dem Begriff anchoring auch das Phänomen bezeichnet, dass neue Informationen/Personen mit Blick auf eine vorhandene Grundeinstellung interpretiert werden. Ebenfalls nicht gemeint ist hier der mit dem anchoring teils in Verbindung gebrachte primingEffekt, dem gemäß die Bewertung einer Person von der Reihenfolge der über sie erhaltenen Informationen beeinflusst ist und dieser erste Eindruck trotz neu hinzukommender Infomationen latent konserviert wird. Hier werden unter dem Anker nicht Einstellungen oder Eindrücke verstanden, sondern wahrgenommene erste Informationen.
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5 Die kooperative Phase
zum Ursprungskonzept und seiner Änderung wurden eher von substanziell hoch motivierten Dritten aufgezeigt und sowohl vom Initiator als auch vom (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur weitgehend ignoriert, während sie Vorschläge Dritter, die sich an der Vorlage und ersten eingebrachten Forderungen dazu orientierten, wie bereits erwähnt, durchaus zur Kenntnis nahmen. So ergab sich ohne formalen Zwang von seiten des Initiators ein gewisser Diskussions- bzw. Aushandlungspfad. Die erste, zumeist überwiegend negative Reaktion der Mitspieler auf eine verfassungspolitische Initiative muss also nicht entscheidend für deren Erfolgsaussicht sein. Die anfängliche binäre Codierung in ein Ja oder Nein zur Initiative wich der Codierung in die Unterstützung für den Entwurf des Initiators oder für die an den Entwurf anschließende Gegenposition. Tabelle 42: Motive für Kooperationsbereitschaft und den Übergang zur kompetitiven Phase Fall
Motiv für die Kooperationsbereitschaft ggü. I
Wichtigste Konflike zwischen A1 und I
K
ideell (Bundesregierung)
Organisation, Finanzierung
G
ideell (Neue Demokratie)
Machtverteilung, Rechte der Abgeordneten
I
ideell (Bevölkerung)
Absicherung der Neutralität Irlands
D
ideell, strukturpolitisch (SPD-Fraktion)
Organisation, Finanzierung
Formale Zäsur
Formulierung des Gesetzentwurfs für Änderungen am Nunavut-Gesetz Vorlage des Abschlussberichts des Revisionsausschusses Ankündigung des Referendums, Sevilla-Deklarationen Beschluss über die Grundgesetzänderung in den Bundestagsausschüssen*
Motiv, das eine Verhaltensänderung bewirkt kaum Verhaltensänderung der bisherigen Beteiligten zugunsten der Maximierung des nichtsubstanziellen Nutzens* Maximierung des substanziellen, nichtsubstanziellen Nutzens Maximierung des substanziellen, nichtsubstanziellen Nutzens Maximierung des substanziellen, nichtsubstanziellen Nutzens, rechtliches Kalkül
I = Initiator A1 = (nächst-)verhandlungsmächtigster Akteur * aufgrund des Interesses, das Vorhaben gemeinsam (bei klarem Machtvorsprung) unangefochten durch das Bundesparlament zu bringen ** außer im Rechtsausschuss (federführend) sowie Beschluss der begleitenden einfachgesetzlichen Änderungen
Mit der Festlegung auf eine veränderte Vorlage wurde die Problematik (in rationalistischer Hinsicht) suboptimaler Aushandlungsergebnisse allerdings ersichtlich, und es zeichnete sich eine erneute Verhaltenszäsur hin zu einer kompetitiven Interaktionsorientierung ab (Tab. 42). Abb. 19 visualisiert noch einmal wesentliche Charakteristika der Aushandlungen in der kooperativen Phase. Sie zeigt, dass es sich nicht mehr um einen sequenzialistischen, sondern um einen (in einem bestimmten Zeitraum) stetigen Diskussionsprozess handelte, in dem latent mehr Akteure die Chance hatten, die Aushandlungen inhaltlich zu beeinflussen, allerdings nur mit vorlagenorientierten Vorschlägen. Effekte sozialen Verhaltens, der Versuch übergeordneter Sinngebung durch beständige Wiederholung von Schlüsselbotschaften förderten die generelle Kooperations- und Zustimmungsneigung der Akteure, während Verhandlungsmacht und Motivation als wichtigste Variablen bestimmten, welche Akteure das Aushandlungsergebnis besonders beeinflussten.
279
5.5 Zwischenbilanz
Abbildung 19: Verfassungspolitik in der kooperativen Phase Kanalisierte Konfliktschlichtung Initiator I A3
A1
formalistische Abarbeitung der Vorlage/Konflikte unter Ägide des verhandlungsmächtigsten Akteurs
A5
A4
regelmäßige* ergebnisorientierte Diskussion der Vorlage und der substanziellen Konflikte zwischen I und A1
A6
A2
Möglichkeit inhaltlicher Einflussnahme für Dritte als Scharnierakteure zwischen I und A1 einfachgesetzliche, praktische Fragen im Vordergrund
veränderte Vorlage mit weiterhin asymmetrischen Ertragsaussichten „normale“ Politik
Verfassungspolitik
verhandlungsmächtigster Akteur entscheidet über die Formalisierung einer modifizierten Vorlage
A1 = Akteur neben dem Initiator I mit (nächst-)größter Verhandlungsmacht. Die Größe der Kästchen um die Akteure indiziert deren Verhandlungsmacht. * regelmäßig in relativ konstanter Konfiguration
Die Prozesse verliefen eingebettet in die Tagespolitik, waren aber dennoch relativ unabhängig von konkreten Einflüssen aus ihr. In den kleineren Aushandlungsrunden ging es vorrangig um die hinter den verfassungspolitischen Initiativen stehenden Vorhaben bzw. die einfachgesetzlichen Regelungen, rechtliche, organisatorische und finanzielle Fragen und nicht um die die Verfassungspolitik als solche. Der verhandlungsmächtigste Akteur entschied, wann der Status quo seinen Präferenzen entsprach. Die Festlegung auf diesen Stand markierte in allen Fällen die formale Zäsur zur nachfolgenden kompetitiven Phase.
6 Die kompetitive Phase: „Fehlerkorrektur“ durch die Kollektivakteure, Kontextsensitivität und Verschiebung von substanziellen zu nichtsubstanziellen Nutzenkalkülen
Dieses Kapitel erläutert, wie sich die nun kompetitive Interaktionsorientierung der Akteure äußerte und zu welchen verfassungspolitischen Effekten sie führte. Es beobachtet dabei, inwieweit suboptimale Ertragsaussichten thematisiert und verbessert wurden und ob der Abschluss der Aushandlungen durch das Wettbewerbsverhalten gefährdet war.
6.1 Kanadisches Fallbeispiel (1998) Die an den Aushandlungen im kanadischen Fallbeispiel beteiligten Akteure, besonders in Nunavut und den nach der Reform verbleibenden Norwestterritorien, wurden zum Ende der kooperativen Phase seit Mitte 1997 zunehmend nervös, da die Frist der avisierten Territorialreform näher rückte, zahlreiche rechtliche, organisatorische und finanzielle Punkte aber noch immer nicht geklärt waren. Der Dissens brach wieder auf429 und entzündete sich erneut an Vorbereitungs-, Umsetzungs- und Verteilungsfragen. Die Aushandlungen konzentrierten sich entsprechend auf die Änderungen am Nunavut-Gesetz, während die Verfassungsänderung keine Rolle spielte. In Verhandlungen mit Jane Stewart, der Bundesministerin für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung (Liberale), gelang es im Januar 1998, Einigkeit in zentralen Konfliktpunkten zu erzielen, besonders in Verteilungsfragen. Stewart hatte mit einer kurz zuvor feierlich vorgetragenen Entschuldigung für das vergangene Fehlverhalten der Bundesregierung gegenüber den kanadischen Ureinwohnern die Inuit positiv gestimmt. Sie sagte außerdem zusätzliche Mittel der Bundesregierung und die Gewährung von Sicherheiten gegenüber den NWT zu. Im Gegensatz zum vorangegangenen Verfahren erfolgte diese Einigung nichtinklusiv hinter verschlossenen Türen (Statement of Reconciliation 1998; Bourgeois 1998a, b). Die symbolische Entschuldigung und die Bereitstellung weiterer Mittel durch die Bundesregierung förderten zwar eine schnelle Zustimmung der NWT und der Inuit zur bevorstehenden Territorialreform, waren jedoch angesichts der Kräftekonstellation hier und im nachfolgenden formalen Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene nicht notwendig. Insofern waren sie Nachwirkungen der während der kooperativen Phase erzielten sozialen und diskursiven Annäherung zwischen den Verhandlungsteilnehmern, die von den Kollektivakteuren als solchen bei allem Bewusstsein eigener Interessen nicht zurückgenommen wurden. Die Zusicherungen und die anschließende Einigung in wichtigen Punkten markier429 Schon zuvor hatte die NWT-Regierung erklärt, obwohl sie Konsens für wichtig erachte, weil sie noch für das gesamte Gebiet verantwortlich sei, könne seine Aufrechterhaltung angesichts des wachsenden Zeitdrucks schwierig werden (z.B. GNWT 1996b). Sie war nicht wie die Inuit-Spitze an institutionellen Experimenten und Debatten (wie zur Hauptstadtfrage) interessiert, sondern drängte immer wieder auf die Einhaltung des Zeitplans der Vorbereitungen, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten.
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6 Die kompetitive Phase
ten gleichzeitig innerhalb dieser Dreierrunde das Ende der kompetitiven Phase, die aufgrund der asymmetrischen Gewinn- und Verhandlungsmachtstruktur der Beteiligten und des wahrgenommenen Zeitdrucks nur kurz ausfiel. Die anschließenden kompetitiven Auseinandersetzungen auf Bundesebene erfolgten gemäß dem formalen verfassungsändernden Verfahren und waren durch den (Parteien-) Wettbewerb zwischen Akteuren gekennzeichnet, die über einen sehr unterschiedlichen Wissensstand verfügten. Dieses Verfahren begann damit, dass Bundesministerin Stewart am 31.03.1998 im kanadischen Unterhaus stellvertretend für die Bundesregierung die Änderungen am Nunavut-Gesetz von 1993 sowie die Verfassungsänderungen als ein Gesetzespaket einbrachte.430 Wie in der kooperativen Phase zwischen den Akteuren vereinbart, beinhaltete die Verfassungsänderungsvorlage nur die Festschreibung je eines Sitzes für Nunavut im Unterhaus und im Senat sowie eine Erhöhung der maximalen Anzahl von Unterhaussitzen und Senatoren im Verfassungsgesetz von 1867. Daher musste die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren keinen Widerstand befürchten; die Liberale Partei konnte allein die Entscheidung herbeiführen. Sie hatte mit 155 Sitzen im Unterhaus neun Stimmen Vorsprung vor der heterogenen Opposition,431 im Senat fünf Stimmen Vorsprung. Zudem saßen im Senat nur Mitglieder jener beiden Parteien, die für den Prozess zur Schaffung Nunavuts auf Bundesebene politisch verantwortlich waren.432 So schien es unwahrscheinlich, dass der Senat seine einzige Einflussmöglichkeit, das Verfahren zu verlängern, nutzen würde.433 Auch faktisch besaßen die Liberalen zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsprozesses die maximale Verhandlungsmacht. Ein dreiviertel Jahr nach der vorgezogenen Unterhauswahl von 1997, die sie als Regierungspartei bestätigt hatte, genossen sie mit 49 Prozent Zustimmung der Bevölkerung sehr gute Umfragewerte (Environocs 1998). Die Unterhauslesungen fanden im monatlichen Abstand statt, wurden durch eine Anhörung aushandlungsbeteiligter und betroffener Akteure im Unterhausausschuss für Ureinwohnerangelegenheiten und nördliche Entwicklung am 29.04.1998 ergänzt und waren am 02.06.1998 abgeschlossen.434 Vom 08. bis zum 10.06.1998 folgten im Senat die erste Lesung, die Beratung und Abstimmung im Fachausschuss sowie die Schlussabstimmung. Damit wies das kanadische Fallbeispiel von den hier untersuchten das formal kürzeste Verfahren und die kürzeste kompetitive Aushandlungsphase auf. Bundesministerin Stewart und ihre Parteigängerin, die (einzige) Inuit-Abgeordnete Nancy Karetak-Lindell hoben die Gesetzesänderungen als bedeutenden Entwicklungsschritt 430 Zum zweiten Mal seit der kooperativen Phase wurde damit wieder die Fachministerebene aktiv. Allerdings beschränkte sich diese Rolle im Parlament auf die erste inhaltliche Beratung (zweite Lesung). In den nachfolgenden Lesungen bzw. Ausschussberatungen wurden für die Bundesregierung nur Mitarbeiter unterhalb der Fachministerebene angehört. Auch von seiten der NWT-Regierung war nur der stellvertretende Minister für die Nunavutreform, Goo Arlooktoo, vor Ort. 431 Zu dieser zählten die rechtskonservative, populistische Reform-Partei (Reform Party) mit 60 Sitzen, der separatistische, linksliberale Quebec-Block (Bloc Québécois, BQ) mit 44 Sitzen, die sozialdemokratische Neue Demokratische Partei (New Democratic Party, NDP) mit 21 Sitzen und die konservativen PC mit 20 Mandaten (Parliament of Canada 2007a). 432 51 Senatoren gehörten der Bundespartei der Liberalen an, 43 den Progressiven Konservativen. Drei Senatoren waren parteilos. Vier Posten waren vakant (Parliament of Canada 2007b). 433 Der Senat hatte volles Vetorecht und konnte dieses einlegen, so oft er wollte. Von ihm beschlossene Änderungen an einer Gesetzesvorlage galten aber nur, sofern ihnen auch das Unterhaus zustimmte. Tat es dies nicht, ging die Vorlage in der ursprünglich beschlossenen Form erneut an den Senat. Obwohl institutionell durchaus mit Macht ausgestattet, nutzte der Senat diese in der Praxis sehr selten (Forsey 2005: 35f.). 434 Die erste Lesung im Unterhaus fand am 31.03.1998 statt, die zweite Lesung am 20./22.04.1998, die dritte Lesung am 28.05. und am 02.06.1998.
6.1 Kanadisches Fallbeispiel (1998)
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hervor. Die Änderungen am Nunavut-Gesetz von 1993 behöben dessen Defizite und schüfen alle technischen Voraussetzungen dafür, dass am 01.04.1999 eine funktionsfähige Regierung und Verwaltung in Nunavut ihre Arbeit aufnehmen könnten. Die Verfassungsänderung sei wichtig, um die Repräsentation der Inuit im kanadischen Unterhaus und im Senat zu gewährleisten. Entscheidend sei eine schnelle Verabschiedung des Gesetzespakets, um den vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. Nunavut sei ein Zeichen für Kanadas Einheit. Diese Deutung stand in einem deutlichen Widerspruch zur Wahrnehmung der Liberalen (und der Progressiven Konservativen) am Anfang des Aushandlungsprozesses und verdeutlicht den seither vollzogenen Politikwandel. Die Liberalen erklärten, dass Demokratie manchmal teuer sei,435 nannten jedoch keine konkreten Kosten der Reform (HoC 1998c). In der Reaktion auf die Initiative brachten alle Akteure Einwände vor, die ihrer Politik und Programmatik entsprachen. Da Ureinwohnerpolitik trotz des moderaten Einstellungswandels auf Bundesebene programmatisch für sie jeweils ein absolutes Randthema darstellte, über das sie sich kaum langfristig politisch profilieren konnten, weil es nur einen geringen Prozentsatz der kanadischen Wähler betraf,436 bezogen sich die Parteien kaum auf Grundfragen der Ureinwohnerpolitik, sondern setzten meist andere Akzente. Am einflussreichsten für die Debatte im Unterhaus war die Reform-Partei, nicht nur aufgrund ihrer Rolle als zweitgrößte Fraktion bzw. als „offizielle Opposition“, sondern auch inhaltlich. Die Partei sicherte den Inuit zwar eingangs die volle Unterstützung bei der Entwicklung demokratischer, transparenter und effektiver politischer Institutionen sowie der Durchsetzung von Bundespolitiken zu, die ihre Interessen schützen, äußerte sich jedoch nachfolgend fast ausschließlich zu ihrem politischen „Steckenpferd“, der Reform des kanadischen Senats, und bezog später sogar vehement gegen das Vorhaben Position. Eine Zustimmung hätte auch überrascht, denn die vor allem im Westen Kanadas verankerte Partei wandte sich programmatisch gegen jede Form von Sonderpolitiken: gegen den aktiven Staat, Sozialstaatlichkeit, den Quebecer Sonderstatus und Gruppen mit Sonderinteresse. Ureinwohnerpolitik und Ureinwohnerselbstregierung waren für sie keine Themen (Schultze 1997b: 269, 301, 305; Merritt 2006; Flanagan 2001: 284).437 Die Reform-Partei forderte, mit Änderungen am Nunavut-Gesetz den ersten aktiven Schritt in Richtung einer Reform des kanadischen Senats zu gehen.438 Da das übliche Verfahren einer Ernennung der Senatoren durch den Generalgouverneur auf Empfehlung des Premiers das Demokratieprinzip unterminiere, sollten die Inuit in einem Volksentscheid beschließen können, ob sie ihren Senator wählen oder tatsächlich ernennen lassen wollen (HoC 1998c). Das Thema Senatsreform stand schon lange auf der Bundesagenda und war für Nunavut durchaus relevant. Es reihte sich ein in die vielen verfassungspolitischen Versuche, die Struktur des kanadischen Föderalismus und das Prinzip der Parlamentsregierung
435 Wenn die Bundesregierung Kosten gescheut hätte, so Ethel Blondin-Andrew, dann wären Manitoba, Saskatchewan und Neufundland keine Provinzen geworden. 436 Im Vordergrund der innenpolitischen Aufmerksamkeit und Konfrontationen standen hingegen Wirtschaftsfragen, Einwanderungspolitik, die Sozialstaatsproblematik und Quebec. 437 Die Reform-Partei war zur Zeit der Verabschiedung des Nunavut-Gesetzes 1993 noch nicht im Unterhaus vertreten gewesen. 438 In der Provinz Alberta wurden die Kandidaten für Senatorenposten seit 1989 direkt gewählt, doch ergab sich dies aus der Provinzgesetzgebung und nicht aus Regelungen in der kanadischen Verfassung. Die Regierung von Alberta konnte den kanadischen Premier nur darum bitten, die gewählten Kandidaten zu berücksichtigen. Tatsächlich wurde bis 1998 erst einer der Gewählten ernannt – 1990 unter Mulroney (PC), während die Liberalen sich weigerten, die entsprechend nominierten Kandidaten zu ernennen (Munroe 2004; FCPP 2005).
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6 Die kompetitive Phase
grundzuerneuern (Archer u.a. 1999: 73).439 Die Problematik war in allen Verfassungsrunden auf Bundesebene thematisiert worden; der letzte Reformentwurf mit der CharlottetownÜbereinkunft 1992 gescheitert.440 Der Vorstoß der Reform-Partei war kompatibel mit dem in der damaligen Übereinkunft gewählten Ansatz. Darüber hinaus sah sich die Reform-Partei in der Verantwortung, als Opposition die kanadischen Steuerzahler zu vertreten, und warf der Bundesregierung vor, Fragen nach den anfallenden Kosten auszuweichen. Sie forderte eine Verkleinerung des Bundesministeriums für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung, um die zu erwartenden hohen Kosten der Reform zu kompensieren (HoC 1998d). In der dritten Lesung des Gesetzes verschärfte die Partei ihren Ton weiter und übte eine Grundsatzkritik an der Ureinwohnerpolitik Kanadas, die sich v.a. auf den Umgang mit den Indianern richtete, also mit dem inuitbezogenen Vorhaben wenig zu tun hatte.441 Anders als die Liberalen bewertete sie die Bildung des Territoriums nicht als Zeichen der Einheit Kanadas, sondern einer „Balkanisierung“, des sinnlosen Zerfalls Kanadas in viele Kleinstaaten von Ureinwohner- und Nicht-Ureinwohnergemeinschaften. Mit dem 1993 binnen eines Tages im Parlament eingebrachten, debattierten und beschlossenen Nunavut-Gesetz sei faktisch eine Provinz für nur 25.000 Menschen etabliert worden, die den Steuerzahler 300 Mio. kanadische Dollar koste. Dies sei nicht nur lächerlich, sondern auch nicht angemessen ohne die Zustimmung der anderen Provinzen. Das ganze Gesetz sei Ausdruck „politischer Korrektheit“ und solle frühere politische Fehler kompensieren, ohne die eigentlichen Probleme zu lösen (HoC 1998g). Alle anderen Parteien kritisierten zwar Punkte des Vorhabens, unterstützten es jedoch insgesamt. Dabei spielten substanzielle Argumente für oder gegen die Verfassungsänderung oder die Nunavut-Reform insgesamt eine untergeordnete Rolle: Der Quebec-Block (BQ) befürwortete das Gesetzespaket als wichtigen Schritt für die Inuit und Ureinwohner Kanadas, betonte die geografischen, politisch-kulturellen und andere Spezifika Nunavuts. Die Etablierung des Territoriums sei ein Mittel, um wenigstens die politische Abhängigkeit der Inuit von der Bundesregierung zu durchbrechen. Der BQ wies auf die Bedürfnisse der französischsprachigen Minderheit in Nunavut hin, kritisierte am Gesetz die ausgedehnte Bürokratie und die weiter bestehende finanzielle Abhängigkeit der Ureinwohner von der Bundesregierung. Außerdem erinnerte er an den Konflikt zwischen Quebec und der Bundesregierung bezüglich der Zugehörigkeit der Belcher-Inseln zu Nuna439 Im kanadischen Unterhaus waren einige Provinzen stark über-, andere unterrepräsentiert. Besonders die westkanadischen politischen Akteure versuchten seit langem, die Disproportionalität über eine Reform des Senats zu entschärfen, der seinerseits aufgrund der Ernennung seiner Mitglieder an einem demokratischlegitimatorischen Defizit litt. Weaver (2000: 70) weist darauf hin, dass diese Präferenz die Aufmerksamkeit band und den Blick für alternative Lösungsinstrumentarien verstellte, wie eine Reform des UnterhausWahlrechts. 440 Er sah eine Wahl der Mitglieder durch die Bevölkerung vor, eine höhere Effektivität durch gleiche Machtressourcen wie das Unterhaus sowie eine gleiche Repräsentation der Provinzen durch eine Senatorenwahl per Verhältniswahlrecht. Dieser Wahlmodus sollte gleichzeitig dafür sorgen, dass der Senat ein Gegengewicht zum Unterhaus mit seiner „handgemachten“ Mehrheit bildete (Weaver 2000: 38f.; Schultze 1997a). 441 Dass die Ureinwohner über lange Zeit mit wohlfahrtsstaatlichen Instrumenten versorgt worden seien, habe sie abhängig gemacht und zu einer wesentlich schlechteren Gesundheitsversorgung geführt, als in Kanada üblich. In den Indianerreservaten herrschten katastrophale sozioökonomische Bedingungen. Die Akzeptanz separater Entwicklungen für unterschiedliche Völker durch die Bundesregierung seit der Verabschiedung des Indianergesetzes komme Apartheid nahe und gefährde die Ureinwohner. Ihre Krise sei stattdessen über eine Abschaffung des Indianergesetzes, die Abwicklung des Bundesministeriums für Indianerangelegenheiten und die Nutzung der frei werdenden Gelder für Ureinwohner-Entwicklungsprogramme zu bewältigen. Sie sollten sich auf Beratung, Drogenbekämpfung, Wirtschaftsentwicklung, Bildungs- und Gesundheitsaufklärung richten.
6.1 Kanadisches Fallbeispiel (1998)
285
vut, die Quebec für die eigenen Ureinwohner beanspruchte (HoC 1998c; HoC 1998f; HoC 1998g). Die sozialdemokratische Neue Demokratische Partei (NDP) unterstützte das Änderungsgesetz ebenfalls, äußerte sich aber nur sehr knapp und vage. Dabei kritisierte sie, dass weder das bisherige Nunavut-Gesetz noch seine aktuellen Änderungen Fragen der Justiz bzw. der Gerichte einschlössen (HoC 1998c; HoC 1998f; HoC 1998g). Die konservative PC, die 1993 als Regierungspartei das Nunavut-Gesetz und den gesamten Reformprozess auf den Weg gebracht hatte, unterstützte die Änderungen am „historischen“ Gesetz und die „äußerst wichtige“ Gewährleistung der Repräsentation auf Bundesebene mittels Verfassungsänderung, verwies aber auch auf die noch bestehenden Defizite: den Mangel an gut ausgebildeten Inuit für Verwaltungs- und Regierungsaufgaben, den schwachen privatwirtschaftlichen Sektor und die allgemein schlechte Wirtschaftsentwicklung (HoC 1998c; HoC 1998g). Damit wiesen alle Mitspieler im Unterhaus auf wichtige Problempunkte hin, jedoch in wenig konsistenter Form: Allgemeine Bemerkungen gingen mit spezifischen Kritikpunkten einher, die Debatte blieb sehr oberflächlich. Der Verzicht auf die verfassungmäßige Erwähnung Nunavuts als Geltungsort der Grundrechtecharta wurde gar nicht hinterfragt.442 Tatsächlich zeigten nur die Progressiven Konservativen ein vertieftes Verständnis für die Hintergründe und Abläufe des Aushandlungsprozesses, während die Fachpolitiker der anderen Parteien ihre Wissensdefizite in der Öffentlichen Anhörung im Unterhaus-Fachausschuss am 29.04.1998 durch Nachfragen bei den Aushandlungsbeteiligten zu füllen suchten. Sie bemühten sich, Konfliktpunkte bei diesen ausfindig zu machen, v.a. die Vertreter der Reform-Partei und des Quebec-Blocks. Infrage gestellt wurde außerdem die überdurchschnittlich hohe Zahl der für Nunavut vorgesehenen Beamten (600-700)443 (HoC/Standing Committee 1998a). Diese Bemerkungen und Nachfragen waren jeweils sachlich nicht sehr fundiert und daher kaum geeignet dafür, sensible Punkte aufzudecken. Ihrerseits hatten die an den eigentlichen Aushandlungen beteiligten Akteure, die als Auskunftgeber geladen waren, gar kein Interesse daran, die Fragen offen zu beantworten, selbstkritisch den Prozess zu reflektieren oder sein formales Gelingen auf andere Weise zu gefährden, da die Kosten eines Scheiterns für sie zu hoch waren. Sie ließen zwar erkennen, dass sie manche Regelungen in dem Gesetzespaket nicht für die beste Lösung hielten, wobei sich jeweils die spezifischen Interessenlagen im Sinne der Tab. 6 (Kapitel 2.1) zeigten, doch äußerten sie sich grundsätzlich positiv sowie zurückhaltend hinsichtlich sensibler Punkte. Alle erwähnten explizit, dass für sie eine schnelle Verabschiedung das Wichtigste sei, da das Paket wegen früherer Regelungslücken Voraussetzung für ein funktionierendes Nunavut sei, für die Rest-NWT noch reformrelevante Gesetze verabschiedet werden müssten und noch viele Aufgaben bis zur Territorialreform anstünden (HoC/Standing Committee 1998a). Die NWT-Regierung erklärte, ihr „Ziel aller Bemühungen“, einen guten Kompromiss zu finden, sei erreicht worden. Die Bundesregierung sei bereit gewesen, auf viele ihrer Forderungen nach Verbesserungen am Nunavut-Gesetz von 1993 einzugehen, insbesondere hinsichtlich der Wahl des ersten Territorialparlamentes und der nicht berücksichtigten Re442 Das Bundesfachministerium erklärte seinerseits, die Charta sei zweifellos auch ohne die explizite Bezugnahme auf Nunavut auf dieses anzuwenden (HoC/Standing Committee 1998a: 1650). Die nicht weiter ausgeführte Begründung ging dahin, dass Nunavut zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Charta zu den in ihr explizit erwähnten Nordwestterritorien gehört habe und sich ihre Wirkung mithin auch dauerhaft auf dieses Gebiet erstrecke (Merritt 2006). 443 Das Bundesministerium begründete dies mit dem Bedarf und erklärte, dass ein Teil der Stellen nur aus den NWT verlagert bzw. übernommen und nicht neugeschaffen werde.
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6 Die kompetitive Phase
präsentation Nunavuts im kanadischen Parlament. Bei den Themen, die die Bundesregierung anders behandelt habe, als sie es wünschte, erwartete sie Probleme, die Bundesregierung müsse hier weiterhin die Autorität besitzen, als Vermittlerin zwischen NWT und Nunavut zu wirken. Die angesprochenen Konflikte berührten allerdings nicht direkt die Verfassungsänderung (HoC/Standing Committee 1998a). Die Nunavut-Implementationskommission erklärte, Bundesregierung, NWT-Regierung und NTI hätten ihre Empfehlungen zum politischadministrativen System Nunavuts und zur Verfassungsänderung angenommen. Zwar werde Nunavut nun nicht in der Grundrechtecharta erwähnt, doch sei der wichtigste Punkt, die Repräsentation im Bundesparlament, gesichert. Sie hoffe, dass das neue Territorium irgendwann den Provinzstatus erlangen werde. Das ITC-Korporativmitglied NTI bezeichnete das Gesetz als nicht perfekt, aber Ergebnis harter Arbeit und eines „harten Kompromisses“, der für sie akzeptabel sei. Wie die ITC erklärte sie, das Gesetz gewährleiste eine ordentliche, zügige und effiziente Transformation. Die Inuit hofften, dass die neue Territorialregierung ihre spezifischen Interessen hinsichtlich Sprache und Kultur „gut bzw. besser“ vertreten werde. Am zufriedensten mit dem Aushandlungsprozess und dem „funktionierenden Kompromiss“ aller Beteiligten äußerte sich die ITC (HoC/Standing Committee 1998a). Um die schnelle Verabschiedung des Gesetzespakets nicht zu gefährden, lehnten dieanderen Aushandlungsbeteiligten wie die Bundesregierung entweder einen Vorstoß in Richtung Senatsreform ab oder aber vermieden eine inhaltliche Stellungnahme dazu.444 Dies war besonders bei den Nunavut- und Inuit-Vetretern bemerkenswert, weil die Wahl des Senators in der Bevölkerung sicher unterstützt worden wäre.445 War sie laut NWTRegierung zuvor einfach nie in Erwägung gezogen worden, so verhinderte die Interessenhierarchie der Akteure bzw. ihre geringe substanzielle Motivation in dieser Sache, dass es wenigstens jetzt zu einer inhaltlichen Diskussion dazu kam. Von den Betroffenen der Reform wurden einzig die vom Quebec-Block unterstützten Quebecer Cree-Indianer in der Anhörung mit einer dominierenden Kritik vorstellig. Obwohl sich für sie mit der Zusprechung der Belcher-Inseln an Nunavut anstelle bisher der NWT lediglich der Ansprechpartner änderte, versuchten sie, das Vorhaben für die Durchsetzung ihres eigenen Ziels zu nutzen – die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Bundesregierung über offene Fragen des Landabkommens.446 Bundesregierung und NTI ignorierten die Forderung, zumal die Cree grundsätzlich die Einrichtung Nunavuts befürworteten (HoC/Standing Committee 1998a).447 444 Die Bundesregierung erklärte, die Senatsproblematik sei zwar wichtig, der Gesetzentwurf biete aber keinerlei Anknüpfungspunkte für eine Senatsreform. Die NWT-Regierung betonte, es gebe genug andere Aufgaben, die wesentlich wichtiger seien. Wie NIC und ITC, die auf eine Positionierung verzichteten, hob sie hervor, entscheidend sei die Repräsentation Nunavuts an sich (HoC/Standing Committee 1998a). 445 Die Nunavut-Presse kommentierte, die versuchte Verknüpfung der Senatsreform mit dem Gesetzgebungsverfahren sei zwar dem Eigeninteresse der Reform-Partei geschuldet, in der Sache aber durchaus berechtigt. Es gebe normative Gründe für einen gewählten Senat, die vorzutragen in die Verantwortlichkeit der offiziellen Opposition falle. Ein Referendum unter den Inuit ergäbe angesichts der politischen Kultur zweifelsohne eine klare Zustimmung für einen gewählten Senator (Nunatsiaq News, 23.04.1998). 446 Die Quebecer Cree-Indianer kritisierten, die Bundesregierung habe ohne Rücksprache mit ihnen, ohne ihr Einverständnis und ohne sie zu informieren bestimmte Inseln, auf denen sie zeitweise siedelten, an Nunavut gegeben. Sie forderte den Unterhausausschuss für Indianerangelegenheiten dazu auf, die zuständige Ministerin dazu zu bringen, die 1975 beendeten Landverhandlungen mit den Cree wiederaufzunehmen, um damals ungeklärte Punkte nun zu bereinigen (HoC/Standing Committee 1998a). Die Berücksichtigung des Anliegens hätte auch Verhandlungen mit der Provinz Quebec eingeschlossen. 447 Der Quebec-Block brachte das Anliegen in der dritten Lesung zwar noch einmal vor, doch gab es auch dort keinen Kommentar von seiten der Bundesregierung (HoC 1998f; HoC 1998g).
6.1 Kanadisches Fallbeispiel (1998)
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Angesichts des asymmetrisch verteilten Wissens, der jeweiligen Interessenlagen der Akteure und ihrer unterschiedlichen Motivationen entspannen sich die Auseinandersetzungen im Unterhaus weniger um die Nunavut-Reform an sich, sondern zunehmend um das Thema Senatsreform, das die Reform-Partei immer wieder ins Spiel brachte.448 Hatten die anderen Parteien den Vorschlag zunächst einfach abgetan oder ignoriert (HoC 1998c), so verwandten sie später weitaus mehr Energie darauf, ihn abzuwehren. Der Quebec-Block sprach sich für eine gänzliche Abschaffung des Senats aus. Trotzdem stimmte er für die in der Verfassungsänderung implizierte Ernennung des Senators für Nunavut, weil es vorerst wichtiger sei, dass die Inuit voll in den bundesstaatlichen Organen repräsentiert würden. Damit orientierte er sich an den geäußerten Präferenzen der Bundes- und der NWTRegierung sowie der Inuit. Die NDP verwies auf Umfragen, die zeigten, dass die Bevölkerung den Senat lieber abschaffen als reformieren wolle. Trotzdem sprach auch sie sich für eine Ernennung des Senators für Nunavut aus. Die Nunavut-Gesetzgebung war ihrer Auffassung nach nicht der angemessene Ort oder Zeitpunkt, um eine Grundsatzdebatte zu führen, zumal sie nichts mit einer großangelegten Verfassungsreform zu tun habe. Auch die Konservativen erklärten, die Nunavut-Gesetzgebung biete nicht den richtigen Rahmen für die von ihnen (allerdings in anderer Form) befürwortete Senatsreform. Sie würde dadurch nur verzögert. Sie verurteilten die „Verschleppungstaktik“ der Reform-Partei, die die historische Gelegenheit behindere, ein neues Territorium zu schaffen (HoC 1998g).449 Neben den inhaltlichen Verzerrungen der Parlamentsdebatte infolge der Wettbewerbsinteressen der substanziell wenig motivierten Parteien zeigte sich eine weitere rationalismuskritische Tendenz: In ihren Stellungnahmen zum Gesetzespaket zeigten sich Vertreter aller Parteien beeindruckt von dem 25 Jahre währenden unermüdlichen Engagement der Inuit für ihren Traum vom eigenen Territorium, das sie implizit mit 25 Jahren Arbeit am institutionellen Rahmen gleichsetzten.450 Dies alles galt besonders für jene Mitglieder des Fachausschusses und andere Abgeordnete, die mit den Inuit selbst zu tun oder das Gebiet bereits bereist hatten. Sie kamen typischerweise in den Aussprachen zu Wort und beeinflussten das Entscheidungsverhalten ihrer Parteien mit (z.B. HoC 1998c: 1630; 1998d: 1540; 1998e; 1998g: 1650). Die geringe substanzielle Motivation, die persönliche Sympathie für das friedliche Engagement der Inuit und das Fehlen von politisch-programmatischen Einwänden gegen das Vorhaben erklären, dass auch drei Oppositionsparteien dem Gesetz zustimmten, obwohl vorangegangene Gesetzgebungsfehler, das Verfahren an sich und die Inhalte des Gesetzespakets durchaus Anstöße für mehr Kritik hätten geben können, als sie vorgebracht wurde. Nach der klauselweisen Anahme des Entwurfes inklusive Verfassungsänderung in der zweiten Beratung des Unterhausausschusses am 06.05.1998451 (HoC/Standing Committee 448 So brachten in der dritten Lesung des Gesetzes der Oppositionsführer und mehrere RP-Abgeordnete einen Antrag ein, die Lesung solange nicht als beendet gelten zu lassen, wie das Prinzip eines in Nunavut gewählten Senators nicht im Gesetzentwurf umgesetzt sei. Die Abgeordneten lehnten dies aber ab (HoC 1998f). 449 Am 18.06.1998 war der letzte Sitzungstag des Senats (wie des Unterhauses) vor der Sommerpause, die bis Ende September dauerte. Sollte das Verfahren vorher abgeschlossen werden, musste er noch vorher zustimmen. 450 Sie zeigten Verständnis für die schwierigen Lebensbedingungen im Norden, für die kulturelle Eigenheit der Inuit, ihren Stolz darauf, das Territorium bzw. die Kontrolle über ihr Land zurückzuerhalten (BQ). Sie waren außerdem nicht unbeeindruckt von dem Gedanken, Teilnehmer und Begründer eines historischen Augenblicks und gesellschaftlichen Aufbruchs im Norden zu sein. 451 Die Opposition hatte Änderungen betreffend zwei Klauseln im einfachen Begleitgesetz vorgeschlagen (Art. 13, 16). Ein Vorschlag des BQ richtete sich auf die Übersetzung eines Wortes ins Französische und wurde
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6 Die kompetitive Phase
1998b) stimmte im Plenum am 02.06.1998 eine große Mehrheit dem Paket zu. Dass knapp 15 Prozent der Abgeordneten in der Abstimmung fehlten, verweist aber darauf, dass es sich nicht um ein „Topthema“ handelte. Alle Anwesenden votierten parteikonform: Die Liberalen stimmten erwartungsgemäß zu, die Reform-Partei gegen das Paket, die Abgeordneten der anderen Parteien dafür (HoC 1998g; Tab. A 11). In der darauffolgenden Woche passierte das Gesetzespaket auch binnen drei Tagen den Senat. Der amtierende Senator für die Nordwestterritorien und künftige Senator für Nunavut, Willie Adams (Liberale), mahnte dort in Regierungslinie eine rasche Verabschiedung des Gesetzentwurfes an und verwies auf funktionale, an der Umsetzung orientierte Gründe.452 Demgegenüber betonte die konservative Senatorin Janis Johnson (Manitoba), stellvertretende Vorsitzende des Senatsausschusses für Ureinwohnervölker, stärker den normativ-ideellen Aspekt und stellte bei allen „philosophischen Differenzen“ mit den Liberalen die Gemeinsamkeit heraus, dass beide an das Gebäude Kanadas und an die Selbstregierung für Ureinwohnervölker glaubten. Dies unterscheide sie vom Quebec-Block und der Reform-Partei. Mit Nunavut werde man ein Beispiel für „Selbstregierung in Aktion“ haben. Dies sei ein Experiment, sie glaube jedoch, dass die Menschen im kanadischen Norden, ausgerüstet mit Selbstregierung und der Unterstützung, die sie benötigten, eine klare Wende der sozialen und ökonomischen Entwicklung in der Ostarktis herbeiführen werden. Die Bundesregierung und der Senatsfachausschuss sollten dieses Experiment im Fünf-JahresIntervall evaluieren und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen (SoC 1998b). Die Konservativen, die die Reform mit dem ersten Nunavut-Gesetz einst mit auf den Weg gebracht hatten, verzichteten also darauf, sich strategisch von den Liberalen abzusetzen, um ihre programmatische Kohärenz zu verdeutlichen. Einen Hauch von Diskussion erzeugte im Senat und im Senatsfachausschuss einzig die Wahl des richtigen Verfassungsänderungsverfahrens.453 Erst Konsultationen mit Kollegen und einem Vertreter des Bundesministeriums für Indianerangelegenheiten und nördliche Entwicklung sorgten für Sicherheit, dass die Parlamentsregel angewendet werden könne, solange Nunavut keinen Provinzstatus habe (SoC 1998c).454 Der Fachausschuss stimmte dem Gesetzespaket danach ohne Änderungen am 09.06.1998 zu (SoC 1998d), das Plenum folgte nach einer Lesung ohne Stellungnahmen am 10.06.1998 (SoC 1998e). Bereits am darauffolgenden Tag erhielt das Gesetz die königliche Zustimmung durch den stellvertretenden Generalgouverneur Charles Gonthier (HoC 1998a).
angenommen, der andere der PC strebte eine substanzielle Änderung in Art. 16 an und wurde abgelehnt. Die Reform-Partei hatte ihren Vorschlag zur Wahl des Senators nicht formal eingebracht. 452 Damit das neue Territorium mit einem voll funktions- und lebensfähigen politisch-administrativen System starten könne, bedürfe es insbesondere eines gewählten Parlaments, dessen rechtzeitige Wahl vor dem 01.04.1999 erst durch das vorliegende Gesetz ermöglicht werde, weil dieser Punkt im Ursprungsgesetz vergessen worden war. Außerdem kläre die Novelle die Übertragung der Gesetze der NWT auf Nunavut, die Schaffung eines Gerichtssystems, die Kompetenzen des Übergangskommissars und sei wichtig für die Sicherheit des Transformationsprozesses (SoC 1998b). 453 Johnson hatte zunächst erklärt, zwar seien auch Yukon und die Nordwestterritorien per Parlamentsbeschluss kanadische Territorien geworden, doch existiere mittlerweile eine verfassungsrechtlich verankerte Verfassungsänderungsprozedur. Ihrer Interpretation nach konnte Nunavut wie eine Provinz behandelt werden, womit die Provinzregel für die Verfassungsänderung anzuwenden sei (SoC 1998b). 454 Auch bei der Prüfung der Gültigkeit der Charta für Nunavut verließen sich die Senatoren im Ausschuss auf die Bestätigung durch den Vertreter des Bundesministeriums Merritt, einen Senior Advisor der – ursprünglich als Inuit-Rechtsberater – über Jahre an den Aushandlungen beteiligt gewesen war.
289
6.1 Kanadisches Fallbeispiel (1998)
Damit hatte die Regierungsmehrheit in der kompetitiven Phase die ihr zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielräume voll ausgeschöpft. Die normative Bedeutung des Vorgangs für die Verfassungspolitik an sich, der Problematik von Territorien und Provinzen, der Ureinwohnerproblematik insgesamt bzw. des verfassungspolitischen Umgangs mit Diversität waren für die politischen Akteure zumeist nicht bemerkenswert; die grundsätzliche Verknüpfung mit der Senatsproblematik wurde mit Verweis auf kurzfristige Interessen ausgeblendet und die Angemessenheit der Territorialreform, um die eigentlichen Probleme der Inuit zu lösen, wurde nur von der Reform-Partei andiskutiert. Ebenso waren alle Konfliktthemen der vorangegangenen Phasen nicht mehr virulent. Tabelle 43: Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall K Streitpunkt Verknüpfung von Landabkommen und Territorialfrage Repräsentationsprinzip: public government vs. Selbstregierung NWT-Teilung vs. Devolution/Dezentralisierung Kosten, organisatorische Voraussetzungen und Umsetzung Verknüpfung von Territorialreform und Senatsreform Angemessenheit der Ureinwohnerpolitik zur Problemlösung
Ort des Konflikts Bundesregierung vs. ITC/TFN
Ergebnis 1998 kein Konfliktthema mehr
kein Konflikt in den Aushandlungen, ansonsten Bundesregierung vs. Provinzen, Ureinwohnergruppen untereinander kein Konflikt
kein Konfliktthema mehr
Bundesregierung vs. NWT-Regierung vs. ITC, NunavutImplementationskommission Reform-Partei vs. Bundesregierung/Liberale, BQ, NDP, PC Reform-Partei vs. Bundesregierung/Liberale, BQ, NDP, PC
Zusicherungen der Bundesregierung
kein Konfliktthema mehr
Verknüpfung abgelehnt Debatte abgelehnt
Nur die Reform-Partei wählte die Strategie, sich über eine begründete Ablehnung als Partei und als offizielle Opposition zu profilieren, und zielte damit auf einen nichtsubstanziellen Nutzen ab. Nur sie stimmte letztlich gegen die sehr kostenintensive und schwer revidierbare politische Reform, deren Nutzen für die Bundesregierung, aber auch für Kanada oder die anderen Parteien fraglich und schwer messbar war (Legaré 1998: 292f.). In der kanadischen Medienöffentlichkeit wurde über die Verfassungsänderung oder die Nunavut-Entwicklungen nur anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes im Unterhaus Anfang Juni berichtet – vor allem problematisierend; die sozialen Probleme der Region und finanziellen Lasten standen im Vordergrund (Anderssen 1998; Globe and Mail, 05.06.1998). Entsprechend gaben Ende 1998 61 Prozent der in einer repräsentativen Umfrage interviewten Kanadier an, nichts von der Schaffung eines neuen Territoriums zum 01.04.1999 gehört zu haben.455 Die Einstellung der Befragten zu dem Vorgang war trotzdem tendenziell wohlwollend, obwohl der Nutzen (gemessen an gesteigerter Mitteleffizienz) durchaus angezweifelt und Kosten bzw. Risiken beim Übergang erwartet wurden.456 Eine Mehrheit von 54 Prozent der Befragten erklärte, die Schaffung des Territoriums Nunavut sei gut für Kanada als ganzes. Nur zehn Prozent fanden sie schlecht für das Land; ein 455 31 Prozent sagten, sie hätten davon erfahren, 22 Prozent kannten den Namen des neuen Territoriums (Focus Canada 1998: 2). 456 35 Prozent der Befragten erwarteten nach der Etablierung Nunavuts eine effizientere Nutzung der durch die Bundesregierung bereitgestellten Finanzen, 32 Prozent keinen Unterschied, 17 eine weniger effiziente Nutzung. 50 Prozent erwarteten einen schwierigen Übergangsprozess, 30 einen sanften (Focus Canada 1998: 5f.).
290
6 Die kompetitive Phase
gutes Fünftel (21 Prozent) sah keinen Unterschied (Focus Canada 1998: 4). Die Antworten auf die Frage nach Befürwortung oder Ablehnung korrelierten stark mit den Antworten auf die Frage, ob die Schaffung des Territoriums eine notwendige Voraussetzung dafür sei, die eigene (ethnische) Identität und Kultur ausdrücken zu können (Focus Canada 1998: 7) – eine Frage, die im Parlament kaum diskutiert worden war. Deutlich war in den Umfrageergebnissen ein Zusammenhang zwischen dem Wissen über Nunavut bzw. der regionalen Nähe zu Nunavut sowie der Zustimmung zu der politisch-administrativen Reform zu erkennen.457 Bei den Anhängern der Parteien zeigte sich ein Links-Rechts-Gefälle, wobei die Haltung der BQ-Anhänger von der Parteipolitik im Parlament abwich.458
6.2 Griechisches Fallbeispiel (2001) Im griechischen Fallbeispiel waren in der kompetitiven Phase weit weniger Akteure am Entscheidungsprozess beteiligt als im kanadischen; dafür zeichnete sich ab, dass zumindest bei einigen Themen die Geschlossenheit der Parteien in der Abstimmung weniger stark ausgeprägt sein könnte. Tatsächlich war der Bericht des parlamentarischen Revisionsausschusses vom 23.10.2000 durchaus eine Momentaufnahme, denn bei einigen Klauseln versuchten die Spitzen- und die Fachpolitiker der Parteien bis zur letzten Abstimmung im Frühjahr 2001, die eigenen und weitere Abgeordneten für ihre jeweilige Haltung zu gewinnen – in öffentlichen und informellen Diskussionen ebenso wie in den Plenaraussprachen. PASOK äußerte sich sehr vorsichtig und allgemein über die hinter den Änderungsformulierungen stehenden Revisionsziele, um es für prominente ND-Mandatsträger, die vom offiziellen Parteistandpunkt abzuweichen schienen, möglich zu machen, für Vorlagen der Regierungspartei zu votieren (Kalliagkopoulos 2001; Alivizatos 2001a: 12), aber auch, weil der Standpunkt der Partei teils intern noch unklar war (Tabakopoulos 2001). PASOK nutzte also fehlende Kompromissmöglichkeiten zwischen beiden Parteien (auch) aus taktischen Gründen nicht zur Polarisierung, sondern verwies in der Außendarstellung der Verfassungsänderung weiterhin sehr stark auf den historisch einmaligen Konsens mit der größten Oppositionspartei, um ihre Verfassungspolitik zu legitimieren (Venizelos 2002: 24). Von den Plenardebatten Anfang 2001 widmeten sich drei den individuellen und sozialen Rechten sowie je eine der rechtsprechenden Gewalt und der Dezentralisierung und kommunalen Selbstverwaltung. Genauso oft, auf fünf Sitzungen, diskutierten die Abgeordneten über die Thematiken, die sie selbst betrafen, nämlich parlamentarische Verfahren, die Unvereinbarkeitsklauseln, Parteienfinanzierung oder das Parlamentsrecht auf Erhebung einer Anklage gegenüber Ministern. Zweimal trat dabei sogar eine Klausel auf die Tagesordnung, deren Änderung 1998 gar nicht beschlossen worden war: Art. 63, der Vergünsti457 Diejenigen Regionen, in denen der höchste Anteil der Befragten wusste, dass ein neues Territorium Nunavut entsteht (Manitoba, Vancouver, West-Kanada) bewerteten diesen Vorgang positiver (wiesen aber nicht zwangsläufig die höchsten Zustimmungswerte auf). In denjenigen Regionen, in denen nur die wenigsten von Nunavut wussten (Atlantikprovinzen, Quebec, Montreal, Toronto), fielen auch, mit Ausnahme Montreals, die Zustimmungswerte sehr gering aus. Wer weniger von dem Vorgang wusste, hatte tendenziell größere Bedenken und bewertete die Reform häufiger als unnötig (Focus Canada 1998). 458 Die Anhänger des Quebec-Blocks zweifelten am stärksten am Bedarf eines Territoriums Nunavut für die Selbstentfaltung der Inuit (44 Prozent). Bei den Anhängern der Reform-Partei waren es 35 Prozent, bei den Liberalen 29 und bei der NDP 20 Prozent (Focus Canada 1998: 7).
6.2 Griechisches Fallbeispiel (2001)
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gungen und Aufwandsentschädigungen für Abgeordnete regelte. Hier wiederholte sich eine Zweiteilung: Einerseits blieb der Konsens bei der Erweiterung von Grundrechten für die Gesellschaft und eher als funktionalitätsbezogen wahrgenommenen Änderungen der Verwaltung oder der Justiz erhalten. Andererseits ergab sich besondere Aufmerksamkeit und dadurch auch mehr Diskussionspotenzial, sobald die eigentlichen Machtfragen sowie die Belange der Abgeordneten selbst berührt wurden. Insgesamt weckte die Diskussion der Verfassungsänderung aber ein äußerst geringes Interesse bei den Abgeordneten: Durchschnittlich nahmen weniger als 10 Prozent (30) der Gesamtzahl an den Aussprachen teil (Alivizatos 2001b: 163); die Abgeordneten ebenso wie die Bevölkerung verfolgten viel aufmerksamer Themen der Innen- und Sozialpolitik (vgl. Axt 2002: 13). Politischer Streit herrschte auch nach der Einigung im Revisionsausschuss besonders hinsichtlich der neuen Regelungen zur Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandates mit einer anderen beruflichen Tätigkeit (Art. 57). Viele Abgeordnete der Parteien lehnten die Formulierung Venizelos’, die im Revisionsausschuss Vertreter beider großer Parteien unterstützt hatten (Eleftheriadis 2005: 323), öffentlich ab. Nach bisher geltendem Verfassungsrecht war das Abgeordnetenmandat unvereinbar mit der Tätigkeit als Mitglied eines Verwaltungsrates, Gouverneurs, Generaldirektors oder deren Stellvertreter oder als Angestellter einer Handelsgesellschaft oder eines Unternehmens, das besondere Vorrechte genießt oder staatliche Subventionen erhält, sowie eines konzessionierten öffentlichen Unternehmens. Der Protest richtete sich weniger auf den Teil, der die bestehenden Vorgaben präzisierte und auf Medienunternehmen und Unternehmen, die staatliche Grundstücke pachten, ausdehnte,459 sondern auf die nachfolgenden Klauseln. Sie setzten erstens den Begriff „Staat“ gleich mit kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, Staatsunternehmen, Unternehmen der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften und anderen Unternehmen, deren die Geschäftsleitung direkt oder durch Verwaltungsakt bestimmt wird. Zweitens war dort festgelegt, dass als Teilhaber, der von den Einschränkungen dieses Absatzes betroffen wird, jeder gilt, der mehr als ein Prozent des Gesellschaftskapitals besitzt. Es wurde normativ kritisiert, dass die Unvereinbarkeitsklausel die Abgeordneten und die Qualität der parlamentarischen Demokratie benachteilige, da sie das Auftreten von Berufspolitikern begünstige (Tsatsos 2001: 16). Doch waren es v.a. prominente Abgeordnete mit beruflichem Erfolg, die gegen die Politik ihrer Parteien in dieser Frage protestierten und mit Amtsniederlegung drohten, falls die Änderung gebilligt würde (vgl. Varvitsiotis 2001; Tabakopoulos 2001; Kalliagkopoulos 2001k, 2001i, 2001h). Transporteure solcher Konflikte waren die Medien, die von den politischen Akteuren aus strategischen und kommunikativen Gründen und seltener zur eigentlichen Diskussion in Bezug auf die Inhalte der Verfassungsänderung genutzt wurden (Kontiadis 2001). Aufgrund der parteiinternen Widerstände, die in der ND sogar den Fraktionssprecher Pavlopoulos einschlossen, der von
459 Die Formulierung lautete: „Das Abgeordnetenmandat ist unvereinbar mit der Tätigkeit oder Eigenschaft des Eigentümers oder Gesellschafters oder Teilhabers oder Verwalters oder Geschäftsführers oder Mitgliedes des Verwaltungsrates oder Generaldirektors oder ihres Stellvertreters einer Unternehmung, welche: a) Provisionen und Entgelte, Gutachten oder die Ausführung von Vorhaben des Staates übernimmt oder dem Staat Dienst leistet oder mit dem Staat diesbezügliche Verträge mit Entwicklungs- oder Investitionscharakter abschließt; b) besondere Vorrechte genießt; c) einen Rundfunk- oder Fernsehsender besitzt oder führt oder eine Zeitung, die in ganz Griechenland vertrieben wird, herausgibt; d) ein konzessioniertes öffentliches Unternehmen betreibt; e) aus kommerziellen Gründen staatliche Grundstücke pachtet.“
292
6 Die kompetitive Phase
Anfang an gegen die Unvereinbarkeitsklausel war (Diakogiannis 2001b: 21), erfolgten bis zur letzten Abstimmung Gespräche zwischen und in den Parteien. Die neue Klausel 9 in Art. 15 zur Unvereinbarkeit des Medienbesitzes bzw. einer leitenden Medienfunktion mit dem Abschluss öffentlicher bzw. staatlicher Verträge, die eine bislang eher ineffektive einfachgesetzliche Regelung von 1995 in den Verfassungsrang hob (Eleftheriadis 2005: 325) fand zwar viel Lob, doch die ND nutzte sie gleichzeitig zu harter Kritik an PASOK. Oppositionsführer Karamanlis beschuldigte die Führungsspitze der Regierung, einer Gruppe von Staatsunternehmern verpflichtet zu sein und das Land in den ökonomischen und sozialen Ruin zu führen. Sie konzentriere Wohlstand und politische Macht nach ökonomischen Interessen, treffe wichtige Entscheidungen auf informellem Wege, organisiere Unterstützung für sich selbst und Kritik an ihren Gegnern und nutze dafür vor allem Meinungsbildungsmechanismen und die elektronischen Medien. Sie habe versucht zu locken, zu erpressen und zu inhaftieren (ebd.: 326). Die ND unterstützte die entsprechende Verfassungsänderung nicht nur aus grundsätzlichen normativen Erwägungen heraus, sondern begründete dies auch mit ihrem Ziel, den von ihr kritisierten Zuständen ein Ende zu bereiten. Bei der Änderung des Art. 28 (1) zur Geltung des Völkerrechts, die die ND ablehnte, war unklar, ob PASOK die für die Verabschiedung notwendigen Stimmen der ND mobilisieren konnte. Sie gewann aber die Zustimmung der prominenten Oppositionsabgeordneten Konstantinos Mitsotakis (des ehemaligen ND-Premiers) und Stefanos Manos mit dem Argument, wenn die Bedingung der Gegenseitigkeit für die Anwendung des Gemeinschaftsrechtes gegenüber Ausländern erforderlich sei, werde es zu rassistischen Situationen kommen (Dailiana 2001). Ähnlich konnte bei Art. 36 (2) das Abstimmungsergebnis der ND nicht genau prognostiziert werden. Äußerst überraschend entwickelte sich in der Schlussphase des Aushandlungsprozesses die Änderung des Art. 24 zum Schutz bewaldeter Flächen zu einem wichtigen verfassungspolitischen Streitpunkt. Der alte Artikel wies auf die Verantwortung des Staates hin, sowohl die natürliche als auch die kulturelle Umwelt zu schützen und sah die Möglichkeit der Bürger vor, in einem bestimmten Gebiet Gebäude bauen zu können unter der Voraussetzung, dass bei jedem Eingriff in die Umwelt der Schutz von Monumenten und traditionellen Elementen berücksichtigt wird. PASOK wollte Art. 24 so ändern, dass sowohl dem Ziel des Umweltschutzes als auch dem des Wirtschaftswachstums gedient wäre. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Umwelt sollte zwar weiterhin kodifiziert bleiben und Umwidmungen von Waldgebieten untersagt sein, das „öffentliche Interesse“ aber Einschränkungen erlauben. Diese Präzisierung konnte das Risiko einer unerwünschten Auslegung knapper Regeln durch die im Umweltrecht aktivistischen griechischen Gerichte senken (Chryssogonos/Contiades 2004: 40). Die ND bezeichnete die Einschränkung als umweltfeindlich und gefährlich. Sie hatte 1998 dem damals allgemein gehaltenen Plan PASOKs zugestimmt, in Art. 24 einen Absatz bezüglich der Nutzung öffentlicher Flächen hinzuzufügen und die Entwicklung des Umweltschutzes zu einem Recht für jeden zu institutionalisieren (Sotirelis 2001b: 154f.). Nun schlug sie den „absoluten Schutz“ der Wälder vor, worunter das Verbot jeder Zweckentfremdung von Wäldern und bewaldeten Flächen zu verstehen war (ebd.: 230). Der juristische Staatsrat hielt die ganze Verfassungsänderung zum Schutz der Wälder für sachlich unnötig. Negative Reaktionen auf die PASOK-Pläne kamen auch von den linken Parteien und von Umweltorganisationen.
6.2 Griechisches Fallbeispiel (2001)
293
Die Einwände erhielten aufgrund einer erheblichen Medienaufmerksamkeit für das Thema ein sehr großes Gewicht (Kathimerini 2001; Georgiopoulou 2001; Bistika 2000: A24). Sowohl regierungsfreundliche Medien (z.B. die Zeitungen To Vima und Ta Nea, der Fernsehkanal MEGA) als auch oppositionsfreundliche (z.B. der Fernsehkanal STAR) oder politische neutrale Medien (z.B. die Zeitung Kathimerini, der Fernsehkanal Antenna) verbreiteten Kritik, der gemäß sich die Änderung des Art. 24 in eine falsche Richtung entwickelte (Georgiopoulou 2001; Bistika 2000: A24). Entsprechend der Rationalität von Medien waren für sie die im Vergleich zu den anderen Inhalten der Verfassungsänderung größere sichtbare Bürgernähe des Themas, die Darstellung von Konflikten und Streit besonders interessant. Aufgerüttelt durch die große medienvermittelte Resonanz und aufgrund von Nachfragen der Medien selbst meldeten sich nun auch viele Abgeordnete der PASOK selbst zu Wort und lehnten die Änderung ab (Kathimerini 2001a). Die PASOK-Regierung reagierte auf den Druck, indem sie die Formulierung etwas änderte (Kalliagkopoulos 2001e; Ladi 2005). Obwohl der PASOK-Chefbeauftragte das Verfahren der Verfassungsänderung später als rechtlich „tadellos“ bezeichnete (Venizelos 2002: 23), waren in der Abschlussphase viele formale Unklarheiten erkennbar, die die Regierungspartei im eigenen Sinne und nur dort zugunsten anderer Parteien (z.B. Zulassung von Minderheitenvorlagen für die Abstimmung) löste, wo dies kein Risiko für sie barg. Sie nutzte Unklarheiten darüber, wie über die Verfassungsänderungen 2001 abzustimmen war – ob identisch wie 1998 oder in modifizierter Form460, darüber, ob die Vorschläge des Revisionsausschusses 2000 als Abstimmungsgrundlage für 2001 verbindlich waren oder inwiefern nach Abschluss seiner Tätigkeit alternative Vorschläge zu einem Artikel für die Abstimmung zulässig waren.461 Unklar war ebenso, wie mit formal ganz neuen Vorschlägen zu verfahren war. Dies nutzte, akzeptiert von PASOK, die ND.462 Die beiden kleinen Parlamentsparteien KKE und Linksallianz spielten in der kompetitiven Phase keine Rolle. Sie konnten weder die Präferenzdurchsetzung der anderen verhindern, noch eigene Ziele einseitig durchsetzen, noch hing die Durchsetzung von Zielen, die sich mit ihren eigenen überlappten, von ihrer Zustimmung ab. In dieser Situation handelten sie rational und verlegten sich darauf, ihren nichtsubstanziellen Nutzen aus dem Vorhaben zu maximieren, indem sie sich als Protestparteien profilierten. Hatten sie zuvor an der Ar460 Die Abstimmung über einige Änderungen wurde gegenüber 1998 zusammengefasst (Art. 70) oder aufgeteilt (Art. 57; Art. 72; Art. 101 A). Bei Art. 57 sollte die separierte Abstimmung offensichtlich dafür sorgen, dass zumindest eine Basismodifizierung trotz Widerstandes vieler Abgeordneter gegen bestimmte Neuformulierungen durchzubringen. Auch die Einzelabstimmung über Art. 101 A diente dazu, bei wichtigen Klauseln große Mehrheiten zu mobilisieren: PASOK und ND hatten sich nicht auf einen Kompromiss zum neuen 101A (2) einigen können und schlugen unterschiedliche Formulierungen vor (Sotirelis 2001b: 291). Daraufhin wurde über Art. 101 A (1) und (3), bei denen Konsens herrschte (ebd.: 210), separat abgestimmt. Die zu 1998 formal kohärente Alternative wäre gewesen, über den gesamten Artikel abstimmen zu lassen, dem aber nur die PASOK-Mehrheit zugestimmt hätte, während die ND nur für die eigene Vorlage zu Art. 101 A (2) gestimmt hätte. 461 Wie 1998 schlug der Revisionsausschuss 2000 eine Änderung des Art. 97 (Gemischte Schwurgerichte) vor, doch wurde diese 2001 im Plenum nicht zur Abstimmung gestellt. 462 1998 hatte der Revisionsausschuss den Vorschlag der ND, dem Art. 17 (8) einen neuen Absatz und eine Auslegende Erklärung beizufügen, nicht gebilligt (Sotirelis 2001b: 152). Die von der ND trotzdem zur Abstimmung gestellte Änderung scheiterte bereits im ersten Wahlgang des Parlamentsplenums. 2001 wurde jedoch wieder über diesen Artikel abgestimmt, und zwar im formalen Rahmen der Verfassungsrevision. Hintergrund war, dass die ND im Jahr 2000 abermals ganz allein die Änderung vorschlug, nun auch mit präziserem Inhalt. Die Partei brachte diesen Vorschlag also eigentlich ganz neu ein.
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6 Die kompetitive Phase
beit des Revisionsausschusses teilgenommen und dort in der Schlussabstimmung mehreren Änderungen aktiv zugestimmt, für die PASOK und ND waren, so verließen sie am 06.04.2001 nach den Reden ihrer Parteivorsitzenden Aleka Papariga (KKE) und Nikos Konstantopoulos (Linksallianz) kurz vor der letzten Abstimmung geschlossen die Plenarsitzung. Sie wandten sich damit symbolisch dagegen, dass das „Zwei-Parteien-System“ ihren politischen Beitrag ablehne (Kalliagkopoulos 2001j), meinten damit aber auch, dass PASOK und ND ihre Vorschläge inhaltlich nicht akzeptierten.463 Gegen politische Konventionen verstießen sie mit diesem Verhalten nicht, denn in der jüngeren griechischen Geschichte waren die Oppositionsparteien zumeist Abstimmungen über Verfassungsänderungen oder die Einführung neuer Verfassungen aus Protest ferngeblieben. Vor der Schlussabstimmung versuchten die Fraktionsvorsitzenden von PASOK und ND, Simitis und Karamanlis, sowie die jeweiligen Chefbeauftragten für die Verfassungsänderung, Venizelos und Pavlopoulos, ihre Abgeordneten hinsichtlich fraktionsintern umstrittener Klauseln zu einer parteikonformen Abstimmung zu ermahnen, indem sie von einer Niederlage der ganzen Partei sprachen, falls es eine Spaltung bei der Stimmabgabe gäbe. Dies war bei der Wehrdienstverweigerung, der Formulierung bezüglich der Todesstrafe und den Unvereinbarkeitsklauseln der Fall (Kalliagkopoulos 2001h, 2001k). Von den 96 Einzelvorschlägen (teils einzelne Klauseln, teils Teile von Klauseln, teils mehrere Klauseln zusammengefasst), die zur Abstimmung stehen sollten, unterstützten als Kollektivakteure PASOK und ND gemeinsam 72, PASOK allein zehn sowie die ND allein 14. Bei zwei Klauseln hatte die ND aufgrund parteiinterner Entwicklungen ihre Position seit den Gesprächen im Revisionsausschuss noch geändert.464 In der Abstimmung am 06.04.2001 erhielten von den 72 Klauseln, denen im Revisionsausschuss PASOK und ND zugestimmt hatten, 64 eine übergroße Mehrheit von mindestens 250 von 300 Stimmen, der Großteil der Verfassungsänderungen wurde mit weit über das institutionell notwendige Maß hinaus gehenden Mehrheiten beschlossen. Damit belegten die Spitzen beider Parteien den Konsenscharakter der Verfassungsänderung. Die Abgeordneten bestätigten insgesamt die Positionen ihrer Parteien. So gelang die Verabschiedung von fünf der zehn Klauseln, die nur PASOK gutgeheißen hatte, mit eigener PASOKMehrheit, drei andere scheiterten bei fast vollständiger bis vollständiger Zustimmung der PASOK-Abgeordneten an der Ablehnung durch die ND. Dennoch traten Abweichungen von der Parteilinie auf. Die größte Uneinheitlichkeit im Abstimmungsverhalten der Fraktionen zeigte sich bei Klauseln, bei denen zuvor bereits Uneinigkeit aufgrund persönlicher Betroffenheit bestand und teils durch die große mediale Aufmerksamkeit weiter angeheizt worden war: bei Art. 14 (Unvereinbarkeit des Medienbesitzes mit dem Besitz von Unternehmen, die mit Staatsbeschaffungen zu tun haben),465 Art. 463 Die Linksallianz hatte beispielsweise in der Diskussion des Art. 25 (1) ein verfassungsmäßiges Recht auf ein Mindesteinkommen, das Recht auf Leben in Würde und Recht auf Sozialversicherung für alle Bürger gefordert, fand jedoch dafür keine Unterstützung. Diese Ablehnung war ein wichtiger Grund für ihre Absenz während der letzten Abstimmung (Filos 2002: 1006). 464 Entgegen ihrem Votum im Revisionsausschuss sprach sich die ND nun gegen die Neuformulierung des Art. 36 (Ratifizierung internationaler Ankommen) aus und stimmte der Änderung des Art. 93 (Minderheitsurteile in Gerichtsprozessen) doch zu. 465 Hier fällt der Einfluss der persönlichen Betroffenheit besonders auf, denn die im nachfolgenden Art. 15 (2) vorgesehene Beibehaltung der „unmittelbaren Kontrolle“ der elektronischen Medien „durch den Staat“ wurde nicht auf gleiche Weise debattiert. Zwar sollte für die Kontrolle und die Verhängung von Sanktionen ausschließlich der Nationale Rundfunkrat als unabhängige öffentliche Behörde zuständig sein, doch wurde seine Regelung und die Bestellung der Mitglieder einem einfachen Gesetz überlassen. Ein entsprechendes Ge-
6.2 Griechisches Fallbeispiel (2001)
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24 (Umweltschutz), Art. 54 (2) (Berücksichtigung der Ergebnisse von Volkszählungen bei der Berechnung der Abgeordnetenmandate) und Art. 57 (Unvereinbarkeit von Abgeordneten und Berufstätigkeit) auf. Beim letztgenannten Art. 57 votierten 25 PASOKAbgeordnete gegen den Vorschlag, 40 ND-Abgeordnete stimmten ihm zu. Die deutliche Abweichung von den Parteivoten bei der Todesstrafe leitete sich aus individuellen Wertvorstellungen ab, bei den Neuregelungen der Arbeitsweise des Parlaments aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Das fraktionsübergreifend abweichende Abstimmungsverhalten beim Art. 28 (1) (Geltung des Völkerrechts) folgte der integrationsfreundlichen Haltung oder eher national ausgerichteten Kosten-Nutzen-Kalkülen der Abgeordneten (VTE 2001). In einigen Fällen veränderte das individuelle Abstimmungsverhalten sogar die gemäß den Aushandlungsergebnissen zu erwartenden Inhalte der Verfassungsänderung: Ein Teil der gesplittet zur Abstimmung gestellten Unvereinbarkeitsklauseln, auf die sich die Spitzen von PASOK und ND geeinigt hatten, scheiterte. Wie das operative Ziel der SimitisRegierung, den ausgedehnten Staatssektor strukturell zurückzuschneiden und dadurch Politik und Wirtschaft stärker voneinander zu trennen (Axt 2000), konnte auch die verfassungsrechtliche Entsprechung dieses Plan aufgrund des Widerstands der Betroffenen – in PASOK und ND – nur beschränkt durchgesetzt werden. Die Einräumung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung gelang durch die Zustimmung zahlreicher ND-Abgeordneter trotz ablehnender Parteihaltung. Ohne Befürwortung durch PASOK als Kollektivakteur wurden außerdem zwei Vorlagen der ND angenommen, die jeweils den gemeinsamen Änderungsvorschlag von PASOK und ND zu dieser Materie ergänzten: dem gerade erwähnten Art. 54 (2) zur regelmäßigen Aktualisierung der für die Mandatsvergabe nach Wahlen zugrundezulegenden Bevölkerungszahl sowie Art. 88 (2) zur Richterbesoldungsordnung. Ähnlich den aufgrund interner Widerstände vor der Abstimmung geänderten ND-Positionen bei zwei Klauseln handelte es sich hier nicht um politisch-programmatische Grundsatzentscheidungen, sondern eher um Detailfragen. Trotz der namentlichen Abstimmung, die zumeist einen Anpassungsdruck erzeugt, unterschied sich die griechische Verfassungsänderung von 2001 hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten also deutlich von der traditionell durch Parteidisziplin gekennzeichneten „normalen“ Gesetzgebung, ohne die Ergebnisse der vorherigen Aushandlungen zwischen den Spitzen- und Fachpolitikern fundamental zu ändern. Bei einigen wichtigen Streitpunkten und Klauseln, für deren Änderung PASOK die Zustimmung der ND benötigte, um eine notwendige qualifizierte Mehrheit zu erreichen, war auch in der kompetitiven Phase keine Einigung zustande gekommen, denn hier zeigten sich die Parteien wenig flexibel und reagierten vornehmlich auf wahrgenommenen Druck. Entsprechend scheiterten Modifizierungen zur Geltung des Völkerrechts in Art. 28 (1), zur Wahl des Präsidenten in Art. 32, zur Ratifizierung internationaler Verträge in Art. 36 (2) und zu Krediten im Haushaltsplan in Art. 80 (1). Von den sieben Klauseln, die 1998 zwar 151, aber keine Dreifünftelmehrheit erhalten hatten, erhielten auch 2001 nur drei die Zustimmung der ND.466 Klauseln, die Reaktionen auf strukturelle politische Probleme (z.B. Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft) darstellten, trafen ähnlich wie in der ersten setz für das bereits seit 1989 bestehende Gremium von 1995 wurde im Jahr 2000 modifiziert und überließ die Wahl der Mitglieder dem Parlament, faktisch der Regierungsmehrheit. Tatsächlich hatte der Rat eine beratende Funktion und übte die Regierungsaufsicht über Radio und Fernsehen aus (vgl. Iosifidis 2005: 5). 466 Art. 4 (6) zur Wehrpflicht, Art. 93 (3) zur einfachgesetzlichen Regelung der Aufnahme einer etwaigen Minderheitsmeinung in ein Gerichtsurteil und dessen Veröffentlichung sowie Art. 100 (neuer Absatz) zur Prüfung der materiellen Verfassungswidrigkeit von Gesetzen durch den Obersten Sondergerichtshof.
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Aushandlungsphase (Dezentralisierung) fraktionsübergreifend auf Widerstand der Betroffenen und wurden teils nur beschränkt durchgesetzt. Generell stieg mit der programmatischen, normativ-ideologischen oder professionellen Betroffenheit der Akteure die Chance von Einsprüchen und Änderungswünschen. Tabelle 44: Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall G Streitpunkt Wehrdienstverweigerung
Verflechtungsproblematik
Wahl des Präsidenten Geltung des Völkerrechts und Ratifizierung internationaler Verträge Zuständigkeit für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit Recht der lokalen Selbstverwaltung, Referenden abzuhalten Umweltschutz
Ort des Konflikts PASOK vs. ND und fraktionsintern PASOK vs. ND und fraktionsintern PASOK vs. ND
Ergebnis 2001 qualifizierte Mehrheit trotz Nein-Votums der ND qualifizierte Mehrheit für gemeinsame Klauseln der Parteien; ergänzende Klauseln der ND sowie von PASOK und ND (Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandats) scheitern scheitert am Nein-Votum der ND
PASOK vs. ND und fraktionsintern
scheitert am Nein-Votum der ND
PASOK vs. ND
qualifizierte Mehrheit
ND vs. PASOK
scheitert am Nein-Votum PASOKs
PASOK vs. ND und fraktionsintern
qualifizierte Mehrheit für gemeinsame Klausel 24 (1); ergänzende Klausel der ND scheitert; einfache Mehrheit PASOKs für Art. 24 (2)
Aufgrund der Nutzenmaximierungskalküle in der kompetitiven Phase scheiterten fünf der zehn von PASOK allein befürworteten Änderungsvorlagen (parlamentarische Unvereinbarkeitsklausel, Geltung des Völkerrechts, Wahl des Präsidenten, Ratifizierung internationaler Verträge, Kredite im Haushaltsplan), aber elf der 13 separaten Änderungsvorlagen der ND – alle, die nicht ergänzend, sondern konkurrierend zu PASOK-Vorschlägen formuliert waren (Tab. A 14). Betrachtet man indes die Zahl der gemeinsam verabschiedeten Verfassungsänderungsklauseln, so erreichte PASOK im wesentlichen ihr Ziel, die symbolisch wichtige Zustimmung der größten Oppositionspartei zu erlangen und innerhalb des Landes sowie gegenüber den anderen EU-Staaten ihre Argumentation zu platzieren, dass die Verfassungsrevision die von der Regierung verfolgte Modernisierung und Europäisierung des griechischen politischen Systems unter Beweis stelle. Dabei ging unter, dass sie thematisch und konzeptionell inkohärent angelegt war, die Macht der politischen Mehrheit ausdehnte, einige der wichtigsten Probleme des sozialen und politischen Lebens nicht oder unzureichend berührte, etwa das Verhältnis Staat – Kirche, die Gewaltenteilung, die Stellung der Justiz und die Verwaltung, sowie dass etliche Gesetze zur Umsetzung neuer Verfassungsnormen, die angesichts vager Formulierungen besonders bedeutsam waren, noch nicht vorlagen (Eleftheriadis 2005; Filos 2002). Die ND trat zwar kritisch auf und beharrte gerade dort, wo ihre politisch-programmatischen Schwerpunkte für einen hohen Grad substanzieller Motivation sorgten, auf ihren Positionen, verzichtete aber insgesamt auf eine strategische Konfrontation zu PASOK bzw. zur Verfassungsänderung. Auch das kompetitive Verhalten der Abgeordneten gegenüber ihren Parteien war insgesamt beschränkt, die Kohäsion der Kollektivakteure mithin recht groß.
6.3 Irisches Fallbeispiel (2002)
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6.3 Irisches Fallbeispiel (2002) Mit ihrem Einlenken in der Formulierung der Verfassungsänderungsvorlage hatte die irische Regierung die Gegner der Vertragsratifizierung, die eine Festschreibung der Neutralität in der Verfassung gefordert hatten, dazu gezwungen, ihre Ablehnung zu überdenken oder zumindest neu zu begründen. Wer die Nichtmitgliedschaft in Militärallianzen konstitutionalisieren wollte, konnte dies nun gemäß der Regierungsvorlage gleichzeitig mit der Ratifizierung des Vertrags von Nizza tun. Der von Labour eingebrachte Entwurf einer separaten Neutralitätsfestschreibung war angesichts der innerparlamentarischen Machtverhältnisse und Positionen nicht durchsetzbar, sondern ein Akt symbolischer Politik zur eigenen Profilierung.467 Wie zu sehen sein wird, änderten diese Schritte am Entscheidungsverhalten der Ratifizierungsgegner ohnehin nichts mehr; grundsätzlich gingen beide neutralitätsbezogenen Entwürfe den Grünen und Sinn Féin inhaltlich nicht weit genug (HoO 2002l), und auf Kompromisse waren sie angesichts hoher substanzieller Motivation bei deutlicher politisch-programmatischer Distanz in dieser Frage nicht aus. Damit hatten sich die Argumentationen im Vergleich zu 2001 deutlich verschoben: Betonten zuvor die Gegner immer wieder den Zusammenhang zwischen dem Vertrag von Nizza und einem befürchteten Aufbrechen der Neutralitätspolitik und forderten entsprechende Absicherungen, während die Regierung dies als unnötig ablehnte (und die Möglichkeit des Koppelgeschäfts Verfassungsänderung – Neutralität offensichtlich nicht wahrnahm), so warfen die Gegner des Nizza-Vertrags der Regierung nun Erpressung vor, gerade weil sie beides miteinander verband. Die Kritik ging in die gleiche Richtung wie der zuvor immer wieder erhobene Vorwurf, schon die formale Neuausschreibung des Referendums trage den Charakter einer (moralischen, politischen) Erpressung des Volkes, das den Nizza-Vertrag ablehne. Die Regierung verwies ihrerseits darauf, dass damit der destruktive Charakter der Nizza-Gegner klar werde. Es gehe ihnen gar nicht um den sachlichen Einwand eines Neutralitätsverlustes (sonst würden sie nun zustimmen), sondern sie seien aus Prinzip gegen die EU-Integration, so wie sie bereits zuvor gegen jeden Integrationsschritt gewesen seien.468 Die Regierung ergänzte ihre Öffentlichkeitsarbeit durch ein Weißpapier zum Vertrag von Nizza und den Sevilla-Deklarationen (Government of Ireland 2002b) und andere Publikationen.469 In ihren Argumentationen zugunsten einer Annahme der Verfassungsänderung führte sie das neutralitätsbezogene Zugeständnis an die Gegner des Nizza-Vertrags nun immer als ersten Punkt an, erklärte dann, dass das Referendum im Kern eine Entscheidung über die EU-Erweiterung und die Aufrechterhaltung des Status’ Irlands in Europa sei, der Wohlstand, soziale Sicherheit und Identität gewährleiste, und verwies auf die vorgenommene Aufwertung des nationalen Parlaments in der irischen Europapolitik. Zudem versprach sie, in der EU künftig weiter aktiv die irischen Werte und Interessen zu vertreten und ihre Vision einzubringen, dass dem Nationalstaat auch weiterhin eine zentrale Rolle zukommen müsse. Ein wichtiger Punkt war immer das Eingeständnis eigener Fehler; die Regierung habe aber von den Bürgern gelernt, und es gehe bei der Entscheidung nicht um eine abstrakte Entwicklung auf EU-Ebene, sondern um die konkrete Zukunft der irischen 467 Daher verzichtete die Partei auch auf die Einbringung eines zusätzlichen Verfassungsänderungsentwurfs, der die einfache Ratifizierung des Nizza-Vertrags beinhaltete. 468 Die nachfolgenden Zusammenfassungen der Argumente der Parteien stützen sich, sofern nicht anders angegeben, auf die Auswertung der Parlamentsdebatte im September 2002 (HoO 2002a-r). 469 Bereits vor dem ersten Nizza-Referendum hatte sie ein Weißpapier zum Vertrag und den SevillaDelarationen veröffentlicht, grundsätzlich ähnelte die Öffentlichkeitsarbeit der vor dem ersten Referendum.
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Bürger.470 Herausgestellt wurde deren Macht: Sie bestimmten über die Wahrnehmung Irlands im Ausland, denn ganz Europa schaue nun auf dieses Land (Government of Ireland 2002a; Cowen 2002; Ahern 2002c; HoO 2002a).471 Alle politischen Akteure engagierten sich in der kompetitiven Phase besonders stark,472 und alle gingen dabei anders als zuvor weniger auf Details des Nizza-Vertrags ein, sondern konzentrierten sich in ihren Auseinandersetzungen auf politisch allgemeinere Themen: Irlands Perspektive in Europa, seine wirtschaftliche Zukunft und die entsprechend beste Europapolitik473 sowie auf die Rechtfertigung eines erneuten Referendums. Dabei stützten sich die Befürworter des Verfassungsreferendums inzwischen weniger auf die niedrige Wahlbeteiligung im ersten Referendum (wie in der kooperativen Phase), sondern begründeten die Angemessenheit eines neuen Volksentscheids damit, dass die Bevölkerung nun besser über den Vertrag und Irlands Rolle in Europa informiert sei sowie dass es inzwischen Zugeständnisse der Regierung hinsichtlich Neutralität und parlamentarischer Kontrolle gegeben habe, die Risiken minimiert hätten. Eine weitere Änderung der Argumentationen für und gegen die Ratifizierung und der Gewichtungen manifestierte sich in Aussagen der Ratifizierungsbefürworter zu den Effekten eines Scheiterns der Ratifizierung, die zuvor eine geringere Rolle gespielt hatten: Irland werde seinen Einfluss auf die in der EU getroffenen Entscheidungen verlieren, wenn es den Nizza-Vertrag nicht ratifiziere.474 Ein solcher Einfluss sei aber wichtig, weil Irlands wirtschaftliche Zukunft475 und der Erfolg in anderen Politikfeldern eng mit Europa verknüpft sei. Die EU-Beitrittsländer seien keine Konkurrenz, sondern aufgrund ihrer sehr ähnlichen strukturellen Voraussetzungen (kleine Staaten, Bedeutung der Landwirtschaft) zukünftige Verbündete Irlands in europäischen Verhandlungen. Selbst wenn man einige Entwicklungen in der EU kritisch sehen könne, etwa im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder die Demokratiequalität, müsse man doch intensiv an den Entscheidungen beteiligt 470 In jeder Äußerung zum Verfassungsreferendum äußerten die Regierungsvertreter und besonders der Premier Verständnis für die Sorgen der Menschen, die sie dazu bewogen hätten, zunächst gegen den Vertrag zu stimmen oder nicht teilzunehmen. Es habe Verwirrung geherrscht, und die Verantwortung dafür habe größtenteils bei den Politikern und Sozialpartnern gelegen, die ihrem „Führungsauftrag“, „die Fragen so weit wie möglich zu klären, damit die Menschen in Irland auch wirklich in Kenntnis der Sache ihre Wahl treffen können“, nicht adäquat nachgekommen seien. Die Regierung habe nun „auf das irische Volk gehört“, habe zugehört und gelernt, habe „Problempunkte angesprochen, wie die Neutralität und die wirksame parlamentarische Kontrolle der EU“, es habe „zum allerersten Mal eine strukturierte nationale Debatte“ im Europaforum gegeben, man habe „hart gearbeitet, um die Fragen zu beantworten und auf die Sorgen der Menschen einzugehen“ (hier Ahern 2002c: 2). 471 Tatsächlich war Irland der letzte EU-Staat, der den Vertrag ratifizieren musste, nachdem am 26.08.2002 Belgien dem Vertrag im parlamentarischen Verfahren zugestimmt hatte. 472 In den ersten Aussprachen zur Ratifizierung des Vertrags im Frühjahr 2001 hatten sich 48 Abgeordnete im Repräsentantenhaus sowie acht Senatoren geäußert; der Premier nicht. An der Parlamentsdebatte im Herbst 2002 beteiligten sich 88 Abgeordnete, darunter der Premier, und 34 Senatoren. 473 Welche Rolle sollte Irland spielen, wie wirkt sich eine Entscheidung auf Irlands Einfluss aus, gibt es Alternativen? Diese Aspekte werden auch 2001 diskutiert, allerdings nicht so intensiv. 474 Eine Ablehnung schwäche Irlands Position in Verhandlungen zur Zukunft Europas (z.B. auf dem Verfassungskonvent) und zu einzelnen Politikbereichen (z.B. Landwirtschaft). Eine Zustimmung hingegen vergrößere das Wohlwollen gegenüber Irland und verbessere damit die Verhandlungsposition. Eine Ablehnung der Vertragsratifizierung schütze umgekehrt Irlands Interessen nicht, weil das Land sie dann nicht mehr richtig vertreten könne. 475 Dabei ging es mittelbar um die EU: Sie sei als wichtigster Exportmarkt der Grund für Irlands Attraktivität für ausländische (besonders US-amerikanische) Investoren. Zudem könnten die Herausforderungen der Globalisierung nur gemeinsam angegangen werden.
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bleiben, um die EU von innen zu verändern. Hier hatten sich offensichtlich die Bewertungen der Entscheidungsgrundlagen etwas verschoben, ohne dass die Entscheidung selbst, die Zustimmung, wankte. Im Gegensatz zu 2001 argumentierten alle Befürworter außerdem explizit und offensiv, dass die Ratifizierung des Vertrags von Nizza eine organisatorische Voraussetzung für die EU-Erweiterung, diese ihrerseits fair und im irischen Interesse sei.476 Zwar lasse der Amsterdamer Vertrag die Erweiterung um wenige Staaten über individuelle Beitrittsverträge zu, aber inzwischen seien weit mehr Länder für den Beitritt bereit. Nach einer Erweiterung ohne die Ratifizierung des Nizza-Vertrags würden die europäischen Institutionen ineffektiv, und die EU geriete angesichts der erwartbaren Blockaden in eine Krise. Häufig stellten die Befürworter der Verfassungsänderung das Referendum als Irlands letzte Chance dar, sich nicht zum europäischen Außenseiter zu machen. Die Nizza-Gegner bestritten diese Argumentation weiterhin, schwächten ihre Gegenaussage aber darauf ab, dass Nizza nicht primär mit der EU-Erweiterung zu tun habe. Vielmehr gehe es um die weitere Integration der Union in Richtung eines föderalen Superstaats, die insbesondere von den großen Mitgliedstaaten vorangetrieben werde. Nach ihrer Darstellung würden die meisten Bestimmungen (mehr Mehrheitsentscheidungen, „vertiefte Kooperation“, Änderung der Stimmengewichte in Rat, Europäischem Parlament und Veränderung der Kommission, Gemeinsame Außen- und Sicherheitpolitik) auch in Kraft treten, wenn die Erweiterung nicht stattfände. Die Nein-Kampagne stützte sich neben der Bedrohung durch einen aufkommenden föderalen EU-Superstaat auf das zweite Argument einer geschwächten irischen Position in der erweiterten Union (Lee/Creed 2004: 179f.). Neben der Bewertung des Vertrags selbst variierten zwischen Gegnern und Befürwortern einer Ratifizierung weiter die Bewertungen der möglichen Handlungsalternativen (Kapitel 5.3). Von den bereits bekannten Konfliktpunkten blieb die Neutralität auch in der kompetitiven Phase wichtig, spielte aber in den Auseinandersetzungen im Parlament keine prominente Rolle, weil die Mehrheit der Abgeordneten nicht davon ausging, dass sie bedroht sein könnte. Sie griffen das Thema eher auf, weil sie angesichts der Erfahrungen des ersten Referendums davon ausgingen, dass es für die Entscheidung der Bevölkerung über die Verfassungsänderung relevant sei. Es gab hier leichte Verschiebungen in der Bewertung der Verfassungsänderung, die sich aus der erweiterten Textvorlage der Regierung ergaben: Die Regierungsparteien betonten, dass der Nizza-Vertrag Irlands Neutralität nicht schade und nichts mit ihr zu tun habe; die Sevilla-Deklaration und die Erweiterung der Verfassungsänderung seien einfach so etwas wie eine zusätzliche Versicherung. Fine Gael betrachtete die Erweiterung der Verfassungsänderung um die Nichtmitgliedschaft in Militärbündnissen durchaus als substanziell neue Festlegung, die sie verfassungspolitisch nicht unproblematisch fand. Sie hielt nämlich Irlands traditionelle Neutralitätspolitik für hinterfragungswürdig. Labour betrachtete die Erweiterung ebenfalls als substanziellen verfassungspolitischen Schritt, sah ihn aber positiver als FG, weil er die Neutralität absichere. Die Gegner der Vorlage hielten hingegen daran fest, dass der Vertrag von Nizza die irische Neutralität bedrohe. Der gewählte verfassungspolitische Ansatz verkürze Neutralität auf die Nicht-Mitgliedschaft in einer Verteidigungsallianz und mache Irlands Beteiligung an den 476 Die Argumentation einer kausalen und organisatorischen Verbindung zwischen dem Vertrag von Nizza und der EU-Erweiterung, von der die Befürworter des Vertrags implizit immer ausgingen, hatte die Referendumskommission vor dem ersten Referendum nicht wiedergegeben, weil es nach ihrer Auffassung nicht substanziell für den Nizza-Vertrag sei, in dem es nicht um die Erweiterung gehe.
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„Petersberg-Aufgaben“ erst explizit kompatibel mit einer augenscheinlichen, faktisch aber substanzlosen Neutralitätspolitik (z.B. Dan Boyle für die Grünen in HoO 2002m: 4).478 Die wichtigste Verschiebung der Debatte gegenüber den vorangegangenen Phasen bestand in der besonderen Bedeutung, die die Einwanderungsproblematik erhielt. Sie tauchte im August 2002 in den Argumentationen der politischen Akteure und der Medienberichterstattung auf, nachdem Justin Barrett, Führer der „Nein-zu-Nizza“-Kampagne, und Anthony Coughlan für die Nationale Plattform behauptet hatten, im Falle der Ratifizierung breche über Irland eine Immigrationswelle aus Osteuropa herein, die Tausende von Arbeitsplätzen vernichten würde. Sie betrachteten es als unverantwortlich, anders als andere EU-Staaten osteuropäischen Arbeitern Freizügigkeit direkt nach der EU-Erweiterung zu erlauben (O’Brennan 2003b: 12; Hennessy 2002b). Dagegen verwahrten sich die Befürworter der Verfassungsänderung teils unter Verweis auf anders lautende Schätzungen, das Arbeitsrecht und Handlungsmöglichkeiten im Bedarfsfall, oft aber auch nur unter Verweis auf die moralisch-ideologische Unzulässigkeit des Immigrationsarguments.479 Nur sehr wenige Wortmeldungen verteidigten die Verfassungsänderung in der Form, dass sie den Einwand zumindest teilweise ernstnahmen.480 Die Immigrationsproblematik polarisierte aber nicht nur Gegner und Verteidiger der Verfassungsänderung, sondern spaltete auch die NizzaGegner selbst. Ein Teil von ihnen bemühte sich klarzustellen, dass es ihnen nicht um eine Ablehnung von Einwanderung gehe, sondern sie im Gegenteil die EU-Erweiterung sogar explizit befürworteten, diese aber ohne den Nizza-Vertrag möglich sei (Power 2002; O’Snodaigh 2002). Obwohl die Debatte über die Immigrationsproblematik seit Ende September wieder etwas abebbte, erwies sie sich in Meinungsumfragen Mitte Oktober 2002 als zweites wahrgenommenes Schlüsselthema nach der EU-Erweiterung und vor der Neutralität (McShane 2002). Im Vorfeld der Entscheidungsfindung kam es damit deutlich zu einer Verzerrung der Diskussion durch ein aktuelles, nicht im Kern der Sachentscheidung stehendes Thema (recency bias) – ähnlich wie schon im kanadischen (Senatsreform) und griechischen (Schutz der Wälder) Fall. Trotz der Argumentationsverschiebungen und regierungskritischer Töne etwa in der Ja-Kampagne von Labour änderten die politischen Akteure ihre Gesamtpositionen zur Vertragsratifizierung nicht. Die Regierungsparteien und Fine Gael votierten für Grüne, 478
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Die Argumente gegen die europäische Verteidigungspolitik, insbesondere die Beteiligung an europäischen Krisenmanagementeinsätzen und der Schnellen Eingreiftruppe, waren sehr allgemein gehalten. Es handele sich um eine Militarisierung der EU, es sei ein Zeichen für die Beherrschtheit der EU durch den industriellmilitärischen Komplex oder die großen Staaten; die EU sollte generell kein Krisenmanagement betreiben. Es bestehe keine wesentliche Gefahr für Jobs oder Gehälter durch mittel- und osteuropäische Arbeiter; eine ausgewogene Immigrationspolitik sei gut für Irlands Wirtschaft und die Immigranten, die das Recht auf einen gleichen Lohn hätten. Falls es Probleme gebe, könne Irland entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ängste vor einer Immigrationswelle seien unwürdig; der Vertrag von Nizza habe außerdem mit Migration nichts zu tun. Irland sei keine typische Wunschdestination von Osteuropäern, zudem verhinderten die Gesetze Lohndumping. Die Behauptung einer Immigrationswelle sei Bestandteil einer Taktik, die darauf setze, Ängste zu schüren und Verwirrung zu stiften (u.a. Ahern 2002b; Hennessy 2002b; Farren 2002; O’Snodaigh 2002; Lally 2002; De Brédún 2002d). Die „Nein-zu-Nizza“-Kampagne lege damit ihren „isolationistischen, ausländerfeindlichen, rückwärtsgewandten und rechtsgerichteten“ Charakter offen (O’Brennan 2003: 12f.). So wurde hinterfragt, ob alle EU-Mitgliedstaaten die gleichen Immigrationsregelungen treffen sollten, um gleiche Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Dies bedeute aber eine (weitere) Einschränkung der irischen Souveränität (O’Halloran 2002). Argumentiert wurde auch, ein Nein zu Nizza könnte zu (noch) mehr Immigration führen, weil ein Scheitern der EU-Erweiterung die ökonomischen Schwierigkeiten in Ostmitteleuropa nicht lindere und dadurch Migration verursache, während die Erweiterung den Menschen dort Hoffnung auf einen baldigen Wohlstand bringe und sie zum Bleiben ermutige (Smyth 2002).
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Sinn Féin, Sozialisten und einige unabhängige Abgeordnete gegen die Vorlage der Verfassungsänderung. Labour, die während der kooperativen Phase als Scharnierpartei zwischen Befürwortern und Anhängern fungiert hatte, positionierte sich verbindlich für eine Ratifizierung, verwies aber gleichzeitig darauf, dass sie selbst alle entscheidenden Veränderungen durchgesetzt habe: das Europaforum, die Verfassungsgarantie der Neutralität sowie parlamentarische Kontrollmechanismen. Im Oberhaus stimmte kein Senator gegen die Regierungsvorlage, die entsprechend problemlos am 11.09.2002 die Repräsentantenkammer und am 13.09.2002 den Senat passierte (Tab. A 15). Unter den Gründen für die Zustimmung oder Ablehnung waren neben den beschriebenen Interessenlagen bei Machbarkeitserwägungen immer auch emotionale, soziale Erwägungen wichtig.480 Bei den Befürwortern tauchten das Dabeisein und das Ansehen Irlands in Europa als Motivlagen in fast allen Wortbeiträgen auf. Auch bei den Gegnern war das soziale Entscheidungsmoment bemerkbar; ein Teil der Ablehnung basierte bei gleicher Informationslage auf grundsätzlichem Misstrauen gegenüber anderen Akteuren, der Ablehnung einer perzipierten Dominanz der Großen (Parteien, Staaten) und dem Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden (HoO 2002m: 6; 2002h: 5f.). Hervorzuheben ist, dass Fine Gael und Labour nicht nur die Verfassungsänderung mittrugen, sondern auch das am 09.10.2002 im Repräsentantenhaus verabschiedete „EU(Prüfungs-)Gesetz“, dessen Regelungen weit hinter dem Ursprungsentwurf Labours und den Forderungen Fine Gaels zurück blieben.481 Sie gingen davon aus, dass die Regierung mit dem Gesetz (anstelle nur administrativer Arrangements) wohl das maximal mögliche Zugeständnis gegeben habe.482 In der Kampagne zur Ratifizierung des Nizza-Vertrags verwiesen sie auf dieses neue Gesetz, um zu belegen, dass man an der Beseitigung des Demokratiedefizits der EU arbeite. Offene oder kritische Punkte könne und müsse man später klären. In der Bewertung, dass das Gesetz in der Überwindung des Demokratiedefizits nicht weit genug gehe und allein nicht ausreiche, unterschieden sich die Befürworter insofern nicht von den Gegnern, sie zogen aber daraus unterschiedliche Schlüsse bei der Abstimmung (Dáil Éireann 2002). Fine Gael und Labour verzichteten darauf, aus der rasant gesunkenen Popularität der Regierung im politischen Wettbewerb einen Nutzen zu ziehen. Besonders beim Wahlverlierer und traditionellen Kontrahenten Fianna Fáils, Fine Gael, war dies bemerkenswert.483 Beide distanzierten sich von der Regierung, wirkten jedoch an 480 Die Abgeordneten und Senatoren zeigten ein Interesse daran, Irlands Ansehen zu steigern, nicht als „egoistisch“ zu gelten, Dank, Solidarität zu zeigen, Führung anzunehmen, (den Beitrittsländern) zu helfen, Freunde in der EU nicht verlieren, „zu Europa dazuzugehören“, nicht „herauszufallen“ bzw. zum Außenseiter zu werden (z.B. der Außenminister in HoO 2002a: 10). 481 Dies zeigte sich an der Einschränkung der EU-Regelungen, die parlamentarischer Überprüfung unterlagen, an der Ausnahme von Regelungen, die einer Geheimhaltungspflicht unterliegen (besonders verteidigungspolitisch relevante Sachverhalte), an Ermessenspielräumen der irischen Minister, ihrer Möglichkeit, den Europaausschuss erst nach einer Entscheidung mit Informationen versorgen, am Fehlen gesetzlicher Regelungen zur Ausstattung des Ausschusses und eines Vorladungsrechts. 482 Gemäß dem Gesetz mussten die Minister EU-Gesetzgebungsvorschläge dem irischen Parlament vorlegen und jeweils Inhalt, Zweck und eventuelle Implikationen für Irland und den erwarteten Zeithorizont der Entscheidung kommentieren, alle sechs Monate dem Parlament über Maßnahmen, vorgeschlagene Maßnahmen und andere für ihren Verantwortungsbereich relevante EU-Entwicklungen berichten. Die Regierung hatte Jahresberichte anzufertigen. Das Außenministerium sollte eine Datenbank mit allen relevanten Informationen, mindestens aber den genannten, führen, und alle geplanten Tagesordnungen von EU-Ministerratstreffen waren dem Gemeinsamen Europaausschuss zuzuleiten (European Union [Scrutiny] Bill, 2001). 483 Auslöser des Popularitätsverlusts waren plötzliche Sparmaßnahmen der Ministerien nach den Parlamentswahlen, denen Ausgabensteigerungen in großer Höhe vorangegangen waren, Gerüchte, dass Ahern von den Kor-
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der Ja-Kampagne mit und baten die Bürger explizit darum, das Referendum zum NizzaVertrag nicht für den Protest gegen innenpolitische Vorgänge zu „missbrauchen“ (Lee/Creed 2004: 180; Schipper 2004). Die Entscheidung für einen relativen europapolitischen Nutzen unter der Berücksichtung von Machbarkeit kann als Ergebnis der vertrauensbildenden Maßnahmen, Aussprachen und Zugeständnisse der Regierung interpretiert werden.484 Es war der Regierung gelungen, im Gegensatz zu 2001 den erneut gut organisierten Gegnern der Verfassungsänderung eine geschlossene Kampagne der Befürworter entgegenzusetzen. Die Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern manifestierte sich in der Gründung zweier Dachorganisationen für die entsprechenden Referendumskampagnen nach der Entscheidung über die Verfassungsänderungsvorlage im Unterhaus.485 Während die am 09.07.2002 gebildete unabhängige Referendumskommission mit dem größten Budget von 3,5 Mio. Euro für eine ausgewogene Öffentlichkeitsarbeit und Meinungsumfragen ausgestattet war, investierte die partei- und NGO-übergreifende Pro-Nizza-Kampagne 1,68 Mio. Euro, die Gegner 170.500 Euro (Gilland 2002b; Referendum Commission 2002a, 2002b). Angesichts der Polarisierung des politischen Wettbewerbs und des notwendigen Referendums war die Medienberichterstattung besonders bedeutungsvoll. Sie nahm seit August 2002 deutlich gegenüber den vorherigen Aushandlungsphasen zu.486 Da die Bevölkerung ihre Informationen über den Vertrag und die verfassungspolitischen Aushandlungen vorrangig den Medien entnahm, war von Bedeutung, dass die Argumente für eine Verabschiedung der Verfassungsänderung den im Parlament und im Europaforum vorgebrachten ähnelten – allerdings mit unterschiedlichen Gewichtungen, und dass die Argumente gegen eine Verabschiedung vielfältiger waren. Auch in der Anlage der Einzelbeiträge wich die Medienberichterstattung von der polarisierten, kompetitiven Stimmung der Blöcke der politischen und gesellschaftlichen Akteure ab. Als Pro-Argument tauchte in der Presse auf,487 dass Nizza für die EU-Erweiterung notwendig sei.488 Im Vergleich zur individualistischen Phase 2001 geriet die konkrete Reform der EU-Institutionen bzw. der Entscheidungsverfahren, um die es im Vertrag von
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ruptionsvorwürfen gegen seinen 1997 zurückgetretenen Außenminister Ray Burke (FF) gewusst hatte, ohne aktiv geworden zu sein, sowie in den Medien geäußerte Zweifel an der Kompetenz der Regierung. Zwei Wochen vor dem Referendum waren 61 Prozent der Bürger mit der Regierung unzufrieden, mit dem Premier 50 Prozent (Schipper 2004). Labour honorierte mit seiner Zustimmung zum Gesetz explizit auch die Zugeständnisse der Regierung betreffend das Europaforum und die Erweiterung der Verfassungsänderungsvorlage. Die Pro-Ratifizierungs-Organisation Irish Alliance for Europe gründete sich am 12.09.2002, die Alliance Against Nice am 19.09.2002. Letztere entstand aus den Grünen, Sinn Féin, den Sozialisten, unabhängigen Abgeordneten und Gruppierungen des linken politischen Spektrums unter Leitung von Tony Gregory, einem unabhängigen Parlamentsmitglied und ehemaligen Mitglied der Sozialistischen Partei. Die Berichterstattung über den Nizza-Prozess stieg Ende Juni 2002 anlässlich der Erklärungen in Sevilla, der Debatte über sie und der anschließenden Verfassungsänderungsentwürfe der Regierung und Labours, fiel im Juli wieder auf ein unbedeutendes Maß, stieg im August und September in etwa auf die JuniAusmaße an und erreichte im Referendumsmonat Oktober ein Spitzenmaß. Im Vergleich zum ersten Referendum setzte die erhöhte Medienaufmerksamkeit etwa einen Monat früher vor dem Referendum ein, doch die Anzahl der Einzelmeldungen oder -berichte lag etwas niedriger als ein Jahr zuvor (eigene Auswertung). Ausgewertet wurden alle in der überregionalen Irish Times abgedruckten Beiträge mit Bezug zum NizzaVertrag von 2001 bis 2002. Der Nizza-Vertrag bereite die Erweiterung rechtlich und politisch vor. Zwar wird von einigen Autoren zugestanden, dass ohne Nizza eine Erweiterung in irgendeiner Weise möglich wäre. Allerdings würde dann der Zeitplan der Erweiterung durcheinandergeraten, die pro-europäische Stimmung in den Beitrittsländern kippen und Europa in eine politische Krise geraten.
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Nizza zuvorderst ging, in der Berichterstattung in den Hintergrund. Ein zentrales ProArgument blieb, dass der Vertrag die irische Neutralität nicht gefährde.489 Im Vergleich zu den Diskussionen in Parlament und im Europaforum war die Diskussion um Neutralität präsenter. Ein drittes zentrales Argument für die Zustimmung zur Verfassungsänderung bestand darin, dass eine Ratifizierung des Nizza-Vertrags Irlands Einfluss in der EU sichere und ausbaue – durch gewonnenes Wohlwollen und die Interessenpartnerschaft mit den eher kleinen Beitrittsländern der Peripherie. Ein Nein Irlands schwäche hingegen seine Verhandlungsposition und seinen Einfluss in der EU.490 Im Vergleich zu den Diskussionen im Parlament und im Europaforum wurde weniger oft angesprochen, dass Irland in der Vergangenheit enorm von der EU-Mitgliedschaft profitiert habe, dass das Land wirtschaftliche Vorteile aus der Erweiterung ziehe, dass die Erweiterung für die EU-Beitrittsländer wichtig sei, dass Irland Dankbarkeit gegenüber der EU und Solidarität gegenüber den Beitrittsländern zeigen sollte sowie dass die Erweiterung Sicherheit, Stabilität, den Frieden und Wohlstand in Europa fördere. Diese Inkongruenz kann dadurch erklärt werden, dass in Bezug auf diese Punkte Einigkeit zwischen Gegnern und Befürwortern unter den politischen Akteuren bestand (bzw. die Medien dies so wahrnahmen), während sich die Berichterstattung auf die strittigen Punkte konzentrierte. Bei einigen Argumentationen wurde ein Umschwenken der Medienberichterstattung im Vergleich zu 2001 deutlich: Ähnlich der Entwicklung in der politischen Arena stellte ein größerer Teil von Artikeln die Existenz eines Demokratiedefizits, mangelnder Transparenz der EU-Entscheidungsprozesse und mangelnder Partizipation als tatsächliche und nicht nur von den Nizza-Gegnern behauptete Probleme dar. Für eine Ratifizierung des Vertrags sprächen aber die inzwischen verbesserte Kontrolle der EU-Politik im irischen Parlament durch den EU-Ausschuss sowie die verbesserte Transparenz in den EU-Prozessen. Der Bedarf an weiteren Verbesserungen könne und solle im Rahmen des EU-Konvents zur Zukunft Europas gedeckt werden. Ähnlich der Entwicklung zwischen den Parteien und im Europaforum war zudem, dass auch in einigen Pro-Argumentationen der Presse durchaus Skepsis gegenüber einer weiteren EU-Integration bzw. Föderalisierung deutlich wurde. Wiedergegeben und teils vorangetrieben wurde in den Medien auch die neue Auseinandersetzung über die Immigrationsproblematik, vorgebracht wurden außerdem Einwände gegen den umfangreichen neuen Art. 133 des EU-Vertrags zur Etablierung einheitlicher Grundsätze einer gemeinsamen Handelspolitik, der im Vertrag von Nizza vereinbart worden war. Er zeuge, so die Kritik, davon, dass die EU-Politik von Liberalisierung und der Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen geprägt und überhaupt von Konzerninteressen dominiert sei. Die Argumentationen gegen eine Verfassungsänderung in der avisierten Form waren in der überregionalen Presse etwas vielfältiger als im Parlament und im Europaforum, reflektierten aber insgesamt die dort dominanten Argumente: die Furcht vor einer Militarisie-
489 Argumentiert wird, dass der Vertrag von Nizza kaum außen- und sicherheitspolitische Regelungen enthält, sondern lediglich eine Weiterentwicklung der Schnellen Eingreiftruppe darstellt. Von einigen Befürwortern wird im Laufe der Debatte eingestanden, dass der Vertrag ein Schritt in der Weiterentwicklung der gemeinsamen Verteidigungspolitik sei. Allerdings wird dabei argumentiert, dass diese sinnvoll sei, um gemeinsam Frieden und Menschenrechte umzusetzen. 490 Irland würde marginalisiert und im Extremfall seinen Einfluss in der EU ganz verlieren, sollten sich die anderen EU-Mitglieder dafür entscheiden, eine neue Union oder einen engeren Zirkel ohne Irland zu schaffen.
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rung der EU und Gefährdung der irischen Neutralität,491 die Abgabe von Souveränität an die EU, die Gefährdung irischer Interessen und Werte492 sowie das Demokratiedefizit.493 Ablehnende Medienartikel betonten ähnlich den politischen Gegnern der Verfassungsänderung, dass der Nizza-Vertrag für eine EU-Erweiterung gar nicht notwendig sei und die eigentlichen Intentionen vieler Klauseln des nicht in der Erweiterung der EU lägen. Gegen diese wurde grundsätzlich nichts eingewendet. Hinzu kamen als Nein-Argumente die vom Nizza-Vertrag vorgeblich ausgehende Gefahr eines „Zwei-Klassen-Europas“ sowie die durch ihn verschlechterten Ausgangsbedingungen für die EU-Beitrittsstaaten.494 Insgesamt waren die einzelnen Nachrichten und Meinungsbeiträge in der überregionalen Presse (wie bereits im Frühjahr 2001) jeweils sehr viel ausgeglichener als die Beiträge im Parlament und im Europaforum: Pro- und Kontra-Argumente wurden relativ ausgewogen erörtert bzw. wiedergegeben. Das Übergewicht in der Wiedergabe von Kritik am Vorhaben lag im Interesse von Medien (Kapitel 2.1), Interesse, Spannung und Neugier bei den Konsumenten zu wecken. Es war aber nur leicht ausgeprägt, obwohl das öffentliche Ansehen der Regierung seit Sommer 2002 kontinuierlich sank und eine klare Negativberichterstattung möglicherweise dem Interesse von Medien entgegengekommen wäre, ihre Konsumenten zu befriedigen und zu bestätigen. Die eher „visionären“, emotionalen Argumentationen der Pro-Seite (EU schafft Frieden und Stabilität in Europa, Dankbarkeit Irlands für bisherigen Nutzen aus der EU-Mitgliedschaft, Wichtigkeit der Erweiterung für die Beitrittsländer) wurden anders als in den Parlamentsdebatten eher am Rande erwähnt. Stattdessen dreht sich die Diskussion im Kontrast zum Parlament eher um viele Detailfragen: was genau einzelne Klauseln des Vertrags implizierten, welche Konsequenzen sie hätten, welche rechtliche Wirkung die entgegenkommenden Maßnahmen der Regierung entfalteten. Am Ende der kompetitiven Phase nahm bei einer leichten Tendenz zu einer ratifizierungsfreundlichen Berichterstattung die Detailfülle besonders hinsichtlich Einwänden noch zu. Ungeachtet des erheblichen Aufwandes der Politik und der ausgeweiteten Berichterstattung der Medien war ein Großteil der Bevölkerung in der kompetitiven Phase nach wie vor uninformiert oder fühlte sich so. Mitte September konnten etwa 40 Prozent in einer repräsentativen Befragung nicht sagen, worum es im Vertrag von Nizza ging. Es war den Befürwortern der Verfassungsänderung aber gelungen, im Bewusstsein der restlichen 60 Prozent ihre wichtigsten Themen zu platzieren, denn deren Mehrheit benannte die EUErweiterung und die Neutralität als wichtigste Punkte der bevorstehenden Entscheidung. 55 Prozent waren sich dessen bewusst, dass die Verfassungsänderungsvorlage Irland die Beteiligung an einer Verteidigungsallianz verbot, und 40 Prozent gaben an, diese Änderung zu 491 Zwar konzedierten einige Beiträge, dass der Vertrag von Nizza keine gemeinsame Verteidigungsallianz impliziere, doch kritisierten sie die Beteiligung Irlands an der Schnellen Eingreiftruppe. 492 Irland verliere an Stimmengewicht in Rat und Parlament, die Möglichkeit eines Vetos in mehreren Politikbereichen, das Recht auf einen Kommissar in einer EU aus 27 Mitgliedstaaten. Dadurch könne es nicht mehr adäquat die EU-Entscheidungen beeinflussen, was negative Konsequenzen für Irland nach sich ziehe. Problematisch sei dies vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verlagerung von Kompetenzen an die EU. In diesem Zusammenhang wurde auch die Billigung der Grundrechtecharta kritisiert. 493 Die Institutionen der EU arbeiteten undemokratisch und intransparent; Nizza verschärfe das Problem der Repräsentation der (irischen) Bürger und erschwere die Partizipation und die Vertretung irischer Interessen noch mehr. 494 Anders als ehemals Irland müssten sie die EU-Rechte übernehmen, Ausnahmeregelungen betreffend die Freizügigkeit und finanzielle Hilfen für die Landwirtschaft akzeptieren, träten einer von den großen Staaten dominierten EU bei und seien an der Ausgestaltung der zukünftigen EU, die sie selbst betreffe, nicht mit Stimmrecht beteiligt.
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6.3 Irisches Fallbeispiel (2002)
verstehen (Referendum Commission 2002b: 2). Obwohl das Engagement von Politik und Medien also teils durchaus effektiv war, nahm die Bevölkerung andere, europapolitisch ebenfalls relevante Entwicklungen kaum wahr – ganz besonders den laufenden Konvent, und entwickelte kein besseres Verständnis der EU-Institutionen insgesamt (Brown 2003: 1f.; EORG 2003). Das Bewusstsein für die Europa- und EU-Politik war also national und ereignisspezifisch zugeschnitten auf das Ja oder Nein zur Verfassungsänderung. Bis zum Referendum gelang es der Ja-Seite durch eine noch einmal massiv verstärkte Kampagne, die Stimmung weiter positiv zu beeinflussen. In Befragungen im Oktober zeigte sich im Vergleich zu 2001 ein weit höheres Niveau an Interesse und bekundetem Verständnis europäischer Angelegenheiten. Die Einberufung des Europaforums, die interpersonelle Kommunikation dort, die Debatten im Parlament sowie die Medienberichterstattung und die Kampagnen hatten das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und das Vertrauen in die EU-Institutionen gestärkt. Dies beeinflusste sowohl die Wahlbeteiligung als auch das Abstimmungsverhalten positiv (EORG 2003; Brown 2003: 1f.): Am 19.10.2002 beteiligten sich knapp 49,5 Prozent der Wahlberechtigten am Verfassungsreferendum. 62,9 Prozent der Teilnehmer votierten für die Verfassungsänderungsvorlage der Regierung, 37,1 Prozent dagegen (Tab. A 15). In allen 41 Wahlkreisen sprach sich eine Mehrheit für die Annahme der Verfassungsänderung aus. Die absolute Zahl der aktiven Nizza-Befürworter hatte sich gegenüber 2001 verdoppelt, die der Nein-Stimmen war fast gleich geblieben. Wahlanalysen zeigten, dass alle, die sich im ersten Referendum enthalten hatten, aber am zweiten beteiligten, mit ja votierten, während die aktiven Gegner von 2001 trotz der Zugeständnisse bei ihrem Nein blieben (RTÉ News o.J.; O’Brennan 2003b; Gilland 2002b: 5; Brown 2003: 1f.). Tabelle 45: Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall I Streitpunkt
Ort des Konflikts
Schutz irischer Interessen innerhalb der EU-Organe und –Entscheidungsverfahren
Regierungsparteien vs. Oppositionsparteien; innerhalb der Wahlbevölkerung
Wahrung der demokratischen Selbstbestimmung, Repräsentation irischer Interessen
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Transparenz der EU-Politik, Zurechenbarkeit der Entscheidungen, Kontrolle
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
militärische Neutralität Irlands Verkopplung der EU-Osterweiterung mit der EUInstitutionenreform
Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF, Sozialisten; innerhalb der Wahlbevölkerung Regierungsparteien, Fine Gael, Labour vs. Greens, SF; innerhalb der Wahlbevölkerung
Ergebnis Oktober 2002 Europapolitisches Konzept der Regierung favorisiert Status quo und betont die Rolle des Nationalstaats; Konzentration auf nächsten EU-Gipfel während der irischen Ratspräsidentschaft 2004; mäßige Beteiligung am Europäischen Konvent Fortsetzung des Europaforums (EU-Konventsthemen), Beibehaltung von Vertretern der Opposition auf dem EU-Konvent, Dialog Regierung – Parlament in der Europapolitik (mäßige) europapolitische Transparenzverpflichtung der Regierung, (mäßige) Kontrolle durch das Parlament Neutralitätsdeklarationen Irlands und der EU, veränderter Text der Verfassungsänderung faktische Verknüpfung wird von der Mehrheit als „Leitthema“ anerkannt
306
6 Die kompetitive Phase
Nur ein Teil der– zahlreichen – inhaltlich Unentschlossenen konnte letztlich von einer Zustimmung überzeugt werden – durch Informationen, vertrauensbildende Maßnahmen495 (Kommunikation im Europaforum, Sevilla-Deklarationen, Hervorhebung der Bedeutung der Bürger, Eingeständnis von Fehlern), konkrete einlenkende Schritte (Neutralität, parlamentarische Kontrolle) und/oder die im Vergleich zu 2001 noch viel stärkere Hervorhebung der Entscheidungsdimension EU-Osterweiterung, die in der Bevölkerung eine große Zustimmung fand (EORG 2003: 3f.). So kam es zu einem Votum für den im Nizza-Vertrag fixierten durchaus deutlichen institutionellen Wandel der EU, obwohl die klare Mehrheit der Bevölkerung im Herbst 2002 das Tempo der europäischen Integration wie schon 2001 als zu hoch bewertete und eigentlich den Status quo präferierte (EORG 2003: 3). Der verfassungspolitische Aushandlungsprozess schloss hinsichtlich der Konfliktthemen mit dem in Tab. 45 wiedergegebenen Stand.
6.4 Deutsches Fallbeispiel (1997) Wie in Kapitel 5.4 zu sehen war, hatte die teils deutliche Annäherung der Problemwahrnehmung und der Positionen der Akteure in der kooperativen Phase im deutschen Fallbeispiel noch nicht zu einer Zustimmung zur initiierten Verfassungsänderung geführt. Um so schnell wie möglich das Argument der Opposition entkräften, sie stellte keinen Blankoscheck für unbekannte materiellrechtliche Inhalte aus, und dem Bundesrat Gelegenheit zu geben, seine konkrete Position darzulegen,496 versuchte die Regierungsmehrheit auf Bundesebene nun in rechtlich problematischer Weise, die einfachgesetzliche Regelung vorzuziehen: Sie plante, im Gesetz über die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform eine Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer festzuschreiben, obwohl es hierfür zum Verabschiedungszeitpunkt gar keine verfassungsrechtliche Ermächtung gab. Im Zweiten Bericht des Finanzausschusses zum entsprechenden Gesetzgebungsvorgang hieß es, nach der Abstimmung über die Grundgesetzänderung, die aber „derzeit“ nicht zur Abstimmung gestellt werden solle, werde die übliche Reihenfolge des Inkrafttretens von Grundgesetzänderung und einfachgesetzlicher Regelung wieder hergestellt (Drs. 13/7000). Eine Klausel des Gesetzes sah vor, dass die einfachgesetzliche Regelung erst nach Inkrafttreten der Grundgesetzänderung wirksam würde, die nachgeholt werden sollte, wenn die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag vorläge (DBT/BR o.J.: A3, 48: 20f.; DBT 1997b: 14505; DBT/BR o.J.: A3, 47: 23 ff.; ebd.: A3, 61, Anl.). Faktisch hätte das Gesetz zur Unternehmensteuerreform beim Bundespräsidenten „auf Halde“ liegen können, bis die Mehrheitsverhältnisse die Verabschiedung der für sein Inkrafttreten notwendigen Grundgesetzänderung zuließen. In einer (angesichts nach wie vor deutlich divergierender Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat) ohnehin polarisierten innenpolitischen Atmosphäre war absehbar, dass dieses Verhalten negative Reaktionen bei der Opposition hervorrufen würde. Doch auch in der CDU selbst gab es Uneinigkeit über die inhaltliche Position zum Steuervorhaben, was auf die Bewusstwerdung unterschiedlicher Interessen bei teils verspäteter Auseinandersetzung mit dem Vorhaben und dem entsprechenden Diskussionsverlauf 495 Ein hohes Vertrauen in die EU-Institutionen ging nicht immer mit einem adäquaten Verständnis der betreffenden Institutionen oder Wissen über sie einher (EORG 2002: 3). 496 Die FDP wollte außerdem „den Arbeitslosen, den Bürgern“, die das Gerede satt seien, endlich ein Ergebnis vorlegen (DBT 1997b: 14520).
6.4 Deutsches Fallbeispiel (1997)
307
zurückgeführt werden kann. Ostdeutsche CDU-Abgeordnete stellten nun gegenüber dem parlamentarischen Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Hauser, ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf infrage, sollten die ostdeutschen Kommunen keinen finanziellen Ausgleich für die Ausfälle aus der nichterhobenen Steuer erhalten. Auch der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel engagierte sich öffentlich dafür. Die Regierungsfraktionen sahen sich gezwungen, wegen der Differenzen in den eigenen Reihen die für den 21.02.1997 geplante Verabschiedung des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform kurzfristig von der Tagesordnung des Bundestags zu nehmen. Erst nachdem die Bundesregierung den ostdeutschen Kommunen als Ausgleich eine Verbesserung der Kreditfinanzierung angeboten hatte, fand eine Woche später die zweite und dritte Lesung im Bundestag statt. Alle 286 anwesenden CDU-/CSU-Abgeordneten, darunter alle ostdeutschen, votierten nun in namentlicher Abstimmung für die Gewerbesteuerreform.497 Der Leipziger CDU-Abgeordnete Gerhard Schulz erklärte, das Angebot der Bundesregierung kompensiere die nichterhobene Steuer nur unvollständig. Nach seinen Worten wäre es jedoch „ein toller Akt der Solidarität“, „wenn sich nun aber die Länder im Bundesrat bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuß darauf verständigen könnten, daß sie aus ihren Mitteln eine zusätzliche Kompensation für die ostdeutschen Kommunen bereitstellen“. Damit wurde die (weitere) Verantwortung an die (West-)Länder abgeschoben (DBT 1997b: 14525). Der Bundestag nahm das Gesetz mit insgesamt 330 zu 293 Stimmen an.498 Die SPD äußerte sich in der Lesung viel weniger differenziert als im Ausschuss. Zum einen sprach sie sich ganz gegen eine Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer in Westdeutschland aus, aber auch gegen ihre Einführung in Ostdeutschland (DBT 1997b: 14516), zum anderen wies die Fraktion für „die gesamte SPD einschließlich Ministerpräsidenten“ die Verabschiedung des einfachen Gesetzes vor der dafür notwendigen Grundgesetzänderung als „schweren Stilverstoß“ und als verfassungswidrig entschieden zurück (DBT/BR o.J.: A3, 48: 22; DBT 1997b: 14505). Es handle sich um die „rein taktische Absicht, im Bundesrat eine Mehrheit zu erhalten, um anschließend Druck auf uns auszuüben, Ihren unzureichenden Grundgesetzänderungen zuzustimmen“. Die SPD erklärte, es wäre völlig ausreichend, gemeinsam kurzfristig eine weitere Aussetzung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern für 1997 zu beschließen und dann noch einmal ein ordentliches Verfahren über eine Grundgesetzänderung durchzuführen (DBT 1997b: 14506). Auch Bündnis 90/Die Grünen und die PDS kritisierten das Vorgehen als „befremdend“ und „weder in der Sache noch aus verfassungsrechtlichen Gründen nachzuvollziehen“. Die Regierungsparteien müssten, so die PDS, „schon lange den Blick für Rechtssicherheit und politische Kultur verloren haben“ (DBT 1997a: 14239; DBT 1997b: 14522). Die Grünen kritisierten außerdem das sehr aufeinander bezogene Verhalten von CDU/CSU, SPD und Ländern als „großkoalitionäres Getue“ (DBT 1997a: 14241). Die PDS lehnte die Grundgesetzänderung auch inhaltlich ab, da sie (wie die SPD) die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer als Einstieg in den Ausstieg aus der Gewerbesteuer betrachtete. Zudem 497 Das Gesetz sah u.a. die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer vor, die Ausdehnung des Freibetrags bei der Gewerbeertragsteuer auf jeden vollhaftenden Gesellschafter/Geschäftsführer einer Personengesellschaft, die Spreizung der Staffelstufen bei der Gewerbeertragsteuer, die Beteiligung der Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen mit einer Härteregelung sowie die Reduzierung der degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens. 498 Aus der Fraktion von CDU/CSU waren acht, aus der FDP-Fraktion drei Abgeordnete nicht anwesend. Nur einer von ihnen, Joachim Günther (FDP), kam aus Ostdeutschland, doch befürwortete er die Gewerbesteuerpläne.
308
6 Die kompetitive Phase
stünde der Verteilerschlüssel für die einzelnen Gemeinden noch immer nicht fest. Sie erklärte aber, einer Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer als Substanzsteuer zuzustimmen, sofern in Art. 28 GG eine Bestandsgarantie für die verbleibende Gewerbesteuer gegeben und eine umfassende Reform der Kommunalfinanzen vorgenommen würden (DBT/BR o.J.: A1, 26: 41; A3, 49: 21). Damit hatte die Gruppe der PDS ihre Position bei stabilen Grundsätzen weiter der von SPD und Bündnis 90/Grünen angenähert, ergänzte sie aber um weitere Forderungen, die den Rahmen des konkreten Vorhabens überschritten.499 Im Plenum des Bundestags wurde wegen der inhaltlichen Verbindung neben dem Gesetz auch die Grundgesetzänderung debattiert, insbesondere die zusätzliche Absicherung der Gewerbeertragsteuer in Art. 28 GG, wie sie die Oppositionsparteien forderten, aber die CDU/CSU aufgrund der rigiden Haltung der FDP gemeinsam mit dieser ablehnte. Hierbei wurden zwar dieselben Kritikpunkte und Forderungen genannt wie zuvor, aber die Opposition lehnte das Gesetz und die Grundgesetzänderung weniger mit Verweis auf ihre konkreten Inhalte ab, sondern argumentierte vor allem mit ihrer Funktion als Instrument, um das von FDP und CDU/CSU genannte strategische Ziel der kompletten Abschaffung der Gewerbesteuer zu erreichen (DBT 1997b). Insofern handelte es sich auch um einen Akt symbolischer Ablehnung dieser Wirtschafts- und Finanzpolitik im Großen. Ihrerseits widersprachen die Koalitionsfraktionen dem Vorschlag der SPD und des Bundesrates zur Einsetzung einer Gemeinsamen Kommission zur Reform der Kommunalfinanzen nicht sachlich-inhaltlich, sondern lehnten ihn ab, da die Legislaturperiode bereits weit fortgeschritten war und kaum noch Gelegenheit bestünde, dass sich der 13. Deutsche Bundestag mit den Ergebnissen einer solchen Kommission auseinandersetzte. Das Gesamtthema „Finanzverfassung“ müsse man daher in der nächsten Legislaturperiode in einem größeren Rahmen diskutieren (DBT/BR o.J.: A3, 49: 36). Diese Begründung ließ unberücksichtigt, dass nicht nur die genannten Anträge bereits vier Monate alt waren, sondern dass bereits im Mai 1995 erste ähnliche Entschließungsanträge vorgelegen hatten. Entgegen den Erwartungen des Bundesfinanzministeriums lehnte der Bundesrat am 25.04.1997 das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform ab und folgte damit der Empfehlung seines federführenden Finanzausschusses vom 11.04.1997. Er begründete diese Ablehnung erstens mit dem bereits im Bundestag von der Opposition kritisierten Verfahren,500 zweitens mit dem fehlenden Einvernehmen mit Bundesländern und Gemeinden. Worin noch Dissens bestand, konkretisierte der Bundesrat nicht. Drittens schüfen die vorgesehenen Gegenfinanzierungsregelungen für Länder und Gemeinden keinen vollen finanziellen Ausgleich, was angesichts der angespannten Haushaltslage aller Gebietskörperschaften nicht verkraftbar wäre. Für die neuen Bundesländer hätte das Gesetz insbesondere beträchtliche Steuerausfälle in 1997 zur Folge, die die Haushalte der Länder und der Gemeinden massiv belasten würden. Viertens sei die in den alten Ländern vorgesehene 499 Sie forderte im Rahmen einer „sozialen und ökologischen Reform von Steuern und Abgaben“ eine deutliche Anhebung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer von 15 auf 20 Prozent, einen angemessenen Ausgleich für die in den ostdeutschen Kommunen nicht erhobene Gewerbekapitalsteuer in Form eines Infrastrukturprogramms, und – unter Verweis auf einen entsprechenden Vorschlag der ostdeutschen Kommunalverbände – die Einführung einer kommunalen Investitionspauschale, die der Bund direkt und unbürokratisch an sie ausschütten sollte (DBT 1997b: 14522). 500 Ein Gesetz, das erst nach der hierfür notwendigen Grundgesetzänderung beschlossen werden könne, dürfe wegen deren besonderer politischer Bedeutung nicht isoliert vorab beraten werden. Erst durch eine umfassende Diskussion aller Auswirkungen der beabsichtigten Neuregelung, insbesondere der Verfassungsänderung, wäre den Gesetzgebungsorganen die vollständige Grundlage für ihre Entscheidung gegeben.
6.4 Deutsches Fallbeispiel (1997)
309
Härtefallfondsregelung nicht praktikabel, da „auch nicht näherungsweise“ Kriterien erkennbar wären, aufgrund derer eine Verteilung der Mittel unter den Gemeinden erfolgen könnte. Da keine belastbaren Daten vorlägen, würde es selbst durch den geplanten Härtefallfonds nicht zu vermeiden sein, dass es Verlierergemeinden geben würde. Auch der Verteilungsschlüssel auf die Gemeinden der neuen Länder sei mangelhaft, da allein das bisherige Gewerbesteueraufkommen für die Verteilung ausschlaggebend sein sollte (BR Drs. 221/1/97). Mit dieser Begründung fasste der Bundesrat alle bereits zuvor im Bundestag und von den kommunalen Spitzenvertretern erhobenen Kritikpunkte zusammen. Spezifische neue Einwände oder Zielsetzungen formulierte er nicht, beharrte aber auf Forderungen, von denen die kommunalen Spitzenverbände, um Einigkeit zu erreichen, in den Verhandlungen bereits abgerückt waren. Die rigide Position wurde dadurch verstärkt, dass der Bundesrat dem Antrag Sachsens nicht zustimmte, den Vermittlungsausschuss anzurufen (BR Drs. 221/5/97). Dieses strikte Entscheidungsverhalten ist teilweise durch wahltaktische Überlegungen der SPD unter Lafontaine und der SPD-geführten Länder angesichts der bereits avisierten Bundestagswahlen 1998 zu erklären (Zohlnhöfer 1999, 2000). Allerdings hatten die Regierungsfraktionen das Gesetz von vornherein durchgedrückt, obwohl ein inhaltliches Zustimmungsrisiko bestand, und damit selbst eine Lösung über den Vermittlungsausschuss provoziert. Diesen rief am 28.04.1997 die Bundesregierung an. Bis er im Juli tagte, standen die geplante Große Steuerreform, insbesondere die Rückführung des Spitzensteuersatzes, die Erhöhung von Mineralöl- und Mehrwertsteuer (zur Gegenfinanzierung der Haushaltslöcher), die Rentenreform sowie die auf Drängen der FDP vorgesehene Kürzung des Solidaritätszuschlages im Fokus der öffentlichen politischen Auseinandersetzungen. Die erheblichen Differenzen bei diesen Themen führten zu langwierigen, jeweils auch parteiinternen Diskussionen. FDP und SPD zeigten nach außen keine Bereitschaft zu politischen Kompromissen, während die Unionsregierung, insbesondere Wolfgang Schäuble (CDU) und Bundesfinanzminister Waigel (CSU), im Vergleich zu ihrem bisherigen Verhalten Kompromissbereitschaft hinsichtlich Inhalten und Abstimmungsverfahren signalisierten – Waigel als CSU-Vorsitzender sogar bei Widerständen in der eigenen Partei. Sie befürchteten, dass die öffentliche Wahrnehmung einer durchsetzungsschwachen Bundesregierung Ansehensverluste und Wahlniederlagen herbeiführen könnte. In der SPD wiederum gab es nicht nur inhaltliche Diskussionen, sondern auch den Zweifel, ob die Wähler eine strikte Ablehnung steuerpolitischer Kompromisse nicht als „Blockade“ bestrafen würden (Zohlnhöfer 2000: 720-723). Der federführende Rechtsausschuss des Bundestages diskutierte die Grundgesetzänderung nach bis dahin sechs Vertagungen erstmals am 14.05.1997.501 Die SPD-Fraktion bezeichnete den Entwurf dort weiterhin als „nicht beratungsreif“, da sich am Sachstand nichts geändert habe (DBT/BR o.J.: A3, 61: 5f.), doch die CDU-/CSU-Fraktion und das Bundesfinanzministerium verwiesen darauf, dass die Vorlage im Finanzausschuss bereits Zustimmung gefunden habe, dass die einfachgesetzlichen Regelungen im Bundestag bereits verabschiedet worden seien und dass die Grundgesetzänderung dem derzeit im Vermittlungsaus501 Am 09.10.1996 hatte der Ausschuss das Vorhaben erstmals näher besprochen (DBT/BR o.J.: A3, 54: 1f.), darüber hinaus nicht. Trotzdem hatte die CDU im Ausschuss mehrfach auf die Annahme der Beschlussempfehlung gedrängt, etwa am 06.11.1996, als der Ausschuss über die Verfassungsänderung auf Basis einer Vorlage entscheiden sollte, die das Finanzministerium den Beteiligten einen Tag zuvor hatte zukommen lassen (ebd.: A3, 55).
310
6 Die kompetitive Phase
schuss ausgehandelten Kompromiss vorausgehen müsse (DBT/BR o.J.: A3, 61: 5). Gemeinsam beschlossen die Koalitionsvertreter die Empfehlung der Gesetzesannahme, während Vertreter der FDP (sic!), der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen die mangelnde gemeinsame Beratung im Ausschuss kritisierten und verfassungsrechtliche Bedenken äußerten (DBT/BR o.J.: A3, 61: 6). Am 23.05.1997 unternahm die Freie und Hansestadt Hamburg mit einem eigenen Gesetzesantrag im Bundesrat einen neuen inhaltlichen Vorstoß (BR. Drs. 385/97), verfolgte jedoch dabei nicht spezifisch hamburgische Interessen. Der hamburgische Senatspräsident und Erste Bürgermeister Henning Voscherau war finanzpolitischer Koordinator des Bundesrats, finanzpolitischer Sprecher der SPD, Vorsitzender des Vermittlungsausschusses und Verhandlungsführer der SPD dort und insofern prädestinierter Botschafter des Verhandlungswillens der SPD sowie der (SPD-)Bundesländer. Bereits bei den vorangegangenen Jahressteuergesetzen hatte es solcherart alternative Gesetzentwürfe der Bundesratsmehrheit gegeben. Inhaltlich sah der zweite Teil des vorgelegten Entwurfs für das Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform neben der Änderung des Art. 106 GG in der von der Regierungsmehrheit befürworteten Version auch eine Ergänzung des Art. 28 (2) Satz 3 GG vor. Die entsprechende Klausel berücksichtigte die Kritik des Bundesfinanzministeriums an der ursprünglich von der SPD gewünschten Formulierung (Kapitel 5.4) und sah keine spezifische Kommunalsteuer mehr vor.502 Sie blieb aber den bisherigen Forderungen der SPD und der Bundesratsmehrheit verpflichtet. In der Begründung hieß es, die Gesetzesinitiative solle sowohl die finanzielle Eigenständigkeit der Gemeinden als auch ihr Interesse an einer Ansiedlung von Unternehmen erhalten sowie die Gewerbeertragsteuer absichern. Nachdem im Mai und Juni 1997 im Finanz-, Innen- und Rechtsausschuss des Bundesrats jeweils die Vertreter aller Bundesländer für die Einbringung im Bundestag votiert hatten, übernahm der Bundesrat den Antrag Hamburgs am 04.07.1997 (BT-Drs. 13/8348) als eigene Initiative. Am selben Tag lehnte er die Steuerreformgesetze der Koalition ab, da sie finanzpolitisch unsolide, sozial unausgewogen und wirtschaftspolitisch verfehlt seien. Die Annahme des hamburgischen Gesetzentwurfes folgte damit zwei Kalkülen: Sie beinhaltete das Angebot eines substanziellen Kompromisses angesichts der angenäherten Verhandlungspositionen, jedoch auch ein taktisch motiviertes Angebot im Vorfeld der allgemeinen Steuerverhandlungen im Vermittlungsausschuss. Voscherau forderte, dieser sollte sich zunächst auf die Gewerbesteuerreform einigen und dann schrittweise auf eine in Einzelgesetze aufgesplittete Große Steuerreform. Im Kontrast zu den heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen zur Großen Steuerreform war diese im Vermittlungsausschuss aufgrund der sachlichen Differenzen und wahltaktischen Erwägungen ein Randthema; während der etwa 50 Verhandlungsstunden ging es fast ausschließlich um die Gewerbesteuer und die Grundgesetzänderung (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16850). Die SPD lehnte Einigungen jenseits der Gewerbekapitalsteuerfrage ab; stattdessen wollte sie ihr eigenes, im Mai 1997 vorgelegtes Steuerkonzept nach dem für 1998 angestrebten Sieg in den Bundestagswahlen selbst umsetzen (Kraeusel 1997: 143-160; Jauer 2003; Zohlnhöfer 2000: 723). Eine öffentliche Debatte zur Verfassungsänderung fand 502 Das Bundesfinanzministerium hatte den Verweis auf eine Kommunalsteuer in Art. 28 GG als rechtlich systemfremd kritisiert. Der neue Entwurf zur Ergänzung des Art. 28 GG sah allgemein „eine den Gemeinden zustehende wirtschaftsbezogene und mit Hebesatzrecht ausgestattete Steuerquelle“ vor, die zu den Grundlagen ihrer finanziellen Eigenverantwortung zähle.
6.4 Deutsches Fallbeispiel (1997)
311
nicht statt; in den Medien dominierten die allgemeine steuer- und wirtschaftspolitische Berichterstattung und andere tagespolitische Themen, wobei das dort transportierte Bild einer mutwilligen Gesetzgebungsblockade durch die SPD und die SPD-geführten Länder vorherrschte. Alle politischen Akteure fühlten eine starke Stimmung der Öffentlichkeit gegen eine „Blockadepolitik“503, die durch die im Frühjahr gehaltene „Ruck-Rede“ des Bundespräsidenten Roman Herzog wider eine angebliche politische Stagnation im Lande noch angeheizt worden war (Herzog 1997; Bissinger 1997). Die einen fürchteten, als tatenlos, die anderen, als Blockierer dazustehen. Hinsichtlich der Gewerbekapitalsteuer und der Grundgesetzänderung zeigte sich die CDU/CSU-Fraktion daher kompromissbereit und insbesondere erneut wesentlich kompromissbereiter als die FDP-Fraktion (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16850). Letztere hinterfragte weiter, ob die politischen Pläne überhaupt einer Grundgesetzänderung, zumal in der angestrebten Form, bedürften oder sich die mit ihr verbundenen Ziele nicht auch aus dem geltenden Verfassungsrecht und der bisherigen informellen Verfassungspraxis ableiteten. Der Anstoß zum Kompromiss ging nach zähen Verhandlungen erneut von Voscherau aus. Er rückte von dem von den Kommunen geforderten gemeindlichen Umsatzsteueranteil ab, den die SPD-Fraktion als Bedingung für ihre Zustimmung deklariert hatte (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16835). In der Verknüpfung parteipolitischer und Länderinteressen lag also nicht nur Blockadepotenzial, sondern im Gegenteil gerade auch Einigungspotenzial (vgl. Renzsch 1991: 259), das durch die moderate Verhandlungsführung Voscheraus gefördert wurde.504 Letztlich einigte sich der Vermittlungsausschuss auf umfangreiche Änderungen am Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform505 und verabredete am 30.07.1997 eine fraktionsübergreifende Gesetzesinitiative, Art. 28 (2) Satz 3 GG entsprechend der Bundesratsvorlage zu fassen, Art. 106 GG im Wesentlichen in der bereits vorliegenden Fassung abzuändern (DBT/BR o.J.: A3, 62: 5; DBT/BR o.J.: A3, 69) und die Kommunen zu 2,2 Prozent an der Mehrwertsteuer zu beteiligen. Die moderaten Kräfte setzten sich damit in beiden „Lagern“ durch (CDU/CSU gegenüber der FDP; einige SPD-Länder gegenüber der SPD) und gingen in den Punkten aufeinander zu, in denen bereits zuvor eine Kompromissbereitschaft erkennbar war: CDU/CSU bei Art. 28 GG, die SPD-Länder bei der Gewerbekapitalsteuer. Bei der finanziellen Einigung rückten ebenfalls beide Lager von bisherigen Positionen ab. Die Regierungskoalition konnte somit ihre Unternehmensteuerreform – wenngleich mit Abstrichen – durchsetzen und mit dem politischen Ergebnis vom Stillstand bei der 503 Eine grundsätzliche Blockadepolitik ließ sich in der 13. Legislaturperiode nicht feststellen: Bei 565 im Bundesrat behandelten Gesetzesbeschlüssen betrug die Quote der Anrufungen des Vermittlungsausschusses 14,7 Prozent (83 Mal), nur 20 Gesetze (3,5 Prozent) scheiterten an einer versagten Zustimmung (Schindler 2000). Richtig ist aber, dass der Bundesrat oft Schlüsselreformen der Bundesregierung stoppte oder ihre Reichweite minderte. 504 Voscherau, seit Januar 1996 Nachfolger Lafontaines als Vorsitzender des Vermittlungsausschusses, genoss im Gegensatz zu seinem polarisierenden Vorgänger das Ansehen vieler in den Steuerverhandlungen vertretener Akteure, da er als Realist, „Polit-Notar und begnadeter Machtpolitiker im Machtkampf um den Ausgleich der Finanzen zwischen Bund und Ländern“ galt. Er stand zudem nicht im Zentrum der SPD (Grunenberg 1996). 505 Im Vermittlungsverfahren wurden veranlasst: keine Abführung der Gewerbesteuerumlage durch ostdeutsche Gemeinden 1997, Streichung der Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften, Ausschluss missbräuchlicher Gestaltungen bei der steuerlichen Verrechnung von Verlusten ab 1997, Senkung des besonderen Steuersatzes für außerordentliche Einkünfte, Härtefallausgleich für Gemeinden sowie Regelungen im Körperschaftsteuer- und im Umwandlungssteuergesetz.
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6 Die kompetitive Phase
Großen Steuerreform ablenken. SPD und SPD-geführte Länder konnten den Verweis auf (bereichsweise) Kooperation (Zohlnhöfer 2000: 723) nutzen, um dem allgegenwärtigen Blockadevorwurf entgegentreten. Sie konnten darauf verweisen, dass sie sich „vernüftigen“ Kompromissen nicht verschlossen, zumal die Kommunen sich mit dem Regierungs- bzw. Koalitionsentwurf bereits einverstanden erklärt hatten. Darüber hinaus konnten sie sich als Verfechterin der Gemeindeinteressen profilieren. All dies konnte Verhandlungsführer Voscherau sogar einen nichtsubstanziellen Nebennutzen im Hinblick auf die im September 1997 bevorstehenden Hamburger Senatswahlen erbringen.506 Obwohl wie bei anderen Materien im Vermittlungsverfahren parteipolitische Gesamterwägungen gegenüber fachpolitischen und praktisch-technischen Fragen dominierten, war die Anlage des Kompromisses aber eindeutig durch die inhaltlichen Annäherungen in der kooperativen Phase vorstrukturiert. Hier hatten alle Akteure einen Konsens darüber entwickelt, dass eine Entscheidung zur Gewerbesteuerproblematik sich mit Blick auf die neuen Länder nicht mehr lange aufschieben lasse; ein endgültiges Scheitern der Verhandlungen erschien daher nicht opportun. Die durch die Fachpolitiker austarierten Annäherungsoptionen schienen angesichts dessen ausreichend für eine Einigung. Gegenüber der FDP verwies die CDU-/CSU-Bundestagsfraktion darauf, dass ein Scheitern der Verhandlungen wirtschaftspolitisch schädlich wäre. Die Liberalen stimmten aber letztlich nur aus Koalitionsräson und infolge fehlender Handlungsalternativen zu.507 Auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen war mit dem ohne ihr Zutun vereinbarten Kompromiss sehr unzufrieden, stimmte ihm aber zu.508 Sie sah den Nutzen in der von ihr lange geforderten Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der verbesserten verfassungsrechtlichen Absicherung der kommunalen Finanzautonomie, begründete ihre Entscheidung also mit substanziellen Motiven. Auch bei diesen beiden Parteien hatten die Gespräche während der kooperativen Phase und die Akzeptanz von ihnen vorgebrachter Argumente durch SPD und CDU/CSU eine Zustimmung gefördert. Damit ergab sich nach den Vermittlungsgesprächen der in Tab. 46 festgehaltene Aushandlungsstand. Bereits einen Tag nach Abschluss der Verhandlungen, am 05.08.1997, beriet der Bundestag den Entwurf der Grundgesetzänderung in Art. 28 auf einer von der Regierungskoalition beantragten Sondersitzung. Obgleich ihr formaler Anlass die Zurückweisung des Vermittlungsauschussergebnisses zur Steuer- und Rentenreform (Steuerreformgesetze 1998 bzw. 1999) war, diente sie nach eigenem Bekunden der CDU/CSU-Fraktion nur dazu, die Grundgesetzänderung auf den Weg zu bringen. Die Fraktion argumentierte sogar, die Annahme des vereinbarten Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform und der (formal eigentlich gerade erst eingebrachten) Grundgesetzänderung hätten die Qualität einer dritten Lesung eines Bundesgesetzes durch den Bundestag, wodurch der Bundesrat auf seiner Sondersitzung am 05.09.1997 ebenfalls diesem Vermittlungsergebnis zustimmen könnte. Dies schaffe schnelle Rechtssicherheit für die Finanzbehörden in den neuen Bundesländern, die die Gewerbekapitalsteuer nun nicht zu erheben bräuchten (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16859). 506 Dies traf jedoch nicht ein, da lokale Themen die Wahlentscheidung in Hamburg prägten. Die SPD musste Verluste hinnehmen und Voscherau verlor seinen Posten als Bürgermeister. 507 Da sie in großer politischer Distanz zur SPD stand, konnte die FDP ihre Verhandlungsmacht innerhalb der Koalition nicht dadurch erhöhen, dass sie mit Abwanderung zur größten Oppositionspartei drohte. 508 Sie betrachtete den erzielten Kompromiss als überfällig und wollte hinsichtlich der anderen Steuergesetze eine Annäherung erreichen, was nicht gelang.
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6.4 Deutsches Fallbeispiel (1997)
Tabelle 46: Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall D Streitpunkt Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts globalen Standortwettbewerbs
Ort des Konflikts Bundesregierung intern, CDU/ CSU, FDP, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPD, SPDgeführte Bundesländer, Bündnis 90/Die Grünen, PDS
Ergebnis September 1997 gemeinsame Problemwahrnehmung
steuerliche Finanzverflechtung im bundesdeutschen Föderalismus
Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP, CDU-/CSUgeführte Bundesländer vs. SPDgeführte Bundesländer, SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS
nicht konzeptionell in den engeren Aushandlungen thematisiert; Kompromiss in differenziertem und umfassendem Ausgleichsmodell (damit Perpetuierung der Verflechtung)
Wettbewerb der Kommunen vs. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (inkl. praktische Umsetzung)
Bundesregierung, CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CDU-/CSU-geführte Bundesländer vs. SPD, SPD-geführte Bundesländer, PDS
gemeinsame Problemwahrnehmung, Kompromissmodell
Gewährleistung kommunaler Finanzautonomie (inkl. Kompensationsvolumen)
Bundesregierung intern, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS, Bundesländer
Unterbindung von Kostenabwälzungen an die Kommunen
Bundesregierung, CDU/CSU, FDP vs. SPD, Bündnis 90/Grüne, PDS
gemeinsame Problemwahrnehmung; kleine Systemveränderung bei hohen Ausgleichszahlungen an die Kommunen in Ansätzen gemeinsame Problemwahrnehmung, keine Maßnahme
Die Redebeiträge dienten wieder der öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung über die allgemeine Innenpolitik. Bundesfinanzminister Waigel appellierte an die Ministerpräsidenten, in Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl ihre Blockadehaltung trotz Verhandlungs- und Kompromissvorschlägen von seiten der Regierungskoalition aufzugeben (DBT/BR o.J.: A1, 20: 16835 ff.), während die SPD-Fraktion weiterhin eine umfassende, aber haushaltsneutrale und gerechte Steuerreform forderte (ebd.: 16844). Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen rief den Bundeskanzler dazu auf, die Abstimmung über ein neues Steuerkonzept mit der Vertrauensfrage zu verknüpfen (ebd.: 16851f.). Die PDS, die bereits im Juni 1997 Neuwahlen im Bundestag ergebnislos beantragt hatte, schloss sich dieser Forderung an (ebd.: 168589). Den Anträgen der Regierungsfraktionen auf erneute Einsetzung des Vermittlungsausschusses in Sachen Steuerreform (ebd.: Beig. 2) sowie zur Mehrwertsteuererhöhung versagten die Oppositionsparteien ihre Zustimmung. Trotz scharfer Kritik an der Politik der Bundesregierung nahm der Bundestag die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform mit den Stimmen aller Fraktionen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS an und überwies den Gesetzentwurf zur Änderung von Art. 28 GG an den federführenden Rechtsausschuss, den Innen- und den Finanzausschuss. Wie alle Handlungen nach dem 30.07.1997 dienten die nachfolgenden Schritte nur noch dazu, das im Vermittlungsausschuss beschlossene politische Ergebnis gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu verabschieden, schon weil der Bundestag Einigungsvorschläge des Vermittlungsausschusses gemäß § 10 in dessen Geschäftsordnung nur annehmen oder ablehnen kann.509 509 Am 09.09.1997 befürwortete der Bundestags-Finanzausschuss in einer 25minütigen Sitzung bei Abwesenheit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den interfraktionellen Grundgesetzänderungsentwurf einstimmig (DBT/BR o.J.: A3, 51; A3, 52), der Innenausschuss folgte nach einmaliger, zehnminütiger Sitzung mit dem-
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6 Die kompetitive Phase
Nach den langen Aushandlungen, nach den Beratungen im Vermittlungsausschuss und nach der Lesung im Bundestag stellte Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jorzig erst am 10.09.1997 in der Sitzung des Rechtsausschusses noch eine unlogische Formulierung in der Vorlage fest, die korrigiert werden musste.510 Nur einen Tag später, am 11.09.1997, folgte der Bundestag nach zweiter und dritter Lesung der Gesetzentwürfe 13/1685 und 13/8340 (womit der Verfahrensweg schließlich doch eingehalten wurde) der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses in namentlicher Abstimmung. Von den 620 anwesenden Abgeordneten votierten 618 für die Grundgesetzänderung, zwei PDS-Abgeordnete enthielten sich (Tab. A 17). Ähnlich wie bei den Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen, FDP und den ärmsten Bundesländern lässt sich bei der PDS die Zustimmung zur Grundgesetzänderung nicht mithilfe des Kalküls individueller absoluter Gewinnmaximierung erklären, sondern nur unter Verweis auch auf die in der kooperativen Phase herausgebildete Wahrnehmung, dass eine Nichteinigung für die Kommunen und für die Unternehmen, insbesondere in den neuen Bundesländern, inakzeptabel sei, dass das Vorhaben bei allen Defiziten doch nicht grundsätzlich inkompetent und schlecht angelegt sei, dass Einwände berücksichtigt wurden und dass bessere Aushandlungsergebnisse sich wohl nicht erzielen ließen. Der federführende Rechtsausschuss, der Finanz- und der Innenausschuss des Bundesrates gaben dem Entwurf ebenfalls weitgehend ohne Beratung ihre Zustimmung.511 Dieser Empfehlung folgte der Bundesrat auf seiner Sitzung am 26.09.1997 (Tab. A 17). Damit wurde das Verfahren unspektakulär und ohne größere spezifische Öffentlichkeit abgeschlossen.
6.5 Zwischenbilanz Die in den vier Fallstudien dieses Kapitels untersuchte Aushandlungsphase unterschied sich von den vorangegangenen Phasen durch die kompetitive Interaktionsorientierung der zentralen beteiligten Akteure: Sie waren nicht prioritär an einem Zusammengehen und einer substanziellen Einigung mit ihren Mitspielern interessiert, wie in der kooperativen Phase, sondern an einer Maximierung des eigenen Gewinns – nicht aber wie in der individualistischen Phase in absoluter, die Erträge anderer ausblendender Form. Vielmehr kalkulierten sie ihr Handeln in Beziehung zu den Gewinnen anderer, wollten also relativ gut und besser im Vergleich zu diesen und unter Berücksichtigung allgemeiner innenpolitischer Wettbewerbskalküle dastehen. Dieses besonders bei den Nichtinitiatoren auffallende Verhaltensmuster beeinflusste den Gang der Aushandlungen und schuf spezifische Voraussetzungen für die abschließende Einigung auf die Verabschiedung der Verfassungsänderungen. Neben der Entscheidungskalkulation im engeren Sinne bestimmten strategische Erwägungen des Parteienwettbewerbs und taktische Erwägungen angesichts von Kontextentwicklungen die Wahrnehmung, in welchen Punkten der Status quo der Aushandlungen optimiert werden müsste. Nichtsubstanzielle Kalküle, etwa im Hinblick auf eine Imageverbesserung oder politische Profilierung, waren daher in der kompetitiven Phase sehr bedeuselben Abstimmungsergebnis am 10.09.1997 (DBT/BR o.J.: A1, 28). Zeitgleich fand die Sitzung des Rechtsausschusses mit erstmaliger und rein formaler Anhörung zu diesem Gesetzentwurf statt. 510 In Art. 28 (2) GG war das Hebesatzrecht auf die falsche Bezugsgröße bezogen worden. Den korrigierten Entwurf nahm der Ausschuss in dieser Fassung einstimmig an. 511 Laut Bericht des Rechtsausschusses des Bundesrats vom 19.09.1997 waren die Vertreter aller Bundesländer für die Vorlage, ebenso beim Innenausschuss (18.09.) und Finanzausschuss (17.09.) (DBT/BR o.J.: A3).
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6.5 Zwischenbilanz
tungsvoll und Parallelentwicklungen sowie die Medienberichterstattung konnten indirekt den Fortgang des Prozesses beeinflussen. Die Aushandlungen verengten sich in der kompetitiven Phase wieder deutlich auf zwei Kollektivakteure bzw. –blöcke (D512), auch wenn rein institutionell als Abstimmende mehr Akteure beteiligt waren und die Abgeordneten der Kollektivakteure oder die Senatoren individuelle Entscheidungsrechte besaßen. Verhandelt wurde nicht mehr in quasiregelmäßig tagenden Gremien, sondern eher punktuell. Prägend war immer ein Dualismus der beiden beiden verhandlungsmächtigsten Akteure. Intern besaßen die Fachpolitiker weiter eine große Bedeutung, insbesondere als Vermittler der Aushandlungsergebnisse. Die Kollektivakteure verließen sich angesichts der fachspezifischen Detailfülle der kooperativen Phase zuvor angestellten Überlegungen und getroffenen Vereinbarungen auf ihre Hilfestellungen. Argumente Dritter konnten den Gang der Ereignisse und die Abstimmungsinhalte nur dann beeinflussen, wenn sie von den beiden verhandlungsmächtigsten Akteuren aufgegriffen wurden. Nachdem in der vorangegangenen Phase eine Konfliktschlichtung in der kognitivdiskursiven, der rationalistischen und der sozialen Dimension erfolgt war, reduzierte sich die Zahl der Konfliktgegenstände nun weiter deutlich (Tab. 47). Tabelle 47: Bezug divergierender Positionen der Akteure in der kompetitiven Phase Ziel der verfassungspolitischen Maßnahme an sich
Messung, Bewertung der betreffenden Sachverhalte
Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung, Berücksichtigung von Interdependenzen
K G I (X) D (X) Kritikpunkt wenig verhandlungsmächtiger Akteure
(Unterlassene) Verknüpfung mit weiteren institutionellen Änderungen
(X) X
Verteilung von Gütern, Kompetenzen u.ä.
X X X X
Die Auseinandersetzungen waren relativ intensiv, konzentrierten sich aber vornehmlich auf die Verteilung von Gütern, Kompetenzen u.ä., oder waren allgemeiner motiviert und ließen sich den erhobenen, jeweils vorhabenbezogenen (substanziellen) Kategorien daher nicht zuordnen. So bezogen sich Einwände oft auf grundlegende Defizite der Regierungspolitik gemäß den übergeordneten Programmatiken der beteiligten Kollektivakteure. Sie konnten die Bewertung der Entscheidungssituation verändern, d.h., die in der kooperativen Phase gefundenen Kompromisse wurden teils durchaus infrage gestellt. Während in der ersten, individualistischen, Phase nichtsubstanzielle Kalküle ganz wesentlich für die Aushandlungen gewesen waren, in der nachfolgenden kooperativen Phase zwar substanzielle Motive dominierten, sich die Aushandlungen aber hier vornehmlich umsetzungskonzentriert auf die hinter den Verfassungsänderungen stehenden Vorhaben gerichtet hatten, so gab es also auch in der kompetitiven Phase keine verfassungspolitischen Normendebatten, sondern eher Diskussionen mit Blick auf die aktuelle Innenpolitik bzw. individuelle innenpolitische Profilbildung. 512 Gemeint sind die Regierungsparteien auf Bundesebene und die CDU-/CSU-geführten Bundesländer auf der einen sowie die SPD und die SPD-geführten Länder auf der anderen Seite.
316
6 Die kompetitive Phase
Die Wirkungsweise jener Variablen, die in Abb. 5 (Kapitel 2.1) unter Rückgriff auf sozialpsychologische Überlegungen den rationalistischen Erklärungsvariablen für unklare Entscheidungssituationen gegenübergestellt worden waren, ließ sich in der kompetitiven Phase nur bedingt nachweisen, schon weil die Voraussetzungen dafür (verkleinerte Gremien u.ä.) nicht gegeben waren. Infolgedessen näherte sich das Verhalten der Nichtinitiatoren wieder stärker den rationalistischen Prognosen an. Die substanziellen und nichtsubstanziellen Gewinnaussichten waren in der kompetitiven Phase wieder tendenziell wichtiger für die Kooperationsbereitschaft der Akteure, was auf den Mechanismus rationalistischer „Fehlerreduktion“ durch die Kollektivakteure hinweist. Dies galt jedoch nur für einen Teil der Akteure (Abb. 20). Tatsächlich scheint das Verhalten auch (erneut) vom Grad substanzieller Motivation beeinflusst gewesen zu sein. Abbildung 20: Verändertes Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren in der kompetitiven Phase
groß
K: Bundesregierung G: ND (teils) I: D: SPD Profilierung durch Verweigerung der Kooperation
K: G: ND (teils) I: Fine Gael D: große Bereitschaft zur Kooperation, zum Einlenken
klein
Verhandlungsmacht
substanzielle Gewinnaussicht niedrig hoch Kooperation nur bei deutlicher Veränderung der große Bereitschaft zur substanziellen KoopeVorlage oder hohem nichtsubstanziellem Gewinn ration, zum Einlenken
K:* Reform-Partei BQ, NDP, PC K: G: KKE, Linksallianz G: I: Grüne, SF, Sozialisten I: Labour D: PDS D: Bündnis 90/Grüne substanzielle Gewinnaussicht: Nähe zur eigenen Programmatik, überlappende Präferenzen nichtsubstanzielle Gewinnaussicht: Wahrscheinlichkeit eines Tausch-, Koppelgeschäfts oder Prozessnutzens * Die genannten Akteure waren vorher nicht an den Aushandlungen beteiligt, daher keine Veränderung
So lässt sich im linken unteren Quadranten der Matrix eine Zweiteilung beobachten: Diejenigen, die eine geringe Verhandlungsmacht und Gewinnaussicht besaßen, aber gleichzeitig substanziell hoch motiviert waren (I: Grüne, SF, Sozialisten), profilierten sich durch eine Verweigerung der Kooperation bzw. Zustimmung zum Vorhaben. Akteure mit geringer Verhandlungsmacht und Gewinnaussicht, die substanziell weniger motiviert waren (K: Reform-Partei, BQ, NDP, Liberale, G: KKE, Linksallianz, D: PDS), entsprachen in ihrem Verhalten weniger stark der vorhabenbezogenen rationalistischen Prognose. Die Fallstudien verweisen darauf, dass ihr Verhalten gegenüber der Vorlage stärker von emotionalen Erwägungen und den nachwirkenden sozialen Effekten der kooperativen Phase beeinflusst war, sofern dem nicht allgemein-politische Wettbewerbskalküle widersprachen. Das Verhalten der weniger verhandlungsmächtigen Akteure mit höherer substanzieller Gewinnaussicht (Quadrant rechts unten) entsprach der rationalistischen Prognose; die Fallstudien verweisen hier aber zusätzlich noch auf eine relativ hohe Toleranz gegenüber in den Vorlagen oder der Begleitgesetzgebung enthaltenen Regularien, die ihren Interessen nicht entsprachen, was ebenfalls auf strukturierende Effekte der kooperativen Phase zurückgeführt werden kann.
6.5 Zwischenbilanz
317
Angesichts der Verengung der Aushandlungen auf die verhandlungsmächtigsten Akteure waren diese relevanter für den Erfolg des Prozesses. Hier verdeutlicht der linke obere Quadrant der Matrix, dass Akteure mit niedrigerer substanzieller Gewinnaussicht (ND, SPD) wieder stärker individuell-rational agierten und ihre Kooperationsbereitschaft gegenüber der vorangegangenen Phase drosselten.513 Verhandlungsmächtigere Akteure mit relativ hoher substanzieller Gewinnaussicht (FG, teils ND) entsprachen der rationalistischen Verhaltensprognose (Quadrant rechts oben). Sie zeigten jedoch ähnlich den weniger verhandlungsmächtigeren Akteuren mit erhöhter substanzieller Gewinnaussicht eine relativ große Toleranz gegenüber Abweichungen der Vorlage von ihren Wunschvorstellungen, die wiederum auf die strukturellen Nachwirkungen der kooperativen Phase zurückgeführt werden kann. Trotz des erkennbaren Interesses der Akteure an einer Ertragsoptimierung wurde die kognitive Heuristik des anchoring in der kompetitiven Phase nicht aufgebrochen. Auch hier blieben die Änderungsforderungen der substanziell nicht hoch motivierten Akteure, also jeweils der Mehrheit, sehr stark mit der Intention bzw. Vorlage des Initiators und den ersten von Gegnern vorgebrachten Einwänden verknüpft, wurden Alternativen kaum gefordert bzw. thematisiert. Allerdings war damit nicht automatisch auch die Aufrechterhaltung der negativen Anfangseinstellung verbunden. Die Fallstudien waren nicht darauf angelegt herauszufinden, welche internen Prozesse innerhalb der Kollektivakteure dafür verantwortlich sind. Möglicherweise hatten sich die Prozesse verselbständigt, gab es interne Koordinationsprobleme, linkage-Probleme zwischen Spitzen- und Fachpolitik oder waren die Akteure angesichts ihrer Einbindung in die komplexen Aufgaben der Tagespolitik einfach beschränkt kreativ. Effekt war jedenfalls, dass die deutliche Asymmetrie der Erträge aus der Verfassungsänderung für den Initiator und die anderen Akteure (Kapitel 5.5) nur bedingt zu korrigieren versucht wurden. Gleichzeitig ließ sich in allen Fällen das Phänomen des recency bias beobachten, also einer Verzerrung der Aufmerksamkeit durch aktuelle Ereignisse bzw. aktuell beeinflusste innenpolitische Gesamterwägungen. Im kanadischen Fall wurde dies mit der Senatsproblematik offensichtlich, im griechischen mit dem Schutz der Wälder, im irischen spielte die Auseinandersetzung um eine befürchtete Einwanderungswelle nach der EU-Erweiterung eine besondere Rolle, im deutschen überdeckte teilweise die Kritik am Abstimmungsverfahren, später an der Bundesregierung insgesamt (Groß Steuerreform) die inhaltliche Debatte. Die größere Bedeutung von Wettbewerb und allgemein-politischen Kalkülen ließ angesichts dieser Sensitivität gegenüber dem aktuellen Kontext trotz der zuvor erarbeiteten Kompromisse und der bislang getätigten Investitionen in den Aushandlungsprozess die Zustimmung der Mitspieler zum Vorhaben nicht zum Automatismus werden. Ebenfalls beobachten ließ sich ein drittes, dem Rationalismus abträgliches Phänomen: Die Argumentationen der Akteure waren in drei der vier Fälle (K, G, I) nicht frei von emotionalen und sozialen Erwägungen. Hier nahmen sich die Befürworter der Verfassungsänderungen als Mitwirkende in einem „historischen Moment“ wahr, den sie nicht verhindern wollten. Diese Wahrnehmung, die vermutlich die Bereitschaft steigerte, auch Änderungen mitzutragen, die nicht allein durch objektiven Problemdruck verursacht waren, hatten die 513 Die kanadische Bundesregierung war wegen der Fallspezifika eine Ausnahme: Sie wechselte von der Rolle des Aushandlungspartners zur formalen Initiatorin, die entsprechend den Aushandlungs-Status-quo gegenüber den Mitspielern verantwortete, aber in Ermangelung politischer Gegenkräfte auch keine weitern inhaltlichen Abstriche machen musste.
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6 Die kompetitive Phase
Initiatoren in der kooperativen Phase mit erheblichem Engagement gefördert. Der dort vollzogene Bewusstseinswandel der Fachpolitiker der Kollektivakteure hinsichtlich der wichtigsten Entscheidungsdimensionen wurde in der kompetitiven Phase durch diese nicht, zumindest nicht deutlich, revidiert. Sogar politische Außenseiter, die keinen individuellen Nutzen aus den Vorhaben zogen, sie zuvor teils deutlich kritisiert und in den Aushandlungen keine Rolle gespielt hatten, waren daher einer Zustimmung zu den Verfassungsänderungen nicht grundsätzlich abgeneigt. Was die Initiatoren der Verassungsänderungen selbst betrifft, so lassen sich die rationalistischen Prognosen zu ihrem inhaltlichen Aushandlungsverhalten in der kompetitiven Phase nicht eindeutig bestätigen (Tab. 48). Wieder war ein Interesse an substanzieller (nicht nur paktierter) Einigkeit und argumentativer Überzeugung der Mitspieler durchaus erkennbar, wobei auch die Argumentationen der Initiatoren nun weniger vorhabenspezifisch bzw. detailorientiert, sondern allgemeiner angelegt waren. Tabelle 48: Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der kompetitiven Phase relative Verhandlungsmacht von I*
rational anzustrebendes Aushandlungsergebnis Konsens
Maßnahmen von I müssten sich entsprechend richten auf
tatsächliches Verhalten K G I D X X X X
substanzielle Einigkeit Drohung durch Initiator groß bis mittel Entscheidung ohne ÄndeZustimmung aufgrund sachfrem(K**, G) rungen, aber auch ohne der Erwägungen Konsens Zustimmung aufgr. eines Verfalls des Streitwerts Konsens Überzeugung X X X X inhaltlichen Kompromiss Ergänzung symbolisch wichtiger mittel (I, D) X X Kompromiss Formulierungen anderer Akteure vage, interpretationsflexible X Formulierung Konsens Überzeugung Paketgeschäft Zustimmung gegen Zugeständmittel bis gering Tauschhandel nisse in anderen Fragen Zustimmung gegen AusgleichsX zahlungen * In Klammern sind die Fälle angegeben, in denen die Verhandlungsmacht entsprechend ausgeprägt war. ** Formaler Initiator war nun die Bundesregierung. Fett markiert sind die Maßnahmen, die den Erwartungen an rationales Handeln (Kapitel 2.1) nicht entsprachen.
Inhaltliche Zugeständnisse, die über den in der vorangegangenen Phase erzielten Status quo hinausgingen, versuchten sie indes zu vermeiden, was bei allen Überzeugungsbemühungen auf eine bewusste, im Kern individuell-rationale Verhandlungsstrategie verweist. Im kanadischen Fall verzichtete die Bundesregierung auf jeden weiteren Abstrich am Vorhaben, konnte sich dies aber auch aufgrund politischer Dominanz leisten, im irischen Fall verfolgte die Regierung mit anderen Verfechtern der Verfassungsänderung eine Kampagne, die v. a. auf Argumente und symbolische Politik setze, im griechischen Fall nahm PASOK kleine Änderungen an der Vorlage aus einer Position der Stärke heraus vor, um in der Öffentlichkeit ein positives Bild der Verfassungsänderung zu fördern, im deutschen Fall waren die Zugeständnisse teils symbolischer bzw. in seiner rechtlichen Effektivität nicht wirklich
6.5 Zwischenbilanz
319
geklärter (Änderung des Art. 28 GG), teils finanzieller Art (kompensatorischer Umsatzsteueranteil der Kommunen). Letztere betrafen in Gestalt der SPD-geführten Bundesländer auch Akteure des Oppositionslagers selbst. Da die „Zugeständnisse“ des anderen politischen Lagers also zum Teil eigene Zugeständnisse waren, fielen sie nicht sehr groß aus. Wie bereits erwähnt, war für die kompetitive Phase in allen Fällen eine erhöhte Medienaufmerksamkeit für die Vorhaben typisch, auch wenn das Ausmaß der Berichterstattung jeweils variierte und teils (besonders K) sehr gering blieb. Sie förderte die Austragung symbolischer Konflikte und die geschilderte Verzerrung der Debatte durch eine Konzentration auf Partialkonflikte. Es scheint so, als habe im griechischen Fall ein gefühlter Öffentlichkeitsdruck dazu geführt, dass die Regierungspartei die (für sie eher weniger wichtige) Klausel zum Schutz der Wälder (unwesentlich) änderte. Im deutschen Fall kann die Zustimmung der Opposition zum untersuchten Vorhaben bei gleichzeitiger Verweigerung einer Kooperation betreffend die steuerpolitischen Gesamtvorhaben der Bundesregierung als Strategie interpretiert werden, in der Öffentlichkeit nicht als Blockiererin dazustehen. Ebenso wurde das Einlenken der Bundesregierung gegenüber den Forderungen der Opposition trotz Widerspruchs des kleinen Koalitionspartners auch darauf zurückgeführt, dass sie in der Öffentlichkeit ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen nicht als entscheidungsschwach wahrgenommen werden wollte. Da sich die politischen Akteure der öffentlichen Wirkung ihres Handelns in dieser Phase aber durchaus bewusst waren und sie teils anstrebten, lassen sich Ursache und Wirkung der Medienberichterstattung nicht eindeutig festmachen. Zudem war in den Fallstudien kein klarer Effekt der Medienberichterstattung im Sinne einer tendenziellen verfassungspolitischen Einigungsförderung oder –behinderung erkennbar, sondern sie beeinflusste eher allgemein das innenpolitische Klima und die Wahrnehmung substanzieller und nichtsubstanzieller Gewinnmöglichkeiten durch die Akteure. Das stärkere Streben der Kollektivakteure nach individuellen substanziellen und nichtsubstanziellen Erträgen aus dem Vorhaben sowie die suboptimale „Fehlerkorrektur“ insbesondere der substanziell nicht hoch motivierten Kollektivakteure tragen mithin am stärksten zum Verständnis der Verhaltensweisen und Prozessergebnisse in der kompetitiven Phase bei. Sie erklären, dass in der kooperativen Phase getroffene Vereinbarungen nur teilweise revidiert wurden und daher die Entscheidungsfindung in der kompetitiven Phase faktisch vorstrukturierten. In den hier untersuchten Fällen waren die meisten (substanziell nicht hoch motivierten) Akteure letztlich zu Kompromissen bereit und verzichteten darauf, sich strategisch vom Initiator des Vorhabens abzusetzen. Aufgrund des Nebeneinanders struktureller Nachwirkungen vorangegangener Prozesse und neuerer phasenspezifischer Variablenwirkungen wäre es aber falsch, die Entwicklungen als gerichtete Prozesse zu verstehen, die jeweils einem Pfad zu einem bestimmten Ergebnis, der Verabschiedung des Vorhabens, folgen. In den hier untersuchten Fällen bewirkten die Zuspitzungen und Konflikte in der kompetitiven Phase zwar kein Scheitern der Verfahren, doch war die Zustimmung des (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteurs neben dem Initiator in keinem Fall gewiss. Im kanadischen Fallbeispiel stimmte die Reform-Partei nicht zu, weil sie daraus einen größeren innenpolitischen – nichtsubstanziellen – Nutzen zog als aus dem Vorhaben selbst. Sie konnte es jedoch nicht verhindern. Auch die Grünen und Sinn Féin im irischen, KKE und Linksallianz im griechischen Fall lehnten die Vorhaben am Ende ab. Daraus lässt sich schließen, dass sich besonders motivierte Dritte, die sich angesichts der Verhandlungskonstellation keine Gewinne aus dem Vorhaben versprachen, sowie Akteure, die in die vorangegangenen Prozesse, insbesondere die kleineren Aushand-
320
6 Die kompetitive Phase
lungsrunden, nicht einbezogen waren, eher für eine klare strategische Ablehnung der Verfassungsänderungen entscheiden als andere Akteure. Abb. 21 visualisiert noch einmal wesentliche Charakteristika der Aushandlungen in der kompetitiven Phase, die sich von denen der individualistischen und der kooperativen Phase unterschieden. Abbildung 21: Verfassungspolitik in der kompetitiven Phase Abstraktion vom Vorhaben kompetitiv angelegte Neubewertung der Entscheidungssituation, dabei strukturelle Nachwirkungen der vorangegangenen Phase und Berücksichtigung des aktuellen innenpolitischen Kontexts
Initiator I A1
A3 A6 A5
A4
punktuelle Diskussion des Entwurfs von I und der Forderungen von A1
A2
Verabschiedung der (evtl. veränderten ) Verfassungsänderung „normale“ Politik
Verteilungskonflikt, aktuelle, allgemeinpolitische Fragen im Vordergrund I beharrt auf Vorhaben, ist evtl. zu Zugeständnissen bereit
Befürwortung nicht an substanziellen Nutzen gekoppelt
Verfassungspolitik
A1 = Akteur neben dem Initiator I mit (nächst-)größter Verhandlungsmacht. Die Größe der Kästchen um die Akteure indiziert deren Verhandlungsmacht.
Die abschließende Einigung der Akteure auf eine gemeinsame Verfassungsänderung lässt sich insgesamt darauf zurückführen, dass der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur aufgrund niedrigerer substanzieller Motivation seine initiativenbezogenen Gewinnmaximierungsoptionen nur unzureichend prüfte bzw. ausschöpfte, dass seine parteienwettbewerblichen Erwägungen angesichts des gegebenen Kontexts einer Zustimmung nicht widersprachen und/oder dass der Initiator der Verfassungsänderung sich zu letzten Zugeständnissen bereit erklärte.
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns – Erkenntnisse, Modell und Test
Dieses Kapitel resümiert zunächst, welche Akteure wann, wie und wie stark in die Aushandlungsprozesse involviert waren. Im zweiten Abschnitt werden wesentliche Befunde der Hauptanalyse mit Blick auf die Frage nach der Rationalität verfassungspolitischen Handelns wiedergegeben. Danach wird das entwickelte Phasenmodell vorgestellt, das auf den Befunden zur Rationalität des Handelns aufbaut und ohne sie nicht verständlich wäre. Im vierten Abschnitt werden die mit ihm verbundenen Annahmen anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen gegengeprüft. Dieser Test komplettiert die Hauptuntersuchung methodisch. Der fünfte Abschnitt diskutiert, ob die beobachtete Verfassungsänderungspolitik dem Idealtypus „normaler Politik“ oder demokratischer Verfassungspolitik entspricht.
7.1 Beteiligte und aushandlungsrelevante Akteure Die Fallstudien belegten, dass die jeweiligen Vorgaben zum Verfahren der Verfassungsänderungen zwar mehr oder weniger eingehalten wurden, dass aber erstens nicht nur die institutionell vorgegebenen Akteure die Aushandlungsprozesse beeinflussten, dass zweitens nicht alle institutionell vorgesehenen Akteure in ähnlicher Weise ihre Handlungsmöglichkeiten ausschöpften (oder ausschöpfen konnten), und dass drittens der Einfluss unterschiedlicher Akteurtypen innerhalb von Kollektivakteuren relevant für die Einigung auf Verfassungsänderungen sein könnte. Das nachfolgende Resümee systematisiert zunächst die Beteiligung gemäß formalen Vorgaben bzw. der Verfassungsorgane, dann der distinkten Akteurtypen und schließlich der politischen Akteure in den verschiedenen Aushandlungsphasen. Nur ein untersuchtes Fallbeispiel (K) wurde „von unten“ initiiert. Da dies institutionell nicht vorgesehen war, bedurfte die entsprechende Initiative eines politisch-institutionellen „Sponsors“, der sie unterstützte. Dies übernahm (wesentlich später) die Bundesexekutive als formale Initiatorin. Alle anderen Fälle wurden schon von Anfang an durch die Regierungen auf nationaler Ebene angestoßen, in einem Fall (D) gleichzeitig mit einer formal von den Koalitionsfraktionen auf Bundesebene eingereichten identischen Vorlage. Diese ursprünglichen, prozessinduzierenden Initiativen wurden später fast immer (außer K) formal durch weitere ergänzt oder ersetzt. Im griechischen Fall reichten im 1993 gewählten Parlament alle Fraktionen Vorschläge ein, im nachfolgenden Parlament zunächst PASOK und ND, später jedoch auch einzelne Abgeordnete parteiübergreifend, einschließlich DIKKI und Linksallianz. Im irischen Fall gab es ergänzende Entwürfe von Sinn Féin (2001) und Labour (2002) betreffend die Neutralität; der Europaauschuss regte in einem offiziellen Bericht eine weitere Verfassungsänderung an, die bei künftigen EU-Verträgen eine erleichterte Ratifizierung vorsah. Im deutschen Fallbeispiel reichten die Koalitionsfraktionen im Bundestag (1996), die Freie und Hansestadt Hamburg bzw. dann der Bundesrat (1997) sowie die Fraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Grünen ge-
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
meinsam (1997) modifizierte bzw. Alternativentwürfe ein. Hinzu kamen Anträge betreffend eine Reform der Kommunalfinanzen von seiten der SPD, PDS, von Bündnis 90/Grünen und SPD-geführten Ländern. Die Verhandlungen folgten in einem Fall (K) zunächst den Routinen der Exekutivpolitik im Rahmen regelmäßiger (außerparlamentarischer) Treffen von Verhandlungsteams, wurden dann in die Bahnen eines tripartistischen Gremiums gelenkt und wesentlich später im Bundesparlament gemäß dessen üblichem Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen. In allen anderen Fällen (G, I, D) fanden sie im Rahmen parlamentarischer Verfahren und Routinen statt, nur in einem Fall (I) ergänzt durch eine zusätzliche Aushandlungsarena, die allerdings von der Regierung eher als Kommunikationsarena gedacht war (Europaforum). Im deutschen Fallbeispiel ist die Besonderheit zu erwähnen, dass die PDS als parlamentarische Gruppe nicht im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat vertreten war, in dem wesentliche Tauschgeschäfte und Kompromisse vorgeschlagen bzw. vereinbart wurden. Tab. 49 gibt einen Überblick über die an den Aushandlungsprozessen beteiligten Kollektivakteure und bewertet sie entweder als proaktiv (p) oder als reaktiv (r). Tabelle 49: An den Aushandlungsprozessen beteiligte politische Akteure nach Phasen Fall
Individualistische Phase Interessenverband ITC (p), NWT-Territorialregierung (r), Bundesregierung (r), Territorialreferenden (r) Regierung (p), innerparlamentarische Akteure (r, p) Regierung (p), innerparlamentarische Akteure (r)
Kooperative Phase ITC (p, r), NWT-Territorialregierung (r, p), Bundesregierung (r, p), (Übergangskommissar, r)
Kompetitive Phase Bundesregierung (p), Akteure im Bundesparlament (r, p), ITC K (r), NWT-Territorialregierung (r), Generalgouverneur (r) Regierung (p), innerparlamenRegierung (p), innerparlamenG tarische Akteure (r, p) tarische Akteure (r, p) Regierung (p), innerparlamenRegierung (p), innerparlamenI tarische Akteure (r, p) tarische Akteure, Referendum (r) Bundesregierung (p), innerBundesregierung (p), innerparBundesregierung (p), innerparD parlamentarische Akteure (p, r), lamentarische Akteure (p, r), lamentarische Akteure (p, r), Bundesländer (r) Bundesländer (p, r) Bundesländer (p) Runden, denen genannte Akteure angehörten (z.B. Nunavut-Implementationskommission, Europaforum, Vermittlungsausschuss), sind nicht separat erfasst.
Als proaktiv wird dabei ein Akteur charakterisiert, der versuchte (bzw. ein Verfassungsorgan, in dem versucht wurde), hinsichtlich des jeweiligen verfassungspolitischen Vorhabens eigenständige, distinkte Positionen abzustecken und sich dafür zu engagieren (vgl. Weaver 2000: 57). Reaktive Akteure formulierten durchaus auch eigene Positionen, jedoch erst in Reaktion auf das Tun anderer und in Orientierung an ihnen.514 Die Tabelle lässt erstens erkennen, dass neben den formal entscheidenden Parlamenten die Regierungen maßgeblich an den Aushandlungsprozessen mitwirkten – und zwar in allen Phasen. Dies bestätigt ein übliches Muster der „normalen“ Politik in (besonders parlamentarischen) Demokratien. Sie verhielten sich fast durchgehend proaktiv, da sie die verfassungspolitischen Vorhaben in fast allen Fällen (G, I, D) initiiert hatten und also (bei allerdings erkennbarer Varianz515) sehr motiviert waren. Die Akteure in politisch heterogen zusammengesetzten Verfassungsorganen (Parlament, Bundesrat) verhielten sich nicht kohärent pro- oder reaktiv. Wie in der 514 Passive „Handelnde“ kann es gemäß dem in diesem Buch gewählten konzeptionellen Ansatz nicht geben. Wer nicht in Erscheinung tritt, ist kein zu analysierender Akteur, sondern allenfalls ein Adressat (vgl. Kapitel 2.1). 515 Siehe Tab. 19-22; Kapitel 3.5.
323
7.1 Beteiligte und aushandlungsrelevante Akteure
Untersuchung herausgearbeitet wurde, lässt sich dies in der individualistischen und der kompetitiven Phase durch ihre unterschiedlichen Gewinnwahrnehmungen bei variierender Verhandlungsmacht erklären. In der kooperativen Phase war die Mitwirkungsbereitschaft bei nahezu allen Akteuren erhöht und deutlich weniger von nichtsubstanziellen Kalkülen und Verhandlungsmacht abhängig. Die geschilderte grundsätzliche Beteiligung von Akteuren mit institutionalisierter Zugangsgewähr und der pro- oder reaktive Charakter ihres Engagements erklären die Verfassungsänderungsprozesse für sich genommen aber nicht. Die folgenden Systematisierungen scheinen da bedeutsamer. Zunächst sei resümiert, ob und wann welche Akteure mit bestimmten Interessen und einer je spezifischen Ressourcenausstattung die Aushandlungsprozesse tatsächlich beeinflussten (und sich eben nicht nur beteiligten). Dabei ist von Tab. 6 in Kapitel 2.1 auszugehen, die erfasste, von wem gemäß der politikwissenschaftlichen Literatur eine Einflussnahme theoretisch plausibel scheint. Da sich ein Großteil der Konflikte und Aushandlungen gar nicht auf die verfassungspolitischen Vorhaben selbst, sondern auf die dahinter liegenden Vorhaben bezog, wird der Einfluss anhand der Einwirkung auf den Gesamtprozess (inklusive Diskussionen) sowie erwirkter Veränderungen am Gesamtvorhaben des Initiators bzw. seiner Abwehr von Änderungen gemessen.516 Beeinflusste ein Akteurtypus die Aushandlungen in den Fällen K, G, I oder D in einer Phase erkennbar, so wurde ihm für diese Phase der Wert 1 zugewiesen. War kein direkter Einfluss erkennbar, so ist der Wert 0 angegeben.517 Die rechte Spalte pro Phase enthält jeweils den Mittelwert der den Akteuren für diese Phase zugewiesenen Werte, die rechte Tabellenspalte den Mittelwert der Einflussnahmen pro Phase. Sie quantifiziert also den durchschnittlichen Einfluss der jeweiligen Akteure auf die Aushandlungsprozesse über alle Phasen hinweg (Tab. 50). Tabelle 50: Einfluss von Akteurtypen auf die Aushandlungsprozesse Akteur K Politische Akteure - Spitzenpolitiker - Fachpolitiker - Regionalpolitiker Ministerialbürokratie Gerichte/Staatsanwalt Ext. Sachverständige Interessengruppen Medien Bürger (Referendum)
1 1 1 1 0 1 1 0 1
Individual. Phase G I D Ø 1 1 0 1 0 0 0 0 0
1 1 0 0 1 0 1 0 1
1 1 1 1 0 0 1 0 0
1,0 1,0 0,5 0,8 0,3 0,3 0,8 0,0 0,5
K 0 1 1 1 0 1 1 0 1
Kooperative Phase G I D Ø 0 1 0 1 1 0 0 0 0
1 1 0 1 0 1 1 0 1
1 1 1 1 0 1 1 0 0
0,5 1,0 0,5 1,0 0,3 0,8 0,8 0,0 0,5
K 1 1 0 0 0 0 0 0 0
Kompetitive Phase G I D Ø 1 1 0 0 0 0 1 1 0
1 1 0 0 0 0 1 0 1
1 1 1 0 0 0 0 0 0
GesamtØ
1,0 1,0 0,3 0,0 0,0 0,0 0,5 0,3 0,3
0,8 1,0 0,4 0,6 0,2 0,3 0,7 0,1 0,4
codiert 0 = kein Einfluss; 1 = Einfluss. Kursivdruck indiziert, dass die Bewertung nicht ganz eindeutig ist. Ø = Mittelwert der zugewiesenen Werte
Tab. 50 zeigt erstens, dass die Einflussnahme bestimmter Akteurtypen akteur- und phasenabhängig variierte. Varianzen zwischen den politischen Systemen betreffen zweitens eher den Zeitpunkt der Einflussnahme einzelner Akteure (z.B. bei den Interessengruppen518) als 516 Eine solche Bewertung kann sich subjektiven Wahrnehmungen nicht gänzlich entziehen. Die Fallstudien in den einzelnen Kapiteln belegen aber m.E. die hier vorgenommenen Beurteilungen. 517 Verfeinerte Bewertungen scheinen indes zu fehleranfällig. 518 Wo sie bereits früh beteiligt waren (K, D), beeinflussten sie den Prozess am Ende weniger. Wo sie nicht beteiligt waren (G), nahm das Engagement zum Ende des Prozesses hin zu – wobei im griechischen Fallbeispiel die hohe Zahl der gesellschaftlichen Akteure, die sich in dieser Phase an der Diskussion beteiligten,
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
die Größe ihres Gesamteinflusses. Eine Ausnahme bildet die bereits erwähnte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, hinsichtlich derer sich das kanadische und irische Fallbeispiel vom griechischen und deutschen deutlich unterschieden. Drittens ist eine deutliche Rangfolge der Einflussnahme der unterschiedlichen Akteure bzw. Akteurtypen erkennbar: Insgesamt hatten die Fachpolitiker den größten Einfluss auf die Vorhaben, allerdings verdeckt die Codierung etwas die in den Fallstudien offensichtlich gewordene Bedeutung der Spitzenpolitiker für das grundsätzliche Ja oder Nein zum Eintritt in Verhandlungen und zu deren Fortsetzung in der individualistischen und in der kompetitiven Phase. Der Einfluss der Fachpolitiker manifestierte sich demgegenüber besonders in den konkreteren inhaltlichen Ausgestaltungen der Grundsatzpositionen, was natürlich seinerseits nicht ohne Auswirkungen auf die innerparteiliche Positionierung und damit auf den Erfolg des Vorhabens blieb. Nach den institutionell bevorteilten (Fach- und Spitzenpolitikern in den) politischen Kollektivakteuren des Regierungssystems folgen die Interessengruppen. Dabei handelte es sich aber zum einen faktisch immer nur um bestimmte Interessengruppen, nämlich die (thematisch oder praktisch) betroffenen. Lediglich im irischen Fall waren in der kooperativen Phase gesellschaftliche Organisationen relativ breit über das Europaforum beteiligt. Zum anderen wurden in sämtlichen Fällen alle formal nicht vorgesehenen Akteure nur dann wirklich gehört oder involviert, wenn ein institutionalisierter Mitspieler sich aus taktischen, substanziellen oder anderen519 Gründen dafür einsetzte. So engagierten sich im deutschen Fall die Bundesländer zu Beginn des Aushandungsprozesses kaum für die Interessen der Kommunen, für die sie verfassungsrechtlich verantwortlich sind, aber diese profitierten von der Verhandlungstaktik der SPD, sich in den Aushandlungen (auch) auf ihre Forderungen zu berufen. Dadurch erhielten sie letztlich weit höhere Kompensationen und eine bessere verfassungsrechtliche Absicherung der Gewerbeertragsteuer, als vom Initiator vorgesehen. Thematische oder praktische Betroffenheit von einem Vorhaben sowie die Kompatibilität mit den Interessen formaler Aushandlungsbeteiligter beeinflussen also, welche gesellschaftlichen Akteure in etablierten Demokratien an verfassungspolitischen Prozessen beteiligt sind. Etwa ähnlich einflussreich wie (bestimmte) Interessenverbände war die Ministerialbürokratie, die besonders organisatorisch und durch die Bereitstellung von Formulierungshilfen, Expertisen und Informationen den Fortgang der Prozesse beeinflusste. Nach Vorgaben der politischen Akteure konnte sie auch konzeptionelle Vorschläge unterbreiten. Dies bezog sich aber ausschließlich auf die individualistische und die kooperative Phase. Beim Abschluss der Aushandlungen spielte sie fast keine Rolle mehr. Der Einfluss der weiteren Akteure fiel gering aus. Die Regionalpolitiker waren nur in den Fallbeispielen in Föderalstaaten von Bedeutung und interessierten sich eher für Verteilungs- und Umsetzungsfragen, als dass sie sich inhaltlich-konzeptionell positionierten. Die Bürger übten tendenziell keinen Einfluss aus und waren eher Adressaten legitimationsstiftend gedachter Maßnahmen. Letzteres gilt etwa für das irische Europaforum und die Regionalveranstaltungen der Nunavut-Implementationskommission (K), die indes durchaus (aber schwer messbare) Rückwirkungen auf die Entscheidungsfindung haben konnten. In Griechenland wurde die Einleitung des Prozesses einer Verfassungsänderung zwar als natürliche Einladung an die Bürger und gesellschaftlichen Gruppen verstanden, sich an der Disnicht durch eine besondere deliberative Kultur begründet war, sondern durch die thematische Vielfalt der vorgesehenen Verfassungsänderungen und der infolgedessen hohen Zahl Betroffener. Im Fall I beeinflussten die substanziell (ideell) hoch motivierten organisierten Integrationsgegner den Prozess in allen Phasen. 519 Etwa um bei einer unklaren Position zur Klärung beizutragen.
7.1 Beteiligte und aushandlungsrelevante Akteure
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kussion zu beteiligen,520 doch wurde nichts unternommen, sie darin zu ermutigen. Die vom Verfassungsgeber gehegte Idee, dass die den Abstimmungen in zwei aufeinander folgenden Parlamenten zwischengeschalteten Wahlen als Quasi-Referendum über anstehende Verfassungsänderungen fungieren (Venizelos 2002: 37; Spiliotopoulos 1995), bestätigte sich nicht, denn in ihnen waren ganz andere, v.a. materielle, sozial- und wirtschaftspolitische, Kalküle tonangebend. Trotz des großen Umfangs der Änderungen und des von PASOK betonten Interesses an einem historischen Konsens (Hellenic Parliament o.J.; Venizelos 1999) zog die Partei außerdem kein Referendum in Betracht.521 Nur in einem, dem kanadischen Fall wurde der (Territorial-)Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, sich in Form von Referenden zu aushandlungsrelevanten Teilaspekten (Teilung, Grenzverlauf, Landabkommen, Hauptstadtfrage, Wahlsystem) effektiv zu äußern. Doch erstens bezog sich diese Chance nicht auf die Verfassungsänderung selbst, zweitens ergab sie sich immer nur aufgrund von (oft taktisch begründeten) Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung, der NWT-Regierung und den Inuit-Vertretern. Externe Sachverständige wurden zwar hinzugezogen und beeinflussten teilweise die Diskussion in der individualistischen und der kooperativen Phase, doch traten sie nicht als Akteure mit einer eigenen Agenda in Erscheinung. Justiz und Medien waren noch weniger bedeutsam für den konkreten Prozess, wobei die Medien in der kontextsensitiven kompetitiven Abschlussphase als oft pointierte Darsteller unterschiedlicher politischer Positionen durchaus eine atmosphärische Wirkung als Konfliktkatalysatoren entfalten konnten (Kapitel 6). In ihnen entspann sich aber keine unmittelbare Debatte um die geplanten Verfassungsänderungen. Im Vordergrund standen immer andere innen- und außenpolitische Themen. Möglicherweise lag dies daran, dass die Hintergründe der Vorhaben und der Verhandlungen schwer vermittelbar waren bzw. nicht anschlussfähig an die individuellen Interessen bzw. den Alltagsdiskurs der Medienkonsumenten schienen (vgl. Sturm 2005: 197). Dass die Realisierung der Verfassungsänderungen, wie ersichtlich, zumeist nicht vom Zutun des einzelnen Bürgers abhing, förderte ein Medieninteresse an den Vorgängen auch nicht. In der Darstellung wurden die Vorgänge zumeist auf sehr einfache Aussagen reduziert und auf simplifizierte Problemkonstellationen zurückgeführt (außer I522). Diese Nachrichten zum Ende der Prozesse erreichten aber – wie die in den Fallstudien zitierten Resultate der sporadischen Umfragen belegen – einen recht großen Teil der Bürgerinnen und Bürger. Insgesamt erwiesen sich die alltagspolitisch dominierenden Akteure sowie die substanziell besonders hoch Motivierten als die eigentlichen Schlüsselakteure von Verfassungsände520 Der Beauftragte der Regierungspartei für die Verfassungsänderung erklärte: „Jeder Bürger allein und insbesondere jede gesellschaftliche Formation […] hat die Pflicht und das Recht, seine Position zum Ausdruck zu bringen und Druck auszuüben, indem er sich an das gemäß der Verfassung zuständige Organ wendet, d.h. das Revisionsparlament bzw. die das Parlament bildenden Parteien und Abgeordneten“ (Venizelos 2002: 48). 521 Angesichts der überwiegend änderungsfreundlichen Haltung der ND und des neutralen Verhaltens des griechischen Präsidenten wäre dies möglich gewesen: Gemäß Art. 44 (2) kann der Staatspräsident nach Beschluss der absoluten Mehrheit der Abgeordneten, der auf Vorschlag des Ministerrates gefasst wurde, die Durchführung einer Volksabstimmung über besonders wichtige nationale Fragen anberaumen. Er kann zudem eine Volksabstimmung über schon verabschiedete Gesetzesentwürfe „zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen – außer wenn sie die öffentlichen Finanzen betreffen“ einberufen, falls dies von drei Fünfteln aller Abgeordneten auf Vorschlag von zwei Fünfteln beschlossen wurde. 522 Dass dies im irischen Fallbeispiel nicht so war, könnte damit zusammenhängen, dass die Medienkonsumenten als Bürger auch Entscheider waren und die Medien es als Serviceleistung betrachteten, sie genauer über die Entscheidungsgrundlagen zu informieren.
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
rungsprozessen in etablierten Demokratien, wobei der Einfluss der Aushandlungsdelegierten der Kollektivakteure (Spitzen- und Fachpolitiker) phasenspezifisch variiert. Tab. 6 in Kapitel 2.1 lässt sich nun um die geschilderten empirischen Befunde zum qualitativen Einfluss der verschiedenen Akteurypen auf die Aushandlungsprozesse ergänzen: Tabelle 51: Bedeutung der einflussreichsten Akteurtypen für verfassungspolitische Aushandlungsprozesse Akteur
zentrale Interessen
Politische Akteure
Umsetzung der Parteiprogrammatik, Machterhalt
- Spitzenpolitiker (v.a. Premier)
Parteiprogrammatik, Machterhalt der Partei, eigene Wiederwahl
- Fachpolitiker (v.a. Spitzen der Fachpolitik)
- Regionalpolitiker
Parteiprogrammatik, beste Lösungen in der eigenen Materie, Machterhalt der Partei, eigene Wiederwahl Parteiprogrammatik, Machterhalt der Partei, regionale Haushaltsinteressen, Implementation politischer Vorgaben, eigene Wiederwahl
zentrale Machtressourcen Wählerstimmen, Funktionen, gesellschaftlicher Rückhalt Funktionen mit Aushandlungs- und Entscheidungskompetenz, innerparteilicher Einfluss, Ansehen, Überblickswissen
Bedeutung für den Aushandlungsprozess Schlüsselakteure
in individualistischer und kompetitiver Phase wichtig für strategische, generelle Positionierung der Partei
Funktion mit Entscheidungs- und Aushandlungskompetenz, Expertenwissen
permanent, aber besonders in der kooperativen Phase wichtig, eher technokratische ergebnisorientierte Entscheidungsperspektive
Funktion mit Entscheidungs- und teils Aushandlungskompetenz, Regional-, Praxisexpertise
situativ wichtig, eher an Verteilungs- als an konzeptionellen/ideellen Fragen interessiert
Expertenwissen, langfristige Kontakte zu AusUmsetzung von Vorgahandlungsbeteiligten und Ministerialbürokratie* ben, Aufrechterhaltung Betroffenen, Gröbestehender Strukturen ße/Organisationsgrad, relative Unabhängigkeit von Wahlen Expertenwissen, teils eigene Programmatik, Sanktions-, MobilisieLösung praktischer Interessengruppen rungspotenzial, evtl. Probleme, Einflusserhalt Zugang zu Ministerialbürokratie * bzw. externe Delegierte der Ministerialbürokratie (Fall K).
prozessstrukturierend wichtig (Erstformulierung, Informationsfluss, Organisation, Kontakte) können wichtig sein, wenn thematisch oder praktisch betroffen und von einem relevanten politischen Akteur einbezogen
In den Fallanalysen wurde außerdem herausgearbeitet, dass ungeachtet vieler institutionell beteiligter und betroffener Akteure, die auch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein konnten, sich die Aushandlungen faktisch auf einen noch wesentlich kleineren Kreis von politischen Akteuren verengten. Dies vereinfachte die institutionell teils unübersichtlichen Aushandlungsstrukturen und Interessenkonstellationen erheblich auf ein abstrakt sehr ähnliches Muster: Entscheidend für den Fortgang und Abschluss der Prozesse waren im wesentlichen die Interaktionen zwischen dem Initiator (evtl. mit Koalitionspartner) und dem (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur bzw. Akteurblock. Dritte waren nur phasenweise (kooperative Phase) relevant.
7.2 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen
327
Dies verweist auf die Relevanz „binärer Codierung“ als Mittel der Akteure zur Komplexitätsreduktion und zur Minderung der Entscheidungskosten (vgl. Kapitel 2.1). Institutionelle Rahmenbedingungen verfassungspolitischer Verhandlungen sollten also nicht unbedingt für bare Münze genommen werden; es sind vielmehr die realen Akteure, die interaktiv solche Muster überformen, indem sie aus dem Set institutionell zur Verfügung stehender Aushandlungspartner und –orte sich die als nützlich erachteten wählen, weitere hinzuziehen oder neue Gremien schaffen. Man könnte erwarten, dass dieses systemübergreifend beobachtete Muster der faktischen Reduktion von Teilhaberechten Unmut bzw. Protest bei den jeweils anderen Akteuren hervorgerufen hat. Dies war aber nur sehr bedingt der Fall. Warum es kaum zu Protest kam, sondern im Gegenteil jeweils deutlich mehr Akteure als nur die beiden relevanten die verabschiedeten Verfassungsänderungen aktiv oder passiv unterstützten, liegt in den Eigenarten des Verhaltens und der Interaktionen der Akteure begründet, die zur Einigung auf Verfassungsänderungen führten. Das geschilderte Muster ist eben nicht oder zumindest nicht nur ein Ergebnis faktischer Exklusion Schwacher durch Starke, sondern auch sozialer Mechanismen, die denn auch im nachfolgenden Resümee der Untersuchungsergebnisse eine wichtige Rolle spielen werden. Die Fähigkeit von Gesellschaften, zu verfassungspolitischen Kollektiventscheidungen zu gelangen, stand dabei in einem Spannungsverhältnis zur strategischen Zielrationalität des Handelns ihrer kollektiven Mitglieder.
7.2 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen Da die im alltagspolitischen Prozess von Demokratien etablierten Akteure ungeachtet institutioneller Fein- und Sondervorgaben für Verfassungsänderungen auch diese dominierten, müsste ihr rationales Handeln bei gegebener Ressourcenausstattung das Zustandekommen der Verfassungsänderungen erklären. Die in Tab. 52 vorgenommene Aufschlüsselung von geschätzten Kosten und Nutzen der verabschiedeten Verfassungsänderungen für die jeweiligen Initiatoren und die (nächst-)mächtigsten Akteure zeigt allerdings jeweils hohe Gewinne für den Initiator (unabhängig von seiner Verhandlungsmacht) sowie Verluste (Nutzen abzüglich Kosten) für den (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur. Dabei wurde auf einer Skala von 0 bis ++++ als Nutzen erfasst, wie stark die Verfassungsänderung der Ursprungsposition bzw. dem politisch-programmatischen Profil eines Akteurs nahekam und inwiefern nichtsubstanzielle Gewinne (z.B. Reputationszuwachs) zu verzeichnen waren. Als Kosten wurden auf einer Skala von 0 bis ---- Abweichungen von den jeweiligen Ursprungspositionen bzw. vom politisch-programmatischen Profil sowie tatsächliche Kosten (etwa Aufwändungen für eine Reform durch die Regierung) betrachtet. Wie zu erkennen ist, lagen die Gewinne der Initiatoren nur relativ knapp unter den von ihnen zunächst angestrebten. Aufgrund dieses Ungleichgewichts waren die Erfolgsaussichten der Initiativen am Beginn aller Aushandlungsprozesse jeweils als niedrig bewertet worden (Tab. 19-22).
328
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Tabelle 52: Kosten und Nutzen der Verfassungsänderung für den Initiator und den nächstmächtigen Akteur Fall
Akteur I: ITC (TFN, NTI) K A1: PC-/Liberal-Bundesregierungen I: PASOK-Regierung G A1: ND-Fraktion I: FF-Regierung I A1: Referendum I: CDU/CSU-, FDP-Bundesregierung, CDU-/CSU-Fraktion D A1: SPD-Fraktion, SPD-geführte Bundesländer I Initiator, A1 Akteur mit (nächst-)größter Verhandlungsmacht
Nutzen +++ + +++ + +++ + +++ +
Kosten ------
Da die Bewertungen auf den Fallstudien basieren und dort qualitativ fundiert werden, soll hier nur exemplarisch das kanadische Fallbeispiel angesprochen werden: Obwohl die Inuit-Organisation, die die spätere Verfassungsänderung initiierte, über keinerlei Verhandlungsmacht außer ihrer Agendasetzungsinitiative verfügte, insbesondere kaum mit Ressourcen ausgestattet war, sondern nur mit hoher Motivation, erreichte sie ihr Ziel – ein eigenes Territorium für nicht mehr als 27.000 Menschen,523 das ein Fünftel der kanadischen Landfläche einnimmt. Die Bundesregierung modifizierte das auf den britischen Parlamentsstrukturen basierende Provinzregierungsmodell, um den Inuit umfangreiche Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu geben. Diese erhielten im Zuge der Verhandlungen die Besitzrechte für ihr Territorium und einen eigenen politisch recht unabhängigen Zuständigkeitsbereich, der gleichzeitig ohne umfangreiche Transferzahlungen vom Bund nicht überlebensfähig ist. Die Bevölkerung konnte nach einer Übergangsphase das politisch-administrative System des neuen Nunavut weiter verändern (Cameron/White 1995; Jull 1998). Die ITC erhielt damit fast genau die Art von Selbstbestimmung, die sie gefordert hatte, auch wenn das Selbstregierungsrecht der Ureinwohner weiterhin nicht konstitutionalisiert war und verschiedene Auffassungen darüber bestanden, inwiefern die getroffenen Regularien einem Selbstregierungsanspruch entgegenkamen oder ihn begründeten.524 Die Bundesregierung zahlte für diese Reformen mit faktischen Machteinbußen, finanziell-organisatorisch und mit erheblichen Risiken, denn die Effekte der Reform waren angesichts der Rahmenbedingungen sehr ungewiss (vgl. Kapitel 3.1). Handelten die Mitspieler der Initiatoren also in einem normativ und staatsorganisatorisch so wichtigen Feld wie der Verfassungspolitik nicht rational? Vorhabenbezogen striktrational, zur Erinnerung, verläuft eine Entscheidungsfindung, wenn ein Akteur mit dem Ziel der Eigennutzenmaximierung eine Verfassungsänderungsinitiative und ihren Problem523 Aufgrund des starken Bevölkerungswachstums liegt die Zahl höher als zum Zeitpunkt der Initiierung. 524 Inwiefern die Gesetzesmaßnahmen als geeignete Instrumente dazu nutzten, das ursprüngliche Ziel der Inuit zu erreichen – die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entmarginalisierung und Selbstregierung – wird hier nicht bewertet. Die Armut und die finanzielle Abhängigkeit von der Bundesregierung mitsamt ihren politischen und gesellschaftlichen Implikationen waren nicht aufgelöst worden. Am Ende der Aushandlungen 1998 waren die sozialen und ökonomischen Probleme in den ostarktischen NWT im kanadaweiten Vergleich dramatisch, die Kosten für Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Bildungsausgaben u.ä. explodierten (auch wegen des beträchtlichen Bevölkerungswachstums), das Bildungsniveau war weiter niedrig. Das von der Bundesregierung für das Gebiet vorgesehene Budget reichte gerade für die Durchführung der Reform und die Aufrechterhaltung des Status quo, nicht aber für materielle Politikverbesserungen. Ohne weitere Transferzahlungen und Förderprogramme konnte das Territorium nicht bestehen (Anderssen 1998; Globe and Mail, 05.06.1998).
7.2 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen
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horizont anhand umfassender Informationen und Bewertungskriterien prüft, seine Präferenzen formuliert, die Positionen und das Verhalten der anderen beteiligten Akteure, insbesondere der als verhandlungsmächtig eingestuften, antizipiert, Akzeptanzzonen für die Aushandlungen formuliert und Handlungsoptionen ableitet (Scharpf 2000: 93). Er wird nur Entscheidungen zustimmen, die ihm nützen. Falls er, aus welchen Gründen auch immer, nicht alle Informationen und Alternativen gleichermaßen prüft, dann bedient er sich solcher Kompensationstechniken, also Heuristiken, die ein angemessenes Verhältnis aus Entscheidungskosten und substanziellem Nutzen aus der Entscheidung gewährleisten. Geht man die Phasen der Verfassungsänderungsprozesse noch einmal durch, dann kamen von den beobachteten Handlungsweisen nur die in der individualistischen Phase dem Postulat der Gewinnmaximierung und dem Prinzip der Risikovermeidung nahe. Die Akteure strebten nach absolut hohen Erträgen und lehnten die Initiative immer ab, wenn der in Aussicht stehende Eigennutzen unklar war. Die umfassende Prüfung von Informationen, die Bewertung anhand klarer Kriterien, das Vorhandensein von Präferenzen und die Antizipationsneigung der Akteure ließen sich indes nicht so beobachten; alle Akteure schienen zunächst überfordert davon, eine kohärente Position zu entwickeln. Dies lag an der enormen Komplexität der von den Initiativen jeweils betroffenen Materien – in den untersuchten Fällen waren es je mindestens sechs – und der damit verbundenen mehrdimensionalen Entscheidungsstrukturen (Tab. 23). In allen Fällen ließ sich beobachten, dass die Akteure hinsichtlich bestimmter Entscheidungsdimensionen zunächst noch keine inhaltlichen Präferenzen ausgebildet hatten, dass es zu Präferenzkonflikten kam, dass unintendierte bzw. unberücksichtigte Effekte früherer Entscheidungen eingetreten waren, dass neuere Instrumente zur Zielerreichung vorgeschlagen oder notwendig waren und dass neue Einwände gegen traditionelle Instrumente der Zielerreichung vorgebracht wurden (Tab. 31). Dies erforderte jeweils politisch-institutionelle Neuüberlegungen, die derjenige leichter erbringt, der substanziell höher motiviert ist. Die Initiatoren hatten daher in dieser Hinsicht einen kognitiven Vorsprung, der ihnen aber insofern wenig nützte, als die Nichtinitiatoren zumeist abweisend oder mit dem Ausweichen auf nichtsubstanzielle Gewinne auf die für sie uneindeutige Entscheidungssituation reagierten. Sorgte in dieser Phase nicht eine wahrgenommene Präferenzüberlappung des Initiators und des (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteurs in wichtigen Punkten der Initiative für Verhandlungsspielräume, so gelang eine Fortsetzung des Aushandlungsprozesses nur, wenn über in Aussicht gestellte Kompensationszahlungen bzw. Koppelgeschäfte eine gemischtmotivationale Konstellation geschaffen wurde. Letzteres war weit häufiger der Fall als die Präferenzüberlappungen. Insofern waren hier (absolute) substanzielle, aber auch nichtsubstanzielle Erwägungen für die Fortsetzung des Prozesses wichtig. Dies aber gestaltete die Kalkulation der Gewinnaussichten noch unübersichtlicher. Eine Fehlerquelle bestand ferner darin, dass die Akteure Schwierigkeiten hatten, den Wert ihrer Zustimmung selbst zu taxieren, und dass sie den Wert des möglichen Tausch- oder Koppelgeschäfts, das ihren Interessen stärker entgegenkam, latent falsch einschätzten. Besonders in einem Fall (I) nutzten die Befürworter der Initiative gezielt die Strategie, nichtquantifizierbare Aspekte des Vorhabens (Solidarität, Vorbildfunktion) in den Vordergrund zu stellen, um Zustimmung zu mobilisieren. Doch reichte sie nicht aus, um Kooperationsbereitschaft zu erzeugen, wie das erste gescheiterte Nizza-Referendum zeigte.
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Erst wenn bzw. nachdem der Übergang zu einem gemischtmotivationalen Spiel525 gelang, begannen in der kooperativen Phase die Nichtinititiatoren, sich mit den Perspektiven der Mitspieler auf die Entscheidungssituation überhaupt auseinanderzusetzen und Entscheidungsdimensionen, die außerhalb ihrer prioritären Interessen lagen, als relevant zu akzeptieren. Die in den Aushandlungen gezeigte Sachkompetenz nahm deutlich zu, ebenso die für Kompromisse notwendige Fähigkeit und Bereitschaft der Beteiligten, die „festgestellten unterschiedlichen Nutzendimensionen miteinander zu verrechnen“ (Prittwitz 2007: 125). Eigentlich fördert dies eine individuell-rationale Entscheidungsfindung. Gleichzeitig aber taten sich nun neue Fehlerquellen auf: Erstens wurde die Kosten-Nutzen-Bilanzierung durch die intervenierende – kooperative – Interaktionsorientierung beeinträchtigt (vgl. Prittwitz 2007: 108). Latent trat das Kalkül individueller Eigennutzenmaximierung zurück zugunsten einer allgemeineren Problemlösungsorientierung, und die Risikovermeidung führte eher zu inhaltlichen Ausgestaltungsforderungen als zur strikten Ablehnung der Initiative. Dies könnte man als cooperation bias bezeichnen. Zweitens ist die Verrechenbarkeit von Kosten und Nutzen grundsätzlich problematisch und daher anfällig für subjektive Bewertungen. Daraus ergibt sich ein Interdependenz-bias. Da die Aushandlungsinhalte in ihrer spezifischen Interdependenzkonstellation viel zu konkret waren, um aus den politisch-programmatischen Festlegungen der Kollektivakteure Anweisungen für die Verhandlungen ableiten zu können, waren beide Punkte sehr bedeutungsvoll. Drittens wurden Handlungsalternativen nur beschränkt geprüft und damit die Opportunitätskosten der Entscheidung nur unzureichend berücksichtigt. Der Bruch der Entscheidungsperzeption zwischen der individualistischen und der kooperativen Phase war in der Tat eklatant. Wurde vorher infrage gestellt, ob die Initiative überhaupt eine Chance haben sollte, so ging es nun v.a. darum, wie die Initiative (für den einzelnen Akteur) am besten aussehen sollte, wenn sie denn verabschiedet werden würde, also um die inside options. Die Überlegungen und Verhandlungen rankten sich um den ursprünglichen Vorschlag und eine der ersten Gegenforderungen (anchoring bias). Ohne dass definiert werden müsste, was „beste Lösungen“ sind, verdeutlicht dies, dass sie in dieser Phase allenfalls dann gewählt wurden, wenn sie bereits auf der Agenda standen oder mit der Initiative verwandt waren. Ganz neue verfassungspolitische Ideen wurden in dieser Phase nicht eingebracht. Das Fehlerpotenzial für die Kollektivakteure wurde dadurch verstärkt, dass sie in dieser Phase mit der Delegation der Aushandlungen an die Fachpolitiker tendenziell die Kontrolle über die komplexen ausgehandelten Inhalte verloren. Ihr strategisches Handeln wurde damit erschwert.526 Sobald die Abstimmungsentwürfe einigermaßen „festgezurrt“ waren, kam (mit der kompetitiven Phase) ein Mechanismus versuchter Fehlerkorrektur durch die Spitzen der jeweiligen Kollektivakteure in Gang. Er stützte prinzipiell die Annahme, dass sich individuelle Fehler in Gruppenentscheidungen wenigstens teilweise ausgleichen (Lau/Redlawsk 525 Die Übertragung jeweils eines bestimmten Typus theoretisch plausibler Spielkonstellationen (Scharpf 2000) auf die hier untersuchten Aushandlungsphasen oder einzelne Situationen gelang nicht. 526 So ergab sich im kanadischen Fall die Verfassungsänderung als eine logische Konsequenz aus dem Nunavut-Gesetz von 1993, was den Akteuren aber bei dessen Unterzeichnung gar nicht bewusst war. Auch die Verhandlungen danach betrafen zwar das Territorium und die Änderungen am Gesetz, aber eben nicht maßgeblich die Verfassungsänderung, obwohl sowohl die Einrichtung eines eigenen Territoriums als auch vergleichbare Verfassungsänderungen vorher von der Bundesregierung immer abgelehnt worden waren. Hinterher ließ sich aber die Entscheidung faktisch schwer revidieren.
7.2 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen
331
2001), doch wie die obige Nutzen-Kosten-Aufstellung zeigt, wurden die Fehler als solche nur mehr bedingt ausgeglichen und auch nur bedingt auszugleichen versucht. Woran dies genau bzw. am stärksten lag, ob an wahrgenommenem Entscheidungsdruck, dem Vorsprung der Experten an Wissen gegenüber den „korrigierenden“ Spitzen der Parteien, an inzwischen gewandelten Realitätsdeutungen bzw. entsprechend gewandelten Präferenzen o.ä., konnte die vorliegende Untersuchung nicht klären, weil ihr Fokus auf der Erklärung des Verfassungsänderungsprozesses selbst lag und nicht der Binnenprozesse in den beteiligten Kollektivakteuren. Hinsichtlich der Interaktionen fiel auf, dass sich die Rationalität der Entscheider in der kompetitiven Phase nicht an der Erreichung absoluter substanzieller Ziele orientierte, sondern relative Abwägungen im Vergleich zu den Mitspielern sowie nichtsubstanzielle Kalküle sehr wichtig waren. Innenpolitische Kontextentwicklungen und die wahrgenommene Stimmungslage der (Medien-)Öffentlichkeit beeinflussten die Debatten. Es kam zu einer Verzerrung in Richtung aktueller, teils sachfremder Themen und Argumente (recency bias), die von den bis dahin diskutierten Problemen ablenkten: Es ging besonders um Partialaspekte wie die Senatsproblematik (K), den Schutz der Wälder (G), das Risiko einer Einwanderungswelle (I) und das Abstimmungsverfahren (D). Die hohe Sensitivität gegenüber dem – aktuellen – Kontext machte es im Kontrast zur grundsätzlichen Verhaftung der Diskussion mit der ursprünglichen Vorlage,527 trotz der zuvor erarbeiteten Kompromisse und der bislang getätigten Investitionen in den Aushandlungsprozess oft bis zur finalen Abstimmung unsicher, ob die relevanten Akteure den Verfassungsänderungen tatsächlich zustimmen würden. Insofern war die „Fehlerkorrektur“ in dieser Phase nicht umfassend substanziell-rational fundiert, und es konnte wieder zu interdimensionalen „Gewinnverrechnungsfehlern“ kommen. Tab. 53 resümiert ausgehend von den Kriterien in Kapitel 2.1 (Tab. 8) die wichtigsten akteurbezogenen Phasenmerkmale, die zugleich Aussagen zur Rationalität beinhalten. Sie lässt erkennen, dass ein wesentlicher Problempunkt verfassungspolitischen Handelns von Kollektivakteuren in etablierten Demokratien im eben geschilderten Ablauf zwar bereits erwähnt, aber noch nicht angemessen erläutert wurde: die unklaren Präferenzen. Die Möglichkeit unklarer Präferenzen und ihre Effekte waren in Kapitel 2.1 als große theoretische Unbekannte bezeichnet worden. Im Laufe der Untersuchung zeigte sich, dass sie viel verbreiteter sind als vermutet. Vorhandene Programme oder zumindest politische Routinen, die den Gegenstand einer verfassungspolitischen Initiative beinhalten, Betroffenheit von und Kenntnis der in ihr geregelten Materie(n) fördern eine Herausbildung klarer Präferenzen bzw. Verhandlungspositionen, oft genug gab es sie aber nicht. Die Akteure verfolgten zwar stabile Interessen, doch torpedierten veränderte Rahmenbedingungen und Interdependenzen, die jeweils spezifische mehrdimensionale Entscheidungskonstellationen begründeten (Kapitel 3), die Bemühungen der Akteure um Gesamtkonzepte und erzeugten Präferenzkonflikte. Die Effekte der verfassungspolitischen Initiativen waren kaum umfassend zu validieren und oft nicht gegeneinander abwägbar (Kapitel 4.5; vgl. Elster 1988a, 1988b). Die Positionen zumindest der weniger motivierten Akteure waren daher in sich oft nicht konsistent, was die Messung von policy-Kohärenz bzw. –distanzen praktisch unmöglich machte. Man kann argumentieren, dass v.a. die unklaren Präferenzen das Einfallstor für den Einfluss nichtsubstanzieller Kalküle und rationalitätsverzerrende sozialpsychologische Effekte bilden. 527 Substanzielle Alternativen (also nicht einfach die Ablehnung des Vorhabens) spielten auch jetzt für die Formulierung des Entwurfs selbst eine geringe Rolle.
332
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Tabelle 53: Akteurbezogene Phasenmerkmale im Überblick Individualistische Phase hoch
Kooperative Phase hoch bis mittel
Gegenstand der Einwände
hinter der Verfassungsänderung stehende Pläne, Innen- bzw. Außenpolitik an sich
hinter der Verfassungsänderung stehende Pläne
Beurteilungskriterien, Bewertungsmaßstäbe
nicht eindeutig
Gesprächsgegenstand Æ Rückwirkung auf Akteure
Präferenzen
nicht eindeutig
teils nicht eindeutig
Umgang mit Präferenzkonflikten
Unsicherheit
Reaktion auf uneindeutige Nutzensituation
Risikoaversion, Statusquo-Orientierung, kurzfristige nichtsubstanzielle Nutzenkalküle
dominierendes Kalkül
absoluter substanzieller Eigennutzen, bei Unklarheit/Verhandlungsbedarf: nichtsubstanzieller Eigennutzen
Zahl der Einwände
Gesprächsgegenstand Æ Rückwirkung auf Akteure Offenheit für Argumentationen anderer zum substanziellen und langfristigen systemischen Nutzen; sozialpsychologische Effekte Systemnutzen und relativer Eigennutzen; Problemlösungsorientierung
Kompetitive Phase gering Defizite gemäß eigenen übergeordneten Programmatiken, Bezugnahme auf Kontextentwicklungen (nach außen) relativ eindeutig (nach außen) relativ eindeutig teilweise Neuabwägung Korrektur durch (Spitzen der) Kollektivakteure, kurzfristige nichtsubstanzielle Nutzenkalküle nichtsubstanzieller Eigennutzen, relativer substanzieller Eigennutzen
Die Fallstudien deuten darauf hin, dass bei unklaren Präferenzen vertrauensbildende Maßnahmen bzw. die Konfliktschlichtung in verkleinerten Gremien einigungsförderlich sind, wenn in ihnen Akteure sitzen, deren Rollen sich teils überlappen (Fachpolitiker) und die ein besonderes Interesse an konkreten sachlichen Problemlösungen mitbringen. Kompetenzvertrauen, der Eindruck, vom Initiator umfangreiche Informationen zum Vorgang zu erhalten, als Gesprächspartner ernstgenommen zu werden, ein beharrliches Engagement des Initiators für sein Anliegen, das Verständnis für sein Anliegen schafft und zu einer Gewöhnung an die Idee führt, sowie eine erkennbare Kooperationsbereitschaft anderer Mitspieler steigerten in allen Fällen, in denen die Präferenzen unklar waren, die Zustimmungsbereitschaft der Nichtinitiatoren. Damit waren alle den rationalistischen Verhaltensprognosen gegenübergestellten Verhaltensprognosen (Abb. 5) in den Aushandlungsprozessen tatsächlich beobachbar, wo nicht klare Interessen ihnen deutlich entgegenliefen.528 Die abnehmende Risikoaversion aufgrund von Kompetenzvertrauen gegenüber den Mitspielern und insbesondere dem Initiator, der Effekt steter Wiederholungen zentraler Argumente des höhermotivierten Agendasetzers (repetition bias), die Entwicklung eines Verständnisses für die Entscheidungsperspektive des höhermotivierten Initiators und der recency bias in der Schlussphase sind die – aus rationalistischer Sicht – am deutlichsten beobachteten systematischen Fehler in den Verfassungsänderungsprozessen. Die ersten drei förderten die Kooperations- und Zustimmungsneigung, obwohl zentrale Konflikte zwischen den Akteuren gar nicht gelöst waren und kein eigener Nutzen in Aussicht stand, der vierte konnte durch die Ablenkung von den eigentlichen substanziellen Konflikten Zustimmung
528 Etwa im Fall G das Interesse der Abgeordneten an maximalen eigenen Rechten.
7.2 Die Rationalität des Handelns und der Umgang mit unklaren Präferenzen
333
fördern, aber auch behindern.529 Weiteres Fehlerpotenzial bestand in der tendenziell unterentwickelten Prüfung von Handlungsalternativen – auch wenn sie es andererseits überhaupt ermöglichte, komplexe Informationen unter Zeitdruck einigermaßen adäqat zu verarbeiten (Tversky/Kahneman 1974: 1124; Ruse 1986: 162; Todd 2002). Diesen systematischen Fehlern wurde aufgrund der Defizite der Kollektivakteure in der Kontrolle des eigenen strategischen Handelns wenig entgegengesetzt. Weniger substanziell motivierte Mitspieler machten im Ergebnis selbst bei erhöhter Verhandlungsmacht und formal klaren Präferenzen günstigstenfalls für sich das Beste aus der Vorlage der Initiatoren. Wie insgesamt zu erkennen ist, taugt rationales Handeln als Leitmotiv zur Erklärung verfassungspolitischer Prozesse, und bei Themen, die für das politisch-programmatische Selbstverständnis eines Akteurs zentral sind, bestanden grundsätzlich klare Präferenzen und änderten sich nicht oder nur sehr langsam.530 Allerdings muss zwischen phasenspezifisch unterschiedlich beobachtbaren Rationaliäten differenziert werden (substanziell, nichtsubstanziell, absolut, relativ, lang- und kurzfristig) sowie zwischen unterschiedlichen Heuristiken. Es kann zu Interaktionen unterschiedlicher Heuristiken kommen, wie in der letzten Phase zwischen der rationalen Heuristik „Aktuelles, handlungsbezogenes geht vor“ und der sozialen Heuristik des Kompetenzvertrauens gegenüber den Fachpolitikern des initiierenden Kollektivakteurs. Dadurch ist die pauschale Aussagen, dass sich langfristig nur diejenigen Heuristiken durchsetzen, die Entscheidungen im Hinblick auf das Verhältnis von Entscheidungskosten und inhaltlichem Ergebnis tatsächlich optimieren, die also schnell, sparsam und akkurat zugleich sind (Gigerenzer 2006; Gummerum 2007: 72), schwer zu bestätigen. Zudem waren die Präferenzen der Akteure in den multidimensionalen Konfliktsituationen sehr oft nicht autark oder stabil und absolut, sondern entwickelten sich aushandlungsendogen in Interaktion mit anderen Akteuren (Weaver 2000: 57; Cohen/March/Olsen 1988: 295). Dies galt bei weniger zentralen Themen, bei veränderten Rahmenbedingungen oder in spezifischen Entscheidungskonstellationen, wie sie typisch sind für Demokratien unter heutigen Rahmenbedingungen. Betrachtet man das Verhältnis aus Entscheidungskosten und Entscheidungsgewinn, dann muss an der „smarten“ Nutzung von Heuristiken (Gigerenzer 2008) zumindest für diese Fälle gezweifelt werden. Rationales Handeln ist außerdem nur bei Berücksichtigung weiterer Variablen erklärungsträchtig – neben der Verhandlungsmacht am deutlichsten der substanziellen Motivation, des Interaktionsverhaltens und der Kontrolle des eigenen Verhaltens durch die Kollektivakteure. Man kann auf Basis der Untersuchung annehmen (aber es in ihrem Rahmen nicht eindeutig kausal belegen), dass die Ausprägung der substanziellen Rationalität und die Kontrolle des eigenen Verhaltens zunehmen, je substanziell motivierter ein Akteur hinsichtlich der Entscheidungsdimensionen eines Vorhabens ist. Solche Akteure sind daher in ihrem Entscheidungsverhalten vermutlich auch weniger beeinflussbar durch Mechanismen sozialer Interaktion und neigen weniger dazu, von ihrer ursprünglichen Position abzuweichen. Je weniger substanziell motiviert also der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur neben dem Initiator (in der Summe der betreffenden Entscheidungsdimensionen), desto größer die Erfolgsaussicht von Verfassungsänderungsverfahren. Hier fördern insbesondere 529 Selbst wenn man die Einigung in einer anderen Perspektive als Effekt des Lernens rationaler Akteure deuten würde (der kritisch erwähnte Wiederholungseffekt könnte dann beispielsweise als Effekt der Überzeugungskraft des besseren Arguments interpretiert werden), bliebe doch das Problem zu erklären, dass in allen untersuchten Fällen der Initiator so deutlich höhere Gewinne verzeichnete als sein wichtigster Mitspieler. 530 Beispiele sind die europapolitischen Grundsätze bei den großen Parteien in Irland oder die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bei den deutschen Parteien.
334
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
die Verkleinerung der Aushandlungsrunde, die kommunikative Einbindung von Akteuren (v.a. betroffenen Dritten) durch den Initiator, die extensive Bereitstellung von Informationen über das Vorhaben und die stete Wiederholung von Schlüsselaussagen die Zustimmungsbereitschaft der Mitspieler. Kommt man auf die in Kapitel 2.1 (Abb. 6) formulierten möglichen Untersuchungsbefunde bzw. Szenarien zur Rationalität des Handelns zurück, so lässt sich für den Fall einer hohen substanziellen Motivation eines Kollektivakteurs und gefestigten Präferenzen bestätigen, dass er vorhabenbezogen (pareto-)rational handelt, seine Handlungsbeauftragten Delegierte bleiben, seine Zustimmung zu einer Verfassungsänderungsvorlage also im wesentlichen auf Kosten-Nutzen-Überlegungen basiert und daher eine rationalistische Modellierung seines Verhaltens möglich ist (Szenario 1). Für die anderen Fälle zeigte sich, dass die Kollektivakteure im Prinzip (pareto-)rational handeln, dass ihre Handlungsbeauftragten aber nicht unbeeinflusst von sozialen Wirkungsmechanismen agierten und die Kollektivakteure ihr Handeln nur suboptimal kontrollierten. Ihre Zustimmung zu einer Verfassungsänderungsvorlage basierte also nicht nur auf substanziellen – also vorhabenbezogenen inhaltlichen – Kosten-Nutzen-Erwägungen der Kollektivakteure. Die rationalistische Modellierung des Entscheidungsverhaltens muss demnach erweitert und teils revidiert werden (Szenario 3). Da für die Einigung auf Verfassungsänderungen mehr als ein Akteur relevant ist und hinsichtlich aller jeweiligen spezifischen Entscheidungsdimensionen unklare Präferenzen überwogen, ist es wahrscheinlich, dass der zweite Befund für die Erklärung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien praktisch relevanter ist. Eine rein vorhabenbezogene, strikt-rationalistische Modellierung würde dann zu starken Prognosefehlern führen. Das zweite Szenario, dass die Handlungsdelegierten der Kollektivakteure eigene, vom Kollektivakteur distinkte Interessen verfolgen, die sich im Aushandlungsergebnis zumindest zwischenzeitlich widerspiegeln, konnte empirisch nicht belegt werden. Da aber bei zu vielen Entscheidungsdimensionen der untersuchten Fallbeispiele eben gar keine eindeutigen, gefestigten Positionen der Kollektivakteure vorlagen, erwies sich eine solche Abweichung auch als faktisch kaum nachweisbar.
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell Die vorliegende Untersuchung war so angelegt, dass sie die gemeinsame Entscheidung für eine Verfassungsänderung entweder auf die Wirkung einer Variable oder einer Variablenkombination zurückführen konnte oder aber auf eine je nach Phase distinkte Ausprägung akteur- und interaktionsbezogener Variablen, die jeweils dafür verantwortlich wären, dass der Aushandlungsprozess fortgesetzt bzw. abgeschlossen wird (Kapitel 2.2). Der empirische Fallvergleich zeigte, dass sich die Neigung zur Kooperation oder die Einigung auf Verfassungsänderungen nicht durch eine Variable erklären lässt, beispielsweise durch ein geringes Konfliktniveau oder eine hohe Komplexität der verhandelten Materien oder sozialen Druck oder eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber Verfassungsänderungen, die nicht sehr kostenträchtig sind. Ein Blick auf Tab. 54 zeigt, dass von den beobachteten interaktionsbezogenen Phasenmerkmalen nur die realen Kosten eines Austritts aus dem Aushandlungsprozess und die Existenz bzw. Nichtexistenz verfassungspolitischer Sondergremien während der Aushandlungsprozesse überhaupt weitgehend unverändert ausgeprägt waren.
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell
335
Nur sie könnten theoretisch in einer statischen, vorhabenfokussierten Sicht die Einigung auf eine Verfassungsänderung erklären. Dies scheint aber nicht sehr plausibel, war doch während der Aushandlungsprozesse ein Scheitern bis zuletzt immer möglich. Auch die Variable Verhandlungsmacht erklärt nur einen Teil. In additiver Kombination mit der substanziellen Motivation bzw. Beharrlichkeit der Akteure beeinflusste sie durchgängig, zwischen wem die Verhandlungen stattfanden. Die Studie verweist vielmehr auf den Sinn einer Prozessbetrachtung. Im Hinblick auf die Interaktionsorientierung der zentralen Akteure ließen sich je eine individualistische, eine kooperative und eine kompetitive Phase feststellen. Dies an sich hat einen geringen Neuigkeitswert, weil in Verhandlungsprozessen oft erst die Positionen abgesteckt werden, dann im besten Falle eine Diskussion erfolgt und kurz vor Schluss noch einmal härter verhandelt wird. Bedeutungsvoller sind in analytischer Perspektive die beobachteten Effekte dieser unterschiedlichen Interaktionsorientierungen für den Fortgang der Aushandlungen und die abschließende Einigung: So gingen die Akteure in den Phasen eben unterschiedlich mit der Komplexität der verhandelten Materien um, mit perzipiertem sozialem Druck oder der wahrscheinlichen Gewinn- und Verlustbilanz der vorgeschlagenen Verfassungsänderung, was die Aussicht auf eine Einigung direkt beeinflusste. Die Übersicht der interaktionsbezogenen Phasenmerkmale in Tab. 54 gibt die in vielen Punkten beobachtete Kovarianz wieder. Tabelle 54: Interaktionsbezogene Phasenmerkmale im Überblick individualistische Phase Kontakte zwischen den Akteuren Kooperationsbereitschaft Konfliktpunkte
punktuell-sequenziell Nein extensiv, Verknüpfung mit weiteren Materien
Versuch der Konfliktauflösung
Initiator bietet Einlenken an; Verweis auf nichtsubstanziellen Nutzen
Handlungsübereinkünfte*
Nein
kooperative Phase regelmäßig bis quasipermanent ja extensiv-intensiv Herunterbrechen der großen Konflikte auf formale/technische Fragen, Suche nach Kompromissen (hierbei Bedeutung Dritter) ja, aber keine Entscheidungsvorgabe gering mittel
kompetitive Phase punktuell beschränkt intensiv: einzelne Punkte kleine Zugeständnisse; Verschiebung vom substanziellen zum nichtsubstanziellen Nutzen (dabei auch symbolisches Handeln) ja
reale Austrittskosten Gering gering bis mittel soziale Austrittskosten Niedrig hoch Verfassungspolitische Nein nein (oder teils***) nein Sondergremien? Kontextsensitivität (Wahbeschränkt (allgemein nein relativ hoch len, Medien) wirkend) * außer Regierungskoalition ** Hierarchie betrifft die beteiligte Ministerialbürokratie und teils das Verhältnis Bund – Territorien (K). *** Der Revisionsausschuss (G) und das Europaforum (I) könnten evtl. als solche Sondergremien gelten.
So unterschied sich die individualistische Phase von der kooperativen Phase nicht nur im Hinblick auf die Zahl relevanter Akteure, den Typ der mitwirkenden Akteure, die Rationalitätsausprägungen und die Zahl der Konflikte, sondern auch im Hinblick auf den Interaktionsmodus der Akteure, das taktische Verhalten des Initiators, die sozialen Kosten eines
336
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Austritts aus den Aushandlungen und die Kontextsensitivität. Ähnliches gilt für den Vergleich zwischen kooperativer und kompetitiver sowie zwischen individualistischer und kompetitiver Phase. Dies macht es zwar schwierig, eindeutig bestimmte Bedingungen der Möglichkeit einer Fortsetzung der Aushandlungen zu benennen, verweist aber klar auf den heuristischen Wert eines interaktionsorientierten Phasenmodells für die Erklärung gemeinsamer verfassungspolitischer Entscheidungen. Ein weiteres Indiz dafür ist die große Ähnlichkeit der Fallbeispiele, was die phasenspezifischen Ausprägungen der Merkmale anbelangt. Im Gegensatz zur möglichen Erwartung, dass bei so verschiedenen Fällen wie den hier untersuchten die Varianz der unabhängigen Variablen viel zu groß ist, um sie als explanans zu nutzen, bestätigt das (auf abstraktem Niveau) klare Muster in der Abfolge der Variablenausprägung ihr Erklärungspotenzial. In der Kombination aus theoretischen Vorannahmen, Fallstudien sowie den phasenbezogenen Zwischenvergleichen aller Fälle ergab sich eine Gesamtdeutung inklusive Variablenhierarchie. Das folgende Resümee der Befunde geht chronologisch von der individualistischen bis zur kompetitiven Phase vor. In der ersten Aushandlungsphase sorgte weder eine Unpopularität des Status quo noch die Popularität der verfassungspolitischen Initiativen dafür, dass die Aushandlungsprozesse ins Rollen kamen. Der Ansatz der Initiatoren, ihren Vorstoß knapp zu halten und zu begründen, bewahrte sie nicht vor einer Unzahl von Einwänden hinsichtlich der Ziele der Verfassungsänderung, der hinter ihr stehenden Pläne, des Wegs der Zielerreichung und weiterer entscheidungsrelevanter Punkte. Die Kritik der Mitspieler wurde oft mit Kritik oder Forderungen betreffend andere Materien verknüpft und folgte zumeist keinem bestimmten inhaltlichen Gesamtkonzept. Abgesehen von den ausgewählten Entscheidungsdimensionen, bei denen bestimmte Positionen bereits etabliert waren, blieben ihre vorhabenenbezogenen Präferenzen oft unklar, denn sie schienen überfordert mit der Verarbeitung der konkreten Entscheidungskonstellation. Die strategische Positionierung untereinander spielte nur eine untergeordnete Rolle. Nur in einem Fall (G) fiel die Kritik gering aus, weil die Mitspieler damit beschäftigt waren, als Trittbrettfahrer eigene Initiativen zu formulieren. Die in der Regel höher substanziell motivierten Initiatoren blieben in allen Fällen beharrlich, verteidigten ihr Vorhaben inhaltlich und vermieden dabei trotz teils offensiver Kritik der Mitspieler Gegenanschuldigungen sowie Druck hinsichtlich einer schnellen Entscheidung. Es kam immer zu einem sequenziellen Schlagabtausch zwischen dem Initiator sowie dem (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur, in dem letzterer maximale Forderungen formulierte und ersterer erst relativ langsam bestimmte Kompromissoptionen andeutete. Diese waren initiatorintern nicht unumstritten und daher fragil. Auf Dritte wurde zwar teils Bezug genommen, sie wurden jedoch tendenziell nicht oder nur vom Initiator (oberflächlich) konsultiert. Im Vergleich aller Aushandlungsphasen dauerte diese tendenziell am längsten.531 Angesichts typischer programmatischer Unterschiede zwischen den politischen Akteuren sowie der aus ihrer Risikoaversion folgenden Status-quo-Orientierung überlappten sich 531 Die durch distinktes Verhalten definierten Phasen begannen und endeten nicht immer nachweislich zur selben Zeit bei allen Beteiligten. So verhielten sich in Deutschland die Kommunen schon im Herbst 1996 kompetitiv, weil dies für sie die wahrgenommene Abschlussphase möglichen Einflusses war, während die Entscheider (Parteien/Bundesländer) weiterhin über das Schicksal der Initiative verfügen konnten. Die Länder traten erst im Vermittlungsausschuss und nur bedingt in eine Art kooperative Phase ein, denn die klimabeeinflussende Wirkung kleiner Aushandlungsrunden mit dem Initiator und weiteren Akteuren war bei ihnen weniger gegeben.
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell
337
die Akzeptanzzonen allenfalls in einzelnen Entscheidungsdimensionen. Zudem beeinflusste der Kontext (parallele politische Vorhaben, Prozesse, allgemeine öffentliche Stimmung) die Wahrnehmung der Initiative selbst, möglicher Tausch- oder Paketgeschäfte. Da die Medien in dieser Phase kaum über die Initiativen berichteten (außer I) und es keine öffentliche Debatte gab, oblagen solche generalistischen Gesamtsichten auf Handlungsoptionen aber stark den politischen Akteuren selbst und waren kaum nachweislich von konkreter Medienberichterstattung beeinflusst. Tabelle 55: Voraussetzungen für die Überwindung der Schwelle zur kooperativen Phase Wahrgenommene Überlappung in einer Entscheidungsdimension
Initiator signalisiert Einlenken
K
Notwendigkeit ureinwohnerpolitischer Maßnahmen
X
G
Beseitigung von Anachronismen, Funktionalitätsverbesserungen (durch vage Formulierungen erleichtert)
X
I
EU-Osterweiterung positiv
X
D
Lage der Kommunalfinanzen prekär
X
Zusätzlicher Ertrag aus avisiertem Koppel- oder Tauschgeschäft jeweils infolge faktischer Verknüpfung von Landabkommen und Territorialreform Koppelgeschäft, da fast alle Vorschläge für Artikeländerungen der beiden wichtigsten Akteure kumuliert wurden Klärung des Neutralitätsstatus, Gewährung von Aufmerksamkeit für die (Interessen und Probleme der) Bürger Ausgleich der Verluste aus der geplanten Rückübertragung von Umsatzsteueranteilen der Länder an den Bund u. aus dem geplanten Wegfall der Vermögensteuer ab 1997
Das in allen Fallbeispielen beobachtbare oder drohende Patt zwischen dem Initiator und dem (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur bzw. die Schwelle zur kooperativen Phase wurde nie infolge der Ausräumung der oder einiger Konflikte überwunden, sondern nur dann, wenn erstens der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur neben dem Initiator dessen Zielsetzungen – auch in Reaktion auf parallele Ereignisse – in einer als wichtig bewerteten Entscheidungsdimension grundsätzlich zustimmte, wenn zweitens der Initiator Bereitschaft zum inhaltlichen Einlenken grundsätzlich signalisierte und wenn drittens mindestens einer der beiden einen zusätzlichen Ertrag aus einem avisierten Koppel- oder Tauschgeschäft erwartete (Tab. 55; vgl. Benz 2007: 112). Für die beiden letzten Punkte lieferten die Komplexität der zur Aushandlung stehenden Materien und die vorangegangene Neigung der Mitspieler zur Erweiterung der Agenda dem Initiator gute Möglichkeiten, d.h. er konnte teils wählen, in welchem Punkt oder auf welche Weise er entgegenkommen wollte. Insofern ist Komplexität nicht per se einigungshinderlich, weil sie die Wahrscheinlichkeit von Einwänden erhöht, sondern kann genauso als aushandlungsförderlich bewertet werden, weil sie die Wahrscheinlichkeit von Anknüpfungspunkten (bei Präferenzüberlappungen, Tauschgeschäften u.ä.) zwischen den wichtigsten Akteuren erhöht. In der kooperativen Phase, in der die Aushandlungen meist in verkleinerten Runden von Fachpolitikern stattfanden, nahm dann die Zahl der expliziten Konfliktgegenstände abrupt ab (Tab. 57). Die Auseinandersetzungen bezogen sich trotz der Nichtauflösung der entsprechenden Konflikte nicht mehr auf das Vorhaben an sich oder die jeweiligen Ziele, sondern konzentrierten sich auf die Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung, die konkrete Ausgestaltung der Verfassungsänderungen bzw. der dahinter stehenden Vorhaben sowie die Verteilung
338
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
von Gütern und Kompetenzen. Die Initiatoren bemühten sich jeweils um eine formalisierte Konfliktschlichtung. Während die Vorgabe der Diskussionsstruktur demjenigen oblag, der die stärkste Verhandlungsmacht besaß und nicht per se dem Initiator (was sich am kanadischen Fallbeispiel zeigte, wo beide Rollen auseinanderfielen), drängte letzterer darauf, die Konfliktpunkte segmentiert abzuarbeiten und große, besonders normative Fragen, auf technische, rechtliche bzw. Umsetzungsfragen herunterzubrechen. Im Zuge der „Technisierung“ oder „Versachlichung“ der Konflikte und durch beharrliche Wiederholung bestimmter Schlüsselargumente setzte sich bei den Handlungsdelegierten der anderen Akteure im verkleinerten Aushandlungsgremium die Wahrnehmung durch, dass ein bestimmtes Phänomen verfassungspolitischen Handlungsbedarf erzeugt, dem die Initiative gerecht werde (Tab. 56). Diese Änderung des inhaltlichen Deutungsmusters (frame) hatte aber nur dann eine einigungsförderliche Wirkung, wenn die entsprechende Entscheidungsdimension gleichzeitig auch als besonders wichtig für die Entscheidungsfindung akzeptiert wurde. Tabelle 56: Veränderte zentrale Annahmen der Akteure in der kooperativen Phase Fall K G I D
Zentrale Annahme eigenes Territorium als gutes Recht der Inuit Europäisierung, Modernisierung erfordern Verfassungsrevision EU-Osterweiterung bedarf der vorherigen Reformierung der EU mittels Nizza-Vertrag strukturschädigende Wirkung der Gewerbekapitalsteuer in den neuen Bundesländern
Ungeachtet der niedrigeren Zahl der Konfliktgegenstände und der inzwischen ausgeblendeten Infragestellung der Ziele des Vorhabens war die kognitive Komplexität der Aushandlungen in dieser Phase weitaus größer als zuvor, denn die Teilnehmer setzten sich mit den Argumentationen der anderen Akteure auseinander, begründeten ihre Positionen, diskutierten Interdependenzen, die eventuell Präferenzkonflikte verursachten, und beteiligten sich relativ unabhängig von den individuellen Gewinnaussichten und von der Verhandlungsmacht problemlösungs- bzw. ergebnisorientiert an der Diskussion der unterschiedlichen Positionen. Hier konnte man beobachten, dass die Delegation von Handeln an einzelne Subakteure die Wahrscheinlichkeit steigert, dass soziale Heuristik „’biases’“… to seek mutual cooperation in social exchange, diverting…from attempts to exploit exchange partners“ (Kiyonari u.a. 2000). Allerdings wurde dadurch das Paradigma der Gewinnorientierung, die ja auch die Durchsetzung inhaltlicher Programmatik beinhaltet, nicht gänzlich aufgehoben. Die Offenheit und Anerkennung anderer Standpunkte galt im Wesentlichen für Aspekte des Vorhabens, die nicht eigene anderslautende programmatische Festlegungen oder feststehende Verhandlungspositionen berührten, wo also angesichts ungefestigter Präferenzen eine geringere Handlungsmotivation vorlag. Bei Streitfragen, hinsichtlich derer es klare Positionen der Kollektivakteure gab, beharrten diese auf diesen Positionen und versuchten, die Gegenspieler zu spalten. Hier spielten substanziell hochmotivierte Dritte neben dem Initiator und dem (nächst-)verhandlungsmächtigstem Akteur eine wichtige Rolle. Zum einen hatten sie in der individualistischen Phase oft jene inhaltlichen Vorschläge eingebracht, auf die dann immer wieder Bezug genommen wurde, weil der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur sie aufgriff und der Initiator auf sie reagieren musste. Zum anderen positionierten sie sich teils neu im Verhältnis zum Initiator und zum (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteur, um als „moderate Alternative“ zu erscheinen und so der Durchsetzung des sie interessierenden Ziels näherzukommen („Triangulation“; vgl. Weaver 2000: 58).
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell
339
Hinsichtlich der Schwellenüberwindung ist festzustellen, dass die „Technisierung“ der Konflikte, die bereits in Kapitel 7.2 geschilderte Wirkungsweise sozialer Variablen und die Einbeziehung Dritter die inhaltliche Konsens- und Kompromissfindung erleichterten und damit wesentlich für die Fortsetzung der verfassungsändernden Verfahren waren. Sie förderten die dem strikt-rationalen Handeln latent abträgliche Kooperationsorientierung, Selbstläuferprozesse und den Kontrollverlust der Kollektivakteure. Die Schwelle zur kompetitiven Phase wurde dann überschritten, wenn zentrale Kollektivakteure suboptimale Aushandlungserfolge wahrnahmen und danach strebten, diese Fehler zu korrigieren. In der kompetitiven Phase ging es nur noch um ausgewählte Entscheidungspunkte, die intensiv diskutiert wurden. Dabei fand teils noch einmal eine Neubewertung statt, es wurden teils alte Einwände reaktiviert, andere Bewertungskriterien angelegt und (daher) gefundene Kompromisse infrage gestellt. Allerdings bezog die Entscheidungskalkulation neben den Kosten der Entscheidung selbst stärker die Kosten einer Nichtentscheidung ein. Dies förderte tendenziell eine Zustimmung, denn die perzipierten sozialen Austrittskosten fielen wesentlich höher aus als die realen Austrittskosten. Die Einwände bezogen sich zumeist auf Defizite gemäß den übergeordneten Programmatiken oder spezifischer Handlungsziele der nun an den Aushandlungen beteiligten Kollektivakteure. Strategische Erwägungen des Parteienwettbewerbs und taktische Erwägungen angesichts von Kontextentwicklungen spielten eine Rolle. Insgesamt waren nichtsubstanzielle, also nicht vorhabenbezogene Kalküle, etwa im Hinblick auf eine Imageverbesserung, in der kompetitiven Phase sehr bedeutungsvoll und beeinflussten Parallelentwicklungen sowie die Medienberichterstattung indirekt den Fortgang des Prozesses. Die Medien berichteten angesichts des Ereignischarakters der bevorstehenden Entscheidung532 und der für die Phase typischen, der Medienrationalität förderlichen Konfliktorientierung nun erstmals stärker über das Vorhaben und konnten dadurch ihrerseits die Konflikte zwischen den politischen Akteuren indirekt intensivieren. Ein Interesse daran, die Aushandlungen nicht scheitern zu lassen, steigerte nun die Aussicht auf eine Einigung bei den Konflikten. In den hier untersuchten Fällen entschieden sich die meisten Akteure nicht für eine strategische Uneinigkeit, die dazu dienen konnte, den ursprünglichen Abstand zu den Wettbewerbern zu bewahren (Gilmour 1995: 26 ff.; Weaver 2000: 59), sondern für eine Annäherung an den formalen Initiator oder für eine Mischstrategie.533 Dies galt insbesondere für Akteure mit einer schwachen bis mittleren substanziellen Grundmotivation, d.h. ungefestigten inhaltlichen Präferenzen. Gerade bei ihnen war es außerdem fraglich, ob die Spitzenpolitik die in der kooperativen Phase entwickelten komplexen Entscheidungsvorlagen in kurzer Zeit angemessen nachvollziehen und in ihren Effekten bewerten konnte. Sie war faktisch auf Hilfestellungen von seiten derjenigen angewiesen, die an den verkleinerten Aushandlungsrunden teilgenommen hatten, was die Fähigkeit zur Fehlerkorrektur beeinflusste. Der Gewinnasymmetrie wurde in der kompetitiven Phase trotz der Wettbewerbsbestrebungen der Akteure wenig entgegengesetzt. Die wichtigsten Nichtinitiatoren strebten in den hier untersuchten erfolgreichen Fällen von Verfassungsänderungen nur eine relative Ertragsmaximierung (im Vergleich zu ihrem wichtigsten Mitspieler) an. Für eine klare 532 Gemeint ist, dass eine formale Entscheidung leichter zu identifizieren ist als ein komplexer, teils informeller Prozess mit ungewissem Ausgang und einen höheren Nachrichtenwert hat. 533 So setzten sich im deutschen Fallbeispiel die SPD und die SPD-geführten Länder von der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Koalition auf Bundesebene ab, indem sie die entsprechenden Reformpakete ablehnten, waren jedoch im Vermittlungsausschuss an ergebnisorientierten Verhandlungen im hier untersuchten Vorhaben interessiert, um dem öffentlichen Image als Blockierer entgegenzuwirken.
340
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
strategische Ablehnung der Verfassungsänderungen entschieden sich nur substanziell besonders motivierte Dritte, die sich angesichts der Verhandlungskonstellation keine Gewinne aus dem Vorhaben versprachen, sowie Akteure, die in die vorangegangenen Prozesse, insbesondere die kleineren Aushandlungsrunden, nicht einbezogen waren.534 Ob sich die Akteure in der kompetitiven Phase auf eine gemeinsame Verfassungsänderung einigten, hing insgesamt von den strategischen und taktischen Erwägungen des Wettbewerbs untereinander angesichts des gegebenen Kontexts und von der Genauigkeit und Striktheit ab, mit der sie die Entscheidungsvorlagen mit den eigenen Positionen abglichen (wobei sich letztere ihrerseits aus der substanziellen Motivation ergab) sowie von der Bereitschaft des verhandlungsmächtigsten Akteurs, im Bedarfsfall letzte Zugeständnisse zu machen. Abb. 22 resümiert und veranschaulicht das distinkte Verhalten des Initiators und des (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteure in den Phasen der beobachteten erfolgreichen, jeweils dualistisch angelegten Verfassungsänderungsverfahren. Die Befunde werden außerdem im Folgenden och einmal in Bezug auf die Effekte der Interaktionen systematisiert und bewertet. Betrachtet man zunächst die Entwicklung der Konfliktgegenstände (Tab. 57), dann vollzog sich trotz einer fehlenden analytischen Konsistenz der von den Akteuren vorgebrachten Einwände in Phase 1, des Bruchs der Entscheidungsperzeption zwischen Phase 1 und 2 und der nochmaligen Infragestellung von Teilpositionen in Phase 3 in der Summe auf Systemebene doch relativ gut ein typischer kognitiver Entscheidungsprozess. Die für eine rationale Entscheidungsfindung notwendigen Punkte waren in jedem Verfassungsänderungsprozess auf Systemebene jeweils einigermaßen abgedeckt, wobei Verteilungsfragen eine durchgängig große Bedeutung hatten und sich darin von anderen Aspekten absetzten. Tabelle 57: Konfliktgegenstände nach Phasen Ziel der verfassungspolitischen Maßnahme an sich
Messung, Bewertung der betreffenden Sachverhalte
Angemessenheit des Wegs der Zielerreichung, Berücksichtigung von Interdependenzen
Individualistische XXXX XXXX XXXX Phase Kooperative (X) XX XXXX Phase Kompetitive (X) X Phase (X) Kritikpunkt wenig verhandlungsmächtiger Akteure Quellenbasis: Angaben in den Einzeltabellen in den Kapiteln 3.5, 4.5, 5.5.
(unterlassene) Verknüpfung mit weiteren institutionellen Änderungen
Verteilung von Gütern, Kompetenzen u.ä.
XXXX
XXXX
XX
XXXX
X
XXXX
534 Dies waren die Reform-Partei im kanadischen Fallbeispiel, Grüne und Sinn Féin im irischen, KKE und Linksallianz im griechischen.
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell
341
Abbildung 22: Beobachtete Phasen erfolgreicher Verfassungsänderungsprozesse
Individualistische Phase
Initiator*
Ermöglichung der Durchsetzung von politischen Steuerungszielen, knappe Argumentation
verfassungspolitische Initiative
Beharren auf Zielen und Angemessenheit der Zielerreichung
Abwehr durch politische Spitze; Konzentration auf wenige politische und sachliche Einwände
verfassungspolitische Initiative unverändert
Bei prioritären Zielen: Eingehen auf Einwände, Einladung zur Mitwirkung; oberflächl. Kontakt zu Dritten
Abwehr; Ausweitung der Einwände bei weiterhin beschränkter kognitiver Komplexität; Bezugnahme auf unkonsultierte Dritte
verfassungspolitische Initiative unverändert
Kooperative Phase
Sondierung von Konsens/ Kompromissvarianten nach innen (auch Koalitionspartner)
Kompetitive Phase
Akteur mit (nächst-)größter Verhandlungsmacht**
größere Offenheit gegenüber Argumenten/Einwänden, sachliche Vorschläge bei Kompatibilität mit eigenem Programm; Erweiterung der kognitiven Komplexität bei Dominanz von Fachpolitikern/-beamten; Einbeziehung Dritter; Versuch der Spaltung von Akteur 1
Andeutung des Einlenkens bei Erweiterung des politischen und sachlichen Themen-/Forderungstableaus
verfassungspolitische Initiative mit angedeuteter Änderungsoption
(Sequenzalität tendenziell aufgebrochen; Vorgabe der Diskussionsstruktur durch den Stärkeren)
bei Zustimmung Reaktivierung der Initiative durch Spitzenpolitik, (Erzeugung von/Hinweis auf) Zeitdruck
Konsens-/Kompromissvariante der Verfassungsänderungsinitiative
Beharren auf Ziel und Angemessenheit der Zielerreichung,; Protest gegen erneute Einwände von A1
Konsens-/ Kompromissvariante evtl. mit letzten kleinen Änderungen
* zumeist aus dem Regierungslager; ** z.B. Oppositionspartei
neue Entscheidungsperzeption; größere Offenheit gegenüber Argumenten, sachliche Vorschläge/Forderungen bei Kompatibilität mit eigenem Programm; Erweiterung der kognitiven Komplexität bei Dominanz von Fachpolitikern; Einbeziehung Dritter
Verteilungswünsche, allgemeine, aktuell-politisch motivierte Forderungen
Zustimmung
342
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Selten ließen sich in der Praxis ideelle und distributive Konflikte klar voneinander trennen. Dies scheint also wesenstypisch für „normale Verfassungspolitik“ zu sein, weshalb die Studie keine Schlussfolgerungen zu einem eventuellen Effekt des Konflikttyps für die Einigungschance zulässt. Zumindest aber war beobachtbar, dass die Kombination aus betroffenen Werte- und Verteilungsfragen jeweils mögliche Anknüpfungspunkte für Gespräche lieferte, die später in gemeinsame Entscheidungen der Akteure mündeten.535 Dass in den hier untersuchten Fallbeispielen die materiell-distributiven Teilaspekte stärker thematisiert wurden und insofern eine größere praktische Konfliktintensität aufwiesen, lag auch an der von den Initiatoren geförderten Tendenz, größere Problemstellungen in der kooperativen Phase konsequent auf materiell-organisatorisch-rechtliche Einzelfragen herunterzubrechen bzw. im Gegenzug für ideell motivierte politische Reformen (wie die unternehmenfreundliche Politik im Fall D) Kompensationszahlungen anzubieten, deren Höhe die Mitspieler beschäftigte. Diese distributiven Fragen führten zwar zu Auseinandersetzungen, konnten aber letztlich immer gelöst werden, wohingegen normativ-ideelle Großthemen, die nicht heruntergebrochen wurden, sondern als solche debattiert wurden (K: Recht auf Ureinwohnerselbstregierung, G: Grundtypus des politischen Systems, I: Neutralität, D: kommunale Finanzautonomie), oft nicht in Änderungen der Verfassungen einflossen bzw. die entsprechenden Konflikte nicht aufgelöst wurden. Gemäß der Intention der Studie (vgl. Tab. 8) resümiert Tab. 58 weitere Effekte der Interaktionen zwischen den Akteuren. Wie sie zeigt, wurde die Komplexität der Entscheidungssituationen in der individualistischen Phase zunächst gut abgebildet, sie verengte sich jedoch in der kooperativen Phase zugunsten einer größeren Tiefenschärfe der initiativenbezogenen Diskussion. In der kompetitiven Phase ging es nur noch um einzelne (teils nicht mit der Initiative unmittelbar verbundene) Aspekte, bei denen nachjustiert wurde. Ausgetragen wurden die Konflikte eher gemäß der politischen Kräftekonstellation und nur in der kooperativen Phase auch gemäß bestimmten inhaltlichen Problemdimensionen. Letzteres allerdings nicht, weil die Akteure sich um eine hohe Qualität der Entscheidungsfindung bemühten, sondern infolge der Bemühungen des Initiators, die Auseinandersetzungen zu „technisieren“. Es wurden entsprechend nur bestimmte Entscheidungsdimensionen berücksichtigt. In jeder Phase lassen sich mithin wie beim Verhalten der einzelnen Kollektivakteure auch aus Systemperspektive rationalistische Fehlerquellen entdecken, ohne dass der Prozess insgesamt als „irrational“ zu bewerten wäre. Die verfassungspolitische Gewinn- und Verluststruktur auf Systemebene war zunächst in allen Fällen unklar. In der kooperativen Phase bildeten sich gemeinsame Deutungen zu einer oder wenigen Entscheidungsdimensionen heraus, und in der kompetitiven Phase dominierte die Bewertung, dass es sich trotz notwendiger Verbesserungen um überwiegend nützliche Verfassungsänderungsvorhaben handele. Diese (durch die oben geschilderten Mechanismen beförderte) Wahrnehmung war ein wesentlicher Grund dafür, warum ihnen selbst Akteure zustimmten, die keinen oder einen nur sehr beschränkten Ertrag aus ihnen zogen.
535 Beispielsweise konnte der Wertekonflikt zwischen den griechischen Parteien PASOK und ND über den besten Grundtypus des politischen Systems (parlamentarisch, semipräsidentiell) nicht aufgelöst werden, doch die Aussicht, die Verteilung von Kompetenzen und die Abgeordnetenrechte neu zu regeln, also die Verquickung mit distributiven Interessen (Scharpf 2000), war ein Anreiz für die ND sich auf Verhandlungen einzulassen.
7.3 Die Erklärung der Entscheidungserzielung über ein interaktionsorientiertes Phasenmodell
343
Tabelle 58: Effektbezogene Phasenmerkmale im Überblick Individualistische Phase
Kooperative Phase gut abgebildet, aber Fokus auf Bereitstellung von Entscheidungsvorlagen oder Implementation zwei sich gegenüberstehenden Akteuren/Blöcken und deren Grundsatzpositionen sowie nach best. Problemdimensionen
Kompetitive Phase
Unklar
Herausbildung einer gemeinsamen Deutung
(nach außen) klar: alle Gewinner
formal beachtet
formal beachtet
formal beachtet
Zufälliger Präferenzüberlappung der 2 zentralen Akteure/Blöcke, Aussicht auf nichtsubstanziellen Nutzen
Kompetenzvertrauen und soziale Mechanismen fördern Zustimmung unabhängig von Gewinnoptimierung
Bereitschaft des mächtigsten Akteurs zu Zugeständnissen, Nichtausschöpfung maximaler Erträge durch A1
Komplexität der Entscheidungssituation
zunächst gut abgebildet, dann verengt
Strukturierung der Konfliktaustragung nach
zwei sich gegenüberstehenden Akteuren/Blöcken und deren Grundsatzpositionen (nicht aber nach best. Problemdimensionen)
Verfassungspolitische Gewinn-/ Verluststruktur Prinzipien demokratischer Verfassungspolitik Veränderung des Interaktionsverhaltens infolge
sehr verengt
Zwei sich gegenüberstehenden Akteuren/ Blöcken, Verteilungsinteressen
Die Prinzipien „guter demokratischer Politik“, d.h. Machtbeschränkung, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsschutz, Transparenz, Offenheit, Partizipation, wurden im Wesentlichen beachtet, allerdings mit Abstrichen. So wurden die formalen Verfahrensvorgaben interessenabhängig durch informelle oder zumindest in der Verfassung nicht vorgesehene Interaktionen ergänzt (besonders K, I), teils überdehnt (G), was das Ergebnis des Prozesses vorstrukturierte. Im deutschen Fallbeispiel fanden etwa wichtige Verhandlungen im Rahmen des Vermittlungsausschusses zu anderen, einfachgesetzlichen Vorhaben statt, die institutionellen Instrumentarien wurden lax zu handhaben versucht, die verschiedenen Ausschüsse (darunter die federführenden) in Bundestag und Bundesrat wirkten nicht als wirkliche Kontrollagenten, sondern unterwarfen sich freiwillig den Hierarchien bzw. Rollenzuweisungen im politischen Spiel, was die Diskussion und das Abstimmungsverhalten anging (s. Kapitel 7.5). Die Inklusion Betroffener und eine eventuelle Förderung von Partizipation (K, I) folgten immer rationalen Motiven. Sie wurde dann betrieben, wenn sie in Aussicht stellte, eigene Interessen besser durchsetzen zu können, während im Wesentlichen der Initiator und der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur die Schlüsselakteure waren (Kapitel 7.1). Diese Vorgehensweise beeinträchtigte auch eine systematische Transparenz der Aushandlungsprozesse, wenngleich ein bemerkenswert großer Teil der Geschehnisse ohne expliziten Druck der Bürgerinnen und Bürger für die Öffentlichkeit dokumentiert wurde. Dass die Medien nur in der Schlussphase der Aushandlungsprozesse über sie berichteten, förderte nicht die Herausbildung einer kritischen und insbesondere effektiven Öffentlichkeit, denn trotz letzter Nachbesserungen an den Entscheidungsvorlagen waren die wesentlichen inhaltlichen Weichenstellungen zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgt.536
536 Der Grad substanzieller Effektivität und Effizienz der Vorhaben kann im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung nicht systematisch bewertet werden.
344
7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Als letzten systemischen Effekt der Interaktionen erfasst Tab. 58 noch einmal die beobachteten Voraussetzungen für den Wechsel von einer Interaktionsorientierung zu einer anderen. Zusammen mit einem zentralen Befund aus Kapitel 7.2 zur Bedeutung sozialer Prozesse bilden sie die Kernaussagen der Studie zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Einigung auf Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien: 1.
2.
3.
4.
Der Wechsel von einer individualistischen zur kooperativen Interaktionsorientierung wird vollzogen, wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur neben dem Initiator dessen Zielsetzung – auch in Reaktion auf parallele Ereignisse – in einer als wichtig bewerteten Entscheidungsdimension grundsätzlich positiv bewertet, wenn der Initiator Bereitschaft zum inhaltlichen Einlenken signalisiert und wenn mindestens einer der beiden einen zusätzlichen Ertrag aus einem Koppel- oder Tauschgeschäft erwartet. Beim Vorhandensein einer kooperativen Interaktionsorientierung steigern eine verkleinerte Aushandlungsrunde, die kommunikative Einbindung betroffener Akteure, die umfängliche Bereitstellung von Informationen und die stete Wiederholung von Schlüsselaussagen durch den Initiator die Aussicht auf eine Einigung, insbesondere dann, wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur substanziell nicht stark motiviert ist. Die kooperative schlägt dann in eine kompetitive Interaktionsorientierung um, wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Kollektivakteur das Ergebnis als suboptimalen Aushandlungserfolg wahrnimmt und versucht, Fehler zu korrigieren. Beim Vorhandensein einer kompetitiven Interaktionsorientierung kommt es zu einer Einigung auf eine Verfassungsänderung, wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur aufgrund niedrigerer substanzieller Motivation seine initiativenbezogenen Gewinnmaximierungsoptionen nur unzureichend prüft bzw. ausschöpft, wenn seine parteienwettbewerblichen Erwägungen angesichts des gegebenen Kontexts einer Zustimmung nicht widersprechen und wenn der Initiator im Bedarfsfall zu letzten Zugeständnissen bereit ist.
Diese Aussagen verstehen sich nicht als deterministische Behauptungen über hermetisch abgeschlossene Phasen. Vielmehr bilden sie empirisch gewonnene Deutungsvorschläge dazu, unter welchen Bedingungen Akteure in der Verfassungspolitik etablierter Demokratien zu einer Kooperation bereit sind. Diese Voraussetzungen für Kooperationsbereitschaft scheinen je nach Interaktionsorientierung zu variieren, und die Summe unterschiedlicher Verhaltensweisen und ihrer Folgen über die Phasen hinweg hat dann Effekte nicht nur auf den Erfolg oder Nichterfolg einer Initiative, sondern auch auf die Inhalte der verabschiedeten Verfassungsänderung. Es wird erkennbar, dass gerade die Nichtausschöpfung maximal möglicher Erträge (infolge sozialer Mechanismen und begrenzter Rationalität des einzelnen bei geringerer bis mittlerer substanzieller Motivation) ein wesentlicher Katalysator dafür ist, dass sich interessengeleitete Akteure in komplexen, demokratischen Gesellschaften überhaupt auf gemeinsame Entscheidungen einigen. Verfassungsänderungen sind mithin das Produkt rational-sozialen Handelns. Die Kollektivakteure und ihre Handlungsdelegierten entsprechen dabei nicht konstant einem individuellen Grundtypus sozialer Wertorientierung (z.B. kooperativ, individualistisch, kompetitiv), wie dies die an interpersonalen Dispositionen interessierte Sozialpsychologie annimmt (z.B. De Dreu/Lange 1995; Lange/Visser 1999), sondern tragen unterschiedliche Orientierungen in sich und zeigen in unterschiedlichen Phasen der oft längerfristigen verfassungspolitischen Interaktionsprozesse ein jeweils distinktes Verhalten.
7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen
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Ob die beobachteten Phasen immer in dieser Reihenfolge ablaufen, ist nicht gewiss. In der Literatur wurden Wechsel zwischen verständigungsorientiertem, kompetitivem oder egozentrischem Verhalten als typisch für Verhandlungen, wobei ein erneutes Verhärten von Positionen oder der Wechsel in andere Interaktionsorientierungen möglich seien (Benz 2007: 111f.). In der vorliegenden Studie waren solche theoretisch plausiblen regressiven Dynamiken nicht erkennbar. Sie lassen sich aber durchaus mit dem Phasenmodell vereinen, wenn man annimmt, dass beim Vorliegen bestimmter Bedingungen (z.B. eines Teils der oben genannten) der Übergang zu einem anderen Interaktionsmodus als dem oben genannten wahrscheinlich ist, etwa ein Übergang vom kooperativen zum individualistischen. Solcherlei analytische Ergänzungen können in weiteren Untersuchungen erarbeitet werden. Ebenso kann es sein, dass in Einzelfällen oder bei einem bestimmten Typus der Verfassungsänderungen (mit höherer Reichweite oder etwa zu Wahländerungen) abweichende Verhandlungsmuster auftreten. Insgesamt gilt, was für jede empirische Untersuchung gilt: Sie muss sich um Aussagen mittlerer bis höherer Reichweite bemühen, kann aber nur von dem ausgehen, was tatsächlich beobachtet wurde. Um das Fehlerrisiko zu senken, wird im folgenden Kapitel 7.4. die Robustheit der getroffenen Aussagen zur Kooperations- bzw. Einigungsbereitschaft in den verschiedenen Phasen empirisch anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen geprüft.
7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen Im Folgenden geht es nicht darum zu erklären, warum bestimmte verfassungspolitische Initiativen nicht angenommen wurden, sondern lediglich darum zu testen, ob das, was für die Weiterführung oder den Abschluss von Verfassungsänderungsverfahren als erklärungsträchtig angenommen wurde, so auch bei nicht verabschiedeten Entwürfen beobachtbar war. Dies würde gegen die behaupteten Zusammenhänge sprechen. Die für den Test hinzuzuziehenden Initiativen sollen vorzugsweise die gleichen Selektionskriterien erfüllen wie die erfolgreich verabschiedeten: Sie sollten aus dem Untersuchungszeitrum 1993 bis 2002 stammen, ebenfalls das Regierungsystem, das Verhältnis zwischen Staat und territorialen Einheiten oder Repräsentationsbelange berühren sowie eine möglichst große thematische, Institutionen- und Kontextähnlichkeit zu den untersuchten verabschiedeten Verfassungsänderungsinitiativen des jeweiligen Quadranten der Fallmatrix aufweisen, um den eventuell verzerrenden Einfluss weiterer, in der Analyse nicht berücksichtigter Variablen zu minimieren. Daher werden Fallbeispiele in Kanada, Griechenland, Irland und Deutschland ausgewählt. Sie sollen außerdem möglichst zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Aushandlungen gescheitert sein. In Kanada gingen sechs der zehn im Unterhaus auf Bundesebene eingebrachten Vorlagen auf einen Initiator zurück, dem es v.a. um die Legalisierung privaten Waffenbesitzes ging.537 Andere Entwürfe betrafen den Staatshaushalt und die Fixierung einer Ausgabengrenze oder die Streichung der religiösen Bekenntnisformel in der Präambel zur Grundrechtecharta (Parliament of Canada 2006). Diese Vorlagen einzelner Abgeordneter blieben im Parlament faktisch sofort auf der Strecke. Sie können als Fallbeispiel K1 zusammengefasst 537 Initiator war jeweils Garry Breitkreuz, Abgeordneter der Reform-Partei bzw. seit 2000 der aus ihr hervorgegangenen Canadian Reform Conservative Alliance (Canadian Alliance). In den Vorlagen ging es um den verstärkten Schutz privater und korporativer Eigentumsrechte in der Bundesverfassung.
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
werden. Währenddessen herrschte in den „großen“ Fragen der Verfassungspolitik (Kapitel 2.4) im Untersuchungszeitraum Ratlosigkeit. Die aus den langen Verhandlungsrunden auf Bundesebene hervorgegangenen Übereinkünfte von Meech Lake und Charlottetown waren kurz vorher im Ratifikationsprozess gescheitert; die Situation galt als „verfahren“ (Maton 2004; Weaver 2000: 78f.). Beide Übereinkünfte waren für die kanadische Verfassungsentwicklung insgesamt nicht repräsentativ, denn Verfassungsänderungen wurden in der Realität oft einfach und diskret vollzogen und reichten inhaltlich nicht derart weit wie diese komplexen Reformpakete (Greene 2004: 257). Die Bemühungen um größere konstitutionelle Reformen entwickelten sich aber zunehmend zu einem parallelen, in der Öffentlichkeit vielbeachteten Strang der Verfassungspolitik und waren zudem politisch äußerst relevant. Daher wird der Charlottetown Accord als zweites Fallbeispiel (K2) für einen Test der getroffenen Annahmen hinzugezogen. Bei ihm handelte es sich nicht um einen konkreten Verfassungsänderungsentwurf, sondern um eine Sammlung von Richtlinien und Verpflichtungen, die bei öffentlicher Akzeptanz in Verfassungsrecht umgesetzt werden sollten. Die Übereinkunft wurde auf Initiative der Bundesregierung seit 1990 von dieser mit den Regierungen der Provinzen und Territorien sowie den Repräsentanten verschiedener Ureinwohnerorganisationen ausgehandelt (Kanengisser 2005: 7), verfehlte aber die Ratifizierung im Referendum am 26.10.1992, kurz vor Beginn des Untersuchungszeitraums. In Griechenland scheiterten im Untersuchungszeitraum keine Gesamtvorhaben, weil die Parteien im Rahmen des Verfahrens zur Verfassungsänderung von 2001 jeweils zahlreiche, inhaltlich aber oft unbestimmte Klauseländerungen forderten, die im Revisionsausschuss diskutiert wurden und dann indirekt in den vom Parlament verabschiedeten Revisionsvorschlägen Berücksichtigung fanden. Daher lässt sich ein Nichterfolg nur an einzelnen vorgeschlagenen Klauseln festmachen, bei denen die Änderungsintention und die Nichtverabschiedung tatsächlich relativ eindeutig waren. Zwei politisch relevante Initiativen bieten sich hier besonders als Fallbeispiele an: die Vorschläge der Regierungspartei PASOK zur Trennung von Staat und Kirche (G1) sowie zur Separation der Wahl des Staatspräsidenten von einer eventuellen Neuwahl des Parlaments in Art. 32 (3) der griechischen Verfassung (G2). Ersterer wurde von Premier Papandreou am 01.01.1995 vorgetragen und ein Jahr später aufgegeben, letzteren brachte die PASOK-Fraktion am 06.04.1997 im Parlament ein. Er scheiterte in der Schlussabstimmung am 06.04.2001. In Irland wurden von 1993 bis 2002 14 Initiativen für Verfassungsänderungen im Parlament eingebracht, aber nicht verabschiedet. Sie betrafen die Nominierung von Präsidentschaftskandidaten (initiiert von PD; FG), die Herabsetzung des Wahlalters, die Anerkennung, sozialer, ökonomischer und kultureller Rechte, ein Verbot unfairer Diskriminierung und die Fixierung von Antidiskriminierungsmaßnahmen (Labour), die militärische Neutralität (Grüne, Labour, SF), die Ratifizierung des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof von Rom (FG), die Kontrolle von Richtern sowie den Schutz ungeborenen Lebens (FF). Zwei von ihnen scheiterten im Ratifizierungsreferendum, die anderen schon während des parlamentarischen Verfahrens. Als Fallbeispiel I1 bietet sich der erste Regierungsentwurf zur Ratifizierung des Vertrags von Nizza an, der am 07.06.2001 im Referendum scheiterte. Als weiteres Beispiel (I2) wird der von Justizminister John O'Donoghue (FF) eingebrachte Entwurf einer 22. Verfassungsänderung gewählt, da er ebenfalls von der Regierung und aufgrund der zeitlichen Nähe unter ähnlichen politischen Rahmenbedingungen initiiert wurde. Er sah in Art. 35 (4) und 35 (5) ausführliche Regelungen zur parlamentarischen Kontrolle richterlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten sowie zur Amtsenthebung von
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7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen
Richtern vor und wurde nach der zweiten Lesung am 02.05.2001 aufgegeben (Twentysecond Amendment… 2001). In Deutschland gab es im Untersuchungszeitraum 51 Verfassungsänderungsinitiativen, die nicht als Gesetze verabschiedet wurden, aber teils in verabschiedete Verfassungsänderungen (darunter die in der Hauptanalyse besprochene) eingingen. Der große Teil konzentrierte sich auf ein beschränktes Set von Themen.538 Um auch hier die Rahmenbedingungen gegenüber der untersuchten Verfassungsänderung möglichst konstant zu halten, wird aus den nicht verabschiedeten Vorlagen der Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP zur Änderung des Art. 106 GG vom 27.03.1995 ausgewählt, der mit der Vorlage der in den Kapiteln 3.4 bis 6.4 untersuchten Grundgesetzänderungsinitiative der Bundesregierung textidentisch war und der bereits am 12.05.1995 im Bundestag abgelehnt wurde (D1). Testfall D2 soll ein Gesetzentwurf zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sein, der aus der Zeit stammte, in der sie auf Bundesebene die Regierung stellten. Dieser Entwurf blieb in der Ausschussphase „hängen“ und sah die Einfügung eines Art. 24 (2a) GG vor, dem gemäß Streitkräfte des Bundes aufgrund eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrates und im Rahmen der UNCharta bei friedenserhaltenden und friedensherstellenden Maßnahmen sowie in Ausübung des Rechtes zur kollektiven Selbstverteidigung gemeinsam mit anderen Staaten eingesetzt werden konnten (DBT 1993a, b). Tabelle 59: Fälle nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen Fall (Initiator) K1: diverse Gesetzesinitiativen einzelner Abgeordneter 1993-2002 G1: Vorschlag zur Trennung von Staat und Kirche (PASOK-Regierung) D1: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 106 GG (CDU-/CSU-, FDP-Fraktion) I2: Twenty-Second Amendment of the Constitution Bill, 2001 (FF/Regierung) D2: Entwurf eines Gesetzes zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes (CDU-/CSU-, FDP-Fraktion) K2: Charlottetown-Übereinkunft (Bundesregierung) G2: Vorschlag zur Wahl des Staatspräsidenten (PASOK-Regierung) I1: Twenty-Fourth Amendment of the Constitution Act (FF/Regierung)
gescheitert früh
mittel
spät
Damit stehen für den Test acht Fälle zur Verfügung, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Aushandlungsprozesse scheiterten. Dies steigert die Wahrscheinlichkeit, dass die Robustheit möglichst vieler Aussagen zu den verschiedenen Varianten bzw. Phasen des Interaktionsverhaltens geprüft werden kann (Tab. 59). Zunächst werden die früh gescheiterten Initiativen betrachtet. Dabei zeigt sich, dass das Interaktionsverhalten der Akteure jeweils dem individualistischen Muster entsprach. Insofern kann die Aussage zur Überwindung von der individualistischen zur kooperativen Phase geprüft werden. Aus der Analyse der verabschiedeten Initiativen war geschlossen worden, dass sie erfolgt, wenn erstens der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur neben dem Initiator dessen Zielsetzung – auch in Reaktion auf parallele Ereignisse – in einer als wichtig bewerteten Entscheidungsdimension grundsätzlich zustimmt, wenn zweitens der Initiator Bereitschaft zum inhaltlichen Einlenken grundsätzlich signalisiert und wenn drit-
538 So bezogen sich allein elf individuelle Vorlagen der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Grünen, PDS, FDP und des Bundesrats auf die Festschreibung des Tierschutzes (Schindler 2000, Schindler 2005).
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tens mindestens einer der beiden einen zusätzlichen Ertrag aus einem avisierten Koppeloder Tauschgeschäft erwartet. Die unter K1 zusammengefassten Einzelinitiativen kanadischer Abgeordneter widersprechen dem nicht, weil sie jeweils noch nicht einmal Unterstützung in den Reihen der eigenen Partei genossen. Sie erfüllten also alle noch nicht einmal die erste der Anforderungen zur Überwindung der Schwelle zur kooperativen Phase. Auch Fall G2 spricht nicht gegen die Annahme: Die gesellschaftlich und im politischen System tief verwurzelte orthodoxe Kirche (Molokotos-Liederman 2003: 5f., 9) hatte sich von Anbeginn vehement gegen das Vorhaben Papandreous gewandt, ihren verfassungsrechtlichen Sonderstatus anzutasten. Nach dessen Tod versuchte seines Nachfolger Simitis, sich parteiintern und als Premier zu etablieren. Angesichts der mit dem Generationswechsel verbundenen umfassenden Neustrukturierungen, der ökonomischen und außenpolitischen Probleme Griechenlands und der Modernisierungsbestrebungen der Erneuerer (Featherstone 2005) war es fraglich, ob der Staat auf die homogenisierende und einigende Kraft (Kokosalakis 1996) der unter Aufsicht des Bildungs- und Religionsministeriums stehenden orthodoxen Kirche verzichten sollte. Auch die juristisch und politisch ungelöste Problematik der von PASOK in den 1980er Jahren vorgenommenen teilweisen Enteignung der Kirche trug parteiintern zur Präferenz bei, die Trennung von Staat und Kirche besser zu verschieben (Dimitropoulos 2001). Der wichtigste Mitspieler ND hatte ohnehin kein Interesse daran, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche verfassungspolitisch neu zu regeln. Die PASOK-Regierung entschied sich daher, vorerst abzuwarten und das „heiße Eisen“ der Religionsproblematik zu meiden (Filos 2002: 1021).539 Nach Treffen eines Stellvertreters des Revisionsausschusses und den Mitgliedern der Synode der griechischen orthodoxen Kirche im Mai 1996 zog PASOK den Vorschlag zur Änderung des relevanten Art. 3 zurück (Sotirelis 2001b: 21). In diesem Falle war der Initiator des Vorschlags also selbst nicht stark substanziell motiviert und schreckte angesichts der Priorität anderer innenpolitischer Ziele von den erwartbaren Widerständen verhandlungsmächtiger Akteure sowie den Risiken des Schritts zurück. Die in der Annahme (1) genannten Voraussetzungen für die Überwindung der Schwelle zur kooperativen Phase waren damit nicht gegeben. Auch Fall D1 stellt die Kausalitätsannahme nicht infrage. Die Regierungsfraktionen sowie die Bundesregierung übten mit Verweis auf die Dringlichkeit der Standortsicherung und mit EU-rechtlichen Problemen (DBT/BR o.J.: A3, 45, Anl. 4; A1, 17: 3442f.) einen erheblichen Druck auf die anderen Akteure aus.540 Die SPD und die SPD-geführten Länder stimmten der Verfassungsänderungsinitiative in der von ihnen als am wichtigsten erachteten Dimension der allgemeinen Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht zu.541 Sie stützten ihre Ablehnung außerdem auf die von den kommunalen Spitzenverbände erhobenen Einwände sowie auf die fehlende Deckung der zu erwartenden finanziellen Verluste der Bundesländer, die neben den Kommunen am stärksten von der geplanten Reform betrof539 Auch in der seit den 1980er Jahren zwischen PASOK und ND umstrittenen Frage einer obligatorischen, optionalen oder ausgeschlossenen Erwähnung der Religionszugehörigkeit im Personalausweis wartete die PASOK-Regierung zwischen 1994 und 1996 ab (Molokotos-Liederman 2003: 8). 540 Noch bevor der Bundesrat eine Stellungnahme vorbereitet hatte, fand wegen der Eilbedürftigkeit am 27.04.1995 im Bundestag auch eine parallele Anberatung des Entwurfs der Bundesregierung statt. 541 So gebe die Bundesregierung vor, die Städte und Gemeinden entlasten zu wollen, plane aber zugleich neue Lasten für die Gemeinden durch eine Befristung der Arbeitslosenhilfe. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer komme nur einem kleinen Teil der Unternehmen zugute, belaste aber viele, und die Steuerpolitik der Bundesregierung sei unsozial (Handelsblatt 15.05.1995). Siehe auch Kapitel 4.4.
7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen
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fen seien (DBT/BR o.J.: A1, 17: 3440). Zwei Tage vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen fungierte die Schlussabstimmung als symbolträchtiger Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition, in dem die Vertreter der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen ihrerseits jedes Einlenken mit Verweis auf Sachzwänge ablehnten.542 Die Abgeordneten der CDU/CSU und FDP stimmten komplett für, die der anderen Parteien gegen den Entwurf (DBT 1995). SPD-Spitzenpolitiker Lafontaine (Saarland) und Grünen-Fraktionssprecher Fischer erklärten ihre Ablehnung mit fehlenden Kompromissangeboten betreffend das Gesamtsteuerkonzept bzw. die Kommunalfinanzen (DBT/BR o.J.: A1, 14: 241; Handelsblatt 15.05.1995). Im Gegensatz zur später weiterverfolgten Initiative der Bundesregierung lagen hier also zwei der drei genannten Bedingungen für die Schwellenüberwindung (signalisiertes Einlenken und Aussicht auf ein Tausch- oder Koppelgeschäft) nicht vor. Betrachtet man nun die Fälle genauer, die in einer mittleren Phase der Aushandlungen scheiterten, dann wiesen diese zuletzt Merkmale des kooperativen Interaktionsmusters auf. In bezug auf dieses Interaktionsmuster war aus der Hauptanalyse die Annahme (2) geschlossen worden, dass eine verkleinerte Aushandlungsrunde, die kommunikative Einbindung der (insbesondere betroffenen) Akteure, die umfängliche Bereitstellung von Informationen und die stete Wiederholung von Schlüsselaussagen durch den Initiator die Aussicht auf eine inhaltliche Einigung steigert, besonders wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur substanziell nicht sehr stark motiviert ist. Bei allen untersuchten Prozessen verabschiedeter Verfassungsänderungen schloss sich daran eine Phase kompetitiven Verhaltens. Die Schwelle dazu, so lautete Annahme (3), wird dann überschritten, wenn der zentrale Mitspieler als Kollektivakteur danach strebt, wahrgenommene Fehler im vorliegenden Aushandlungsergebnis noch zu korrigieren. Diese Aussagen können nun geprüft werden. Das Fallbeispiel I2 spricht nicht gegen sie. Die Fianna-Fáil-Regierung orientierte sich in ihrem Entwurf einer Verfassungsänderung an den (noch unter der FG-Vorgängerregierung formulierten) Empfehlungen des parlamentarischen Allparteienausschusses für Verfassungsfragen und weiterer Expertenkommissionen, die sich nach einem Justizskandal 1996 intensiv mit Möglichkeiten für eine verbesserte Kontrolle der Richter befasst hatten. Daher stießen die Ziele der Initiative in den als am wichtigsten erachteten Entscheidungsdimensionen (Kontrolle der Justiz, Wahrung ihrer Unabhängigkeit, Zurechenbarkeit von Entscheidungen) auf aktive Zustimmung der wichtigsten anderen Akteure. Die Regierung hatte zudem konkrete Wünsche der Opposition nach Änderungen und weiteren Regelungen (Paket) aufgenommen und die Interessen der betroffenen Akteure (Justiz) berücksichtigt. Aufgrund dessen unterschätzte sie aber den Bedarf an weiterer Kommunikation innerhalb des Parlaments und mit der Öffentlichkeit, betrieb keine Informationskampagne, versorgte die Abgeordneten noch nicht einmal rechtzeitig mit den wichtigsten Informationen über den Gesetzentwurf und seine Änderungen und leistete keine ausreichende Überzeugungsarbeit mithilfe immer wiederkehrender Schlüsselaussagen. Auf Forderungen der Opposition nach einer längeren Ausschussdebatte inklusive öffentlicher Anhörung ging sie nicht ein. Für die nicht an den vorangegangenen Aushandlungen beteiligten Einzelakteure blieb das Vorhaben daher äußerst komplex, Misstrauen hinsichtlich der einfachgesetzlichen Umsetzung der Verfassungsänderung und die Furcht vor einem zu schnellen Reformtempo, bei dem nicht nur mögliche Fallstricke und Inkonsistenzen übersehen werden, sondern auch die Bürger nicht „mitgenommen“ werden könnten, wurden nur unzureichend abgebaut. Trotz einer 542 Abgelehnt wurden auch Entschließungsanträge der SPD und von Bündnis 90/Grünen für eine grundlegende Reform der Gemeindefinanzen.
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relativ großen Nähe der inhaltlichen Positionen und des Interesses der Regierung an einer weiteren Annäherung waren damit die in der Annahme (2) genannten Voraussetzungen nicht gegeben. Die konsensorientierte Regierung verzichtete ihrerseits trotz eigener Mehrheit auf eine Kampfabstimmung,543 wodurch das Verfahren nach der zweiten Lesung „versandete“ (HoO 2001r-w; Downing 2001a). Das Fallbeispiel D2 ist ebenfalls mit Annahme (2) vereinbar. Bundeskanzler Kohl hatte sich bereits 1991 anlässlich seiner Ablehnung einer Truppenentsendung an den Persischen Golf544 für eine Grundgesetzänderung ausgesprochen, um die Beteiligung der Bundeswehr an friedenserhaltenden und –sichernden Missionen im Ausland rechtlich eindeutig zu klären. Seit dem Ausbruch der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan und besonders seit dem Somalia-Einsatz der Bundeswehr 1993 entspann sich eine harte politische und verfassungsrechtliche Kontroverse über Bundeswehreinsätze außerhalb der NATO, die auch vor das Bundesverfassungsgericht getragen wurde. Einig waren sich die wichtigsten politischen Akteure im Bedarf eines friedensunterstützenden außenpolitischen Engagements der Bundesrepublik; für die Beteiligung an UN-Friedensmissionen fand sich eine Mehrheit in Regierungs- und Oppositionslager. Der Konflikt markierte den Beginn eines langsamen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels und drehte sich v.a. um die Art, Legitimation und Einsatzorte der Beteiligung (DBT 1993c; Kleemann 2007). Es handelte es sich um ein ideologisch äußerst umstrittenes und für einige Parteien parteiprogrammatisch äußerst profilprägendes Thema, das sich mit weitergehenden Problematiken verband, so der künftigen Rolle der Bundeswehr und dem Verhältnis zwischen ziviler Krisenpräventionspolitik und Militäreinsätzen. Alle Akteure waren daher substanziell hoch motiviert und wenig bereit, von ihren (intern ebenfalls durchaus umstrittenen) Positionen abzurücken.545 Dies galt für die Regierungskoalition auf Bundesebene,546 deren Änderungsentwurf größtenteils die Meinung der CDU reflektierte (Hoffmann 1993: 73-76; Löwe 1994: 241), ebenso wie für die Oppositionsparteien.547 Angesichts dieser Motivationslage bei unterschiedlichen Positionen erlangte die schlechte Kommunikationsarbeit der Initiatoren, die den offiziellen Entwurf der Grundgesetzänderung erst zwei Tage vor der ersten Plenarsitzung, die Begründung des Vorhabens 543 Premier Ahern wollte die Problematik auf keinen Fall ohne Konsens mit der Opposition klären. Ein weiteres, aber nicht den Ausschlag gebendes Motiv der Regierung bestand darin, den Erfolg der drei anderen für das nächste Verfassungsreferendum bereits vorgesehenen Vorlagen nicht durch eine umstrittene vierte zu gefährden (Downing 2001b). 544 Ein maritimer Minenabwehrverband wurde 1991 nach dem Ende des Golfkriegs in der Golfregion eingesetzt. Eine Chronologie der Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1990 in Kleinwächter/Krämer 2007: 123126. 545 So klagten die Fraktionen von FDP und SPD 1993 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die AWACSEinsätze in Bosnien-Herzegowina. 546 Die CSU betrachtete sie als überflüssig und stellte sich auf den Standpunkt, dass BundeswehrAuslandseinsätze bei einer weiten Auslegung des Art. 24 GG verfassungsrechtlich gedeckt wären. Die FDP plädierte für eine Erweiterung der Verfassungsregeln, hatte im August 1992 aber einen eigenen Änderungsentwurf dafür vorgelegt und diesen nur zugunsten des Koalitionsfriedens zurückgezogen. 547 Die SPD hielt eine Grundgesetzänderung für erforderlich, wollte aber nur Friedenseinsätze im Rahmen einer reformierten UNO zulassen. Obwohl sie binnen kurzer Zeit von ihrem eigenen Entwurf einer Grundgesetzände-rung vom 23.06.1992 abrückte und eine moderatere Position bezog, ging ihr der Entwurf der Regierungsfraktio-nen zu weit. Die PDS/LL wandte sich prinzipiell gegen Militäreinsätze. Bündnis 90/Die Grünen lagen zwischen beiden Positionen. Sie lehnten Auslandseinsätze ab bzw. befürworteten nur absolute Ausnahmefälle im gewaltfreien Konfliktschlichtungsbereich unter UN-Führung (Thränert 1993; Hoffmann 1993: 75f.).
7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen
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erst an diesem selbst publiziert hatten, eine zusätzliche negative Bedeutung. Es war kaum möglich, die Kontroverse in eine technisierte „Problemlösungsdiskussion“ zu überführen. Die Auseinandersetzungen über Vor- und Nachteile einer weiteren oder engeren rechtlichen Formulierung, wie sie in allen untersuchten Fällen von Verfassungsänderungen beobachtbar waren, konnten daher nicht aufgelöst werden. Mit ihrem Entwurf einer relativ ausführlichen Grundgesetzänderung, die zwischen verschiedenen Varianten von Einsätzen der Bundeswehr unterschied, um Fehlinterpretationen zu unterbinden (Hoffmann 1993: 75), ernteten die Regierungsfraktionen umfassende Kritik der Mitspieler.548 Nach der Ausschussüberweisung durch den Bundestag am 15.01.1993 gab es zwar Beratungen und im März änderten die Initiatoren ihren Vorschlag noch einmal im Hinblick auf den NATOBezug ab (Löwe 1994: 243); doch konnte trotz der genannten ähnlichen Grundauffassungen in bestimmten Entscheidungsdimensionen kein Kompromiss erzielt werden. Die Vorlage wurde nie zur Abstimmung gestellt. Stattdessen zogen es die Parteien vor, den Konflikt vom Bundesverfassungsgericht lösen zu lassen (Ellwein/Jesse 1994: 135), das am 12.07.1994 die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr (inklusive Kampfeinsätze) im Rahmen des Art. 24 (2) GG klärte (BVerfGE 90, 286). Die drei übrigen für den Test ausgewählten Fälle scheiterten zu einem deutlich späteren Zeitpunkt nach der Initiierung. Hier zeigte sich wiederum eine ähnliche Abfolge von Interaktionsmustern wie bei den verabschiedeten Verfassungsänderungen. Da zum Zeitpunkt des Scheiterns das kompetitive Muster erkennbar war, kann die Annahme (4) geprüft werden, der gemäß sich die Akteure in der kompetitiven Phase dann auf eine Verfassungsänderung einigen, wenn erstens der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur aufgrund niedrigerer substanzieller Motivation seine initiativenbezogenen Gewinnmaximierungsoptionen nur unzureichend prüft bzw. ausschöpft, wenn zweitens seine (parteien-) wettbewerblichen Erwägungen angesichts des gegebenen Kontexts einer Zustimmung nicht widersprechen und wenn drittens der Initiator im Bedarfsfall zu letzten Zugeständnissen bereit ist. Fall K2 erschüttert diese Aussage nicht. Die Aushandlungen, die zur CharlottetownÜbereinkunft führten, beschränkten sich zwar im Wesentlichen auf das traditionelle Muster der Bund-Provinz-Diplomatie zwischen den politischen und administrativen Eliten (Pal/Seidle 1993), doch hatte sich die Bundesregierung um Inklusion verschiedenster weiterer Akteure ohne Vetokapazität bemüht. Die Bundesregierung verhielt sich so kooperativ, offen und deliberativ wie noch nie zuvor (Noel 1994).549 Aufgrund der breiten Beteiligung waren die Forderungen nach zu verhandelnden Materien und die Positionen zu diesen aber extrem breit, und es gelang im Laufe der Gespräche nur unzureichend, die Agenda der diskutierten Themen und damit der Entscheidungsdimensionen zu beschränken (Russell 548 Kritisiert wurde, die Aufzählung möglicher Einsatzszenarien und ihre Verkopplung mit unterschiedlichen parlamentarischen Mehrheiten verwirre eher als dass sie klarstelle. Es entstehe der Eindruck, alle Auslandseinsätze, die nicht in das gegebene Schema passten, wären per se nicht verfassungskonform. Die klare Feststellung eines bestimmten Szenarios sei nicht immer möglich, besonders die Grenze zwischen friedensschaffenden und friedensunterstützenden Einsätzen könne fließend sein. Die explizite Nennung der UNOrgane und ihrer Vorgehensweisen könne schnell unaktuell werden, und die vorgesehene Zweidrittelmehrheit für Einsätze im NATO- und WEU-Rahmen widerspreche dem Charakter der Bündnisse, der schnelles Handeln erforderlich machen könne (Löwe 1994: 241f.). 549 Dies lag auch daran, dass sie das Scheitern der Meech-Lake-Übereinkunft auf einen Mangel an Öffentlichkeit und Partizipation zurückgeführt hatte und diesen Fehler nun vermeiden wollte. Premier Mulroney hatte zur Koordinierung und symbolischen Aufwertung des Prozesses eigens einen Bundesminister für Verfassungsangelegenheiten ernannt und diesen Posten mit einem politisch erfahrenen Mann, dem ehemaligen Premier Joe Clark, besetzt.
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1993). Die Übereinkunft, der alle Regierungen der Provinzen und Territorien und die Repräsentanten vieler Ureinwohnerorganisationen zustimmten, enthielt 60 unterschiedlichste Vorschläge bzw. Materien, die jeweils für einzelne, aber insgesamt nicht für alle von Interesse waren, während manche anderen Reformideen durch diese Fülle außen vor blieben550 (Russell 2004b: 15; Weaver 2000: 70). Nachdem Premier Mulroney sich gegen den Rat des zuständigen Bundesministers Clark zur Abhaltung eines bundesweiten Referendums entschlossen hatte, führte die Fülle der fixierten Punkte in der kompetitiven Phase zu einer negativen Koalitionsbildung: Verschiedene gesellschaftliche Gruppen befanden, dass ihre spezifischen Ziele ungenügend berücksichtigt worden seien, während die Forderungen anderer zuviel Beachtung gefunden hätten, und schlossen sich gegen die Übereinkunft zusammen, obwohl sie ansonsten jeweils ganz unterschiedliche Ziele und Interessen verfolgten (Schultze 2000: 27).551 Dies verstärkte die individuelle Wahrnehmung des Ertragswettbewerbs mit anderen Akteuren weiter – gerade bei jenen, die an dem vorangegangenen Aushandlungsprozess nicht beteiligt gewesen waren,552 und verband sich mit dem nichtsubstanziellen Kalkül, die ohnehin große gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der Regierung und besonders dem Premier zu signalisieren. Im Referendum wurde bei einer bundesweiten Wahlbeteiligung von 71,8 Prozent die Mehrheit sowohl auf Bundesebene als auch in sieben der zwölf Provinzen und Territorien verfehlt, im englischsprachigen ebenso wie im französischsprachigen Teil. Die in der Aussage (4) enthaltenen Bedingungen für eine Einigung waren also nicht gegeben. Der Fall G2 betraf die Wahl des Staatsoberhauptes, die im Falle einer fehlenden Mehrheit für einen Kandidaten im Parlament zu einer Auflösung desselben führen konnte. Die Initiatorin PASOK und der nächstverhandlungsmächtigste Akteur ND waren sich bezüglich des zentralen Ziels des Vorhabens einig, dass die Kosten und politische Instabilität infolge einer solchen Parlamentsauflösung künftig vermieden werden sollten (Sotirelis 2001b: 147-170). Allerdings berührte die Materie mittelbar auch die Thematik der Kompetenzen des Staatsoberhauptes, hinsichtlich derer die Präferenzen PASOKs und der ND traditionell deutlich differierten (Sotirelis 2001b: 61-114). Die Regierungspartei hatte inhaltliches Einlenken signalisiert und im Revisionsausschuss Alternativregelungen zur Wahl des Präsidenten unterbreitet, darunter eine Direktwahl (ebd.: 24), eine Einigung bei anderen Teilaspekten der Verfassungsrevision (Paket) in Aussicht gestellt sowie vertrauensbildende Kommunikationsbeziehungen in einer verkleinerten Aushandlungsrunde gepflegt. Die ND blieb zwar vorsichtig und votierte trotz eines gegenteiligen Plädoyers ihres ehemaligen 550 Darunter waren die Anerkennung der indigener und ethnokultureller Gemeinschaften als Teil des kanadischen Volkes, Quebecs als distinkte Gesellschaft, eine Sozialcharta, der Abbau von Handels- und Freizügigkeitshemmnissen, Regelungen zur Beschäftigung und zu Lebensstandards, die Reform des Senats, des Unterhauses, des Obersten Gerichts und anderer Institutionen auf Bundesebene, die föderale Ausgabenkompetenz, die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Provinzen, die Verteilung justizieller Zuständigkeitsbereiche, die Konsultationsverfahren zwischen Bund, Provinzen und Territorien, die Ausweitung des Einstimmigkeitsprinzips bei Verfassungsänderungen sowie umfassende Regelungen zu Ureinwohnerangelegenheiten, darunter ein prinzipielles Recht auf Selbstregierung. 551 Das erfolgreiche Verfassungsgesetz von 1982 war zwar ebenfalls ein Reformpaket gewesen, doch glich damals die Flexibilität des formalen Änderungsprozesses das erhöhte Potenzial für Rechtsstreitigkeiten in der Wahrnehmung der Akteure aus (Manfredi 1997: 126). Diese Flexibilität war inzwischen weniger gegeben. 552 Auch im kanadischen Fallbeispiel einer erfolgreich verabschiedeten Verfassungsänderung war ein Teil der Entscheider (die Akteure in Parlament und Senat) zuvor nicht beteiligt gewesen. Doch erstens waren sie aufgrund der thematisch-regionalen Beschränktheit des Vorhabens weniger von ihm betroffen, zweitens gab es dort keine innenpolitischen Gründe, gegen das Vorhaben zu stimmen.
7.4 Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen
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Premiers Mitsotakis 1998 nicht für die Änderung des betreffenden Art. 32 (ebd.: 28, 172, 175),553 doch Anfang 2000 befürwortete der ND-Vorsitzende Kostas Karamanlis erstmals die PASOK-Idee einer Direktwahl des Präsidenten (ebd.: 29). Danach aber sollte es zu einer neuen Aushandlungskonstellation kommen: Seit den verlorenen Parlamentswahlen und dem anschließenden Beginn der kompetitiven Phase der Verfassungsverhandlungen war die ND bemüht, sich gegenüber PASOK programmatisch zu profilieren. Sie ging bei einzelnen symbolisch wichtigen Punkten des Verfassungsänderungsprojekts in Konfrontation. Besonders betonte sie ihre Präferenz eines semipräsidentielles Systems mit einem kompetenziell stärkeren Präsidenten. Sie betrachtete die Direktwahl des Präsidenten als Weg, seine Stellung im ersten Schritt wenigstens symbolisch aufzuwerten (Sotirelis 2001b: 31). PASOK fürchtete nun ihrerseits das Risiko, dass durch eine solche Aufwertung die Staatsform infrage gestellt werden könnte, obwohl Art. 30 zu den Kompetenzen des Präsidenten nicht als Revisionsartikel beschlossen war. Daher rückte sie selbst von dem Vorschlag ab und sah in Art. 32 (3) und (4) ein anderes Wahlprocedere vor.554 Dieses fand aber in der Schlussabstimmung keine Unterstützung der ND (Tab. A 14). Im Fall G2 war also der verfassungspolitische Initiator in der kompetitiven Phase nicht zu den notwendigen symbolischen Zugeständnissen bereit und revidierte den zwischenzeitlich erwogenen Kompromiss, während sein wichtigster Mitspieler in einer mit dem Vorhaben eng verwandten Materie hochmotiviert war, sich parteienwettbewerblich darüber profilieren wollte und daher in diesem Punkt nur Vorschläge mit hohen Gewinnaussichten akzeptierte. Der letzte verbliebene Testfall I1 erschüttert die Aussage (4) ebenfalls nicht: Die Regierung aus Fiánna Fail und PD konnte vor dem ersten Verfassungsreferendum zur Ratifizierung des Nizza-Vertrags auf die Zustimmung der zweitgrößten Partei Fine Gael und der drittgrößten Kraft Labour verweisen. Die Bevölkerung als kollektiver Vetospieler war insgesamt substanziell eher schwach motiviert, was die Bedeutung einer einigungsförderlichen verkleinerten Aushandlungsrunde, kommunikativer Verbindung zwischen Initiator und Basis, leicht zugänglichen Informationen und steter Wiederholung von Schlüsselaussagen durch den Initiator besonders wichtig machte. Auf explizit kooperativ angelegte Schritte, symbolische Akte eines Einlenkens oder Äußerungen des Verständnisses gegenüber möglichen Einwänden verzichtete die Regierung aber, weil sie aufgrund der vergangenen Erfahrungen fest mit einer Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger rechnete.555 Das Referendum fand nur etwa neun Wochen nach Einbringung der Initiative im Parlament statt, es gab kaum öffentliche Diskussionen, und die Medien hatten weitere wichtige Themen neben der 553 Im nachfolgenden Parlament war daher eine Dreifünftelmehrheit für die Annahme der Änderung notwendig. DIKKI und Linksallianz positionierten sich gegen die Vorschläge der großen Parteien für eine Beibehaltung des Status quo (Sotirelis 2001b: 27), zumal sie als kleine Akteure keine individuellen Gewinne aus einer Änderung zu erwarten hatten. Die Änderung hätte je nach vorgesehenem Alternativprocedere die stimmenbzw. mandatsstärkste Parlamentspartei gegenüber dem Status quo begünstigt. 554 Das Parlament sollte den Staatspräsidenten ohne Beschränkung der Wahlgänge inklusive Fortsetzung in einem nachfolgenden neugewählten Parlament so lange wählen, bis eine qualifizierte Mehrheit zustande käme (Sotirelis 2001b: 31, 177-213). 555 Das Engagement der Befürworter für die Ratifizierung des Nizza-Vertrags war sehr beschränkt, weil sie fest mit einer Zustimmung rechneten (Lee/Creed 2004: 178).Bis dahin gingen Verfassungsreferenden immer positiv für Vorhaben aus, denen die größte Oppositionspartei zugestimmt hatte. Zudem galt die Bevölkerung als proeuropäsch. Befragungen identifizierten als wichtigsten Grund für die hohe Stimmenthaltung im Referendum das Gefühl, die zur Entscheidung stehenden Sachverhalte nicht verstanden zu haben (EORG 2002: 7; Lee/Creed 2004: 172).
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Volksabstimmung.556 Zudem wies die Referendumskommission in ihrer Informationsbroschüre, die angesichts der unterentwickelten Werbekampagne der Regierung für das Vorhaben einen besonderen Stellenwert genoss, nicht auf die in der Argumentation der NizzaBefürworter wichtige Verknüpfung des Vorhabens mit der EU-Osterweiterung hin. Sie genoss in der Bevölkerung eine große Sympathie und konnte daher eine potenziell wichtige Entscheidungsdimension sein (Gilland 2002a: 528). Aufgrund dieser Situation nahmen im Fall I1 nur 34 Prozent der Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teil. Dabei handelte es sich vornehmlich um substanziell oder nichtsubstanziell hoch motivierte. Zur ersten Gruppe zählten die Befürworter des Vertrags von Nizza, aber auch die Gegner der Verfassungsänderung, die daran interessiert waren, ihre initiativenbezogenen Gewinnmaximierungsoptionen voll auszuschöpfen. Zur zweiten Gruppe zählten jene, die aus innenpolitischen Kontexterwägungen heraus der Regierung einen „Denkzettel“ verpassen wollten (vgl. O’Brennan 2003a). Angesichts der niedrigen Beteiligung konnten die Gegner des Vorhabens das Referendumsergebnis relativ leicht zu eigenen Gunsten beeinflussen.557 Insofern waren die drei in Annahme (4) genannten Voraussetzungen für eine abschließende Einigung auf die Verfassungsänderung im Fall I1 nicht gegeben. Mit einem Test anhand von acht gescheiterten Verfassungsänderungensinitiativen, bei denen die behaupteten Voraussetzungen für den Übergang von einer Interaktionsorientierung zu einer anderen und für die Einigung auf eine Verfassungsänderung tatsächlich nicht gegeben waren, ist die Gültigkeit der entsprechenden Annahmen natürlich nicht „bewiesen“. Wie alle politikwissenschaftlichen Annahmen stehen sie immerwährenden weiteren Tests offen – anhand erfolgreicher Aushandlungsprozesse ebenso wie anhand gescheiterter Verfahren. Dabei könnte auch geprüft werden, ob die Abfolge von Phasen mit unterschiedlichen Interaktionsmustern immer dem beobachteten Muster glich und ob die genannten Voraussetzungen immer denselben Effekt aufweisen.558 Vorerst haben sich die Aussagen jedoch bewährt, und es ist daher angemessen, den empirischen Teil der Untersuchung an dieser Stelle zu beenden.
7.5 Verfassungspolitik als „normale Politik“? Das dritte Kerninteresse der vorliegenden Studie bestand darin herauszufinden, ob die empirisch beobachtbare Verfassungsänderungspolitik etablierter Demokratien die Merkmale demokratischer Verfassungspolitik aufweist oder doch eher jene der „normalen“ Politik. Dafür wurden in Kapitel 2.1 (Tab. 7) die entsprechenden Idealtypen definiert. Resümiert man nun die Untersuchungsbefunde, erweist sich auch beim dritten Kerninteresse die Diffe-
556 Dies waren die Maul- und Klauenseuche, innenpolitische politische Skandale und die Wahlen in Großbritannien, die wegen ihrer Auswirkungen auf den nordirischen Friedensprozess bedeutungsvoll waren (Gilland 2002a: 530). 557 Die absolute Zahl der Nein-Stimmen hatte gegenüber der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags über eine Änderung der irischen Verfassung sogar abgenommen. Das Scheitern wurd daher vor allem durch die hohe Zahl an Enthaltungen bzw. Nichtteilnehmern am Referendum erklärt (EORG 2002: 7). 558 So könnte herausgefunden werden, ob sie nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingungen für Verfassungsänderungen sind. Diese „indirect method of agreement“ (Mill 1967) ist jedoch wenig effizient, da nicht alle gleichen Konstellationen geprüft werden können und jede Verifikation nur einen besseren Plausibilitätstest darstellt.
7.5 Verfassungspolitik als „normale Politik“?
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renzierung unterschiedlicher Aushandlungsphasen und die Differenzierung nach dem Grad substanzieller Motivation (bzw. der Festigkeit und Priorität der Präferenzen) als sinnvoll: Die erste, individualistische Phase war in allen Fällen von Kalkülen und Strukturen der „normalen“ Politik geprägt, während die Maximierung des Gemeinwohls, die Aufrechterhaltung von Freiheit, Gleichheit und gegenseitigem Respekt, eine diskursive, auf längere Dauer angelegte Verständigung zwischen den Akteuren oder gar die Einbeziehung weiterer Akteure, darunter der Bürgerinnen und Bürger, keine Rolle spielten, sofern sie nicht der Durchsetzung individueller Ziele zuträglich schienen. Das Streben nach individueller Gewinnmaximierung, Tausch- oder Paketgeschäften, die über die in der Vorlage vorgesehene institutionelle Änderung hinausgingen, dominierten. Diese Bewertung deckt sich mit der Feststellung in Kapitel 7.2, dass die erste Phase am stärksten dem Typus individuellrationalen Handelns entspricht, auch wenn die Vorhaben tendenziell unspezifisch, d.h. oberflächlich geprüft und unter Rückgriff auf vorhandene innenpolitische Routinen und Argumentationsmuster behandelt wurden. Es dominierten Aushandlungen bzw. Taxationen im Rahmen der innenpolitischen Alltagsstrukturen zwischen der Regierungsmehrheit und der Oppositon (G, I, D) bzw. zwischen Bundesregierung und territorialen Interessengruppen (K). Die Bereitschaft zu Zugeständnissen war sehr schwach ausgeprägt, so dass die Interaktionen einen sequenziellen Charakter besaßen. Eine ähnliche inhaltliche „Halsstarrigkeit“ und die maximale Ausschöpfung von Einflussmöglichkeiten ließen sich phasenunabhängig da beobachten, wo die Akteure substanziell hochmotiviert waren, u.a. auch bei den geprüften gescheiterten Verfassungsänderungen (z.B. Fall D2). In der kooperativen Phase von Verfahren, in denen wichtige Akteure nicht substanziell hoch motiviert waren, zeigte sich jedoch ein anderes Bild. Hier abstrahierten sie durchaus von eigenen Interessen, gingen auf die Argumente anderer ein, übernahmen Ideen oder Deutungen. Dritte wurden tendenziell stärker einbezogen und als gleichberechtigte Gesprächspartner respektiert. Obgleich auch in der kooperativen Phase die Akteure nicht permanent tagten, ergab sich doch inhaltlich eine gewisse Stringenz der Diskussionen; einmal getroffene Absprachen waren phasenintern weniger fragil. Die Akteure zeigten sich an einer „echten“ substanziell-inhaltlichen Annäherung bzw. Einigung interessiert. Vertiefte Kommunikation (Einbeziehung, Anerkennung, Informationen) war nicht nur ein Merkmal dieser Phase, sondern wurde sogar als wesentliche Voraussetzung für die Fortsetzung der verfassungspolitischen Aushandlungsprozesse ausgemacht. Zwar dominierte in der nachfolgenden kompetitiven Phase, wie in ihrer Bezeichnung ersichtlich, der Wettbewerb zwischen den Akteuren, doch wurden nur mehr kleinere Änderungen an den in der kooperativen Phase getroffenen Vereinbarungen vorgenommen. Trotz einer faktischen Vetospielerstruktur, die der Alltagspolitik in etablierten Demokratien bzw. dem Idealtypus des liberalen Konstitutionalismus entspricht, waren also inhaltlich Elemente deliberativer Verfassungspolitik in den Aushandlungsprozessen beobachtbar und prägend für die Änderung der Verfassungstexte. Diese durchaus positive Bilanz muss durch drei Bemerkungen eingeschränkt werden: Erstens beziehen sich die obigen Bewertungen immer auf die Aushandlung der Gesamtvorhaben, die sich empirisch nicht von der Debatte über die konkrete verfassungstextliche Formulierung trennen lassen. Im Mittelpunkt jener hier analysierten Auseinandersetzungen, die schließlich in Verfassungsänderungen mündeten, standen dabei nie verfassungspolitische Normendebatten, sondern immer einfachgesetzliche oder praktische politische Fragen, die mit der expliziten Änderung der Verfassung verknüpft waren, in der letzten Phase auch andere, parallele innenpolitische Themen:
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
Im kanadischen Fallbeispiel wurden die in Kapitel 3.1 geschilderten komplexen Hintergründe der Reform, so das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten in Kanada, nicht sowie die Effekte der Reform nur partiell debattiert, zumal im Bereich der formalen Aushandlungsarena, dem Parlament. Der Bedarf einer Verfassungsänderung wurde spät und fehlerhaft erkannt, die Änderung selbst faktisch nicht diskutiert. Die „Entscheidung“ zur Verfassungsänderung fiel indirekt und unbewusst, wurde aber aufgrund von Gewöhnung (framing-Wandel), institutionellen Selbstläufereffekten, Konzentration auf andere Themen und eines innenpolitischen Kontexts, der ihr nicht widersprach, zum Zeitpunkt des Bewusstwerdens auch nicht zurückgenommen. Im griechischen Fallbeispiel ergaben die unzähligen Verfassungsänderungen bis zuletzt kein Gesamtkonzept (vgl. Eleftheriadis 2005). Es ist fraglich, ob das juristisch und politisch inkohärente Nebeneinander an teils weitreichenden einfachgesetzlichen Reformen und oft marginalen Verfassungsklauseländerungen von der Mehrzahl der Beteiligten überhaupt durchschaut wurde. Besonders am Schluss konzentrierten sich Parlament und Öffentlichkeit auf Teilaspekte, die ihre eigenen Interessen besonders betrafen, während PASOKs sinnstiftende Begründung der Verfassungsänderung mit „Modernisierung“ und „Europäisierung“ kaum hinsichtlich ihrer Stimmigkeit hinterfragt wurde. Im irischen Fallbeispiel wurden zwar die anspruchsvolle Debatte um das Verhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union geführt und die Inhalte des Nizza-Vertrags recht detailliert und inklusiv diskutiert, kaum aber die Inhalte und Zukunft der irischen Verfassungspolitik. Auch in diesem grundsätzlich positiven Fall blieb die Debatte daher unterkomplex. Die parteipolitische Überformung des Entscheidungsverhaltens äußerte sich darin, dass bei ähnlichen Bewertungen zentraler Entscheidungsgrundlagen (Inhalte des Nizza-Vertrags, Bedeutung der EU-Erweiterung, Demokratiedefizit der EU) die Schlüsse aus diesen Bewertungen systematisch nach den Parteizugehörigkeiten variierten. Im deutschen Fallbeispiel wurde der im Bundestag federführende Rechtsausschuss im Verfahren seiner formalen Rolle in keiner Weise gerecht. Alle Entwicklungen wurden von den Finanz- und Wirtschaftsexperten im Bundesministerium und im Bundestag, den Spitzen der Länder und der großen Parteien mit eigenem Fokus ausgehandelt. Größere verfassungspolitisch relevante Fragen, wie zur Stellung der Kommunen, wurden systematisch von der Regierungsmehrheit auf Bundesebene verdrängt. Vertreter unterschiedlicher Parteien im Bundestagsfinanzausschuss (DBT/BR o.J.: A2, 35: 47) und im Rechtsausschuss (ebd.: A3, 62: 5), die SPD-Fraktion, die SPD-geführten Länder und die PDS (DBT 1997a) sowie der Deutsche Landkreistag (DBT/BR o.J.: A3, 62: 6) kritisierten den geringen Umfang und die Oberflächlichkeit der verfassungspolitischen Diskussionen, doch letztlich trugen alle Akteure direkt oder indirekt den Entwurf der Grundgesetzänderung mit – einen Entwurf, der noch kurz vor der Schlussabstimmung eine unlogische Formulierung enthielt. Diese skizzenhaften Ausführungen verweisen darauf, dass die als positiv bewerteten Aspekte der typischen Verlaufsmuster einer Einigung auf Verfassungsänderungen nicht zwangsläufig mit einer hohen normativen Qualität der Verfassungsänderungen bzw. Angemessenheit der vorangegangenen Debatten und Verfahren einhergehen. Weitergehende Aussagen dazu bedürften eigenständiger politikwissenschaftlicher Untersuchungen, an denen es weitgehend mangelt. Die Prozessentwicklungen in der kooperativen Phase mit ihrer typischen Technisierung der Konfliktaustragung, d.h. dem Herunterbrechen auf (scheinbare) Sachfragen im Detail, nährt sogar den Verdacht, dass die Absenz expliziter „heißer Eisen“ in Entwürfen und die Vermeidung großer verfassungspolitischer Normende-
7.5 Verfassungspolitik als „normale Politik“?
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batten in etablierten Demokratien Erfolgsgeheimnisse von Verfassungsänderungsinitiativen sind, obwohl solche übergeordneten Fragestellungen von allen hier untersuchten Initiativen durchaus berührt wurden (Kapitel 3). Dies wäre mit der Behauptung vereinbar, dass umgekehrt „Konsenserzielung bei Konflikten über grundlegende Werte und Weltanschauungen nahezu unmöglich“ ist (Susskind/McMahon 1990: 72). Strategische Überlegungen und die normative Kohärenz der Verfassungspolitik könnten unter einer solchen Tendenz leiden. Dieser Verdacht lässt sich jedoch im Rahmen dieser Untersuchung weder erhärten noch ausräumen, da sie anders angelegt war. Es lässt sich lediglich konstatieren, dass die Initiatoren von Verfassungsänderungen jeweils große Debatten vermeiden und dass diese Strategie in allen Fällen mit einer Verfassungsänderung einherging. Zweitens ließ sich empirisch nicht beobachten, dass Deliberation ein Ziel oder Ideal der an den Aushandlungsprozessen beteiligten Akteure an sich war bzw. ist. Immer verwiesen die Quellen darauf, dass die Initiatoren sich des instrumentellen Charakters der Gespräche, eine Zustimmung herbeizuführen, sehr bewusst waren, auch wenn sie von den Inhalten der angstrebten Verfassungsänderungen überzeugt waren und versuchten, sie den Mitspielern argumentativ nahezubringen. Eine Annäherung der Positionen kann sich natürlich trotzdem, gefördert durch die sozialen Mechanismen in verkleinerten Aushandlungsgremien, aus dem Diskurs ergeben haben, aber auch aus fehlerhafter Langfristreflexion der Kollektivakteure über ihr individuelles Handeln. In den Resümees in zur Rationalität der Akteure (Kapitel 7.2.) und zum Phasenmodell (Kapitel 7.3) wurde bereits erwähnt, dass sich für beide Varianten Indizien fanden. Insofern muss festgehalten werden, dass deliberative Verfassungspolitik kein gesichertes genuines Merkmal etablierter Demokratien ist. Drittens deutet der Vergleich der Fälle (inklusive nicht verabschiedeter Verfassungsänderungsinitiativen) und der Aushandlungsphasen darauf hin, dass Deliberation dadurch gefördert wird, dass die Akteure keinen besonderen substanziellen Nutzen mit der vorgeschlagenen Initiative verbinden oder durch sie eingeschränkt sehen. Sie sind dann weniger auf die Durchsetzung ihrer Position bedacht und offener gegenüber Standpunkten und Argumenten anderer. Doch gerade unter dieser Bedingung ist in der individualistischen und der kompetitiven Phase auch eine Nutzung des Themas als bargaining chip in sachfremden Aushandlungen und als Mittel zur Meinungsäußerung über das Handeln der zentralen Entscheidungsakteure (z. B. irisches Referendum) sehr wahrscheinlich, wenn sie sich anbietet. Eine geringere substanzielle Motivation führt also nicht immer zu einer größeren Bereitschaft zur deliberativen Auseinandersetzung, sondern möglicherweise sogar zum Gegenteil – sachuninteressierter Machtpolitik. In jedem Falle wurde klar, dass institutionelle Regularien nur bedingt dazu in der Lage sind, raffinierte Akteure zu bändigen und ihre alltagspolitischen Routinen zu durchbrechen: So verzichteten im kanadischen Fallbeispiel die am Verfahren beteiligten Akteure gezielt auf einen Teil der ursprünglich geplanten Verfassungsänderung, um die Zustimmung der Provinzen zu umgehen, und damit auf die Erwähnung des Territoriums Nunavut in der kanadischen Grundrechtecharta. Im parlamentarischen Verfahren wurde dieser Schritt auch von den Oppositionsparteien weder diskutiert noch infrage gestellt. Im griechischen Fallbeispiel wirkte die vom Verfassungsgeber auf Deliberation und breite Konsensfindung angelegte Zwei-Parlamente-Regel der Verfassungsänderung ganz anders als intendiert: Die Abgeordneten hatten mit ihrer Befürwortung unkonkreter Änderungsinhalte in der ersten Phase der nachfolgenden Mehrheitspartei weitgehend einen „Freibrief“ ausgestellt, wodurch Aushandlung im engeren Sinne eigentlich unnötig wurde. Die
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inhaltliche Auseinandersetzung mit den Klauseländerungen konzentrierte sich faktisch auf den für ihre engültige Verabschiedung vorgeschriebenen kurzen Zeitraum von nur einer Sitzungsperiode direkt nach der Wahl 2000, weil die Parteien das für die Verhandlungen unmittelbar bedeutsame Wahlergebnis abgewartet hatten, um gerade bei umstrittenen Themen den individuellen Nutzengewinn nicht durch frühzeitige Kompromisse unnötig zu schmälern. Besonders bei diesen politisch sehr relevanten Inhalten (Rolle und Wahl des Präsidenten, Verfassungsgerichtsbarkeit) behinderte die Kombination aus taktischem Abwarten und Fristregelung eine tiefergehende Normendebatte (Alivizatos 2001b: 163; 2001c). Im irischen Fallbeispiel schuf die Regierung ein extrakonstitutionelles Gremium unter eigener Ägide, das Europaforum, um Konflikte zu kanalisieren und die Zustimmungsneigung der Bevölkerung zu heben. Sie versuchte zwar erfolgreich, mit diesem Instrument die gefühlte Distanz zwischen Politik und Bürgern zu überwinden, doch die Legitimation dieses Forums war prekär. Zudem zeigte der Umgang mit der Referendumgesetzgebung, dass die wichtigsten politischen Akteure (FF, PD, FG, Labour) gewillt waren, den gesetzlichen Rahmen eigenen Wünschen anzupassen, um die Erfolgsaussichten von Verfassungsreferenden zu steigern. Und nicht zuletzt war klar, dass der Vertrag nicht nachverhandelt würde und es auf europäischer Ebene kein Zurück mehr gäbe. Die tatsächlichen Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger waren daher trotz der Einrichtung eines kommunikationsorientierten Sondergremiums beschränkt. Im deutschen Fallbeispiel fanden zentrale Teile der Aushandlungen, wie erwähnt, im Vermittlungsausschuss statt, wurden Zuständigkeiten der Ausschüsse „auf den Kopf“ gestellt, Ausschussausprachen über die Grundgesetzänderung minutenweise geführt oder immer wieder vertagt und die Vorlagen dann sofort beschlossen, in mehreren Bundesratsausschüssen ohne Aussprache im Umlaufverfahren, im Plenum des Bundesrats ebenfalls ohne Aussprache. Die Regierungsparteien auf Bundesebene versuchten, das Rechtsverhältnis aus Verfassungsgesetzgebung und einfacher Gesetzgebung zu ignorieren, führten eine Steuer ein, die sie nicht erhoben, und setzten in der parlamentarischen Sommerpause 1997 eine Sondersitzung zur „Oderflut“ an, um dort eigentlich nur für die schnelle Verabschiedung der Grundgesetzänderung zu sorgen. Zusammenfassend lassen sich phasenspezifisch Indizien für beide in Kapitel 2.1 formulierten Gegenpositionen zum Status der Verfassungspolitik im Vergleich zur „normalen Politik“ finden: Gerade in der individualistischen Phase konzentrierten sich die in den „normalen“ Politikbetrieb eingebetteten Akteure aufgrund von Zeitdruck nur unzureichend auf die Verfassungspolitik, schon gar nicht auf Deliberation. Tatsächlich beeinflussten ihre Machtorientiertheit und ihr Streben nach Durchsetzung eigener politisch-programmatischer Interessen ihr verfassungspolitisches Verhalten und behinderten die Ausprägung der Kriterien von deliberativer Verfassungspolitik. Die Länge und Abfolge der Aushandlungsphasen mit ihren jeweiligen Themen- und Interaktionsspezifika sowie insbesondere die Mechanismen der kooperativen Phase, die die Beschlussfassung in der kompetitiven Phase inhaltlich vorstrukturierte, hemmten jedoch die Verabschiedung rein populistischer „Konjunkturentscheidungen“, affektgeladenen Aktionismus, zu oberflächlicher Heuristik zwingende Informations- und Zeitknappheit, asymmetrischen Lobbyismus, Klientelismus und die Durchsetzung politikfeldspezifischer Interaktionstraditionen. Deliberation und Gemeinwohlorientierung waren hier grundsätzlich möglich, Dialog, Einsichten und unpaktiertes Handeln beobachtbar.
7.6 Zwischenbilanz
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Aratos pessimistische Behauptung, Regierungsdominanz bei der Aushandlung oder eine Entscheidungshoheit normaler Parlamente über Verfassungsänderungen hätten oligarchische Effekte, führten zur „frivolen Ausnutzung“ dieser Kompetenz und dadurch zu „Patchwork-Verfassungen“ ohne Legitimation (1994: 172 ff.), lässt sich empirisch also nicht als Automatismus bestätigen. Vielmehr zeigte sich in Übereinstimmung mit Bellamy und Schönlau (2003: 4), dass eine in die Strukturen der normalen Politik eingebettete Verfassungspolitik durchaus mit substanziell-inhaltlichen Abwägungen und Konsenssuche vereinbar sein kann, wenn zentrale Akteure – und damit sind jenseits institutioneller Regelungen faktisch immer die verhandlungsmächtigsten Akteure gemeint – ein Interesse daran haben. Die Verfassungspolitik in etablierten Demokratien entspricht empirisch nicht dem Idealtypus „normaler Politik“, aber auch nur phasenweise und in Abhängigkeit von der substanziellen Motivation der relevanten Akteure dem Idealtypus deliberativer Verfassungspolitik (vgl. Benz 2007: 111; Holzinger 2001).559
7.6 Zwischenbilanz Dieses Kapitel resümierte die Befunde des empirischen Vergleichs der Aushandlungen ganz unterschiedlicher Verfassungsänderungen und fügte sie zu einem Prozesmodell zusammen. Festgestellt wurde, dass die Einigung auf Verfassungsänderungen nicht so sehr durch die Anzahl der institutionell mitwirkenden Akteure, sondern stärker durch die Abfolge phasenspezifischer Verhaltensweisen und Interaktionen bestimmter Akteure bzw. Akteurtypen zu erklären ist. Als Schlüsselakteure erwiesen sich jene, die auch qua größerer faktischer Verhandlungsmacht die Alltagspolitik dominieren. Differenziert man hier weiter, dann kam ihren Fachpolitikern eine erhebliche permanente Bedeutung zu. Ihre Spitzenpolitiker beeinflussten vornehmlich situativ den Beginn und den Abschluss der Verfahren. Es bestätigte sich, dass die kollektiven Akteure in der Verfassungspolitik grundsätzlich nach Gewinnmaximierung streben und dass sie sich gegenüber neuen Initiativen und als solchen wahrgenommenen „Überrumpelungsmanövern“ aus Angst vor Schaden, Risiken und Täuschung tendenziell abwehrend verhalten. Allerdings handeln sie auch sozial, wo gefestigte Präferenzen und eine hohe substanzielle Motivation dem nicht widersprechen, und lassen sich dann durch Anerkennung in verkleinerten Aushandlungsgremien, die Bereitstellung umfangreicher Informationen und die stete Wiederholung von Schlüsselaussagen zu einer Zustimmung bewegen. Diese Offenheit bei geringerer substanzieller Motivation bzw. ungefestigten Präferenzen zu einem konkreten Vorhaben scheint empirisch zumindest bei später verabschiedeten Verfassungsänderungsinitiativen besonders häufig anzutreffen zu sein. Dies und die teils unzureichenden Mechanismen der Kollektivakteure zur Selbst- und Fremdkontrolle behindern gleichzeitig strategisches Handeln (auf Akteur- und Systemebene) und machten es erforderlich, den rationalistischen Erklärungsansatz zu verfeinern bzw. teils zu revidieren und zu ergänzen. Das entwickelte Prozessmodell wurde mit der Benennung bestimmter Voraussetzungen verknüpft, die gegeben sein müssen, damit die zentralen Akteure von einer zur nächs559 Die Untersuchung lässt keine Aussagen darüber zu, inwieweit die „normale Politik“ empirisch dem eigenen Idealtypus entspricht und in welchem Verhältnis zueinander „normale Politik“ und „Verfassungspolitik“ empirisch (ohne Berücksichtung der Idealtypen) stehen. Möglicherweise weist auch „normale Politik“ unter bestimmten Bedingungen phasenspezifisch Eigenschaften deliberativer Politik auf.
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7 Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns
ten Interaktionsorientierurng wechseln und dadurch den Prozess vorantreiben. Diese in der Studie im schrittweisen Vergleich herausgearbeiteten Befunde hielten dem Test anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen stand: Akteure wechseln demgemäß vom individualistischen zum kooperativen Verhalten, wenn erstens der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur neben dem Initiator dessen Zielsetzung – auch in Reaktion auf parallele Ereignisse – in einer als wichtig bewerteten Entscheidungsdimension grundsätzlich positiv bewertet, wenn zweitens der Initiator Bereitschaft zum inhaltlichen Einlenken signalisiert und wenn drittens mindestens einer der beiden einen zusätzlichen Ertrag aus einem Koppel- oder Tauschgeschäft erwartet. Sie gehen aber vom kooperativen zum kompetitiven Interaktionsmodus über, wenn der (nächst-)verhandlungsmächtigste Kollektivakteur das Verhandlungsergebnis als suboptimal wahrnimmt und versucht, Fehler zu korrigieren. In der kompetitiven Phase kommt es dann zu einer Einigung auf eine Verfassungsänderung, wenn erstens der (nächst-)verhandlungsmächtigste Akteur aufgrund niedrigerer substanzieller Motivation seine initiativenbezogenen Gewinnmaximierungsoptionen nur unzureichend prüft bzw. ausschöpft, wenn seine parteienwettbewerblichen Erwägungen angesichts des gegebenen Kontexts einer Zustimmung nicht widersprechen und wenn der Initiator im Bedarfsfall zu Zugeständnissen bereit ist. Abschließend wurde festgestellt, dass die Verfassungsänderungspolitik nicht dem eher negativen Bild „normaler Politik“ entspricht, obwohl die Kollektivakteure selbst dies nicht als Ziel verfolgten, obwohl eine separate, anderen Idealen verpflichtete Verfassungspolitik institutionell kaum begünstigt wird und solche institutionellen Feinvorgaben, sofern vorhanden, oft auch nicht „greifen“. Es war wie bei der Erklärung der verfassungspolitischen Einigung an sich vielmehr die für alle Fallbeispiele verabschiedeter und nicht verabschiedeter Verfassungänderungsinitiativen beobachtete Abfolge von Phasen mit je eigenen Interaktionsspezifika, die für diesen Effekt sorgte. So wie die Akteure nicht strikt rational, sondern rational-sozial handelten, so weist die Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien Elemente „normaler Politik“ und demokratischer Verfassungspolitik auf.
8 Resümee und Ausblick
Der Begriff „Verfassungsdemokratie“ könne entweder als Tautologie oder als Oxymoron interpretiert werden, schrieb Richard Bellamy vor einiger Zeit (2006: xi). Er hat recht: Für die Tautologie spricht, dass Konstitutionalismus und Demokratie nach weit verbreiteter Ansicht nur gemeinsam verwirklicht werden können, weshalb sich beide Konzepte heute so deutlich überlappen. Auf ein Oxymoron deutet, dass sich ihre latente Rivalität trotzdem nie ganz aufheben lässt (Rosenfeld 2001: 1308; Murphy 1993, 1995: 173, 187; Gerstenberg 1997; Kapitel 1.1). Gerade daran, wie Akteure mit den Verfassungen umgehen, sie konservieren oder abändern, lassen sich Interdependenz und Spannung zwischen beiden Konzepten gut beobachten, und so ist es nur als erfreulich zu bezeichnen, dass die Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien in den letzten Jahren eine merklich höhere Aufmerksamkeit von Seiten der Politikwissenschaft erlangte. Sie ist notwendig, um die noch erheblichen Lücken in der systematischen Erfassung und Interpretation konstitutionellen Wandels zu schließen. Langsam setzt sich ein Bewusstsein dafür durch, dass es „unhistorisch, weder empirisch noch analytisch überzeugend [wäre], an die anhaltende Kontinuität institutioneller Lösungen für Probleme zu glauben, deren Ausprägung sich inzwischen geändert hat“ (Dobner 2000: 35). Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, kulturelle Normen, internationale Rahmenbedingungen ändern sich permanent, was kaum ohne Einfluss auf die Verfassungen bleiben kann (Levinson 2006: IX). Wie in der vorliegenden Studie ersichtlich, sind Verfassungsänderungen aber oft nicht eindeutige Reaktionen auf konkrete Stimuli, nämlich veränderte systeminterne oder externe Rahmenbedingungen, stellen also auch nicht klare institutionelle Lösungen „objektiver“ Probleme dar. Daher muss die Politikwissenschaft zu verstehen suchen, warum und wie es zu Verfassungsänderungen kommt, welcher Art die Selektionsmechanismen sind und inwiefern sich Bedeutung und Funktion von Verfassungen bzw. Verfassungsdemokratien insgesamt wandeln. Eine umfassende Theorie des Verfassungswandels steht jedenfalls aus, und schon bei Teilaspekten besteht derzeit ein so großer Forschungsbedarf, dass man sich ihnen nur über den Weg beschränkter Fragestellungen tiefgründig widmen kann. Die vorangegangene Analyse interessierte sich v.a. für die unmittelbaren Motivlagen von Akteuren und die Muster der Aushandlungen zwischen ihnen, die zu Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien führen. Sie beobachtete dabei gezielt Verfassungsänderungen in ihrer üblichen thematischen Breite in Demokratien in ihrer Breite. Spezifisch waren neben diesem Fokus auf Interaktionsmuster und dem empirischen Zugang ihr Interesse an einer Prüfung und Weiterentwicklung rationalistischer Annahmen, ihr Rückgriff auf Ideen und Erkenntnisse aus der Soziologie und Sozialpsychologie sowie die Entwicklung eines Prozessmodells von Verfassungsänderungen. Diese Form der Untersuchung erbrachte Befunde, die die konventionellen Annahmen über Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien teils deutlich erschüttern oder auf weiteren Klärungsbedarf verweisen. Die wichtigsten von ihnen werden im Folgenden noch einmal kurz skizziert und in
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ihrer Bedeutung kommentiert, bevor abschließend Anregungen für die weitere Forschung zum Verfassungswandel formuliert werden. Eine der wichtigsten Erkenntnisse erbrachten bereits die empirischen Voruntersuchungen zur eigentlichen Analyse: (1) Explizite Änderungen an den Verfassungsdokumenten sind ein genuiner Bestandteil der Entwicklung moderner Demokratien. Konstitutionelle Stetigkeit ist eine Illusion. Schon in den 1980er Jahren hatte einer der wenigen Bände zur Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokatien konstitutionelle Dynamik für die zwei vorangegangenen Dekaden konstatiert (Banting/Simeon 1985: vii). Dieser Feststellung folgte wissenschaftlich wenig nach; die Forschung war abgelenkt durch die Auseinandersetzung mit den revolutionären Umbrüchen in Ost- und Südeuropa, den „Megatrends“ Entgrenzung und Globalisierung und anderen Themen. Die Auswertung in der vorliegenden Studie kam bei einer gegenüber Banting/Simeon ausgeweiteten, systematischen Beobachtung der etablierten Demokratien zu dem ähnlichen Fazit, dass Verfassungsänderungen länderübergreifend relativ häufig stattfinden. Eine neuere empirische Untersuchung, die Verfassungsänderungen bereits seit 1945 erfasst, belegt dies ebenfalls und erlaubt die ergänzende Feststellung, dass schon die Beobachtung Banting/Simeons kein temporäres Spezifikum abbildete. Tatsächlich verlief der explizite Verfassungswandel auf nationaler Ebene jeweils relativ gleichmäßig zyklisch und nahm dabei im Zeitverlauf insgesamt moderat zu (Lorenz/Seemann 2007). Es gab insofern nie einen bestimmten nachweislichen Schub für konstitutionellen Wandel, sondern die Neigung zu Eingriffen in die Verfassungsdokumente entwickelte sich langsam. Empirisch spricht also alles dafür, dass das Drehen an konstitutionellen Stellschrauben zum Alltag etablierter Demokratien gehört, auch wenn Verfassungsänderungen immer noch nur einen kleinen Anteil aller verabschiedeten Gesetze ausmachen und selten weitreichende Reformen beinhalten. Diese Feststellung regelmäßiger Verfassungsänderungen erschüttert das konventionelle Gerüst aus theoretischen Begründungen für die Existenz moderner Staatsverfassungen, das verkürzt so lautet: Die Sonderstellung und Autorität der Verfassung leitet sich aus dem Volk als Souverän ab, das sie sich feierlich und als einzig legitimer Verfassungsgeber selbst verleiht (Schwegmann 2002: 533). Die Normadressaten der Verfassung sind die Bürger selbst sowie der Staat, der mit ihr zur Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung berufen und dafür mit souveräner Gewalt ausgestattet wird. Weil das Volk den Staat bzw. seine Verfassungsorgane und die in ihnen vertretenen Akteure nicht effektiv durch einfache Gesetze binden kann, steht die Verfassung über diesen und ist durch höhere Änderungshürden gegen Eingriffe geschützt. Sie verleiht nicht nur die Befugnis zur Verabschiedung kollektiv verbindlichen Entscheidungen, sondern schreibt auch die Bedingungen ihrer Rechtmäßigkeit vor und macht ihre Verbindlichkeit von der Einhaltung dieser Bedingungen abhängig (Grimm 1994: 407f.). Bei aller Unterschiedlichkeit der Denkschulen und national geprägten Ansichten, bei allen Differenzen etwa dahingehend, ob Verfassungen Herrschaft eher begründen oder begrenzen, wird der Sinn der Verfassung doch übereinstimmend darin gesehen, dass sie „politische Ordnung auf Dauer“ stellen (Vorländer 2002a). Ihre institutionell erschwerte Abänderbarkeit verleihe ihnen „Dauer und Kontinuität, Verläßlichkeit und Sicherheit“ (Häberle 1996: 61; ähnlich Hesse 1959) und entlaste die Akteure von der permanenten Reflexion über die geeigneten Entscheidungsgrundlagen, da die Verfassungsregelungen „nicht mehr Thema, sondern Prämisse von Politik sind“ (Grimm 1994: 429).
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Diese vorgesehene Schutzwirkung entfaltet sich in der Realität aber offensichtlich nur bedingt, was unmittelbare Auswirkungen auf die Legitimation der Verfassung, ihre normative Bindungskraft und Fähigkeit zur Kontrolle von Macht hat. Ähnlich wie die anfängliche Suche nach einer geeigneten, die empirische Untersuchung sinnvoll und möglichst konkret leitenden Theorie der Verfassungsänderung wenig erfolgreich war, hilft die Verfassungstheorie aber kaum dabei, diesen ersten zentralen Befund der Arbeit zu bewerten. Zwar gab es neben Verfassungstheorien, die die „Bewährung“ der Verfassung primär mit ihrer „Bewahrung“ gleichsetzten, immer auch eher dynamisch angelegte560 (Häberle 1986: 61; Boldt 1995: 819; Bellamy 2006: xxxix), aber grundsätzlich befürwortet der Konstitutionalismus nur seltene Änderungen (Holmes/Sunstein 1995: 275). Dass die hohe Zahl der Änderungen den Grad dessen übersteigt, was als „Fortbildung der Verfassung“ oder allgemein politischinstitutioneller Wandel grundsätzlich akzeptiert wird, um den Systemerhalt unter veränderten Rahmenbedingungen zu gewährleisten, ist indes genau genommen eher zu vermuten, weil die Verfassungstheorie sich zurückhält, wenn es darum geht, die Akzeptanz von Wandel zu konkretisieren.561 Die Politikwissenschaft fokussiert traditionell eher die Akteure als das Recht und zeigt sich hier durchaus pragmatisch: „Alle demokratischen Regime“, so Bellamy, „operieren innerhalb einer von der Vergangenheit ererbten Grundstruktur, aber es scheint keinen zwingenden Grund dafür zu geben, sie an der Aktualisierung und Zurückweisung dieser Erbschaft zu hindern“ (Bellamy 2006: xif; Bellamy/Castiglione 1997: 596). An anderer Stelle wird es explizit positiv bewertet, wenn Verfassungen nicht unhinterfragt als gegeben hingenommen und in „unangemessener Weise“ verherrlicht werden, sondern die Akteure emanzipiert und „mit der Besonnenheit von Philosophen“ (Jefferson) an für notwendig erachtete Änderungen auf dem kodifizierten Verfahrenswege schreiten, anstatt Konflikte auf andere Weise auszutragen (Levinson 2006: 9, 17). Doch hat sich die Politikwissenschaft ähnlich wie die Rechtswissenschaft grundsätzlich mehr auf die Anlage und die Effekte von Institutionen kapriziert als auf deren Wandel (Pierson 2000), und so bleiben die Aussagen auch hier oft allgemein. Es wurde sogar festgestellt, dass „die Verfassung dort, wo sie normative Kraft entfalten konnte, an regulativer Bedeutung für die politische Entwicklung und die Institutionen des jeweiligen politischen Systems gewonnen“ habe und das Verhalten politischer Akteure präge. „Gute Verfassungen“ zeigten „eine hohe gestalterische Wirkung“ (Vorländer 2002a: 9f.). Dies gilt ganz sicher in einer historischen Perspektive, muss aber dahingehend relativiert werden, dass die Verfassungen selbst regelmäßig an die Ziele der politisch Aktiven angepasst werden. Es ist natürlich leichter, sich an Normen zu halten, die man selbst (mit-)geformt hat. Selbst wenn Verfassungsänderungen nicht an sich „schädlich“ oder „nützlich“ sind, sondern solche Urteile nur konkret gefällt werden können, und selbst wenn man akzeptiert, dass die „Dauer und Stabilität einer Verfassung… nicht per se durch ein Minimum an Verfassungsänderungen gewährleistet“ wird, sondern es v.a. darum geht, eine „gute Verfassung“ zu haben (Häberle 1996: 88f.), so bedürfen die skizzierten verfassungstheoretischen Konstrukte angesichts des ersten Befundes doch genauerer Klärung. Die drei Hauptproble560 Für den konservativen Ansatz steht beispielsweise im US-amerikanischen Diskurs Madison, im deutschen Verfassungsrecht Forsthoff, für den gegenüber Wandel und generell der Gesellschaft offeneren Ansatz Jefferson oder die deutschen Verfassungsrechtler Smend, Hesse, Häberle, Scheuner. 561 Da heißt es beispielsweise: „In allen modernen politischen Systemen bleibt vieles konstant und muss es auch bleiben, aber vieles ändert sich und muss sich ändern… Eine Verfassung muss stabil sein, kann aber nicht stillstehen“ (Murphy 1995: 168).
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me der regelmäßigen Verfassungsänderungen liegen aus politikwissenschaftlicher Sicht, wie bereits angerissen, in der unklaren Legitimation des verfassungsrechtlichen Status quo, in der prekären Fähigkeit von Verfassungen, Staat und Herrschaft tatsächlich langfristig zu binden, sowie darüber hinaus in ihrer ungesicherten normativen Kohärenz.562 Schon die Annahme des Volkes als Autoritätsquelle der Verfassung hat ja mit der (auch jüngsten) Realität wenig zu tun. Allenfalls mittelbar wirkten und wirken die Bürger an der Verabschiedung von Verfassungen und Verfassungsänderungen mit. Es gelingt deren Initiatoren zudem oft sogar ohne weitreichende inhaltliche Zugeständnisse, die anfangs umfassenden und oft nicht unplausiblen Einwände gegen die Vorhaben aus dem Weg zu räumen, wobei im engeren Sinne verfassungsrechtliche Debatten selten geführt werden. Dass angesichts einer solchen Verfassungsänderungspraxis das „westliche Idealmodell“ einer geschriebenen, strikten Vollverfassung in einem Guss (Venizelos 2003: 692) erreicht werden kann, ist zweifelhaft. Gerade im oft scheinbar unspektakulären Charakter der einzelnen inhaltlich nicht sehr weit gehenden Verfassungsänderungen liegt ein Risiko, solange nicht klar ist, welche Effekte sie in der Summe haben. Die rein legalistische Feststellung, dass sie ja immer im Wesentlichen den in der Verfassung selbst festgeschriebenen Verfahrenswegen folgten, kann auf lange Sicht den hohen normativen Ansprüchen an Verfassungsdemokratie (Kapitel 1.1) nicht gerecht werden. Auf der Suche nach Maßstäben für die Bewertung der Praxis fällt aber auch schnell auf, dass die Begriffe Konstitutionalismus, Verfassungsdemokratie und die Ansprüche an Verfassungspolitik jenseits bestimmter abstrakter Schlagworte und Annahmen konzeptionell weiterhin recht unausgefüllt, „wolkig“ sind und oft als selbsterklärend (miss-)verstanden werden (Dorsen u.a. 2003: 10; Henkin 1994: 40; Lev 1993: 139 ff.; Rosenfeld 2001: 1307f.; Bellamy/Castiglione 1996: 2). Tatsächlich besteht eine erhebliche Kluft zwischen Empirie und Theorie von Verfassungsänderungen. Ein zweiter zentraler Befund des in der Untersuchung vorgenommenen AllDemokratien-Vergleichs konfligiert ebenfalls mit der Vorstellung, dass Verfassungen über die in ihnen festgelegten Inhalte avisierte Effekte bewirken und widerspricht damit zugleich dem anhaltenden Trend der Politikwissenschaft, Prognosen aus ausgefeilten institutionalistischen Modellen abzuleiten: (2) Die Neigung etablierter Demokratien zu Verfassungsänderungen erklärt sich nicht aus konkreten verfassungsrechtlichen Parametern, sondern scheint eher von den grundlegenden Eigenschaften des politischen Systems insgesamt strukturiert zu sein. Während formale Änderungsvorgaben, Umfang der Verfassung u.ä. wider Erwarten in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Änderungshäufigkeit stehen, zeigte sich ein deutlicher statistischer Zusammenhang mit dem föderalen oder unitarischen Charakter des politischen Systems sowie mit dem Vorhandensein oder Fehlen einer absoluten Mehrheit für einen politischen Akteur im Parlament bzw. Unterhaus. Schon einer der bekanntesten Propagandisten der ersten föderalen Staatsverfassung, Noah Webster, bezeichnete Regelungen auf dem Papier als „schwache Barriere gegen die Kraft der nationalen Gewohnheiten und Neigungen“ (1788: 64). Dies gilt in abgemilderter Form offenbar auch für heutige 562 Horizontale Kohärenz meint die Einheit und Ganzheitlichkeit des Verfassungstextes, vertikale Kohärenz die Übereinstimmung der Werte und des Selbstverständnisses, die in der Verfassung verankert sind, mit denen der Verfassungsgemeinschaft (Brandon 1995: 229f.).
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etablierte Demokratien. Der Befund harmoniert mit der Deutung, dass es „töricht“ wäre „zu denken, dass Worte Macht in bestimmte Bahnen zwingen“ und dass es „gar nichts beweise“, wenn „ein Dokument das Etikett ‚Verfassung’ trägt und seine eigene Kontrolle über alle politischen Akte deklariert“; es sei mehr die „politische Chemie“, ein ausgeklügeltes System von Zuständigkeiten und Rechten und eine bestimmte politische Kultur, die dazu führe, dass sich die Akteure der Verfassung verpflichtet fühlen (Murphy 1993: 7f.). Auch Robert Dahl geht davon aus, dass spezifische Verfassungsarrangements für die Entwicklung und Aufrechterhaltung demokratischer politischer Institutionen weniger wichtig seien als die Existenz bestimmter allgemeinerer „vorteilhafter“ Rahmenbedingungen (1996: 178). Sowohl Webster als auch Murphy und Dahl betrachten Verfassungen und Institutionen nicht als bedeutungs- oder wirkungslos, verweisen aber zutreffend darauf, dass ihre regulative Wirkung nicht überschätzt werden sollte. Es sind wahrscheinlich mehr die in den Verfassungen abgebildeten institutionellen Großkompromisse und die allgemeinen Routinen des politischen Alltags der organisierten Akteure, die sich (unter den derzeit gegebenen Bedingungen) auf die Verfassungsentwicklung auswirken, als Detailregularien an sich. Auf Basis der Fallstudien lässt sich behaupten, dass die Akteure die theoretisch erwartbare Wirkung konkreter Regelungen nicht gezielt unterminieren, sondern dass ihre Verhaltens- und Entscheidungsheuristik einfach in der „normalen“ Politik und deren wichtigsten Grundmustern trainiert ist und sie sozial handeln. In diese Interpretationsrichtung weist auch der dritte zentrale Befund der Studie, der die in der Politikwissenschaft derzeit sehr verbreitete Annahme infrage stellt, dass eine zunehmende Anzahl entscheidungsbeteiligter Akteure die Fähigkeit zu gemeinsamen Entscheidungen generell behindert. Gegenteilig zeigte sich im All-Demokratien-Vergleich: (3) Je mehr Akteure mit institutionalisierten Entscheidungsrechten, desto größer die Bereitschaft, für Verfassungsänderungen große Mehrheiten bereitzustellen. So lag der Durchschnitt der Verfassungsänderungshäufigkeit sowie der kumulierten Änderungsreichweite in den föderalen Staaten deutlich höher als bei unitarischen Staaten und so fanden sich große verfassungsändernde Mehrheiten am häufigsten in den föderalen Staaten mit einer höheren Fragmentierung im Parlament. Aber auch die anderen in Kapitel 2.3 aufgeführten Einzelbefunde stützen die Aussage. Wie der vorangegangene kann auch dieser Zusammenhang dadurch erklärt werden, dass die kollektiven Akteure in einem politischen System sich aufeinander einstellen und ihr Verhalten beim Entwurf von und der Entscheidung über institutionelle Veränderungen langfristig an die gegebenen Machtkonstellationen anpassen. In Staaten, die historisch lange durch kleinräumige Entscheidungsstrukturen ohne eindeutige Mehrheitsverhältnisse geprägt waren, wie den heutigen europäischen Föderalstaaten Deutschland, Österreich, Schweiz, Belgien, sind beispielsweise häufige Verfassungsänderungen typisch. Die wiederholten Einigungen auf gemeinsame Entscheidungen fungieren hier möglicherweise unbewusst als Instrument, um trotz der relativ vielen Kollektivakteure und ihrer Interessenunterschiede immer wieder aktive Zustimmung zur Verfassung zu beschaffen; gleichzeitig sind die Akteure im Aushandeln von Kompromissen geübt, weil sie oft in Koalitionen mit anderen zu Entscheidungen kommen müssen. In Demokratien mit weniger Akteuren sind solche Akte sozialen Handelns weniger bedeutungsvoll und eintrainiert, weil die politische Mehrheit ihre Interessen in der Alltagspolitik typischerweise allein durchsetzt.
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Was (möglicherweise) das politische Gleichgewicht und die Akzeptanz der Verfassung von seiten der politischen Akteure fördert, muss aber nicht zwangsläufig wünschenswert sein. Die normative Geltungskraft und innere Kohärenz der Verfassung etwa kann dadurch gestört werden, dass viele Akteure in einer Demokratie über institutionalisierte Mitspracherechte verfügen und sich regelmäßig auf Verfassungsänderungen einigen. Eine solche Inkohärenz durch Unachtsamkeit, Kompromiss oder deliberative Inkonsistenzen steigert potenziell die Bedeutung von Gerichten, die die Verfassung auslegen, dabei unterschiedliche Interpretationsmethoden nutzen und je nach Verfahren der Richterberufung unter Umständen nicht frei von politischen Interessen sind. Umgekehrt kann sie aber selbst bei größeren Reformen „in einem Stück“ und unter der klaren Ägide eines Akteurs suboptimal ausgeprägt sein, wie das griechische Fallbeispiel belegte. Widersprüche oder Ungleichgewichte zwischen einzelnen Klauseln und sogar Prinzipien563 der Verfassung gab es oft schon bei deren Entstehung, auch Formelkompromisse der beteiligten Parteien lassen „die rationalistische Idee der Verfassung als eines widerspruchsfreien Ganzen aus einem Guß nirgendwo Realität werden“ (Glaeßner 1999: 135; ähnlich Bellamy 2001: 100). Um die Ursachen und Effekte der faktisch unterlaufenen konstitutionellen Schutzwirkung zu ergründen, bedarf es daher übergreifender empirischer Untersuchungen und komplexerer theoretischer Überlegungen, die berücksichtigen, wie gut die unterschiedlichen Funktionen demokratischer Verfassungspolitik jeweils erfüllt werden und wie die Funktionalitäten sich gegenseitig beeinflussen. Der Studie ging es v.a. darum, die Einigung auf einzelne Verfassungsänderungen vergleichend zu erklären. Auch die Befunde dieser Analyse stellten konventionelle politik- und rechtswissenschaftliche Annahmen zu Verfassungsänderungen in Demokratien infrage. So fanden sich zwar jeweils Phänomene auf der Makroebene, die gemeinhin als Ursachen für Verfassungsänderungen angenommen werden – Wertewandel, politischer und ökonomischer Wandel -, aber sie determinierten keineswegs, wann und wie die Initiativen später erfolgreicher Verfassungsänderungen formuliert werden. Diese sind vielmehr darauf angelegt, die Verfassungsregeln für die Umsetzung von Steuerungszielen der Regierungen passbar zu machen, konzentrieren sich daher zumeist auf Aspekte der Staatsorganisation, Entscheidungsimplementation und den Systemoutput. Andere, parallele Änderungen von „Makrovariablen“ führten hingegen nicht zu Verfassungsänderungen oder noch nicht einmal zu verfassungspolitischen Initiativen. Die Unpopularität des Status quo oder die Popularität einer Initiative, ähnliche Präferenzen und politische Interessen der Verhandlungspartner fördern vielleicht die Zustimmungsneigung der Mitspieler (Weaver 2000), sind jedoch keine Bedingungen für die spätere Verabschiedung, wie die Studie zeigt. Ebenso scheint Budgetneutralität zwar eine förderliche (Schultze 1997: 513 ff.), aber keine notwendige Voraussetzung für den Erfolg einer Verfassungsänderung zu sein. Und schließlich ist auch die Ausnutzung von „Opportunitätsfenstern“ (Kingdon 1984) nicht typisch für Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien. Wieder ist hier daran zu erinnern, dass die Studie Verfassungsänderungen in ihrer Breite untersuchte und nicht bestimmte Typen, wie Reformen, also besonders weitreichende Änderungen, oder Modifikationen des Wahlrechts. Für diese Verfassungsänderungen in ihrer Breite ergab sich folgender Befund:
563 Glaeßner nennt als Beispiele das Spannungsverhältnis zwischen Demokratieprinzip und Repräsentativverfassung sowie das zwischen Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit (1999: 135).
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(4) Die Einigung auf Verfassungsänderungen erklärt sich als Resultat mehrphasiger Prozesse, in denen gemäß der Interaktionsorientierung der zentralen Akteure jeweils bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Aushandlungen fortgeführt und abgeschlossen werden. Das entwickelte Prozessmodell (Kapitel 7) ist dem wissenschaftlichen Credo verpflichtet, reduzierte, aber effektive Erklärungsmodelle zu erstellen. Die Komplexität potenzieller Erklärungsvariablen wurde in der Studie schrittweise zurückgestutzt, doch erfordert eine komplexe Realität ein Mindestmaß an Komplexität auch auf der Modellebene, um sinnvoll erfassbar zu sein. Das aus einem solchen Abwägungsprozess hervorgegangene Phasenmodell stellt keine im engeren Sinne verfassungstheoretischen Aussagen infrage, weil es keine solchen gibt, ist aber beim derzeitigen Stand der Theorieentwicklung auch nicht direkt verfassungstheoretisch anschlussfähig. Typische Aussagen wie „Kontinuität der Verfassung ist nur möglich, wenn Vergangenheit und Zukunft in ihr verbunden werden“ (Häberle 1996: 62) sind eben viel zu allgemein, als dass sie konkret aufgegriffen werden konnten. Stattdessen ähnelt das Modell eher Ansätzen der policy- und Konfliktforschung, die ja auch die Anlage der Untersuchung inspiriert hatten, und tatsächlich ist die Verfassungsänderungspolitik ja zumindest im Hinblick auf die Häufigkeit von Verfassungsänderungen fast schon eine Form von Alltagspolitik, die im besten Falle Konflikte schlichtet. Verfassungsänderungsprozesse verlaufen entsprechend den Untersuchungsbefunden nicht zielgerichtet, sondern können permanent ergebnislos abgebrochen werden, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Erklärungsansatz ist entgegen der üblichen Kritik an Phasenmodellen nicht nur mit der Annahme vereinbar, dass „das Regierungssystem… notorisch mit zu vielen Ereignissen konfrontiert“ ist, „seine Aufmerksamkeit auf viele Sachverhalte gleichzeitig konzentrieren und unter Zeitdruck entscheiden muss“ (Rüb 2006: 20564); vielmehr sind die Abläufe in den einzelnen Phasen, etwa die Delegation des Handelns an Vertreter der Kollektivakteure und deren Verhaltensweisen, sogar direkt mit dieser Gesamtkonstellation kausal verbunden. Sie können als Anpassung der Akteure an die Unübersichtlichkeit und den Zeitdruck der Rahmenbedingungen interpretiert werden – als Effekte ihrer rational- und sozial-heuristischen Strategien, Komplexität und Zeitdruck mithilfe funktionaler Differenzierung zu bewältigen. Auch wenn weder behauptet noch ausgeschlossen werden kann, dass die mit dem entwickelten interaktionsorientierten Phasenmodell verbundenen Kausalzusammenhänge und die Sequenz der Phasen immer genau so wie in der Studie beobachtet auftreten, so verweist die Analyse doch insgesamt klar darauf, dass das Verhalten der Akteure und die Anpassung der Instrumentarien der Zustimmungsbeschaffung an die jeweilige Interaktionsorientierung des (nächst-)verhandlungsmächtigsten Akteurs erklärungsträchtig für die Einigung auf Verfassungsänderungen sind. Solche Instrumentarien sind Argumentieren, Kompromissangebote, Rücksprache mit von der Initiative Betroffenen oder späteren Entscheidungsbeteiligten (vgl. Schultze 1997: 513 ff.), die Einbeziehung Dritter, die die eigene Verhandlungsposition stärken, Versuche kurzfristiger institutioneller Feinsteuerung. Neben der Verhandlungsmacht erwiesen sich die substanzielle Motivation und die damit einhergehende Beharrlichkeit des Initiators (vgl. Weaver 2000: 60) als bedeutsam für den Verlauf der Prozes-
564 Rüb argumentiert hier gegen Phasenmodelle mit Verweis auf die unübersichtlichen Rahmenbedingungen politischen Handelns.
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se. Im Falle einer Einigung stand am Ende immer ein unter rationalistischen Gesichtspunkten verblüffendes Phänomen: (5) Akteure stimmen häufig Verfassungsänderungen zu, die dem Initiator einen erheblichen, ihnen selbst aber keinen besonderen Nutzen erbringen. Zu dem Zweifel daran, dass die Zustimmung besonderer Mehrheiten, die den konstitutionellen Schutzschild gegenüber einem Zugriff aus der Alltagspolitik bilden soll, wie intendiert wirkt, gesellt sich damit ein weiterer Zweifel daran, dass die Akteure die ihnen zugedachte Korrektivfunktion überhaupt so zu erfüllen trachten, wie dies verfassungstheoretisch angenommen wird, bzw. dass sie dazu in der Lage sind. Zwar ist die begrenzte Rationalität, etwa aufgrund der nur beschränkten Prüfung von Alternativen, im Routinehandeln ein empirisch oft beobachtetes und wissenschaftlich breit akzeptiertes Phänomen (u.a. Esser 1990: 231), aber dass dies auch bei aktiven Entscheidungen in der symbolisch „hohen Politik“ von Verfassungsänderungen gilt, spiegelt die Verfassungstehorie noch immer vollkommen unzureichend wider. Konnte man angesichts der Befunde (1) und (3) dieses Resümees noch meinen, dass die Akteure deshalb so häufig Verfassungsänderungen zustimmen und dadurch die Schutzfunktion unterlaufen, weil sie sich davon eigene, vorhabenspezifische Vorteile versprechen, dann ist spätestens jetzt klar, dass man sich vor vorschnellen Urteilen hüten muss. In rationalistischer Deutung gilt es als intelligente Lösung moderner Gesellschaften, die Wahl aushandlungsbefugter Repräsentanten, ein klassisches politisches Instrument also, mit dem klassischen ökonomischen Instrument einer Belohnung und Sanktionierung per Vertrag zu verkoppeln, um bei multiplen individuellen Präferenzen zu für alle günstigen und damit belastbaren Kollektiventscheidungen zu kommen. Faktisch reihen sich aber im Laufe „normaler“ verfassungspolitischer Aushandlungsprozesse unterschiedliche rationalistische Verzerrungseffekte (biases) und latent rationalismuskritische Effekte sozialen Handelns aneinander. Hinzu kommen prozesseigene Dynamiken und der erwähnte Umstand, dass der Grad der Interessiertheit an den Inhalten eines Vorhabens bestimmt, wie gut die Akteure ihre Handlungsoptionen prüfen und auszuschöpfen versuchen, wie rational sie also handeln. Je substanziell motivierter, desto geringer die Bereitschaft zur Einigung bei differierenden Präferenzen. Ein erheblicher Teil der regelmäßigen Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien ist insofern nicht durch ein vorhabenspezifisches Modell strikt-rationaler Akteure erklärbar, sondern darauf zurückzuführen, dass die an ihrer Verabschiedung beteiligten Akteure ein schwach oder moderat ausgeprägtes Interesse an substanzieller Gewinnmaximierung hatten. Die begrenzte Rationalität der Akteure ist dabei weder Irrationalität noch eine dem strikten Rationalwahlmodell über- oder unterlegene Form rationalen Handelns, sondern bezeichnet einfach eine spezifische, von diesen Modell abweichende Form (Gigerenzer/Selten 2002: 4 ff.; Esser 1990). Sie trägt zur Verschiebung, aber auch Klärung von Präferenzen unter den Bedingungen permanent veränderter Entscheidungskonstellationen bei, wie sie für moderne Demokratien typisch sind. Möglicherweise ist dies eine Anpassung daran, dass nicht nur das rationale Kalkül und die entsprechenden Grundeigenschaften bzw. Reflexe (z.B. Abwehr gegenüber Neuem) das langfristige Überleben im System sichern, sondern auch soziales Handeln, Offenheit gegenüber anderen, wo es eindeutigen Präferenzen nicht erkennbar zuwiderläuft. Vereinfacht gesagt, sind Akteure in etablierten Demokratien Meister einer Entscheidungsherbeiführung unter (in as-if-rationalistischer und instituti-
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onalistischer Sicht) entscheidungswidrigen Umständen, weil sie sozialer und anders rational agieren, als es der strikte Rationalismus vorsieht. Wie sie dies tun und mit welchen Effekten, versuchte die Studie zu systematisieren. Die Untersuchung kam außerdem zu dem Schluss, dass die Aushandlungen von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien üblicherweise nicht dem Idealtypus der „normalen Politik“ bloßer individueller Vorteilsnahme entsprechen, dass aber auch das Ideal demokratischer Verfassungspolitik nur bedingt verwirklicht ist: (6) Die Verfassungsänderungspraxis etablierter Demokratien weist Charakteristika demokratischer Verfassungspolitik und „normaler Politik“ auf. Die Abfolge von Phasen mit unterschiedlichen dominanten Interaktionsorientierungen sorgt einerseits dafür, dass sich die Verfassungsänderungspolitik empirisch vom Idealtypus „normaler Politik“ unterscheidet, dass sie aber andererseits auch nur in der kooperativen Phase (sowie indirekt über strukturelle Nachwirkungen in der kompetitiven Phase) und in Abhängigkeit von der substanziellen Motivation der relevanten Akteure in Ansätzen dem Idealtypus deliberativer Verfassungspolitik entspricht. Der Ansatz, die Umwandlung individueller Präferenzen in für viele günstige kollektive Entscheidungen nicht nur oder vornehmlich durch die Kopplung von Wahl und Vertrag, sondern auch durch die Auflösung oder zumindest Abmilderung der eigentlichen Interessenkonflikte auf dem Wege der Deliberation und gemeinsamen Sinngebung zu organisieren, kommt zwar vor Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien zur Anwendung, aber nur phasenweise und rudimentär. Üblicherweise werden keine normativ-ideellen Debatten geführt, insbesondere keine öffentlichen. Die Entscheidungen erfolgen nicht vornehmlich auf Basis gründlicher normativ-substanzieller, auf das Gemeinwohl bezogener Erwägungen, sondern die Aushandlungen beziehen sich fast ausschließlich auf die hinter den Verfassungsänderungen stehenden konkreten und einfachgesetzlichen Vorhaben und dabei stark auf Verteilungsaspekte. So war denn auch die für die kooperative Phase typische größere Bereitschaft zum inhaltlichen Einlenken weniger durch verändertes framing aufgrund intrinsisch motivierter Neuüberlegungen (Esser 2001: 261 ff.), sondern mehr durch soziale Prozesse, etwa angesichts von Rollenüberlappungen. Insofern ist die Änderung verfassungspolitischer Positionen und die Entstehung von Ideenkonjunkturen wohl oft nicht durch substanzielle Einsicht zu erklären, sondern durch die pragmatische Übernahme (zunächst) fremder Sinngebung aufgrund von Sozialheuristik. Auffallend ist auch die oft große Unwissenheit der abschließenden Einzelentscheider hinsichtlich der vorangegangenen Prozesse, der Hintergründe und Effekte der zur Abstimmung stehenden Verfassungsänderungen. Sie orientierten sich weitgehend an den Vorgaben „ihrer“ Kollektivakteure. Die in der Literatur oft direkt oder indirekt vorgenommene Separierung der Verfassungspolitik vom Rest der policies ist daher empirisch nicht fundiert, sondern taugt nur als Idealtypologie. Dass diese Beobachtung sowohl für Fälle gilt, an denen mehr Akteure und außerordentliche Gremien beteiligt waren, als auch für Fälle, in denen nur jene Akteure entscheidend waren, die auch die Alltagspolitik bestimmen, verweist darauf, dass Deliberation durch konkrete prozedurale Vorgaben für Verfassungsänderungen keineswegs garantiert wird, sondern es weiterer förderlicher Bedingungen bedarf. Kooperationsbereitschaft und ein diskursiver Stil der Auseinandersetzungen werden vermutlich durch eine fachlich geprägte Problemlösungsorientierung von Delegierten der Kollektivakteure mit sich überlappenden Rollenverständnissen, durch die personelle Verkleinerung der Aushandlungsrun-
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de und Kompetenzvertrauen gefördert. Weil dies soziale Mechanismen sind, wurde zur Charakterisierung des Aushandlungsverhaltens der Begriff des rational-sozialen Akteurs gewählt anstelle des von Anne van Aaken (2004) vorgeschlagenen Mischtyps des „homo oeconomicus comunicans“, der rationales und gezielt-deliberatives Verhalten in sich vereint. Die Studie lässt zwar das Merkmal des sozialen Handelns treffender erscheinen, bestätigt aber grundsätzlich die Position van Aakens, dass ein modifizierter rationalistischer Ansatz die Einigung auf Verfassungsänderungen am besten erklärt (auch Wohlgemuth 2004). Die letzten Aussagen betreffen auch die zentrale Forderung des Konstitutionalismus und eines Teils der Demokratiekonzepte, dass das Volk die Verfassung (und ihren Status quo) grundsätzlich direkt legitimieren muss. Das in der Studie beobachtete geringe Interesse der meisten Akteure an den konkreten Verfassungsänderungen und die damit verbundenen Folgephänomene in ihrem Verhalten lassen daran zweifeln, dass diese Form der Legitimierung automatisch zu einer verbesserten Qualität und Bindungsfunktion der Verfassung führen würde. Die untersuchten Fälle verabschiedeter wie nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen belegen, dass der reine Wahlakt, darunter die Entscheidung im Referendum, nur unzureichend zur Erfüllung der Idealanforderungen an demokratische Verfassungspolitik beiträgt. Akteure, die vor ihrer Teilnahme an einer Entscheidung nicht in einer (wenigstens symbolischen) Kommunikationsbeziehung zum Initiator der Entscheidung stehen, sind häufig stark am Eigennutzen orientiert sowie hierbei von nichtsubstanziellen Kalkülen geleitet, was normativ kaum wünschenswert ist. Die Untersuchung zeigte keine fundamentalen Unterschiede im Verhalten des „Souveräns“ und der Kollektivakteure,565 weshalb das Repräsentationsprinzip möglicherweise zumindest bei einer beschränkten Reichweite der Verfassungsänderung und in bestimmten Regelungsbereichen ein legitimes, effizientes und damit angemessenes Instrument der Willensbekundung und Kontrolle der Verfassungsentwicklung durch die Bürger darstellt (vgl. Häberle 1996: 89; Grimm 1994). Nimmt man alle Beobachtungen der Studie zusammen, dann lässt sich folgendes Schlussfazit ziehen: (7) Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien reagieren auf kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wandel nur verzögert, interessen- und erfahrungsgeleitet selektiv und überformt durch die Effekte phasentypischer Spezifika der Aushandlungsprozesse. Dies impliziert, dass auch die Verfassungen insgesamt in etablierten Demokratien nur bedingt als Spiegelbilder der Wertvorstellungen einer Verfassungsgemeinschaft taugen, sondern nur Indizien für diese liefern. Der Befund stellt damit eine zentrale theoretische Annahme des demokratischen Konstitutionalismus infrage – die Kongruenz zwischen den Rahmenbedingungen und Werten einer Verfassungsgemeinschaft und den Verfassungsnormen. Sie ist eben nicht nur dort fraglich, wo technische Hindernisse wie Änderungshürden „Korrekturen“ (scheinbar) erschweren, sondern staatenübergreifend. Aus der Exekutivdominanz bei der Initiierung erfolgreicher Verfassungsänderungen und ihrem beobachteten 565 Dies gilt für Fälle, in denen die Bevölkerung per offenen Veranstaltungen oder Referenden in die Entscheidungsprozesse eingebunden war. In den anderen Fällen ergaben (allerdings nur spärlich vorliegende) Befragungen eine Ähnlichkeit der Positionen oder Konfliktmuster zu der zwischen den aushandlungsrelevanten Kollektivakteuren. Dies sind aber nur Indizien, da die Studie nicht auf systematische Aussagen zu diesem Aspekt ausgerichtet war.
8 Resümee und Ausblick
371
Verhalten ist zu schließen, dass es auf lange Sicht eine latente Überrepräsentation von Materien gibt, die sie interessieren, mithin Verzerrungen in der thematischen Ausrichtung von Verfassungsänderungen. Dass normativ besonders bedeutsame Kontroversen einen deutlich geringeren Anteil der Verfassungspolitik ausmachen, muss nicht darauf hindeuten, dass es in den Grundfragen Einigkeit gibt, sondern kann auch bedeuten, dass in solchen Fragen die Kombination aus erhöhter substanzieller Motivation und Positionsunterschieden Wandel verhindert. Die regelmäßigen Verfassungsänderungen sind insofern nicht eindeutig als Resultate eines gesteigerten Wandels der Umstände oder einer bestimmten Fähigkeit politischer Systeme zur Anpassung an diese zu interpretieren. Damit ist auch fraglich, ob Änderungen der Verfassungen genutzt werden, um deren Funktionsfähigkeit langfristig abzusichern. Gerade als es angesichts weltweiter Übergänge zur formalen Verfassungsstaatlichkeit und Demokratie so aussah, als gäbe es zur konstitutionellen Demokratie keine Alternative, wurde ja von einem Teil der Verfassungsforschung festgestellt, dass die Zukunft der Verfassung in ihrer heutigen Form ungewiss ist (Lietzmann 2002; Grimm 1994). Die Ausdehnung der Staatstätigkeit und die große Bedeutung von Parteien als „Zwitterwesen“ zwischen Staat und Gesellschaft werden hier ebenso als Problempotenziale gesehen (Grimm 1994: 431 ff.) wie die Säkularisierung und Segmentierung der Gesellschaft, die Regionalisierung und das Aufbrechen der Kommunikationsräume, die den „Verfassungsstaat seiner Grundlagen und seiner Funktionsmodi zu berauben“ scheinen (Lietzmann 2002: 292). Die liberale Demokratie, so nicht nur mit Blick auf die Verfassungen Schmitter (2003: 155) „ist weit davon entfernt, in ihren Grundlagen und praktischen Verfahren gefestigt zu sein; sie wird sich daher beispiellosen Herausforderungen stellen müssen“. Solch weitreichende normativ-konzeptionelle Überlegungen stellen die politischen Akteure selbst aber typischerweise gar nicht an, wie die Studie zeigt, weil sie andere Interessen verfolgen, damit ausgelastet sind, sich den komplexen Aufgaben zu widmen, die ihnen für ihre unmittelbare Fortexistenz bedeutungsvoller scheinen. Die Zukunft der Verfassungsdemokratie bleibt angesichts der Diskrepanz zwischen realem „Durchwursteln“ und systemisch-konzeptionellen Erfordernissen offen. Dies, die bislang unzureichend thematisierte Häufigkeit von Verfassungsänderungen, die Einseitigkeit ihrer Erträge bei oft großer Zustimmung durch die Entscheidungsbeteiligten und ihre inhaltliche Verzerrtheit gegenüber dem allgemeinen Wandel der Rahmenbedingungen müssen die Politikwissenschaft zu einer ausgeweiteten Forschung herausfordern. Sie sollte auf die „Entmystifizierung“ von Verfassungen und Verfassungspolitik gerichtet und interdisziplinär angelegt sein, Theorie und Empirie in einen Dialog bringen und die engen Grenzen national geprägter Debatten sprengen. Die Studie und ihre Befunde verweisen auf den besonderen Forschungsbedarf bei fünf Themenschwerpunkten: (1) der empirischen Erfassung expliziten Verfassungswandels, (2) der politics-Dimension von Verfassungspolitik, (3) den Effekten von Verfassungsänderungen, (4) dem Verhältnis zwischen explizitem und implizitem Verfassungswandel sowie (5) den Anforderungen an die Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien. Zum ersten Schwerpunkt einer fortzuschreibenden und auszudehnenden systematischen Erfassung von Initiativen für Verfassungsänderungen566 zählt neben der reinen Datenerhebung die Konzeptionalisierung der Erfassung bzw. Aggregation der Daten. So ist 566 Dazu gehören die Themen der verfassungspolitischen Initiativen, ihre inhaltliche Reichweite, Initiatoren, die Erfolgsquoten nach Staat, nach Initiator, Thema und Normart, der Grad der Veränderung zwischen Initiative und verabschiedetem Entwurf u.ä.
372
8 Resümee und Ausblick
es wichtig zu wissen, worauf sich die Verfassungsänderungen konkret beziehen, aber auch in aggregierter Form, ob sie die normativen Kernprinzipien der politischen Systeme, die „fundamentalen Zwecke und Grenzen politischer Herrschaft“ oder eher den Teil der technischen Gebrauchsanleitung betreffen, also die „Organisations- und Verfahrensregeln über die Einrichtung der Staatsgewalt und die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen“ (Grimm 1994: 428). Derartige Konzeptionalisierungen und Bewertungen der Verfassungspraxis sind nur durch den Dialog mit der Verfassungstheorie angemessen realisierbar, weil diese klarmacht, worauf es überhaupt ankommt, sowie in Kooperation von Politikwissenschaftlern mit Verfassungsrechtlern aus dem Bereich des Rechtsvergleichs und der Rechtsgeschichte (Sommermann 2004: 15f.; Häberle 1996: 88). Da in der Verfassungstheorie oft der Gedanke einer Hierarchie des Wandels angelegt ist, die mit einer entsprechenden Hierarchie prozeduraler Anforderungen einhergehen sollte (Murphy 1995: 168f.; Schultze 1997: 512), ist die „Ausmessung“ des expliziten Verfassungswandels ein wichtiger Baustein für die normative Bewertung der Verfassungsänderungen und des genutzten Verfahrens ihrer Verabschiedung. Sie ließe außerdem Aussagen darüber zu, welche Akteurtypen sich für bestimmte Themen besonders interessieren oder könnte dazu beitragen, das Konzept der „Verfassungskultur“ empirisch zu fundieren, indem herausgearbeitet werden könnte, woran sich diese festmacht, wie stark und inwiefern sie sich wandelt. Im zweiten Forschungsschwerpunkt der Erklärung der politics-Dimension von Verfassungspolitik (auch Lietzmann 2002: 306) sollte, der Idee des „Kausalitätstrichters“ folgend (Kapitel 1.3), nicht nur die Aushandlungen selbst untersucht werden, sondern eine Anbindung an Theorien gesucht werden, die sich auf unterschiedliche strukturelle Vorwirkungen auf die Verfassungspolitik beziehen.567 Unter Rückgriff auf Befunde aus dem ersten Forschungsschwerpunkt zu typischen Interessen bestimmter Akteure, zur Verfassungskultur, typischen Konfliktthemen u.ä. könnte langfristig ein Modell unterschiedlicher Einflussvariablen, ihrer individuellen Stärke und Wechselwirkungen erarbeitet werden. Hinsichtlich der Aushandlungen von Verfassungsänderungen wäre ein weitere Verknüpfung von rationalistisch-ökonomischen und sozialpsychologischen sowie kommunikationsorientierten Ansätzen (Aaken u.a. 2004) nützlich. Da die Verabschiedung einer Verfassungsänderung nicht zwangsläufig besser ist als die Nichtverabschiedung, wir aber wenig systematisches Wissen über die Effekte expliziter Verfassungsänderungen haben, müsste auch die Forschung zu diesem Themenkomplex ausgebaut werden. Das im englischen Sprachgebrauch genutzte „Amendment“ für Verfassungsänderung zielt gemäß dem lateinischen Ursprungswort (emendare) auf eine Verbesserung des Status quo ab; aber welche Kriterien müssten wie gut erfüllt sein, damit von der avisierten „Verbesserung“ (Murphy 1995: 172; Barber 1984: 43) bzw. der „Güte“ (Vorländer, Häberle) von Verfassungen und von Verfassungsänderungen, überhaupt gesprochen werden kann? Dass es für Legitimation, Bindungskraft, normative Kohärenz und Güte keine objektiven Bewertungsmaßstäbe gibt, sondern sie prinzipien-, theorie- und erfahrungsgeleitet sind (Brandon 1995: 229f.), macht begriffliche Klarheit und einen theoretischen, aber nicht zu abstrakten Diskurs zwischen Vertretern unterschiedlicher Ansätze umso wichtiger. Er wird davon geprägt sein, wie stark (bestimmte Ideale von) Konstitutionalismus und Demokratie jeweils gewichtet werden, und es wäre wünschenswert, wenn die 567 So scheint es plausibel und mit den Befunden dieser Studie kompatibel, dass die ausgeweitete Staatstätigkeit den Charakter der Verfassungspolitik und das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft beeinflusst (Grimm 1994: 417; 416). Dies müsste aber theoretisch und empirisch fundiert werden.
8 Resümee und Ausblick
373
bisherige Diskrepanz „zwischen verfassungsstaatlichem Denken und zivilgesellschaftlichen Konzepten“ (Lietzmann 2002: 306), zwischen Politik- und Rechtswissenschaft in ihr überwunden würde. Empirisch könnte beispielsweise die Frage geklärt werden, ob Kooperation und institutionelle Entscheidungsverflechtung tatsächlich dazu beitragen, die Erwartungen im Vertretungsverhältnis besser zu erfüllen und dabei gleichzeitig auf längere Sicht mehr Problemlösungsoptionen zu erschließen (Czada 1998). Im vierten vorgeschlagenen Forschungsschwerpunkt zum Verhältnis zwischen explizitem und implizitem Verfassungswandel müsste ein methodisches Instrumentarium entwickelt werden, um Verfassungswandel in seiner Gesamtreichweite empirisch erfassen zu können, also unter Berücksichtigung veränderter Interpretationen durch Gerichte oder gewandelte einfache Gesetze oder politische Praktiken bei formal gleich bleibenden Verfassungsregeln.568 Gerade bei sparsamen, flexiblen Verfassungsregeln sind die Interpretationsspielräume je nach Auslegungsmethode unglaublich groß (vgl. z.B. Ackerman 1995; Amar 1995; Dow 1995). Normativ-theoretisch wäre zu vertiefen, welcher Art das zu vermutende verfassungspolitische Spannungsverhältnis zwischen der Elastizität einer Verfassung, kurzfristiger Effizienz und möglichst breiter Handlungsfähigkeit der politischen Akteure auf der einen Seite sowie Legitimation, Transparenz, Zurechenbarkeit und Erwartungssicherheit auf der anderen Seite (Vorländer 2003: 9) genau ist und inwiefern es sich auflösen oder abmildern lässt. Es ist überdies zu überdenken und präzisieren, warum explizite Verfassungsänderungen „immer dort das richtige Mittel der Verfassungsentwicklung [sind], wo die Verfassung rigide Normen aufweist, wo abrupt neue Sachgehalte in die Verfassung eingeführt werden sollen oder wo die Intensität der Rechtsänderung besonders hoch ist“, warum anderenfalls ein impliziter (und damit nicht legitimierter und oft intransparenter) Verfassungswandel ausreicht, sowie in welcher Hinsicht genau und unter welchen Umständen die in der Praxis oft beobachtbare funktionale Äquivalenz zwischen beiden Arten der Verfassungsentwicklung problematisch ist (Voßkuhle 2004: 455f.; ähnlich Hofmann 2003: 63; Hesse 1995: 38; Grimm 1994: 11). Empirisch interessiert beispielsweise, ob die (theoretisch plausible) Hypothese tatsächlich stimmt, dass in fragmentierteren Systemen eher viele kleine Änderungen stattfinden, während in weniger fragmentierten seltenere, dafür jeweils weiter reichende Reformen typisch sind (z.B. Lutz 1995). Gerade angesichts des Befundes, dass Verfassungspolitik heute in etablierten Demokratien fast schon eine Form von Alltagspolitik geworden ist und der beobachteten „Judizialisierung der Verfassung“ (Venizelos 2003: 696) sollte schließlich ein fünfter Forschungsschwerpunkt der Erarbeitung von konkreten Ansprüchen an die Verfassungsänderungspraxis gewidmet sein. Die Frage, welche Verfassungskonfiguration (föderal, unitarisch, Mehrheits- oder Konsensdemokratie usw.) ideal sei, beschäftigt die Politikwissenschaft seit langem und seit einiger Zeit wieder verstärkt. Interessanterweise bezieht sich die Debatte aber zumeist auf das für eine bestimmte Konstellation als optimal angenommene institutionelle Setting und hängt damit stillschweigend der Illusion eines möglichen Entwicklungsendes an, sobald dieser Idealpunkt erreicht ist. Zumindest wird der weitere Wandel ausgeblendet. Wichtig ist es aber, seine Wahrscheinlichkeit gleich mitzudenken. Schließlich müssen die „fundamentalen Verfahrensregeln kollektiven Entscheidens“ zwar in Rechtsstaaten „als fraglos vorausgesetzt werden können“, doch ist dies umgekehrt nur in dem 568 In der Literatur finden sich immer wieder Hinweise auf die Reichweite impliziten Wandels, vornehmlich in empirischen Studien zu einzelnen Fällen (z.B. Smith 2003: 29; Voßkuhle 2004: 453; Schulze-Fielitz 1984, 1998), doch fehlt es an einem Vergleichsmaßstab.
374
8 Resümee und Ausblick
Maße möglich, „in dem ihr Geltungsanspruch einer kontinuierlichen Infragestellung standhält; denn woraus sonst sollten sie ihre institutionelle Stabilität beziehen, wenn nicht aus der empirischen Bewährung gegenüber Rechtfertigungsansprüchen, die sich nur aus dem disziplinär verengten Blickwinkel der juristischen Staatslehre als prinzipiell unerheblich und abweisbar ausnehmen“ (Offe 2003 [1984]: 64). Mit Blick auf die allen theoretischen Widrigkeiten zum Trotz permanent vollzogenen verfassungspolitischen Kooperationen und Entscheidungen ist insofern zu präzisieren, in welcher Form sie eigentlich wünschenwert sind bzw. unter welchen Umständen sie dies wären. Man könnte beispielsweise akzeptieren, dass Verfassungen ihre normierende und stabilisierende Wirkung nicht über die Verhinderung von Wandel entfalten, sondern über die Erhöhung der Konsens- und Rechtfertigungsanforderungen und die Einziehung eines längeren Zeithorizonts in die Politik (Grimm 1994: 430), und diese Feststellung mit einem ausgearbeiteten System normativer, funktionaler und prozeduraler Erwartungen an die Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien verknüpfen. Sie müssten im Sinne eines partizipativen Konstitutionalismus den Bedarf einer „Demokratisierung der Demokratie“ berücksichtigen, aber auch die „notorische kognitive Überforderung der Bürger durch die Komplexität und oft die Neuartigkeit der zur Entscheidung anstehenden öffentlichen Angelegenheiten, die es schwer macht, von der eigenen Willens- und Beurteilungsfreiheit einen ‚wohl erwogenen’ und deshalb selbstgewissen Gebrauch zu machen“ (Offe 2003: 13, auch Schmitter 2003). Diese kognitive Überforderung sowie ihre Effekte waren in der Studie ja schon bei den Kollektivakteuren beobachtbar, die aufgrund ihres Organisationsgrades und interner funktionaler Differenzierung weit bessere Grundvoraussetzungen mitbringen als Individuen. Unter Rückgriff auf das, was in der verfassungstheoretischen Literatur bereits an Ansätzen angelegt ist, könnte dabei ein zweidimensionales, nach Normen bzw. Regelungsmaterien sowie nach Reformreichweite gestaffeltes System entwickelt werden. So ließe sich beispielsweise eine Dreiteilung vornehmen zwischen auf den Staat gerichteten organisatorisch-prozeduralen Verfassungsfunktionen (Binnenstaatsorganisation), auf den Staat gerichteten „Bändigungsfunktionen“ (Machtbegrenzung, Legitimation) sowie auf die Gesellschaft gerichteten Verfassungsfunktionen (Bürgerrechte, Integration, Identifikation).569 In der zweiten Dimension der Reformreichweite könnte man zwischen der Ausfüllung bestehender Verfassungsnormen, einfachen Änderungen von Normen, die aber mit den grundsätzlichen Verfassungszielen und -strukturen kompatibel sind, sowie signifikanten Änderungen unterscheiden, die zwar ebenfalls noch mit den Verfassungszielen kompatibel sind, sich aber als „Rechtserfindungen“ nicht aus dem bisherigen Recht ableiten lassen. Den Kombinationsvarianten des Verfassungswandels könnten jeweils spezifische Erwartungen zugeordnet werden (vgl. Levinson 1995a: 15f., 2006: 13f.; Murphy 1980, 1993: 14, 1995: 175 ff., Vile 1995: 193 ff.; Brandon 1995; Schultze 1997: 512). Da sich das Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip einer durch Wahlen legitimierten Herrschaftsausübung durch die Mehrheit und dem Prinzip einer Bindung der Herrschaft an gegebene Verfassungsnormen nicht auf rein institutionellem Wege auflösen lässt, weil die Akteure mit ihrem an der Alltagspolitik und dem politischen System an sich geschulten Verhalten solche konkreten Vorgaben latent unterlaufen, müssten außerdem theo569 In der Verfassungstheorie wird oft zwischen normativ-substanziellen (z.B. Grundrechte) und prozeduralen Verfassungsinhalten unterschieden. Die Zuordnung ist aber oft problematisch. So verkörpert das gleiche Stimmrecht für alle als vordergründig prozedurale Regel auch bestimmte Wertvorstellungen (Bellamy 2006).
8 Resümee und Ausblick
375
retisch fundierte Überlegungen dazu angestellt werden, wie die Umsetzung der jeweiligen Erwartungen darüber hinaus gefördert werden könnte. So wäre besonders bei der Kombination aus Konvent und Referendum zu reflektieren, wie die intellektuelle Unabhängigkeit der Teilnehmer vom Wirken der Kollektivakteure (Parteien, Verbände), Sachverstand, ein fairer Austausch mit besten Aussichten für Argumente, Transparenz und Öffentlichkeit gesichert werden könnten (Habermas 1994, 1995; Schultze 1997: 514). Kommt man nun am Ende dieser Studie und in Kenntnis ihrer Ergebnisse und Einsichten auf die Einleitung des Buches zurück, dann mag es zwar sein, dass die Verbindung aus Demokratie und Verfassung die intelligenteste Methode ist, das menschliche Zusammenleben zum Vorteil aller langfristig zu organisieren und heterogene Interessen in einer Gemeinschaft zu integrieren, doch heißt dies noch nicht, dass sie perfekt ausgeprägt ist. So wie „Demokratie jeweils unabhängig erfunden und neu erfunden werden kann, wenn die geeigneten Bedingungen dafür existieren“ (Dahl 1998: 9) und so wie Verfassungen je nach der politisch-sozialen Gesamtsituation „zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene politische und rechtliche Bedeutung“ hatten, so wandelten sich auch die „Verfassungstheorien und -ideologien“ (Böckenförde 1991: 29), und es besteht kein Anlass zu glauben, dass diese Entwicklung abgeschlossen ist. Das offenkundig Neue (wie das Projekt der EUVerfassung) und einzelne heiße Normendebatten sollten nicht den Blick für den verfassungspolitischen Alltag etablierter Demokratien verstellen, denn ihre „Stammbücher“ unterliegen jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit und direkter Legitimation durch den Souverän regelmäßigen Eingriffen. Neben dieser zentralen Erkenntnis der Untersuchung steht die zweite, dass die Wissenschaft diese Entwicklung systematisch beobachten, verstehen und kritisch begleiten muss, will sie ihre Anschlussfähigkeit an die reale politische Entwicklung bewahren.
Anhang
571
570
¼ der PM, Präsident; KA: 1/2 der PM, Präsident
Monarch mit Zustimmung eines Ministers, PM Präs (nach Regbeschluss), PM Mitglieder jeder K (bei Bezug auf Finanzen mit Zustimmung des Präs), Vizepräs; Präs (sofern vom fachlich zuständigen Minister unterstützt); bei Bezug zu juristischen Materien: Oberstes Gericht Mitglieder der uK; bei Bezug auf Finanzen: mit Empfehlung des Präs (die vom Vizepräs oder einem Minister „bedeutet“ werden kann)
1. Filter 1) >50% in 1 K (1/3 Q); 2) >50% in 2 K (1/3 Q)
¾ aller PM in 3 Lesungen; KA: 2/3-Mehrheit, sofern 2-5 2/3 der PM berufen eine Verfas- Monate zuvor 2/3-Mehrheit, sungsversammlung ein aber keine ¾-Mehrheit; KA: nach Neuwahlen 2/3 d. Mitglieder der Verfassungsversammlung in 3 Lesungen
bes. KA: Präs (bei Neuüberweisung durch uK binnen 6 Monaten nach einer Ablehnung Zustimmung binnen 21 Tagen, sofern der Präsident nicht vorher sein Recht auf Pauflösung genutzt hat)
Nach Neuwahlen: beide K u. 2/3 in jeder K (2/3 Q) Monarch bestätigen Änderungspunkte REF, sofern <4/5 im Parlament nächste LP: 2/3-Mehrheit der initiativen, dann der anderen K
3. Filter Weitere 1) sof. REF: MH in MH der 6 Monarch binnen 1 Jahres Staaten
MH in uK; KA/bes. KA: 2/3 aller Präs571; KA: Präs (bei NeuPM (bei best. Themen erst nach überweisung durch uK binnen 6 Monaten nach einer AblehInkenntnissetzung der oK) nung P-auflösung durch Präs oder Zustimmung binnen 21 Tagen); bes. KA: MH im REF
2/3 aller anwesenden Mitglieder in jeder K beschließen Notwendigkeit einer Reform
2. Filter 1) Generalgouverneur kann REF ansetzen; 2) REF: MH in MH der Gliedstaaten Deklaration beider K (jeweils >50%, 50% Q) und des Monarchen ¾ aller PM
politisches Verfahren der Verfassungsänderung
Verfahren der Verfassungsänderung in 39 Demokratien, 1993-2002
Gemeint sind komplett geschützte Klauseln (Bisweilen genießen Kernartikel einen erhöhten Schutz, sind aber änderbar). Verfassungsrechtlich zählt der Präsident Botsuanas zum Parlament.
Bulgarien 1991
Botsuana 1966
Benin 1990 Bolivien 1967
Belgien 1831
Australien 1901, 1986
Verfassung gültig seit
Tabelle A1:
Republik, Laizismus
-
-
ausgenommene Bereiche570
153-63
89, 87
-
-
71; 230- nur Teilrevision 233
154-6
195-8
128
geregelt in Art.
378 Anhang
5/6-Mehrheit im Parlament
2/3 der Mitglieder von Bundesrat und Bundestag
3/5; KA: 2/3 der Mitglieder jeder K Zulassung zur Diskussion nach 3 Lesungen in 6-Tage-Intervallen nach Neuwahlen: Mehrheit im P (Art gemäß einfachem Gesetz)
2/3-Mehrheit in nächster LP, sofern zuvor 2/3, aber <5/6 1) nächste LP: 2/3-Mehrheit; 2) 2/3-MH
Präs (2/3-MH jeder K überstimmen Veto) nächste reguläre LP: 2/3 aller PM binnen 6 Monaten Mehrheit in Monarch REF (40% der Wahlberechtigten Q)
nach 60 Tagen 50% im Plenarkongress (50% Q) 2/3 aller PM
PM
PM
Japan 1946
Reg, PM, 50.000 Wahlberechtigte
Mitglieder der uK
2/3 der Mitglieder jeder K
>50% der Mitglieder jeder K; KA: 2/3 der Mitglieder jeder K
MH in beiden K, sofern sich die oK beteiligt 1) 50% ; 2) 2/3 der Mitglieder jeder K nach zweiter Beratung (Abstand mind. 3 Monate)
1) Mehrheit in REF, sof. 1/5 der Mitglieder einer K, 500.000 Wahlberechtigte oder 5 Regional-P dies fordern KA: >50% in REF, 3/5 bei Generalgouverneur vorheriger Ablehnung durch Senat; besondere KA: 2/3 in REF >50% der Stimmberechtigten formal Monarch in REF
Mehrheit in REF (kein Q)
1) REF; 2) Präs beruft Parla- 2) 3/5-Mehrheit im Konmentarischen Kongress beider gress K ein 50 PM 1) ½ aller PM in 2 Lesungen, 2) nach P-Wahlen mind. 5 Jahre 3/5 aller PM in 2 Lesungen nach letzter Änderung: 1) 3/5, 2) ½ der PM einfache Mehrheit im P; nicht vom P angefochtene Gerichtsentscheidungen; internationale Verträge; Brauch; Tradition
PM; Reg (bei Anpassung 1) Mehrheit im P; 2) 5/6 bean internationale Verschließen Eilverfahren pflichtungen) Präs, Premier, PM Mehrheit in jeder K in 1 LP
10 PM in regulärer Sitzungsperiode Mehrheit im P (Art gemäß einf. Gesetz), Zustimmung der Reg Bundesreg, Bundesratsmitglieder, Bundestagsmitglieder dort PM
Präsident, PM
Jamaika 1962
Irland 1937 Italien 1948
Großbritannien
Griechenland 1975
Frankreich 1958
Finnland 1919 Finnland 2000
Deutschland 1949
Chile 1981 Costa Rica 1949 Dänemark 1953
-
Parlamentarische Republik, Art. 2-1; 4-1; 4-7; 5-1/3; 13-1; 26 -
Republik
-
-
96
-
-
71, Republik 138,139
46-7
-
110
89
73-4
67
Grundrechte, Föderalismus
-
88
79
-
195-6
116-119 Art. 62/1
Anhang
379
Monarch oder in seinem Auftrag, uK
Reg, PM in den ersten 3 Jahren einer LP
Mitglieder der uK, Bundesreg, oK über die Reg; 100.000 Wahlberechtigte; jeweils 1/6 der Wahlberechtigten aus 3 Bundesländern PM; 2/3-Mehrheit im P >50% im P, KA: 2/3- bzw. ¾für Eilverfahren (außer Mehrheit im P
Norwegen 1815
Österreich 1920
PapuaNeuguinea
oK kann Vorlage mit 2/3Mehrheit splitten; beide K beschließen Änderungsnotwendigkeit; Monarch bestätigt in den ersten 3 Jahren der nächsten LP: 2/3-Mehrheit aller PM (2/3 Q) 2/3 in uK (50% Q)
2/3 aller PM
Namibia 1990 Neuseeland 1840, 1987 Niederlande 1815
Reg, PM
2/3 d. OK-M, Ablehnung: Präs kann REF ansetzen Generalstaatsanwalt prüft
Präs, PM, Reg
Mongolei 1992
Mauritius 1968
¼ der PM, 300.000 Wahlberechtigte (>1 Jahr nach einer Ablehnung) PM
Litauen 1992
2/3 aller PM; KA: REF (Änderung von Art. 1: ¾ der Wahlberechtigten) 2/3 der PM (1/2 Q), KA: ¾ d. PM, besondere KA: ¾ aller Wahlberechtigten in REF Verfassungsgericht schlägt initiierte Änderung dem P vor
PM; Provinz-P; Minister- >1/2 der M in jeder K; >1/2 in antrag: ProvinzzustimuK nach 180 T, um fehlendes mung Votum der oK zu ersetzen
Kanada 1867, 1982
147-9
38-47
-
-
>50% in REF, sofern von 1/3 der Mitglieder einer K gefordert; formal Bundespräs, Bundeskanzler
Monarch
13-7
14, 35, 41ff.
73, 112
137-40
-
-
Verfassungsprinzipien, Verfassungsgeist
-
REF, sofern von 2/3 der PM 25, 68-9 angesetzt; Verfassungsgericht formal Präs 131, 132 Kap. 3, Voten für Verfassungsänderung Monarch -
Präs (21 Tage; Mehrheit im 46-7 P überstimmt Veto)
>50% im P, KA: 2/3- bzw. ¾- oberstes Gericht binnen 4 Mehrheit (nach 8, Eilverfahren Wochen, Monarch
oK (8 Wochen); Veto überstimmen 2/3 in uK (50% Q); Art. 34f.: Mehrheit der Repräsentanten von mind. 4 Bundesländern in oK
formale Veröffentlichung durch den Monarchen
nach Wahlen: 2/3 in jeder K
einfache Mehrheit im P
falls REF, 2/3-Mehrheit
¾ aller PM
besondere KA: 100% der Parlamentsmitglieder
2/3 der Provinz-P (die 50% d. formal Generalgouverneur Gesamtbev. repräsentieren); Provinzrechte betreffend: 50% in entsprechendem Provinz-P, gültig nur in Provinzen, wo 50% pro; KA: alle Provinz-P 3 Monate später: 2/3 aller PM Präs (5 Tage), sonst Parlamentssprecher
380 Anhang
574
573
572
2/3-MH der Abgeordneten der unteren Kammer (50% Q)
2 Wochen)
nach 30 Tagen 2/3 aller Mitglie- in 60 Tagen >50% in oK KA: >50% in REF, sofern der der uK (50% Q); KA: 1/5 der Mitglie- gefordert; formal Präs der der uK, oK oder Präs können binnen 45 Tagen REF fordern PM bzw. 4/5 der PM, 2/3 aller PM 5 Jahre nach VÖ der sofern <5 Jahre nach VÖ letzten Änderung der letzten Änderung Regierung, Parlaments- 1) 3/5 im P (50% Q); 2) 15 Tage 1) nächste LP: 3/5-Mehrheit; 2) 3/5-Mehrheit im neuen P mitglieder später kann 1/10 der PM (1/3 Q) 2) >50% in REF anlässlich ein REF ansetzen von Parlamentswahlen 1) PM, Kantone; 2) 1) >50% in jeder K (>50% Q); 2) 50%-Mehrheit in REF gesamt 100.000 Wahlberechtigte P konkretisiert o. erstellt Gegen- und in der Mehrheit der entwurf Kantone 1) PM, Kantone; 2) 1) >50% in jeder K (>50% Q); 2) Mehrheit im REF insgesamt 100.000 Wahlberechtigte Parlament konkretisiert o. erstellt und in der Mehrheit der Gegenentwurf, bei Ablehnung: Kantone REF 20 PM, Reg, 30.000 2/3 im P (>50% Q) 2/3 aller PM Mehrheit (>50% Q) in REF, Wahlberechtigte sofern von 30 PM gefordert Reg, Kongress, oK, 3/5 in jeder K, sofern uneins: 1) Mehrheit in REF, sofern von KA: REF Parlamente der autono3/5 für modifizierten Entwurf des 1/10 der Mitglieder einer K men Gemeinschaften Vermittlungsausschusses, sofern beantragt 1) nicht erreicht: 2) 3/4-Mehrheit KA: nach Neuwahl ¾in uK bei >50% in oK Mehrheit beider K KA: ¾-Mehrheit beider K Mehrheit der PM, Präs 2/3 aller PM (mind. 60 Tage nach >50% in REF binnen 30 Tagen Formal Präsident VÖ durch Präsidenten) (50% Q) Reg, PM, Repräsentanten 3/5 aller Mitglieder der uK u. 3/5 e. höheren Gebietseinheit der anwesenden Mitglieder der oK (1/3 Q)
KA) Mitglieder der unteren Kammer, obere Kammer, Präsident, Regierung 1/5 aller Mitglieder der uK, oK, Präs
Gemäß Art. 77 blieben die Abschnitte 1, 4, 7 (außer Art. 60 (1)), 8, 9 (außer Art. 94), 10 und 11 der Verfassung von 1952 in Kraft. Änderungsverfahren seit 1977. Das Änderungsverfahren unterlag bereits erneuten Änderungen, hier der Stand nach 2003.
Südkorea 1948 Tschechien 1993
Slowenien 1991 Spanien 1978
Schweiz 2000574
Schweiz 1848573
Schweden 1975
Portugal 1976
Polen 1997
1975 Polen 1992572
-
Republik, demokratische Prinzipien u.a.
-
demokratischer Rechtsstaat und seine Kernattribute
9, 39
-
166-9
128-30
-
168-71
139,140, „Einheit der Form“ (bei 192-6 2)), „Einheit der Materie“, Völkerrecht
89; 118- 123
15-6
284-9
235
106 (V. v. 1952)
Anhang
381
(1) 2/3 der Mitglieder jeder K; (2) 2/3 der Staatsparlamente
USA 1789
(1) REF anlässlich der nächsten Wahlen; (2) >50% in Verfassungskonvent; (3) >50% in separatem REF
(1) >50%-Votum (35% Q der registrierten Wahlberechtigten); (2) >50% aller PM; (3) 2/3 der Mitglieder jeder K in einer Legislaturperiode
(1) ¾ der Gliedstaatenparlamente o. jeweiligen Verfassungskonvente; (2) Verfassungskonvent auf Bundesebene
formal Parlamentssprecher
2/3 der PM (50% Q) (2) Mehrheit in REF, die mind. 35% der registrierten Wahlberechtigten umfasst
5
331
24
Stimmrecht der Staaten im Senat
-
-
Mehrheitsregeln; Erfolgsrate; Zahl der Abstimmungen; Zahl der Parlamentskammern; Initiativakteure; spezielle Abstimmungskörperschaft/normale Legislative; Wahlen zwischen den Abstimmungen? Addition von Zahlenwerten (scores) 0,25 - 4,00
Berücksichtigte Faktoren
Messmechanismus Range der Werte/Klassen
Änderungsrate von Verfassungen
Donald S. Lutz
Klassifizierung 1,0 - 4,0
Performanz von Konsensund Mehrheitsdemokratien Mehrheitsregel; Wahlsystem (teils); Annahme per Referendum (teils); Annahme durch föderale Parlamente (teils)
Arend Lijphart
Indizes der konstitutionellen Rigidität im Vergleich
Erklärungszweck
Tabelle A2:
Klassifizierung 1-9
Dag Anckar / Lauri Karvonen Länderpräferenzen für Rigidität Mehrheitsregel; Abstimmungsarenen (Legislative, Bürger)
Addition von Zahlenwerten 0,5 - 4,0
Häufigkeit und Reichweite von Verfassungsänderungen Mehrheitsregel; Abstimmungsarenen und –akteure (nicht limitiert; Anzahl der Abstimmungen impliziert)
Astrid Lorenz
Abkürzungen: K – Kammer/n, KA - Kernartikel der Verfassung, LP – Legislaturperiode, oK - obere Kammer, Q - Quorum, PM – Parlamentsmitglieder, Präs – Präsident, Reg – Regierung, REF - Referendum, uK – untere Kammer, VÖ - Veröffentlichung Quellen: Verfassungen der genannten Staaten
Präs, Reg, P-ausschüsse, PM (1) 10% der registrierten Wahlberechtigten (Versammlung beider K kann Alternativprojekt erstellen), 2/5 aller PM; (2) PM, Exekutive
Ungarn 1949 Uruguay 1967
382 Anhang
383
Anhang
Tabelle A3:
Änderungsrigidität der Verfassungen in 39 Demokratien
° Dieser Wert gilt für 35 der 127 Artikel Botsuanas; für den Rest mindestens 4,0. * vorhergesagt auf Basis einer best-subset-Regression Quelldaten: Lutz 1994; Lijphart 1999; Anckar/Karvonen 2002; eigene Recherchen.
384
Anhang
Tabelle A4:
Als signifikant bewertete Verfassungsänderungen und neue Verfassungen
Land Belgien Bolivien Deutschland
Verfassungsänderung vom signifikant neue Verfassung 23.04.1993 X 08.12.1994 X 27.10.1994 X 11.06.1999 X Finnland 01.03.2000** Griechenland 16.04.2001 X 22.11.1999 X Italien 18.10.2001 X Papua-Neuguinea 19.07.1995 X 02.04.1997 X Polen 17.10.1997** 20.09.1997 X Portugal 20.11.2001 X 18.04.1999 X Schweiz 01.01.2000** Uruguay 08.12.1996 X * Quadrant der Vierfeldermatrix in Kap. 2.3. Siehe auch Abb. A 1. ** Datum des Inkrafttretens.
Quadrant* föderal/nicht dominant unitarisch/nicht dominant föderal/nicht dominant unitarisch/nicht dominant unitarisch/dominant unitarisch/nicht dominant unitarisch/nicht dominant unitarisch/nicht dominant unitarisch/nicht dominant föderal/nicht dominant unitarisch/nicht dominant
keine dominante Partei im Parlament bzw. Unterhaus dominante Partei im Parlament bzw. Unterhaus
Vetopunkte-Horizontaldimension
Abbildung A1: Fallverteilung hinsichtlich der potenziell wichtigsten Rahmenbedingungen für Verfassungsänderungen, 1993-2002 Vetopunkte-Vertikaldimension unitarisch föderal Benin 0 Norwegen 2 Belgien 19 (21) Bolivien 1 (3) PNG 9 (13) Deutschland 13 (15) Chile 11 Polen 5 (8) Österreich 21 [Costa Rica 15] Portugal 2 (6) Schweiz 20 (23) Italien 7 (11) Schweden 11 Finnland 17 (20) Slowenien 2 Frankreich 9 Südkorea 0 Irland 9 Uruguay 2 (4) [Japan 0] Tschechien 5 Niederlande 6 [[Neuseeland 13]] [[Dänemark 0]] [[Ungarn 10]] [[Spanien 0]] [[Bulgarien 0]] [[Mauritius 6]] [[Australien 0]] [[Litauen 3]] [[Mongolei 1]] Botsuana 2 Namibia 1 Griechenld. 1 (3)
Großbritannien Jamaika 3
Kanada 1 (+6*) USA 0
Werte hinter den Ländern: Anzahl der Verfassungsänderungen, bei Abweichungen () deren kumulierte Reichweite. Staaten in eckigen Klammern erfüllten das Dominanzkriterium nicht exakt. Doppelklammern bedeuten 2-4 Jahre Abweichung; bei Spanien ist zudem die Charakterisierung als föderal nicht unumstritten. * Verfassungsänderungen, die nur einzelne Provinzen betrafen
385
Anhang
Tabelle A5:
Regelungsdichte der Verfassungen in 39 Demokratien, 1993-2002
Staat Verfassung in Kraft seit Anzahl der Regelungen Anzahl der Zeilen Regelungsdichte Australien 1901 155 1255 2,8 Belgien 1831 204 1287 3,3 Benin 1990 228 1530 3,8 Bolivien 1967 239 1580 4,0 Botsuana 1966 127 2365 3,6 Bulgarien 1991 178 1108 2,9 Chile 1981 149 2167 3,7 Costa Rica 1949 210 1423 3,5 Dänemark 1953 89 525 1,4 Deutschland 1949 177 1766 3,5 Finnland 1919 146 1273 2,7 Finnland 2000 131 1093 2,4 Frankreich 1958 92 677 1,6 Griechenland 1975 118 1776 3,0 Irland 1937 50 1173 1,7 Italien 1948 157 1066 2,6 Jamaika 1962 152 2933 4,5 Japan 1946 103 515 1,5 Kanada 1867 226 1672 3,9 Litauen 1992 154 1152 2,7 Mauritius 1968 136 2825 4,2 Mongolei 1992 70 718 1,4 Namibia 1990 154 1963 3,5 Neuseeland 1840 76 957 1,7 Niederlande 1815 191 1099 3,0 Norwegen 1815 105 642 1,7 Österreich 1920 175 2325 4,1 PNG 1975 332 4837 8,2 Polen 1992 78 566 1,3 Polen 1997 243 1872 4,3 Portugal 1976 299 3158 6,1 Schweden 1975 369 2935 6,6 Schweiz 1848 188 1574 3,5 Schweiz 2000 211 1590 3,7 Slowenien 1991 174 989 2,7 Spanien 1978 184 1717 3,6 Südkorea 1948 136 867 2,2 Tschechien 1993 113 684 1,8 Ungarn 1949 117 1068 2,2 Uruguay 1967 333 2671 6,0 USA 1789 72 607 1,3 Regelungsdichte = Anzahl der Regelungen/100 + Anzahl der Zeilen/1000. Dies ist möglich, da beide positiv korrelieren (r = 0,83). Die Zeilenangaben basieren auf den identisch formatierten elektronischen Verfassungen in englischer Sprache auf einem Stand zeitnah dem 01.01.1993. Nur für Italien (Stand: 2003) fand sich zuvor keine konsolidierte offizielle Version.
386
Anhang
Tabelle A6:
Weitere potenzielle Erklärungsfaktoren für Verfassungsänderungen, 1993-2002
Staat
Unitarismus 0 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 0 1 0 1 1 1 1 0
Australien Belgien Benin Bolivien Botsuana Bulgarien Chile Costa Rica Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Italien Jamaika Japan Kanada Litauen Mauritius Mongolei Namibia Neuseeland Niederlande Norwegen Österreich PNG Polen Portugal Schweden Schweiz Slowenien Spanien Südkorea Tschechien Ungarn Uruguay USA
absolute Mehrheit 0,6 0 0 0 1 0,75 0 0,25 0,25 0 0 0,25 1 1 0 0 1 0,25 1 0,67 0,67 0,67 1 0,4 0 0 0 0 0 0,25 0 0 0 0,5 0 0 0,25 0 1
Fragmentierung 2,49 8,41 6,94 4,63 1,67 2,59 5,15 2,45 4,16 3,23 5,08 3,23 2,28 2,20 3,25 4,19 1,37 3,35 2,59 3,03 2,30 1,92 1,84 3,07 4,96 4,35 3,25 13,62 3,99 2,48 3,96 5,76 6,01 2,65 2,78 4,49 3,22 3,24 1,98
Wahlsystem 0 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 0 1 0 1 2 0 2 0 2 0 0 1 1* 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 0
HDI 0,9228 0,9244 0,3916 0,6303 0,6122 0,7799 0,8112 0,8059 0,9095 0,9080 0,9122 0,9148 0,8713 0,9120 0,8985 0,8982 0,7346 0,9232 0,9332 0,7961 0,7492 0,6459 0,6219 0,9011 0,9219 0,9253 0,9103 0,5158 0,8123 0,8553 0,9236 0,9164 0,8587 0,8966 0,8536 0,8432 0,8158 0,8170 0,9270
gesellschaftl. Homogenität 0 1 2 1 0 2 0 0 0 2 2 2 0 0 0 2 0 0 1 2 1 0 1 0 2 0 2 1 0 0 0 1 2 1 0 0 0 2 2
Westminstertradition 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 0 1 0 1 0 1 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
* bis 1996 Mehrheitswahl (0) Unitarismus: föderaler Staat = 0, unitarischer Staat = 1. absolute Mehrheit im Parlament/Unterhaus: Legislaturperioden mit absoluter Mehrheit/ Legislaturperioden Fragmentierung im Parlament/Unterhaus: (N Monate der Mandatszeit * Effective number of parties der Legislaturperiode)/120 Monate. Effective number of parties berechnet nach Laakso/Taagepera 1979. HDI: gewichteter Durchschnitt des Human Development Index auf Basis der Daten für 1990, 1995, 2000 Wahlsystem: Mehrheitswahl = 0, Verhältniswahl = 1, Mischsystem = 2. Gesellschaftliche Homogenität: (ethnisch/religiös) homogen = 0, heterogen = 1, mittel = 2. Westminstertradition: nein = 0, ja = 1. Quellen: Binghamton University o.J.; Freedomhouse o.J. ; Human Development Report 2002; IDEA o.J.; Campagnolo o.J., IFES o.J.; Spiegel online Jahrbuch o.J.; eigene Recherchen.
387
Anhang
Tabelle A7:
Verfassungsänderungen in Kanada, 1876-2002
Dokument
Constitution Act, 1871 Constitution Act, 1886 Statute Law Revision Act, 1893 Constitution Act, 1907 Constitution Act, 1915 Constitution Act, 1930 Statute of Westminster, 1931 Constitution Act, 1940 Statute Law Revision Act, 1950 British North America Act, 1952 Constitution Act, 1960 Constitution Act, 1964 Constitution Act, 1965 Constitution Act (No. 2), 1975 Miscellaneous Statue Law Revision Act, 1977 Constitution Act, 1982 Constitution Amendment Proclamation, 1983 Constitution Act, 1985 (Representation) Constitution Amendment, 1987 (Newfoundland Act) Constitution Amendment Proclamation, 1993 (New Brunswick Act) Constitution Amendment Proclamation, 1993 (Prince Edward Island) Constitution Amendment Proclamation, 1997 (Newfoundland Act) Constitution Amendment, 1997 (Québec) Constitution Act, 1998 (Newfoundland Act) Constitution Act, 1999 (Nunavut) Constitution Amendment, 2001 (Newfoundland and Labrador) Quelle: Maton 2004.
Tabelle A8:
Repräsentation
X X X X X X -
X X X X X X X X X X X X -
nat. EbeneProvinzen X X X X X X X X X X X X X X X X X
Verfassungsänderungen in Griechenland, 1975-2002
Dokument
Gesetz vom 12.03.1986 Gesetz vom 16.04.2001 Quelle: GrVerf o.J.
Tabelle A9:
Regierungssystem
Regierungssystem
Repräsentation
X X
X X
nat. Ebene – Gebietseinheiten X
Verfassungsänderungen in Irland, 1937-2002
Dokument
First Amendment of the Constitution Act, 1939 Second Amendment of the Constitution Act, 1941 Third Amendment of the Constitution Act, 1972 Fourth Amendment of the Constitution Act, 1972 Fifth Amendment of the Constitution Act, 1972 Sixth Amendment of the Constitution (Adoption) Act, 1979 Seventh Amendment of the Constitution Act, 1979
Regierungssystem
Repräsentation
X X X X -
X X X
nat. Ebene – Gebietseinheiten -
388
Anhang
Eighth Amendment of the Constitution Act, 1983 Ninth Amendment of the Constitution Act, 1984 X Tenth Amendment of the Constitution Act, 1987 X Eleventh Amendment of the Constitution Act, 1992 X Thirteenth Amendment of the Constitution Act, 1992 Fourteenth Amendment of the Constitution Act, 1992 Fifteenth Amendment of the Constitution Act, 1995 Sixteenth Amendment of the Constitution Act, 1996 Seventeenth Amendment of the Constitution Act, 1997 X Eighteenth Amendment of the Constitution Act, 1998 X Nineteenth Amendment of the Constitution Act, 1998 X Twentieth Amendment of the Constitution Act, 1999 X Twenty-first Amendment of the Constitution Act, 2001 Twenty–third Amendment of the Constitution Act, 2001 X Twenty-sixth Amendment of the Constitution Act, 2002 X Die 12., 22., 24. und 25. Verfassungsänderung gibt es nicht, da die Entwürfe jeweils im Referendum abgelehnt worden sind. Quelle: Constitution of Ireland o.J.: 1-4; Achtanna an Oireachtais 1922-2003.
Tabelle A10: Verfassungsänderungen in Deutschland, 1949-2002 Dokument
Strafrechtsänderungsgesetz Gesetz zur Einfügung des Art. 120 a in das Grundgesetz Gesetz zur Änderung des Art. 107 des Grundgesetzes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes Zweites Gesetz zur Änderung des Art. 107 des Grundgesetzes Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Finanzverfassung Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Art. 106 des Grundgesetzes Gesetz zur Einfügung eines Art. 135a in das Grundgesetz Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes 11. Änderung des Grundgesetzes Zwölftes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Fünfzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Sechzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Siebzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Achtzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 76 u. 77) Neunzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Zwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Zweiundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Dreiundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Vierundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Fünfundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Sechsundzwanzigstes Gesetz zur Änderung d. Grundgesetzes (Art. 96) Siebenundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Achtundzwanzigstes Gesetz zur Änderung d. Grundgesetzes (Art. 74a) Neunundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes
Regierungs system
Repräsentation
Bundesebene - Länder
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
X X X -
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
389
Anhang
Dreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 74 GG) Einunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes Zweiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 45c) Dreiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 29 und 39) Vierunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 74 Nr. 4a) Fünfunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 21 Abs. 1) Einigungsvertragsgesetz [37.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [38.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [39.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 16 und 18) [40.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [41.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [42.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (…) [43.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 106) [44.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 28 und 106) [45.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13) [46.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 39) [47.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 16) [48.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 12a) [49.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 108) [50.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz) [51.] Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 96)
X X X X
X
X X X
X
-
X
-
-
-
X X X X X X X X X X X X X
X X X X -
X X X X X X X X X X X
Quellen: Schindler 2000: 2964-2976; Schindler 2005: 689-691.
Tabelle A11: Abstimmungsergebnisse im Fall K, 1998 Partei Unterhaus: Liberale Partei Reform-Partei Progressive Konservative Quebec-Block Neue Demokratische Partei Unabhängig Senat: keine Daten dokumentiert Quelldaten: HoC 1998g; SoC 1998e.
Ja
Nein
144 0 15 34 14 0
0 46 0 0 0 0
Enthaltung 2 0 0 2 0 0
Nicht abgegeben 10 13 5 8 7 1
390
Anhang
Abbildung A2: Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall K Bundesministerium für Ureinwohnerangelegenheiten und nördliche Entwicklung Gesetzentwurf
BUNDESREGIERUNG
Einbringung, formale Annahme und erste Lesung 31.03.98
UNTERHAUS
Zweite Lesung und Ausschussüberweisung 20.04; 22.04.; 28.04.98 Ausschuss für Ureinwohnerangelegenheiten und nördliche Entwicklung 06.05.98 Dritte Lesung und Verabschiedung 02.06.98
Erste Lesung 03.06.1998
SENAT
Zweite Lesung und Ausschussüberweisung 08.06.98 Ausschuss für Ureinwohnervölker 09.06.98 Dritte Lesung und Verabschiedung 10.06.98
Königliche Zustimmung zur Verfassungsänderung 11.06.98 Teil 2 des Nunavut Act, 1999 tritt am 01.04.99 in Kraft
Angegeben sind die Abstimmungsdaten.
GENERALGOUVERNEUR
391
Anhang
Abbildung A3: Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall G 96 PASOK-Abgeordnete Verfassungsänderungsvorschlag 04.06.97
99 ND-Abgeordnete Verfassungsänderungsvorschlag 05.06.97
verschiedene Abgeordnete Verfassungsänderungsvorschläge 10.11.97, 13.11.97, 11.12.97, 12.02.98
Parlamentsvorsitzender Einberufung des Revisionsausschusses 11.06.97 Revisionsausschuss Vorlage des Abschlussberichts 30.03.98
PARLAMENT 1996-2000
1. Abstimmung im Plenum 20.05.98 Der Änderung von 84 Klauseln stimmen >3/5 der Abgeordneten zu.
Der Änderung von 6 Klauseln stimmen >1/2, aber <3/5 der Abgeordneten zu.
Der Änderung von 30 Klauseln stimmen <1/2 der Abgeordneten zu; sie scheitert.
2. Abstimmung im Plenum 24.06.98 Der Änderung von 83 Klauseln stimmen >3/5 der Abgeordneten zu.
Der Änderung von 7 Klauseln stimmen >1/2, aber <3/5 der Abgeordneten zu.
Parlamentsvorsitzender Einberufung des Revisionsausschusses 30.05.00 Revisionsausschuss Vorlage des Berichts/Wortlauts der Klauseln 23.10.00
PARLAMENT 2000-2004
Abstimmung im Plenum* 06.04.01 Die Änderung von 72 Klauseln im endgültigen Wortlaut billigen >3/5 der Abgeordneten.
Die Änderung von 7 Klauseln billigen >1/2, aber <3/5 der Abgeordneten.**
Die Annahme von 17 Vorschlägen scheitert.
Veröffentlichung und Inkrafttreten der Verfassungsänderung (79 Klauseln) 17.04.01 * Die zur Abstimmung gestellten Klauseln entsprechen nicht vollständig den 1998er Klauseln. Einige werden zusammengefasst, 3 Klauseln, für deren Änderung 1998 >3/5 der Abgeordneten votierten, werden nicht zur Abstimmung gestellt. Die ND schlägt zusätzliche Klauseländerungen vor. ** Die Klauseln treten in Kraft, weil ihrer Änderung 1998 >3/5 der Abgeordenten zustimmten. Frühere, nicht zur Abstimmung gekommene Verfassungsänderungsinitiativen sind nicht berücksichtigt.
Formale Annahme 04.09.02
PRÄSIDENTIN Ausfertigung am 07.11.02
Ausschuss, Gesamtlesung (Report Stage), Verabschiedung (Final Stage)* 13.09.02
SENAT*
Generalaussprache (Second Stage) 12.09., 13.09.02
Referendumkommission Verantwortliches Personal
Ausschuss, Gesamtlesung (Report Stage), Verabschiedung des Gesetzentwurfs (Final Stage) 11.09.02
REFERENDUM Annahme des Gesetzentwurfes 19.10.02
Generalaussprache (First Stage) 04.09., 05.09.02 10.09., 11.09.02
ABGEORDNETENHAUS
* Der Senat kann einen Gesetzentwurf, dem die Mehrheit des Abgeordnetenhauses zugestimmt hat, nicht ganz ablehnen.
Festsetzung des Datums Einberufung Benennung
Minister für Umwelt und Kommunalverwaltung
Gesetzentwurf 26.06.02
Minister für Auswärtige Angelegenheiten
REGIERUNG
Abbildung A4: Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall I
392 Anhang
Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Innenausschuss
1. Lesung 05.08.97
12.09.97
(f)
Annahme der Grundgesetzänderung (Art. 28, 106 GG) 26.09.97
Gesetzentwurf 2* (Art. 28, 106 GG) des Bundesrates 04.07.97
Ablehnende Stellungnahme des Bundesrates 02.06.95
Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss (f) Innenausschuss Wirtschaftsausschuss
BUNDESRAT
Freie und Hansestadt Hamburg Gesetzesantrag (Art. 28, 106 GG)* 23.05.97
* Der Entwurf eines Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform beinhaltete in Teil II die Grundgesetzänderung. ** vereinbart im Vermittlungsausschuss zum Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform, basierend auf den Gesetzentwürfen 1 und 2.
BUNDESPRÄSIDENT Ausfertigung am 20.10.97
2./3. Lesung, Annahme der integrierten Gesetzentwürfe 1 und 3 als Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 28, 106 GG)
1. Lesung 21.06.95
Fraktionen CDU/CSU, FDP SPD, Bündnis 90/Grüne Gesetzentwurf 3 (Art. 28 GG)** 05.08.97
BUNDESTAG
Fraktionen CDU/CSU, FDP Änderungsantrag (Art. 106 GG) ohne Datum (09.96)
Einbringung mit Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates 13.06.95
BUNDESREGIERUNG Gesetzentwurf 1 (Art 106 GG) 31.03.95
Bundesministerium der Finanzen Referentenentwurf (Art. 106 GG) 14.02.95
Abbildung A5: Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall D
Anhang
393
Klausel Art. 4 (6): Wehrdienstverweigerung Art. 5 (4): Individuelle Verwaltungsmaßnahmen Art. 5 A: Recht auf Informationsgewinnung Art. 5 B: Rechte der Immigranten Art. 5 C: Versuche im Bereich Biomedizin Art. 6 (4): Höchstgrenze der Untersuchungshaft Art. 7 (3): Todesstrafe Art. 9 A: Datenschutz Art. 10: Recht, sich schriftlich an die Behörden zu wenden Art. 12 (4): Vereinigungsrecht Art. 14 (4): Konfiskation Art. 14 (5): Berichtigung unrichtiger Veröffentlichungen durch die Presse Art. 14 (6): Einstellung der Herausgabe der Druckschrift. Art. 14 (7): Pressedelikte Art. 14 (8): Ausübung des Journalistenberufes Art. 14 (9): Finanzierung von Kommunikationsmitteln Art. 15 (1): Schutze von Presse, Hörfunk und Fernsehen Art. 15 (2): Nationaler Rundfunkrat Art. 16 (5): Gründung nichtstaatlicher Universitäten Art. 16 (6): Gründung nichtstaatlicher Universitäten Art. 16 (8): Gründung nichtstaatlicher Universitäten Art. 17 (2): Enteignung von persönlichem Eigentum J J N J J J J J J J J J J J J J J J J J J
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n.a.
n.a.
n.a.
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n.a.
n.a.
n.a.
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20.05.1998 Vorabvotum der Parteien PASOK ND SYN DIKKI KKE J N J J n.a.
Tabelle A12: Abstimmungsergebnisse im Fall G, 1998
282
119
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275 115
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6
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1
Parl.-ergebnis J N E 170 111 3
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n.a.
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n.a.
24.06.1998 Vorabvotum der Parteien PASOK ND SYN DIKKI KKE J N J J n.a.
277
268
270
278
265
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4
2
2
2
3
2
Parl.-ergebnis J N E 167 109 3
394 Anhang
Art. 17 (4): Enteignung von persönlichem Eigentum Art. 17 (8): Einbeziehung anderer Eigentumsrechte Art. 18 (1): Verfügungsgewalt ü. Erzund Kohlebergwerke Art. 19: Briefgeheimnis Art. 21 (5): Demographische Politik Art. 22: Unabhängigkeit der Beamten Art. 24 (1): Umweltschutz Art. 24 (neuer Abs.): Zweckentfremdung Art. 25 (1): Sozialstaat Art. 25 (3): Rechtsmissbrauch Art. 28 (1): Völkerrecht und griechische Rechtsordnung Art. 28 (2): Beteiligung an der Europäischen Integration Art. 28 (3): Beteiligung an der Europäischen Integration Art. 29 (1): Gründung politischer Parteien. Art. 29 (2): Transparenz im Bereich Parteienfinanzierung Art. 29 (3): Politische Rechte der Beamten Art. 31 (1): Wählbarkeit zum Staatsoberhaupt Art. 32: Wahl des Präsidenten der Republik Art. 33 (2): Eid des Präsidenten der Republik Art. 34 (1): Stellvertretung des Präsidenten der Republik Art. 35 (2): Zuständigkeiten des Präsidenten der Republik Art. 36 (2): Ratifizierung internationaler Verträge Art. 37 (3): Ernennung des Ministerpräsidenten Art. 38 (2): Untauglichkeit d. PreJ J N J J J J J J J N J J J J J J N N J J J J J
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274 282 268 274
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271 278 268 271
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3
1
1
2
1
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1
Anhang
395
miers, sein Amt auszuüben Art. 39: Rat der Parteienvorsitzenden Art. 44 (1): Gesetzgeberische Akte des Präsidenten Art. 44 (3): Botschaften des Präsidenten ans Volk Art. 51 (4): Briefwahl Art. 51 (5): Wahlpflicht Art. 54 (1): Wahlsystem Art. 54 (2): Bevölkerungszahl Art. 54 (3): Zahl der gewählten Abgeordneten Art. 55 (2): Verlust des Abgeordnetenmandates Art. 56 (1): Wahlhindernisse Art. 56 (3): Wahlhindernisse Art. 57: Unvereinbarkeit d. Mandats mit anderen Tätigkeiten Art. 59 (1): Eid der Parlamentsabgeordneten Art. 62 (1): Immunität Art. 63: Finanzielle Unabhängigkeit der Abgeordneten Art. 66 (3): Öffentl. Sitzungen d. Parlamentsausschüsse Art. 67: Qualifizierte Mehrheiten Art. 68 (1): Zuständigkeit der Parlamentsausschüsse Art. 68 (2): Untersuchungsausschüsse Art. 70 (2): Geschäftsordnung des Parlamentes Art. 70 (3): Geschäftsordnung des Parlamentes Art. 70 (4): Geschäftsordnung des Parlamentes Art. 70 (5): Geschäftsordnung des Parlamentes Art. 70 (6): Parlamentarische Kontrolle Art. 72: Geschäftordnung von Plenum und Ausschüssen J J J J J
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277 256 265 256
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274 253 259 249
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14 15
5 26 10 18
2
1
1
1 1
10 12
396 Anhang
Art. 74 (5): Gesetzes-, Zusatz-, Änderungsanträge Art. 76 (1): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (2): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (3): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (4): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (5): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (8): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76 (neuer Abs. 9): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 79 (3): Verabschiedung des Haushaltsplanes Art. 79 (7): Billigung Haushaltsrechnung/Staatsbilanz Art. 80 (1): Kredite im Haushaltsplan Art. 80 (2): Münzrecht Art. 81 (1): Minister ohne Geschäftsbereich Art. 82 (neuer Abs.): Wirtschafts- und Sozialausschuss Art. 83 (neuer Abs.): Nationaler Rat für die Außenpolitik Art. 83 (2): Zuständigkeiten der Minister, Vizeminister Art. 86: Ministerverantwortung Art. 88 (2): Besoldungsordnung der Richter Art. 88 (6): Versetzung richterlicher Amtsträger Art. 88 (Ausl. Erkl.): Ernennung der Rechnungshofrichter Art. 89 (2): Nichtrichterliche Tätigkeiten der Richter Art. 89 (3): Verwaltungsaufgaben von Richtern J J J J J J J
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267
168 257
278
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266
266
266
266
266
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9
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11
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4
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108 21
1
2
14
13
13
13
13
13
1
1
3
1
1
3 1
1
1
Anhang
397
Art. 90 (1): Oberster Richterrat Art. 90 (2): Oberster Richterrat Art. 90 (3): Oberster Richterrat Art. 90 (4): Plena der obersten Gerichte Art. 90 (5): Vorstände der obersten Gerichte Art. 92 (3): Justizbeamte Art. 92 (4): Notare, Grundbuchverwahrer u.a. Art. 93 (3): Minderheitsvotum bei Gerichtsentscheidungen Art. 93 (4): Verfassungsmäßigkeitskontrolle Art. 94: Zuständigkeiten der Gerichte Art. 95: Staatsrat Art. 97: Gemischte Schwurgerichte Art. 98: Zuständigkeit des Rechnungshofes Art. 100 (neuer Abs.): Verfassungsmäßigkeitskontrolle Art. 100 (1): Regeln des Völkerrechtes Art. 100 (2): Verfassungsgericht Art. 100 A: Juristischer Rat des Staates Art. 101 (3): Dekonzentrationsprinzip Art. 101 A: Unabhängige Behörden Art. 102: Örtliche Selbstverwaltungskörperschaften Art. 103 (neuer Abs. 7): Einstellung von Beamten Art. 103 (n. Abs. 8): keine Vertragsänderung bei Beamten Art. 103 (neuer Abs. 9): Ombudsmann Art. 106 (neuer Abs.): Zentralbank als unabhängige Behörde Art. 108: Griechischer Auswanderungsrat Art. 109 (neuer Abs.): Eigentum von Erblassern Art. 116 (2): Förderung d. Gleichheit v. Männern/Frauen
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281 280 277
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269
274
266
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278
277
270 270 267
172
270
278 275 185
177
276
276
272
180
277 276 275
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10
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2
9 9 12
107
9
1 4 93
101
3
3
7
99
2 3 4
1
1
1
398 Anhang
Klausel PASOK ND SYN DIKKI Art. 7 (3): Todesstrafe J J J J Art. 16 (5): Gründung nichtstaatl. Universitäten J J N N Art. 16 (6): Gründung nichtstaatl. Universitäten J J N N Art. 16 (8): Gründung nichtstaatl. Universitäten J J N N Art. 33 (2): Eid des Präsidenten der Republik J N J N Art. 36 (2): Ratifizierung internat. Verträge J J** N N Art. 54 (3): Zahl der Abgeordneten, die im ganzen Staatsgebiet gewählt N J N N werden Art. 59 (1): Eid der Abgeordneten J N J N Art. 88 (Ausl. Erkl.): Ernennung der Rechnungshofrichter J J J N Art. 93 (3): Minderheitsmeinung bei Gerichtsentscheidungen J J** J J Art. 93 (4): Verfassungsmäßigkeitskontrolle N N N N Die Tabelle enthält Abweichungen von mindestens 20 Prozent der Gesamtzahl der Abgeordneten (60 Stimmen). J = ja, N = nein; * erwartbar gemäß den Parteivoten; ** Änderung des Parteivotums bis zum 24.06.1998 in „nein“ Quellen: VTE 1998b; 1998c.
Parteivoten
gescheitert 3/5-Mehrheit einfache Mehrheit gescheitert
-149 -76 -111 +100
-13 -4
gescheitert
3/5-Mehrheit gescheitert gescheitert gescheitert gescheitert einfache Mehrheit
Ergebnis
-64
Tatsächliche-erwartbare Ja-Stimmen* 20.05.1998 24.06.1998 -60 -50 -150 -152 -151 -152 -115 -11
Tabelle A13: Differenzen zwischen dem Votum der Parteien und der Abgeordneten im Fall G, 1998
Anhang
399
400
Anhang
Tabelle A14: Abstimmungsergebnisse im Fall G, 2001 Klausel Art. 4 (6): Wehrdienstverweigerung Art. 5 (4): Individuelle Verwaltungsmaßnahmen Art. 5 A: Recht auf Informationsgewinnung Art. 5 C: Versuche im Bereich Biomedizin Art. 6 (4): Höchstgrenze der Untersuchungshaft Art. 7 (3): Todesstrafe Art. 9 A: Datenschutz Art. 10: Recht, sich schriftlich an die Behörden zu wenden Art. 12 (4): Vereinigungsrecht Art. 14 (5): Berichtigung unrichtiger Veröffentlichungen durch die Presse Art. 14 (7): Pressedelikte Art. 14 (9): Finanzierung von Kommunikationsmitteln Art. 14 (9): Finanzierung von Kommunikationsmitteln (ND) Art. 15 (2): Nationaler Rundfunkrat Art. 15 (2): Nationaler Rundfunkrat (ND) Art. 17 (2): Enteignung von persönlichem Eigentum Art. 17 (4): Enteignung von persönlichem Eigentum Art. 17 (8): Einbeziehung anderer Eigentumsrechte Art. 19: Briefgeheimnis Art. 21 (5): Demographische Politik und Behinderte Art. 22: Unabhängigkeit der Beamten Art. 24 (1): Umweltschutz Art. 24 (1): Umweltschutz (ND) Art. 24 (2): Raumordnung Art. 25 (1): Sozialstaat Art. 28 (1): Völkerrecht und griechische Rechtsordnung Art. 28 (2-3, ausl. Erkl.): Beteiligung an der Europäischen Integration Art. 29 (2): Transparenz im Bereich Parteienfinanzierung Art. 29 (2): Transparenz im Bereich Parteienfinanzierung (ND) Art. 29 (3): Politische Rechte der Beamten Art. 31 (1): Wählbarkeit zum Staatsoberhaupt Art. 32: Wahl des Präsidenten der Republik Art. 36 (2): Ratifizierung internationaler Verträge Art. 38 (2): Untauglichkeit d. Premiers, sein Amt auszuüben Art. 51 (4): Briefwahl Art. 51 (5): Wahlpflicht Art. 54 (1): Wahlsystem Art. 54 (2): Bevölkerungszahl Art. 54 (2): Bevölkerungszahl (ND) Art. 56 (1): Wahlhindernisse Art. 56 (3): Wahlhindernisse Art. 57 (1.1): Unvereinbarkeit d. Mandats mit anderen Tätigkeiten Art. 57 (1.2, 1.3): Unvereinbarkeit d. Mandats mit anderen beruflichen Tätigkeiten Art. 66 (3): Öffentl. Sitzungen d. Parlamentsausschüsse Art. 68 (1): Zusammensetzung der Parlamentsausschüsse Art. 70 (2-8): Geschäftsordnung des Parlamentes
Votum der Parteien PASOK ND J N J J J J J J J J J J J J J J J J
Abstimmungsergebnis J N E 181 79 20 278 2 0 276 4 0 275 4 1 278 2 0 212 47 21 277 2 1 279 1 0 270 8 2
Gebilligt?
X X X X X X X X X
J
J
277
3
0
X
J J
J J
277 265
3 9
0 6
X X
N
J
122
145
13
-
J N J J N J J J J N J J J
J J J N J J J J J J N J N
259 125 272 162 136 276 277 274 226 74 158 272 150
11 141 6 116 142 4 3 4 37 181 110 8 124
10 14 2 2 2 0 0 2 17 25 12 0 6
X X X X X X X X X -
J
J
275
3
2
X
J
J
269
7
4
X
N
J
123
148
9
-
J J J J
J J N N
272 273 155 147
6 7 124 128
2 0 1 5
X X -
J
J
276
3
1
X
J J J J N J J
J J J J J J J
268 272 270 231 153 262 261
10 5 6 27 122 14 15
2 3 4 22 5 4 4
X X X X X X X
J
J
234
40
6
X
J
J
166
101
13
-
J J J
J J J
275 268 246
5 12 32
0 1 2
X X X
401
Anhang Art. 72 (1): Gesetzgebende Zuständigkeit des Parlamentsplenums Art. 72 (2-4): Gesetzgebende Zuständigkeit der Parlamentsausschüsse Art. 74 (5): Gesetzes-, Zusatz-, Änderungsanträge Art. 76 (1-5): Billigung von Gesetzentwürfen Art. 76, Abschaffung des Abs. 8: Missbilligung von Gesetzentwürfen Art. 79 (3): Verabschiedung des Haushaltsplanes Art. 79 (7): Billigung Haushaltsrechnung/Staatsbilanz Art. 80 (1): Kredite im Haushaltsplan Art. 80 (2): Beteiligung an der WWU (Ausl. Erkl.) Art. 82 (neuer Abs.): Wirtschafts- und Sozialausschuss Art. 83 (neuer Abs.): Nationaler Rat für die Außenpolitik Art. 86: Ministerverantwortung Art. 86: Ministerverantwortung (ND) Art. 88 (2): Besoldungsordnung der Richter Art. 88 (2): Besoldungsordnung der Richter (ND) Art. 88 (6): Versetzung richterlicher Amtsträger Art. 88 (Ausl. Erkl.): Ernennung der Rechnungshofrichter Art. 89 (2): Nichtrichterliche Tätigkeiten der Richter Art. 89 (3): Verwaltungsaufgaben von Richtern Art. 90 (1): Oberster Richterrat Art. 90 (1): Oberster Richterrat (ND) Art. 90 (2): Oberster Richterrat Art. 90 (3): Oberster Richterrat Art. 90 (4): Plena der obersten Gerichte Art. 90 (5): Vorstände der obersten Gerichte Art. 90 (5): Vorstände der obersten Gerichte (ND) Art. 92 (3): Justizbeamte Art. 92 (4): Notare, Grundbuchverwahrer u.a. Art. 93 (3): Minderheitsvotum bei Gerichtsentscheidungen Art. 94: Zuständigkeiten der Gerichte Art. 95: Staatsrat Art. 98: Zuständigkeit des Rechnungshofes Art. 98: Zuständigkeit des Rechnungshofes (ND) Art. 100 (neuer Abs.): Verfassungsmäßigkeitskontrolle Art. 100 A: Juristischer Rat des Staates Art. 101 (3): Dekonzentrationsprinzip Art. 101 (Ausl. Erkl.): Inselbezirke Art. 101 A (1): Unabhängige Behörden Art. 101 A (2): Ernennung der Mitglieder der Unabhängigen Behörden Art. 101 A (2): Ernennung der Mitglieder der Unabhängigen Behörden (ND) Art. 101 A (3): Parlament und Unabhängige Behörden Art. 102: Örtliche Selbstverwaltungskörperschaften Art. 102: Örtliche Selbstverwaltungskörperschaften (ND) Art. 103 (neuer Abs. 7): Einstellung von Beamten Art. 103 (n. Abs. 8): keine Vertragsänderung bei Beamten Art. 103 (neuer Abs. 9): Ombudsmann Art. 103 (neuer Abs. 9): Ombudsmann (ND) Art. 108: Griechischer Auswanderungsrat Art. 109 (neuer Abs.): Eigentum von Erblassern Art. 116 (2): Förderung d. Gleichheit v. Männern/Frauen
J
J
245
33
2
X
J
J
237
38
5
X
J J
J J
274 268
5 12
1 0
X X
J
N
158
122
0
X
J J J J J J J N J N J J J J J N J J J J N J J J J J J N J J J J J
J J N J J J J J J J J J J J J J J J J N J J J J J J J J J J J J J
278 278 158 276 276 275 268 119 260 260 272 275 277 275 270 115 277 277 278 154 121 278 278 278 274 270 273 124 267 278 276 275 271
2 2 122 2 4 3 8 155 16 16 8 5 2 3 6 155 2 2 2 118 150 1 1 1 5 7 5 148 11 2 4 3 5
0 0 0 2 0 2 4 6 4 4 0 0 1 2 4 10 1 1 0 8 9 1 1 1 1 3 2 8 2 0 0 2 4
X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X
J
N
152
116
12
X
N
J
117
145
18
-
J J N J J J N J J J
J J J J J J J J J J
268 267 115 268 264 271 122 274 279 275
5 9 153 11 14 3 148 4 1 3
7 4 12 1 2 5 10 2 0 2
X X X X X X X X
402
Anhang
Tabelle A15: Abstimmungsergebnisse im Fall I, 2002 Abgeordnetenhaus: Fianna Fáil Progressive Democrats Fine Gael Labour Greens Socialist Sinn Féin Unabhängige Senat:
Ja
Nein
56 7 20 15 2
6 1 3 3 keine genauen Angaben
Referendum: 906.317 (25,8%*) * Anteil der abgegebenen Stimmen; die Wahlbeteiligung lag bei 49,5%. Quellen: HoO 2002n, 2002r; Took/Donnelly o. J.
534.887 (37,1%)
Tabelle A16: Votum der Länder im Bundesrat im Fall D, 1995 Land
Regierungsparteien
BaWü Bay B BBG HB HH He MV NdS NRW RP Saar Sa SaAn SH Th
CDU, SPD CSU CDU, SPD SPD SPD, B90/Gr, FDP SPD, STATT SPD, B90/Gr CDU, SPD SPD SPD SPD, FDP SPD CDU SPD, B90/Gr SPD CDU, SPD
Schulden*
RechtsA 92 53 78 78 222 141 112 42 139 145 136 233 46 65 176 57
WirtA
InnenA
FinanzA
Ablehnung** 2 0 1,5 3,5 4 4 4 1,5 4 4 2 4 0 4 4 2
J (CDU) N (SPD) N (SPD) J (CDU) J J Ja J E (SPD) N (SPD) Ja (CDU) J (CDU) E N N N N (SPD) N (FDP) N (FDP) N (SPD) N N N N N N N N E (SPD) N (SPD) J (CDU) J (CDU) N N N N N N N N J (FDP) J (FDP) N (SPD) N (SPD) N N N N J J J J N N N N N N N N N (SPD) J (CDU) N (SPD) J (CDU) 4:9:3 4 : 12 : 0 4 : 12 : 0 6 : 10 : 0 Der Rechtsausschuss (fdf) votierte am 26.04.1995, der Wirtschaftsausschuss am 16.05.1995, Innen- und Finanzausschuss am 18.05.1995. Die Stellungnahme des Bundesrates erfolgte am 02.06.1995. Die Parteinamen in den Klammern geben an, wer den entsprechenden Landesminister bzw. Senator stellte. * Ende 1994 in % der Jahresausgaben ** Grad der Ablehnung der Grundgesetzanderung als Summe der Ausschussvoten (J=0; E=0,5; N=1). Quellen: Andersen/Woyke 2003; DBT/BR o.J.; Die Welt, 19.04.1995 (Verschuldungsgrad der Länder)
403
Anhang
Tabelle A17: Abstimmungsergebnisse im Fall D, 1997 Bundestag: CDU/CSU FDP SPD Bündnis 90/Grüne PDS Fraktionslos Bundesrat* * Abgegebene Stimmen; ** Bremen Quellen: DBT 1997c; BR 1997.
Ja
Nein
Enthalten
283 40 227 42 25 1
-
2 -
66
-
3**
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22:
Häufigkeit von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien, 1993-2002................................................................................................. 20 Zeitpunkte von Verfassungsänderungen nach Parlamentswahlen, 1993-2002................................................................................................. 23 Verfassungspolitischer „Kausalitätstrichter“ ........................................... 34 Kooperationsbereitschaft nach Gewinnaussicht und Verhandlungsmacht.................................................................................. 44 Konkurrierende Erklärungen des Abstimmungsverhaltens bei unklaren Präferenzen............................................................................................... 53 Mögliche rationalismusbezogene Befunde der Untersuchung................. 56 Zielsetzungen und angestrebtes Ergebnis der Untersuchung................... 60 Mögliche Interaktionsorientierungen ....................................................... 63 Anlage der Hauptuntersuchung................................................................ 63 Verfassungsänderungen und Regelungsdichte......................................... 75 Verfassungsänderungen und Verfassungsalter ........................................ 76 Potenziell wichtige Rahmenbedingungen für Verfassungsänderungen... 82 Ausgewählte Staaten mit Reichweite ihrer Verfassungsänderungen, 19932002 .......................................................................................................... 85 Verfassungspolitische Agendasetzung (Regierungsinitiative)............... 141 Verschuldungsgrad und Nichtzustimmung der Länder im Fall D, Mai 1995................................................................................................. 196 Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren am Ende der individualistischen Phase ....................................................................... 210 Verfassungspolitik in der individualistischen Phase.............................. 214 Verändertes Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren in der kooperativen Phase................................................................................. 272 Verfassungspolitik in der kooperativen Phase ....................................... 279 Verändertes Interaktionsverhalten der Nichtinitiatoren in der kompetitiven Phase ................................................................................ 316 Verfassungspolitik in der kompetitiven Phase....................................... 320 Beobachtete Phasen erfolgreicher Verfassungsänderungsprozesse....... 341
406
Abbildungsverzeichnis
Abbildungen im Anhang
Abbildung A1: Abbildung A2: Abbildung A3: Abbildung A4: Abbildung A5:
Fallverteilung hinsichtlich der potenziell wichtigsten Rahmenbedingungen für Verfassungsänderungen, 1993-2002 ............. 384 Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall K............................................ 390 Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall G............................................ 391 Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall I ............................................. 392 Formaler Gesetzgebungsprozess im Fall D............................................ 393
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30:
Verfassungsänderungen in 38 Demokratien, 1993-2002.............................. 22 Verfassungsänderungen nach Regionen, 1993-2002.................................... 24 Häufigkeit der Änderung von Verfassungskernbereichen, 1993-2002 ........ 26 Ansätze zur Erklärung von Verfassungsänderungen im Vergleich .............. 29 Verhandlungsmacht des Initiators und erwartete Aushandlungsstrategien .. 45 Mögliche aushandlungsrelevante Akteurtypen auf nationaler Ebene........... 48 „Normale Politik“ und Verfassungspolitik als Idealtypen............................ 58 Untersuchungskriterien für die Analyse der Aushandlungsprozesse ........... 64 Zu prüfende institutionelle und Kontextvariablen ........................................ 67 Paarweise Korrelationen zwischen der Änderungsrate und den Rigiditätsindizes............................................................................................ 72 Verfassungsänderungen in Staaten mit obligatorischem Referendum, 1993-2002 ..................................................................................................... 74 Verfassungsänderungen in Staaten mit und ohne Westminstertradition, 1993-2002 ..................................................................................................... 79 Im All-Demokratien-Vergleich nicht oder uneindeutig bestätigte Hypothesen.................................................................................................... 80 Empirische Befunde zum möglichen Einfluss von Institutionen und Kontext.......................................................................................................... 81 Einfluss institutioneller und Kontextvariablen auf die Häufigkeit und kumulierte Reichweite von Verfassungsänderungen, 1993-2002 ................ 82 Verfassungsänderungen in vier ausgewählten Staaten im historischen Vergleich ....................................................................................................... 86 Ausgewählte Fallbeispiele für Verfassungsänderungen in Demokratien ..... 89 Basisvariablen der genutzten Konkordanzmethode...................................... 90 Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall K....... 104 Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall G....... 113 Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall I ........ 124 Erfolgsaussicht der Initiative zum Zeitpunkt der Einbringung, Fall D....... 136 Von den verfassungspolitischen Initiativen berührte wichtigste Problemkomplexe ....................................................................................... 143 Eckpunkte der Initiierung der Verfassungsänderungen.............................. 145 Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall K............ 161 Verschiebung verfassungspolitischer Ziele des Initiators im Fall G .......... 173 Übereinstimmende Bereitschaft zur Änderung von Verfassungsklauseln, Fall G 1998......................................................................................................... 175 Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall G............ 177 Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall I ............. 189 Wichtige Konfliktthemen in der individualistischen Phase, Fall D............ 202
408 Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34: Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37: Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41: Tabelle 42: Tabelle 43: Tabelle 44: Tabelle 45: Tabelle 46: Tabelle 47: Tabelle 48: Tabelle 49: Tabelle 50: Tabelle 51: Tabelle 52: Tabelle 53: Tabelle 54: Tabelle 55: Tabelle 56: Tabelle 57: Tabelle 58: Tabelle 59:
Tabellenverzeichnis
Beispiele für rational notwendige politisch-institutionelle Neuüberlegungen ........................................................................................ 204 Bezug divergierender Positionen der Akteure in der individualistischen Phase ........................................................................................................... 205 Verfassungspolitische Motivation der Nichtinitiatoren .............................. 207 Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der individualistischen Phase ............................................................................ 212 Motive für die Ablehnung, Beibehaltung der Gespräche und Übergang zur kooperativen Phase............................................................... 213 Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall K... 228 Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall G... 240 Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall I .... 257 Status der wichtigen Konfliktthemen in der kooperativen Phase, Fall D... 269 Bezug divergierender Positionen der Akteure in der kooperativen Phase.. 271 Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der kooperativen Phase ........................................................................................................... 273 Motive für Kooperationsbereitschaft und den Übergang zur kompetitiven Phase ..................................................................................... 278 Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall K...................................... 289 Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall G...................................... 296 Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall I ....................................... 305 Ergebnisse bei wichtigen Konfliktthemen, Fall D...................................... 313 Bezug divergierender Positionen der Akteure in der kompetitiven Phase ........................................................................................................... 315 Verhalten der Initiatoren bei Positionsunterschieden in der kompetitiven Phase ..................................................................................... 318 An den Aushandlungsprozessen beteiligte politische Akteure nach Phasen ......................................................................................................... 322 Einfluss von Akteurtypen auf die Aushandlungsprozesse.......................... 323 Bedeutung der einflussreichsten Akteurtypen für verfassungspolitische Aushandlungsprozesse ................................................................................ 326 Kosten und Nutzen der Verfassungsänderung für den Initiator und den nächstmächtigen Akteur.............................................................................. 328 Akteurbezogene Phasenmerkmale im Überblick........................................ 332 Interaktionsbezogene Phasenmerkmale im Überblick................................ 335 Voraussetzungen für die Überwindung der Schwelle zur kooperativen Phase ..................................................................................... 337 Veränderte zentrale Annahmen der Akteure in der kooperativen Phase .... 338 Konfliktgegenstände nach Phasen .............................................................. 340 Effektbezogene Phasenmerkmale im Überblick......................................... 343 Fälle nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen .................................. 347
Tabellenverzeichnis
409
Tabellen im Anhang
Tabelle A1: Tabelle A2: Tabelle A3: Tabelle A4: Tabelle A5: Tabelle A6: Tabelle A7: Tabelle A8: Tabelle A9: Tabelle A10: Tabelle A11: Tabelle A12: Tabelle A13: Tabelle A14: Tabelle A15: Tabelle A16: Tabelle A17:
Verfahren der Verfassungsänderung in 39 Demokratien, 1993-2002 ........ 378 Indizes der konstitutionellen Rigidität im Vergleich .................................. 382 Änderungsrigidität der Verfassungen in 39 Demokratien .......................... 383 Als signifikant bewertete Verfassungsänderungen und neue Verfassungen............................................................................................... 384 Regelungsdichte der Verfassungen in 39 Demokratien, 1993-2002 .......... 385 Weitere potenzielle Erklärungsfaktoren für Verfassungsänderungen, 1993-2002 ................................................................................................... 386 Verfassungsänderungen in Kanada, 1876-2002 ......................................... 387 Verfassungsänderungen in Griechenland, 1975-2002 ................................ 387 Verfassungsänderungen in Irland, 1937-2002 ............................................ 387 Verfassungsänderungen in Deutschland, 1949-2002.................................. 388 Abstimmungsergebnisse im Fall K, 1998 ................................................... 389 Abstimmungsergebnisse im Fall G, 1998 ................................................... 394 Differenzen zwischen dem Votum der Parteien und der Abgeordneten im Fall G, 1998.................................................................... 399 Abstimmungsergebnisse im Fall G, 2001 ................................................... 400 Abstimmungsergebnisse im Fall I, 2002 .................................................... 402 Votum der Länder im Bundesrat im Fall D, 1995 ...................................... 402 Abstimmungsergebnisse im Fall D, 1997................................................... 403
Literatur- und Quellenverzeichnis
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